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German Pages 288 Year 1998
Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 15
EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 15 1997 EXIL UND WIDERSTAND Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u n d Wulf Koepke unter Mitarbeit von Gerhard Paul
edition text + kritik
Anschriften der Redaktion: Claus-Dieter Krohn Mansteinstraße 41 20253 Hamburg Lutz Winckler 15, Rue des Arènes Romaine F-8600 Poitiers
Die deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Exil und Widerstand / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn ... unter Mitarbeit von Gerhard Paul München : edition text + kritik, 1997 (Exilforschung ; Bd. 15) ISBN 3-88377-560-6 NE: Krohn, Claus-Dieter [Hrsg.]
Satz: Fotosatz Schwarzenböck, Hohenlinden Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf, München © edition text + kritik, München 1997 ISBN 3-88377-560-6
Inhalt
Vorwort
Claus-Dieter Krohn
Propaganda als Widerstand? Die Braunbuch-Kampagne zum Reichstagsbrand 1933
10
Klaus-Michael Mallmann
Frankreichs fremde Patrioten. Deutsche in der Resistance
33
Ludwig Eiber
Verschwiegene Bündnispartner. Die Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien und die britischen Nachrichtendienste
66
Hans Rudolf Vaget
Thomas Mann und der deutsche Widerstand. Zur Deutschland-Thematik im Doktor Faustus
Peter Erler / Manfred Wilke
»Nach Hitler kommen wir«. Das Konzept der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland
102
»...alle Repressionen unnachsichtlich ergriffen werden«. Die Gestapo und das politische Exil
120
Zur Diskussion: Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff
150
Die Kraft der Verblendung. Der Sozialdemokrat Max Brauer im Exil
162
Gerhard Paul
Klaus Sator
Michael Wildt
Ulrich Schlie
Altreichskanzler Joseph W i r t h im Luzerner Exil ( 1 9 3 9 - 1 9 4 8 )
180
Michael F. Scholz
Herbert W e h n e r in Schweden 1941 bis 1 9 4 6
200
A n n e Klein
Rettung u n d Restriktion. US-amerikanische Notvisa für politische Flüchtlinge in Südfrankreich 1940/41
213
Der Verwalter saß in Marseille. Polizei-Intendant M a u r i c e de Rodellec du Porzic und das Lager Les Milles
233
Doris Obschernitzki
A n n e - M a r i e CorbinSchuffels
Eine Revanche im Kalten Krieg? Agitprop im Kampf für die Freiheit der Kultur 2 5 5
Rezensionen
269
Kurzbiographien der Autorinnen u n d Autoren
281
Vorwort
Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Herrschaftssystem aus dem Exil heraus ist in der Zeitgeschichtsschreibung im allgemeinen wie in der Exilforschung im besonderen noch immer ein weitgehend unbekanntes und unbearbeitetes Feld. D a s gilt vor allem für den Widerstand zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und für die Vorbereitungen des politischen Exils auf die Rückkehr nach Deutschland. D i e G r ü n d e dafür sind weniger in den Q u e l l e n zu suchen, wie m a n vorschnell meinen könnte, sondern liegen eher in der Sache selbst. Z u sehr sah sich die Tätigkeit deutscher Emigranten und Emigrantinnen an der Seite der Widerstandsbewegungen in den von Hitlers Wehrmacht besetzten Hauptzufluchtsländern oder auch ihr Engagement in den alliierten Armeen, vor allem wenn es sich um den bewaffneten K a m p f handelte, dem von der N S - P r o p a g a n d a erfolgreich in die Welt gesetzten Verdikt des »Vaterlandsverrats« ausgesetzt. D a n a c h hatten sich Emigranten, die im Spanischen Bürgerkrieg oder in der französischen Résistance, im Nationalkomitee Freies Deutschland oder im amerikanischen Office o f Strategie Services tätig waren, außerhalb der »Volksgemeinschaft« gestellt und damit ihr Existenzrecht verloren. Diese im Wortsinne lebensgefährliche Diffamierung wirkte in der Nachkriegszeit vielfältig nach und führte nicht selten dazu, daß, ähnlich wie bei den Deserteuren der Wehrmacht, viele Betroffene verunsichert schwiegen. Bis auf wenige Ausnahmen hat die Zeitgeschichtsforschung dieses Schweigen reproduziert. Eine Gesamtdarstellung der vielfältigen Formen und Aktivitäten des Exilwiderstandes steht zwar noch immer aus, allerdings läßt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Bemühen registrieren, die bestehenden Desiderata jenseits vorurteilsgeprägter Einstellungen und auf qualitativ wie quantitativ neuer Quellengrundlage anzugehen. Einige der vorhandenen Lücken möchte das diesjährige Jahrbuch schließen, indem es einerseits neue Forschungsergebnisse publiziert, andererseits Resümees von in letzter Zeit abgeschlossenen Forschungsbemühungen vorstellt. zum Reichstagsbrand Der Auftakt-Artikel über die Braunbuch-Yjimpagnc führt in die Frühphase des Exilwiderstandes ein, der die Nationalsozialisten auf dem Gebiet der Propaganda mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen suchte. Aus heutiger Sicht war diese K a m p a g n e so durchschlagend, daß die vom Braunbuch gelieferte Ursachenerklärung des Brandes die darüber bis in die Gegenwart periodisch geführten Debatten bestimmt. M i t dem besonderen Form- und Strukturwandel des Widerstandes im Exil zur Kriegszeit beschäftigen sich die beiden folgenden Beiträge. Ausgehend von neueren Untersuchungen zur Tätigkeit deutscher Emigranten in der Résistance schildert Klaus-Michael M a l l m a n n eine besondere und weitgehend vergessene
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Vorwort
Form des Widerstandes von Emigranten, die - abgesehen von einigen älteren französischen Veröffentlichungen und den stark parteihagiographisch ausgerichteten Publikationen einiger DDR-Historiker - bislang kaum die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit gefunden hat. Erstmals gelingt es Mallmann, genauere Angaben über die politische u n d soziale Zusammensetzung der deutschen Resistance-Angehörigen zu machen. Mit dem Ende der Widerstandseuphorie u n d der Desillusionierung der Aufklärungshoffnungen des Exils sahen zahlreiche Emigrantenorganisationen seit Kriegsbeginn nurmehr die Mitarbeit in den alliierten Armeen als einzig realistische Möglichkeit an, das NS-Regime in Deutschland zu Fall zu bringen. Orientiert an seinem soeben abgeschlossenen Editionsprojekt thematisiert Ludwig Eiber die vielfach tabuisierten Verbindungen der Londoner »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien« zu den britischen Nachrichtendiensten; außerdem verweist er auf den Einsatz von sogenannten »Guides« aus der G r u p p e der sozialistischen Emigranten hinter den deutschen Frontlinien. Mit den Planungen der Moskauer K P D - F ü h r u n g für ein Deutschland nach Hitler, wie sie ihren programmatischen Ausdruck unter anderem in dem »Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie« vom Herbst 1944 fanden, beschäftigen sich Peter Erler und Manfred Wilke. Ihre im Kontext des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin entstandene Untersuchung verfolgt zunächst das Ziel, die Pläne und Absichten der K P D - F ü h r u n g bei der G r ü n d u n g der SED zu rekonstruieren, wobei es notwendig erschien, im Sinne einer politischen Archäologie in die Zeit der Moskauer Emigration zurückzublenden. Die W a h r n e h m u n g des innerdeutschen Widerstands und seine Bewertung in den Reden und Publikationen T h o m a s M a n n s zur Kriegszeit sind das Thema des Beitrags von H a n s Rudolf Vaget. Seine vielleicht provozierende These: die positive Bewertung des deutschen Widerstands durch T h o m a s M a n n habe die im Doktor Faustus u n d den Essays der vierziger Jahre entwickelte tragische Geschichtskonzeption einer deutschen Gesamtverantwortung für den Faschismus eher verstärkt als infragegestellt. Gerhard Paul n i m m t das Postulat Martin Broszats auf, Widerstand und Verfolgung als sich wechselseitig bedingende Größen zu begreifen, indem er die verschiedenen Phasen der Inlands- u n d Auslandsaktivitäten der Gestapo untersucht, mit der diese - vielfach mit Unterstützung der Polizeibehörden der Emigrationsländer - den deutschsprachigen Exilwiderstand zu unterminieren und zu zerstören suchte. Sein Beitrag entstand im Rahmen des ebenfalls an der Freien Universität angesiedelten Forschungsprojektes »Die Gestapo u n d die deutsche Gesellschaft«. Schließlich setzt sich Klaus Sator in einem Diskussionsbeitrag kritisch mit dem in der Zeitgeschichtsforschung verwendeten Begriff des Widerstands u n d seiner Ausweitung auf den Exilwiderstand auseinander.
Vorwort
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Mit Aspekten durchaus typischer Exilschicksale politischer Emigranten beschäftigen sich die Beiträge im zweiten Teil des Jahrbuchs. Zunächst untersucht Michael Wildt am Beispiel des Sozialdemokraten Max Brauer exilspezifische Verarbeitungsmuster der Nachrichten aus Deutschland, wobei er zu dem Ergebnis gelangt, daß es vor allem die »verharmlosende Wahrnehmung des Nationalsozialismus« Emigranten wie Brauer ermöglichte, sich nach 1945 mit voller Kraft dem Wiederaufbau eines neuen Deutschland zu widmen. Auf der Grundlage neuerer Forschungen zeichnet Ulrich Schlie die verschlungenen und wenig bekannten Pfade des ehemaligen Reichskanzlers Joseph Wirth in der Emigration und im Nachkriegsdeutschland nach. Michael F. Scholz schließlich präsentiert neuere Erkenntnisse zum Ablösungsprozeß Herbert Wehners von der kommunistischen Bewegung im schwedischen Exil in den Jahren 1941 bis 1946, wobei er sich intensiv mit dem gegen Wehner immer wieder erhobenen Verratsvorwurf auseinandersetzt. Beiträge von Anne Klein über die US-amerikanischen Notfallvisa für politische Flüchtlinge 1940/41 in Südfrankreich, von Doris Obschernitzki über die problematische und skandalöse Rehabilitierung des Verantwortlichen für die Deportationen aus dem Internierungslager Les Milles nach Drancy und Auschwitz, Maurice de Rodellec du Porzic, durch die französische Nachkriegsjustiz und -Verwaltung 1945 sowie ein Aufsatz zur politisch-publizistischen Tätigkeit von (Re-)Emigranten runden das diesjährige Jahrbuch ab. Anne-Marie Corbin-Schuffels untersucht die maßgeblich von Emigranten geförderten Tätigkeiten des »Kongresses für die Freiheit der Kultur« während der Frühphase des Kalten Krieges. Mit dem 15. Jahrbuch möchten die Herausgeber am Beispiel des Widerstandes deutscher Emigranten und Emigrantinnen die 1995 begonnene Diskussion über Perspektiven und Fragestellungen der Exilforschung in Richtung einer Historisierung des Forschungsgegenstandes fortführen.
Claus-Dieter Krohn
Propaganda als Widerstand? Die Braunbuch-Kampagne
zum Reichstagsbrand 1933
I Die Brandstiftung im Berliner Reichstagsgebäude am 27. Februar 1933 lieferte den Vorwand zur systematischen Verfolgung in Deutschland, zur Aushebelung der Weimarer Verfassung und zur Gleichschaltung der Gesellschaft durch die Nationalsozialisten. Obwohl die Tatumstände unter Historikern seit langem klar sind, blieben sie legendenumwoben. Von Anfang an wurden sie begleitet von Vermutungen, Hypothesen, lautstark propagierten politischen Spekulationen und strategischen Interessen. Erstaunlicherweise ist diese propagandistische Funktionalisierung für den politischen Kampf nach 1933 in der jahrzehntelangen Debatte nur selektiv gewürdigt worden. Kurz gesagt ging es darum, ob der holländische Anarchist Marinus van der Lübbe den Reichstag allein angezündet hat, ob die Kommunisten oder die Nationalsozialisten dabei ihre Hände als Hintermänner im Spiel gehabt hatten. Seit der 1962 von Fritz Tobias vorgelegten Studie 1 gilt als gesichert, daß van der Lübbe als Alleintäter anzusehen ist. So sorgfältig Tobias dafür das Material bereitgestellt und den zeitlichen Ablauf des Tathergangs am Abend des 27. Februar rekonstruiert hat, so umstritten blieben der von ihm konturierte allgemeine politische Hintergrund, seine Argumentationsmuster und Kausalbezüge, die die Uberzeugungskraft seiner Analyse erheblich einschränken. Ungleich plausibler sind demgegenüber die als Reaktion auf Tobias wenig später erschienenen Untersuchungen Hans Mommsens, der die These vom Alleintäter van der Lübbe bestätigte, den Reichstagsbrand im Unterschied zu Tobias jedoch in den Prozeß der nationalsozialistischen Machtergreifung einordnete und damit zu anderen historisch-politischen Urteilen kommt. Während der neue Reichskanzler Hitler für Tobias erst durch die »Sternstunde« der Brandnacht zum machtberauschten Diktator wird, erscheint die Brandstiftung bei Mommsen lediglich als unerwartete weitere Gelegenheit für die Nazis auf dem Wege des längst begonnenen und von da an noch terroristisch zugespitzten totalitären Machtausbaus. 2 Geht man davon aus, daß die nationalsozialistische Herrschaftsausübung auf zwei Säulen beruhte, dem Terror und der Propaganda, so ist evident, daß der Reichstagsbrand eine wichtige Etappe zur Befestigung des Terrorapparates gewesen ist, wie die nunmehr ungehemmten Verfolgungen und die sie legitimierenden administrativen Entscheidungen zeigen. Die noch in der
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Brandnacht von der N S - F ü h r u n g herbeigeredete Schuld der Kommunisten u n d deren agitatorische Verwertung — immerhin stand das Deutsche Reich in der heißen Phase des Wahlkampfes zu den eine Woche später stattfindenden Reichstagswahlen — waren hingegen kaum mehr als ein dilettantisches Schauspiel. Das u m so mehr, als die Opfer der Verfolgungen, die politischen Exilanten, und hier vor allem die Kommunisten mit ihrem Medienfachmann Willi Münzenberg, diesen Angriff zu parieren verstanden und mit internationalem Echo glaubhaft machen konnten, daß die Nazis den Reichstagsbrand selbst inszeniert hätten. Die propagandistische Gegenmacht der Exilanten übernahm dabei geschickt die weltweit kursierenden vagen Vermutungen, die sie im Wissen um die Methoden und Denkweisen der nationalsozialistischen Gegner zuzuspitzen u n d zu einem konsistenten Agitationsprogramm zu verdichten vermochte. Diese vor allem mit dem Anfang August 1933 in Paris erschienenen Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror verbundene agitatorische Meisterleistung ließ die Nazis auf ihrem eigenen Feld, der propagandistischen Massenbeeinflussung, recht kläglich erscheinen. Das Braunbuch bestimmte künftig das Bild über die NS-Barbarei, als Terror u n d Verfolgung in Deutschland noch nicht einmal das volle Ausmaß erreicht hatten. Obwohl es selbst und die unübersehbare Flut der um das Buch herumgruppierten weiteren Schriften mit Tricks, unbewiesenen Behauptungen und auch Fälschungen arbeiteten, ist deren Erfolg darauf zurückzuführen, daß sie das NS-System nicht nur im Ganzen richtig beschrieben, sondern seinen Charakter in vielem visionär antizipierten. Das unterschied die propagandistische Offensive des Braunbuchs von der der Nationalsozialisten, die mit der These vom Reichstagsbrand als Auftakt eines kommunistischen Aufstandsversuchs nur der Selbstsuggestion unterlagen. Zwar wirft das Vorgehen des Braunbuchs die Frage nach der politischen Moral auf; der in der Literatur wiederholt erhobene Vorwurf »bedenkenloser« oder »mißbräuchlicher« Fälschungen 3 greift jedoch zu kurz. Z u m einen suchte das Braunbuch die Nazis mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, u n d es traf dabei, wie deren Reaktionen zeigten, offensichtlich ins Schwarze. Z u m anderen ist es nicht ungewöhnlich, daß in politischen Auseinandersetzungen mit Tricks und Manipulationen gearbeitet wird; die Geschichte der Wahlagitation auch unter zivilen Verhältnissen liefert dafür beliebige Beispiele. W i e legitim erscheinen diese d a n n erst im Kampf gegen ein System, das seinen verbrecherischen Charakter bereits offen zeigte? Unlautere Mittel sind hier Akte der intellektuellen Notwehr, zumal aus der unterlegenen Position der politisch Verfolgten. Im übrigen überschritten die Fälschungen nur selten die Grenzen der Plausibilität. Anders wäre auch die enorme Reaktion des Auslands auf das Braunbuch nicht zu verstehen. Was dort gegen die Nazis ausgebreitet wurde, war vielfach so oder ähnlich zuvor in der internationa-
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Claus-Dieter Krohn
len Öffentlichkeit diskutiert worden; die Vielzahl der akribisch gesammelten und im Braunbuch abgedruckten Zitate aus der Weltpresse belegen das. Die institutionelle und finanzielle Unterstützung durch die Internationale Arbeiter-Hilfe bzw. den Komintern-Apparat sorgte zwar für seine Verbreitung in diversen Sprachen, das aber ist nur die eine Seite; daß es auch jenseits der eigenen politischen Milieus zustimmend rezipiert wurde, ist die andere. Schließlich mag nach dem Selbstverständnis der Kommunisten hinzugekommen sein, daß sie - zumindest vom theoretischen Anspruch her — unter Propaganda die Kunst der Massenbeeinflussung zur Vermittlung eines wissenschaftlich begründbaren Weltbildes im sozialen Befreiungskampf verstanden und nun in den Praktiken der Nazis zur irrationalen Mobilisierung der amorphen Massen die eigenen Kampfformen mißbraucht sahen - um so mehr, als Hitler die »meisterhafte Geschicklichkeit« der Propaganda bei den »Marxisten« als Vorbild für die eigene Bewegung genommen hatte.4 Die rationalen Aufklärungsziele waren in der Propaganda der Nationalsozialisten allerdings durch die vorbehaltlose Zustimmung willfähriger Mitläufer ersetzt worden. Auch aus diesem Grund schien der Kampf gegen Hitler mit allen Mitteln für berechtigt gehalten worden zu sein. Sie sollten sich weniger an den eigenen Zielen und Ideen orientieren, sondern an den Merkmalen und dem Anspruch der gegnerischen Propaganda. Mit einiger Ironie zitierte dazu eine der zahllosen antifaschistischen Kampfschriften aus der Münzenberg-Produktion der Editions du Carrefour die einschlägigen Passagen aus Mein Kampf. »Jede Propaganda hat ... ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten.«5
II Noch im brennenden Reichstagsgebäude hatte Hermann Göring, Reichstagspräsident, kommissarischer preußischer Innenminister und Minister ohne Geschäftsbereich in der Reichsregierung, die Parole von der kommunistischen Urheberschaft ausgegeben. Endlich schien der Umsturz der Marxisten bevorzustehen, auf den die Nationalsozialisten seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bisher vergeblich gewartet hatten, um einen Vorwand zum Gegenschlag und zugleich zur Abrechnung mit der demokratischen Republik zu haben. Schon unmittelbar nach dem Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei bei den Reichstagswahlen im September 1930 hatte Hitler in seinem berüchtigten Legalitätseid vor dem Reichsgericht die künftige Strategie umrissen, nur im »legalen Kampfe« die Macht erobern zu wollen, dann aber werde eine »vollständige Umwälzung« folgen, bei der »auch Köpfe rollen« würden. 6
Propaganda als Widerstand?
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Seit dem 30. Januar 1933 suchten die Nazis fieberhaft nach Anlässen dafür. In seinem Tagebuch notierte Joseph Goebbels schon einen Tag später: »Der bolschewistische Revolutionsversuch muß erst einmal aufflammen. Im geeigneten Moment werden wir dann zuschlagen«, wobei »reiner Tisch« gemacht werde.7 Noch allerdings konnten sie sich ihrer Sache keineswegs sicher sein. Hitler war zwar Reichskanzler, die NSDAP hatte in der Koalitionsregierung mit der Deutschnationalen Volkspartei jedoch nur eine Minderheitenposition. Unklar war außerdem, wie die Gewerkschaften auf das neue Kabinett reagieren würden. Nach der Auflösung des Reichstags am 1. Februar sollten Neuwahlen am 5. März die eigene Kabinettsposition verbessern. Großspurig hatte Goebbels dazu die Doppelstrategie von Propaganda und Terror skizziert. Auf der einen Seite wollte er ein »Meisterstück der Agitation« für die NSDAP liefern, um aus dem Regierungswechsel eine »Revolution« zu machen und die Deutschnationalen zu überspielen, auf der anderen Seite sollte mit Einschüchterung und Terror »der Schlag... gegen den Marxismus in seinen verschiedenen Schattierungen geführt (werden).«8 Bereits am 4. Februar war eine erste Notverordnung »zum Schutz des deutschen Volkes« erlassen worden, nach der Streiks in lebenswichtigen Betrieben sowie Versammlungen und die Presse verboten werden konnten, wenn eine Gefahr für die öffentliche Ordnung drohte. Prompt folgte wenige Tage später das Verbot des sozialdemokratischen Vorwärts, wie sogleich auch das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, die Parteizentrale der Kommunisten, in provozierender Absicht das erste Mal durchsucht wurde. Ein Verbot der KPD ohne greifbaren Anlaß, wie von Wirtschaftsminister Hugenberg gefordert wurde, lehnte Hitler zu dieser Zeit ab, weil die zu erwartende Unruhe die Bekämpfung der Wirtschaftskrise gefährdet und damit die Wahlchancen der SPD verbessert hätte; außerdem waren die Reaktionen in der breiteren Öffentlichkeit keineswegs sicher.9 Unterhalb der Verbotsschwelle steigerte sich der nationalsozialistische »Kampf gegen den Marxismus« während der Februar-Wochen in Zeitungsartikeln und Broschüren allerdings zu einer wahren Anti-Kommunistenpsychose (Hans Mommsen), begleitet von provozierendem individuellen Terror und zahlreichen Verhaftungen, insbesondere nach Ernennung der SA zur Hilfspolizei in Preußen am 22. Februar. Sie fand bei einer neuerlichen Durchsuchung des Karl-Liebknecht-Hauses dann auch sogleich, was der professionellen Polizei zuvor nicht gelungen war, nämlich die angeblichen Umsturzunterlagen. Die NS-Presse berichtete darüber zwar in großer Aufmachung, das Ganze war jedoch kaum mehr als ein Flop, strafrechtlich sind jene Funde niemals bestätigt worden. Sie sollten in der hilflosen Reaktion der Nazis auf die Braunbuch-Agitation im Sommer 1933 allerdings noch eine Rolle spielen.
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Erst der Brand brachte die erhoffte Lösung; »nun können wir aufs Ganze gehen«, notierte Goebbels, »die K P D soll sich nicht getäuscht haben ... N u n wird die rote Pest mit Stumpf u n d Stiel ausgerottet.« Etwas moderater meldete eine Hintergrundsinformation des Kabinetts an die Presse, daß der Reichstagsbrand eine »erhebliche Erleichterung« für die Regierung gebracht habe, denn der Kampf gegen den Marxismus habe dadurch »einen Inhalt erfahren, der ihr bisher im wesentlichen mangelte.« 10 Die wahllosen Massenverhaftungen politischer Gegner noch in der Brandnacht nach der Verordnung vom 4. Februar, in die neben den KPD-Funktionären auch die SPD und zahllose intellektuelle Wortführer der Weimarer Republik einbezogen wurden, zeigten, daß die N S - F ü h r u n g keinem schlüssigen Konzept folgte; zu auffallend widersprachen die Aktionen der bisherigen Strategie, die Kommunisten gesellschaftlich zu isolieren. Die gleiche Mischung von eigener Hysterie, endlich greifbarem Anlaß und unkontrolliertem Losschlagen charakterisierte auch die am folgenden Tag überhastet erlassene Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, die unter anderem mit der Außerkraftsetzung des Grundrechtskatalogs der Weimarer Verfassung das Ermächtigungsgesetz von Ende März vorbereitete. Machtpolitisch war diese affektgeladene Improvisation zwar wirkungsvoll, in der propagandistischen Selbstdarstellung wurde das System damit aber angreifbar. Goebbels, der 14 Tage später zum neuen Minister für Volksaufklärung und Propaganda ernannt wurde, mochte das geahnt haben, als er am 28. Februar den verräterischen Satz notierte: »Das Schlimmste ist vorbei. Die hoffentlich letzte Panne ist glücklich überwunden.« 1 1 Der nach den ersten polizeilichen Vernehmungen klare Sachverhalt der Alleintäterschaft van der Lübbes 12 wurde durch die von der N S - F ü h r u n g ausgegebene Parole eines kommunistischen Aufstands von vornherein konterkariert. Propagandistisch war das ein grandioses Eigentor der Nationalsozialisten, denn nicht nur für die kommunistische Gegenseite war diese Konstruktion leicht zu durchschauen. Schon aufgrund der realen Machtverhältnisse konnte die K P D kaum an einen organisierten gewaltsamen Aufstand denken. Gefangen in der noch bis 1935 vertretenen SozialfaschismusThese war zudem ein gemeinsames Vorgehen mit der Sozialdemokratie kaum realistisch. Die Streikaufrufe der Partei oder erste Bündnisangebote an die S P D hatten allenfalls demonstrativen Charakter, da angesichts der Wirtschaftskrise mit 6 Millionen Erwerbslosen spektakuläre Aktionen wie ein Generalstreik - der in den Gewerkschaften deshalb auch nicht ernsthaft erwogen wurde - undenkbar waren. Entscheidend für die Zurückhaltung der K P D aber war, daß sie ebenso wie die S P D den Charakter des neuen Regimes zu der Zeit völlig falsch beurteilte. Beide Parteien glaubten, daß der Nationalsozialismus nur die »letzte Karte« des Kapitalismus sei u n d nach kurzer Zeit abgewirtschaftet haben werde.
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Während sich die Arbeiterparteien so in Verkennung des NS-Systems zunächst abwartend und unkoordiniert auf den Aufbau illegaler Untergrundgruppen beschränkten, jagten die Nazis dem Popanz einer gigantischen Verschwörung nach. Wieder und wieder prophezeite Göring sogar noch in den Wochen nach dem Reichstagsbrand zu erwartende kommunistische Aufstände und glaubte, daß dafür die »wesentlichen Unterlagen« gefunden worden seien.13 Selbst die deutschnationale Presse mokierte sich über solche Einbildungen, die Deutsche Allgemeine Zeitungzrwa. ging schon am 2. März von der »Unhaltbarkeit« der Vorwürfe aus.14 Die Obsessionen der Nazis werden ebenso von den spektakulären Verhaftungen des Fraktionsvorsitzenden Torgier, der sich im übrigen selbst bei der Polizei gemeldet hatte, sowie der drei zu der Zeit in Berlin anwesenden Komintern-Funktionäre mit dem Bulgaren Georgi Dimitroff illustriert, während andererseits nach Beweisen für den Umsturz gesucht wurde. Anders ist auch nicht zu erklären, warum sich die Nazis auf das Risiko des Reichstagsbrandprozesses vor dem Reichsgericht einließen, der trotz aller Voreingenommenheit der Prozeßführung mit dem Freispruch der vier Kommunisten endete. Die Blöße, die sich das Regime gab, wird weiterhin durch die seltsame Reise des nationalsozialistischen Torgier-Verteidigers Alfons Sack nach Paris und London unterstrichen, der sich dort — die Braunbuch-Propaganda war zu dieser Zeit gerade angelaufen — mit prozeßrelevanten Informationen versorgen wollte.15 Die unbewiesenen Anschuldigungen der NS-Führung gegen die Kommunisten provozierten geradezu die bereits unmittelbar nach dem 27. Februar einsetzenden Gerüchte über deren eigene Verwicklung in die Brandstiftung. Sogar in den Reihen der nationalsozialistischen Funktionsträger wurde das für möglich gehalten. 16 Während Goebbels kurz vor dem Brand davon gesprochen hatte, daß »unsere Propaganda nicht nur von der deutschen, sondern auch von der internationalen Presse als vorbildlich und nie dagewesen anerkannt« werde, war das Kabinett nur wenige Tage später nach dem bisherigen Echo recht kleinlaut geworden. Es sei zu prüfen, hielt das Protokoll am 2. März fest, »ob nicht gegen die Auslandspresse etwas unternommen werden könne, die zum Teil schon darüber berichtete, daß der Reichstag von den Nationalsozialisten selbst angezündet worden sei.« Hitler schienen angesichts der unübersehbaren Wirkungen der von der Parteiführung losgetretenen Verdächtigungen Zweifel gekommen zu sein: »Dem Geschrei wäre der Boden entzogen worden, wenn der Täter (Hervorhebung von C.-D.K.) sofort aufgehängt worden wäre.«17
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III Erst am 3. März verbreitete das Zentralkomitee der KPD - soweit seine Mitglieder nicht verhaftet waren — eine Erklärung, die jede Verbindung der Partei mit dem Brand wie auch die angeblichen Funde in der Parteizentrale zurückwies. Es bedurfte keines großen Scharfsinns, um die von den Nationalsozialisten erhobenen und vom amtlichen Preußischen Pressedienst verbreiteten Anschuldigungen zu widerlegen. Süffisant wies die Erklärung auf die Merkwürdigkeiten in den ersten Berichten des Völkischen Beobachters hin, nach denen die NS-Führung schon unmittelbar nach Ausbruch des Brandes im Reichstag eingetroffen war und sogleich den »Bolschewismus« für die Tat verantwortlich gemacht hatte, Stunden bevor überhaupt die Identität van der Lübbes festgestellt werden konnte. 18 In den Tagen zuvor hatte auch die internationale Presse Zweifel an der nationalsozialistischen Version der kommunistischen Brandstiftung angemeldet und hier und da bereits die Möglichkeit einer selbstinszenierten Provokation angedeutet. 19 Diesen Faden haben die Kommunisten in ihrer Erklärung aufgenommen, und darauf sollte - in akzentuierter Zuspitzung - die folgende Braunbuch-Kampagne beruhen. Zu dieser Zeit konnte von einem organisierten politischen Exil noch nicht gesprochen werden. Die zumeist überstürzte Massenflucht — so auch die Willi Münzenbergs und der künftigen Braunbuch-We.rfasser - hatte erst mit dem 27. Februar begonnen, und es dauerte naturgemäß einige Wochen, ehe vor allem in Prag und Paris die nötige Infrastruktur entstanden war. Die erkennbaren propagandistischen Fehlleistungen der NS-Führung bei der Funktionalisierung des Reichstagsbrandes zum Ausbau des Gewaltregimes waren in solcher Situation geradezu ein Geschenk für das politische Exil bei der Vorbereitung plausibler antifaschistischer Aktionen. Aus der Distanz konnten sie sich zwar nur auf das Wort erstrecken, doch die anlaufende Gegenpropaganda erfüllte gleich mehrere Zwecke. Sie diente der eigenen Formierung im Exil, sie wirkte als Ermutigung für den innerdeutschen Widerstand und sie richtete sich als mobilisierender Appell an die internationale Öffentlichkeit. Wenn diese frühe Propaganda des Exils vor allem mit der Braunbuch-Kampagne bzw. den Aktivitäten Willi Münzenbergs verbunden wird, so heißt das nicht, daß er und seine Mitstreiter das Thema Reichstagsbrand allein besetzt hatten. Fast jede politische Exil-Gruppierung hat sich dazu geäußert, man denke nur an Erich Kuttners für die Sozialdemokratie publizierte Schrift Reichstagsbrand. Wer ist verurteilt?, an die von Berthold Jacob für die Deutsche Liga für Menschenrechte herausgegebene Broschüre Wer? Aus dem Arsenal der Reichstagsbrandstifter oder an die Darstellung von Einzelgängern wie Theodor Kramers Blut-März. Enthüllungen zum Reichstagsbrand, um nur
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einige wenige Beispiele zu nennen. Welche Bedeutung dem Ereignis zudem international beigemessen wurde, mögen ferner die umfassenden Studien des Schweizer Journalisten Ferdinand Kugler Das Geheimnis des Reichstagsbrandes und des Times-Korrespondenten Douglas Reed The Burning of the Reichstag andeuten. Alle diese Schriften erschienen jedoch erst nach dem Reichstagsbrandprozeß, das heißt lange nach den spektakulären Publikationen der Münzenberg-Gruppe. 20 Auffallend ist, daß die Veröffentlichungen der unterschiedlichen Gruppen im Aufbau und ihre Schlußfolgerungen erkennbar den Vorgaben des Braunbuchs folgten. Schon das dokumentiert seine fulminante Durchschlagskraft. Reaktionsschnell präsentierte das bereits am 1. August 1933 erschienene Braunbuch die erste systematische Darstellung und Hintergrundanalyse nicht allein des Reichstagsbrandes, sondern auch des neuen Regimes in Deutschland und setzte damit die argumentativen Maßstäbe. Die antifaschistische Propaganda der Sozialdemokratie kam demgegenüber sehr viel zögernder in Gang. Erst im Sommer 1933 konstituierte sich die SOPADE aus den exilierten Teilen des Parteivorstands in Prag, und ihre nicht weniger zahlreichen Beiträge zum Kampf gegen Hitler erschienen erst gegen Ende des Jahres im Karlsbader Graphia-Verlag. Zunächst waren das — wie etwa die programmatische Schrift Neu beginnen! von Walter Löwenheim (Miles) — eher der internen Klärung dienende theoretische Analysen, an die sich erst später zahlreiche Darstellungen zur Aufklärung über das Terrorsystem in Deutschland anschließen sollten. Mit Gerhard Segers in diverse Sprachen übersetztem Erfahrungsbericht Oranienburgsrreichte die Sozialdemokratie ab 1934 dann auch die breitere internationale Öffentlichkeit, besonders in den USA.21 Die Einzelheiten des organisatorischen Rahmens der Münzenberg-Offensive, die Gründung des »Hilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus« in wichtigen europäischen Metropolen mit prominenten, nichtkommunistischen Repräsentanten, in dessen Auftrag auch das Braunbuch formell publiziert wurde, oder die Übernahme der Editions du Carrefour in Paris als Zentralverlag der künftigen Propaganda, sollen hier nicht interessieren. Bedeutender waren die ersten publizistischen Aktionen der MünzenbergGruppe. Schon Mitte April wurde aus ihrem Kreise dem Pariser Vertreter des angesehenen liberalen Manchester Guardian ein anonymes Manuskript zur Veröffentlichung übergeben, das aus dem inneren Kreis der Macht in Deutschland stammen sollte und die nationalsozialistischen Kabinettsmitglieder als Drahtzieher der Brandstiftung benannte. Anfang Mai wurde bekannt, daß der Fraktionsvorsitzende der Deutschnationalen, Ernst Oberfohren, nach schweren innerparteilichen Konflikten mit dem Parteivorsitzenden und Wirtschaftsminister Alfred Hugenberg Selbstmord begangen hatte. Durch diesen Zufall ließ sich für jenen anonymen Text ohne Risiko ein Verfasser namhaft machen. Das fortan sogenannte Oberfohren-Memo-
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randum war das erste Dokument mit quasi offiziellem Charakter, welches die Schuld der Nationalsozialisten am Reichstagsbrand nachwies. Es erschien sogleich als Broschüre in deutscher und englischer Sprache sowie als Abdruck in verschiedenen Exil-Zeitschriften, die sich bei der Veröffentlichung auf den unzweifelhaften ersten Fundort im Manchester Guardian Ende April berufen konnten. 22 In der Hektik der Produktion fielen einige gravierende Widersprüche in den verschiedenen Versionen nicht weiter auf. Während nach der englischen Fassung ein Journalist den Text nach den Angaben Oberfohrens verfaßt haben sollte und davon einige Kopien heimlich in Deutschland zirkulieren ließ, hatte nach der deutschen Ausgabe dieser den Text selbst verfaßt und der englischen Zeitung zukommen lassen. Abweichend waren ebenso die Angaben über die Todesumstände Oberfohrens, der sich einmal freiwillig erschossen haben sollte, das andere Mal von der SA bei einer Haussuchung zur Selbsttötung gezwungen worden sei. Im Braunbuch wurde das Memorandum dann als Schlüsselbeweis eingeführt, der die Richtigkeit der dort zuvor abgedruckten, nur auf Vermutungen beruhenden Berichte aus der Weltpresse bestätigte. 23 Das war nur der erste Coup, der die Nationalsozialisten bereits propagandistisch in die Defensive brachte. In einem wütenden Artikel des Völkischen Beobachter hatte sich Goebbels schon am Tag nach der Veröffentlichung des Manchester Guardian gegen die »unverschämte Verleumdung und Verunglimpfung der Reichsregierung« ereifert. Diese legte auch sogleich massiven Protest in London ein. Denn prekär für die NS-Führung war, daß die Gedankenführung der Denkschrift sich nicht nur in der Presse der Emigranten fand, sondern auch in den großen liberalen Blättern des Auslandes. In seiner Anfang 1934 erschienenen Monographie über den Reichstagsbrand-Prozeß suchte der Torgier-Verteidiger Sack zwar nachzuweisen, daß das Oberfohren-Memorandum auf die Erklärung des ZK der KPD von Anfang März zurückgehe, doch mehr als eine Vermutung bot er nicht, die von ihm angeführten stilistischen Gründe und der Argumentationsduktus geben das nicht her. Dennoch lag Sack nicht falsch. Nach späteren Aussagen von Harry Schulze-Wilde, dem ehemaligen Sekretär Theodor Pliviers, soll Albert Norden, bis zum Verbot am 28. Februar Redakteur der Roten Fahne, das Memorandum verfaßt haben. 24 An diesen agitatorischen Erfolg knüpften die fieberhaften Vorbereitungen für das Braunbuch seit der ersten Mai-Hälfte an. Sie wurden flankiert von der Herausgabe der neuen Zeitschrift des Hilfskomitees unter dem programmatischen Titel Der Gegen-Angriff als Antwort auf die von Goebbels geführte Zeitschrift Angriff. Unter Federführung des Journalisten Otto Katz (André Simone) verstand es Münzenberg, zahlreiche intellektuelle Fellow Travellers dafür zu gewinnen, unter ihnen Alfred Kantorowicz, Arthur Koestler und Gustav Regler, die über die Entstehung des Braunbuchs ausführlich
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berichtet haben. 2 5 Der Argumentationsrahmen war weitgehend abgesteckt, die »kriminalistische« Aufgabe bestand nur noch darin nachzuweisen, den gestellten van der Lübbe — die einzig gesicherte Tatsache in der PropagandaSchlacht beider Seiten — als Werkzeug und Helfer der Nationalsozialisten erscheinen zu lassen, da angesichts des Brandausmaßes — so die übereinstimmende A n n a h m e aller zeitgenössischen Beobachter - ein einzelner die Tat unmöglich allein begangen haben konnte. Mit dem berühmten unterirdischen Gang, der das Haus des Reichstagspräsidenten Göring und das Parlament verband, konnte ohne weiteres eine Tatbeteiligung der SA konstruiert werden. Auf diesen G a n g war ebenfalls schon in der öffentlichen Diskussion nach dem 27. Februar aufmerksam gemacht worden, allerdings nur als Fluchtweg der weiteren Brandstifter. 26 Die Originalität des Braunbuchs bestand nur darin, das Argument umzukehren und jenen Gang als »strategische Anmarschstraße für die Brandstifterkolonne« ins Spiel zu bringen. U n d die Verbindung des Holländers zur SA wurde über unterstellte homosexuelle Kontakte zum Milieu des Stabschefs der SA, Ernst Röhm, gezogen, dessen Neigungen öffentlich bekannt waren. Wie im Fall des Oberfohren-Memorandums wurde dafür wiederum ein toter Zeuge reklamiert, der Anfang April 1933 von den eigenen Leuten erschossene ehemalige Freikorps-Mann u n d Ex-Nationalsozialist Georg Bell. Er hatte zu den engen Vertrauten Röhms gehört u n d war Mitwisser eines 1931 geplanten Attentats auf Hitler aus Kreisen der SA gewesen, um die »Verbonzung« der Partei unter seiner F ü h r u n g zu verhindern. 2 7 Die von Koestler später beschriebene Strategie der Braun buch-WWt&rbeiter, die mangels unmittelbarer Beweise »auf Deduktion, Intuition und Pokerbluff« zurückgreifen und sich aufs Raten und »Schüsse ins Blaue« verlassen mußten 2 8 , war um so wirkungsvoller, als das »Blindekuhspiel« u m die Ursachen des Reichstagsbrandes nur den kleinsten Teil des Braunbuchsausmachtc. U n d selbst dort wurden die manipulierten Konstruktionen noch recht geschickt verpackt. Im Z e n t r u m dieser Abschnitte - knapp 60 der insgesamt 400 Seiten — stand die Katalogisierung von auffallenden Widersprüchen in den amtlichen Verlautbarungen der Reichsregierung u n d der deutschen Presseagenturen, vor denen sich die eigenen falschen (Oberfohren-Memorandum, van der Lübbes Beziehungen zur SA) und die vermuteten Tatsachenbehauptungen (der unterirdische Gang), gemischt mit richtigen Sachverhaltsdarstellungen (z. B. Görings frühere Morphiumsucht in Schweden nach seiner Flucht aus Deutschland nach dem Hitler-Putsch in M ü n c h e n 1923) relativ unscheinbar ausnahmen. Ihre Uberzeugungskraft gewannen diese Passagen vor allem durch die Einbettung in die allgemeine Geschichte des NS-Terrors, die den größten Teil des Braunbuchs einnahm. Sie gaben in systematischer Aufbereitung das wieder, was bekannt war u n d zuvor in den Zeitungen gestanden hatte. 2 9 Hier und da scheint zwar die politische
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Affinität der Verfasser durch, so beispielsweise, wenn aus den Wahlergebnissen in der Schlußphase der Weimarer Republik der »ununterbrochene Aufstieg« der Kommunistischen Partei hergeleitet wird. 30 Doch waren das eher marginale Einsprengsel, zudem noch umrahmt von Verlautbarungen neutraler ausländischer Beobachter über die Verhältnisse in Deutschland. Das letzte Kapitel mit der ursprünglich geplanten Uberschrift »Faschistische Zwangsherrschaft oder Sozialismus« wurde aus Rücksicht auf den weiteren Adressatenkreis sogar moderater in »Der heroische Kampf der deutschen Arbeiter« umbenannt. Nicht zuletzt beruht der durchschlagende Erfolg des Braunbuchs auf seiner formalen Gestaltung. Die Aufmachung als kollektives Gemeinschaftswerk anonymer Autoren unterstrich den sachlich-dokumentarischen Charakter dieser ersten Gesamtdarstellung des NS-Systems. Die Wahl des Titels gab ihm zusätzlich einen quasi offiziellen Anstrich, denn er reihte sich in die seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Tradition der sogenannten Farbbücher europäischer Staaten und Regierungen ein, deren diplomatische Schriftstücke nach der Farbe des Umschlags benannt wurden (Weiß-, Blaubücher etc.). Schließlich stellten die Internationale Arbeiter-Hilfe bzw. die Komintern die nötigen Mittel für die weltweite Verbreitung bereit. In wenigen Monaten wurde das Braunbuch in mehr als 20 Sprachen übersetzt, nicht nur in die großen Weltsprachen — in denen es mit jeweils mehreren Auflagen erschien - , sondern auch ins Jiddische, Iwrit, Flämische oder Japanische. Insgesamt sollen mehr als 500.000 Exemplare erschienen sein, zu denen noch unterschiedliche, als Tarnschriften aufgemachte Ausgaben zur illegalen Verbreitung in Deutschland kamen.31 Unter dem Titel Dimitroff contra Göring. Enthüllungen über die wahren Brandstifter erschien nach diesem publizistischen Erfolg Anfang 1934 noch das sogenannte Braunbuch II32, ebenfalls in mehrfachen Übersetzungen und Auflagen. Sein Gegenstand war, wie der Titel andeutet, der Leipziger Reichsgerichtsprozeß vom Herbst 1933, zu dem Stellungnahmen international bekannter Schriftsteller wie Romain Rolland und Lion Feuchtwanger sowie eine aktuelle Chronologie des täglichen Terrors seit dem 30. Januar 1933 mit mehr als 700 politischen Morden gebracht wurden. Die Wirkung des ersten Braunbuchs hatte es allerdings nicht mehr, da es nur dessen Tenor wiederholte. Spektakulärer waren stattdessen andere Aktivitäten der MünzenbergGruppe im Vorfeld des Leipziger Prozesses gewesen, um die Mobilisierungskampagne in der internationalen Öffentlichkeit fortzusetzen. Da es der Internationalen Arbeiter-Hilfe nicht gelungen war, prominente ausländische Anwälte zur Verteidigung der vier angeklagten Kommunisten nach Leipzig zu schicken — das Reichsgericht hatte das nach der Strafprozeßordnung formal korrekt abgelehnt —, organisierte Münzenberg den sogenannten Lon-
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doner Gegenprozeß, für den international bekannte Persönlichkeiten als Sachverständige gewonnen wurden — unter ihnen aus Großbritannien der Königliche Rat Denis Nowell Pritt, ein Fachanwalt für internationales Recht, der den Vorsitz führte und später auch das Vorwort zum Braunbuch II schrieb, sodann der Amerikaner Arthur G. Hays, ehedem Verteidiger Sacco und Vanzettis, der Pariser Strafverteidiger Vincent Moro-Giafferi sowie der schwedische Anwalt und sozialdemokratische Parlamentarier Georg Branting. Auch dieses Unternehmen war mehr als ein platter Propagandazug. Mit dem Braunbuch quasi als Anklageschrift ermittelte die internationale Untersuchungskommission, wie sich die Londoner Veranstaltung offiziell nannte, die Tatumstände des Reichstagsbrandes auf der Basis umfassender Zeugenbefragungen aus den unterschiedlichen Lagern des politischen Exils und von Kennern der Verhältnisse in Deutschland, darunter der ehemalige sozialdemokratische Innenminister in Preußen und Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski, der frühere Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion Rudolf Breitscheid sowie der Chefredakteur der liberalen Vossischen Zeitung und Wirtschaftspolitiker Georg Bernhard. Wenn Fritz Tobias die Mitglieder der Untersuchungskommission später in überzogener Polemik als »ahnungslose Engel< zwischen den kommunistischen Teufeln in Paris und den Nazi-Dämonen in Berlin oder Leipzig« charakterisiert hat33, wobei er unzulässigerweise das Verfahren in London juristisch mit dem Leipziger Prozeß auf eine Stufe stellt, so mißversteht er den demonstrativen Akt in London und unterstellt den Beteiligten die Funktion nützlicher Idioten Münzenbergscher Manipulationen. Unschwer ist jedoch zu erkennen, daß das Verfahren in der britischen Hauptstadt etwas vorbereitete, was in den 1960er Jahren mit den Russell-Tribunalen unter anderem gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam fortgesetzt wurde. Unabhängig von diplomatischen Gepflogenheiten der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, auch nicht ausgestattet mit politischer Legitimation oder anderen Machtbefugnissen erhob eine Gemeinschaft von Intellektuellen ihre Stimme als moralisches Gewissen. Das Thema in London war im übrigen nicht von der Münzenberg-Gruppe künstlich lanciert worden, es interessierte nicht nur die direkt betroffenen Exilanten aus Deutschland, sondern war auch in der internationalen Öffentlichkeit diskutiert worden. Wie zuvor das Braunbuch nahmen die Londoner Verhandlungen dieses öffentliche Interesse auf. Und sie wurden in Deutschland sichtlich ernst genommen, wie die beobachtende Teilnahme von Alfons Sack sowie verschiedene Anfragen des Oberreichsanwalts bei den Untersuchungsführern in London dokumentieren. 34 Auch war es nicht so, daß die Londoner Kommission nur das bestätigte, was das Braunbuch bereits vorgegeben hatte, wie Sack und ihm folgend Tobias behaupten. Die homosexuellen Beziehungen van der Lübbes zur SA-Führung wies sie als unwahr-
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scheinlich zurück, und das Oberfohren-Memorandum wurde ebenfalls wegen fehlender Evidenz nicht berücksichtigt. Die Kommission hat auch kein Urteil gefällt, wie Tobias fälschlicherweise annimmt, sondern nur »Schlußfolgerungen« aus dem öffentlich zugänglichen Material und den Zeugenvernehmungen gezogen, nämlich (1) daß van der Lübbe kein Mitglied der kommunistischen Partei war, (2) daß er den Brand nach den Umständen nicht allein begangen haben konnte und (3) »daß ein solcher Brand zu der in Frage kommenden Zeit von großem Vorteil für die nationalsozialistische Partei war.« Diese Schlußfolgerungen richteten sich als Appell an das Deutsche Reich, »daß jede rechtsprechende gerichtliche Instanz«, so der Schlußsatz, »diesen Verdachtsmomenten nachzugehen verpflichtet ist.«35 Der politische Effekt der Londoner Verhandlungen bestand vor allem darin, die Untersuchungsergebnisse zeitlich exakt terminiert am Tag vor Beginn des Leipziger Prozesses am 20. September 1933 bekanntgegeben zu haben. Flankiert wurde die Veröffentlichung - nur darin ist die Handschrift der Münzenberg-Kampagne zu erkennen - von täglichen Extrablättern des Gegen-Angriffseit 15. September sowie von einer Vielzahl von Broschüren des Weltkomitees für die Opfer des Hitlerfaschismus, die, an unterschiedliche Adressatenkreise gerichtet, das breite Spektrum von der sachlichen Berichterstattung bis hin zur reißerisch aufgemachten Sensationspropaganda abdeckten. Unter Beteiligung weiterer internationaler Rechtsgelehrter wurde beispielsweise die Leipziger Anklageschrift wiederum mit widerlegenden Argumenten veröffentlicht, daneben wurden ganze Schriftenreihen zum Terror, zur Peste Brune in Deutschland in Umlauf gesetzt. Die dort beigegebenen Bilder, zum Teil aus dem Braunbuch übernommen, mehrheitlich jedoch neues Material aus den Konzentrationslagern und Zeugnisse der alltäglichen öffentlichen Repression vor allem gegen die jüdische Bevölkerung, häufig sogar von deutschen Agenturen, fanden auf diesen Wegen große Verbreitung, und sie gehören heute zu den visuellen Standarddokumenten aus den ersten Jahren der NS-Herrschaft. 36 Augenscheinlich übersahen die Veranstalter der Broschürenflut ihre Produktionen bald selbst nicht mehr im einzelnen. Eine Aufstellung der Schriften, Flugblätter, Bulletins und anderer Materialien des Hilfskomitees zum ersten Jahrestag seines Bestehens erfaßte nur einen Teil dieser Erzeugnisse, obwohl die dort angegebenen 6 6 Propagandaschriften - davon 18 in deutscher, 15 in französischer und 21 in englischer Sprache, bei letzteren 14 in den USA - mit Auflagen jeweils zwischen 5.000 und 50.000 Exemplaren bereits einen quantitativ bemerkenswerten Umfang hatten. 37 In der Organisations- und Planungshektik unterliefen den Strategen zuweilen gravierende taktische Fehler, die dem Gegner allzu leicht Angriffsflächen boten und damit den Erfolg der Aktionen gefährdeten. Die sachliche Distanz der Londoner Kommission und ihre so detailgenau publizierten Ergebnisse wur-
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den beispielsweise dadurch konterkariert, daß Moro-Giafferi kurz vor deren Zusammentreten in Paris eine emotional gestimmte und pathetisch formulierte öffentliche Rede gehalten hatte, die zeitgleich unter dem provozierenden Titel Göring, der Brandstifter bist Du! als Zeitschriften-Artikel und in Broschürenform publiziert wurde. 38 Moro-Giafferi, immerhin Mitglied der Kommission, dokumentierte damit, daß er schon wußte, was herauszufinden deren Aufgabe sein sollte. Für Alfons Sack etwa war das eine nur allzu gern aufgenommene Bestätigung seiner bzw. der nationalsozialistischen Vermutungen über das Londoner Unternehmen. Hatte er bei seinem Aufenthalt in England noch sichtlich irritiert das große öffentliche Interesse an den Verhandlungen, die Sachlichkeit der Presseberichte sowie insbesondere die Gelassenheit der britischen Regierung zur Kenntnis nehmen müssen, die auf deutschen Druck lediglich erklärte, daß der Untersuchungsausschuß eine private Angelegenheit der Initiatoren sei, so war es ihm nunmehr eine um so größere Genugtuung zu sehen, wie sich jener »Anwalt des Rechts« selbst und damit das ganze Londoner Komitee desavouierte: »Jetzt saß er, den jedes Gericht der Welt als befangen hätte ablehnen müssen, als >Richter< in diesem Raum, war also >Richter< und >Ankläger< in einer Person.«39 Gleichwohl zeigte der Leipziger Prozeß vom 20. September bis zum Urteil am 23. Dezember 1933, daß die Münzenberg-Propaganda und ihre zeitlich abgestimmte Regie aufgegangen waren. Nicht nur beherrschte das Braunbuch als »sechster Angeklagter« die Verhandlungen — sogleich brachte Münzenberg dazu eine neue Broschüre unter dem Titel Der Kampf um ein Buch in 20.000 Exemplaren heraus. 40 Der Freispruch der vier mitangeklagten Kommunisten, der für Ernst Torgier allerdings die Überführung ins Konzentrationslager bedeutete, ließ die bisherige Denunziationskampagne gegen sie trotz massiven Drucks auf das Gericht wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Die Hinrichtung van der Lübbes Anfang Januar 1934 nach einem rückwirkenden Sondergesetz vom 29. März 1933, von der Reichsregierung wenige Tage nach dem Ermächtigungsgesetz beschlossen, bestätigte im übrigen den Tenor des Braunbuchs, daß in Deutschland nicht einmal mehr der Anschein von Bindung an die traditionelle Rechtskultur aufrechterhalten wurde. Wie sehr das NS-Regime durch die Braunbuch-Propaganda in die Defensive geraten war, zeigten die offiziellen Reaktionen. Nach Erscheinen einer zustimmenden Rezension zum Braunbuch in der englischen Wirtschaftszeitung The Economist - sie sei hier exemplarisch für das internationale Presseecho angeführt — empörte sich der deutschnationale Finanzminister Schwerin von Krosigk nicht zuletzt aus Angst, ausländische Wirtschaftskreise könnten die Boykott-Aufrufe verschiedener internationaler Gewerkschaften gegen Nazi-Deutschland unterstützen, in einem offenen Brief an den Herausgeber Walter Layton darüber, daß er die »einseitige Darstellung« der Emi-
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granten »kritiklos« übernommen habe. Seine Aufregung war um so berechtigter, als der Economist die Besprechung nicht allein unter den »leading articles« des laufenden Heftes vom 2. September, und dann auch noch mit dem augenfälligen Titel »The Hitler Terror« plaziert hatte. Sie gipfelte zudem in dem eindeutigen Schluß, daß diese Dokumentation zwar hier und da aus dem Blickwinkel des philosophischen Marxismus argumentiere, in der Substanz jedoch sei sie »a terrible and damning indictment of the aims, methods and spirit of the Nazi movement« und habe damit eine wertvolle Aufklärung darüber geliefert, welche Bedrohung das neue Regime in Deutschland für die gesamte zivilisierte Welt darstelle. Auf Schwerin von Krosigks Klage über die Einseitigkeit der Berichterstattung reagierte Layton nur noch mit sarkastischer Ironie. Er glaube kaum, daß seine Zeitschrift die Regeln des journalistischen »fair play« verletzt habe, wenn man die offiziellen Verlautbarungen führender deutscher Politiker lese, die jeder Rechtsnorm widersprechend die Schuld der Kommunisten behaupteten, ehe der bevorstehende Prozeß darüber ein Urteil gefällt habe, zudem in einer Sprache, die alle zivilen Standards hinter sich gelassen habe. Und schließlich: »As regards the »Terror«, it is not denied in Germany that the Nazi revolution has been accompanied by murders and acts of cruelty, nor that the Government is still responsible for systematised oppression of liberty — e. g. the concentration camps.«41 Kurz vor Beginn des Leipziger Prozesses hatte Goebbels als Antwort auf das durch das Braunbuch und das Londoner Untersuchungsergebnis ausgelöste verheerende internationale Echo bei einer Pressekonferenz eine eilig zusammengestellte und in mehrere Sprachen übersetzte Broschüre verteilen lassen. Sie wollte mit den im Karl-Liebknecht-Haus gefundenen Materialien spektakuläre »Enthüllungen über den kommunistischen Umsturzversuch am Vorabend der nationalen Revolution« liefern, bot tatsächlich aber nicht mehr als eine Kompilation von Äußerungen aus früher veröffentlichten kommunistischen Schriften, garniert mit umfassenden Bildmaterialien von Aufständen aus den frühen zwanziger Jahren. 42 Im Eifer hatten die Autoren auch nicht bemerkt, daß sie die angeblichen Umsturzanweisungen der KPD auf unterschiedliche Zeiten datierten, einmal auf den 28. Februar, wenige Seiten später auf den Wahltag am 5. März. Wohlweislich hatte das Propaganda-Ministerium dieses Werk nicht offiziell und in eigenem Namen herausgegeben, sondern vom Gesamtverband deutscher antikommunistischer Vereinigungen veranstalten lassen, von dem es sich nach jenen peinlichen Fehlern und nur allzu deutlich zu durchschauenden Absichten wenige Wochen später distanzierte.43 Diese Blamage suchte der Verband dadurch wieder gut zu machen, daß er über den Reichstagsbrand nunmehr einen Profi schreiben ließ, den bekannten Feuilletonisten aus der alldeutschen Bewegung Adolf Stein, in den zwan-
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ziger Jahren bekannt unter dem Pseudonym »Rumpelstilzchen«. Leitmotivisch rechnete dessen Werk mit dem »Lügenbuch der Internationale« ab, wobei es an die strategischen Propaganda-Topoi der Nationalsozialisten aus den zwanziger Jahren anknüpfte, die mit der Unterscheidung von korrupten Bonzen und verführter Masse breitere Sympathie unter den Arbeitern zu gewinnen hoffte. Das von den »geflüchteten Pavianen der jüdischen Intellektuaille« fabrizierte Geschrei sei von den »Millionären und Salonbolschewisten Münzenberg und Einstein und Genossen« über die Welt verbreitet worden, während das »Dritte Reich« den von ihnen Verführten »brüderlich die Arme geöffnet« habe: »Solch eine anständige Staatsumwälzung hat es noch nie gegeben.« Und das Goebbels-Diktum von den Emigranten als »Kadaver(n) auf Urlaub« suchte Stein blutrünstig zu übertreffen: »Der Kadaver des blutigen, kronenlosen Tieres aus dem Abgrunde ist verscharrt und stinkt nur noch unter den Emigranten im Auslande.«44 Noch hilfloser fiel die Herausgabe eines zweiten Anti-Braunbuchs aus.45 Der Verfasser Jakow Trachtenberg, vermutlich ein weißrussischer jüdischer Emigrant in Goebbels' Diensten, hatte bereits zuvor im Auftrag des Auswärtigen Amtes quasi als unzweifelhafter Kronzeuge ein dreisprachig aufgemachtes Buch gegen die »Greuelpropaganda« des Auslandes nach dem ersten organisierten Judenboykott vom 1. April 1933 vorgelegt, das über die deutschen konsularischen Vertretungen verbreitet wurde. 46 Sein Ariü-Braunbuch, das laut Vorwort schon 1933 abgeschlossen worden war, aber erst 1934 publiziert wurde, da es in merkwürdiger Selbsteinschätzung des Verfassers das Urteil des Reichsgerichts nicht beeinflussen wollte, suchte im Stil der berüchtigten antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion den Nachweis zu führen, daß nicht nur die Kommunisten in Deutschland, sondern eine internationale jüdisch-bolschewistische Verschwörung - das Leitmotiv der völkischen Bewegung seit 1918 — die Welt bedrohe. Ohne direkt auf den Reichstagsbrand einzugehen, leitete es aus diversen Brandkatastrophen der jüngsten Vergangenheit in Europa gezielte Anschläge ab, woraus dann der spektakuläre Schluß gezogen wurde: »Die Kommunisten sind auch Brandstifter.« 47 Die Primitivität und Vulgarität auch dieses Werks waren dem PropagandaMinisterium in jener Phase offenbar ebenfalls so peinlich, daß es offiziell im Selbstverlag erschien und der Verfasser wie der angebliche Ubersetzer in vorangestellten eidesstattlichen Versicherungen erklärten, »auf eigene Initiative« gehandelt zu haben. Schließlich folgte als ein drittes Anti-Braunbuch noch die Anfang 1934 erschienene Geschichte über Oranienburg, eines der ersten deutschen Konzentrationslager. 48 Wie schon im Pamphlet von Adolf Stein traten hier die »aufrechten Proleten« als Verführte ihrer intellektuellen Führer auf, die sich am Tage der nationalen Revolution feige ins Ausland abgesetzt hätten. Wer nach dieser Lesart den von der NS-Führung angenommenen und noch im
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ersten Anti-Braunbuch dargestellten kommunistischen Umsturz vorbereitet haben könnte, war den Verfassern nicht mehr der Rede wert. Das Konzentrationslager wurde als bukolische Idylle dargestellt, aus der die »politisch Danebengeratenen« nach der geistigen und seelischen Selbstbefreiung überhaupt nicht mehr fortwollten: »Das, was wie ein Alpdruck auf ihrem Gewissen gelastet hatte, schwand wie ein böser Spuk.« Die Mehrheit der Lagerinsassen habe sehr schnell erkannt, daß die »Schreiber des Braunbuchs und ähnlicher trauriger Elaborate« nur »Emigrantenstandpunkte« repräsentierten, die von der tatsächlichen Lage in Deutschland nichts wüßten und daher nur zu »Haß und niedrigem Rachegefühl aufgrund ihres eigenen Versagens fähig seien.«49 Die nachhaltige Wirkung des Braunbuchs mag schließlich daran zu erkennen sein, daß es noch Jahre später in die Kalküls der NS-Politik einbezogen wurde. Anfang 1935 stand das Reichsjustizministerium vor der Frage, wie dem inhaftierten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann der Prozeß zu machen sei und welche Wirkung dieser womöglich in der Öffentlichkeit haben würde. Die Anklageschrift des Oberreichsanwalts war außerordentlich dürftig ausgefallen; er mußte einräumen, daß der Vorwurf des Hochverrats (§§ 83 und 85 StGB) höchst unsicher sei und allein von der Beurteilung der Ereignisse im Januar und Februar 1933 abhinge: »Das einzig Besondere an dem Verfahren sei, daß es sich gegen die Person Thälmanns richte. Sensationslüsterne Gemüter würden in keiner Weise auf ihre Rechnung kommen.« 50 So stand der Justizminister vor einem Dilemma. Das Propaganda-Ministerium drängte auf ein spektakuläres Gerichtsverfahren, das wenigstens diesmal »der Welt die durch den Nationalsozialismus von allen westeuropäischen Staaten abgewandte Gefahr des Kommunismus mit aller Deutlichkeit vor Auge führe.« Dagegen hielt das Auswärtige Amt das Ansinnen, den Prozeß »in den Dienst einer groß angelegten antikommunistischen Propaganda zu stellen, ... für vollkommen indiskutabel.« Er würde nur die Peinlichkeiten des Reichstagsbrand-Prozesses wiederholen und den »Auslandskreisen« wiederum »willkommenen Anlaß zu einem neuen wütenden Pressefeldzug gegen das heutige Deutschland bieten«. Einen dritten Weg gab schließlich das Innenministerium vor: Von einem Prozeß sei aus innen- und außenpolitischen Gründen abzusehen, wenn »nicht Enthüllungen von ganz außerordentlicher Bedeutung über die kommunistische Gefahr« beigebracht werden könnten. Den Prozeß hat es dann auch nie gegeben; bis zu seiner Ermordung 1944 in Buchenwald ist Thälmann ohne förmliche Anklage inhaftiert geblieben. Im Rückblick hat Arthur Koestler bemerkt, daß die erste Propagandaschlacht zwischen den Nazis und den Exilanten um die Ursachen des Reichstagsbrandes mit einer völligen Niederlage der Nazis endete: »Es war die einzige Niederlage, die wir ihnen in den sieben Jahren vor dem Krieg zufügen konnten.« 51 Unter den deutschen politischen Flüchtlingen hatte es die Mün-
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zenberg-Gruppe mit der Braunbuch-Aktion eindrucksvoll verstanden, vor der internationalen Öffentlichkeit die Existenz eines anderen Deutschland deutlich zu machen. Z u einem sehr frühen Zeitpunkt brach sie nicht nur den Goebbels-Anspruch auf das Informations- und M e i n u n g s m o n o p o l , sondern konterkarierte auch dessen Versuch, die Identität von Nationalsozialismus und deutscher Gesellschaft herauszustreichen. D a ß den Exilanten weitere Erfolge versagt bleiben sollten, lag zum einen am Unverständnis des Auslands für die wirkliche Bedrohung durch den Nationalsozialismus, zum anderen an der fortdauernden Zersplitterung der im Exil weiterbestehenden politischen Gruppierungen. Zwar m a g die von Münzenberg organisierte und im Braunbuch symbolisierte Kooperation flexibler kommunistischer Strategen und intellektueller Multiplikatoren einen Eindruck davon vermitteln, welche Durchschlagskraft erfolgreiche Exilanten-Offensiven gegen die nationalsozialistische Bedrohung haben konnten (an diese Wirkung sollten noch weitere Publikationen der Editions du Carrefour anknüpfen 5 2 ), doch sind hier auch die Ursachen für die bald erkennbare Ausgrenzung Münzenbergs und anderer K o m m u nisten aus der Partei zu suchen. Während seine Publikationen den K a m p f in parteiübergreifender Zusammenarbeit auf den Nationalsozialismus ausrichteten, herrschten in den parteipolitischen Gruppierungen des Exils weiterhin die alten verhärteten, rückwärtsgewandten Bunkermentalitäten aus den zwanziger Jahren. Die »ständige mechanische Wiederholung schematischer Formeln und Parolen«, so Münzenberg später in seiner Austrittserklärung an die Adresse der eigenen Genossen, kennzeichneten eine Politik, die 1933 den Sieg Hitlers nicht verhindern konnte und deshalb wenig geeignet sei, »die noch größere und schwerere Aufgabe zu lösen, die Hitlerregierung zu stürzen und das nationalsozialistische Diktaturregime zu zerstören«. 5 3 N a c h seiner L ö s u n g von den K o m m u n i s t e n knüpfte M ü n z e n b e r g ab 1938 mit der neuen Zeitschrift Die Zukunfi, für die er Mitarbeiter aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern gewann, an jene offene Bündnisstrategie von 1933 an. 5 4 Französische und englische S o n d e r n u m m e r n sowie die G r ü n d u n g der »Union Franco-Allemande« dokumentierten darüber hinaus den Anspruch, ein exil- bzw. grenzüberschreitendes Netzwerk von Kontakten aufzubauen. Die Zeitschrift verstand sich nicht allein als S a m m l u n g gegen den Nationalsozialismus, sondern, wie es im Untertitel heißt und wie der internationale Mitarbeiterkreis belegen sollte, als Sprachrohr für ein neues Europa. Münzenbergs noch A n f a n g 1940 vorgetragene Vision einer geeinten Arbeiterklasse ohne Herrschaftsanspruch einer »Einheitspartei nach stalinistischem Muster« in einem geeinten Europa veranschaulicht, wie weit er sich im Lernprozeß des Exils von seiner eigenen Vergangenheit gelöst hatte. 5 5
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IV Welche durchschlagende Wirkung die Braunbuch- Kampagne über den unmittelbaren zeitgenössischen Anlaß hinaus hatte, zeigt die Tatsache, daß über den Reichstagsbrand noch in der Nachkriegszeit lebhaft diskutiert wurde und daß ihre Version der Brandursachen Eingang in die historische Forschung fand. Mitte der fünfziger Jahre erhielt der Journalist Richard Wolff, ein ehemaliger Emigrant, von der Bundeszentrale für Heimatdienst (heute: für politische Bildung) den Auftrag, das umstrittene Geheimnis des Brandes endgültig zu klären. Diese erste wissenschaftliche Untersuchung brachte nicht mehr, als die Braunbuch-These von der Mittäterschaft der Nationalsozialisten zu bestätigen.56 Nach weiteren Dokumentationen, so etwa die des Journalisten und früheren Emigranten Curt Riess im Stern11, veröffentlichte dann der Spiegel eine mehrwöchige Artikelfolge, die auf der erst einige Jahre später veröffentlichten Untersuchung von Fritz Tobias beruhte und erstmalig den Nachweis der Alleintäterschaft van der Lübbes führte. 58 Während der Spiegel das damals sensationelle Ergebnis der Tobias-Recherchen sachlich und überzeugend präsentierte, wird dieser Eindruck von Tobias' eigener 1962 erschienenen Arbeit wieder zunichte gemacht. Das voluminöse Werk des damaligen Oberregierungsrats im niedersächsischen Innenministerium und Hobby-Historikers ist ein maßloses Pamphlet im Geiste des Kalten Krieges, das die Alleintäterschaft van der Lübbes erklärtermaßen nur nachwies, um die »Moräste« der kommunistischen Propagandalügen (6) 59 trocken zu legen. Diesem Zweck dienen fast 80 Prozent des gesamten Werks. Das Braunbuch und die darum gruppierten weiteren Propagandaschriften aus dem »Büro M« werden stereotyp als »Machwerke« apostrophiert, grundsätzlich segeln die Autoren »unter falscher Flagge« (208), da sie »unbelastet durch überholte bürgerliche Normen« (210) vor nichts zurückschreckten. Ungeniert und »teufelsschlau« hätten sie die Namen berühmter Gelehrter wie etwa den Albert Einsteins »mißbraucht« (210/213). Dabei stützte Tobias sein Urteil auf die NS-Presse, wonach jener gegen die Verwendung seines Namens für das Münzenbergsche Welthilfskomitee protestiert haben solle. Ein Blick in Einsteins 1934 publizierte Aufzeichnungen hätte den Autor eines Besseren belehren können. Schon im September 1933 hatte der Economist nach der Abfuhr Schwerin von Krosigks jene von Goebbels lancierte Falschmeldung zurückgewiesen und eine Erklärung Einsteins wiedergegeben, daß er zwar mit der Abfassung des Braunbuchs nichts zu tun habe, von einem Rücktritt als Präsident des Welthilfskomitees aber keine Rede sein könne.60 Beim Verfasser des Braunbuch-Vorwons, dem britischen Oberhaus-Mitglied Edward Lord Marley, unterstellte Tobias ebenso, daß er ohne selbst eine Zei-
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le geschrieben zu haben, nur ein »glänzendes Honorar« für die Hergabe seines unverfänglichen guten N a m e n s eingestrichen und »geschmeichelt den Beifall der Welt für sein >mutiges< Eintreten gegen die deutschen Faschisten« auf sich gezogen habe (208). Tatsächlich jedoch wirkte Marley auf diversen Vortragsreisen in Frankreich und den U S A als Redner für das Welthilfskomitee. W ä h r e n d also das »Büro M « für Tobias den Reichstagsbrand nur auf perfide Weise instrumentalisierte, fand die Strategie der Nationalsozialisten offenbar seine Z u s t i m m u n g . Was Goebbels 1933 »glänzend gelang, worin er wahrlich seine Meisterschaft bewies, das war die propagandistische Auswertung des Brandes!« (235). In seltsam anmutender Verdrehung der Tatsachen stellte Tobias die Nationalsozialisten als O p f e r der deutschen Exilanten dar, welche von ihm augenscheinlich auch für den Terror in Deutschland verantwortlich gemacht wurden: »Die Nationalsozialisten reagierten ihre ohnmächtige Wut an den in ihrem Machtbereich >greifbaren< Freunden und Angehörigen ihrer Quälgeister im Ausland ab« (211). Dabei gerieten Tobias die Logik und zeitliche Kausalitäten einigermaßen durcheinander, so etwa bei der A n n a h m e , daß die Wut der Nationalsozialisten auf jene » Q u ä l g e i ster« etwa zu der »Vergeltungsaktion« des Judenboykotts v o m 1. April 1933 geführt habe (212), als von der Braunbuch-Propaganda oder ihren Vorstufen noch nicht gesprochen werden konnte. Nicht nur in der Wortwahl scheint bei Tobias zuweilen unreflektierter N S - J a r g o n durch, ebenso ist seine Darstellung nicht frei von antisemitischen Klischees. Wie sollte sonst der Hinweis verstanden werden, daß der amerikanische Jurist Arthur G . Hays jüdischer H e r k u n f t sei, der es sich a u f g r u n d seines Vermögens habe leisten können, auf Honorar zu verzichten, »zumal wenn — wie hier — ein entsprechender Zuwachs an Popularität in Betracht kam« (215). Nicht erstaunlich ist, daß das Tobias-Werk mit seiner faktischen Exkulpation der Nationalsozialisten unter Historikern äußerst reserviert a u f g e n o m men wurde. 6 1 Erst H a n s M o m m s e n , A n f a n g der sechziger Jahre am Institut für Zeitgeschichte in M ü n c h e n tätig, hat, wie einleitend angedeutet, die Einzelgängerthese des Täters van der L ü b b e durch eingehende Analyse der N S - H e r r s c h a f t in den ersten Wochen nach dem 30. Januar 1 9 3 3 auf ein argumentativ seriöses F u n d a m e n t gestellt. D e n n o c h sollten ideologische Verbohrtheiten prägend in der nach wie vor hitzigen Auseinandersetzung bleiben. E n d e der sechziger Jahre konstituierte sich in L u x e m b u r g ein sogenanntes Internationales Komitee zur Wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkriegs, das sich, angeführt von dem bekannten Berner Historiker Walther Hofer, die Aufgabe stellte, weiterhin die Täterschaft der Nationalsozialisten zu beweisen. N a c h der inzwischen berüchtigten Formel des Historikers G o l o M a n n , es sei »volkspädagogisch« schädlich, die Nationalsozialisten von der Schuld a m Reichstagsbrand frei-
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zusprechen, sammelte das Komitee Dokumente und Zeugenaussagen gegen die »NS-Unschuldsthese« oder »Gestapo-Legende«, die in mehreren Bänden und Sonderpublikationen vorgestellt wurden. 6 2 Die Einzelheiten der Auseinandersetzungen gehören nicht mehr zum vorstehenden Thema, sondern zur Wissenschaftskultur in den letzten beiden Jahrzehnten. Es mag der Hinweis genügen, daß sie je länger desto mehr zu wüsten Kontroversen um gefälschte Dokumente des Luxemburger Komitees und zu gegenseitigen Verunglimpfungen der an der Diskussion Beteiligten ausuferten; periodisch fanden sie auch die Aufmerksamkeit der Presse. Ende der achtziger Jahre hat man diese Vorgänge gar als »zweiten Historikerstreit« bezeichnet, der nach den Einlassungen eines Ernst Nolte zu den »asiatischbolschewistischen« Vorbildern des Holocaust Teile der Historiker-Zunft erregte. 6 ' Mit dem einzigartigen strategischen Propaganda-Coup der ursprünglichen Braunbuch-Aktionen hatte das allerdings schon lange nichts mehr zu tun. Es sei denn, man wollte die manipulierten und erfundenen Dokumente der Luxemburger mit denen des Braunbuchs politisch auf eine Stufe stellen, was weder die mehrheitlich konservative Herkunft der Komitee-Mitglieder noch die Dimension des antifaschistischen Kampfes von 1933 zulassen würden.
1 Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit. Rastatt 1962. — 2 Hans Mommsen: »Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen«. In: Vierteljahrsheftefür Zeitgeschichte 12 (1964), S.351 ff.; auch in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 46/64, 11. November 1964. — 3 Exemplarisch Eckhard Jesse: »Der endlose Streit um den Reichstagsbrand — verschlungene Pfade einer einzigartigen Forschungskontroverse«. In: Uwe Backes u.a.: Reichstagsbrand. Auflilärungeiner historischen Legende. München u.a. 1987, S. 75. — 4 Siehe Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. Bonn 1990. — 5 Vgl. Willi Münzenberg [tatsächl. Verf. Kurt Kerstenj: Propaganda als Waffe. Paris 1937, S. 10 ff. u. 280; Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das Dritte Reich. Hg. vom Internationalen Antifaschistischen Archiv. Paris 1935. Dazu auch Adolf Hitler: Mein Kampf. München (1925) 1939, S. 197 u. 528 ff. — 6 Abgedr. bei Albrecht Tyrell (Hg.): Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der »Kampfzeit« der NSDAP. Dokumentation und Analyse. Düsseldorf 1969, S. 298 f. Hitler war als Zeuge in einem Prozeß vor dem Reichsgericht gegen Offiziere wegen nationalsozialistischer Agitation in der Reichswehr vernommen worden. — 7 Joseph Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern. München 1934, S.254. — 8 Ebd., Einträge vom 1.2. und 3.2.1933, S. 255 f. — 9 Niederschrift der Ministerbesprechung v. 30.1.1933, abgedr. bei Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 613 ff. — 10 Goebbels: Kaiserhof a.a.O., 27.2.1933, S . 2 7 0 f . Informationsbericht der Reichsregierung für die Presse, zit. n. Herbert E. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933-39. Worms 1973, S.33. — 11 Ebd., S. 271. — 12 Vgl. Abschlußbericht der Polizei vom 3.3.1933, abgdr. bei Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 609: »Die Fra-
Propaganda als Widerstand?
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ge ob van der Lübbe die Tat allein ausgeführt hat, dürfte bedenkenlos zu bejahen sein.« — 13 Vgl. Niederschrift der Ministerbesprechung vom 2.3.1933, abgedr. bei Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 622ff. — 14 Zit. nach Die neue Weltbühne (NWB), Nr. 35/31.8.1933, S. 1076. — 15 [Alfons] Sack: Der Reichstagsbrand-Prozess. Berlin 1934, S. 111 ff. Zur Charakterisierung des überzeugten Nationalsozialisten Sack vgl. NWB, H. 37/14.9.1933, S. 1140 und Das Neue Tage-Buch, Nr. 11/17.3.1934, S. 249 f. — 16 Beispiele bei Mommsen: »Van der Lübbes Weg in den Reichstag - der Ablauf der Ereignisse«. In: Backes u.a.: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 44. — 17 Ministerbesprechung vom 2.3.1933 (wie Anm. 13). — 18 Pressestelle des ZK der KPD: Die Reichstagsbrandstiftung als Nationalsozialistisches Provokationsstück entlarvt, Berlin 3.3.1933. In: Paul Richter: Der Reichstag brennt. Wer sind die Brandstifter? Moskau (April) 1933, S. 30 ff. — 19 Belege internationaler Presseberichte zum Reichstagsbrand, vgl. Braunbuch, a.a.O., S. 73 ff. — 20Justinian [d.i. Erich Kuttner]: Reichstagsbrand. Wer ist verurteilt? Karlsbad 1934; Berthold Jacob: Wer? Aus dem Arsenal der Reichstagsbrandstifter. Eine historische Untersuchung veranstaltet im Auftrag der Deutschen Liga für Menschenrechte (Section de Strasbourg). Strasbourg (1934) ¡Theodor Kramer: Blutmärz. Hakenkreuzbanditentum. Enthüllungen zum Reichstagsbrand. Luxemburg 1933; Ferdinand Kuglet: Das Geheimnis des Reichstagsbrandes. Amsterdam-Leipzig (1934); Douglas Reed: The Burning of the Reichstag. New York (1934). — 21 Gerhard Seger: Oranienburg. Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten. Mit einem Geleitwort von Heinrich Mann. Karlsbad 1934; u.a. amerikan. Ausg. unter dem Titel A Nation Terrorized. Chicago 1935. — 22 The Oberfohren Memorandum. What German Conservatives thought about the Reichstag Fire. Publ. by the German Information Bureau. London (1933); der dt. Text in Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 644 ff. — 23 Braunbuch, a.a.O., S. 77 ff. — 24 Für den Zusammenhang, Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 178 ff., 221; Sack: Reichstagsbrand-Prozess, a.a.O., S.46ff. Als Sekretär des Ausschußes für Deutsche Einheit folgte Norden später in der DDR dieser Linie in den Kampagnen gegen bundesdeutsche Politiker, vgl. Die Wahrheit über Oberländer. Braunbuch über die verbrecherische faschistische Vergangenheit des Bonner Ministers. Hg. Ausschuß für Deutsche Einheit. Berlin 1960. — 25 Alfred Kantorowicz: »Der Reichstagsbrand: Auftakt zur Weltbrandstiftung«. In: Aufbau 2 (1947). S. 1 11 ff.; Arthur Koestler: Autobiographische Schriften. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993, S. 411 ff.; Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte. Köln 1958, S. 210 ff. — 26 So die Vossische Zeitung am 1.3.1933,zit. n. NWB, Nr. 35/1 1.8.1933, S. 1078. — 2 7 Von der Brandstiftung zum Fememord. Glück und Ende des Nationalsozialisten Bell, Saarbrücken 1934; Braunbuch, S. 54 ff. und 120 ff. Dazu Hans Günter Reimann und Klaus Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler. München 1993. — 28 Koestler: Autobiographische Schriften 1, a.a.O., S. 414 f. — 29 Braunbuch, a.a.O., S. 175 ff., 332 ff. — 30 Ebd., S. 75 f. — 31 Klaus Sohl: »Entstehung und Verbreitung des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror 1933/34«. In: Jahrbuch ßr Geschichte, Berlin-DDR, 21(1980), S. 289 ff., hier S . 3 2 5 f . — 32 Paris 1934. — 33 Tobias: Reichstagsbrand, a.a.O., S. 215. — 34 Sack: ReichstagsbrandProzess, a. a. O., S. 116 ff. — 35 Der Spruch von London. Der Reichstagsbrand im Spiegel des Urteils. (Prag 1933), S . 2 9 . Der deutsche Untertitel ist mißverständlich, korrekter erscheint der Titel der zuvor in englischer Fassung erschienenen Broschüre: The Burning of the Reichstag. Official Findings of the Legal Commission oflnquiry. London, Sept. 1933. — 36 Anklage gegen die Ankläger. Die Widerlegung der geheimen Anklageschrift des Reichstagsbrand-Prozesses. Unter Mitwirkung der Professoren Fauconnet, G. Urbain, Prenant und anderer Gelehrter. Paris 1933; vgl. auch La Peste Brune sur TAllemagne. Dreisprachig. (Paris 1933) oder die Reihe Der braune Tod über Deutschland. Paris 1933; ebenso die täglichen Extrablätter des GegenAngrijf zum Leipziger Prozeß. — 37 »Kampfliteratur und Propagandamaterial gegen den Hitlerfaschismus«. In: Ein Jahr Hilfikomitee für die Opfer des Hitlerfaschismus. Paris 1934, S . 2 6 f . — 38 »Das Plaidoyer vor den 10.000. Moro-Giafferi's Anklage gegen Göring«. In: Extrablatt des Gegen-Angriff zum Reichstags-Prozeß, Nr. 2/16.9.1933 ff.; Moro-Giafferi: Göring, der Brandstifter bist Du!Paris 1933 (auch französ. und engl. Ausgaben). — 39 Sack: Reichstagsbrand-Prozess, a. a. O., S. 116. — 40 Der Kampf um ein Buch. Wie im Dritten Reich gegen das Braunbuch gekämpft und gelogen wurde. Paris 1934. — 41 »The Hitler Terror«. In:
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The Economist, No. 4.697/Sept. 2, 1933, S. 440 f.; Der Brief Schwerin von Krosigks und die Antwort W. Laytons, ebd. No. 4.700/Sept. 23, 1933, S. 582 f. — 4 2 Adolf Ehrt: Bewaffneter Aufstand. Enthüllungen über den kommunistischen Umsturzversuch am Vorabend der nationalen Revolution. Berlin-Leipzig 1933. — 43 Braunbuch II. Dimitroffcontra Göring, a.a.O., S. 123. — 4 4 Adolf Stein: Gift, Feuer, Mord! Augenblicksbilder aus dem Reichstagsbrandprozess. Hg. vom Gesamtverband Deutscher Antikommunistischer Vereinigungen. Berlin 1934, S. 7 f. Das Goebbels-Zitat nach F. C. Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933-1947. Berlin 1947, S. 48. — 45 Jakow Trachtenberg: Gegen das Braunbuch (Rotbuch). Berlin 1934. — 4 6 [Jakow Trachtenberg, Hg.:] Die Greuelpropaganda ist eine Lügenpropaganda sagen die Juden selbst. o.O.u.J. (Berlin 1933). — 47 Trachtenberg: Gegen das Braunbuch, a.a.O., S. 146. — 4 8 Konzentrationslager Oranienburg. Das Anti-Braunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager. Von SA-Sturmbannführer Schäfer. Berlin 1934. — 4 9 Ebd., S.40 passim. — 50 Für dies und das Folgende vgl. Ressortbesprechung über die Pressebehandlung des Thälmann-Prozesses im Reichs- und Preußischen Justizministerium, 5-2.1935, Berlin Document Center. Vertreter des Propaganda-Ministeriums an dieser Besprechung war Eberhard Taubert, zugleich ein führender Funktionär des Gesamtverbandes antikommunistischer Vereine, der 1936 in dessen Auftrag auch das Rotbuch über Spanien herausgab. In bruchloser Kontinuität sollte er in den 1950er Jahren mit seinem aus dem Gesamtdeutschen Ministerium finanzierten Volksbund für Frieden und Freiheit weiterhin zahllose antikommunistische Schriften edieren. — 51 Koestler: Autobiographische Schriften, a. a. O., S. 411. — 52 Vgl. etwa Hitler treibt zum Krieg. Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen. Hg. v. Dorothy Woodman. Paris 1934; Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbuch. Paris 1936; Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten. Paris 1935. — 53 [Willi, Münzenberg]: Alles für die Einheit! o.O.u.J. (Paris 1939), abgedr. auch in: Die Zukunft 2.Jg., Nr. 10/10.3.1939. — 5 4 Die Zukunft. Organ der Deutsch-Französischen Union. Hg. Willi Münzenberg, Paris Oktober 1938 - Mai 1940. Reprint Vaduz 1978. Zu dem beeindruckenden Mitarbeiterkeis vgl. dort das Register. — 55 Die Zukunft 3.Jg., Nr. 1 / 5 . 1 . 1 9 4 0 . - 5 6 Richard Wolff: »Der Reichstagsbrand 1933. Ein Forschungsbericht«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 3/56, 18.1.1956. Vgl. a. Theodor Eschenburg: Staat und Gesellschaft in Deutschland. München 1956, S. 319; Carl Joachim Friedrich: Demokratie als Herrschafts- und Lebensform. Heidelberg 1959, S. 64; noch in dem Standardwerk von Erich Matthias und Rudolf Morsey (Hg.): Das Ende der Parteien 1933. Düsseldorf 1960, S. 592, wird, wenn auch verklausuliert, die These des Oberfohren-Memorandums akzeptiert. — 57 Der Stern, 23.11.1957. — 5 8 »Stehen Sie auf, van der Lübbe! Der Reichstagsbrand 1933 - Geschichte einer Legende«. In: Der Spiegel, Nr. 43/21.10.1959ff. — 59 Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenangaben in Tobias: Reichstagsbrand, a . a . O . — 6 0 Albert Einstein: Mein Weltbild. Amsterdam 1934, S. 117 ff.; »Professor Einstein and the Brown Book«. In: The Economist, No. 4.701/Sept. 30, 1933, S.628. — 61 Im Nachwort (S. 592) betonte Tobias allerdings, daß das Schuldkonto der Nationalsozialisten zu hoch sei, daß diese vermeintliche »Entlastung« ins Gewicht fallen könne, doch das war an dieser unscheinbaren Stelle eher beiläufig. — 6 2 Brief Golo Manns an Fritz Tobias, 20.9.1961, zit. im Nachwort von Tobias: Reichstagsbrand a.a.O., S. 592; Walther Hofer, Edouard Calic u.a. (Hg.): Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation. Bd. 1. Berlin 1972; Bd. 2. München u.a. 1978. — 6 3 Dazu zusammenfassend Backes u.a.: Reichstagsbrand a . a . O .
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Frankreichs fremde Patrioten Deutsche in der Resistance
I Die innerfranzösische Résistance blieb bis zuletzt im wesentlichen eine »Armée des Ombres«, wie Jean-Pierre Melville sein filmisches Widerstandsepos von 1969 betitelte — eine Schattenarmee, die Kräfte band u n d Nadelstiche versetzte. D o c h wenn auch die deutsche Besatzungsmacht in Frankreich erst infolge der alliierten Landung zusammenbrach, m u ß die militärische Bedeutung dieses Widerstandes bei der Befreiung des Landes gleichwohl als hoch eingestuft werden: Immerhin 28 Départements südlich der Loire u n d westlich der Rhône wurden ausschließlich durch die Forces Françaises de l'Interieur (FFI) befreit. Die Résistance band acht deutsche Divisionen nach dem 6. Juni 1944, und die SS-Panzerdivision »Das Reich« brauchte insbesondere infolge des forcierten Schienenkrieges immerhin 17 Tage, um sich von Toulouse bis zur Normandie durchzukämpfen. 1 D a ß Nicht-Franzosen - Emigranten aus Spanien, Italien und Deutschland, polnische Gastarbeiter, ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, nicht zuletzt aber auch jüdische Arbeitsimmigranten aus Osteuropa - daran einen recht beträchtlichen Anteil hatten, fand jedoch erst lange nach dem Ende des Krieges (relative) Beachtung, obwohl diese Gruppen wenigstens punktuell und temporär durchaus Mehrheiten der Résistants stellten. 2 In Paris beispielsweise bildeten im ersten Halbjahr 1943 ausländische Emigranten und Immigranten - vor allem das jüdische »Deuxième Détachement« — die einzigen noch verbliebenen Einheiten der kommunistischen Francs-Tireurs et Partisans Français (FTPF) der Hauptstadt. 3 Der gerade 17-jährige Deutsche Karl Schönhaar, Sohn des Anfang 1934 in der Berliner Gestapo-Zentrale ermordeten KPD-Funktionärs Eugen Schönhaar, gehörte mit zu den ersten Widerstandskämpfern, die in der Festung Mont-Valérien hingerichtet wurden. 4 Auch in Toulouse stellten jüdische, polnische u n d italienische Spanienkämpfer sowie spanische Flüchtlinge zunächst den Fokus des regionalen Widerstandes, der von Marcel Langer geführten »35. Brigade« der FTPF. 5 Allein mehr als 40 Deutsche gehörten 1943/44 dem Maquis im Département Lozère an, das Nîmes aus eigene Kraft befreien sollte. 6 U n d in Lyon setzte sich die im Juni 1942 gegründete F T P F - G r u p p e »Carmagnole« nur zu 17% aus Franzosen zusammen; 3 4 % waren Polen, 15% Spanier, 10%
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Italiener, 7 % Ungarn, jeweils 5 % Österreicher und R u m ä n e n , 4 % Deutsche und 3 % Belgier; 2 3 % von ihnen waren zudem Juden. C h e f von »Carmagnole« war seit 1 9 4 3 ein Deutscher: Norbert Kugler, 1 9 0 6 im oberbayerischen S c h ö n a u geboren, 1 9 3 3 nach Frankreich emigriert. Als Jude, K o m munist und Spanienkämpfer wäre er gleich aus drei Gründen deportiert worden, falls man ihn gefaßt hätte. 7
II O b w o h l kein Ereignis seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen soviel B e a c h t u n g in der französischen
Historiographie
gefunden hat wie die Résistance , blieb deren Blick auf das beschriebene Fak8
tum unterbelichtet. D e n n jenseits aller Wissenschaftlichkeit und unabhängig von ihrer parteipolitischen Provenienz bzw. Einfärbung erfüllte die Geschichtsschreibung über die Resistance stets auch eine wichtige volkspädagogische Funktion: Sie diente als Vehikel jener »Rückkehr Frankreichs«, wie sie de Gaulle am 2 5 . August 1 9 4 4 programmatisch auf dem Balkon des Pariser Rathauses verkündet hatte — so als o b die gesamte >Grande Nation< volle vier Jahre abgetaucht gewesen sei. U n d gerade weil dem nicht so gewesen war, implizierte die Geschichte der Resistance stets auch den Bannstrahl der IV. und der V. Republik gegen jenen >illegitimen< Bastard von Vichy, der möglichst verdrängt werden sollte, um statt dessen eine Kontinuität der nationalen politischen Kultur zu behaupten, wie sie so nie existiert hatte. In dieser Verschränkung von heroischem Erinnern und angstbesetztem Verdrängen wurde über Jahrzehnte hinweg der M y t h o s eines massenhaften und geschlossenen Widerstands der Franzosen aufgebaut, der den Anteil der Nicht-Franzosen an der Resistance zur Q u a n t i t é Négligiable reduzierte. 9 F ü h r t e diese Marginalisierung
in der französischen
Historiographie
zunächst zur Nationalisierung, gelegentlich gar zur >Arisierung< der Résistance 1 0 , Jahrzehnte danach aber doch zur zunehmenden E n t d e c k u n g ihres internationalen Hintergrundes, so verblüfft hingegen das fast einhellige Desinteresse, das das T h e m a in der sonst so widerstandsfreudigen westdeutschen Geschichtswissenschaft gefunden hat, obwohl sich doch die Résistance direkt gegen die deutsche Besatzungsmacht richtete, also auch aus deutscher Perspektive keineswegs als irrelevant abgetan werden kann. Im Gegensatz zu England, wo der an der Universiry o f Sussex lehrende Harry Roderick Kedward mit seinen mikroanalytischen Studien zur Motivation u n d Ideenwelt der Résistance die vielleicht wichtigsten Impulse zur sozialhistorischen Erhellung dieses Phänomens g a b " , blieb die Beschäftigung damit in der Bundesrepublik völlig peripher und erschöpfte sich im wesentlichen in einer H a n d voll von Aufsätzen zu Spezialthemen. 1 2 Zwar wuchs das Interesse an den
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verschiedensten Aspekten deutscher Herrschaft in Frankreich und der Kollaboration des Vichy-Regimes beachtlich und führte insbesondere in den letzten Jahren zu wichtigen Studien, die die Erkenntnisse französischer Historiker ergänzten, teilweise gar überholten 13 , zur Resistance aber fehlt selbst eine die französische Literatur bilanzierende Gesamtdarstellung in deutscher Sprache. Wilfried Loths knappes Kapitel dazu in seiner Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundertïsx damit nach wie vor die prägnanteste Ausführung zu diesem Thema aus der Feder eines deutschen Historikers. 14 Lediglich die Entdeckung des jüdischen Anteils an der Résistance wurde in den letzten Jahren angemessen rezipiert.15 Auch der Aspekt der Beteiligung Deutscher an der Résistance wurde bislang absolut stiefmütterlich von der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft behandelt. Bloß ein Aufsatz von Hartmut Mehringer und Dieter Marc Schneider thematisierte diese Frage auf der Basis der vom Münchener Institut für Zeitgeschichte erhobenen Daten, die in das Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 eingingen. 16 Er blieb damit jedoch notwendigerweise auf der Ebene der >Prominenz< und tauchte nicht in die Dimension der >rank-and-file< ein, jener namenlosen Basis also, aus der sich dieses Engagement vor allem rekrutierte, die ihm überhaupt erst Durchschlagskraft verlieh. Über die Motive dieses Defizits läßt sich nur spekulieren: Gewiß spielte die Quellennot eine Rolle, war doch die Résistance nie eine aktenführende Institution. Doch dieses Spezifikum teilte sie auch mit dem deutschen Widerstand, ohne daß dies die westdeutschen Historiker daran gehindert hätte, wahre Bücherberge darüber zu verfassen. Der Grund liegt also tiefer, und er läßt sich — so scheint es - auch hier in der volkspädagogischen Intention und der daraus resultierenden Vermittlungsproblematik vermuten. Denn die Teilnahme an der Résistance war ja nie ein bloßer >Aufstand des GewissensLandsersTyrannenmord< Stauffenbergs war demnach erheblich leichter zu vermitteln als deutsche Beteiligung an der Résistance. Und entsprach nicht Leo Kneler - deutscher Jude und Kommunist, maßgeblich beteiligt am erfolgreichen Anschlag auf Julius von Ritter, Sauckels Beauftragten für den französischen Arbeitseinsatz in Deutschland 17 - exakt dem vom NS-Regime propagierten Feindbild des »jüdischen Bolschewismus«? Sollte man Stadtguerilla dieser Art wirklich als Widerstand ansehen, so die angezielte Klientel verschrecken und überdies möglicherweise zur Affirmation nationalsozialistischer Schablonen beitragen? Derartige Skrupel und Bedenken einer frühen political correctness mögen die geschilderten Defizite befördert haben.
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Daß Stigmatisierte, denen die Deportation nach Auschwitz drohte, sich wehrten und sogar angriffen, daß sie keineswegs Opfer sein wollten und darum selbst zu Tätern wurden, ließ sich mit dieser Intention einer retrospektiven Konsensfindung nicht recht vereinbaren, überschritt den Rahmen des pädagogisch Zumutbaren. Dies rechtfertigend festzustellen, bedeutet keineswegs, die Gewalt der Résistance blindlings zu heroisieren. Denn es darf auch nicht übersehen werden, daß der dort aufgestaute Haß gerade im Moment der Entscheidung dazu neigte, sich exzessiv auszutoben und jede Zweck-Mittel-Relation zu vergessen. So jubelte das Kommuniqué Nr. 70 des Pariser Stabs der FTPFMme August 1944 über »mehr als fünfhundert individuelle Hinrichtungen von Boches« binnen dreier Kampftage und legitimierte dies mit der Parole: »Unsere FTP verwirklichen damit die Losung Jeder seinen Bochegewöhnlichen< Teilnahme an der Resistance stark unterbelichtet, denn auch Pech - konzentriert auf das Komitee »Freies Deutschland für den Westen« - widmete ihr gerade ein Kapitel.26 Allein die Zahl der Akteure, die von ihm und von Mehringer/Schneider übereinstimmend auf 1.000 geschätzt wird 27 , ist völlig über den Daumen gepeilt - gleichwohl aber eine >ehrliche< Ziffer, da sie nicht vortäuscht, Exaktheit vermitteln zu können. Zum zweiten liegt das genaue Profil dieser deutschen Résistants im Dunkeln, bleiben soziale Merkmale, politische Herkunft, Verteilung nach Geschlecht und Generationen, jüdischer Anteil etc. sehr unklar. Zum dritten ist das jeweilige >Gelände< dieser Beteiligung viel zu wenig ausgeleuchtet, denn der Oberbegriff >Résistance< deckte sehr unterschiedliche Wirklichkeiten. So war es etwa von überragender Bedeutung, ob man ihr in Paris oder im Massif Central angehörte, ob dies 1942 oder 1944 war, ob man selbst Jude war oder nicht. Da die Résistance zudem eine Allianz sehr verschiedener Kräfte war, stellt sich zudem die Frage: Wie paßte man sich ein? Verloren sich bisherige Fraktionierungen oder verstärkten sie sich? Zum vierten aber wird diese Eingliederung in den innerfranzösischen Widerstand generell als viel zu >glatt< und selbstläufig dargestellt. Sie war jedoch - wie belegt werden soll - ein widersprüchlicher und keineswegs selbstverständlicher, unumkehrbarer Prozeß, ein Vorgang mit wechselseitigen Irritationen und Barrieren auf beiden Seiten, der mit der Schablone des >Patriotismus< nicht hinreichend erklärt werden kann. Denn Vaterlandsliebe konnte von ausgegrenzten Emigranten schlechterdings nicht erwartet werden, da Frankreich ihnen gegenüber immer weniger als Gast- oder gar Hei-
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matland auftrat. Auch die Worthülse vom >Proletarischen Internationalismus< hilft ebensowenig weiter wie die Formel vom >AntifaschismusUmdrehen< festgenommener Kader der Resistance in allen Mouvements verheerende Wirkungen mit sich brachte. 83 Daß auch Jean Moulin, de Gaulies Stellvertreter im französischen Untergrund, 1943 so zu Tode gefoltert wurde 84 , sei hier nur am Rande erwähnt.
IV Frankreich war — dies sollten diese Ausführungen deutlich machen - keineswegs die Nation des Widerstandes, als die sie sich im September 1944 und danach in rituellen Intervallen immer wieder feierte. Es gab zu keinem Zeitpunkt jene >saubere> deren gemeinsames Kapital die Erfahrung im Umgang mit Waffen bildet-Mithin war hier ein beträchtliches militärisches Potential aus ehemalig«n Weltkriegssoldaten, Spanienkämpfern und einstigen Freiwilligen der französischen Armee versammelt, das mit genau dieser Qualifikation die notwendige Vertrauensbasis und Verläßlichkeit (an)bot. Es war dieser — wenn man so will — Handel mit den wechselseitig vorhandenen Gütern Militärische Erfahrung< gegen >Schutz im MaquisSicherheitsrisiko (A)loyale Hitlergegner (C)< klassifiziert. 16 Nach der Besetzung Frankreichs und der Benelux-Länder führte die Furcht vor einer deutschen Invasion u n d den Aktivitäten einer »5. Kolonne« bis auf wenige Ausnahmen zur Internierung der deutschsprachigen »enemy aliens«, auch der Kategorien B und C. Bis zum Juli 1940 wurden rund 25.000 Personen interniert: Nationalsozialisten, politische Gegner des NS-Regimes, Juden. Der Großteil der Internierten wurde in Lagern auf der Isle of Man untergebracht, über 7.000 wurden nach Kanada und Australien verschifft. Die Internierung erfaßte auch führende Vertreter sozialistischer Emigrationsorganisationen, die später in der Union zusammenarbeiteten, wie Erwin Schoettle (Sekretär der Auslandsleitung von Neu Beginnen (NB)), Hans Gottfurcht (ab 1941 Vorsitzender der LdG), Willi Heidorn (nach 1945 Werner Hansen, führendes Mitglied des ISK). Nachdem sich die erste Panik gelegt hatte, erließ die britische Regierung am 31. Juli 1940 auf Druck der Öffentlichkeit eine Verordnung, gemäß der nach 19 Kategorien eine Entlassung aus der Internierung beantragt werden konnte. Darüber hatte das Interned Enemy Aliens Tribunal zu entscheiden. Ihm arbeitete im Auftrag des International Department der Labour Party eine deutsche Kommission zu. Ihr gehörten unter anderen Willi Eichler (Vorsitzender des ISK), Wilhelm Sander (Landesvertreter der Sopade in Großbritannien) und Hans Gottfurcht (Gewerkschaften) an. Bis zum Februar 1941 waren von den deutschen Sozialisten zwei Drittel wieder entlassen. 17 Die Bemühungen um die Freilassung der noch inhaftierten Sozialisten lassen sich bis Ende 1941 verfolgen. Auch in der Zeit der Internierung, die mit der Unterbringung in Lagern große Entbehrungen mit sich brachte, war die Behandlung der deutschen Flüchtlinge in Großbritannien korrekt. Vor und nach der Internierung waren die meisten Emigranten privat untergebracht, konnten sich in der Öffentlichkeit frei bewegen und wurden selbst zu Zeiten intensiver deutscher Luftangriffe auf England von der Bevölkerung respektiert. Allerdings blieben die Deutschen zumeist isoliert. Das Verhältnis der deutschen politischen Emigration zur britischen Regierung war kompliziert und von Distanz geprägt. Offizielle Kontakte zu deutschen Emigrantenorganisationen bestanden nicht. 1 8 Mehrfach erklärte die britische Regierung in Briefen u n d öffentlichen Verlautbarungen, daß sie daran oder gar an der Einrichtung einer Gesamtvertretung der deutschen Emigration nicht interessiert sei. Auch die Gewährung eines besonderen Status für die Gegner des NS-Regimes unter den deutschen Emigranten lehnte sie ab. 19 Die Union wie auch ihre Mitgliedsorganisationen wurden wie alle anderen deutschen Emigrantenorganisationen durch den Inlandsnachrichtendienst M I 5 überwacht. 2 0
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Ludwig Eiber
D i e E n t s t e h u n g der U n i o n deutscher sozialistischer Organisationen in G r o ß b r i t a n n i e n Anfang 1 9 4 1
und ihre weitere Entwicklung sind eng
verbunden m i t der Entwicklung a u f dem europäischen Kriegsschauplatz und deshalb in diesem Kontext zu sehen. Nach der Niederlage Frankreichs versuchte die britische Führung, Hitlers »Neuordnung« Europas ein G e genkonzept entgegenzustellen. Die Initiative hierzu ging von Labourführern wie C l e m e n t Attlee (seit 1 9 4 0 Mitglied in Churchills War Cabinet) und vor allem Hugh D a l t o n (seit 1 9 4 0 Minister o f E c o n o m i c Warfare) aus, der das Konzept einer »Europäischen Revolution« propagierte. Es sah die Zusammenfassung des europäischen Widerstandes gegen Hitler unter britischer Führung mit starker B e t o n u n g einer sozialistischen Perspektive vor. 2 1 Nur durch eine Aufstandsbewegung in den besetzten G e bieten und in Deutschland selbst schien es möglich, die deutsche Herrschaft über Europa zu brechen und Großbritannien aus seiner existenziellen Bedrohung zu befreien. Ausdruck dieses Konzepts war die G r ü n d u n g der Special Operations Executive und des »Senders der europäischen Revolution«. 2 2 Notwendig hierfür erschien auch die Einigung der unterschiedlichen nationalen Widerstandsorganisationen, wobei der sozialistisch-sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die zentrale Rolle zugedacht war. Sozialisten u n d Gewerkschaftern kam in der Propagierung und Umsetzung dieses Konzepts eine besondere Rolle zu. Für die Schaffung von Institutionen und G r e m i e n , die auch die bürgerliche Emigration einbezogen, gab es mehrere Initiativen. 2 3 D i e Widerstände gegen dieses Konzept mit seiner sozialistischen Perspektive für Europa dürften in der konservativ dominierten britischen Regierung enorm gewesen sein, aber im S o m m e r 1 9 4 0 war selbst für Premierminister W i n s t o n Churchill die einzige Hoffnung, »to set Europe ablaze«. 2 4 D i e G r ü n d u n g der L o n d o n e r U n i o n und der L d G im Frühjahr 1 9 4 1 erfolgte unmittelbar in diesem Kontext und a u f Drängen der Labour Party. D e r A n g r i f f Deutschlands a u f die S o w j e t u n i o n , über den die britische Regierung schon Anfang J u n i 1 9 4 1 informiert war 2 5 , und m e h r n o c h der Eintritt der U S A in die Reihe der Kriegsgegner Deutschlands veränderten die militärischen Rahmenbedingungen grundlegend. Als die S o w j e t u n i o n trotz eines Rückzuges bis vor Moskau dem deutschen Ansturm standhielt und ihre M i l i t ä r m a c h t sowie die Unterstützung und die Ressourcen der U S A einen militärischen Sieg über Deutschland wieder in den Bereich des M ö g l i c h e n rückten, wurde das Konzept der »Europäischen Revolution« zugunsten der Forderung nach einem »vollständigen Sieg« (britisch-sowjetisches A b k o m m e n 1. Januar 1 9 4 2 ) und schließlich der »bedingungslosen Kapitulation« (Casablanca 2 4 . Januar 1 9 4 3 ) in den gedrängt.
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Hintergrund
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Die Unterstützung durch die deutsche Opposition im Inland und die Emigrationsorganisationen, die vielen Briten schon länger als zweifelhaft u n d überflüssig galt, war nun endgültig verzichtbar. Ein innerdeutscher Aufstand oder Putsch gegen das NS-Regime wurde von britischer Seite n u n als unwillk o m m e n gesehen, da er in der Entscheidungsfreiheit der Alliierten gegenüber Deutschland Konzessionen erfordert hätte. Schon im Laufe des Monats Juni 1941 läßt sich ein Abstoppen einzelner Projekte feststellen, die auf der Linie der »europäischen Revolution« lagen. 27 So wurde aus dem Foreign Office die Initiative Lord Davies gestoppt, einen Gesprächskreis der deutschen politischen Emigration zu schaffen, der unter Beteiligung der Union als eine politische Gesamtvertretung der deutschen Emigration interpretiert werden konnte. Gleichzeitig wurde mit der Schaffung der vom Foreign Office dominierten Political Warfare Executive (PWE) der Einfluß Daltons auf die Propaganda gegen Deutschland eingeschränkt. Auch die Kontaktversuche der deutschen Opposition wurden deshalb ignoriert. 28 Der neuen militärischen Perspektive lieferte der »Vansittartismus« 29 mit der behaupteten Kollektivschuld der Deutschen die ideologische Begründung. Die in Großbritannien (im Gegensatz zu Frankreich) bisher dominierende Unterscheidung zwischen »Nazis« und »NS-Gegnern« in Deutschland konnte auch deswegen dagegen nicht bestehen, weil trotz des sich steigernden deutschen Terrors gegenüber den besetzten Ländern kein deutscher Widerstand sichtbar wurde. So geriet auch die deutsche Emigration insgesamt u n d speziell die sozialistische ins politische Abseits, u m so mehr, als sie sich gegen die von den Alliierten formulierten Kriegs- u n d Friedensziele wie die bedingungslose Kapitulation und die Gebietsabtrennungen wandte. Die neue britische Politik führte Anfang 1942 zu weitgehenden Umgestaltungen in der Propaganda gegen Deutschland und auch zur Ablösung Daltons als Schöpfer des Konzepts der »europäischen Revolution« und als für die S O E zuständigen Minister. 30 Die neue Politik wurde auch von den Labourvertretern in der Regierung mitgetragen, u n d so ergaben sich ab Sommer 1945, als eine reine Labourregierung amtierte, kaum Veränderungen in der Politik gegenüber der deutschen Emigration. Entscheidend war auch für Labour, »to ensure that Germany, while restored socially and economically, could never again become a military threat to Britain«. 31 Manchen führenden Labourpolitikern wie Dalton schwebten darüber hinaus noch eine weitgehende Zergliederung und Entindustrialisierung Deutschlands vor. 32 Erst als sich ab Sommer 1944 die deutsche Niederlage abzeichnete u n d die Frage der Besetzung aktuell wurde, gewann die deutschsprachige Emigration wieder an Bedeutung.
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III Bis 1940 waren in Großbritannien insbesondere zwei Nachrichtendienste mit Abwehr und Aufklärung gegenüber Deutschland befaßt. 3 3 M I 5 war zuständig für Spionageabwehr, Gegenspionage und Inlandsaufklärung, überwachte also auch die Emigranten. 3 4 MI6, auch »Secret Intelligence Service« (SIS), war für die Auslandsaufklärung zuständig. 35 SIS hatte seit Mitte der dreißiger Jahre auf dem Kontinent neben den bereits bestehenden Stützpunkten in den Visaabteilungen der Botschaften und Konsulate ein umfangreiches und unabhängiges Netz von Agenten (»Z-network«) aufgebaut, die zumeist in Wirtschaftsunternehmen integriert waren. 36 Zu den Deutschen, die Teil dieses Netzes waren oder mit ihm kooperierten, gehörten unter anderen Gottfried Treviranus (nach West einer der besten Agenten), Klaus Spiecker, eine Gruppe deutscher Sozialdemokraten in Berlin (bis 1939) und ein Kreis deutscher Sozialdemokraten in Prag. 37 Als es der deutschen Abwehr gelang, am 9. November 1939 in Venlo den Leiter des Z-Apparates in Den Haag, Best, und den Führer des dortigen SIS-Stützpunktes Richard Stevens zu entführen und diese unter Folter Angaben über den SIS und das Z-network preisgaben, war die Aufklärung gegen Deutschland weitgehend lahmgelegt. 38 Mitte 1940 bestanden nur noch drei große SIS-Stationen in Europa: in Stockholm, in Lissabon und in Bern, wo über Schweizer Nachrichtendienste auch Verbindungen zu sozialdemokratischen Gruppen in Deutschland bestanden. 3 9 Unabhängig vom SIS hatte Sir Robert Vansittart ab 1933 eine »>private detective Agency< dealing in German Intelligence« aufgebaut. 4 0 Der Leiter dieses Netzes, Captain Malcolm Christie, besaß in Deutschland Verbindungen zu wichtigen Repräsentanten der deutschen bürgerlichen Opposition wie Carl Goerdeler, Wolfgang zu Putlitz, Erich und T h e o Kordt, Robert Bosch und anderen. Die G r ü n d u n g der S O E im Sommer 1940 hängt eng mit dem Desaster des SIS zusammen, andererseits aber auch mit der neuen Strategie der »Europäischen Revolution« nach der Niederlage Frankreichs/' 1 Der Labourpolitiker Dalton, zugleich Kabinettsmitglied, hatte nach einer Besprechung auf höchster Ebene am 2. Juli 1940 an das Außenministerium geschrieben: »What is needed is a new organisation to co-ordinate, inspire, control and assist the nationals of the oppressed countries who must themselves be direct participants. We need absolute secrecy, a certain fanatical enthusiasm, willingness to work with people of different nationalities, complete political reliability. ... But the organisation should in my view, be entirely independent of the War Office machine.« 42 Die S O E bildete ein zentrales Element der neuen Strategie, die Widerstandsbewegung in den besetzten Ländern und in Deutschland zu stärken und auf längere Sicht zu einem Aufstand gegen die deutsche Herrschaft zu mobilisieren. Die S O E arbeitete dabei eng mit den nationalen
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Nachrichtendiensten der Exilregierungen und den Widerstandsbewegungen auf dem Kontinent zusammen, insbesondere aber mit Sozialisten und Gewerkschaftern. 43 Dalton und SOE setzten große Hoffnungen in die deutschen Sozialdemokraten in London. Ein Führungsoffizier sollte die Verbindung zu Erich Ollenhauer halten. Die Erwartungen wurden jedoch enttäuscht. Die Londoner Sozialdemokraten zogen es vor, über die deutsche Nachkriegsordnung zu diskutieren, und in Deutschland selbst fehlten die Organisationsstrukturen bzw. die Bereitschaft, einen geheimen Radiosender aufzubauen oder Waffen und Sabotagematerial entgegenzunehmen. SOE unterschied sich noch in einer anderen Hinsicht vom SIS: Neben der Aufklärung und verdeckten Aktionen (SOE2) befaßte sie sich auch intensiv mit Propaganda gegen Deutschland und der Aufklärung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten (SOE1). Es war keine offene Propaganda wie bei BBC, die vor allem durch sachliche Aufklärung ihr Ziel zu erreichen suchte, sondern eine verdeckte, die sich verschiedener Tarnsender bediente, die vorgaben, von deutschen Widerstandsorganisationen betrieben zu werden (z. B. der »Sender der europäischen Revolution«) und gezielt auch mit dem Mittel der Desinformation arbeiteten. 44 Mit der Wende der britischen Strategie 1941/42 von der »europäischen Revolution« gegen die deutsche Herrschaft zur »bedingungslosen Kapitulation« Deutschlands verlor die SOE ihre eigentliche Rechtfertigung. Zwar wurde die Unterstützung der nationalen Widerstandsbewegungen fortgesetzt, aber nun den militärischen Prioritäten untergeordnet. Die SOE wurde, was Deutschland betraf, weitgehend lahmgelegt. 4,5 Dalton wurde das Handelsministerium übertragen. Sein Nachfolger, Lord Seiborne, teilte weder das politische Konzept Daltons noch erhielt er dessen Kompetenzen. Die Zuständigkeit für die Propaganda teilten sich ab Frühjahr 1942 Außenminister Anthony Eden und der neue Informationsminister Brendan Bracken. Beide waren Konservative, die wenig Interesse an einem sozialistischen Europa hatten. Zugleich erhielt SOE2 einen neuen Schwerpunkt: die Durchdringung der Widerstandsorganisationen in Frankreich und den Niederlanden, um der angestrebten alliierten Landung auf dem Kontinent den Boden zu bereiten. 46 Aber auch die Verbindung des deutschen militärischen Widerstandes nach Großbritannien über Adam von Trott zu Solz und Helmuth James von Moltke lief zum Teil über SOEVerbindungsleute. Trotz der großzügigen Öffnung der OSS-Archive ist die Zusammenarbeit von deutschen Emigranten in Großbritannien mit den britischen Nachrichtendiensten bis heute aus mehreren Gründen nur unzureichend zu rekonstruieren 47 : 1. Die Strukturen, Kompetenzen und Abgrenzungen der einzelnen Dienste und ähnlicher Institutionen sind nur schwer zu durchschauen. Eine strikte Trennung von politischer, militärischer, nachrichtendienstlicher und
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regulärer administrativer Tätigkeit während des Krieges ist nur begrenzt möglich. Am besten gelingt dies noch beim MI5, der unter anderem für die Überwachung der Emigranten zuständig war und über Informanten in allen Organisationen verfügte. Sehr schwer fällt die Trennung der Propaganda und der geheimdienstlichen Aktivitäten gegenüber Deutschland. Im August 1941 wurden das Political Intelligence Department (PID) 4 8 des Foreign Office sowie die Abteilungen des Informationsministeriums und der BBC, die sich mit Auslandspropaganda befaßten, in der Political Warfare Executive (PWE) zusammengefaßt, die dem Foreign Office unterstand. Die Aktivitäten der P W E waren aber mit anderen Ministerien, wie zum Beispiel dem Ministry of Economic Warfare (nur bis zum Ausscheiden Daltons im Frühjahr 1942) und dem Informationsministerium abzustimmen. 4 9 Daneben bestanden SIS und SOE2, die sich beide mit Erkundung und Aktionen gegen Deutschland befaßten, parallel nebeneinander fort. 2. Die Vereinigung von Partei- und Regierungsfunktionen in einer Person bietet Raum für Interpretationsmöglichkeiten. Hugh Dalton, einer der führenden Labourpolitiker, war als Minister im Kabinett Churchill für Economic Warfare und für die von ihm initiierte S O E zuständig. Das International Department der Labour Party als für die Beziehungen zu den europäischen sozialistischen Parteien zuständiges Gremium fungierte als Verbindungsstelle zwischen P I D und Emigranten und nahm somit quasi offizielle Funktionen wahr. 50 Richard H . Crossman, der der G r u p p e Neu Beginnen politisch nahestand und enge freundschaftliche Beziehungen zu deren Londoner Gruppe unterhielt, war einflußreiches Mitglied der Labour Party, aber auch Leiter der Deutschlandabteilung des P W E und ab 1943 schließlich Vizedirektor der Psychologischen Kriegführung im Alliierten Hauptquartier in Algier. 51 3. War schon die Schaffung der S O E nach Glees »one of the Second World Wars most secret institutional inventions« 52 , so gilt dies in Bezug auf den Informationsstand über ihre mit Deutschland befaßten Abteilungen und deren Aktivitäten auch noch heute. Nach wie vor ist die Literatur über die deutsche Abteilung der S O E d ü n n und sind deren Akten nicht zugänglich. So stellte West noch 1993 fest: »SOE's German Section, designated X, is still shrouded in mystery and very little has been written about it.« 53 Leiter der Deutschlandabteilung war Major Thornley, Leiter der Station in der Schweiz Jock McCafferty, in Schweden Henry Threlfall, später Dick Barry. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 und dem bevorstehenden Vormarsch der alliierten Truppen auf deutschen Boden wurde die Deutschlandabteilung der S O E verstärkt und im November Gerald Templer zum Leiter des neu gebildeten Direktoriums für Deutschland bestimmt. 5 4 In den Biographien und Erinnerungen deutscher Emigranten wird die Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten mit großer Zurückhaltung behandelt. D e n n o c h m u ß davon
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ausgegangen werden, daß vielfältige und intensive Beziehungen bestanden. Wenn im Gegensatz dazu die Verbindungen der Emigranten zum amerikanischen OSS weitgehend offenliegen, so vor allem deswegen, weil dieser »unsecret Service« (West) seine Akten weitgehend der Forschung zugänglich gemacht hat. Die britischen Nachrichtendienste indes behandeln ihre Verbindungen weiterhin als »top secret«. Aus den zugänglichen Unterlagen läßt sich ersehen, daß aus dem Führungskreis der Mitgliedsorganisationen der Union Fritz Heine (kooptiertes Mitglied des SPD-Parteivorstandes in London) 5 5 , Paul Walter (Leiter der SAP-Landesgruppe in GB), Walter Fischer (führendes SAP-Mitglied in GB, ab 1942 Mitarbeit im PID) für S O E und andere britische Dienststellen arbeiteten. Willi Eichler stand seit Mitte der dreißiger Jahre über Edo Fimmen (Generalsekretär der Internationalen Transportarbeiter Föderation) mit dem britischen Nachrichtendienst in Verbindung. Auch Hans Gottfurcht verfügte über enge Verbindungen zu britischen Diensten. Es spricht einiges dafür, daß weitaus mehr Personen als bisher bekannt einbezogen und die deutschen Sektionen von S O E und SIS weitaus bedeutender waren, als bisher angenommen wurde. 5 6 Auch darf nicht vergessen werden, daß die britischen Nachrichtendienste schon vor 1933 über Verbindungen, Agenten und Informanten in Deutschland verfügten. Die Deutschen, die mit ihnen zusammenarbeiteten, waren nach 1933 zunehmend gefährdet. Die einzige Fluchtmöglichkeit bildete die Emigration. Da der Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, selbst wenn es sich um die Bekämpfung eines Terrorregimes handelt, das O d i u m des »Verrats« anhängt, sei hier kurz auf die Rahmenbedingungen eingegangen, die die deutsche politische Emigration vorfand. Von Seiten der deutschen politischen Emigration bestanden schon von Anfang an Verbindungen zu den Nachrichtendiensten der Gastländer. Keines der Aufnahmeländer konnte auf eine Kontrolle über die politischen Aktivitäten der Emigration verzichten, konnten diese doch das Verhältnis zum mächtigen Nachbarn Deutschland enorm beeinträchtigen. M a n warb also Informanten aus dem Emigrantenmilieu an und sammelte eigenständig Informationen. Politische Aktivitäten, die nach Deutschland hineinwirkten, wie der Kontakt zu illegalen Organisationen, die Herstellung und der Transport illegalen Materials über die Grenze nach Deutschland, setzten zum mindesten eine stillschweigende D u l d u n g durch das Gastland voraus. Andererseits war es auch für die politischen Emigrantenorganisationen wichtig, über Kontakte zu den nationalen Nachrichtendiensten der Gastländer, aber auch zu den französischen und britischen, zu verfügen. Z u m einen, um selbst an Informationen zu gelangen, zum Beispiel über von Gestapo, S D etc. auf die Emigranten angesetzte Spitzel, zum anderen um über diese Kanäle Informationen zu lancieren. Erhielten doch die Emigrationsorganisationen durch ihre Verbindungen zu den Illegalen in Deutschland
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wichtige und zum Teil auch geheime Informationen aus Deutschland. Ihre Informationsdienste (Sopade: Deutschland-Berichte, NB: Deutsche Inlandsberichte etc. 57 ) lieferten wichtiges Material für die erste der Grundaufgaben der Nachrichtendienste wie sie Hinsley beschreibt: »Intelligence is an activity which consists, essentially, of three functions, information has to be acquired; it has to be analysed and interpreted; and it has to be put in the hands of those who can use it.« 58 Die britische Regierung hatte sich offensichtlich bis 1937/38 in beträchtlichem Maße auf Informationen der deutschen Opposition verlassen und auch noch 1939/40 darauf Überlegungen zu einer deutschen Exilregierung gegründet. 59 Insgesamt blieb aber das Verhältnis der deutschen politischen Emigration zu den Nachrichtendiensten zwiespältig. Offen bekannte sich niemand dazu, um dem NS-Regime keine Argumente für eine Kampagne gegen vermeintliche »Vaterlandsverräter« zu liefern. So wurde zum Beispiel die Kommission der Union, die die Zusammenarbeit mit OSS und SOE leitete, als Kommission für die Zusammenarbeit mit den internationalen Relieforganisationen bezeichnet. Manche Emigranten und Emigrationsorganisationen lehnten generell jede Zusammenarbeit ab, weil sie den Nachrichtendiensten mißtrauten oder mehr politischen Schaden als Nutzen erwarteten. Andere sahen aber hier vor allem die Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des NS-Regimes in Deutschland zu leisten. Gerade dieser Aspekt spielte für Organisationen wie ISK, Neu Beginnen und SAP, die das NS-Regime in Deutschland nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten bekämpfen wollten, eine eminent wichtige Rolle. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und besonders nach Kriegsbeginn wurden die deutschen Emigranten auch für die zweite Aufgabe der Nachrichtendienste von Bedeutung, die Analyse und Interpretation der erhaltenen Nachrichten. Ein erster Ansatz hierzu war in Großbritannien das 1939 nach Kriegsausbruch gegründete Central European Joint Committee. Es hatte zwar mehr die antinazistische Propaganda nach Deutschland zum Ziel, war aber auf die systematische Auswertung von Nachrichten aus Deutschland angewiesen. 60 Dem Komitee, das aus dem Kreis um Fritz Demuth (Mitbegründer der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland) hervorgegangen war, gehörten unter anderen Karl Frank (eigentlicher Führer von NB), Wilhelm Sander (SPD), Hans Gottfurcht (Gewerkschaften) an. Die Arbeit der zahlreichen deutschen Emigranten für die Institutionen Political Warfare Executive (PWE), Political Intelligence Department (PID) und SOE beschränkte sich zunächst im wesentlichen auf Auswertung und Analyse. Fritz Demuth hat dabei als Verbindungsstelle zwischen britischen Stellen und Exilorganisationen auch nach der Auflösung des Central European Joint Committee 1940 eine wichtige Rolle gespielt. 61 Im operativen Bereich war von der Union vor allem der ISK aktiv. Die in Frank-
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reich zurückgebliebenen Mitglieder, allen voran René Bertholet, arbeiteten eng mit der Resistance und der SOE zusammen. Nach Ruby wurde Bertholet schon 1940 als einer der ersten aktiv; er würdigt ihn als »one of the oldest and most experienced men in RF-Section«. 62 Bertholet war seit 1940 in Südfrankreich als offizieller Vertreter des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks mit der Betreuung der dort internierten Emigranten beauftragt. Zugleich war er Verbindungsmann zwischen einem vom SOE im besetzten Frankreich aufgebauten Widerstandsnetz und dem britischen Konsulat in Genf. Auch für die Emigrationsorganisationen gewann die Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten nach Kriegsbeginn und vor allem nach dem Mai 1940 eine zusätzliche Bedeutung. Die Emigranten waren nicht nur abgeschnitten von den Vertrauensleuten im Reich, auch Zeitungen und Veröffentlichungen aus Deutschland waren nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Viele Informationen wurden während des Krieges zudem der Öffentlichkeit in den Zufluchtsländern vorenthalten. Für politische Organisationen, die Stellung zu politischen Entwicklungen nehmen und Konzepte für die Nachkriegszeit erarbeiten wollten, waren frühzeitige und richtige Information von zentraler Bedeutung. Einen wichtigen Zugang zu solchen Informationen boten daher die Nachrichtenagenturen 63 , vor allem aber die Nachrichtensammelund Auswertungsstellen der Nachrichtendienste. So müssen die Arbeit Heines bei SOE1 und das »research work« Erich Ollenhauers (Mitglied des SPD-Parteivorstands in London) für den OSS unter diesem Aspekt gesehen werden. Nur so konnten unter den Bedingungen des Krieges zuverlässige Informationen über die Verhältnisse in Deutschland und über die Pläne der Alliierten gewonnen werden. Zu einer Zusammenarbeit im operativen Bereich scheint es jedoch lediglich beim ISK gekommen zu sein. 64 Außer Frankreich war es vor allem die Schweiz, wo die dortige ISK-Gruppe auch während des Krieges aktiv war. Sie arbeitete eng mit dem Schweizer Nachrichtendienst zusammen, ebenso auch mit der dortigen SOE-Vertretung und unterhielt - als einzige Organisation aus dem Kreis der Londoner Union auch während des Krieges Verbindungen nach Deutschland. 65 Neue Möglichkeiten ergaben sich jedoch, als das im Juni 1942 gebildete amerikanische Office of Strategie Services 1942 in London eine schnell wachsende Niederlassung gründete 66 und ab 1943 mit den Planungen für den Krieg auf dem Kontinent Emigranten neue Einsatzmöglichkeiten eröffnete. 67 Die stärkere Berücksichtigung des innerdeutschen Widerstandes und die Einbeziehung geeigneter Emigranten durch das OSS ging auf Vorschläge von Karl Frank (alias Paul Hagen) vom 10. April 1942 zurück, die in der Folge weitgehend umgesetzt wurden. 6 8 Die Verbindung zur sozialdemokratischen Emigration in Großbritannien und Europa vermittelte vor allem die frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Toni Sender, die seit August 1942 als feste Mitarbeiterin in dem mit dem OSS verbundenen »Office of European
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Labor Research« tätig war. 6 9 Uber diese Verbindung hoffte man, Informationen über die Lage der Arbeiterschaft und des Widerstandes in Europa zu gewinnen. Außerdem sollten über die Kontakte mit führenden Funktionären der Exilorganisationen qualifizierte Personen für den späteren Einsatz in Deutschland gefunden werden. 7 0 Toni Sender stellte unter anderem die Verbindung zwischen d e m O S S und den Gewerkschaftern Hans Jahn u n d Hans Gottfurcht sowie über W i l l y Sander u n d Fritz Heine den Kontakt zur Sopade her. 71 Für die Verbindung mit den Exilorganisationen der deutschen Arbeiterbewegung in Großbritannien hatte das O S S in London das labor desk (labor branch) eingerichtet. Dieses wurde im September 1942 von Arthur J. Goldberg aufgebaut, der zuvor schon in New York eine entsprechende Abteilung eingerichtet hatte. 7 2 Nach der Rückkehr Goldbergs übernahm George O. Pratt die Leitung des labor desk; nach dessen W e g g a n g Anfang 1945 wechselte die Leitung mehrmals. 7 3 Die OSS-Dienststelle arbeitete mindestens bis S o m m e r 1944 eng mit der britischen SOE zusammen, insbesondere im operativen Bereich. Foot spricht von »equal partnership«. 7 4 Aktionen des O S S im europäischen R a u m mußten zuvor mit der S O E abgestimmt werden. Erst im Hinblick auf die Aktionen in Deutschland und die geplante Besatzungszoneneinteilung erhielt das O S S ab Herbst 1944 freie H a n d . Die Union beschäftigte sich nach ihren Protokollen erstmals am 2 1 . M a i 1943 in einer Sitzung mit der Zusammenarbeit mit d e m OSS. Allerdings wurde dort nur auf die Anfrage der US-Botschaft vom 18. M a i 1943 nach Namenslisten von Nazi-Opfern der deutschen Opposition und auf die Einladung zu einem Gespräch Bezug g e n o m m e n . 7 5 Tatsächlich verbarg sich hinter der angegebenen T e l e f o n n u m m e r » 8 4 4 4 « das labor desk des OSS. 7 6 In späteren Sitzungen wurde das T h e m a als »Zusammenarbeit mit alliierten Relieforganisationen« geführt. Die Zusammenarbeit m i t d e m O S S und - wenn auch nie erwähnt — der SOE wurde zu einem Schwerpunkt der Tätigkeit der Union, da dies vorteilhaft für wichtige Anliegen der Union war: - Über die OSS-Verbindungen konnte die K o m m u n i k a t i o n mit der Emigration in den USA, Schweden und der Schweiz intensiviert werden. - Durch die Ausarbeitung von Denkschriften für die Research & Analysis Branch des O S S gelangte man an wichtiges Informationsmaterial, das auch für andere Zwecke ausgewertet werden konnte. A u ß e r d e m ließen sich die politischen Vorstellungen und Programme der Union alliierten Regierungsstellen nahebringen. 7 7 - Angesichts der zu erwartenden militärischen Niederlage und alliierten Besetzung Deutschlands war jedes Einwirken der Emigration und eine Rückkehr nur mit G e n e h m i g u n g der Aufenthaltsländer u n d der Besatzungsmächte vorstellbar. Einer von alliierten Stellen, hier vom O S S (indirekt d a m i t
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a u c h v o m S O E ) , angebotenen Z u s a m m e n a r b e i t , die auch frühe Rückkehrmöglichkeiten eröffnete, k a m deshalb absolute Priorität zu. — D a s O S S war im G e g e n s a t z zu den britischen Stellen 7 8 zu einer weiterg e h e n d e n K o o p e r a t i o n bereit u n d eröffnete Möglichkeiten, unmittelbar nach d e n K a m p f h a n d l u n g e n a u f die N e u b i l d u n g von Gewerkschaften u n d Arbeiterparteien E i n f l u ß zu gewinnen. G e t r a g e n w u r d e die Z u s a m m e n a r b e i t v o n d e m g e m e i n s a m e n Interesse an der Abwehr des k o m m u n i s t i s c h e n Einflusses. — E i n frühes Eingreifen in die sich neu o r d n e n d e n politischen Verhältnisse in D e u t s c h l a n d z u m Z e i t p u n k t der Befreiung k o n n t e die Möglichkeit eröffnen, die sozialistische Perspektive durchzusetzen u n d die Westalliierten vor vollendete Tatsachen zu stellen. 7 9 D e m Kontaktkreis z u m O S S gehörten von Seiten der U n i o n H a n s G o t t furcht, Willi Eichler, Erich Ollenhauer, Erwin Schoettle u n d Robert N e u m a n n an, außerdem k a m H a n s J a h n als Gewerkschafter hinzu. 8 0 G e g e n s t a n d der Besprechungen waren z u m einen »research work«, das von einzelnen Pers o n e n der U n i o n (u.a. Ollenhauer, Heine, Rosenberg, Fritz S a l o m o n ( 1 9 3 3 Mitarbeiter der Terror- u n d Abwehrstelle des S P D - P V ) ) für das O S S geleistet w u r d e 8 1 , z u m zweiten die Vorbereitungen a u f die Besetzung D e u t s c h lands, die durch s o g e n a n n t e »guides« begleitet werden sollte. Z u n ä c h s t hatte »research work« Priorität wie etwa v o m O S S gewünschte Ausarbeitungen über die Arbeiter u n d die Arbeiterbewegung in D e u t s c h l a n d . Von Seiten der U n i o n wurden auch die p r o g r a m m a t i s c h e n Ausarbeitungen an O S S u n d S O E zur Kenntnis gegeben. N a c h d e m O S S / S O E E n d e 1 9 4 3 mit der A u s b i l d u n g von »guides« begonnen hatten, gingen die zunächst unregelmäßigen Besprechungen in intensive wöchentliche Sitzungen über. D i e d a f ü r zuständige » B a c h section« des O S S , offiziell a m 1. April 1 9 4 4 gegründet, w u r d e von Lazare Teper geleitet. Mitarbeiter waren unter anderen I. S. D o r f m a n , Walter L. F r e u n d u n d Erhard K o n o p k a . 8 2 Als »Bach Consultants« für die A u s b i l d u n g der ausgewählten Personen werden Erich Ollenhauer u n d der Gewerkschafter L u d w i g R o s e n b e r g g e n a n n t . 8 3 D i e »guides« sollten z u m Teil schon vor d e m E i n m a r s c h der westalliierten T r u p p e n nach D e u t s c h l a n d eingeschleust werden, z u m Teil die Truppen begleiten, ihnen K o n t a k t e zur deutschen Bevölkerung vermitteln u n d sie insbesondere bei der Auswahl deutscher Funktionsträger beraten. 8 4 D i e U n i o n s k o m m i s s i o n machte hierfür personelle Vorschläge, die sich auch a u f E m i g r a n t e n in Schweden u n d der Schweiz erstreckten. D i e Ausgewählten erhielten Informationsmaterial über den Bezirk, in d e m sie eingesetzt werden sollten, u n d wurden in S c h u l u n g e n in Großbritannien, in denen unter anderen G o t t f u r c h t (über die deutschen Gewerkschaften) u n d Ollenhauer (über die deutsche politische Arbeiterbewegung) referierten, a u f ihre Aufg a b e vorbereitet.
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Eines der ersten verwirklichten Projekte war der Versuch im Herbst 1 9 4 4 , die I S K - O r g a n i s a t i o n in Deutschland zu reaktivieren. D e r Hintergrund dieser Aktion bleibt unklar. Wilkinson, der darauf hinweist, daß die G e r m a n Section des S O E seit den Anfängen des Krieges »tenuous and most secret contacts« mit Vertretern des I S K in der Schweiz unterhielt 8 5 , bringt sie mit der Aktion P E R I W I G in Verbindung. P E R I W I G , geplant von P W E und S O E , war ein »project for creating an entirely fictitious anti-Nazi resistance movement inside the Reich, using black radio transmissions and other deception techniques«. 8 6 ISK-Mitglieder in Deutschland hatten nach den Verhaftungswellen 1 9 3 6 / 3 7 Kontakt gehalten. Sieht man von den K o m m u n i s t e n ab, waren sie die einzige Widerstandsorganisation aus dem Umkreis der Arbeiterbewegung, die auch während des Krieges sporadischen Kontakt mit ihrer Auslandsleitung hatte. Von der Schweiz aus war A n n e Kappius 1 9 4 4 nach Deutschland gereist, hatte die verschiedenen I S K - Z e n t r e n besucht, auch die politischen Programme der U n i o n mitgebracht und die Ankunft weiterer ISK-Mitglieder aus der Emigration vorbereitet. Aber von den verschiedenen Missionen (»Ragweed«, »Marguerita«, »Downend«) wurde nur die letztere, der Fallschirmabsprung von Jupp Kappius und seine Zusammenarbeit mit der ISK-Organisation im Ruhrgebiet, ein Erfolg. 8 7 Nach den internen I S K - B e r i c h t e n war vorgesehen, daß von den in L o n d o n sich intensiv auf die R ü c k k e h r vorbereitenden I S K - M i t g l i e d e r n eine erste G r u p p e sobald als möglich, eine zweite kurz vor oder mit den alliierten Truppen nach Deutschland ausreisen sollte. 8 8 Der Einsatz der 8 0 ausgewählten »guides« verzögerte sich jedoch, da bei O S S die nicht unberechtigte Befürchtung auftauchte, diese würden sich in (verbotenen) politischen Aktivitäten für die Linksparteien engagieren und sich der Kontrolle des O S S entziehen. 8 9 So gelangten nur wenige der »guides« vor dem Einmarsch der U S - T r u p p e n nach Deutschland. 9 0 Nach O S S Angaben wurden von Herbst 1 9 4 4 bis Mai 1 9 4 5 rund 1 0 0 Agenten hinter den deutschen Linien abgesetzt. West nennt für die S O E 19 Agenten in erfolgreicher Mission und 3 4 erfolgreich eingeflogene Teams. 9 1 D i e meisten Einsätze wurden Fehlschläge oder blieben von geringem Nutzen. D i e meisten »guides« kamen erst mit dem Vormarsch der alliierten Truppen in ihre vorgesehenen Einsatzorte, wo sie indes große Bedeutung bei der Beeinflussung des Neuaufbaus der deutschen Arbeiterbewegung gewannen. 9 2 Eingesetzt waren aus der L o n d o n e r Emigration Paul B o n d y ( M ü n c h e n ) , Alfred Kiss (Köln), Paul Walter (Frankfurt, dort als Paul Kronberger), R o b e r t N e u m a n n ( K ö l n ) , Kurt Scheer (Frankfurt/M.), Willi Heidorn (Köln, alias W e r ner Hansen), H e l l m u t von Rauschenplat (Stuttgart, alias Fritz Eberhard), Alfred D a n n e n b e r g (Hannover), O t t o B e n n e m a n n (Braunschweig), Richard Broh (Nürnberg) und andere. 9 3 Sie informierten die örtlichen Sozialdemokraten und Gewerkschafter über die im Londoner Exil gefaßten Beschlüsse
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über die Reorganisation von Partei und Gewerkschaften und n a h m e n Einfluß auf den Aufbau der neuen Organisationen. SPD, ISK, SAP, Neu Beginnen und LdG in London ging es zunächst darum, ihr Konzept der Arbeiterbewegung unter ihren von der Diskussion in der Emigration abgeschnittenen Genossen in Deutschland durchzusetzen. Die »guides« hatten gemeinsam mit den von London aus als Korrespondenten, Berichterstatter und mit anderen Aufträgen nach Deutschland gesandten Mitgliedern der Unions-Organisationen wie Erich Brost (SPD), Karl Anders, Waldemar von Knoeringen, Richard Löwenthal, Kurt M a n delbaum, Werner Klatt (alle Neu Beginnen), Walter Fischer (SAP) und anderen entscheidenden Anteil an der schnellen Herstellung von K o m m u nikationsverbindungen zwischen den entstehenden S P D - u n d Gewerkschaftsorganisationen innerhalb Deutschlands, zur Union sowie zu ihren Mitgliedsorganisationen in London. 9 4 Aus den Briefen und den Berichten 9 5 dieser Reisenden läßt sich die zielgerichtete Kontaktaufnahme und Beeinflussung rekonstruieren. Eine besondere Rolle spielte dabei Willi Eichler, der als erster aus dem Führungskreis der Londoner Union nach Deutschland zurückkehrte und mit ISK- und SPD-Mitgliedern von H a m b u r g über H a n nover bis M ü n c h e n Kontakt aufnahm. Kurt Schumachers Einladung zu einer Reichskonferenz der S P D datiert vom 20. August 1945, dem Tag des ersten Besuchs Willi Eichlers. 96 Mit dem Beginn der Besatzungsherrschaft und nach dem überwältigenden Labour-Sieg bei den Wahlen im Juli 1945 ergab sich für die Londoner Union eine gewisse Verbesserung der Situation. 9 7 Zwar blieb das prinzipielle Mißtrauen gegenüber Deutschland und auch gegenüber der deutschen Sozialdemokratie in der Labourführung und der Labour-Regierung zunächst noch erhalten. Auch die offene Unterstützung hielt sich in engen Grenzen. Aber für die Londoner Emigration und ihre Verbindungen nach Deutschland erwies es sich als nützlich, daß den deutschen Sozialisten nahestehende Labour-Politiker wie Philip Noel-Baker (Staatssekretär im Foreign Office) und John Hynd 9 8 (Minister für das besetzte Deutschland und Österreich) nun wichtige Posten in der Regierung einnahmen u n d in besonderen Fällen helfend eingreifen konnten. Dies galt für die von Noel-Baker ermöglichte Teilnahme an der Konferenz in Wennigsen 9 9 und für die Rückkehr Ollenhauers, Heines u n d Schoettles. In beiden Fällen mochte das Interesse der britischen Labour-Regierung ausschlaggebend gewesen sein, beim Aufbau der neuen Partei dem die Führung erringenden, selbstbewußten bis schroffen und gelegentlich mit deutlich nationalen T ö n e n redenden Dr. Kurt Schumacher die mit den britischen Verhältnissen vertrauten Londoner Unionsmitglieder zur Seite zu stellen. So deutlich die Einflußnahme der Union und ihrer Mitgliedsorganisationen auf die Rekonstruktion der Arbeiterbewegung in den westlichen Besät-
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zungszonen - insbesondere beim Zerfall der nach der Befreiung spontan entstehenden antifaschistischen Bündnisse und Ausschüsse - nachzuweisen ist, so blieb dieser Prozeß doch widersprüchlich. Die in Deutschland verbliebenen Sozialdemokraten, Sozialisten und Gewerkschafter handelten zunächst weitgehend autonom nach ihren Erfahrungen und Einstellungen. Mit der Bildung von Organisationsstrukturen und dem Auftauchen der Emissäre der jeweiligen Emigrationsführung aus London setzte sich die »Parteiräson«, das heißt die Unterordnung unter die Entscheidungen von sich bildenden Führungszentren, mehr und mehr durch. 1 0 0 Was die Abgrenzung zur K P D betraf, so ließen gerade die Erfahrungen mit dem Umgang der sowjetischen Besatzungsmacht und der K P D mit der Ostzonen-SPD die zunächst verbreiteten Hoffnungen auf eine Einheitspartei schwinden und dann auch die Aktionsgemeinschaften brüchig werden. Aber auch die Londoner Union erwies sich in der Phase der Rückkehrvorbereitungen seit Ende 1944 als durchaus instabil. Jede Mitgliedsorganisation suchte sich eine möglichst gute Ausgangsposition zu verschaffen und den Führungsanspruch innerhalb der eigenen Organisation im Reich durchzusetzen: der SPD-Parteivorstand in London im Frühjahr 1945 durch den Versuch der Rekonstruktion des Parteivorstandes, der am Widerstand und dem Desinteresse der übrigen in der Emigration befindlichen Parteivorstandsmitglieder scheiterte, und dann durch das Beharren auf dem Mandat als Parteivorstand bis zu einer Reichskonferenz; der I S K durch den (nur teilweise gelungenen) Versuch der Rekonstruktion und Aktivierung der illegalen Organisation im Reich im Herbst 1944, dann durch den Versuch, durch Verhandlungen mit Schumacher eine Form der Sonderorganisation in der S P D für den I S K zugebilligt zu bekommen. Die SAP schwankte zwischen dem mehrheitlich vollzogenen bedingungslosen Anschluß an die sich als unbestritten stärkste politische Kraft rekonstituierende S P D und dem nur von einer Minderheit gewählten Eintritt in die K P D . Für Neu Beginnen dagegen war die Rückkehr zur S P D keine Frage. Die Verhandlungen mit Schumacher und die Wennigser Konferenz legten klare Verhältnisse fest. Sie waren zum Teil schon in der Londoner Union verabredet worden wie die Öffnung der Sozialdemokratie für andere soziale Gruppen außerhalb der Arbeiterschaft und für politische und ethische Konzeptionen außerhalb der bisherigen sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition. Gleiches gilt für die scharfe Abgrenzung gegenüber der K P D und die Ablehnung von Bündnissen mit ihr. In Bezug auf die Parteiorganisation wurde aber die 1942 von Ollenhauer und der Union beschworene Neugründung einer sozialistischen Einheitspartei zugunsten eines Aufgehens der sozialistischen Strömungen in die erneuerte »alte« Sozialdemokratie aufgegeben. 101 Und auch der Anspruch auf die Einheit der Partei wurde aufgegeben und eine Trennung in die Westzonen-SPD und die Ostzonen-SPD vollzogen.
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1 Dieser Aufsatz ist Ergebnis eines Editionsprojekts der Protokolle der »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien« (künftig kurz: Union) 1941 bis 1946. Das Manuskript der Edition liegt der Projektleitung (Herbert Obenaus/Hans-Dieter Schmid, Universität Hannover, Historisches Seminar) und dem Archiv der sozialen Demokratie (Dieter Dowe) vor. Im Zusammenhang mit dem Editionsprojekt werden auch Quellen zur Tätigkeit der SOPADE, die sich ab 1941 wieder als »Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« bezeichnete, des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), von Neu Beginnen (NB) und der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) ediert, die sich Anfang 1941 in London zur Union zusammengeschlossen hatten. Ein Teil der Dokumente war bislang unbekannt. Dies gilt z.B. für die Notizbücher Fritz Heines aus den Jahren 1941 bis 1945 (z. T. in Privatbesitz Fritz Heines, z. T. im Depositum Heine im AdsD Bonn), für die Korrespondenz Vogels und Ollenhauers mit Kurt Schumacher und Otto Grotewohl (Depositum Heine) und für die Aufzeichnungen Hans Gottfurchts (Archiv Gerhard Beier, Kronberg). Ein nicht unwichtiger Teil der Korrespondenz des SPD-Parteivorstands in London lief über Fritz Heine und befindet sich in dessen Unterlagen. - Zur Union vgl. auch Werner Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Hannover 1968. — 2 Ahnliches gilt für das Konzept der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien (LdG), die von den Mitgliedsorganisationen der Union dominiert wurde, für den Wiederaufbau der Gewerkschaften. Auffallend ist, daß gerade in Bayern, wo keine prominenten Emigranten am Aufbau der Gewerkschaften beteiligt waren, sich das Konkurrenzmodell der Zentralgewerkschaft durchsetzte. — 3 Ausführlich hierzu Ghapman Pincher: Too secret, too long. New York 1984, S. 97ff. — 4 Dies gilt zum Beispiel für Karl Frank, in den USA als Paul Hagen, die führende Persönlichkeit bei Neu Beginnen und Friedrich Stampfer, Mitglied des SPD-PV und führender Sozialdemokrat in der Emigration in den USA. Stampfer und andere Sozialdemokraten in den USA hatten 1940/41 eine heftige Kampagne gegen Frank initiiert. Zur gleichen Zeit schlössen sich die Londoner Mitglieder des Parteivorstandes in London mit Neu Beginnen u.a. zur Union zusammen. Die frühzeitige Rückkehr Stampfers und Franks nach Deutschland hätte die Einigungsbemühungen sehr belastet. — 5 Die ersten Vorschläge und die endgültigen Richtlinien auf den verschiedenen Gebieten (Wirtschaft, Kultur, Verfassung, Justiz, etc.) werden in der Edition dokumentiert. — 6 Vgl. unter anderem: Michael Fichter: Besatzungsmacht und Gewerkschaften. Zur Entwicklung und Anwendung der US-Gewerkschaftspolitik in Deutschland 1944-1948. Opladen 1982; Jan Foitzik: »Revolution und Demokratie. Zu den Sofort- und Übergangsplanungen des sozialdemokratischen Exils für Deutschland 1 9 4 3 - 1 9 4 5 « . In: IWK2A (1988) H. 3, S . 3 0 8 - 3 4 2 ; Harold Hurwitz: Die Anfange des Widerstandes. Teil 1: Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten. Berlin 1990 (Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. IV); Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München 1995. — 7 Nigel West: MI5. British Security Service Operations 1909-1945. New York 1982; Nigel West: MI6. British Secret Intelligence Service Operations 1909-45. New York 1983; M . R . D . Foot: SOE. An outline history ofthe Special Operations Executive 1940-46. London 1984; Pincher: Too Secret, too long, Christopher Andrew: Secret Service. The Making of the British Intelligence Community. London 1985; Anthony Glees: The Secrets ofthe Service. A Story ofSoviet Subversion of Western Intelligence. New York 1987; Anthony Cave Brown: »C«. The Secret Life of Sir Stewart Graham Menzies, Spymaster to Winston Churchill. New York 1987; Nigel West: Secret War. The Story ofSOE, Britains Wartime Sabotage Organisation. London 1993. Peter Wilkinson/Joan Bright Astley: Gubbins and SOE. London 1993; M . R . D . Foot: »Britische Geheimdienste und deutscher Widerstand 1 9 3 9 - 1 9 4 5 « . In: Klaus-Jürgen Müller/David N. Dilks (Hg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944. Paderborn u.a. 1994, S. 161 —168; Sir Peter Wilkinson: »SOE und Deutschland. Ein persönlicher Beitrag«. In: Ebd., S. 1 8 9 - 1 9 4 . — 8 Zur Emigration nach Großbritannien vgl. Röder: Exilgruppen, a.a.O., S. 21; Bernard Wasserstein: »Britische Regierungen und die deutsche Emigration 1 9 3 3 - 1945«. In: Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationabozialistischen Deutschland. Hg. v. Gerhard Hirschfeld, Stuttgart 1983, S . 4 4 - 6 1 , hier S.44fF.; Ute Lembeck: Zur Haltung der britischen
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Regierung gegenüber asylsuchenden Flüchtlingen aus Deutschland im Zeitraum von März 1933 bis Oktober 1938. Diss. Friedrich-Schiller-Universität Jena 1964; Birgit Leske: Das Ringender Organisation der KPD in Großbritannien um die Verwirklichung der Einheits- und Volksfrontpolitik der KPD (1934-1945). Berlin 1983, S. 147 ff.; Gottfried Niedhart (Hg.): Großbritannien als Gast-und Exilland für Deutsche im 19. und20. Jahrhundert. Bochum 1985; A. J. Sherman: Island Refuge. Britain and Refugees from the Third Reich 1933-1939. London 1973; Austin Stevens: The Dispossessed - German Refugees in Britain. London 1975. — 9 Vgl. Wasserstein: »Britische Regierungen«,a.a.O., S. 56 ff. — 10 Vgl. Roáer: Exilgruppen,a.a.O.,S. 23; Wasserstein: »Britische Regierungen«, a.a.O., S.46. — 11 Vgl. Röder: Exilgruppen, a.a.O., S. 24. — 12 Zahlen nach ebd., S. 26, 27, 47. — 13 Eine Liste der Organisationen findet sich ebd., S. 22. — 14 Vgl. hierzu Ernst G. Lowenthal: »Bloomsbury House, Flüchtlingshilfsarbeit in London 1939 bis 1946. Aus persönlichen Erinnerungen«. In: Das Unrechtsregime. Hg. v. Ursula Büttner. Festschrift f. Werner Jochmann zum 65. Geburtstag. Hamburg 1986, Bd. 2, S. 2 6 7 - 3 0 8 . — 15 Vgl. Röder: Exilgruppen, a.a.O., S. 23 f. — 16 Zur Behandlung der deutschen Flüchtlinge im Krieg und zur Internierung ebd., S. 117 ff.; P. and G. Gillmann: Collar the lot! How Britain interned and expelled its Wartime Refugees. London 1980; R. A. Stent: Bespattered Page? The Internment of his Majesty's »most loyal enemy aliens«. London 1980; David Cesarini/Tony Kushner, The internment of aliens in twentieth century Britain. London 1993. — 17 Sozialistische Mitteilungen (künftig: SM) Nr. 22 v. 1.2.1941; weitere Berichte befinden sich in: SM Nr. 23, 1.3.1941, Nr. 24, 1.4.1941. — 18 Vgl. Röder: Exilgruppen, a. a. O., S. 1 23. — 19 So z.B. Außenminister Eden am 17. Juni 1941 auf eine Anfrage von Comander King Hall. In: PRO London, FO, 371/26559. Vgl. auch Attitude of His Majesty's Government towards the Various Organisations established in this Country by Emigres from Germany and Austria, 16.11.1942, gedr., 11 S„ in: PRO London, FO, 371/30911, CI 1329. Ausführlich zurbritischen Kriegszieldiskussion: Dokumente zur Deutschlandpolitik. I. Reihe, Band 1, 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941. Britische Deutschlandpolitik. Bearbeitet von Rainer A. Blasius, S. XXXIIlff.; Band 3. 1. Januar 1942 bis 31. Dezember 1942. Britische Deutschlandpolitik. 2 Bände. Bearbeitet von Rainer A. Blasius. Frankfurt/M. 1989, Band 3/1, S. XLIIIff. — 2 0 Vgl. hierzu den MI5-Bericht »Current Trends in German Emigré Opinion in the United Kingdom«, 5 S., der am 10. Juli 1943 von S. P. Brooke-Booth an das FO gesandt wurde, und den MI5-Report über die SPD-Veranstaltung am 18. Juni 1943, in der Vogel über die Neugestaltung Deutschlands nach dem Kriege referierte. PRO London, FO, 371/34414, C 8000. Weitere Berichte finden sich in: 34416 C 61108, C15186. — 21 Vgl. hierzu Dokumente zur Deutschlandpolitik. I. Reihe/Band 1, S. XXVI; Glees: The Secrets of the Service, a.a.O., S. 76 ff., 122 f. — 2 2 Vgl. hierzu Conrad Pütter: Rundfunk gegen das «Dritte Reich«. Deutschsprachige Rundfunkaktivitäten im Exil 1933-1945. Ein Handbuch, M ü n chen u.a. 1986. Winfried Rauscheder: Der ¡Sender der Europäischen Revolution'. Sozialistische deutsche Rundfunkpropaganda im Spannungsfeld des Exils in Großbritannien. Mag. Arbeit M ü n chen 1985. — 2 3 Z u m Beispiel die Beratungen über Resolutionen der Union mit bürgerlichen Organisationen am 9. Dezember 1941 und am 16. Juni 1942 sowie das Projekt Lord Davies. — 2 4 So Churchills Auftrag an Dalton und die neugegründete SOE. Vgl. Brown: »C«. The Secret Life, a.a.O., S.296. — 25 Vgl. Ellic Howe: Die schwarze Propaganda. Ein Insider-Bericht über die geheimsten Operationen des britischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. München 1983, S. 126. — 26 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1. Reihe, Band 1, S. XXX, Band 2, S. XXVII, LXXXIII. — 2 7 Auch die Bemühungen der Union um eigene Sendemöglichkeiten nach Deutschland scheiterten im Juli 1941. Vgl. Protokoll des Exekutivkomitees der Union vom 8. Juli 1941, AdsD Bonn, PV-Emigration, Mappe 4. — 28 Vgl. hierzu Lonsdale J. Bryans: »Das Foreign Office und der deutsche Widerstand«. In: Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte 1 (1953) S. 347 ff.; Klemens von Klemperer: German resistance against Hitler. The search for allies abroad, 1938-1945. Oxford 1992; Patricia Meehan: The unnecessary war. Whitehall and the German resistance to Hitler. London 1992; Lothar Kettenacker: »Die britische Haltung zum deutschen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs«. In: Lothar Kettenacker (Hg.): Das »Andere Deutschland« im Z.weiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive. Stuttgart 1977, S . 4 9 - 7 6 . — 2 9 Sir
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Robert Vansittart, 1 9 3 0 - 3 8 ständiger Unterstaatssekretär im Außenministerium, 1938—41 diplomatischer Hauptberater des Außenministers, ab 1941 im Oberhaus, vertrat in Reden und Broschüren seit 1940/41 eine rigorose antideutsche Haltung (Vansittartismus), die nicht zwischen Nationalsozialisten undNS-Gegnern unterschied. — 30Glees: Secrets, a.a.O., S. 67, 71, macht zu Unrecht sowjetische Spione für diese Entwicklung verantwortlich. — 31 Vgl. Kenneth O. Morgan: Labour in Power 1945-1951. Oxford 1984, S. 254 f. — 32 Vgl. ebd.: Dokumente zur Deutschlandpolitik, 1. Reihe, Band 1, S. XXXff. — 33 Die militärischen Nachrichtendienste bleiben hier unberücksichtigt. — 34 Vgl. hierzu West, MI5. West geht jedoch nur auf die Überwachung der britischen Kommunisten und Faschisten und auf die Abwehr deutscher Agenten ein. Die Überwachung der und die Verbindungen zur deutschen Emigration bleiben unerwähnt. — 35 Vgl. hierzu West, M16; Christopher Andrew: Secret Service. The Making of the British Intelligence Community. London 1985; Anthony Cave Brown: »C«. The Secret Life of Sir Stewart Graham Menzies, Spymaster to Winston Churchill. New York 1987. — 36 Vgl. hierzu Andrew: Secret Service, a.a.O., S. 380ff. Die wichtigsten Stützpunkte befanden sich in den Niederlanden und der Schweiz. In den Niederlanden gehörten zum ZApparat: Sigismund Payne Best (Fa. Menoline, Den Haag), Basil Fenwick (Royal Dutch Shell), Richard Tinsley (Rotterdam); in der Schweiz: Frederick Vanden Heuvel (Bern), Frank Nelson (Basel), Victor Farrell (Genf), Rex Pearson (Unilever). Weitere Mitarbeiter in Mitteleuropa waren John Evans (Journalist, Prag), Frederick Voight (Mitteleuropakorrespondent des Manchester Guardian in Wien), Vincent Auger (Repräsentant London Films in Berlin), Graham Maingot (Rom). Als Deckmantel diente teilweise Alexander Kordas Filmproduktion. — 37 West, MI6, S.68 f., 115; Andrew: Secret Service, a.a.O., S.382. — 38 Vgl. West, MI6, S. 12, 72 ff.; Brown, S. 208 ff. Da aber genauere Angaben fehlen, muß das Ausmaß der Beeinträchtigung offenbleiben. Im Herbst 1941 wurde der Z-Apparat aufgelöst und ging in der Restorganisation des SIS auf. — 39 West, MI6, S. 11 5. — 40 Vgl. hierzu Andrew: Secret Service, a.a. O., S. 382 ff. — 41 Zur SOE vgl. West: Secret War, a.a. O.; Foot: SOE, a. a.O.; Glees: The Secrets of the Service, a. a. O.; Howe: Die schwarze Propaganda, a. a. O., S. 15 ff; Andrew: Secret Service, a.a.O., S. 472 ff; Brown: a.a.O., S. 296 ff. — 42 Zit. nach West: Secret War, a.a.O., S. 24. Zur Gründung der SOE vgl. auch Foot: SOE, a.a.O., S. 29 ff.; Glees, The Secrets of the War, a. a. O., S. 68 ff. — 43 Vgl. ebd., S. 77, 80 f., 90 f. — 44 Zur »schwarzen« Propaganda vgl. Howe: Die schwarze Propaganda, a.a.O. — 45 Vgl. auch Glees: Secrets, a.a.O., S. 71. Dies dürfte jedoch nur für die ursprüngliche Intention gegolten haben. Informationsbeschaffung und Auswertung, Propaganda - im neuen Kontext - wurden weiter intensiv betrieben. — 46 Zu den Aktivitäten der SOE-Sektion F und RF in Frankreich vgl. Robert Marshall: All the King's men. The Truth behind SOE's Greatest Wartime Disaster. London 1988; Marcel Ruby: F Section SOE. The Buckmaster Network. London u.a. 1990; The F Section Memorial. Caxton Hill 1992; Hugh Dormer: War Diary. Sevenoaks 1994; Rita Kramer: Flames in the Field. The Story of Four SOE Agents in Occupied France. London 1995. — 47 Vgl. hierzu Röder: Exilgruppen, a.a.O., S.122, 176f; Foitzik: »Revolution und Demokratie«, a.a.O. — 48 Das PID gab täglich 50seitige »News Digests« mit Artikeln aus deutschen Zeitungen heraus, stellte außerdem ein »German Basic Handbook« mit mehreren tausend Seiten zusammen und erarbeitete sogenannte »zonal studies« über bestimmte Regionen. Vgl. OSS-War Diaries, London, Vol. 1, S.722. — 49 Vgl. Röder: Exilgruppen, a.a.O., S. 176. Howe, a.a.O., S. 63, nennt ab Frühjahr 1942 als Verantwortlichen der PWE Bruce Lockhart und als weitere Führungsmitglieder Reginald Leeper, Brigadier Brooks und Ivone Kirkpatrick. — 50 Vgl. Röder: Exilgruppen, a.a.O., S. 179; zur Rolle Daltons in Bezug auf die SOE vgl. Glees: The Secrets of the War, a. a. O., S. 76 ff. — 51 Allerdings scheint schon im August 1941 in der PWE Einverständnis bestanden zu haben, Crossmans »sozialistische Tendenzen« in der Propagandatätigkeit zu blockieren. Vgl. Howe: Die schwarze Propaganda, a.a.O., S. 69. — 52 Vgl. Glees: The Secrets of the War, a. a. O., S. 68. — 53 Vgl. West: Secret War,S.5\2. Dem Autor waren ebenfalls keine entsprechenden Bestände zugänglich. Ruby erwähnt, daß auch britische Forscher nur vom FO sorgfältig ausgewählte Akten vorgelegt erhielten und keine Erlaubnis hatten, SOE-Mitarbeiter zu befragen. Vgl. Marcel Ruby: F Section SOE. The Buckmaster Network. London u.a. 1990, S. 289. — 54 So die Angaben bei West: Secret War,
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a. a. O., S. 312. — 55 Fritz Heine arbeitete ab Herbst 1942 für SOE1, die Propagandasender Sefton Delmers. — 5 6 Uber die Arbeit von MI6/SIS in Bezug auf Deutschland nach 1940 gibt es wenig Klarheit. — 5 7 Aber viele wichtige Informationen waren vertraulich und konnten nichtveröffentlichtwerden,dasiedie Informanten in Deutschland gefährdeten oder durch eine Veröffentlichung wertlos geworden wären. — 5 8 Francis Hinsley: British Intelligence in the second world war. Its influence on strategy and operations, Bd. I. New York 1979, S. 4. — 5 9 Ebd. 56 ff., zu einzelnen Informationen vgl. S. 46 ff. — 6 0 Vgl. Röder: Exilgruppen, a . a . O . , S. 179 f. — 6 1 Vgl. hierzu ebd. — 6 2 Vgl. Ruby: F Section SOS, a. a. O., S. 167. — 6 3 Mehrere Sozialdemokraten arbeiteten für britische Nachrichtenagenturen, Richard Löwenthal (NB) für Reuters. — 6 4 Willi Eichler, der Vorsitzende des ISK, stand seit 1940 in engem Kontakt mit dem SOE und seit 1943 mit dem OSS Labor desk in London. Vgl. OSS-London, War diaries, London, Vol. 7, S. 210; Wilkinson/Astley, a . a . O . , S. 210. — 6 5 Vgl. OSSLondon, War diaries, S. 210; vgl. auch Hellmut Kalbitzer: Widerstehen oder Mitmachen. Eigensinnige Ansichten und sehr persönliche Erinnerungen. Hamburg 1987. — 6 6 Seit 1941 bestand in London ein Büro der Vorgängerinstitution Coordinator of Information (COI). — 6 7 Eine Auswahl aus der umfangreichen Literatur über den OSS: Barry M . Katz: Foreign intelligence. Research and analysis in the O f f i c e of Strategie Services 1942-1945. Cambridge, Mass. 1989; Ceorge C. Chalou (Hg.): The Secrets war. The O f f i c e of Strategie Services in World War II. Washington D C 1992; zur OSS-Tätigkeit in Bezug auf Deutschland vgl. Foitzik: »Revolution und Demokratie«, a . a . O . ; Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, a . a . O . ; Jürgen Heideking/Christof Mauch (Hg.): Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1993; Jürgen Heideking/Christof Mauch (Hg.): USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Originaldokumente aus dem Amerikanischen übersetzt. Tübingen u.a. 1993; Petra Marquardt-Bigman: Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942-1949. München 1995- — 6 8 Franks (Hagen) Ausarbeitung »Vorbereitung einer Zusammenarbeit mit der Anti-NaziUntergrundbewegung« ist abgedruckt in: Heideking/Mauch: USA und deutscher Widerstand, a.a.O., S. 1 5 5 - 1 5 8 . — 6 9 Vgl. hierzu Annette Hild-Berg: Toni Sender (1888-1964). Ein Leben im Namen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit. Köln 1994, S. 2 1 6 ff. — 7 0 SOE/SIS hatte bereits 1940 von September bis November über 25 Agenten per Fallschirm oder Boot nach Deutschland gebracht. Sie waren unzureichend ausgebildet und ausgerüstet, hatten nur schlecht gefälschte Dokumente und wurden bald entdeckt. Vgl. hierzu Andrew, a . a . O . , S. 480. Während des Krieges stellten sich auch zahlreiche emigrierte junge deutsche Juden für nachrichtendienstliche Einsätze auf dem Festland. Diese Fallschirmagenten der NSection, die von 1942—44 über Holland abgesetzt wurden, fielen alle in die Hände der Abwehr. Diese hatte einen holländischen SOE-Agenten und dessen Funkgerät in die Hand bekommen und sendete an dessen Stelle zurück. Vgl. David Stafford: CampX. Toronto 1986, S. 214. — 7 1 Vgl. Hild-Berg: Toni Sender, a . a . O . , S . 2 2 3 ; Korrespondenz Sender - Gottfurcht in: AdsD Bonn, NL Gottfurcht, K 37 (8444). Zur Zusammenarbeit Jahns und Gottfurchts mit dem OSS vgl. auch Fichter: Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S . 7 8 f f . — 7 2 Vgl. Marquardt-Bigman, a . a . O . , S.100. Goldberg wurde vom Jewish Labour Committee, New York, bei Heine angemeldet. Vgl. JLC an Heine 3.9.1942, in: Privatbesitz Heine, Ordner Emigration (London) 1 9 4 1 - 4 5 , [Korrespondenz] F-K. Vgl. auch OSS-London, War diaries. — 7 3 Zunächst Thomas Wilson, ab April 1945 Carl Devoe, ab Juni 1945 Leonard Appel, dann Lillian Traugott. OSS-London, War diaries, S. 42, 293 f. — 7 4 M . R . D . Foot: »The OSS and SOE. An equal partnership«. In: Chalou, a . a . O . , S. 295. — 7 5 Der Brief der Botschaft befindet sich ebenfalls in: AdsD Bonn, PV-Emigration, Mappe 5. — 7 6 Die Telefonnummer diente auch als Deckbezeichnung für OSS, wie die Akte »8444« im Nachlaß Gottfurcht und die Eintragungen »8444« für Gespräche mit dem OSS im Terminkalender Gottfurchts belegen. Akte in: AdsD Bonn, NL Gottfurcht; Terminkalender in: Archiv Gerhard Beier Kronberg, Teilnachlaß Gottfurcht. — 7 7 So äußerte sich Fritz Heine auf einer Tagung, vgl. Anthony Glees: British Intelligence and Communist Subversion, ms. Manuskript, S. 20; Privatbesitz Heine. — 7 8 Auch die deutsche Sektion der SOE öffnete sich Ende 1944 unter dem Einfluß
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Templers für den Einsatz von zuvor speziell geschulten und ausgebildeten deutschen Kriegsgefangenen. Insgesamt wurden 28 deutsche Wehrmachtsangehörige mit Sabotageaufträgen nach Deutschland geschickt. Vgl. Wilkinson/Astley, a . a . O . , S. 209. — 79 Vgl. Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Meisenheim/Glan 1964, S. 313. — 80 Vgl. die Angaben in den Aufzeichnungen Gottfurchts, in: AdsD Bonn, NL Gottfurcht, K 37 (8444). — 81 »Research work« bestand in der Erstellung von Ausarbeitungen über Deutschland. — 82 Konopka war ISK-Mitglied und nach der Flucht vor drohender Verhaftung über Frankreich in die USA emigriert. — 8 3 OSS-London, War diaries, S.137, 151 f. Auf Seite 162 findet sich eine Liste des »Bach Authoritative Source Material«, der Schulungsunterlagen, mit insgesamt 78 Titeln, u. a. Ausarbeitungen aus dem Jahre 1944 mit Titeln wie »Die politische Arbeiterbewegung in Deutschland« (vermutlich Ollenhauer), 61 S., »Die Arbeiter Sport-Bewegung«, 8 S., »Die Sozial-Demokratische Presse vor 1933« (vermutlich Heine), ca. 50 S., »Gewerkschaftsbewegung in Deutschland« (vermutlich Gottfurcht). — 84 Ausführlich hierzu Foitzik: »Revolution und Demokratie«, a . a . O . — 85 Es ist auffällig, daß Wilkinson nicht die in London befindliche Führung des ISK nennt, obwohl er als damaliger Mitarbeiter der deutschen Sektion genauere Kenntnis haben mußte. Vgl. Wilkinson/Astley, a . a . O . , S. 210. — 86 Ebd. — 87 Vgl. Link: Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes, a. a. O., S. 314 ff.; Über diese »Faust Missions« ausführlich, OSS-London, War diaries, S. 232 ff.; zur »Downend Mission«, ebd. S. 3 8 0 - 4 0 0 ; West: Secret Service, a . a . O . , S . 3 1 3 f . — 88 Vgl. Vierteljahresbericht des Ortsvereins London, Februar bis April 1944, AdsD Bonn, ISK, Mappe 52. — 89 Vgl. OSSLondon, War diaries, S . 2 8 5 f . — 90 Auch ein geplanter Einsatz von zwei Neu BeginnenMitgliedern aus den USA mit dem Ziel Berlin kam nicht zustande. Vgl. ebd., S . 2 5 2 . — 91 Vgl. West: Secret War, a . a . O . , S . 3 1 3 . Es bleibt unklar, ob die gemeinsamen Missionen mit der SOE gemeint sind. — 9 2 Vgl. hierzu Foitzik: »Revolution und Demokratie«, a. a.O.; Ulrich Borsdorf/Lutz Niethammer: Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des USGeheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945. Wuppertal 1976; Lutz Niethammer/Ulrich Borsdorf/Peter Brandt: Arbeiterinitiative 1945• Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland. Wuppertal 1976; Fichter: Besatzungsmacht, a. a. O.; Henke: Amerikanische Besetzung, a. a. O. — 9 3 Vgl. die Angaben in: AdsD Bonn, NL Gottfurcht, K 37 und bei Foitzik: »Revolution und Demokratie«, S. 335 f. — 94 Diese Korrespondenz findet sich, was den SPD-Parteivorstand in London und die Union angeht, nur zum Teil im AdsD Bonn, Bestand PV-Emigration. Der wichtigere Teil, mit den so vermittelten Korrespondenzen mit Severing, Schumacher, Grotewohl u.a. findet sich im Depositum Heine, Ordner 32 u. 33. — 95 Vgl. auch Borsdorf/Niethammer: Zwischen Befreiung und Besatzung, a . a . O . — 96 Es ist durchaus vorstellbar, daß Eichler die Idee der Reichskonferenz ins Spiel brachte. — 97 Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus am 5. Juli 1945 errang die Labour Party einen überragenden Erfolg und eroberte 393 von 616 Unterhaussitzen, die Konservativen nur 189. Attlee wurde Premierminister und bildete die neue Regierung, der unter anderem Bevin (Außenminister), Dalton (Finanzminister), Ellen Wilkinson (Ministerin für Erziehung), John Hynd (Minister für Deutschland und Österreich) und Philip Noel-Baker (Staatssekretär im Foreign Office) angehörten. Vgl. Alfred F. Havighurst: Britain in Transition. Chicago u. London 1985, S. 368, 373 f. — 98 Vgl. Ulrich Reusch: »John Burns Hynd ( 1 9 0 2 - 1 9 7 1 ) « . In: Geschichte im Westen 1 (1986) H. 1. — 99 Vermutlich auch dafür, daß sie überhaupt zustande kommen konnte. — 100 Für den ISK vgl. Link: Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes, a . a . O . , S. 322 f. — 101 Allerdings wurden gewisse Privilegien (ISK) gewährt und wichtige politische Funktionen innerhalb der SPD und in der Nachkriegsgesellschaft übertragen.
Hans Rudolf Vaget
Thomas Mann und der deutsche Widerstand Zur Deutschland-Thematik im Doktor
Faustus
Für Inge Jens I Als Einstieg in unser Thema* wähle ich einen überaus merkwürdigen Eintrag in Thomas Manns Tagebuch vom 27. Juni 1943. Vergegenwärtigen wir uns jedoch zunächst die Zeitumstände. Gut fünf Monate waren vergangen, seit sich in Stalingrad die militärische Niederlage Deutschlands abzuzeichnen begann; die Konferenz von Casablanca, auf der die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches zum gemeinsamen Kriegsziel der Alliierten erklärt worden war, lag ein halbes Jahr zurück. Und seit etwa einem Jahr schon drangen Nachrichten über die deutschen Vernichtungslager nach Amerika; sie waren so ungeheuerlich, daß man in Washington zögerte, ihnen Glauben zu schenken. In dieser kritischen Phase des Krieges setzte auf Seiten der amerikanischen Regierung und in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Deutschland-Debatte ein, in der es um die praktisch-politische Frage der Neugestaltung Deutschlands und der Umerziehung der Deutschen ging. Die Frage: What to do with Germany beschäftigte die Deutschlandexperten mit wachsender Dringlichkeit. Dabei erwies es sich als unabweislich, sich über die grundsätzliche, weit schwierigere Frage des sogenannten Nationalcharakters der Deutschen den Kopf zu zerbrechen: Was ist das für ein Volk, das den Nationalsozialismus hervorgebracht, akzeptiert und scheinbar widerstandlos ertragen hat? Das war die Frage der Fragen schon damals und sollte es noch lange bleiben, wie wir gerade heute - zehn Jahre nach dem Historikerstreit und im Zeichen einer rapide um sich greifenden Debatte über das Buch von Daniel J. Goldhagen 1 - zu konstatieren haben. Auch unter den deutschen Emigranten wurde diese Debatte nun, da das Ende des »Dritten Reiches« abzusehen war, mit erhöhter Leidenschaftlichkeit geführt. Thomas Mann, dessen Reden und Essays schon seit seiner Ankunft in Amerika um dieses Thema kreisten, entschloß sich gar, das Deutschland-Thema zum Gegenstand eines Romans zu machen: der Doktor Faustus als Roman des Deutschtums. Mit der Niederschrift hatte er am 23. Mai 1943 begonnen, ohne daß ihm schon das musikhistorische und das zeitgeschichtliche Profil des Werkes in aller Klarheit vor Augen standen.
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Einen Monat nach Beginn der Arbeit las er in der amerikanischen Presse, die sich auf schweizer und schwedische Presse-Berichte berief, über die Hinrichtung der Geschwister Hans und Inge Scholl und die Aktivitäten der Weißen Rose an der Universität München. Dazu heißt es nun im Tagebuch: »Vormittags die deutsche Sendung zu Ende geschrieben, mir nahegehend, nicht zuletzt weil einer der exekutierten Münchener Studenten Adrian hieß«. 2 Mit der deutschen Sendung ist seine monatlich von der BBC ausgestrahlte Ansprache an Deutsche Hörer gemeint. 3 Was aber hat es mit dem Namen Adrian auf sich? Offenbar glaubte Thomas Mann, daß einer der Münchener Studenten erstaunlicherweise denselben Vornamen trug wie die Hauptfigur seines im Entstehen begriffenen Deutschland-Romans, Adrian Leverkühn. Doch keiner von ihnen hieß Adrian; vermutlich liegt eine Verwechslung mit Alexander Schmorell vor, der zu diesem Zeitpunkt zwar schon verhaftet, aber noch nicht exekutiert war. Schlicht ein Irrtum Thomas Manns also? Wenn ja, so war es mitnichten ein schlichter, belangloser Irrtum! Es scheint, hier liegt eine von jenen Fehlleistungen vor, die es in sich haben und die es lohnt, weiter zu verfolgen. Die Tagebuchstelle, so darf man vermuten, indiziert eine verborgene, doch enge Verknüpfung des Widerstandsthemas mit dem Deutschland-Roman. Diese verdeckte Beziehung möchte ich versuchen aufzuhellen.
II Das Thema des Widerstands hat in der Thomas-Mann-Literatur bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist insofern verwunderlich, als die Frage des Widerstands sowohl in Thomas Manns publizistischen Schriften der vierziger Jahre als auch im Doktor Faustus eine nicht zu übersehende Rolle spielt. Diese Thematik war von größter Bedeutung für das Deutschlandbild Thomas Manns, das sich in jenen Jahren mancherlei Zerreißproben ausgesetzt sah. Vorab ist jedoch zu betonen, daß den deutschen Exilanten in den Vereinigten Staaten bei weitem nicht die Kenntnisse zur Verfügung standen, über die wir Nachgeborenen dank einer minutiösen Widerstandsforschung verfügen. Man wußte damals wenig von den unterschiedlichen Formen und Beweggründen des aktiven und passiven Widerstands im »Dritten Reich«. 4 Thomas Mann hatte lediglich von der Weißen Rose und dem Zwanzigsten Juli einige spärliche Kenntnisse, vermittelt und gebrochen durch die Berichte in der schweizer, schwedischen und amerikanischen Presse. Von der Existenz und den politischen Zielen des Kreisauer Kreises etwa oder Dietrich Bonhoeffers und seiner Freunde konnte er nichts wissen, ebensowenig wie von den stillen, unspektakulären Formen des passiven Widerstands, sei dieser nun politisch oder religiös motiviert gewesen. Andererseits war er sich offen-
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bar, jedenfalls gegen Ende hin, der erschwerten Bedingungen eines deutschen Widerstands sehr wohl bewußt, der, anders als die Widerstandsbewegungen in den vom »Dritten Reich« besetzten Ländern, mit dem Stigma des Landesverrats behaftet war und der es mit einem sich auf Kontrolle und Bespitzelung stützenden, totalitären Staat zu tun hatte. 5 Von daher gelangte T h o mas Mann, wie zu zeigen ist, langsam und schrittweise, aber immer deutlicher zu der Einsicht, daß die eigentliche Bedeutung eines deutschen Widerstands nicht im Praktisch-Politischen zu suchen sei, sondern auf der Ebene des Symbolischen. Damit antizipierte er eine Erkenntnis, zu der die Widerstandsforschung in Deutschland sich nur zögerlich durchrang. 6 Zunächst jedoch, in der ersten Phase des Krieges, als Deutschland von einem militärischen Sieg zum anderen eilte, neigte Thomas Mann zu unrealistischen, aus der Verzweiflung geborenen H o f f n u n g e n auf eine Volkserhebung. Zu Weihnachten 1940 rief er seinen Landsleuten zu: »Deutsche, rettet euch! Rettet eure Seelen, indem ihr euren Zwingherren, die nur an sich denken und nicht an euch, Glauben und Gehorsam kündigt!« 7 Glaubte er hier noch an die Selbstachtung und Menschenwürde als Motivationsfaktoren, so appellierte er im April 1941 an die Vernunft der Deutschen; dabei versuchte er sich einzureden, die Deutschen würden »Hitler fahren lassen« und in die Hölle schicken, sobald sie nur gewahr würden, »daß Hitler und seine Bande das einzige Hindernis bilden für einen gerechten Frieden und eine glücklichere, es selbst bereitwillig einschließende Völkerordnung«. Allerdings hegte er selbst auch schon Zweifel an der Wirksamkeit solcher Vernunftsgründe, denn im Vergleich zu den Italienern, »die unverhohlene Unlust zeigten, für ihren Duce zu kämpfen«, ermangele es den Deutschen an »politischer Aufgewecktheit und Kritik«. 8 Den entschiedensten Aufruf zum Widerstand, ja zur Selbstbefreiung richtete Thomas M a n n im August 1941 an seine deutschen Hörer. Inzwischen war der Rußlandfeldzug eröffnet worden; für den das Ende des Krieges schon antizipierenden Kommentator hatten sich dadurch die Dimensionen des zu erwartenden Zusammenbruchs um ein weiteres vergrößert. Angesichts solcher katastrophalen Aussichten stellte er den passiven Widerstand geradezu als einen moralischen Imperativ dar. Das Gebot der Stunde sei, sich zu verweigern, einfach nicht mehr mitzumachen u n d die »niederträchtige, auch unsäglich herabwürdigende Herrschaft von sich zu schütteln« 9 . O f f e n b a r ahnte er, daß ein solcher Aufruf zum passiven Widerstand und darüber hinaus zur Selbstbefreiung etwas Illusionäres an sich hatte u n d letztlich einem Wunschdenken entsprang. Der praktische Erfolg eines solchen kollektiven Widerstands war ihm selbst wohl auch zweifelhaft, doch war es von entscheidender Bedeutung für ihn, ob ein Versuch zur Selbstbefreiung überhaupt u n t e r n o m m e n wurde oder nicht. Es gelte unter Beweis zu stellen, was der übrigen Welt immer schwerer falle zu glauben, nämlich, »daß National-
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Sozialismus und Deutschland nicht ein und dasselbe sind« 1 0 . A m Ende werde es einen ungeheuren Unterschied machen, ob die Deutschen sich selbst von Hitler befreiten oder ob es von außen geschehen sei. Die Botschaft ist unmißverständlich: nur über den W i d e r s t a n d gegen das Naziregime dürfen sich die Deutschen das moralische Recht auf eine faire Behandlung nach d e m Krieg erhoffen. An dieser Stelle läßt sich besonders deutlich erkennen, w o r u m es T h o m a s M a n n letztlich ging, nämlich u m eine moralische Ehrenrettung der Deutschen in den Augen der Welt, a u f d a ß Deutschland nach d e m Ende des »Dritten Reiches« möglichst rasch wieder in den Kreis der zivilisierten Völker aufg e n o m m e n werden könne. Offensichtlich war seine Langzeitperspektive nicht primär politisch, sondern moralisch bestimmt, wie auch aus einer weiteren Ansprache vom August 1941 zu ersehen ist: »Es ist ein Streit in der Welt, ob m a n zwischen dem deutschen Volk und den Gewalten, die es heute beherrschen, eigentlich einen Unterschied machen kann und ob Deutschland überhaupt fähig ist, sich der neuen, sozial verbesserten, auf Frieden und Gerechtigkeit gegründeten Völkerordnung, die aus diesem Kriege hervorgehen m u ß , ehrlich einzugliedern.«" Dieser Streit sollte jedoch erst in den darauf folgenden Jahren in seiner ganzen Schärfe entbrennen. Er beherrschte zu Kriegsende und in den ersten Nachkriegsjahren die Diskussion über Deutschland vor allem in England und Amerika. Hier nun sollte sich die durch den Kalten Krieg beschleunigte Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen als ein entscheidender Faktor der Verdrängung erweisen. So konnte der Eindruck entstehen, d a ß die von T h o m a s M a n n 1941 befürchtete Ununterscheidbarkeit von gewöhnlichen Deutschen und Nazis sowie seine Sorge u m die Langzeitwirkung der moralischen Korrumpierung durch den Nationalsozialismus gegenstandslos geworden seien. Dieser vom Vergessen-Wollen genährte W a h n , der sich in einer überwiegend exkulpatorisch gesinnten, offiziellen »Vergangenheitspolitik« niederschlug 1 2 , war jedoch nicht länger aufrecht zu erhalten, als mit d e m Z u s a m m e n b r u c h der Sowjetunion die H a u p t voraussetzung für die beschleunigte Westintegration hinfällig wurde. So hätte es eigentlich nicht w u n d e r n e h m e n dürfen, d a ß nach d e m Ende der D D R und der Restitution Deutschlands als Nationalstaat die in den Augen der Welt durchaus noch ungeklärte Frage nach der Identität von Deutschen und Nazis neu aufgeworfen werden würde. Die Klärung dieser Frage war lediglich verschleppt worden. Die weltweite Debatte darüber, die das Buch von Daniel J. Goldhagen provoziert hat, scheint mir diese Diagnose zu bestätigen; sie ist das augenfälligste S y m p t o m der Unerledigtheit des von T h o m a s M a n n 1941 artikulierten Problems. Es ist offensichtlich, T h o m a s M a n n vertritt in den beiden Radioansprachen vom August 1941 noch einen kompromißlosen moralischen Rigorismus. Bloße Gesten des Widerstands und des Aufbegehrens genügten ihm
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nicht; was letztlich zählt, ist der aufs Ganze gehende Umsturzversuch. So beschließt er diesen Appell zur Selbstbefreiung im August 1941 mit einem reichlich unrealistischen und wohl taktisch zu verstehenden Aufrufzur Selbstbefreiung: »Nur wenn ihr euch selbst befreit, habt ihr ein Anrecht, teilzuhaben an der k o m m e n d e n freien und gerechten Völkerordnung.« Diese Position - gleichsam seine Maximalforderung an die Deutschen - erwies sich jedoch bald als unhaltbar, und Thomas M a n n sollte sie mit Fortgang des Krieges auch beträchtlich abmildern und modifizieren. Wie alle Exilanten hat T h o m a s M a n n den innerdeutschen Widerstand förmlich herbeigewünscht. Das belegen am deutlichsten die hier angeführten Stellen aus seinen Radioansprachen nach Deutschland sowie die Briefe und Tagebücher jener Zeit. Auch seine Würdigung Pastor Martin Niemöllers, der seine Gegnerschaft zum Regime im Konzentrationslager zu büßen hatte, gehört hierher. 13 Darüber hinaus aber begann das T h e m a des Widerstands auch seine Imagination zu beschäftigen, wie anhand eines wenig bekannten, doch einschlägigen Filmentwurfs vom August 1942 zu zeigen ist. Die Anregung scheint von dem Schauspieler und Regisseur Reinhold Schünzel gekommen zu sein, der damit einem Wunsch von Spyros Skouras, dem aus Griechenland stammenden Präsidenten der Twentieth Century Fox, zu entsprechen versuchte. 14 Der Film kam jedoch nie zustande, lediglich das englisch geschriebene Expose hat sich erhalten. 15 Die Personenkonstellation ist der Odyssee e n t n o m m e n und in das gegenwärtige, von Deutschen und Italienern besetzte Griechenland transponiert. Odysseus, ein thessalischer Bauer, ist der abwesende Anführer des griechischen Widerstands. Penelope hat sich den Avancen eines italienischen Majors zu erwehren, während Telemach, von Rachegelüsten verzehrt, ungeduldig auf die Rückkehr seines Vaters wartet. In diese homerische Szene platzt die über Radio verbreitete Nachricht, daß das deutsche Volk sich erhoben habe und Hitler einem Attentat zum Opfer gefallen sei. Es ist eine Falschmeldung, die jedoch ihre listig kalkulierte W i r k u n g erzielt. Unter der Besatzung bricht eine lähmende Panik aus, Odysseus kehrt zurück und wird als Befreier gefeiert. Verräter werden bestraft, alte Rechnungen beglichen. Nach getaner Arbeit zieht sich Odysseus mit seiner Familie wieder in die Berge zurück, u m den Kampf bis zur wirklichen, endgültigen Befreiung fortzusetzen. Die List mit der Falschmeldung von der Selbstbefreiung der Deutschen hilft den griechischen Freiheitskämpfern, einen Teilsieg zu erringen, der den endgültigen Sieg über den Faschismus antizipiert. Mir scheint, wir haben es hier mit einer überaus aufschlußreichen Widerstandsphantasie T h o m a s Manns zu tun. Den Kern der Fabel bilden zwei miteinander verknüpfte Manifestationen von Widerstand: der Kampf der Griechen gegen die faschistische Fremdherrschaft sowie die erfundene — wir dürfen wohl sagen: erträumte — Selbstbefreiung des deutschen Volkes, die als
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Voraussetzung für die Befreiung Europas vom Faschismus vorgestellt wird. Widerstand ist notwendig, damit die geopolitischen Ambitionen der Naziführung vereitelt werden. »Nicht Deutschland soll europäisch werden, sondern Europa soll deutsch werden« 16 - auf diese Formel brachte Thomas Mann das deutsche Hegemonialstreben in der Sendung vom August 1942, eine Formel, die in ihrer Umkehrung später berühmt werden sollte. Gegen diese die Idee Europa pervertierende Politik des »Dritten Reiches« stellte er sich mit Leidenschaft. Auch die eingangs zitierte Fehlleistung ä propos des Namens Adrian gründet letztlich wohl in demselben Bereich der von dem Kriegsverlauf genährten Widerstandsphantasien. Eine weitere Facette des Themas Widerstand enthüllt der Vortrag über Deutschland und die Deutschen, den Thomas Mann drei Wochen nach Kriegsende in der amerikanischen Nationalbibliothek in Washington hielt. Alle Welt erwartete von ihm ein klärendes Wort zu der gerade zu Ende gegangenen deutschen Katastrophe, zumal von einem Autor, der sich als Repräsentant des sogenannten anderen Deutschland definiert hatte. Hier fällt nun das Porträt des Bildhauers und Holzschnitzers Tilman Riemenschneider auf, das überraschenderweise und in bedeutendem Zusammenhang Anlaß historischer Besinnung wird. Riemenschneider nahm im Bauernkrieg, im Gegensatz zu Luther, die Partei der Bauern. Im Grunde ein unpolitischer Künstler, trat er aus »seiner Sphäre rein geistiger und ästhetischer Kunstbürgerlichkeit« heraus, um »Kämpfer zu werden für Freiheit und Recht«.17 Riemenschneider also das deutsche Muster eines für die Sache der Unterdrückten kämpfenden Künstlers! Uberraschenderweise gesteht Thomas Mann, daß diesem Künstler »seine ganze Sympathie« gehöre. Das überrascht insofern, als Riemenschneider im Werk Thomas Manns sonst nicht vorkommt und dieser selbst erst relativ spät zum politisch engagierten Schriftsteller geworden war. Die Rolle des fränkischen Holzschnitzers in dieser Analyse des Deutschtums wird wohl erst dann ganz einsichtig, wenn wir auch sie als eine in die deutsche Geschichte zurückprojizierte Widerstandsphantasie erkennen. Riemenschneider soll belegen, daß es in der deutschen Geschichte neben der von Luther geprägten Hauptlinie der Obrigkeitshörigkeit auch eine Tradition des Widerstandes und des kämpferischen Humanismus gegeben hat, so wie es im gegenwärtigen Deutschland nicht nur regimetreue, sondern auch zum Widerstand bereite Deutsche gibt und gegeben hat. Worauf es ihm offensichtlich ankommt, ist der Satz: »Auch das gab es in Deutschland, auch das hat es immer gegeben.«18 Freilich folgt sogleich die Einschränkung: »Aber das spezifisch und monumental Deutsche ist es nicht.« Es hat den Anschein, als könnte und wollte Thomas Mann auf das Element Widerstand nicht verzichten, um seiner Analyse Deutschlands und der Deutschen die Aussicht zu einem letztlich versöhnlichen Schluß offenzuhalten.
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Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn wir seine Reaktionen auf die Weiße Rose und den Zwanzigsten Juli betrachten. Seine erste ausführliche Stellungnahme zu den Vorgängen an der Münchner Universität findet sich in einem Brief an Agnes Meyer vom 11. Juni 1943 und beginnt mit dem leicht mißzuverstehenden Satz: »Sehr glücklich bin ich über München, die Auflehnungsbewegung unter der Studentenschaft, die schon ein Dutzend Hinrichtungen gezeitigt hat.«' 9 Der Zusammenhang des ganzen Briefes macht es jedoch deutlich, wie sein Ausruf zu verstehen ist. Thomas Mann spricht hier von dem nun absehbaren Ende des Krieges. Er verweist auf den Fall der Insel Pantelleria im Mittelmeer und deutet ihn als »wichtigen Schritt« zur »Zerstörung des Faschismus an seinem Ursprung«, ähnlich hoffnungsvoll stimmt ihn der »Marsch des Afrika-Corps in die Gefangenschaft«. 20 Unter diesen Vorzeichen erscheint ihm auch die Münchner Studentenrevolte als ein erfreuliches, auf das nahe Ende verweisendes Vorkommnis. Offensichtlich stimmte es ihn deshalb »glücklich«, weil es dereinst einmal, bei der unausbleiblichen Schlußabrechnung zugunsten Deutschlands in die Waagschale geworfen werden konnte. Es geht wohl also nicht an, wie es Klaus Harpprecht in seiner monumentalen Biographie glaubte tun zu dürfen, den lapsus linguaeThomas Manns, wenn es denn einer war, als Indiz seiner Gefühlskälte und Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Martyrium der Geschwister Scholl und ihrer Freunde auszugeben. 21 Die auf den ersten Blick irritierende Formulierung war für die private Kommunikation mit seiner streitbaren Freundin und Gönnerin gedacht, die ihn immer wieder ob seiner für ihre Begriffe zu harschen und pauschalen Kritik an Deutschland zur Rede stellte. Daß er in öffentlicher Rede unmißverständlich und mit ungeheuchelter Teilnahme über die Geschwister Scholl sprechen konnte, zeigt die praktisch gleichzeitig entstandene Radiosendung vom 27. Juni 1943. Hier lieferte er eine im Rahmen der Zeitbeschränkung relativ eingehende Würdigung der Weißen Rose. Darüber hinaus nimmt er die Münchner Studenten zum Anlaß, den Widerstandsbewegungen in ganz Europa Tribut zu zollen und überhaupt den »Geist des Widerstands« zu feiern; dieser erfülle auch den Emigranten mit Stolz »auf unser altes Europa«. 22 Den Vorgängen an der Münchner Universität komme deshalb eine außerordentliche Bedeutung zu, weil sie den Beweis lieferten, daß zwischen Deutschland und dem Nazitum sehr wohl zu unterscheiden sei. Deshalb nicht nur »Ehre den Völkern Europas«, sondern »Ehre und Mitgefühl auch dem deutschen Volk«. 23 Thomas Mann nennt den Protest und den Opfergang der Geschwister Scholl und ihrer Freunde ergreifend und bekennt, daß er aufs tiefste bewegt sei. Insbesondere verweist er auf ein Flugblatt der Weißen Rose, aus dem er abschließend den Satz zitiert: »Ein neuer Glaube dämmert an Freiheit und Ehre.« 24 Die berühmten Flugblätter der Weißen Rose, so Thomas Mann, machten vieles wieder gut, was »an deutschen Uni-
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versitäten gegen den Geist der deutschen Freiheit gesündigt worden ist.« 25 Nach seiner Uberzeugung haben die Münchner Studenten für »Deutschlands Ehre« 26 das junge Haupt auf den Block gelegt — für einen symbolischen Wert also. Die Bedeutung dieser symbolischen Geste werde erst später einmal in seiner vollen Bedeutung erkannt werden, wenn die lügenhafte Nazirevolution von einer wirklichen, das Nazitum eliminierenden Revolution abgelöst sein würde. In diesem Sinne schließt diese Sendung mit der Versicherung: »Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.« 27 Mit diesem Versprechen hat sich Thomas Mann einmal mehr als ein bemerkenswert weitsichtiger Kommentator zum Zeitgeschehen erwiesen, wie besonders überzeugend Inge Jens argumentiert hat. Der Widerstand dieser Studenten beweise, »daß es auch unter der im Nationalsozialismus heranwachsenden bürgerlichen Jugend ein Potential des Widerstands gab - einen Kraftkern, dessen Wirken über die Zeiten hinweg trotz der Tragödie des Endes dieser Weißen Rose nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Folgenlos, so viel darf behauptet werden, ist der Münchner Aufstand gewiß nicht geblieben.« 28
III Thomas Manns Reaktionen auf die Münchner Studentenrevolte scheinen sich naht- und problemlos in sein Gesamtbild der deutschen Dinge einzupassen. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn in Wirklichkeit stellte ihn das Bekanntwerden eines eigentlich kaum vermuteten innerdeutschen Widerstandes vor ein Interpretationsproblem. W i e war die unbestreitbare Evidenz eines innerdeutschen Widerstands mit der Deutschland-Konzeption in Einklang zu bringen, die dem im Entstehen begriffenen Roman zugrundelag? Ein Indiz für diese Deutungsproblematik liefert eine Bemerkung in der Radiosendung vom 27. Juni 1943. Dort spielt Thomas Mann auf jene ominöse These an, wonach »deutsch und nationalsozialistisch ein und dasselbe seien«. Diese These werde in den angelsächsischen Ländern »zuweilen« und »nicht ohne Geist« vertreten. 29 Gemeint sind damit in erster Linie der ehemalige Staatssekretär im Foreign Office, Lord Vansittart, der Wortführer der englischen Germanophoben, sowie auf amerikanischer Seite William L. Shirer, Clifton Fadiman, Emil Ludwig, Rex Stout und viele andere. Vor allem ist hier auf die von dem Schriftsteller Rex Stout geführte, prinzipiell antideutsche Society for the Prevention of World War III, zu verweisen, die seit Mai 1944 in New York operierte und die es sich zur Aufgabe machte, der in Amerika immer noch verbreiteten Neigung, zwischen Nazis und »ordinary Germans« zu unterscheiden, propagandistisch entgegenzuwirken. Jedes Heft des monatlich erscheinenden Bulletins dieser offensichtlich amtlich protek-
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tionierten Organisation, Prevent World War III, enthielt eine redaktionelle Erklärung, die die herkömmliche Unterscheidung zwischen Nazis und Deutschen nicht nur als kurzsichtig, sondern geradezu als gefährlich brandmarkte.30 Praktisch jedes Heft von Prevent World War III enthielt einen Beitrag von Lord Vansittart, so daß dieses von Rex Stout geleitete Blatt füglich als das Sprachrohr des amerikanischen Vansittartismus anzusehen ist. Der ideologische Kernpunkt des Vansittartismus ist jedoch die These von dem einen Deutschland, die Vansittart selbst in seinen beiden Büchern Black Record (1941), ursprünglich eine Reihe von Radioansprachen im BBC, sowie Lessons ofMy Life (1944) »nicht ohne Geist« vertrat. 31 Dieser sogenannten EinDeutschland-Theorie wird von Thomas Mann in der Sendung vom Juni 1943 noch mit aller Entschiedenheit widersprochen; sie sei »unhaltbar« und werde sich »nicht durchsetzen«. Er bekennt sich hier somit noch zu der praktisch für das ganze deutsche Exil verbindlichen, ja konstitutiven ZweiDeutschland-Theorie, derzufolge zwischen dem nazistischen Deutschland und dem anderen Deutschland deutlich zu unterscheiden sei. Zu dieser Auffassung hatte er sich zumindest seit 1936 bekannt. Die Zwei-DeutschlandTheorie stützte sich in der Hauptsache auf das andere Deutschland, das heißt auf die exilierten Nazigegner. Naheliegenderweise müßte man nun annehmen, daß das Hinzukommen eines innerdeutschen Widerstands - und den Beweis dafür hatte ja die Weiße Rose geliefert — die These von den zwei Deutschland endgültig bestätigen würde. Merkwürdigerweise ist dies jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil, während der beiden ersten Jahre der Arbeit am Doktor Faustus muß sich das Deutschlandbild Thomas Manns in Richtung auf die Ein-Deutschland-Theorie verschoben haben. Er wurde dadurch nicht gerade zu einem Vansittartisten, aber er stimmte mit dem englischen Diplomaten und Historiker doch in dem einen, entscheidenden Punkt überein, der Auffassung, daß es nur ein Deutschland gebe und geben könne. Diesem Deutschland schreibt Thomas Mann nun aber eine Doppelnatur zu, vergleichbar der Fabel von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, so daß das sogenannte gute und das sogenannte böse Deutschland als letztlich identisch erkennbar werden. 32 Der locus classicus, an dem diese Position artikuliert wird, ist die Rede über Deutschland und die Deutschenvom Mai 1945; dort stellt ersieh unzweideutig auf den Standpunkt, »daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug.«33 Wie es zu dieser Verschiebung der Deutschland-Konzeption von der Zweizu der Ein-Deutschland-Theorie gekommen ist, läßt sich nicht mit letzter Klarheit feststellen. Mehrere Faktoren dürften eine Rolle gespielt haben. Mit der Fortdauer des Krieges und dem Bekanntwerden immer neuer, im Namen Deutschlands von Deutschen begangener Greueltaten und unter dem Eindruck der ersten Nachrichten über Auschwitz, Mauthausen, Maidanek und
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die anderen »riesenhaften Mordanlagen« 34 sah sich Thomas Mann in wachsendem Maße veranlaßt, die Perspektive der Opfer und der besetzten Länder in Rechnung zu stellen. In diesem Sinne erinnerte er die Deutschen in seiner Radiosendung vom 16. Januar 1945 daran: »Es ist von anderen Völkern zu viel verlangt, daß sie zwischen Nazitum und dem deutschen Volk säuberlich unterscheiden.« 35 Auch er war zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht mehr gesonnen, diese Unterscheidung mit letzter Konsequenz aufrecht zu halten, um so weniger als die Vorstellung von dem einen, mit sich identischen Deutschland tiefe Wurzeln in seinem Denken hat, die bis zu den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zurückreichen. Im übrigen war ihm inzwischen gerade einer seiner »Eideshelfer« in jener Schrift, Richard Wagner, zum Paradigma der Identität von »Gut« und »Böse« geworden und damit zu einer nationalen Repräsentationsfigur, in der etwas »von der tiefen Herrlichkeit sowohl wie von der quälenden Problematik des deutschen Wesens« untrennbar verquickt war.36 Desweiteren ist hier eine Nachwirkung des Eklats vom August 1943 zu veranschlagen, als Thomas Mann durch die nachträgliche Zurücknahme seiner Unterschrift jenes bekannte Deutschland-Manifest der deutschen Schriftsteller in Los Angeles zum Scheitern brachte. 37 Er war zu der Überzeugung gekommen, daß Bertolt Brecht und seine Gesinnungsfreunde, wenn sie »eine starke deutsche Demokratie« forderten, eigentlich ein starkes Deutschland meinten 38 - das heißt aber ein in seiner territorialen Integrität unangetastetes Deutschland. Thomas Mann hingegen sah keine Chance zu einer Läuterung Deutschlands vom Nazismus ohne eine völlige Entmachtung und ohne die Auflösung der Reichsstruktur. Diese Sicht der Dinge sollte sich als die realistischere erweisen. Indem er sich von dem »linken Patriotismus« Brechts und anderer Exilanten distanzierte 39 , rückte er aber auch von der Zwei-Deutschland-Theorie ab, denn diese lag ja dem im Geiste der alten Volksfront-Ideologie konzipierten Manifest zugrunde. Im übrigen wurde er in seiner Hinwendung zur Ein-Deutschland-Theorie auch durch ein Buch von Sebastian Haffner bestärkt — ein bemerkenswertes Buch, in dessen Titel schon die Deutschland-Konzeption des Doktor Faustus auf eine griffige Formel gebracht war. Es hieß: Germany: JekyllandHyde.V] Thomas Mann kannte das Buch sehr wohl; er las es und fand es begreiflicherweise - wie wir aus dem Tagebuch (15. Mai 1940) wissen - sehr ansprechend. Ausschlaggebend für diese entscheidende Verschiebung in Thomas Manns Deutschlandbild war jedoch womöglich die Nachricht von der Verschwörung der Offiziere gegen Hitler und dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944. Die Reaktion im Tagebuch (22. Juli 1944) ist gekennzeichnet von der allgemeinen Unzuverlässigkeit der Nachrichten über die »blutigen Vorgänge in Deutschland«. Zwei Wochen später spricht er in einem Brief an Agnes Meyer von einem »Generals-Purge«, also einer Säuberung, wobei er befürch-
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tet, d a ß d u r c h d i e s e n P u t s c h v e r s u c h u n d d i e T r o t z r e a k t i o n H i t l e r s d e r K r i e g w o m ö g l i c h n o c h v e r l ä n g e r t w e r d e n w ü r d e . O f f e n b a r h a t t e er i n z w i s c h e n e i n e n A r t i k e l d e s d e u t s c h e n H i s t o r i k e r s A l f r e d V a g t s , eines E m i g r a n t e n , z u r K e n n t n i s g e n o m m e n . D e r Artikel s t a n d in d e r Nation,
d i e er r e g e l m ä ß i g las.
V a g t s m u t m a ß t e , d a ß n u n d i e A u s s i c h t a u f ein r a s c h e s E n d e v e r b a u t sei u n d m a n sich a u f e i n e l a n g e , W a g n e r s c h e G ö t t e r d ä m m e r u n g e i n z u r i c h t e n h a b e . 4 1 V o n b e s o n d e r e m Interesse f ü r T h o m a s M a n n m u ß j e d o c h d e r U m s t a n d g e w e s e n sein, d a ß d i e s e r U m s t u r z - u n d S e l b s t b e f r e i u n g s v e r s u c h v o m M i l i t ä r a u s g e g a n g e n war, v o n M ä n n e r n also, d i e z u n ä c h s t an d e n N a t i o n a l s o z i a l i s m u s g e g l a u b t u n d erst d u r c h d i e K r i e g s e r e i g n i s s e z u m W i d e r s t a n d m o t i v i e r t w o r den waren. G e r a d e z u exemplarisch verkörperte der eigentliche Attentäter, C l a u s S c h e n k G r a f von Stauffenberg, diese Entwicklung.42 Hier also konnte m i t F u g e i n e A r t I d e n t i t ä t des s o g e n a n n t e n g u t e n u n d b ö s e n D e u t s c h l a n d konstatiert werden. Diese d e m ganzen geistigen H a b i t u s T h o m a s
Manns
e n t g e g e n k o m m e n d e E r k e n n t n i s sollte seine D e u t u n g der d e u t s c h e n
Ge-
schichte endgültig prägen. U n m i t t e l b a r nach d e m 2 0 . Juli 1 9 4 4 begann T h o m a s M a n n das 2 1 . Kapitel des Doktor
Faustus
zu s c h r e i b e n . D a r i n w i r d a u c h d e r » M ü n c h n e r U n -
ruhen u n d H i n r i c h t u n g e n « gedacht. D i e E r w ä h n u n g erfolgt jedoch nur b e i l ä u f i g u n d s o , d a ß d e r »gräßlich i m B l u t e r s t i c k t e M ü n c h e n e r S t u d e n tenaufruhr« zu keinen weiteren Fragen über das A u s m a ß des W i d e r s t a n d s i m V o l k A n l a ß g e b e n k o n n t e . 4 3 W ä h r e n d also in d e r R a d i o s e n d u n g v o m J u n i 1 9 4 3 d i e M ü n c h e n e r V o r g ä n g e n o c h als B e l e g f ü r d i e N i c h t i d e n t i t ä t d e s deutschen Volkes mit d e m Nationalsozialismus dienten u n d D e u t s c h l a n d zur Ehre gereichten, wird im R o m a n die Weiße R o s e der d o m i n a n t e n EinD e u t s c h l a n d - T h e o r i e untergeordnet u n d eingepaßt. Gleicherweise verfährt T h o m a s M a n n m i t d e m Z w a n z i g s t e n J u l i ; er w i r d i m Doktor
Faustus
ledig-
lich in e i n e m N e b e n s a t z e r w ä h n t . S o h e i ß t es m i t B e z u g a u f H i t l e r , d e n » g r a u s i g e n M a n n « , er sei » v o r i g e s J a h r d e m A n s c h l a g verzweifelter, a u f R e t t u n g d e r letzten S u b s t a n z , d e r Z u k u n f t b e d a c h t e r P a t r i o t e n « m i t k n a p p e r N o t e n t ronnen.44 Bezeichnenderweise wird aber der Zwanzigste Juli nicht an der S t e l l e d e r l a u f e n d e n C h r o n i k registriert, w o er h i n g e h ö r t h ä t t e , n ä m l i c h i m 3 3 . K a p i t e l . V i e l m e h r e r w ä h n t d e r E r z ä h l e r i h n erst i m 4 6 . K a p i t e l , d a s g a n z v o m E n d e handelt, von der kollektiven S c h a m angesichts von B u c h e n w a l d u n d v o n d e m M i t b e t r o f f e n s e i n allen D e u t s c h t u m s . G l e i c h w o h l w i r d d e n Verschwörern Patriotismus zugebilligt u n d die gleiche Sorge u m die Z u k u n f t D e u t s c h l a n d s , v o n der T h o m a s M a n n selbst e r f ü l l t war. S o m i t ist n u n z u k o n s t a t i e r e n , d a ß d i e b e i d e n e k l a t a n t e s t e n B e i s p i e l e e i n e s innerdeutschen W i d e r s t a n d e s - die Weiße R o s e u n d der Z w a n z i g s t e Juli — d i e T h e o r i e v o n d e m e i n e n D e u t s c h l a n d n i c h t n u r n i c h t in F r a g e s t e l l t e n , s o n d e r n g e r a d e z u b e s t ä t i g t e n . I m Falle d e r O f f i z i e r s v e r s c h w ö r u n g l a g d i e E v i d e n z a u f der H a n d : die H e r k u n f t u n d die B i o g r a p h i e n der Verschwörer
T h o m a s M a n n und der deutsche W i d e r s t a n d
99
bekundeten in der Tat eine gewisse Identität des guten und bösen Deutschland. Im Falle der Weißen Rose war eine solche Evidenz zu jenem Zeitpunkt noch nicht zu erkennen. Es gibt aber Anzeichen dafür, daß T h o m a s M a n n jene Identität des guten und bösen Deutschland auch in den Helden der Weißen Rose intuitiv erahnte. Die ausführliche Schilderung der »christlichen Verbindung >WinfriedWeiße RoseCapital of the Movement««. In: Soundings. Collections of the University Library, University of California, Santa Barbara, 25 (1994), S. 15 - 2 4 . — 29 G W, Bd. XI, S. 1076. — 30 Der vollständige Text der Erklärung lautet wie folgt: »The widespread habit of setting the Nazis apart from the German people results from an inadequate knowledge of German history. This inadequate knowledge has made Americans easily vulnerable to the lies and distortions of German propaganda and its supporters, both conscious and unconscious, within our country. Unless the American people are brought to understand the German master-race obsession, and the resulting German determination to conquer the world by force, we cannot possibly take the necessary steps to prevent a third world war. The forces in Germany that raised Hitler to power and have maintained him, are the identical forces that stood behind Bismarck, and Kaiser Wilhelm. Any treatment of the enemy, after military victory, which does not destroy those forces, will leave Germany as strong and dangerous as ever«. — 31 Zu Vansittart vgl. vor allem Norman Rose: Vansittart. Study of a Diplomat. London 1978, sowie Joachim Radkau: »Die Exil-Ideologie vom >anderen Deutschland« und die Vansittartisten«. In: Das Parlament, 10. Januar 1970, S. 31—48. — 32 Vgl. dazu Verf.: »Germany: Jekyll and Hyde. Sebastian Haffners Deutschlandbild und die Genese von Doktor Faust«-. In: Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift f i r Hans Wysling, hg. von E. Heftrich und H. Koopmann. Frankfurt/M. 1991, S. 2 4 9 - 2 7 1 . — 33 GW, Bd. XI, S. 1146. — 34 GW, Bd. XI, S. 1107. — 35 GW, Bd. XI, S. 1109. — 36 GW, Bd. XII, S. 77. — 3 7 Vgl. hierzu vor allem Herbert Lehnert: »Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland«. In: Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. I: Kalifornien, hg. von John M. Spalek und Joseph P. Strelka. Bern 1976, S. 62 — 88; Verf.: »Deutsche Einheit und nationale Identität. Zur Genealogie der gegenwärtigen Deutschland-Debatte am Beispiel von Thomas Mann«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 33 (1992), S. 2 7 7 - 298. — 38 Die Erklärung sollte folgenden Wortlaut haben: »In diesem Augenblick, da der Sieg der Alliierten Nationen näher rückt, halten es die unterzeichneten Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler deutscher Herkunft für ihre Pflicht, folgendes öffentlich zu erklären: Wir begrüßen die Kundgebung der deutschen Kriegsgefangenen und Emigranten in der Sowjetunion, die das deutsche Volk aufrufen, seine Bedrücker zur bedingungslosen Kapitulation zu zwingen und eine starke Demokratie in Deutschland zu erkämpfen. Auch wir halten es für notwendig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Hitlerregime und den ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volke andrerseits. Wir sind überzeugt, daß es ohne eine starke deutsche Demokratie einen dauernden Weltfrieden nicht geben kann«. — 3 9 Vgl. besonders den Brief vom 9. August 1943 an Agnes E. Meyer (siehe Anm. 19). — 40 Vgl. dazu den in Anm. 32 genannten Aufsatz. — 41 Alfred Vagts: »The Putsch that Failed«. In: Nation, 5. August 1944, S. 1 5 2 - 1 5 4 . — 42 Vgl. dazu Peter Hoffmann: »Claus Schenk Graf von Stauffenberg - Der Attentäter«. In: »Für Deutschland«. Die Männer des 20. Juli, hg. von Klemens von Klemperer et al. Frankfurt/M. 1993, S. 2 3 3 - 2 4 4 . — 4 3 Doktor Faustus, GW, Bd. VI, S. 230. — 4 4 Ebd., S. 637. — 45 Vgl. Verf.: »Thomas Mann und James Joyce: Zur Frage des Modernismus im Doktor Faustus«. In: Thomas Mann Jahrbuch 2 (1989), S. 1 2 1 - 1 5 0 , bes. 136 ff. — 46 Vgl. dazu Verf.: »Amazing Grace. Thomas Mann, Adorno, and the Faust Myth«. In: Our Faust? Roots and Ramifications of a Modern German Myth, ed. by Reinhold Grimm and Jost Hermand. Madison (Wisconsin) 1987, S. 1 6 8 - 1 8 9 .
Peter E r l e r / M a n f r e d Wilke
»Nach Hitler kommen wir« D a s Konzept der Moskauer K P D - F ü h r u n g 1 9 4 4 / 4 5 für Nachkriegsdeutschland
I Innere Einheit Deutschlands Die nach d e m E n d e des Zweiten Weltkrieges in Europa aus der sowjetischen Emigration nach Deutschland zurückkehrenden Kommunisten u m Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck nahmen in der K P D / S E D und in der ostdeutschen Gesellschaft sofort die wichtigsten machtpolitischen Positionen ein. Sie bestimmten in entscheidendem Maße die strategische und taktische Linie der Partei und die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung in der S B Z / D D R . Wie ist diese Überlegenheit gegenüber anderen Gruppierungen innerhalb der K P D / S E D wie etwa den »Westemigranten« und ehemaligen KZ-Häftlingen zu erklären? Ausschlaggebend für diese Konstellation war, daß die Führungscrew der K P D in M o s k a u , die gegenüber den KPD-Mitgliedern in Deutschland und in der westlichen Emigration als legitime Parteiführung auftrat, die Programmatik der Partei und die Art und Weise der Rekonstruktion der Parteiorganisation bestimmte. Bereits 1944 konzipierte und erarbeitete sie mit dem »Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie« ausführliche Vorstellungen für die Gestaltung eines Nachkriegsdeutschland. 1 D i e G r u n d z ü g e dieser taktischen Linie, erstmals veröffentlicht im »Aufruf des Z K der K P D v o m 11. Juni 1945«, waren mit der sowjetischen Besatzungsmacht abgestimmt. D i e deutschen K o m m u n i s t e n in M o s k a u , zukünftige Spitzenkader aller Ebenen im Partei- und Verwaltungsapparat der S B Z / D D R , für die das »Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie« Grundlage von intensiven Schulungen war, die aber auch gleichzeitig über seinen taktischen Charakter Kenntnis hatten, nahmen sich dieses zum Leitfaden ihres unmittelbaren politischen Handelns. 2 D i e D o k u m e n t e der Moskauer KPD-Führungsriege über das neu zu schaffende demokratische Deutschland nach Hitler sind nicht allein von historischem Interesse, sondern auch von aktueller politischer Bedeutung. Die Ausbildung eines gesamtdeutschen Nationalbewußtseins nach vierzig Jahren der Spaltung in zwei Staaten braucht den Rückblick und das Erinnern. Der Untergang der D D R und die historisch-politische Aufarbeitung der S E D -
»Nach Hitler k o m m e n wir«
103
Diktatur treffen auf eine ungleiche Betroffenheit der west- und der ostdeutschen Bevölkerung. Die Planungen der Moskauer KPD-Führung noch während des Krieges zeigen, daß es den Kommunisten 1945 um Gesamtdeutschland und seine künftige staatliche und gesellschaftliche Ordnung ging. Die Dokumente aus den letzten Jahren des Krieges erinnern uns aber noch einmal eindringlich an die Voraussetzung für die deutsche Spaltung und die Etablierung einer kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), nämlich an die nationalsozialistische Kriegs- und Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges. Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 führte zu jenem Zweckbündnis zwischen Großbritannien, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten gegen das nationalsozialistische Deutschland, dem es gelang, das Deutsche Reich und seine Verbündeten zu besiegen. Die alliierten Armeen befreiten 1945 auch Deutschland von der nationalsozialistischen Diktatur. Um das gemeinsame Kriegsziel »Sicherheit vor Deutschland« durchzusetzen, besetzten sie das Land und übernahmen die oberste Regierungsgewalt. Unter Aufsicht der alliierten Militärregierungen begann in allen vier Besatzungszonen die Reorganisation der deutschen Verwaltung. In der Sowjetischen Besatzungszone besetzten die Kommunisten unübersehbar gesellschaftliche Schlüsselpositionen und dominierten den politischen Neuanfang programmatisch und organisatorisch. Die KPD trat 1945 als Partei der Demokratie auf, und sie erklärte ausdrücklich, »Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen«, wäre falsch, »denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.« 3 Die Dokumente der Moskauer Exil-Führung von 1944/45 zeigen, daß dieser antifaschistisch-demokratische Neuanfang in der SBZ den Zeitumständen geschuldet war und von der KPD als erste Etappe auf dem Weg zum Sozialismus verstanden wurde.
II Die Konferenz von Teheran und der Auftrag an die KPD, Pläne für die innere Umgestaltung Deutschlands auszuarbeiten Die Schlacht um Stalingrad markierte Ende 1942 die Wende im Zweiten Weltkrieg zugunsten der Alliierten. Ausdruck der neuen Kriegslage war die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands, die Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill am 24. Januar 1943 in Casablanca erhoben. Die Frage, was aus Deutschland nach Hitler würde, verband sich in der »Anti-Hitler-Koalition« mit den Auseinandersetzungen um die Gestaltung Europas in der Nachkriegszeit. Obwohl ein gemeinsames Interesse der alliierten Mächte bestand, eine dauerhafte Sicherheit vor künftiger deutscher Aggression zu erreichen, führte dies während des Krieges zu keinen gemein-
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samen politischen, Deutschland als Ganzes betreffenden, Richtlinien. 4 Eine erste grundlegende Entscheidung über die territoriale Größe Deutschlands in Nachkriegseuropa fiel auf der Konferenz der »Großen Drei« (Roosevelt, Churchill, Stalin) in Teheran ( 1 8 . 1 1 . - 1 . 1 2 . 1 9 4 3 ) . Die Westmächte stimmten der sowjetischen Westgrenze von 1939 zu, die nach dem deutsch-sowjetischen Pakt gezogen wurde, und die drei Mächte entschieden, Polen auf Kosten Deutschlands bis zur O d e r westwärts zu verschieben. Die künftige politische O r d n u n g Deutschlands blieb offen. Die alliierte Gipfelkonferenz hatte in Teheran gerade begonnen, als am 20. November 1943 Georgi Dimitroff die Moskauer K P D - F ü h r u n g zu einem Gespräch empfing. Dimitroff, der auch nach der Auflösung der Komintern im Juni 1943 weiterhin verantwortlich für die Verbindungen zu den Führern der kommunistischen Parteien' 5 war, eröffnete W. Pieck, Wilhelm Florin, Anton Ackermann und W. Ulbricht, daß der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur wahrscheinlich nicht durch einen revolutionären Umbruch in Deutschland, sondern durch den militärischen Sieg der alliierten Armeen erfolgen werde. Laut Aufzeichnungen Florins äußerte Dimitroff in diesem Zusammenhang: »Das bedeutet die O k k u p a t i o n durch die Mächte.« 6 Diese Prognose über das Ende von Krieg und Nazi-Diktatur bestimmte in der Folgezeit die politischen Planungen der KPD-Führung. Die K P D konnte von einem unmittelbaren Zusammenwirken mit der sowjetischen Besatzungsmacht ausgehen, m u ß t e aber gleichzeitig auch deren Interessen berücksichtigen. Florin sah in dieser Konstellation eine Chance für den Erfolg der K P D . Nach seinen Vorstellungen stand die K P D somit vor der Aufgabe: »Organisierung einer solchen Volkskraft, die mit Unterstützung der Sowjetmacht das neue Deutschland organisiert. D a r u m m u ß die Arbeiterklasse sich organisieren, ausländische Arbeiter organisieren, Bauern organisieren — Mittelstand wiederherstellen. So kann ein demokratisches Volksdeutschland kommen.« 7 Am 13. Januar 1944 wurden wiederum in einem Gespräch mit Dimitroff die »Hauptfragen des künftigen Deutschlands« 8 besprochen. Wie die stichwortartigen Aufzeichnungen von Pieck über dieses Gespräch erkennen lassen, ging es dabei um das zu erwartende »Chaos« nach Kriegsende, die Probleme »Demokratie«, die »Orientierung auf die SU«, Fragen der »Wirtschaft«, speziell die Haltung zum »Trust-Kapital«, die »Abrechnung mit reaktionären Kräften-Imperialismus«, die »Parteibildung«, die künftige Parteienlandschaft u n d die Fragen einer »Regierungsbildung« u n d u m eine einheitliche Arbeiterpartei. 9 Die Notiz verdeutlicht ferner die Absicht, die K P D selbst - unter welchen N a m e n auch immer - solle die einheitliche Massenpartei der deutschen Arbeiterklasse werden. In der hier umrissenen Z u sammenkunft mit Dimitroff wurde vermutlich das weitere konzeptionelle
»Nach Hitler k o m m e n wir«
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und organisatorische Vorgehen der K P D festgelegt. Am 6. Februar 1944 faßte die K P D - F ü h r u n g einen förmlichen Beschluß über Bildung, Zusammensetzung und Arbeitsweise einer 20-köpfigen Kommission. Mitglieder des Gremiums waren mit Ausnahme Rudolf Herrnstadts ausschließlich langjährig erprobte und in der Parteiarbeit erfahrene Kader der KPD, die zumeist zeitweise den Apparat der KI u n d deren Schulen durchlaufen hatten. Es waren Kader, die aus den Stalinschen »Säuberungen« - die sie mehr oder weniger mitbetrieben, in denen sie zuweilen aber auch selber Opfer geworden waren — »linientreu« u n d diszipliniert hervorgegangen waren. Mit ihnen war aus der sowjetischen KP-Emigration im wesentlichen der Kreis jener Funktionäre bestimmt worden, die später bei der Gestaltung des politischen Systems in der SBZ u n d der D D R wichtige Führungsaufgaben u n d entsprechende Schlüsselfunktionen übernahmen. Der Arbeitskommission gehörten unter dem Vorsitz von W. Pieck an: der engste Führungszirkel der Partei, Florin, Ulbricht, Ackermann sowie Elli Schmidt, weiterhin die in der Landes- und Kommunalpolitik und zum Teil in der Gewerkschaftspolitik erfahrenen Funktionäre H e r m a n n Matern, Paul Wandel und Gustav Sobottka, die unter anderem durch publizistische Tätigkeit in Presse und R u n d f u n k hervorgetretenen Parteikader Sepp Schwab, Fred Oelßner, O t t o Winzer und Fritz Apelt, der aus dem Aufklärungsapparat der Roten Armee hervorgegangene Journalist R. Herrnstadt und der gleichfalls in diesem Apparat tätig gewesene Georg Hansen, weiterhin der KP-Jugendfunktionär Hans Mahle, der als Experte für Landwirtschaftspolitik und Kenner der deutschen Geschichte geltende Edwin Hoernle, der Spezialist für die Geschichte der K P D Rudolf Lindau, der Kulturpolitiker, Kritiker und politisch vielseitig erprobte Funktionär Alfred Kurella, schließlich die namhaften Schriftsteller Johannes R. Becher und Erich Weinert. Die Zusammensetzung der Kommission gewährleistete eine ideelle und organisatorische Verbindung zu allen wesentlichen Arbeits- und Erfahrungsbereichen der politischen Tätigkeit der K P D in der sowjetischen Emigration - zum N K F D , zum Sender und zur Zeitung »Freies Deutschland«, zum Deutschen Volkssender, zur deutschsprachigen Abteilung des Moskauer Rundfunks (Inoradlo) sowie schließlich auch zu der antifaschistischen Kaderschule für Kriegsgefangene in Krasnogorsk. Wie die Anwesenheitsliste der Arbeitskommissionssitzungen ausweist, wurden außer den bestätigten Kommissionsmitgliedern in eine Reihe wichtiger Beratungen im Jahre 1944 auch Wilhelm Zaisser und — in einer späteren Arbeitsphase im Frühjahr 1945 - Karl Maron u n d Ernst Noffke, in einzelne Z u s a m m e n k ü n f t e auch Willi Kropp und Lothar Bolz einbezogen. Uber Herrnstadt, Kurella u n d Zaisser wurden wahrscheinlich die P U R K K A (Politische Hauptverwaltung der Roten Armee) und andere sowjetische Dienststellen über den Gang der Diskussionen auf dem laufenden gehalten.
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Peter Erler/Manfred Wilke
Der Beschluß der Leitung der K P D über die Einsetzung der Arbeitskommission bestimmte und begrenzte ihre Aufgaben. Die Kommission sollte eine Reihe von politischen Problemen des Kampfes für den Sturz der nationalsozialistischen Diktatur u n d »der Gestaltung des neuen Deutschlands« durcharbeiten: »Lage u n d Aufgaben in Deutschland« — Florin, »Die politische F ü h r u n g im neuen Deutschland« - Ulbricht, »Die neuen Gewerkschaften« - Matern, »Die Rolle der SU in der Nachkriegszeit« - Herrnstadt, »Die Wirtschaft im neuen Deutschland« - Ackermann, »Die ideologische Umerziehung des deutschen Volkes« - Weinert, »Bauern- und Agrarfragen im neuen Deutschland« — Hoernle, »Die Rolle der Intellektuellen« - Kurella. 10 Die solcherart im Plan bestimmte Themenfolge wurde, mit einer Ausnahme, in den darauffolgenden Wochen und Monaten von März bis August 1944 bis zum T h e m a Agrarpolitik umgesetzt. An die Stelle der vorgesehenen Kommissionssitzungen zur ideologischen Umerziehung und zur Rolle der Intellektuellen trat am 25. September 1944 eine gesonderte Beratung der KPD-Führungsmitglieder mit einem Kreis kommunistischer Schriftsteller und Kulturfunktionäre über »Kulturfragen im neuen Deutschland«. Eine zweite Phase der Arbeitskommission, die hier aber nicht behandelt werden soll, widmete sich Anfang 1945 den T h e m e n »Rassismus«, »Reaktionäres Preußentum« und dem zukünftigen Geschichtsunterricht an deutschen Schulen. An die Vorträge schloß sich jeweils eine eingehende und bemerkenswerterweise oft auch kontrovers geführte Diskussion an. Als besonders aktive Diskutanten traten in den Debatten Wandel, Winzer, Schwab, Oelßner, Hansen und Lindau hervor. Unübersehbar ist bis zu seinem Tod im Juli 1944 die Bedeutung von Florin für die Tätigkeit der Kommission. Ais Pieck schließlich im Oktober 1944 den ersten Entwurf des »Aktionsprogramms des Blockes der kämpferischen Demokratie« erarbeitete, konnte er sich weiterhin auf die von den Unterkommissionen der Arbeitskommission konzipierten Materialien »Richtlinien zur Gewerkschaftspolitik« u n d »Das Agrarprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie«, beide Ende August 1944 entstanden, stützen. Parallel zum Beginn der Kommissionsarbeit stellte die Moskauer ExilFührung Überlegungen darüber an, welche Kader die erarbeiteten konzeptionellen Vorstellungen bei der politischen Gestaltung Nachkriegsdeutschlands umsetzen könnten. Im Januar 1944 legt Paul Försterling, »Kaderchef« des Auslandsbüro der K P D in Moskau, einen vorläufigen Überblick über die künftig einsetzbaren Mitglieder der K P D aus der sowjetischen Emigration vor. Die Liste umfaßt 264 Personen und enthält Vorschläge für die Funktionen in der Partei, die sie besetzen könnten, sowie das mögliche Einsatzgebiet bzw. den Einsatzort. Bei weitem nicht alle Politemigranten aus den Reihen der K P D tauchten indes in der Liste auf. Nach computergestützten
» N a c h H i t l e r k o m m e n wir«
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Recherchen" befanden sich Anfang 1944 468 deutsche Emigranten in der Sowjetunion 12 ; Pieck sprach im August 1944 von 600 Personen. 13 Aber die von Försterling zusammengestellte Liste hat noch eine andere Bedeutung, da auf ihr auch Uberlebende verzeichnet sind. Die Zahlen über die deutsche Emigration in die Sowjetunion nach Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur sind ebenso wenig endgültig wie die Zahl der deutschen Opfer von Stalins Kommunistenverfolgung in den dreißiger Jahren. Eine Liste der deutschen Vertretung bei der Komintern verzeichnet für den Zeitraum vom 3. September 1936 bis zum 15. Januar 1938 901 Ausschlüsse aus der KPD aufgrund von Verhaftungen in der Sowjetunion. 14 Wahrscheinlich waren in den Jahren 1936 bis 1938 insgesamt rund 1.200bis 1.300 deutsche Politemigranten direkt von dem stalinistischen Terror betroffen. 15
III Die Grundfrage: Ost oder West — Wohin geht Deutschland? Die Sitzungen der Arbeitskommission begannen am 6. März 1944 mit einer programmatischen Rede Florins, die den Titel »Lage und Kampfaufgaben für den Sturz Hitlers« trug. 16 Die deutsche Frage war nach dem bevorstehenden Ende der nationalsozialistischen Diktatur offen und für den Referenten Gegenstand der zukünftigen politischen Auseinandersetzungen. Zu einem Zeitpunkt, da die zweite Front in Frankreich noch nicht eröffnet war und die deutschen Truppen noch weit in der Sowjetunion standen, hatte Florin bereits die kommende weltpolitische Auseinandersetzung in Europa zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im Blick. Für ihn stand fest: Die Systemauseinandersetzung zwischen West und Ost wird die künftigen Konflikte in Deutschland um seine »innere Umgestaltung« 1 7 prägen. Florin brachte die Einordnung zukünftiger deutscher Politik auf die außenpolitisch bestimmte Grundfrage: »Ost- oder Westorientierung«? 18 Er stellte seiner Partei die Aufgabe, die politische Hegemonie zu erringen und durch ihre Bündnispolitik das deutsche Bürgertum zu spalten, um ökonomisch die deutsche mit der sowjetischen Wirtschaft zu verflechten. Im März 1944 formulierte die KPD die zukünftige Scheidelinie zwischen den politischen Lagern in Deutschland außenpolitisch: Maßstab war das Verhältnis zur Sowjetunion. Die »Anti-Hitler-Koalition« wurde von Florin herangezogen, um zu begründen, warum die KPD in ihrer Programmatik für die innere Neuordnung Deutschlands auf dezidiert sozialistische Positionen verzichten sollte. »Wenn wir dem Drängen von Kriegsgefangenen heute nachgeben und ein sozialistisches Aktionsprogramm aufstellen würden, so könnte ein solcher Fehler schon der Reaktion erleichtern, den Sturz Roosevelts herbeizuführen, was auch unser Schaden wäre.« 19 Gleichzeitig forderte er von seiner Partei: »Das Bündnis der drei Großmächte weiter zu unterstützen und nichts
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zu unternehmen, was der Reaktion in den Vereinigten Staaten und England erlauben könnte, dieses Bündnis zum Bruch zu treiben.« 20 Diese Sätze zeigen, wie sehr die Moskauer KPD-Exilführung darauf bedacht war, ihre Programmatik den weltpolitischen Gegebenheiten anzupassen. 1944 stellte der Antifaschismus eine politische und militärische Notwendigkeit dar, um die Macht des Naziregimes zu brechen und seine Entwicklungsgrundlagen zu beseitigen. Der Antifaschismus war somit die sich von selbst anbietende Uberschrift für die Kennzeichnung der ersten Etappe kommunistischer Machteroberung. Wann der Kampf um den Sozialismus von der K P D in die zweite Etappe überführt werden könne, mußte 1944 noch offen bleiben. In diesem Sinne formulierte Florin: »Alle unsere zentralen Programmlosungen können und dürfen deshalb nur ausgerichtet sein auf den Sturz des Faschismus, die Niederringung der aggressiven imperialistischen Kräfte und die Erkämpfung der bürgerlichen Demokratie als der Herrschaft des Volkes. Die politische Linie ist auch vom innerdeutschen Standpunkt deshalb richtig, weil unser Ziel nach wie vor sein muß, die deutsche Bourgeoisie zu spalten und den einen Teil in die nationale Front zu ziehen.« 21 Ausgehend von der weltpolitischen Konstellation nach Hitler sah die KPDFührungscrew zwei politische Lager in Deutschland, die um die Gestaltung der deutschen Z u k u n f t ringen werden: auf der einen Seite die K P D , die sich auf die Macht der Sowjetunion stützt u n d das nationale Lager führt, und auf der anderen Seite die »reaktionären Kräfte«. Hiermit wurden die Eigentümer der deutschen Großindustrie umschrieben, die schon während des Krieges ein Bündnis mit den Westalliierten anstrebten, u m ihre »Klassenprivilegien« zu sichern, und die diese Politik nach Auffassung der Moskauer KPD-Leitung auch nach dem Krieg fortsetzen würden. Florin definierte in seinem Referat gleichfalls die Rolle und Bedeutung der K P D für die sowjetische Deutschlandpolitik. Er befand kurz und bündig: »Deutschland ohne starke KP ist eine Gefahr für die Sowjetunion.« 2 2
IV Der künftige Staat und der »Block der antifaschistischen Parteien« Die KPD-Funktionäre begannen ihre Beratungen im Bewußtsein, daß die K P D nach dem Krieg eine Statusveränderung erfahren werde. Sie war nicht mehr nur »Oppositionspartei«, sondern sie verstand sich bereits 1944 als eine neue deutsche Regierungspartei. Ihr Ziel blieb unverändert »ein sozialistischer Staat, ein Sowjetstaat« 23 , wie es in einer Ausarbeitung von Florin hieß, in der er zugleich die G r ü n d e auflistete, die verhinderten, dieses Ziel direkt anzustreben. Danach fehlten der K P D , wie bereits erwähnt, international wie auch national die Voraussetzungen für die »ungeteilte Macht« der Partei, das wichtigste Kriterium für den »Sowjetstaat«. Berücksichtigen mußte
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die K P D unter anderem die Interessenlagen der G r o ß m ä c h t e , und zwar sowohl der Sowjetunion als auch ihres kapitalistischen Gegenspielers, der U S A in Europa, die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten und die Bewußtseinslage der deutschen Arbeiterklasse nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur. Pieck schätzte 1 9 4 2 ein, daß die »deutsche Arbeiterklasse ... organisatorisch atomisiert [sei].« 2 4 Aus dieser Lagebeschreibung ergab sich zwingend ein etappenweises Vorgehen und die Entwicklung eines speziellen herrschaftspolitischen Instrumentariums im K a m p f um das feststehende Ziel - die »ungeteilte M a c h t « . Die »Anti-Hitler-Koalition« bekämpfte das nationalsozialistische Deutschland im N a m e n der D e m o k r a t i e , und alle drei M ä c h t e beanspruchten, eine demokratische Staatsordnung zu besitzen. D e r k o m m e n d e deutsche Staat konnte unter den Bedingungen alliierter Besetzung nur eine D e m o k r a t i e werden. Diesem Umstand trug das Konzept der kommunistischen M a c h t ergreifung R e c h n u n g , das in Moskau erarbeitet wurde. Einigkeit bestand unter den Mitgliedern der Arbeitskommission - und hier gab es auch U b e r einstimmung mit den »Führungsoffizieren« aus dem N K F D - in der Errichtung einer erneuerten parlamentarischen Republik, die aber keine Neuauflage der Weimarer Republik werden dürfe. Im Mittelpunkt des in Moskau konzipierten Parteiensystems stand der »Block der kämpferischen Demokratie«. Er sollte sich möglichst noch in k o n kreten Widerstandsaktionen gegen die nationalsozialistische Diktatur im Lande konstituieren und a u f der Basis eines von den K o m m u n i s t e n vorgelegten Aktionsprogramms die »antifaschistischen Parteien«, Organisationen und einzelne Persönlichkeiten zusammenschließen. D e n Begriff »Block der kämpferischen Demokratie« hatte nach dem Zeugnis von Ackermann D i mitroff geprägt. D e r erste E n t w u r f für das künftige Programm des »Blocks«, mit dem die Moskauer K o m m u n i s t e n die antifaschistischen Parteien zu führen beabsichtigten, umreißt knapp die innen- und außenpolitische Orientierung Deutschlands, die von den K o m m u n i s t e n in dieser ersten Ü b e r gangsphase auf dem W e g zum Sozialismus durchgesetzt werden sollte. G e sellschaftspolitisch
verstanden
sie unter der Herstellung
eines
neuen
freien Deutschland die »Ausrottung aller Wurzeln des barbarischen Faschismus,
räuberischen
Imperialismus
und des reaktionären,
junkerlichen
Preußentums und zur Umerziehung des deutschen Volkes a u f freiheitlicher demokratischer Basis für den Frieden und die Freundschaft mit den anderen Völkern — Säuberung des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens (Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Theater, Kinos, Literatur, Zeitungen, u. a.) von dem faschistischen imperialistischen Ungeist und Pflege eines wahrhaft deutschen nationalen, demokratisch-freiheitlichen Geistes, besonders unter der Jugend« 2 5 . Das außenpolitische Programm sah die Hauptorientierung auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion vor. 2 6
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Die Programmschwerpunkte des Blocks der kämpferischen Demokratie zeigen auch, wie die Änderung von Eigentumsverhältnissen (Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher) im Namen des Antifaschismus verbunden wird mit der Staatskonzeption, indem der Konsens der Parteien im »Block«, der von der K P D geführt werden soll, das demokratische Agieren der politischen Kräfte in den Hintergrund drängt. Eine solche Konstruktion des Parteiensystems lief strukturell von vornherein auf die Schwächung des gewählten Parlaments zugunsten des »Blocks« hinaus, der den Wählervoten entzogen war. Die Kommunisten verstanden den »Block« auch nicht als Koalition gleichberechtigter Partner, das wird in der Diskussion über die anderen Parteien sehr deutlich. Im »Gegensatz zu der impotenten Weimarer Demokratie« beschrieb Pieck Ende 1944 die »kämpferische Demokratie« als eine Herrschaftsform, unter deren Bedingungen »die werktätigen Massen, besonders die Arbeiterklasse, einen ständig wachsenden Einfluß auf die Innen- und Außenpolitik erkämpft...«. 2 7 Zu Beginn der Beratungen der Arbeitskommission wurde von Mitgliedern in der Diskussion die Existenz anderer Parteien neben der N S D A P in Deutschland bezweifelt und die Frage aufgeworfen, ob die Kommunistische Partei überhaupt für die N e u g r ü n d u n g konkurrierender Parteien eintreten solle. Diesen Überlegungen wurde von Florin entschieden widersprochen und mit Blick auf die aktuelle italienische Entwicklung festgestellt, daß die »alten Parteien im Bewußtsein des Volkes weiterleben.« 28 Sie würden somit nach Ende der Diktatur wiedererstehen. Florin riet, die K P D solle das Richtige tun, »um sie zu entlarven, einzuengen oder in die gemeinsame Front zu verlagern«. 29
V Das Bild von der Sozialdemokratie Die entscheidende Voraussetzung für die Einnahme von handlungsbestimmenden Führungspositionen in dem angestrebten Block sah die KPD-Spitze in der Uberwindung der parteipolitischen, gewerkschaftlichen u n d weltanschaulich-konfessionellen Zersplitterung der deutschen Arbeiterklasse. Bereits zu diesem Zeitpunkt schlössen die Moskauer KPD-Strategen allerdings eine gleichberechtigte Einbeziehung der SPD in diesen Prozeß aus u n d formulierten ihren Führungsanspruch. Den zentralen Aspekt des Verhältnisses zur S P D formulierte Pieck im April 1944 in seinen Aufzeichnungen zu einem Vortrag von Ulbricht: »Einheit ist die Frage der S P D — sie wird dadurch ausgeschaltet.« 30 Die SPD-Mitglieder beabsichtigte die Moskauer K P D - F ü h r u n g zur »Schaffung der Einheitsfront in der Arbeiterklasse« auf der Grundlage des von ihr formulierten Aktionsprogramms des Blockes der kämpferischen Demokratie zu drängen. Eine organisatorische »Einheit der
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Arbeiterklasse« in Gestalt einer Partei sollte »erst durch (die) sozialistische Revolution im Sozialismus« 31 herbeigeführt werden. Sie stand somit nicht auf der Tagesordnung von 1945. Erst später sollten - so Pieck - »die in der Arbeiterklasse tätigen kleinbürgerl. [ichen] Parteien, die die Einheit der Arbeiterklasse zerstören, vernichtet werden.« 32 Schon 1944 stand der Charakter der zukünftigen »Einheitspartei« fest, es konnte sich nur um eine marxistischleninistische, revolutionäre »Kampfpartei« nach dem Vorbild der KPdSU(B) handeln. Für Pieck und Co. hatte sich die Sozialdemokratie durch die Abwartepolitik ihrer Führer und ihr Anpassungsverhalten zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur als Partei selbst liquidiert und folglich in der deutschen Arbeiterschaft ihren Masseneinfluß verloren. Die Funktionäre der S P D und der Gewerkschaften, die nach Skandinavien, Großbritannien und den USA emigriert waren, wurden als »antibolschewistische Reserve der Bourgeoisie« 33 klassifiziert, die eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten ablehnen. Die alte kommunistische Spaltungspolitik — zwischen Führung und Mitgliedern zu unterscheiden - wurde fortgesetzt. O h n e empirischen Beweis hieß es 1942 in Moskau, die meisten jüngeren Mitglieder der S P D hätten dagegen »ihre Lehren aus der falschen Politik der SPD gezogen. Sie woll[t]en kein 1918 mehr«. 34 Hoffnungsvoll heißt es weiter: »Die Abkehr vom Sozialdemokratismus hat bei ihnen begonnen, und ein erheblicher Teil von ihnen wird sich auf uns orientieren.« 35 Bei der Realisierung ihrer politischen Pläne für ein Nachkriegsdeutschland meinte die Moskauer KPD-Spitze, sich auch auf einzelne sozialdemokratische Politiker stützen zu können. So werden in einer Übersicht von Anfang 1945 Max Seydewitz, Karl Böchel, Dr. O t t o Friedländer und Dr. Flesch als relativ sichere Partner für eine Zusammenarbeit eingeschätzt. Vor allem rechneten die Kommunisten mit der Gruppe aus der mittleren Führungsebene von S P D und Gewerkschaften, die sie als zukünftige Bündnispartner gewinnen wollten. Pieck ging davon aus, daß man mit diesen Sozialdemokraten am schnellsten eine gemeinsame Sprache finden würde. Am klarsten hat Schwab im April 1944 ausgesprochen, worum es der K P D gehen mußte, wollte sie die Einheit der Arbeiterklasse auf der Basis des Marxismus-Leninismus durchsetzen: »Wir müssen selbst H a n d anlegen in der Schaffung einer solchen Sozialdemokratie, die mit uns zusammenarbeitet.« 3 6 Weiter führte er aus: »Wir müssen bereit sein zu den größten Kompromissen, wenn dadurch das gemeinsame Auftreten in der Öffentlichkeit gesichert und die Einheit der Arbeiterklasse demonstriert werden kann.« 37 Der Realist Schwab wußte schon damals, daß die Schaffung der Einheit nicht ohne Widerstand durchzusetzen und zu behaupten sein würde: »Die Einheit der Arbeiterklasse ist mit allen Mitteln (auch mit dem Einsatz von Heer und Polizei-Position) zu verteidigen.« 38
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VI Die zukünftige »Führungspartei« im Selbstverständnis der Moskauer KPD-Führung Voraussetzung für eine erfolgreiche kommunistische Politik war und blieb aus der Sicht ihrer exilierten Führung aber der rasche W i e d e r a u f b a u der Partei. Schon 1944 bekräftigte Pieck das »Gelöbnis« der deutschen K o m m u n i sten, »durch die Schaffung einer mächtigen, vom Geiste des Marxismus, Leninismus, Stalinismus erfüllten einheitlichen Kampfpartei der deutschen Arbeiterklasse die Voraussetzung z u m Sieg unserer großen Sache zu schaffen«. 3 9 Diese Festlegung bestimmten die Aufgaben, vor denen die KPD-Spitze und ihre Kader nach d e m Krieg standen. U m den Führungsanspruch der KPD im »Block der antifaschistischen Parteien« zu begründen, erarbeitete die Moskauer Gruppe eine Darstellung der historischen und politischen Legitimation der Partei, galt es doch, d e m deutschen Volk glaubhaft zu vermitteln, die eigentliche nationale Kraft seien die Kommunisten. Im Dezember 1944 entstand ein kurzer Leitfaden zur Geschichte und Gegenwart der KPD, in dem besonders der Kampf der Partei gegen die nationalsozialistische Diktatur hervorgehoben wurde. Die Grundkonstruktion dieses Geschichtsbildes liegt in den Behauptungen, die kommunistische Partei sei als einzige von den Nationalsozialisten nicht zerschlagen worden und der Widerstand vieler Parteimitglieder sei unter der zentralen Anleitung der Parteiführung erfolgt. Gegenüber den Kommunisten, die in Deutschland in den Gefängnissen und Lagern saßen oder die sich in der westlichen Emigration befanden, trat die Moskauer R u m p f f ü h r u n g als einzig in Frage k o m m e n d e und rechtmäßige Parteiführung auf. Sie gab neben der Programmatik ebenso die Regularien des organisatorischen Wiederaufbaus der Partei vor. Nach den von Ulbricht im Februar 1945 entworfenen Anweisungen 4 0 sollte für jeden Parteibezirk eine zeitweilige Kommission zur Leitung des Aufbaus der Parteiorganisation eingesetzt werden, die die Parteileitungen in jedem Ort zu »bestätigen« hatte. Diese Formulierung aus der Parteisprache besagte, die Kommissionen sollten die Personalhoheit bei der Zusammensetzung der örtlichen Vorstände besitzen. Es war geplant, nicht nur in den Betrieben u n d Wohngebieten Parteiorganisationen zu bilden, sondern ebenfalls in den neu zu schaffenden »Verwaltungsorganen«, den Keimzellen des künftigen Staates, die auch einen großen Teil der Wirtschaft kontrollieren und lenken sollten. M i t der Rekonstruktion der KPD war zugleich eine erste »Parteiüberprüfung« vorgesehen. KPD-Genossen aus der Zeit vor 1933, die wieder als M i t glieder anerkannt werden wollten, mußten über ihre Aktivitäten in der illegalen Arbeit gegen die nationalsozialistische Diktatur, ihr Verhalten in Gefängnissen und Konzentrationslagern und über den Dienst in der W e h r macht Rechenschaft ablegen. Zwei Kategorien von KPD-Mitgliedern aus der
» N a c h H i t l e r k o m m e n wir«
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Zeit vor 1 9 3 3 sollten nicht wieder in die Partei a u f g e n o m m e n werden: solche, die zu den Nationalsozialisten übergelaufen waren, und die, die »parteifeindlichen Gruppierungen« angehört hatten. Unter diese Kategorie fielen unter anderen die Anhänger der unterschiedlichen Parteioppositionen gegen »Bolschewisierung« und »Stalinisierung« der KPD aus den zwanziger Jahren. Von Anfang an war beabsichtigt, die soziale Basis der KPD zu erweitern. Neben Arbeitern und Bauern wollte die K P D - F ü h r u n g vor allem Ingenieure, Lehrer u n d andere »Geistesschaffende« gewinnen. Die Rolle der KPD als neue Staatspartei sollte sich auch in ihrer Mitgliederstruktur widerspiegeln. Zentrale Bedeutung wurde weiterhin der Ausbildung von geeigneten »Parteikadern« für die Besetzung zukünftiger gesellschaftlicher Führungspositionen beigemessen. In einer Lektion über den Aufbau der KPD vor d e m ersten Lehrgang der im September 1944 eröffneten Parteischule der KPD in Nagomoje, unweit von Moskau, äußerte Pieck sogar die Überlegung, ob es nicht zweckmäßig sei, für die rasche Ausbildung von eigenen Kadern auf Erfahrungen der Nationalsozialisten bei der S c h u l u n g ihres Führungsnachwuchses zurückzugreifen: »Ich denke da an ähnliche Einrichtungen, wie sie die Nazi-Partei auf ihren Ordensburgen für reaktionäre Zwecke geschaffen hat.« 4 1 Der absolute Führungsanspruch der Kommunisten im Staat wurde zwar nicht proklamiert, aber alle Schritte zur Rekonstruktion der Partei zielten auf einen zuverlässigen Funktionärsapparat, der fähig war, die »Linie« der Partei in Staat und Gesellschaft zentralistisch durchzusetzen.
VII Zur Diskussion der nationalen Frage Den Mitgliedern der Arbeitskommission war klar - und das stellte einen Grundsatz aller ihrer Überlegungen bei der Konzipierung des Aktionsprogramms dar - , daß die Errichtung einer »kämpferischen Demokratie« die aktive Beteiligung des deutschen Volkes an der Beseitigung des Hitlerregimes, wenn nicht sogar eine nationale Erhebung voraussetzte. Sie sahen bei einem passiven Verhalten realistischerweise nicht nur das nationale Selbstbestimmungsrecht, sondern auch die staatliche Existenz Deutschlands bedroht. Bei mehreren Beratungen diskutierten sie über die eventuelle Zerstückelung Deutschlands nach d e m Z u s a m m e n b r u c h des Hitlerregimes u n d die Einbeziehung deutscher Territorien in den sowjetischen Machtbereich. Die hauptsächlich durch die handschriftlichen Notizen von Pieck und Aufzeichnungen von Florin überlieferten Debatten der Arbeitskommission zeigen, daß die K P D - F ü h r u n g offiziell keine Kenntnis von den damaligen Vorstellungen Stalins hatte, Deutschland in verschiedene selbständige Teilstaaten aufzuteilen. Bekannt war der KPD-Spitze im Frühjahr 1944 nur, daß es durch
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den verbrecherischen Krieg Hitlers zu einschneidenden Gebietsverlusten und Grenzverschiebungen zugunsten von Polen kommen würde. W. Zaisser berichtete in diesem Zusammenhang am 22. Mai 1944 über Vorstellungen polnischer Generäle, eine aus polnischen und deutschen Territorien bestehende »Republik Nr. 17« zu schaffen, deren westliche Grenze die Elbe bilden sollte.42 Nachdem der gerade gegründete Polnische Nationalrat Ende Juli 1944 Gebietsansprüche gegenüber Deutschland bis zur Oder öffentlich artikulierte 43 , mußte die Moskauer KPD-Führung in dieser Frage öffentlich Stellung beziehen. Mit dem Verweis, daß es sich zum Teil um frühere polnische Gebiete handelt, legte sie ihre offizielle befürwortende Haltung zu den polnischen Grenzforderungen in der Zeitung Freies Deutschland des NKFD dar. In einem Brief an Bernard Koenen vom 9. September 1944 erläuterte Ulbricht den in der Kriegsgefangenenschule in Taliza als Lehrer und Seminarleiter wirkenden deutschen Kommunisten die neue Situation in der »polnischen Frage«: »Als deutsche Antifaschisten haben wir ein Interesse an einem starken, wirklich demokratischen Polen, weil das eine Schwächung der reaktionärsten Kräfte in Europa bedeuten würde. Das nutzt auch unserem Kampf zur Ausrottung des Faschismus und zur Schaffung eines wirklich demokratischen Deutschland.«44 Auf den Beratungen der Arbeitskommission wurde die nationale Problematik konträr diskutiert. Auf heftigen Widerspruch stieß das Referat Herrnstadts, in dem er das deutsche Volk hinsichtlich seines revolutionären Potentials als hoffnungslosen Fall beschrieb und dessen Recht auf nationale Selbstbestimmung zur Disposition stellte.''5 Gleichfalls galt es die Frage zu klären, ob zwischen einer nationalen Politik der deutschen Kommunisten und der Politik der Sowjetunion ein Interessengegensatz existierte.46 Wie aus den bruchstückhaften Uberlieferungen erkennbar ist, setzte sich die Auffassung durch, daß auch für eine Politik im Interesse der Sowjetunion gegenüber der deutschen Bevölkerung eine eindeutige Haltung zur nationalen Frage bezogen werden müsse. In einer Rede vor Hörern der Parteischule der KPD definierte Ackermann 1944 diese Haltung der KPD-Spitze im sowjetischen Exil: »Es gibt für uns nichts Heiligeres als die Interessen der Sowjetunion. Sie ist und bleibt unser wahres Vaterland. Aber niemals können wir unsere Rolle, unsere Pflichten gegenüber der Sowjetunion erfüllen, wenn wir nicht verstehen, das Ohr unseres Volkes zu finden, und das Ohr unseres Volkes werden wir nur dann finden, wenn wir ausgehen und uns leiten lassen von den wirklich nationalen Interessen unseres Volkes.«47 In dem Disput der Arbeitskommission über die nationale Frage und über die Haltung zur sowjetischen Interessen vertraten insbesondere Sobottka und Herrnstadt eigenständige, radikale Positionen. Beide stellten ohne Rücksicht auf das Nationalbewußtsein der deutschen Bevölkerung und taktisch-politische Erwägungen die sowjetischen Interessen über die Landesinteressen.48
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Herrnstadt äußerte die Ansicht, daß man einen richtigen Zugang zur nationalen Frage nur erlangen könne, wenn man sich auch im Geiste als Sowjetbürger fühle. 4 9 Von dieser Position aus wertete er in einem Gespräch mit Heinrich Graf von Einsiedel, Mitglied des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 als einen Versuch, den Vormarsch des Kommunismus in Europa aufzuhalten. 5 0
VIII Die »preußische« Tradition der neuen deutschen Demokratie Der Auftrag von Dimitroff an die KPD-Exilführung bezog sich auf die innere Umgestaltung Deutschlands nach dem alliierten Sieg über Hitler. Deutschland als Ganzes sollte unter der Verfügungsgewalt der Siegermächte stehen, und die K P D war für die KPdSU(B) kein gleichberechtigter Partner. Aber die K P D strebte nach der Führung der Nation. Der Dichter Johannes R. Becher lieferte sogar eine kulturelle Legitimation, er bezeichnete die K P D im Februar 1945 als einzige intakte ideologisch-moralische Kraft in Deutschland, die über eine geschlossene freiheitliche, wissenschaftlich begründete Weltanschauung verfüge. Daraus folgerte er, sie sei »die Partei der geistigen Erneuerung«' 51 , die es allein vermöge, die verschiedenen fortschrittlichen Kräfte in der deutschen Kultur »zu einer politisch-weltanschaulichen Einheit zusammenzufassen«' 52 und sie damit für die notwendige Erziehungsarbeit in Deutschland nutzbar zu machen. Die entscheidende Voraussetzung für die Realisierung der kommunistischen Pläne war der dominierende Einfluß der Partei auf die neu zu schaffende demokratische Staatsmacht in Deutschland. Die Fixierung auf die Staatsmacht entsprach dem stalinistischbolschewistischen Selbstverständnis der KPD-Funktionäre. Schließlich hatte sie Stalin gelehrt, den Staat als eine »Maschine in den H ä n d e n der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstandes ihrer Klassengegner« zu begreifen. Die Ü b e r n a h m e der Staatsmacht nach Hitler durch die K P D war die Achse, u m die sich die Moskauer Planungen von 1944/45 drehten. Allein die Tatsache, daß die von den Kommunisten nach 1945 im östlichen Teil Deutschlands aufgebaute Staatsordnung über 40 Jahre Bestand hatte, zwingt zu der Frage nach den Kontinuitätslinien deutscher Staatsauffassung, auf die sich Pieck, Florin und Ulbricht im letzten Kriegsjahr in ihren Überlegungen auch bezogen. U m die Kontinuitätslinien deutscher Staatstradition zu erfassen, die in den Erfahrungen u n d Überzeugungen der kommunistischen Funktionäre 1944 präsent waren, empfiehlt sich der analytische Zugang über die Generation, der diese Männer angehörten. Ihre Lebenserfahrung mit staatlicher Gewalt war geprägt durch zwei Weltkriege u n d den totalitären Terror der Nationalsozialisten und ihrer eigenen Bewegung in der Sowjetunion. Diese k o m m u -
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nistischen Funktionäre glaubten zutiefst an die Staatsgewalt als entscheidende Voraussetzung für die Durchsetzung politischer Zielsetzungen. Diese Generationserfahrung w u r d e verstärkt durch die autoritäre Tradition des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates, der von seinen Untertanen Disziplin und Gehorsam forderte und in d e m sie sozialisiert worden waren. Das Bild der Staatsautorität im Deutschen Reich war bestimmt von Bürokratie, Armee, Justiz und Polizei. Das Parlament als Ort der politischen Selbstb e s t i m m u n g der Bürger fehlte in diesem Leitbild. Der Staat, der der Arbeiterbewegung in Deutschland seit ihren Anfängen entgegentrat, tat das stets unzweideutig als Anwalt der privilegierten Gesellschaftsklassen. Aus dieser Erfahrung zogen die sozialistischen Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert den Schluß, die wirtschaftlichen Klassengegensätze zwischen Arbeitern und d e m Bürgertum könnten nur ü b e r w u n d e n werden, wenn der Staat die Gesamtverantwortung für eine Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der Freiheit der arbeitenden Klassen übern i m m t . Die Demokratisierung des Staates wurde zu einer zentralen Programmforderung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich. Die Eroberung der politischen M a c h t mit dem Stimmzettel war das erklärte Ziel der Partei. Aber erst in der ersten deutschen Republik konnte die S P D Regierungsverantwortung ausüben. Über die Frage von Demokratie oder Diktatur kam es 1918 zur endgültigen Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung; der revolutionäre Flügel verließ die Sozialdemokratie und konstituierte sich als KPD, die sich 1919 der Kommunistischen Internationale anschloß. Die KPD trat für den revolutionären Sturz der Weimarer Republik und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein. Die Partei propagierte vor 1933 den deutschen Sowjetstaat und eine deutsche Räteregierung. Aber nicht die KPD, sondern die N S D A P beseitigte die erste deutsche Republik, und die nationalsozialistische Diktatur verbot 1 9 3 3 sowohl die reformistische S P D als auch die revolutionäre KPD und verfolgte ihre Aktivisten und Politiker. Eine zentrale Generationserfahrung, die Pieck, Florin und Ulbricht mit vielen Aktivisten der deutschen Arbeiterbewegung bis 1944 teilen m u ß t e n , war das Erleben der eigenen O h n m a c h t gegenüber einer übermächtigen feindlichen Staatsmacht. Diese Erfahrung scheint in den Diskussionen auf, die von den kommunistischen Funktionären über die Fehler von 1918 in der November-Revolution geführt wurden u n d die i m m e r in die Frage der Staatsmacht e i n m ü n d e t e n . Soviel scheint sicher, nach Hitler wollten die KPD-Funktionäre nun endlich diese Zeiten der eigenen O h n m a c h t definitiv beenden, u m das alte Ziel der sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland durchzusetzen, den Staat für die eigene Sache in Besitz zu nehmen. Florin hat 1944 in seiner Ausarbeitung über den »Sowjetstaat« auch die deutsche Tradition seiner Auffassung von Staatsautorität aufgedeckt. Er
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bezog sich auf Preußen. Die wenigen Zeilen genügen, um schon die Umrisse des »erneuerten« Obrigkeitsstaates zu erkennen, der hier gewollt wird. Unter anderem schrieb er: »Wäre Deutschland ein Sowjetstaat, dann würde die feste unzerbrechliche Einheit zwischen allen Deutschen durch keine fremden Imperialisten erschüttert werden können, da der Partikularismus aussterben würde. Die rückständige Seite des Preußentums würde fallen, und die gute Seite würde zum Gemeingut aller Deutschen werden.« 53 Das Ziel war ein zentralistischer Einheitsstaat, u n d die föderalen Traditionen Deutschlands sind für ihn nur die »Einheit« behindernder »Partikularismus«. Damit nicht genug, für die künftige europäische Friedensordnung würde ein deutscher »Sowjetstaat« einen wichtigen Beitrag liefern: »Die Deutschen würden auch bessere Soldaten sein - aber auch als Soldaten Menschen bleiben - , sie würden freie Soldaten und keine Sklaven sein.« 54 Die Auswertung der 1944/45 in Moskau konzipierten Vorstellungen der K P D läßt sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Die K P D war in den Planungen der sowjetischen Deutschlandpolitik eine feste Größe. Die programmatischen Überlegungen der K P D seit 1944 wurden begrenzt von der Perspektive der alliierten Besetzung Deutschlands und den interalliierten Abstimmungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. 2. Die exilierte K P D - F ü h r u n g wahrte selbst in den Jahren des Krieges ihren eigenen Anspruch, in Deutschland den Sozialismus zum Sieg zu führen. Die Absicht der sowjetischen Führung, nach dem Sieg über Hitler mit Hilfe der K P D entscheidenden Einfluß auf die Nachkriegsentwicklung in Deutschland zu nehmen, schufen für Pieck und Ulbricht die Voraussetzung, um dieses Ziel anzustreben. 3. Die K P D sollte zur einheitlichen Massenpartei der Arbeiterklasse werden. Ihren stalinistischen Charakter wollten die Moskauer Emigranten dadurch sichern, daß sie als Führung die Partei nach dem Krieg »von oben« wiederaufbauten und ausrichteten. 4. Die im Aufruf vom Juni 1945 proklamierte erneuerte parlamentarische Republik, die mit der Beteuerung verbunden war, Deutschland nicht das Sowjetsystem aufzuzwingen, war Taktik und für die KPD-Politiker nur die erste Etappe auf dem Weg zum Sozialismus und zur »ungeteilten Macht« der Partei. 5. Der in Moskau konzipierte »Block der antifaschistischen Parteien« war für die K P D keine Koalition. Die Kommunisten erkannten die Liberalen, die Christlichen Demokraten u n d die Sozialdemokraten nicht als gleichberechtigte Partner an, sondern sie sollten sich der K P D unterordnen. Mit diesem totalitären Führungsanspruch verhinderten die Kommunisten selbst unter den Bedingungen alliierter Besatzung die wichtigste Voraussetzung für
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einen von ihnen propagierten schen
den
Parteien.
nationalen antifaschistischen
Grundlage
der
Blockpolitik
war
Konsens
für die
KPD
zwidie
» A k t i o n s e i n h e i t « m i t d e n S o z i a l d e m o k r a t e n , d e r e n W i e d e r a u f b a u sie a k t i v beeinflussen wollten. 6 . W e s t - oder O s t o r i e n t i e r u n g war 1 9 4 5 die Alternative, vor die die D e u t schen durch die Besatzungsmächte im O s t - W e s t - K o n f l i k t nach Hitlers Krieg gestellt w u r d e n . W e n n a u c h die K P D ihre P a r t e i n a h m e für die sowjetische S e i t e » n a t i o n a l « z u v e r b e r g e n s c h i e n , s o v e r s t a n d sie s i c h b e r e i t s in i h r e n P l a n u n g e n als z u v e r l ä s s i g e r S a c h w a l t e r s o w j e t i s c h e r I n t e r e s s e n i n D e u t s c h l a n d . Als Stalin im J u n i 1 9 4 5 die K P D beauftragte, die »Ostorientierung« D e u t s c h lands d u r c h z u s e t z e n , s c h u f er zugleich die V o r a u s s e t z u n g e n für d e n A u f b a u einer k o m m u n i s t i s c h e n D i k t a t u r in »seinem« Teil
Deutschlands.
zur 1 Vgl. Peter E r l e r / H o r s t Laude/Manfred Wilke: »Nach Hitler kommen wir«. Dokumente Programmatik der Moskauer KPD-Führung ¡944/45für Nachkriegsdeutschland. Berlin 1994; hier abgedruckt S. 2 4 0 ff. — 2 Daß die Kenntnis der aktuellen taktisch-programmatischen Richtlinien der Parteiführung ein entscheidender Maßstab für den Kadereinsatz waren, bestätigt auch Jan Foitzik in einem Beitrag über den Einsatz von sudetendeutschen Kommunisten in der SBZ. In seinen Ausführungen weist er daraufhin, wie wichtig es aus der Sicht der KPD-Führung war, daß sich im Hinblick auf die gesellschaftliche Umgestaltung in der S B Z ein Großteil der sudetendeutschen Kommunisten an der »Volksfrontpolitik« der Komintern von 1936 orientierte. Vgl. Jan Foitzik: »Kadertransfer. Der organisierte Einsatz sudetendeutscher Kommunisten in der S B Z 1945/46«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 3 0 8 ff. — 3 Erler/Laude/Wilke: » N a c h Hitler kommen wir«, a . a . O . , S. 394. — 4 Vgl. Jochen Laufer: »Die UdSSR und die Zoneneinteilung Deutschlands (1943/44)«. In: Zeitschriftßr Geschichtswissenschaften 4 3 (1995), S. 3 0 9 ff. — 5 G. Dimitroff und D. Manuilski, die die Auflösung der Komintern betrieben und gleichzeitig die Nachfolgeeinrichtungen des EKKI leiteten, waren weiterhin für die Verbindung zu den Führern der kommunistischen Parteien verantwortlich. Ab Juli 1944 wurde diese Funktion dann von der Abteilung Internationale Information des Z K der K P d S U ( B ) übernommen, die zunächst von A. S. Schtscherbakow und später von Dimitroff geleitet wurde. — 6 Erler/Laude/Wilke: » N a c h Hitler kommen wir«, a . a . O . , S. 73. — 7 Zit. nach Manfred Wilke: »Nach Hitler kommen wir - Die Planung der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland«. Vortrag auf der 18. Jahrestagung der German Studies Association, 2 9 . 9 . - 2 . 1 0 . 1 9 9 4 in Dallas, Texas. Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 11/1994, S. 4. — 8 E r l e r / L a u d e / W i l k e : » N a c h Hitler kommen wir«, a . a . O . , S. 77. — 9 Ebd., S. 78. — 1 0 Vgl. ebd., S. 132. — 11 Vgl. Peter Erler: »Heeresschau und Einsatzplanung. Ein Dokument zur Politik der K P D aus dem Jahre 1944«. In: Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Berlin 1994. — 1 2 Eingang in diese Statistik fanden Personen, die Anfang 1944 mindestens 2 0 Jahre alt waren und wenigstens in zwei voneinander unabhängigen Quellen als deutsche Emigranten oder KPD-Mitglieder in der UdSSR ausgewiesen werden. Nicht erfaßt wurden Personen, die nicht eindeutig identifiziert werden konnten. (Nach Schätzungen liegt die eigentliche Zahl der zu berücksichtigenden Personen bei mindestens 600.) Unberücksichtigt blieben auch die deutschen Emigranten, die sich zu diesem Zeitpunkt in
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Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern des N K W D befanden und sudetendeutsche Kommunisten in der sowjetischen Emigration, die nach 1945 in die SBZ kamen. Zu berücksichtigende Fehlerquellen bei der Erfassung ergeben sich u. a. aus der Benutzung von Decknamen, aus der unkorrekten, oft nur phonetischen, Registrierung der Emigranten, sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache, und dem Wechsel der Familiennamen bei Frauen. — 13 Vgl. SAPMO-BArch, NY 4036/545, Bl. 10. Der Parteivorsitzende rechnete außerdem mit » 8 . 0 0 0 - 1 0 . 0 0 0 Kommunisten im Lande« und mit 1.500 Kadern in Schweden, Großbritannien, Amerika, Mexiko, in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Norwegen; ebd. — 14 Erler: »Heeresschau und Einsatzplanung«, a.a.O., S. 54. — 15 Ebd. — 16 Erler/Laude/Wilke: »Nach Hitler kommen wir«, a.a.O., S. 136 ff. — 17 Ebd., S. 143. — 18 Ebd. — 19 Ebd. — 20 Ebd. — 21 Ebd. — 22 Ebd., S. 1 5 6 . — 23 Ebd., S. 125- — 24 Ebd., S. 35. — 25 Ebd., S. 241. — 26 Vgl. ebd., S. 294. — 27 Ebd., S. 373. — 28 Ebd., S. 1 5 9 . — 29 Ebd. — 30 SAPMO-BArch, NY 3036/501, Bl. 46. — 31 Erler/Laude/Wilke: »Nach Hitler kommen wir«, a.a.O., S. 285. — 32 Ebd., S. 281. — 33 Ebd., S. 36. — 34 Ebd. — 35 Ebd. — 36 Ebd., S. 168. — 37 Ebd. — 38 Ebd. — 39 Ebd., S. 99. — 40 Ebd., S. 327. — 41 Ebd., S. 288. — 42 SAPMO-BArch, NY 3036/501, Bl. 66. — 43 Vgl. Jens Hacker: Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980. BadenBaden 1983, S. 96 ff. — 44 SAPMO-BArch, NY 3091 /87, Bl. 11. — 45 Ebd., NY 3036/501, Bl. 52 ff. — 46 Ebd., Bl. 63. — 47 Ebd., I 2/3/253, Bl. 271. — 48 Vgl. ebd., NY 3036/501, Bl. 62. — 49 Erler/Laude/Wilke: »Nach Hitler kommen wir«, a.a.O., S. 176. —50 Vgl. Heinrich Graf von Einsiedel: Tagebuch der Versuchung. Berlin 1950, S. 128. — 51 Erler/Laude/Wilke: »Nach Hitler kommen wir«, a.a.O., S. 359. — 52 Ebd., S. 358. — 53 Ebd., S. 1 2 5 . — 54 Ebd., S. 125/126.
Gerhard Paul
»...alle Repressionen unnachsichtlich ergriffen werden« Die Gestapo und das politische Exil*
I Schon aufgrund der räumlichen Distanz und der spezifischen Lebenssituation des Exils war dessen Blick auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem vielfach durch Hoffnungen, Ängste und Wünsche verstellt. Dies zeigte sowohl die fatale Unterschätzung der loyalitätsbindenden Kräfte der Volksgemeinschafts-Propaganda als auch die selbstexkulpierende Überschätzung der Repressionsmöglichkeiten des Regimes. Chronisch wurden so etwa die Handlungspotentiale der Gestapo als der Kerninstitution des NSMaßnahmenstaates überbewertet, womit gerade das Exil nicht unwesentlich zum Mythos der Gestapo als einer allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Geheimpolizei beitrug. 1 »Man rechnet auf etwa zwölf bis fünfzehn Arbeiter einen Betriebsspitzel«, meinte so etwa Franz Vogt, ehemaliger SPDAbgeordneter im Preußischen Landtag und Kopf des Amsterdamer Arbeitsausschusses freigewerkschaftlicher Bergarbeiter Deutschlands 1936. 2 Die Gestapo habe ihren Spitzelapparat derart ausgebaut, »daß sie heute auf die freiwilligen Denunzianten verzichten kann«, m u t m a ß t e n auch die sozialdemokratischen Deutschland-Berichte 1938. Aus Berlin sei »bekannt, daß die Gestapo eine Abteilung von mehreren tausend Beamten hat, die ... unauffällig in den Mietskasernen wohnen und deren Funktion nur dem zuständigen Blockwart bekannt ist«.3 Die Tendenz, überall Gestapo-Spitzel zu sehen, findet sich auch bei den Kommunisten. Der für Abwehrfragen zuständige Parteinachrichtendienst etwa verkündete: »Hinter jedem Deutschen steht ein Spitzel.« 4 In der Logik der weit verbreiteten Neigung, zudem alle Schandtaten der Gestapo zuzuschreiben, lag es denn auch, den Freitod Willi M ü n zenbergs 1940 der Gestapo anzudichten. In Deutschland wie im Exil fungierte der Mythos von der allgegenwärtigen und allwissenden Gestapo vor u n d nach 1945 als multifunktionale Zauberformel, mit der die epochale Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gedeutet wurde, sowie als Substitut kritischer Selbstreflexion über die Fehler des deutschen Widerstandes im Lande selbst wie im Exil. Im Ausland machte er vergessen, daß die Gestapo nur dort wirkungsvoll arbeitete, wo ihr die Polizeibehörden und die Gesellschaften der Emigrationsländer zuarbeiteten. Real hingegen waren die Handlungsmöglichkeiten der Gestapo gerade im
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Bereich des Exils eher begrenzt, sporadisch und zufällig, wenn auch der staatspolizeiliche Z u g r i f f a u f die politische Emigration sukzessiv zunahm und sich mit der Besetzung der Hauptemigrationsländer nach 1 9 3 8 eine gänzlich neue Situation einstellte. Aber selbst während des Krieges gelang es Himmlers neuer Staatspolizei nicht, wie etwa Jacques Delarue spekulierte 5 , sich flächendeckend und lückenlos über E u r o p a auszubreiten, sondern blieben auch weiterhin Nischen des Untertauchens und des Widerstandes existent.
II Politische Emigranten galten den Nationalsozialisten vor dem Hintergrund ihrer völkischen Grundauffassung als »Reichsfeinde«, »Vaterlandsverräter«, »a-völkische und antivölkische Elemente«, die sich selbst aus der »Volksgemeinschaft« begeben hatten, wie es etwa im Leitheft »Emigrantenpresse und Schrifttum« des Chefs des Sicherheitshauptamtes des Reichsführers-SS vom März 1 9 3 7 h i e ß / ' Diese Sichtweise spiegelte etwa das Ausbürgerungsgesetz vom 14. Juli 1 9 3 3 wider, demzufolge jeder Staatsbürger eine besondere Treueverpflichtung gegenüber Reich und Volk sowie gegenüber Hitler und der N S D A P besaß. Umgekehrt wurde ein der Treuepflicht gegen Reich und Volk widersprechendes Verhalten, worunter insbesondere die Herabwürdigung des deutschen Ansehens oder der M a ß n a h m e n der nationalen Regierung subsumiert wurde, als Treuebruch gewertet, der den Ausschluß aus der »Volksgemeinschaft« und damit die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft begründete. 7 Nach diesem Verständnis galt insbesondere der sich im Ausland politisch gegen das »Dritte Reich« engagierende Emigrant als »Treuebrecher«, »Reichsfeind« und »Landesverräter«, der mit allen dem R e g i m e zur Verfügung stehenden Mitteln a u f der E b e n e der Propaganda, der D i p l o matie, der Geheimdienste sowie schließlich mit genuin staatspolizeilichen M e t h o d e n zu bekämpfen war. Nach Auffassung des Chefs der Gestapo in Preußen, des Preußischen M i n i sterpräsidenten H e r m a n n G ö r i n g , bildeten die Emigranten »durch ihre Zahl, mehr aber noch durch ihr vaterlandsloses und gegen den nationalsozialistischen Staat gerichtetes Verhalten, eine der wesentlichsten Quellen der unausgesetzten Vergiftung der internationalen Politik und der teilweise noch i m m e r festzustellenden feindseligen Haltung des Auslandes gegenüber dem neuen Deutschland«. D e n gegen den N S - S t a a t aktiven Emigranten drohte G ö r i n g daher an, »daß ihre Hetzarbeit einer dauernden B e o b a c h t u n g unterliegt und jede ihrer Handlungen gegen ihr eigenes Vaterland auf das Genaueste festgelegt wird. Sie müssen gegenwärtig sein, daß a u f jede ihrer Niederträchtigkeiten hin alle möglichen Repressalien persönlicher und vermögensrechtli-
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eher Natur unnachsichtlich ergriffen werden.« 8 Ähnlich versicherte auch der Völkische Beobachter den Emigranten, »daß ihre Schandtaten von dem überall wachsamen Auge des Geheimen Staatspolizeiamtes aufmerksam verfolgt und daß auch sie der Sühne für ihre Verbrechen nicht entgehen« würden. 9 Nicht die zahlenmäßig beträchtliche Emigration der deutschen Juden die als politisch weitgehend »bedeutungslos« betrachtet wurden und deren Auswanderung zunächst ja durchaus gefördert wurde 10 - beunruhigte das NS-Regime. Die Sorge der NS-Führung galt den politischen Emigranten, den »Repräsentanten der Novemberrepublik in politischer und kulturpolitischer Hinsicht«. 11 Vor allem die »Wahrheitsoffensive« der Presse und der Literatur des Exils - vom Chef des Sicherheitshauptamtes als »Hauptkampfmittel der Emigration« gewertet — sowie ihre Verbreitung im In- und Ausland stellte das von Goebbels angestrebte Nachrichten- und Meinungsmonopol in Frage und wurde als eine permanente Provokation des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs empfunden. Neben der »Sicherstellung« der einzelnen politischen Emigranten hatten es die neuen Herren daher vorrangig auf die Zerstörung der Infrastruktur der exilspezifischen Formen von Öffentlichkeit abgesehen. Während Herbert E. Tutas bereits vor Jahren die verschiedenen Ebenen der Diffamierung des Exils durch die NS-Propaganda nachgezeichnet 12 und sich Hans Georg Lehmann in diversen Veröffentlichungen mit der Ausbürgerungspolitik beschäftigt hat 13 , ist das differenzierte staatspolizeiliche Methoden- und Zugriffsrepertoire bei der Bekämpfung der politischen Emigration für die Gesamtzeit des »Dritten Reiches« allenfalls peripher zur Sprache gekommen. 14 Vielfach blieben Untersuchungen zudem auf der Anspruchsebene stehen und nahmen diese vorschnell für bare Münze. Die zentrale Zuständigkeit der Gestapo in der Emigrantenverfolgung ergab sich aus deren Selbstverständnis und Aufgabenbeschreibung. Hatte der Runderlaß des preußischen Innenministers vom 26. April 1933 den Aktionsradius der Gestapo noch eingegrenzt auf die Erforschung und Bekämpfung aller »staatsgefährlichen politischen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet«15, so sollte sich der Begriff der Staatsgefährlichkeit schon bald als eine nach maßnahmenpolitischen Notwendigkeiten interpretierbare Generalklausel erweisen, unter die alle nur denkbaren Gefährdungspotentiale bis hin zur politischen Emigration subsumiert werden konnten. Da der vollendete Hochverrat das Ende des Staates bedeute, sah der Cheftheoretiker der Gestapo, Werner Best, weniger die Ahndung begangener Delikte als zentrale Aufgabe der neuen Polizei an, sondern vor allem deren »vorbeugende Verhinderung«. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben solle die Gestapo jederzeit in der Lage sein, unabhängig von jeder gesetzlichen Bindung und gerichtlichen Uberprüfung »jedes zur Erreichen des notwendigen Zweckes geeignete Mittel anzuwenden«. 16
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Angesichts der weitreichenden präventiv-politischen Funktionsbestimm u n g der Gestapo überraschte es nicht, daß diese versuchte, schon bald europaweit zu agieren. Da sich die Gestapo nicht damit begnügen könne, »die Auswirkungen revolutionärer Umtriebe und sonstiger Einflüsse des Auslandes auf das Inland abzuwarten oder es dem Zufall zu überlassen, gewisse Vorgänge bereits an der Grenze erfassen zu können«, wurde insbesondere den Grenzpolizeikommissariaten der Gestapo die Aufgabe zuteil, »hochverräterische, vor allem marxistische Bestrebungen gegen Deutschland, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen, und die Wege zu ihrer Bekämpfung, z. B. Wirtschaftsboykott, Diskreditierung Deutschlands in der Welt durch Aufrüstungs- oder sonstige Hetzlügen, Greuelpropaganda, illegale Fortsetzung der Parteien, Herstellung und Einfuhr hochverräterischer Druckschriften, Emigrantenfrage, Judenfrage im Ausland...« zu überwachen und zu bekämpfen.' 7 Es dauerte indes einige Jahre, bis die Bearbeitung von »Emigrantenangelegenheiten« organisatorisch eindeutig und reichsweit einheitlich geregelt war. Die Organisationspläne der staatspolizeilichen Zentralbehörden des Reiches und der Länder spiegeln wider, wie sich die Verfolgung der Emigranten erst sukzessive zu einem genuinen Aufgabenfeld der Gestapo ausdifferenzierte. Der Geschäftsverteilungsplan des preußischen Gestapoamtes (Gestapa) in Berlin vom 19. Juni 1933 etwa hatte die Zuständigkeit für Ausländer, Emigranten, Juden und Freimaurer dem Dezernat IX zugewiesen, das noch für eine Vielzahl weiterer Aufgaben zuständig war. Den veränderten Praxisanforderungen der politischen Gegnerverfolgung gerecht wurde im Januar 1934 die gesonderte Beschäftigung mit Emigranten, Juden und Freimaurern durch das von Karl Haselbacher geführte Referat II F 2 innerhalb der »Juristischen Abteilung II« des Gestapa. Mit politischen Aspekten der Emigration hatten darüber hinaus die Dezernate III B 1 (Kommunismus, Anarchismus, Syndikalismus), III B 2 (SPD, SAP, Reichsbanner, Gewerkschaften) und III B 3 (Kommunistische und marxistische Flugblätter und Zersetzung) der sogenannten »Bewegungsabteilung III« zu tun. 1 8 Mit der Umstrukturierung des Gestapa zu einem faktisch mit Reichskompetenzen ausgestatteten »Zentralbüro des Politischen Polizeikommandeurs der Länder« im Mai 1934 wurden »Emigranten- und Judenangelegenheiten« den Dienststellen II 1 A und H I B innerhalb der zentralen Unterabteilung II 1 der Hauptabteilung Politische Polizei zugeordnet. 1 9 Seit 1936 ressortierten Emigrantenangelegenheiten bei der Dienststelle H I B (Konfessionelle Verbände, Juden, Freimaurer, Emigranten), während sich nach der Neuorganisation der Sicherheitspolizei in Form des Reichssicherheitshauptamtes - der Zentrale des NS-Terrors während der Kriegszeit - das Sachgebiet IV A 4 des Referates IV 4 (Weltanschauliche Gegner) der Gestapo mit Emigrantenfragen befaßte. 2 0 Darüber hinaus waren aber auch weiterhin andere Dezernate
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in die Emigrantenverfolgung involviert, so vor allem jene Abteilungen wie das 1938 neu zugeschnittene Sachgebiet II A 4, die für die Verfolgung des M a r x i s m u s und K o m m u n i s m u s im In- und Ausland, für besondere Emigrantengruppen wie die Spanienkämpfer bzw. für die Observierung der Einheits- und Volksfrontbestrebungen zuständig waren. Den Verhältnissen in Berlin entsprechend war die Ü b e r w a c h u n g und Verfolgung der Emigranten auch bei den regionalen Staatspolizeistellen geregelt. Bei der für den Regierungsbezirk Schleswig zuständigen Stapo-Stelle Kiel etwa beschäftigte sich in der Vorkriegszeit das zur Hauptabteilung II (Innere Politische Polizei) zählende Referat II B mit »Juden- und Emigrantenangelegenheiten«; während der Kriegszeit ressortierte demgegenüber die Verfolgung von Juden und Emigranten dort wie andernorts im Sachgebiet 4 b des Referates IV (Weltanschauliche Gegner). 2 1 Personell waren diese Sachgebiete in den jeweiligen Stapo-Stellen lediglich mit zwei bis drei Beamten ausgestattet. Ging es indes u m die Observierung und Verfolgung insbesondere der politischen Emigration, waren neben diesen genuin für Emigrantenfragen zuständigen Stellen auch hier die für die Verfolgung von Angehörigen der ehemaligen Linksparteien zuständigen Sachgebiete II A bzw. IV 1 involviert. Speziell für den Einsatz von V-Leuten im Bereich der politischen Emigration zeichneten die N(achrichten)-Referate verantwortlich. Ebenfalls mit der politischen Emigration beschäftigten sich schließlich die den Abwehrabteilungen III unterstehenden und seit d e m preußischen Gestapo-Gesetz vom 30. November 1933 als Außenstellen der regionalen Staatspolizeistellen fungierenden Grenzpolizeikommissariate entlang der Reichsgrenzen, denen unter anderem als besondere Aufgaben oblag, den illegalen Grenzübertritt u n d den Personenschmuggel zu bekämpfen, die Einfuhr illegaler Druckschriften zu unterbinden u n d durch V-Leute oder eigene Beamte genauestens den politischen Bestrebungen von Emigranten in den angrenzenden Nachbarländern nachzuspüren. 2 2 Von den für die Verfolgung der (politischen) Emigration zentral verantwortlichen Gestapo-Beamten auf Reichsebene seien stellvertretend Heinrich Müller, Reinhold Heller und Bruno Sattler genannt, die durchaus ähnliche Karrieremuster aufzuweisen haben und wie die meisten Angehörigen der Gestapo der Vorkriegszeit schon der Polizei der Weimarer Republik angehört hatten. 2 3 M ü l l e r - Jahrgang 1900, vor 1933 Kommunismus-Experte der Bayerischen Politischen Polizei — galt als Protege von Gestapa-Chef Reinhard Heydrich. 1934 ü b e r n a h m der ehemalige »Systembeamte« die für die politische Gegnerbekämpfung zuständige zentrale Unterabteilung II 1 des Gestapa. Darüber hinaus leitete er persönlich deren m i t der Verfolgung der kommunistischen und marxistischen Bewegungen beschäftigte Dienststelle II 1 A. Als Vertreter Heydrichs führte er seit 1938 weitere zentrale Referate der Gestapo, zu denen auch das Referat II B (Kirchen, Sekten, Emigranten,
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Juden, Logen) zählte. 24 Heller — 1885 im pommerschen Freienwalde geboren, Jurastudent ohne Abschluß, Frontoffizier des Ersten Weltkrieges und Angehöriger der Freikorps-Brigade Reinhard - war wie so viele seiner Gestapo-Kollegen ein alter Hase in Sachen politischer Gegnerbekämpfung. Seit 1920 gehörte er dem Berliner Polizeipräsidium an, dessen Inspektion II (linksradikale Parteien und Organisationen, Russen und Polen) innerhalb der für politische Delikte zuständigen Abteilung I a er seit 1931 leitete. Politisch hatte Heller vor 1933 der Deutschen Demokratischen Partei ( D D P ) sowie anderen republikanischen Organisationen angehört. Von dem ersten Chef des Berliner Gestapo-Amtes, Rudolf Diels, wurde der KommunismusExperte bereits unmittelbar nach der Machteinsetzung Hitlers zur Gestapo übernommen, wo er zugleich in die antikommunistischen Verfolgungsaktionen nach dem Reichstagsbrandprozeß einbezogen wurde. Bereits 1934 avancierte Heller zum Vertreter des späteren Gestapo-Chefs Heinrich Müller in der KPD-Dienststelle II 1 A des Amtes, wo er für die Dezernate II B 1 (Kommunismus, Anarchismus, Syndikalismus) und II B 3 (kommunistische und marxistische Flugblätter u n d Zersetzung) zuständig war. 1939 schließlich stieg der ehemalige D D P - M a n n zum Leiter des gesamten Referates II A auf, dem die Bekämpfung des Kommunismus und Marxismus im gesamten In- u n d Ausland oblag. Seit 1933 gehörte Heller der NSDAP, seit 1938 der SS an. Während des Krieges leitete er — der ähnlich wie sein Chef Müller die Kontinuität der Kommunistenverfolgung von der frühesten Weimarer Republik bis weit hinein in das »Dritte Reich« verkörperte — zeitweise die Stapo-Stelle Potsdam. 2 5 Heller unterstellt war Bruno Sattler, Jahrgang 1898, der wie dieser sein Studium abgebrochen, am Weltkrieg teilgenommen hatte u n d 1919 einem Freikorps beigetreten war. Seit 1928 gehörte auch er dem Berliner Polizeipräsidium an. Der N S D A P trat er 1931, der SS 1936 bei. Ebenso wie Heller war auch Sattler unmittelbar nach der G r ü n d u n g des preußischen Gestapa von den neuen Machthabern ü b e r n o m m e n worden. Seit 1935 zählte zu seinem Aufgabengebiet unter anderem der Einsatz von Agenten gegen die sozialdemokratische Emigration. 2 6 Das Repertoire an M a ß n a h m e n der staatspolizeilichen Emigrantenverfolgung der Vorkriegszeit war breit gefächert. Es reichte von der Registrierung und Überwachung über die Zersetzung von Exilorganisationen durch V-Leute bis hin zum Entführungsversuch und zum Attentat, wobei zwischen den M a ß n a h m e n in Deutschland und im Ausland zu differenzieren ist. 27 Die ersten M a ß n a h m e n gegen die einsetzende Emigration datieren bereits aus den ersten Wochen nach Hitlers Machtantritt. Sie entsprachen zunächst noch ganz konventionellen Methoden der politischen Gegnerbekämpfung und waren auf Formen der Registrierung und Überwachung begrenzt. 2 8 Ein Runderlaß des Gestapa vom 4. Mai 1933 verfügte erstmals die namentliche Registrierung der Deutschland verlassenden Personen: »Um die wirksame
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B e k ä m p f u n g aller gegen den Bestand und die Sicherheit des Staates gerichteten Angriffe zu ermöglichen, ist eine namentliche Erfassung aller derjenigen Personen erforderlich, die seit der nationalsozialistischen Erhebung des deutschen Volkes außer Landes gegangen sind und die Vermutung rechtfertigen, d a ß sie im Auslande staatsfeindliche Bestrebungen verfolgen.« 2 9 Gegenstand einer gesonderten Erfassung wurden »bisher führende Kommunisten, Pazifisten und Sozialdemokraten« sowie die »Angehörigen der jüdischen Intelligenz«. Die zu erstellenden Listen sollten präzise Personalangaben sowie Einzelheiten zur politischen Betätigung und z u m aktuellen Aufenthaltsort enthalten. Alle übrigen deutschen Länder wurden gebeten, sich dem Vorbild Preußens anzuschließen u n d eigene Emigrantenlisten anzufertigen. Im August 1933 wurde in diesen Listen erstmals zwischen jüdischen und nichtjüdischen Emigranten unterschieden. 1 0 Die übrigen deutschen Länder folgten schon bald d e m preußischen Vorbild und erließen ähnliche Erlasse. 31 Die Vielzahl der einlaufenden Daten wurde in einer vom Berliner Gestapa, später dann vom Reichssicherheitshauptamt geführten Namenskartothek zusammengetragen, die jeweils zum Quartalsersten zu ergänzen u n d zu überarbeiten war. Auf diese Weise entstanden sowohl auf der Ebene der regionalen Staatspolizeistellen als auch auf Reichsebene umfassende Datenbanken, in die alle einlaufenden Informationen über die deutsche Emigration eingingen, die gleichwohl aber nie vollständig und fehlerfrei waren. 3 2 Reichsweit wurden diese Dateien später nach Ländergruppen aufgegliedert. Hinzu kamen mit Kriegsbeginn Verzeichnisse der in den besetzten Gebieten erfaßten deutschen Emigranten. 3 3 Einen weiteren Schwerpunkt der frühen staatspolizeilichen Emigrantenb e k ä m p f u n g bildeten Ü b e r w a c h u n g s m a ß n a h m e n im Ausland selbst. Bereits am 2. M a i 1933 hatte die Nachrichtensammelstelle des Reichsministeriums des Innern die deutschen Auslandsvertretungen angewiesen, das Verhalten der Emigranten zu beobachten u n d regelmäßig hierüber zu berichten. 3 4 Ein Runderlaß vom 11. November 1935 verpflichtete die sich i m m e r stärker zu einem verlängerten Arm der N S D A P w a n d e l n d e n Auslandsvertretungen, regelmäßig über die Lage der deutschen Emigranten zu berichten. Die seit Frühjahr 1933 zunächst vor allem aus Prag und Paris beim Auswärtigen A m t in Berlin einlaufenden Berichte wurden von diesem gesammelt und d e m Gestapa zur Auswertung übergeben. Ein erster zusammenfassender Bericht mit d e m Titel »Die deutsche Emigration im europäischen Ausland« datiert vom Herbst 19 3 3. 3 5 Gezielte Objekte der Observierung waren dabei die im Ausland agierenden bzw. neu gebildeten Organisationen w i e vor allem die Exil-Sozialdemokratie (SOPADE) u n d die K P D mit ihren zahlreichen Neben- und Untergliederungen, die Deutsche Freiheitspartei oder M ü n zenbergs Freunde der sozialistischen Einheit, die diversen Einigungs- u n d Volksfrontbestrebungen des Exils sowie Einzelpersonen, von denen m a n
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einen besonderen Einfluß auf das Verhalten der politischen Emigration erwartete. Uberwacht wurden die Tagungen und Kongresse des Exils sowie die Redaktionen der Exilpresse. Besonderes Interesse galt darüber hinaus den Grenzsekretariaten bzw. Abschnittsleitungen von SOPADE und KPD entlang der Reichsgrenze, da man diese als zentrale Transmissionsagenturen zwischen den Zentren des Exils und den Gruppierungen des innerdeutschen Widerstandes verdächtigte. 36 Die über die deutschen Auslandsvertretungen sowie über die gestapoeigenen V-Leute und Agenten eintreffenden und durch eine systematische Auswertung der Exilpresse komplettierten Informationen fanden auf zentraler Ebene unter anderem Eingang in die diversen Lageberichte des Gestapa zur Situation der kommunistischen und marxistischen Bewegung sowie auf regionaler Ebene in die vierteljährlichen und jährlichen Lageberichte bzw. Sonderberichte der vor allem an den Reichsgrenzen gelegenenen Stapo-Stellen und Grenzpolizeikommissariate. 37 Zum Teil bestanden diese Berichte aus sehr präzisen Insider-Informationen bis hin zu Skizzen von Wohnungen führender Emigranten, zum Teil aber auch nur aus Vermutungen und Gerüchten oder aus Auswertungen ausländischer Zeitungen ohne besonderen geheimdienstlichen Wert. Entsprechend der nationalsozialistischen Wahrnehmung der politischen Emigranten als »Reichs-« und »Volksfeinde« wurden Maßnahmen der Registrierung und Überwachung von Anbeginn an ergänzt durch repressive und terroristische staatspolizeiliche Maßnahmen, zu denen zunächst vor allem die Ausbürgerungen in Folge des »Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft« vom 14. Juli 1933 zählten. 38 Mit der Expatriation nach § 2 des Ausbürgerungsgesetzes beabsichtigte das NS-Regime, jene Staatsangehörige zu bestrafen, die sich durch ihr Verhalten einer »Treuepflichtverletzung« gegenüber Volk und Reich schuldig gemacht hatten. Das Wissen hierüber basierte auf allgemeinen Verdächtigungen, auf Vermutungen, die sich aus dem bisherigen politischen Verhalten ableiteten, sowie auf den Ergebnissen der Postüberwachung. Hatte das Aberkennungsverfahren zunächst bei den Landesbehörden sowie bei den deutschen Auslandsvertretungen ressortiert, so usurpierte das Gestapa nach der Gleichschaltung der Länder zunehmend diese Funktion, indem es die Expatriationen beim Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern beantragte und begründete. Nach einem das Ausbürgerungsverfahren regelnden Geheimerlaß des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 30. März 1937, demzufolge Juden fortan verstärkt expatriiert werden sollten, war bei »deutschblütigen« Emigranten ein »staatsfeindliches Verhalten« wie bisher nachzuweisen, während bei »Spitzenfunktionären der ehem. KPD, SPD und der ihnen angeschlossenen Organisationen« ganz im Sinne der Präventivfunktion der Gestapo allein der Verdacht einer »deutschfeindlichen Betätigung« und das Faktum der Emigration aus-
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reichten. 39 Am Beispiel der von dem Referat II B der Staatspolizeistelle Kiel am 28. April 1938 nach dem Geheimerlaß vom 30. März 1937 beantragten Ausbürgerung des jungen Sozialisten Willy Brandt hat Lehmann den Vorgang der staatspolizeilichen Strafexpatriation exemplarisch nachgezeichnet. 40 Insgesamt bürgerte das Reichsinnenministerium auf Antrag der Gestapo bis Kriegsende aus politischen bzw. rassischen G r ü n d e n mindestens 38.766 Personen aus. Ein besonderes Objekt des staatspolizeilichen Interesses bildeten die von der Exilforschung — sieht man einmal von Tutas ab — bisher vernachlässigten Rückwanderer unter den politischen Emigranten, die angesichts ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage im Exil, aber auch aufgrund von Isolation oder weil die Angehörigen riefen, nach Deutschland zurückkehrten. Ihre Zahl ging in die Tausende. Aus der Sicht des NS-Regimes bedeutete diese Gruppe sowohl ein politisches als auch ein nachrichtendienstliches Risiko. Ein Erlaß des Preußischen Ministerpräsidenten vom 15. Januar 1934 bestimmte unzweideutig, daß an einer Rückkehr jener Personen, »die unter falschen Voraussetzungen im Ausland Gastfreiheit genießen und diese zur Hetze gegen Deutschland ausnutzen«, kein Interesse bestehe. Beim Uberschreiten der Grenze seien diese festzunehmen und den Gerichten zur Aburteilung zuzuführen. Ebensowenig dürften die »marxistischen Zersetzer und Verbrecher in führenden Stellungen« jemals wieder deutschen Boden betreten. 41 Ganz in diesem Sinne hatte das Gestapa dem Auswärtigen Amt 1937 signalisiert, daß auch an einer R ü c k f ü h r u n g ehemaliger Interbrigadisten kein generelles staatspolizeiliches Interesse bestehe. 42 Dahinter stand vor allem die Sorge, unter den Rückkehrern könnten sich Agenten feindlicher Nachrichtendienste befinden. 4 3 Best wies daher die Stapo-Stellen an, alle Rückkehrer aus der Emigration und hier vor allem die sogenannten »Rußlandrückkehrer« sorgfältig zu überwachen. 4 4 Hatte die Gestapo Rückwanderer 1934 zunächst noch den ordentlichen Gerichten überstellt, so wurde mit dem Wegfall außenpolitischer Rücksichtnahmen in Folge der Saarrückgliederung deren Schutzhaftnahme und Uberstellung in die staatspolizeilichen Konzentrationslager seit 1935 zunächst zum Normalfall. Angesichts der internationalen Proteste gegen diese M a ß n a h m e n ordnete das Auswärtige Amt 1935 an, bei entsprechenden Anfragen nicht von Konzentrationslagern, sondern von »Schulungslagern« zu sprechen. 4 5 Sobald Spanienkämpfer, Saaremigranten, Rußlandrückkehrer oder andere Emigranten nun in den Machtbereich des NS-Regimes gelangten, wurden diese den zuständigen Stapo-Stellen überstellt. 46 Ein Erlaß der Abt. II A 1 des Gestapa betreffend Rußlandrückkehrer vom 5. August 1939 verfügte, »deutschblütige Rußlandrückkehrer, denen die Reichsangehörigkeit aberkannt ist (Staatenlose), u n d Emigranten« beim Grenzübertritt unverzüglich festzunehmen, ausgebürgerte jüdische Reichsangehörige demgegenüber ausnahmslos an der Gren-
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ze zurückzuweisen.47 Dies war jedoch nur die eine Seite der Medaille. Angesichts des enormen kriegsbedingten Bedarfs an Arbeitskräften und Soldaten blieb der Anspruch der Ausgrenzung und Isolierung der zurückgekehrten bzw. zurückgeführten Emigranten bis hin zu den »Rotspanienkämpfern« zunehmend allerdings nur propagandistischer Anspruch. Nicht jeder Emigrant, der aus Spanien zurückkam, verschwand für Jahre in Konzentrationslagern. Etliche wurden nach gründlichen Verhören und unter Einschätzung ihres Gefährdungspotentials gezielt wieder in Arbeitszusammenhänge integriert. Von aus Dänemark zurückgeführten Emigranten wissen wir, daß sie nach dem 9. April 1940 ohne erkennbare Rangeinbußen regulär in die Wehrmacht eingegliedert wurden. 48 Im Oktober 1940 ordnete Heydrich denn auch an, unbelastete Emigranten »nach eingehender Ermahnung zu entlassen (gegebenenfalls unter Auflage) und in Arbeit zu vermitteln«, da sie »kaum noch eine wesentliche Gefahr« bildeten. 49 Zwischen propagandistischem Anspruch und Realität klafften im »Dritten Reich« mitunter Welten. Wo die konventionellen polizeilichen und geheimdienstlichen Mittel der Emigrantenbekämpfung nicht ausreichten, ergänzte die Gestapo diese in Einzelfällen durch genuine staatspolizeiliche Methoden wie die der Geiselnahme, der Entführung und des Attentats. Schlagzeilen machten etwa 1933 bzw. 1934 die Festnahmen von Angehörigen der beiden nach Dänemark bzw. der Tschechoslowakei emigrierten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Philipp Scheidemann und Gerhard Seger durch die Gestapo. Hintergrund dieser frühen Form von »Sippenhaft« war in beiden Fällen der Versuch, Scheidemann und Seger zum Widerruf bzw. zur Aufgabe ihrer publizistischen Attacken gegen das »Dritte Reich« zu bewegen."'0 Die wohl spektakulärsten Entführungsmaßnahmen galten dem ehemaligen Militärfachmann der Weltbühne und Betreiber eines unabhängigen Zeitungsdienstes, dem Journalisten Berthold Jacob. Im März 1935 wurde dieser durch einen Gestapo-Agenten in eine Falle gelockt und von Basel aus nach Deutschland verschleppt. Nach Schweizer Protesten ließen ihn die NS-Behörden wieder frei. Der schon in der Weimarer Republik wegen seiner scharfsinnigen Analysen gefürchtete Journalist blieb indes ein gejagter Mann. Im September 1941 entführte ihn die Gestapo ein zweites Mal, diesmal aus Lissabon. Nach einem Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager starb Jacob 1944 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.51 Exemplarisch wären schließlich auch zwei durch die Gestapo in Auftrag gegebene Attentatsversuche zu erwähnen, die allerdings beide ihr Ziel verfehlten. So ging im April 1936 in Zürich der dortigen Sicherheitspolizei der Gestapo-Beamte H. Römer ins Netz, der sich bei den Vorbereitungen eines gegen den im Schweizer Exil lebenden ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning gerichteten Attentats verdächtig gemacht hatte. In Paris verfehlte 1938 nur knapp ein Attentatsversuch sein Ziel, der einem der aktivsten Funktionäre im dortigen Exil, dem saarländi-
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sehen SPD-Vorsitzenden M a x Braun, gegolten hatte. 5 2 Gleichwohl handelte es sich bei diesen Fällen i m m e r nur um Einzelfälle und nicht u m eine flächendeckende Methode. Ihre verunsichernde und disziplinierende W i r kung entfalteten diese spektakulären M a ß n a h m e n oftmals erst aufgrund ihrer Popularisierung in der Exilpresse, die den M y t h o s der allmächtigen und allgegenwärtigen Gestapo damit weiter verstärkte. Qualitativ unterschied sich die Tätigkeit der Gestapo bei der Bekämpfung der Emigranten im europäischen Ausland k a u m von der des politischen Gegners im Inland. W ä h r e n d auch hier vor allem eine kleine Gruppe von V-Leuten den konspirativ organisierten Exil-Widerstand unterminierte, sich denunzierende Bürger den deutschen Auslandsvertretungen als Informanten zur Verfügung stellten, leisteten offizielle deutsche und kollaborierende ausländische Dienststellen der Gestapo vielfältige Hilfe bei der Observierung und Ü b e r w a c h u n g der Emigranten. Quantitativ allerdings waren die Handlungsmöglichkeiten der Gestapo durchaus begrenzt. So gab es kein dichtmaschiges Netz von V-Leuten, das die deutsche Emigration gleichmäßig überspannte, wie vor allem das Exil selbst m u t m a ß t e . Es waren lediglich einige dutzend hochkarätige V-Leute, die Gestapa und Reichssicherheitshauptamt mit den wichtigsten Informationen aus der politischen Emigration versorgten. Die Referate II A 1 bis A 3 des Berliner Gestapa etwa zählten 1937 gerade einmal 2 9 V-Leute im Auslandseinsatz. 5 3 Die Informationsdichte aus den einzelnen Zufluchtsländern der deutschen Emigranten sowie die Aktionsmöglichkeiten der V-Leute u n d Agenten scheinen dabei z u d e m höchst unterschiedlich gewesen zu sein. Ein »einigermaßen ungestörtes Arbeiten unserer V - M ä n n e r « sei nur in Holland und D ä n e m a r k möglich, klagte so etwa ein internes Papier des Gestapa. Es müsse daher mit allen Mitteln versucht werden, »die Zahl der V.-Männer im Ausland zu erhöhen, da sonst die Gefahr besteht, d a ß wir eines Tages von Situationen überrascht werden«. 5 4 In ihren Karteien unterschied die Gestapo zwischen drei Gruppen von formellen Zuträgern, zwischen V-Leuten, Agenten sowie Informanten bzw. Auskunftspersonen. 5 5 Als V-Leute galten der Gestapo nach eigener Definition »alle jene Personen, die für die innenpolitischen Zwecke der Geheimen Staatspolizei (Marxismus, J u d e n t u m , Emigranten, Freimaurer, Konfessionen, Opposition usw.) Nachrichten liefern, gleichgültig, ob sie auf längere Sicht oder nur vorübergehend, ob sie gegen Entgelt oder aus ideellen Gründen usw. arbeiten«. 5 6 Die Gruppe der im Auslandseinsatz tätigen V-Leute der Gestapo rekrutierte sich aus Emigranten aller politischen Richtungen, die sich in materiellen und sozialen Notlagen befanden und daher für die W e r bungsversuche der Gestapo empfänglich waren, aus zutiefst desillusionierten Hitlerflüchtlingen sowie aus Verfolgten der Gestapo und KZ-Häftlingen, denen man Straffreiheit und Entlassung versprach, wenn sie sich bereit
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erklärten, künftig für die Gestapo tätig zu sein. 57 Neben den zu Spitzeldiensten erpreßten Emigranten und politischen Häftlingen gab es — worauf Lehmann verwiesen hat — erstaunlich viele Konjunkturritter sowie echte Renegaten, die »sich freiwillig — sei es finanzieller, sei es persönlicher Vorteile wegen - dazu hergaben, ihre Schicksalsgenossen zu verraten«. 58 Zu der Gruppe der Top-V-Leute der Gestapo zählten etwa die drei von Bruno Sattler geführten V-Männer »S 3«, »S 4« und »S 9«, die gegen den sozialdemokratischen Exilwiderstand zum Einsatz kamen. Bei »S 3« handelte es sich um den ehemaligen Berliner SPD-Funktionär Herbert Behrendt, dem es ohne Mühe gelungen war, das Vertrauen des SOPADE-Grenzsekretärs Richard Hansen in Kopenhagen zu gewinnen und von diesem gar zum Leiter der illegalen S P D in Berlin eingesetzt zu werden. Im Auftrag Hansens, der zeitweise von bis zu fünf Gestapo-V-Leuten umgeben war und kaum einen Schritt ohne Kenntnis der Gestapo machen konnte, leitete »S 3« die Abwehr von Polizeispitzeln im sozialdemokratischen Grenzapparat, nahm als Vertreter der illegalen S P D an Kongressen sowie an Gesprächen mit Verbindungsleuten aus Deutschland teil oder reiste selbst als Kurier des Kopenhagener SOPADE-Grenzsekretariats mit Aufträgen oder illegalen Schriften versehen nach Deutschland ein. Auf diese Weise gelang es Behrendt innerhalb kürzester Zeit, umfassende Einblicke in das System des sozialdemokratischen Grenzapparats im Norden zu gewinnen und die Gestapo daher in die Lage zu versetzen, das gesamte Kurierwesen im Norden zu durchleuchten und schließlich zu zerschlagen. 59 Hinter dem für Sattler in Prag agierenden V-Mann »S 4« verbarg sich ein der S P D nahestehender ehemaliger preußischer Beamter, der - wie es in seiner Führungsakte hieß — »in der Tschechoslowakei gut eingeführt ist«. »S 4« berichtete dem Gestapa 1934/35 regelmäßig über die Verhältnisse der deutschen Emigranten in Prag, über Interna der dortigen SOPADE-Zentrale, über Vortragsveranstaltungen von prominenten Emigranten sowie über illegale Besuche reichsdeutscher SPDFunktionäre in der Tschechoslowakei. Er nahm an der Gründung der »Freiheits-Bibliothek« teil und kundschaftete für die Gestapo die über Reichenberg laufenden Verbindungs- und Kurierwege zwischen Prag und Berlin aus. 60 Bei V-Mann »S 9« schließlich handelte es sich um den ehemaligen, nach Prag emigrierten Angestellten des Berliner SPD-Vorstandes Herbert Kriedemann, dessen Differenzen mit dem Prager SOPADE-Vorstand Sattler geschickt genutzt hatte, um ihn als V-Mann der Gestapo anzuwerben. 1936 verpflichtete sich Kriedemann, für Sattler »1.) sämtliche Personen und Grenzsekretäre der Sopade mit Wohnorten namhaft zu machen, 2.) den Beamten in Hannover ausfindig zu machen, welcher der Sozialistischen Front< hat Nachrichten zukommen lassen, 3.) die Verbindungen des Grenzsekretärs Thiele in Bodenbach nach Dresden herauszufinden.« 61 Bis zu seiner Enttarnung 1938 scheint Kriedemann zum vollen Vertrauen seiner Auf-
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traggeber tätig gewesen zu sein, wie seine umfangreichen Berichte über Interna der SOPADE belegen. Ebensowenig wie die Exil-SPD war auch die Exil-KPD vor Gestapo-Spitzeln aus den eigenen Reihen sicher. Hochkarätige V-Leute agierten in zum Teil hohen Funktionen des kommunistischen Exilwiderstandes. So schickte etwa das Gestapa 1936 den ehemaligen KPD-Abschnittsleiter von BerlinNordost, Erich Franz, nach Prag. Franz hatte sich nach seiner Festnahme offensichtlich sofort bereit erklärt, die Fronten zu wechseln und künftig für die Gestapo zu arbeiten/'2 Sowohl in Prag als auch in Paris gelang es V-Leuten, in unmittelbare Nähe der Abschnittsleitung bzw. des ZK-Sekretariats zu kommen. 63 Einen gewiß spektakulären Fall eines V-Mannes aus dem kommunistischen Milieu stellte die Tätigkeit des ehemaligen RGO-Funktionärs Richard Krebs für die Gestapo dar, der unter dem Pseudonym Jan Valtin mit seinen romanhaften Erinnerungen Out of the Night später eines der auflagenstärksten Bücher der deutschen Exilliteratur der Kriegsjahre verfaßte. Krebs war bereits im November 1933 in Hamburg festgenommen worden. In der Gestapo-Haft hatte auch er sich verpflichtet, künftig für die Gestapo zu arbeiten, worauf man ihn seit 1937 unter dem Decknamen »Erka« gegen die kommunistische Emigration in Kopenhagen, Paris und Antwerpen einsetzte.64 Vor allem in den Grenzstellen und Abschnittsleitungen der KPD entlang der deutschen Grenzen, die eine wichtige Funktion innerhalb der Infrastruktur des kommunistischen Widerstandes spielten, tummelten sich in den Anfangsjahren V-Leute der Gestapo.63 Schließlich waren Gestapo und SD auch über die Aktivitäten konservativer Emigranten im Ausland informiert. So hatte sich etwa der in die Schweiz emigrierte frühere Reichskanzler Joseph Wirth dem für das RSHA tätigen V-Mann Richard Großmann anvertraut und diesen sogar bei dem Sonderemissionär des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, Allen Dulles, eingeführt. 66 Angeleitet wurden die V-Leute teils dezentral von den an den Reichsgrenzen gelegenen N(achrichten)-Referaten der Stapo-Stellen bzw. der Grenzpolizeikommissariate sowie zentral vom Berliner Gestapa bzw. dem RSHA, teils aber auch von den deutschen Auslandsvertretungen. Auf regelmäßig stattfindenden Besprechungen — wie etwa am 28. Oktober 1937 in Flensburg - wurde der V-Leute-Einsatz der verschiedenen Stellen gegen die politische Emigration im angrenzenden Ausland koordiniert. 67 Gleichwohl waren auch V-Leute keine staatspolizeiliche Allzweckwaffe, wie etwa der Fall des Leiters der KPD-Abschnittsleitung in Brüssel, Otto Niebergall, belegt, der sich jahrelang erfolgreich den Nachstellungen der Gestapo zu entziehen vermochte.68 Von diesen V-Leuten, die unter Wahrung ihrer bisherigen Identität ein Doppelspiel betrieben und deren Aufgabe wesentlich in der Informationsbeschaffung bestand, verschieden war eine kleine Gruppe von Gestapo-Agen-
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ten, die gezielt auf Emigranten angesetzt war, Attentatspläne vorbereitete oder Entführungsversuche organisierte. Zu diesen von der Abteilung Sattlers geführten Agenten gehörte die 1906 in Bern geborene und später wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilte Journalistin Carmen Mory. Als »S 11« hatte sie sich 1936 vermutlich aus einem Gemisch von narzißtischem Geltungsdrang und Faszination am Nationalsozialismus verpflichtet, die deutsche politische Emigration in Paris auszukundschaften. Dem Gestapa berichtete sie fortan regelmäßig über Interna der sozialdemokratischen Emigration, über die Verhandlungen zur Bildung einer deutschen Volksfront in Paris, über die Pläne der Führung der Landesgruppe deutscher Sozialdemokraten in Frankreich sowie über die Verbindungen namhafter Emigranten nach Deutschland. Darüber hinaus besorgte sie dem Gestapa Druckschriftenmaterial und Abschriften von Korrespondenzen aus den Redaktionsstuben der Exilpresse. Bei den Vorbereitungen eines von der Gestapo in Auftrag gegebenen Attentats auf den saarländischen SPD-Vorsitzenden Max Braun und den Schriftsteller Helmuth Klotz fiel sie zusammen mit zwei Helfern den französischen Sicherheitsbehörden auf. 69 Insgesamt indes gelang es den Polizeien der Emigrationsländer nur vereinzelt, Gestapo-Agenten habhaft zu werden und sie festzunehmen. 1936 konnte etwa in Prag der Gestapo-Mann Peter Ochmann enttarnt werden, der auf die dortige Emigration angesetzt gewesen war.70 1939 nahm die schwedische Polizei einen GestapoAgenten in Stockholm fest, der nach Deutschland ausgewiesen wurde. 71 Diese Gestapo-Aktivitäten blieben indes nicht unwidersprochen. Sowohl das kommunistische als auch das sozialdemokratische Exil reagierte auf die zunehmende staatspolizeiliche Unterminierung der Emigrantenmilieus durch V-Leute und Agenten mit einer Reihe von Gegen- und Abwehrmaßnahmen, indem es etwa schwarze Listen und eigene Fahndungsblätter erstellte, die die Namen von vermeintlichen V-Leuten enthielten. 72 Die KPD ließ in ihren Kreisen beispielsweise Listen mit den Namen vermeintlicher »Spitzel, Provokateure und Verräter« zirkulieren. 73 Die SOPADE gab zwischen 1934 und 1937 eigene Mitteilungen über das Spitzelwesen heraus. 74 Und auch der Internationale Gewerkschaftsbund stellte seit 1934 eigene Fahndungsblätter mit den Namen von Gestapo-Spitzeln zusammen. 75 Dem Zweck der Agenten- und Spitzelabwehr dienten darüber hinaus die Herausgabe diverser Tarnschriften, die die Methoden der Spitzelwerbung und -tätigkeit beleuchteten, die Einrichtung von Überprüfungskommissionen bzw. der Ausbau eigener Nachrichtendienste wie des AM-Apparates der KPD. 76 Kurt Grossmann warnte 1940 in seinem Manuskript »Die >Fünfte Kolonne< und die deutsche Emigration« am Beispiel der ¿ S R vor den Methoden der deutschen Behörden bei der Einschleusung von Agenten in die Emigration. 77 Nur in den seltensten Fällen gelang es diesen Organisationen allerdings auf diese Weise, im Ausland agierende V-Leute der Gestapo zu enttarnen. 78 Auf
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kommunistischer Seite begünstigte die ständige Bedrohung durch Zersetzung und Unterminierung letztlich die sich radikalisierende Spirale aus geradezu hysterischer Verfolgungsangst und stalinistischem Gegenterror. Ohne die Unterstützung durch andere staatliche Dienststellen und hier insbesondere durch das Auswärtige Amt sowie die deutschen Auslandsvertretungen wäre die Gestapo im Bereich der Emigrantenverfolgung angesichts ihrer begrenzten Personalkapazitäten - ähnlich wie in anderen Verfolgungsbereichen - kaum in der Lage gewesen, ihren Zielsetzungen auch nur ansatzweise zu entsprechen. Vor allem bei der Erfassung und Überwachung der Emigranten erwiesen sich das Auswärtige Amt sowie die deutschen Vertretungen im Ausland als zentrale Kooperationspartner. 79 Entgegen der vielfach kolportierten Auffassung, der Auswärtige Dienst habe sich der nationalsozialistischen Versuchung gegenüber als weitestgehend immun erwiesen, avancierten die diplomatischen Dienststellen schon frühzeitig zu Außendienststellen der Gestapo im Ausland. Nach Lehmann begannen zahlreiche Diplomaten des »Dritten Reiches« ihre Karriere damit, »daß sie politische Emigranten im Ausland nachrichtendienstlich observierten und Hilfsdienste für die Gestapo leisteten«. 80 Seit Beginn des »Dritten Reiches« überwachten Beamte der deutschen Auslandsvertretungen deutsche Emigranten und teilten ihre Ermittlungsergebnisse der Gestapo mit. Sie fertigten Dossiers über die soziale und politische Lage der deutschen Hitlerflüchtlinge in den Zufluchtsländern an 81 oder spielten dem Gestapa Listen mit den Namen von Emigranten zu, die sich zum Militärdienst in Frankreich gemeldet hatten. 82 Wegen der großen geographischen Streuung der Emigranten in Dänemark seien Ermittlungen gegen diese nur mit V-Leuten zu leisten, berichtete die Kopenhagener Gesandtschaft 1937 dem Gestapa nach Berlin und forderte hierfür monatlich 200 Reichsmark ein. 83 Neben der Überwachung und Erfassung der Emigranten kooperierten Gestapo und Auswärtiger Dienst vor allem, wenn es darum ging, den Ausbürgerungsbegehren der Gestapo den außenpolitischen Segen zu erteilen. Darüber hinaus bemühten sich die deutschen Auslandsvertretungen, die Regierungen jener Staaten, in denen deutsche Emigranten Zuflucht gefunden hatten, auf die Grundlinien der NS-Emigrantenpolitik einzuschwören. So unterbreitete der Sekretär der deutschen Gesandtschaft in Prag bereits im Juli 1933 dem tschechoslowakischen Außenministerium eine Vorlage, die den Zweck verfolgte, die Behörden der ¿ S R zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen emigrierte Kommunisten zu veranlassen. 84 So sehr die Gestapo in Deutschland in ihrer alltäglichen Arbeit auf die Zuarbeit durch denunzierende »Volksgenossen« und auf die Kooperation mit den Institutionen des Maßnahmenstaates angewiesen war 85 , so sehr bedurfte sie auch bei der Emigrantenverfolgung jenseits der Reichsgrenzen der Mitarbeit ausländischer Bürger und Einrichtungen. Die Akten der deutschen
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Auslandsvertretungen sind voll von Angeboten von Bürgern der H a u p t e m i grationsländer, für die Gestapo tätig zu werden. 8 6 Bei der Verfolgung der nach D ä n e m a r k emigrierten deutschen K o m m u n i s t e n habe er breite Unterstützung durch einheimische Denunzianten erfahren, gab der C h e f der für die K o m m u n i s t e n b e k ä m p f u n g zuständigen Gestapoabteilung beim C h e f des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des S D in Kopenhagen nach dem Krieg gegenüber einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu Protokoll. 8 7 Darüber hinaus leisteten auch die Sicherheits- und Spionageorgane der Nachbarländer der Gestapo bei der Überwachung und Verfolgung der Emigranten und ihrer Verbindungen nach Deutschland »zum Teil bereitwillig Schützenhilfe«. 8 8 Ein Lagebericht des Gestapa vom 17. Februar 1937 bekannte, daß man dazu übergegangen sei, »jede Gelegenheit wahrzunehmen, um mit der sympathisierenden Politischen Polizei der Deutschland freundlich gegenüberstehenden Länder den K o m m u n i s m u s gemeinsam zu bekämpfen«. 8 9 Vor 1 9 3 9 / 4 0 blieben diese Bestrebungen allerdings eher punktuell und sporadisch und vielfach abhängig von zufälligen politischen Konstellationen bzw. persönlichen Verbindungen. Die Formen dieser Kooperation waren sowohl offiziell-institutionalisierter als auch individuell-zufälliger Art, wobei sich die Gestapo verbreiteter antisemitischer als auch antikommunistischer Ressentiments in den Emigrationsländern geschickt zu bedienen verstand. Bislang sind allenfalls Einzelbeispiele für diese Kooperation bekannt. So wissen wir etwa aus Dänemark, daß dort im gegenseitigen Einvernehmen zwischen G e s t a p o und dänischer Polizei 1935 der deutsche Emigrant H a n s O t t o Ehrke gegen deutsche Emigranten in Kopenhagen ermittelte 9 0 oder das Lübecker Grenzpolizeikommissariat 1 9 3 6 / 3 7 bei der Ü b e r w a c h u n g der kommunistischen Emigration in Kopenhagen über einen Gewährsmann bei der dänischen politischen Polizei verfügte, der unter dem Tarnnamen »Aage« der Gestapo vor allem »in Fragen der B e k ä m p f u n g des K o m m u n i s m u s behilflich« war. 91 Aus Portugal ist bekannt, daß der dortige Geheimdienst bei der Emigrantenverfolgung mit der G e s t a p o zusammenarbeitete. 9 2 Trotz ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik läßt sich demgegenüber für die Schweiz keine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen der Bundesanwaltschaft bzw. der dortigen Bundespolizei und der G e s t a p o nachweisen. Diese blieb vielmehr auf Einzelpersonen begrenzt. 9 3 Anders sah dies in Jugoslawien aus. A u f höchster Ebene fanden dort etwa im April 1 9 3 6 Beratungen zwischen Vertretern der Gestapo und der jugoslawischen Polizei zwecks B e k ä m p f u n g der Emigranten in beiden Ländern statt, an denen auf deutscher Seite Heinrich Müller, Werner Best und Reinhold Heller beteiligt waren, die insbesondere an der Festnahme von O t t o Strasser interessiert waren, den sie in Jugoslawien vermuteten. Vereinbart wurden künftig schnellere gegenseitige Auslieferungen ohne umständliche diplomatische U m w e g e , wobei wir allerdings nicht
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wissen, zu welchen Formen und zu welcher Intensität die vereinbarte Kooperation konkret gelangte. 94 Spätestens seit 1938 kooperierte die Gestapo bei der Bekämpfung der kommunistischen Emigration auch mit der Sicherheitspolizei Hollands und Schwedens. So hatte man im September 1938 holländische und skandinavische Kollegen zu einem Erfahrungsaustausch nach Hamburg eingeladen, der der Bekämpfung der sogenannten Wollweber-Organisation galt. Der Kriegsausbruch unterbrach diese Polizeikontakte zunächst. 1941 konnten die Kontakte zwischen der Gestapo und der schwedischen Sicherheitspolizei im Bereich der Emigrantenverfolgung und hier wiederum vor allem bei der Bekämpfung der Wollweber-Organisation wieder aufgenommen und sogar intensiviert werden, wenngleich es dem RS HA nicht gelang, einen ständigen Vertreter in Stockholm zu stationieren. 9 '' Insgesamt jedoch bleibt bei der Untersuchung der Kooperation von Gestapo und ausländischen Polizeibehörden bzw. Geheimdiensten im Bereich der Emigrantenverfolgung weiterer Forschungsbedarf angemeldet.
III Einen grundlegenden Wandel in der staatspolizeilichen Haltung gegenüber der politischen Emigration brachte die Besetzung der Hauptzufluchtsländer durch deutsche Truppen, da zahlreiche Emigranten jetzt wieder in den Herrschaftsbereich des NS-Regimes gerieten. Mit dem Versuch der systematischen Kontrolle der Hitlerflüchtlinge bzw. der physischen Vernichtung der Führer der politischen Emigration erreichte die Emigrantenverfolgung eine qualitativ neue Stufe, wobei auch hier - ähnlich wie bei der Politik der »Endlösung der Judenfrage« - unklar bleiben muß, ob dieser Prozeß intentional gesteuert war oder sich eher anarchisch entwickelte. Galten Emigranten seit 1933 propagandistisch als auszugrenzende »Volksverräter« und hatte sie die Ausbürgerung später polizeilich zum Freiwild gemacht, so drohte den politisch Aktiven unter ihnen bzw. ihren Repräsentanten seit September 1939 der staatspolizeilich angeordnete Gefangenenmord. Bereits unmittelbar zu Kriegsbeginn hatte Heydrich die außerjustizielle Tötung von Gefangenen sanktioniert, indem er die »brutale Liquidierung« all jener Personen anordnete, die die Geschlossenheit und den Kampfeswillen des deutschen Volkes von innen wie von außen zu zersetzen trachteten. 96 Zu diesem Personenkreis zählte das RSHA vor allem jene Emigranten, die sich aktiv an Widerstandshandlungen der europäischen Befreiungsbewegungen gegen die deutsche Besatzung beteiligten. Allgemein lassen sich folgende staatspolizeilichen Handlungsmuster der Emigrantenbekämpfung während des Krieges unterscheiden: 1. die Rückführung jener Gruppen der politischen Emigration ins »Altreich« und deren Internierung, die als Sicherheitsrisiko und potentielle
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Verbündete des Widerstandes in den besetzten Ländern galten, 2. die physische Vernichtung von politisch aktiven Emigranten an der Seite der europäischen Résistance gegen das NS-Regime, sowie 3. die Konzentrierung und schließlich die Vernichtung der jüdischen Hitlerflüchtlinge ab 1941 im Rahmen der »Endlösung der Judenfrage«. Allerdings breitete sich die Gestapo auch jetzt nicht flächendeckend über Europa aus; schon rein personell wäre sie hierzu gar nicht in der Lage gewesen. In Frankreich etwa verfügte die Sicherheitspolizei (SIPO) - zu der Gestapo, Kriminalpolizei und SD zählten - im April 1943 lediglich über ein Personalvolumen von etwa 2.000 Personen einschließlich Hilfskräften. In Belgien waren es zum selben Zeitpunkt 277, in den Niederlanden 487 und in Norwegen 510 SIPO-Angehörige. In Dänemark schließlich reduzierte sich das Personal der Sicherheitspolizei auf wenige dutzend. Am 1. August 1943 waren insgesamt 39 Mitarbeiter der Gestapo und 18 Angehörige der Kriminalpolizei zum Bevollmächtigten des Reiches in Dänemark in der Kopenhagener Zentrale bzw. in deren Außenstellen in Aalborg, Aarhus, Esbjerg und Odense abgeordnet. 97 Hinzu kam seit 1938 eine Vielzahl neuer staatspolizeilicher Aufgaben, die das vorhandene Personal auch und gerade im besetzten Ausland chronisch überforderte und strukturell von der Zuarbeit durch die einheimischen Polizeibehörden und Gesellschaften abhängig machte. Schlupflöcher und Informationsdefizite waren die unvermeidbare Folge, die man in den Spitzen des RSHA wiederum nur mit einer Forcierung des exemplarischen Terrors auszugleichen hoffte. Die jetzt praktizierten Fahndungsmethoden der Emigrantenverfolgung offenbarten ein doppeltes Vorgehen. Während einerseits die neugebildeten Einsatzgruppen der SIPO und des SD 9 8 sowie weitere polizeiliche Sonderkommandos nach vorbereiteten Listen gezielt nach zur Fahndung ausgeschriebenen Emigranten suchten, bahnte sich andererseits auch bei der Emigrantenverfolgung eine Intensivierung der Kooperationsbeziehungen zwischen der deutschen Besatzung und den Polizeibehörden der jeweiligen Besatzungsländer an. In der Diskussion über die Beteiligung der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD am Holocaust ist weitgehend unbeachtet geblieben, daß auch die politischen Emigranten zu den Gegnergruppen dieser mobilen Fahndungs- und Mordkommandos zählten. Bereits beim »Anschluß Österreichs«, der Besetzung des Sudetenlandes sowie beim Einmarsch in die »Rest-Tschechei« hatten polizeiliche Sondereinheiten mit Hilfe von Fahndungslisten — so Reinhard Heydrich — »heftige Schläge gegen die reichsfeindlichen Elemente in der Welt aus dem Lager von Emigranten, Freimaurerei, Judentum und politisch-kirchlichem Gegnertum sowie der 2. und 3. Internationale geführt«. 9 9 Die »Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD« vom August 1939 für den Polenfeldzug
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bestimmten, daß neben polnischen Bürgern, die sich den deutschen Stellen widersetzten, und den in den Fahndungslisten verzeichneten Personen auch »reichsdeutsche Emigranten« festzunehmen seien. 100 Und auch während des »Westfeldzuges« gehörte die Jagd auf »reichsfeindliche Elemente« nach vorbereiteten »Sonderfahndungslisten« zur allgemeinen Aufgabe der aus Angehörigen der Gestapo, der Kriminalpolizei und des SD gebildeten »Einsatzgruppen«. Ob im Westen, auf dem Balkan oder im Osten — überall zählte die »Erfassung und Überwachung von gegen das Reich gerichteten Bestrebungen der Juden, Emigranten, Logen, Kommunisten und Kirchen« sowie deren »Sicherstellung« nun zu den vorrangigen Aufgaben von SIPO und SD. Erstellt wurden die Fahndungslisten auf der Grundlage der seit 1933 erarbeiteten und in Ländergruppen aufgegliederten »Emigrantenkarthotek« des Gestapa sowie weiterer Spezialkarteien wie etwa der deutschen Spanienkämpfer von den Referaten A 1 und 2 (Politische Gegner, Sabotage), A 3 (Emigranten), B 4 (Juden), C (Karteiwesen), D 3 (Staatsfeindliche Ausländer, Emigranten), D 4 (Besetzte Gebiete) und E (Abwehr) des Gestapo-Amtes IV 101 des RSHA. Die jahrelang recherchierten Emigrantendateien mutierten über Nacht zu Fahndungslisten. In einem Bericht des RSHA über das staatspolizeiliche Fahndungswesen von Anfang 1940 heißt es: »Es war daher eine der Aufgaben der Staatspolizei, sich eine möglichst genaue Kenntnis dieser Emigranten-Organisationen, ihrer personellen Zusammensetzung, ihrer Absichten und Ziele usw. zu verschaffen. Diese Kenntnis läßt sich nur an zentraler Stelle unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Nachrichtenquellen ermöglichen. Aus diesem Grunde müssen die Staatspolizeistellen alle Nachrichten über die Tätigkeit des Gegners außerhalb der Reichsgrenzen an das Gestapa weitergeben. Durch mosaikartige Zusammentragung all dieser Meldungen kann hier dann ein ziemlich wirklichkeitsnahes Bild erstellt werden. Durch die Registrierarbeit war das Amt in der Lage, beim Einmarsch in Österreich, später beim Einmarsch im Sudetenland und in der Tschechei, zuletzt bei der Besetzung Polens die staatspolizeilichen Einsatzkommandos mit zuverlässigen Fahndungslisten auszustatten. Auch für die Erstellung des Fahndungsbuches West bilden die Länderkarteien und die Aufzeichnungen in den Länderakten die wesentlichste Unterlage.« 102 Allein die 5.256 Eintragungen umfassende »Sonderfahndungsliste UdSSR« verzeichnete knapp 2.800 Personen aus dem Umkreis der politischen Emigration sowie der Rußlandauswanderer vor 1933, von denen insgesamt 200 Personen der Gruppe der als besonderes Sicherheitsrisiko eingestuften »Reichsfeinde« zugerechnet wurden. Entgegen dem Perfektheits- und Totalitätsanspruch der Gestapo beinhalteten diese vielfach auf Gerüchten und Vermutungen basierenden Fahndungslisten allerdings zahlreiche Fehlinformationen und manche unpräzisen ideologisch-politischen Zuordnungen, weshalb sie ihren vorgesehenen Zweck nur unvollständig erfüllten. 103 Zudem waren diese Listen
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und Karteien auch in ihrem Erfassungsgrad begrenzt. So wissen wir etwa für Schleswig-Holstein, daß mindestens ein Viertel derjenigen Personen, die von dort nach Skandinavien emigrierten, trotz der Kooperation mit den dortigen Polizeibehörden weder in den einschlägigen Dateien auftauchte noch ausgebürgert wurde. 104 Am 30. Oktober 1940 wies der Chef der SIPO und des SD seine Beauftragten in den besetzten Ländern an, mit Hilfe der Militärverwaltungsbehörden und der einheimischen Polizei alle deutschsprachigen Emigranten und sonstigen Ausländer zu erfassen. Bezüglich der »deutschblütigen Emigranten« verfügte Heydrich, alle aus dem »Großdeutschen Reich« emigrierten Personen festzunehmen, in »Zwischenlagern« zu internieren, gleichgültig, ob eine Ausschreibung festliege oder nicht, und sie für den Fall ihrer Ausschreibung in den diversen Fahndungslisten den betreffenden Staatspolizeistellen ihres letzten Wohnortes in Sammeltransporten zur weiteren Veranlassung zu überstellen. Hinsichtlich der emigrierten Juden bestimmte der Erlaß, diese grundsätzlich ebenfalls zu internieren und unter Bewachung zu stellen, da es dieses Verfahren ermögliche, »daß diese Juden bei einer etwaigen Gesamtevakuierung aus Europa als erste greifbar sind und abtransportiert werden können«. An einer Rückführung von Juden ins »Altreich« bestehe auch weiterhin kein prinzipielles Interesse. 105 Bei der nun massiv einsetzenden staatspolizeilichen Verfolgung der deutschsprachigen politischen Emigration zeigte sich, daß die Polizeibehörden der meisten Besatzungsländer zum Teil in vorauseilendem Gehorsam bereit waren, ihr Asylrecht der Kollaboration zu opfern und mit der deutschen Sicherheitspolizei bzw. der Gestapo zusammenzuarbeiten. Noch am ehesten sind wir derzeit über das Verhalten der dänischen und der französischen Behörden informiert. So ist bekannt, daß etwa die dänische Polizei im Kontext der von der Kopenhagener Regierung betriebenen Politik der Staatskollaboration der Gestapo im Februar 1941 nicht nur ihre umfangreiche Flüchtlingskartei zur Verfügung stellte, sondern der deutschen Besatzungsmacht darüber hinaus auch weitere Dateien und Akten zur Einsicht anbot, um die sie gar nicht gebeten worden war. Diese Informationen setzten die Gestapo erst in die Lage, alle jene Emigranten zu benennen, die festgenommen, interniert und ausgeliefert werden sollten. 106 Nachdem das Gestapa bereits 1937 erfolglos die Entsendung eines Spezialfachmanns mit Diplomatenstatus nach Paris beantragt hatte 107 , um vor Ort die Maßnahmen gegen die dort tätigen Emigranten konzipieren bzw. koordinieren zu können, traf im Juni 1940 ein Kommando des RSHA in Paris ein, zu dessen Aufgaben unter anderem die »Erfassung und Überwachung der Juden, Kommunisten, Emigranten, Logen und Kirchen« zählte.' 0 8 Auch in Frankreich begann nun eine intensive Zusammenarbeit zwischen Gestapo und den einheimischen Polizeibehörden bei der Verfolgung von politi-
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sehen Emigranten, die sich später auf die Judenverfolgung ausdehnen sollte. Mit Artikel 19 des deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommens vom 22. Juni 1940, wonach »alle in Frankreich sowie den französischen Besitzungen usw. befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden konnten, auf Verlangen auszuliefern« waren, verfügten die nationalsozialistischen Okkupanten über völkerrechtlich »abgesicherte« Mittel, um die Treibjagd auf nach Frankreich geflüchtete »Volksverräter und -feinde« zu eröffnen. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Abkommens hatte das RSHA von der deutschen Waffenstillstandskommission in Wiesbaden gefordert, die französische Regierung zu veranlassen, die Liste jener Deutschen zu übermitteln, die seit dem 30. Januar 1933 in Frankreich wohnten und noch dort weilten sowie derjenigen, die sich hatten naturalisieren lassen. Insbesondere zeigte sich Heydrich an der Rückführung der ausgebürgerten Emigranten interessiert und hier wiederum vor allem an der der Prestatäre und Spanienkämpfer. Sowohl im besetzten wie im unbesetzten Frankreich verlief die Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Polizeibehörden bei der Verfolgung der deutschsprachigen Emigranten nahezu reibungslos. Schon aufgrund ihres begrenzten Personalbestandes pflegte die Sicherheitspolizei vor allem bei der Bekämpfung der kommunistischen Emigration in Frankreich »äußerst enge Kontakte mit den zuständigen französischen Polizeibeamten«. 109 Insbesondere auf regionaler Ebene verlief die Zusammenarbeit bis zur Kriegswende von 1943/44 durchaus harmonisch, kooperativ und auf französischer Seite vielfach übereifrig. Großrazzien der französischen Polizei fanden statt, bei denen sich die Gestapo kaum einmal selbst die Hände schmutzig zu machen brauchte. 110 Darüber hinaus allerdings spürte diese seit Beginn der Besetzung auch mit Hilfe von eigenen V-Leuten, wie dem von Bruno Sattler geführten, aus dem KZ Dachau entlassenen ehemaligen Sozialdemokraten Gustav Regitz (»S 1 2 « ) ' " , durchaus erfolgreich gesuchten deutschen politischen Emigranten nach. Auch im unbesetzten Frankreich stellten sich der Kollaboration keine massiven Hindernisse in den Weg. Zunächst wurde der sogenannten »KundtKommission«, der auch drei Vertreter des RSHA angehörten, bei ihrer Inspektionsreise durch die Lager und Gefängnisse des unbesetzten Frankreich eine Liste von insgesamt 7.500 »Reichsdeutschen« und 2.000 Prestatären überreicht. 112 In einem Schreiben an den Chef der deutschen Kriminalpolizei in Vichy vom 21. April 1941 beeilte sich der französische Innenminister mitzuteilen, daß es ihm zur »Ehre« gereiche, den deutschen Auslieferungsforderungen zu entsprechen. In Vollzug des Waffenstillstandsabkommens wurden zwischen Februar 1941 und November 1942 - dem Zeitpunkt der vollständigen Besetzung Frankreichs - eine bislang noch immer unbekannte Anzahl deutscher politischer Emigranten durch den Generalsekretär der
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Vichy-Regierung an die deutsche Sicherheitspolizei ausgeliefert und nach Deutschland deportiert. 1 1 3 Hierzu zählten einige hundert Saaremigranten, die wegen ihres Widerstandes im Exil bzw. wegen ihrer Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg oder dem Eintritt in das französische Heer unter Anklage gestellt bzw. unter Umgeh u n g der Justiz einem Konzentrationslager zugeführt wurden. Mindestens 291 von ihnen passierten zwischen 1941 und 1944 das Saarbrücker Gefängnis auf dem Weg in innerdeutsche Gefängnisse und Konzentrationslager. 114 Eine weitere Sondergruppe bildeten die Spanienkämpfer, nach denen Gestapo-Kommandos nun auch in spanischen Gefangenenlagern fahndeten und von denen eine bislang ebenfalls nicht näher zu beziffernde Zahl entweder direkt vom Franco-Regime an das »Dritte Reich« ausgeliefert wurde oder über den Umweg der südfranzösischen Internierungslager in den Machtbereich des NS-Regimes geriet und an die zuständige Stapo-Stelle ihres letzten Wohnortes ausgeliefert wurde. 1 1 5 Vor allem aber an der Emigrantenprominenz — wie etwa dem Kommunisten Siegfried Rädel oder dem Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid, die beide später von den Nationalsozialisten ermordet wurden — war die Gestapo interessiert, da man hoffte, durch sie weitere Aufschlüsse über Struktur und Tätigkeit der politischen Emigration zu gewinnen. Die Mehrzahl der Ausgelieferten und Zurückgeführten wurde von deutschen Gerichten wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« bzw., wenn es sich um Prestatäre bzw. Spanienkämpfer handelte, wegen »landesverräterischer Waffenhilfe und Feindbegünstigung« zu langjährigen Freiheitsstrafen und nicht selten — wie etwa der Journalist Helmuth Klotz 116 - zum Tod verurteilt. Mit jenen Emigranten, die sich in den besetzten Ländern wie etwa in Frankreich an der Seite der europäischen Widerstandsbewegungen gegen die deutsche Besatzung beteiligten, machte das NSRegime in aller Regel »kurzen Prozeß«. 117 Hatte sich das NS-Regime an den jüdischen Emigranten aus Deutschland bislang nicht sonderlich interessiert gezeigt, ja noch im Oktober 1940 Juden aus Südwestdeutschland zwangsweise nach Frankreich abgeschoben 118 , so markierte das Auswanderungsverbot vom Oktober 1941 auch hier einen prinzipiellen Wandel auf dem Weg hin zur physischen Vernichtung der Juden Europas, in den seit Herbst 1941 auch die jüdischen Emigranten aus Deutschland, insofern sie sich noch im Machtbereich des NS-Regimes befanden, einbezogen wurden. 1 1 9 Einen H ö h e p u n k t der Kollaboration von Gestapo und ausländischen Polizeibehörden bildete zweifellos die immer noch viel zu wenig untersuchte Zusammenarbeit zwischen deutschen und sowjetischen Behörden in der Folge des Hitler-Stalin-Abkommens vom 23. August 1939, die keineswegs nur auf die diplomatische Ebene beschränkt war. Noch im selben M o n a t sprach das Gestapa von 4.300 staatspolizeilich erfaßten Rußlandrückkehrern aus
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der Sowjetunion, von denen die Mehrzahl ausgewiesen worden war. 1 2 0 Auf Initiative deutscher Sicherheitsbehörden lieferte die Sowjetunion im Zeitraum zwischen Herbst 1939 und Juni 1941 mehr als 1.200 deutsche Staatsbürger - darunter mehrere hundert inhaftierte deutsche u n d österreichische Kommunisten und jüdische Emigranten — unmittelbar an das N S - R e g i m e aus, was nicht ohne die Zusammenarbeit zwischen RS H A und N K W D möglich war. 1 2 1 Anfang Dezember 1939 wies das Kommunismus-Referat II A 1 des Gestapo-Amtes des R S H A so etwa die K o m m a n d e u r e der Sicherheitspolizei und des S D in Warschau und Krakau an, sich mit d e m N K W D in Brest-Litowsk und Przemysl in Verbindung zu setzen, u m einen »reibungslosen« Grenzübertritt der unfreiwilligen Rückkehrer sicherzustellen. 1 2 2 Hatte bei den sowjetischen Abschiebungen der Jahre 1937/38 noch die M ö g lichkeit bestanden, sich in Polen abzusetzen, so lieferten nun N K W D - M i t arbeiter persönlich die vom R S H A gewünschten Personen an der Grenze an Gestapo-Beamte und damit oft genug direkt in die Konzentrationslager aus. Die letzte Phase der staatspolizeilichen Emigrantenverfolgung bildete schließlich die Fahndung nach jenen ehemaligen Emigranten, die nach der Ü b e r w i n d u n g der Sinnkrise des Widerstandes entweder im Parteiauftrag von der Sowjetunion aus als Instrukteure oder Agenten illegal nach Deutschland zurückbeordert wurden, um hier den zum Erliegen g e k o m m e n e n k o m m u nistischen W i d e r s t a n d zu reaktivieren, oder als sogenannte »Guides« im Auftrag von amerikanischen und britischen Geheimdiensten nach Deutschland zurückkehrten, um hier M a ß n a h m e n zur Vorbereitung der alliierten Besetzung zu treffen. 1 2 3 Zu diesen Kommandos zählten etwa kommunistische Emigranten wie Arthur Emmerlich, W i l h e l m Knöchel u n d Jakob Welter oder die sogenannten Fallschirmagenten wie W i l h e l m Fellendorf, Erna Eifler, Elvira Eisenschneider und Käthe Niederkirchner, die samt u n d sonders, w e n n sie nicht bereit waren, für die Gestapo zu arbeiten, von der N S - S o n derjustiz wegen »Vorbereitung z u m Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Schwächung der inneren Front« z u m Tode verurteilt oder außerjustiziell in staatspolizeilicher KZ-Haft erschossen w u r d e n . ' 2 4 Von alled e m aber erfuhr man in den außereuropäischen Emigrationsländern u n d in Großbritannien zu dieser Zeit nur mehr in Einzelfällen.
IV U m die konkreten W i r k u n g e n der staatspolizeilichen Emigrantenverfolgung zumindest ansatzweise bestimmen zu können, erscheint es notwendig, Institutionen- und sozialgeschichtliche Betrachtungsweisen m i t e i n a n d e r zu verzahnen. Bei der Beurteilung der Auswirkungen der staatspolizeilichen Emigrantenverfolgung sind meines Erachtens mehrere Faktoren zu berück-
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sichtigen. Wie wir sahen, agierte die Gestapo weder im Inland noch im Ausland im luftleeren Raum. Ihre M a ß n a h m e n waren keine Selbstläufer, sondern unter anderem von den Strukturen der Exilmilieus, den dort praktizierten Formen der Konspiration, der Lernfähigkeit der Emigranten sowie vom Verhalten der Gesellschaften in den Zufluchtsländern abhängig und beeinflußt. So wie Martin Broszat schon vor Jahren die Widerstandsforschung auf die Interdependenzen von Repression und Widerstand hingewiesen hat, gilt es in der Exilforschung, die wechselseitigen Abhängigkeiten von (staatspolizeilicher) Repression und Leben in den Exilzusammenhängen zu berücksichtigen. Aus einer Perspektive »von unten« ist zunächst die Einschätzung Hans Georg Lehmanns zu relativieren, der die Ausbürgerungen als »schärfste Waffe des NS-Regimes« bezeichnet hat, das dieses benutzte, um die politische Emigration zu bekämpfen und zu diskreditieren. 125 Das war aus der Sicht des NS-Regimes gewiß zwar so gemeint, realiter indes sind auf der Wirkungsebene Zweifel an dieser These anzumelden, da überhaupt nur ein Teil der Emigranten ausgebürgert wurde, andere oft erst Jahre später von ihrer Ausbürgerung erfuhren oder real von der Strafmaßnahme des NS-Staates in ihrem Verhalten gar nicht tangiert waren. Die Waffe der Ausbürgerung blieb vielfach stumpf. Auch der von der älteren Totalitarismustheorie herrührende Topos der flächendeckenden Erfassung und Überwachung bedarf der Relativierung. Noch weniger als in Deutschland selbst war die Gestapo aufgrund ihrer begrenzten personellen Kapazitäten und der ständigen Inflation ihrer Aufgaben im Ausland sowohl vor als auch nach 1939 zu einer lückenlosen Erfassung und Überwachung der Emigranten in der Lage. Die Dateien und Fahndungslisten der Gestapo waren nie vollständig; die staatspolizeiliche Informationsbasis blieb punktuell, so daß Schlupflöcher für Emigranten die Folge waren. Nicht wenigen von ihnen gelang es daher, abzutauchen und sich zum Teil dauerhaft dem staatspolizeilichen Zugriff zu entziehen. Z u d e m erwiesen sich auch die Emigrantenmilieus als durchaus lernfähig, indem sie als Reaktion auf die staatspolizeilichen Methoden immer wieder neue Formen der Konspiration und der Abschottung entwickelten. Strukturell abhängig war der staatspolizeiliche Zugriff vor allem von einer Reihe endogener wie exogener Faktoren, zu denen einerseits die Kollaborationsbereitschaft der Polizeibehörden und Gesellschaften in den Zufluchtsländern, andererseits aber auch die Solidarität und Integrationsbereitschaft der Menschen in diesen Ländern gegenüber den deutschen Emigranten sowie schließlich die Kohärenz der Exilmilieus und ihre Fähigkeit zu klandestinem Verhalten zählten. So wurden etwa die Erfolge des V-Leute-Einsatzes wesentlich durch Formen mangelnder Konspiration, beibehaltene Milieupraktiken oder auch die soziale Atomisierung von Emigranten begünstigt, die den V-
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Personen der Gestapo Zugang zu den Emigrantenmilieus verschafften. 1 2 6 M i t u n t e r allerdings bedurfte es des staatspolizeilichen Zugriffs gar nicht, sondern trieb vor allem die verhängnisvolle und desillusionierende Politik der KPD Emigranten zurück in den Schoß der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«, so d a ß das R S H A im August 1940 feststellen konnte, »daß eine Vielzahl von kommunistischen Funktionären, die noch bis zu Beginn des Krieges in der Emigration die kommunistischen antifaschistischen T h e sen eifrigst verfochten und gegen das Dritte Reich arbeiteten, heute zurück und in die Volksgemeinschaft a u f g e n o m m e n werden wollen. Lieber in einem deutschen Zuchthaus die verdiente Strafe absitzen, so sagen sie, als fern der H e i m a t ein >verlassenes< Leben führen ohne Aussicht auf Erfolg der seit Jahren erkämpften kommunistischen Ideale.« 1 2 7 Oder denken wir an die Auslieferung deutscher Emigranten aus der Sowjetunion infolge des Hitler-Stalin-Abkommens. Das Scheitern gerade des k o m m u n i s t i s c h e n Exilwiderstandes war so zu einem guten Teil hausgemacht u n d nicht einfach nur der Gestapo zuzuschreiben. Umgekehrt gilt, d a ß deutsche Emigranten dort, wo es ihnen gelang, funktionierende Lebenszusammenhänge im Exil zu begründen, wo sie sozial verläßlich in die Gesellschaften bzw. Widerstandsbewegungen der Zufluchtsländer integriert waren oder sie intelligente Formen klandestinen Verhaltens und Abtauchens entwickelt hatten, weniger Opfer der Nachstellungen der Gestapo wurden als dort, wo sie diesen atomisiert und hilflos gegenüberstanden. Möglicherweise waren schließlich die mittelbaren, z u m Teil von der Gestapo b e w u ß t gar nicht intendierten u n d indirekten W i r k u n g e n auf das politische Exil sehr viel folgenreicher als die unmittelbaren Formen der staatspolizeilichen Emigrantenverfolgung. Hierzu zählten etwa ein durch außenpolitische Drohungen des NS-Regimes provoziertes asylfeindliches Klima in den Zufluchtsländern oder die in den Emigrantenmilieus grassierenden vielfältigen Formen der Spitzelphobie und die allgemeine Herrschaft des Verdachts, die Solidaritätsstrukturen unterminierten und eigene rigide Kontrollu n d Bespitzelungsmechanismen begründeten, die zahlreiche Emigranten in die Verzweiflung oder in den Strudel der Stalinschen »Säuberungen« rissen.
* Für kritische Lektüre und weiterführende Hinweise bedanke ich mich bei T h o m a s Pusch (Flensburg) und Klaus-Michael M a l l m a n n (Saarbrücken).
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1 Kritisch zum Gestapo-Mythos vor allem Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: »Allwissend, allmächtig, allgegenwärtig? Gestapo, Gesellschaft und Widerstand«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), S . 9 8 4 - 9 9 9 ; Robert Gellately: »Allwissend und allgegenwärtig? Entstehung, Funktion und Wandel des Gestapo-Mythos«. In: Gerhard Paul/KlausMichael Mallmann (Hg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Darmstadt 1995, S. 4 7 - 7 0 . — 2 Franz Vogt: »Die Lage der deutschen Bergarbeiter«. In: Detlev J. K.Peukert/Frank Bajohr: Spuren des Widerstands. Die Bergarbeiterbewegung im Dritten Reich und im Exil. München 1987, S. 140. — 3 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4 (1938), S. 864, 866. — 4 Manuskript undat. (1935), Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO), I 2/705/12, Bl. 71. — 5 Jacques Delarue: Geschichte der Gestapo. Königstein i. Ts. 1979. — 6 Zit. nach Herbert E. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933—1939. Meisenheim am Glan 1973, S. 141. — 7 Siehe hierzu die entsprechenden Passagen im Ausbürgerungsgesetz vom 14.7.1933, Reichsgesetzblatt I 1933, S.480, abgedruckt bei Hans Georg Lehmann: In Acht und Bann. Politische Emigration, NS-Ausbürgerung und Wiedergutmachung am Beispiel Willy Brandts. München 1976, S. 275 f., sowie allgemein zum Begriff der Volksgemeinschaft im NS-Recht Michael Stolleis: »Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Dritten Reich«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 16 ff. — 8 Erlaß Preuß. Ministerpräsident v. 15.1.1934, Institut für Zeitgeschichte (IfZ), MA 435, Bl. 7545. — 9 Völkischer Beobachter v. 30.8.1933. — 10 Siehe Norbert Kampe: »>Endlösung< durch Auswanderung? Zu den widersprüchlichen Zielen antisemitischer Politik bis 1941«. In: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. München 1989, S. 8 2 7 - 8 4 3 ; Susanne Heim: »Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft seinDie >braune Pest< kommt...< Aspekte der Verfolgung Frank Arnaus im Exil 1933/34«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 3 (1985), S. 158-172. — 15 Ministerialblatt für die Preußische Innere Verwaltung 1933 I, Sp.503. — 16 Werner Best: »Die Geheime Staatspolizei«. In: Deutsches Recht H. 718 (1936). — 17 Undatiertes internes Dienstpapier »Die Grenzpolizeidienststellen als Außenstellen der Geheimen Staatspolizei«, Bundesarchiv Koblenz (BÄK), R 58/241. Erstmals zur Struktur und Tätigkeit der Grenzpolizeikommissariate am Beispiel von Lübeck und Flensburg jetzt Gerhard Paul: Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung. Die Gestapo in Schleswig-Hobtein. Hamburg 1996, sowie ders.: Flensburg meldet... Flensburg und das deutsch-dänische Grenzgebiet im Spiegel der Berichterstattung der Gestapo und des Sicherheitsdienstes (SD) des Reichsführers-SS 1933-1945- Flensburg 1997. — 18 Geschäftsverteilungsplan des Gestapa v. 22.1.1934, BÄK, R 58/840; zu den Zuständigkeiten der zentralen Gestapo-Behörden in Emigrantenangelegenheiten siehe auch Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a. a. O., S. 69 f. — 19 Siehe Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh: Zentrale des Todes. PrinzAlbrecht-Straße 8: Hauptquartier der Gestapo. Berlin 1987, S. 84. — 20 Ebd., S. 78, 84 und 107 f. — 21 Siehe exemplarisch für die Stapo-Stelle Kiel, die seit 1937 für das gesamte Gebiet des heutigen Schleswig-Holstein zuständig war, Paul: Staatlicher Terror, a.a.O., S.47 und 54; vgl. auch den Geschäftsverteilungsplan der Staatspolizeileitstelle Stuttgart v. 1.4.1944, BÄK, R 58/1112. — 22 Undatiertes Papier »Die Grenzdienststellen als Außenstellen der Geheimen Staatspolizei«, ebd., R 58/241. — 23 Siehe Elisabeth Kohlhaas: »Die Mitarbeiter der
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regionalen Staatspolizeistellen. Quantitative und qualitative Befunde zur Personalausstattung der Gestapo«. In: Paul/Mallmann (Hg.): Die Gestapo, a.a.O., S. 2 1 9 - 2 3 5 . — 24 Ausführlich zu Müller jetzt Andreas Seeger: » Gestapo-Müller«. Die Karriere eines Schreibtischtäters. Berlin 1996. — 25 Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem (GStA), Rep. 90, 951; Rep. 90 P, 4,5; Bundesarchiv Berlin-Abteilung Zehlendorf (BAZ), Personalakte Reinhold Heller; Christoph Graf: Politische Polizei zwischen Demokratie und Diktatur. Die Entwicklung der preußischen Politischen Polizei vom Staatsschutzorgan der Weimarer Republik zum Geheimen Staatspolizeiamt des Dritten Reiches. Berlin 1983, S. 352 f. Beim Einmarsch der Roten Armee in Berlin soll sich Heller erschossen haben. — 26 GStA, Rep. 90 P, 4; BAZ, Personalakte Bruno Sattler; Graf: Politische Polizei, a. a. O. S. 378. Sattler wurde nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone zum Tode verurteilt und hingerichtet. — 27 Zu ergänzen wäre, daß deutsche Emigranten zusätzlich zu der Überwachung durch deutsche Stellen auch der Überwachung durch ausländische Polizeibehörden und Geheimdienste unterlagen; siehe hierzu beispielhaft für die Gruppe der Schriftsteller im amerikanischen Exil Alexander Stephan: Im Visier des FBI. Deutsche Schrifisteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste. Stuttgart — Weimar 1995. — 28 Siehe Tutas: Nationalsozialismus und Exil, S. 82 ff. — 29 BÄK, R 58/269; siehe auch R 43 11/137 b. — 30 Erlaß /Auswärtiges Amt, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), Missionsakten Prag 51/5. — 31 Siehe etwa den Erlaß der Bayerischen Politischen Polizei betr. Erfassung von Emigranten und Maßnahmen gegen Rückwanderer, Pfälzisches Landesarchiv Speyer, H 38/1393. — 32 Siehe etwa die von der Staatspolizeistelle Kiel geführte Emigrantenliste, Landesarchiv Schleswig (LAS), Abt. 455/9, auszugsweise als Faksimile abgedruckt bei Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S. 42 f. — 33 BÄK, R 58/243. — 34 PA AA, Ref. Deutschland Po.5 N. E. adh. 4. Allg. Ausführlich zur Observierung der politischen Emigration durch den auswärtigen Dienst Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S. 58 ff. — 35 IfZ, Fb/226. — 36 Die Mehrzahl dieser Observierungsakten befindet sich in den Beständen R 58 und St.3 bzw. PSt.3 des Bundesarchivs. — 37 Exemplarische Lageberichte zur politischen Emigration in Dänemark und zur Grenzarbeit finden sich abgedruckt im Quellenanhang bei Paul: Staatlicher Terror, a.a. O., S. 407 ff. und 411 ff. — 38 Siehe hierzu ausführlich Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S. 50 ff., ders.: »Acht und Ächtung politischer Gegner im Dritten Reich«, a.a.O., S. IX-XL; Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a.a.O., S. 139ff. — 39 PAAA, Inland II A/B, 355/2. — 40 Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S. 125 ff. — 41 IfZ, MA 435, Bl. 7544 f.; ausführlich zur Behandlung der Rückwanderer Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a.a.O., S. 105 ff.; speziell zur Behandlung der sogenannten »Rußlandrückwanderer« siehe Carola Tischler: Flucht in die Verfolgung. Deutsche Efnigranten im sowjetischen Exil 1933 bis 1945. Münster 1996, S. 119 ff. — 42 Patrik von zur Mühlen: Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939. Bonn 1983, S. 261. — 43 Werner Best an Stapo-Stellen v. 25.1.1938, IfZ, MA 443/9401 ff. — 44 Siehe die entsprechenden Erlasse des Gestapa v. 25.1.1938 bzw. 5.8.1939, IfZ, MA 443 und 444/3. Siehe auch die Sammlung von Erlassen betr. Fremdenlegionären, Rußlandheimkehrern, Emigranten und Prestatären, BÄK, R 58/269. — 45 Runderlaß/Auswärtiges Amt v. 31.5.1935, PA AA, Missionsakten Bern 530/1. — 46 Dabei gilt es allerdings auch zu berücksichtigen, daß etliche kommunistische Emigranten gezwungen wurden, im Parteiauftrag nach Deutschland zurückzukehren, womit sie in etlichen Fällen damit geradewegs in die Arme der Gestapo gerieten. — 47 BÄK, R 58/269, abgedruckt bei Hans Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937-1941. Frankfurt/M. 1990, S. 173 ff. — 48 Erste Auswertungsergebnisse des IZRG-Forschungsprojektes von Thomas Pusch (Flensburg) zur Emigration von Schleswig-Holsteinerlnnen nach Skandinavien und deren Remigration nach 1 9 4 5 . - 4 9 Erlaß/Chef der Sicherheitspolizei und des SD v. 30.10.1940, BÄK, R 58/269. — 50 Zu beiden Fällen ausführlich Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a.a.O., S. 166 ff., 188 ff. — 51 PA AA, Rechtsabteilung Geheim Ref. XIV, Schweiz, Streitfall Jacob; siehe Jost Nikolaus Willi: Der Fall Jacob — Wesemann. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweiz in der Zwischenkriegszeit. Bern - Frankfurt/M. 1972; Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933—1945, Bd.4: Die Zeitungen des deutschen Exils in Europa 1933 bis 1939
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in Einzeldarstellungen. München - Wien 1990, S.61 ff. Eine weitere Entführung galt dem aus München stammenden Reichsbanner-Führer und Mitarbeiter des SOPADE-Grenzapparates Josef Lampersberger, den die Gestapo 193 5 aus der Tschechoslowakei nach Deutschland verschleppte; zum Entführungsfall Lampersberger ausführlich Hartmut Mehringer: Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. München-London-New York-Paris 1989, S. 114. Ebenfalls aus Portugal versuchte das RSHA den ehemaligen Führer der österreichischen Vaterländischen Front, Guido Zernatto, nach Deutschland zu verschleppen, was allerdings mißlang. PA AA, Inland II g 2 7 / 8 3 - 7 5 . — 52 Gerhard Paul: Max Braun. Eine politische Biographie. St. Ingbert 1987, S. 189 f. — 5 3 Bundesarchiv Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten (BA-ZA), ZB 7126, A.3. — 54 Gestapa-Geheimpapier »Vertrauensleute«, BÄK, R 58/763. — 55 Ebd. allgemein zu den V-Leuten der Gestapo Klaus-Michael Mallmann: »Die V-Leute der Gestapo. Umrisse einer kollektiven Biographie«. In: Paul/Mallmann (Hg.): Die Gestapo, a.a.O., S. 2 6 8 - 2 8 7 ; speziell zu den in der Emigration eingesetzten VLeuten und Agenten auch Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a.a.O., S. 88 ff. — 56 Gestapa an Stapo(leit)stellen v. 1.2.1937, BA-ZA, ZB 7126 A.3. — 5 7 Zahlreiche Beispiele für solche im V-Leute-Einsatz tätigen Emigranten finden sich etwa für Frankreich in Klaus-Michael Mallmann /Gerhard Paul: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich. Bonn 1991, S. 215 ff-, für Dänemark bei Paul: Staatlicher Terror, a. a. O., S. 133 ff., sowie allgemein bei Bernd Kaufmann, Eckhard Reisener, Dieter Schwips, Henri Walther: Der Nachrichtendienst der KPD 1919-1937. Berlin 1993, etwa S. 413 ff. — 58 Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S.44. — 59 Ausführlich zu »S 3« und zum V-Leute-Einsatz gegenüber der sozialdemokratischen Grenzarbeit im Norden Paul: Staatlicher Terror a.a.O., S. 140ff., sowie Ludwig Eiber: »V-Männer der Gestapo im Einsatz gegen das Grenzsekretariat in Kopenhagen«. In: Einhart Lorenz u. a.(Hg.): »Ein ganz trauriges Kapitel«? Hitlerflüchtlinge im Norden. Hamburg 1 9 9 7 . — 6 0 BÄK, R 58/7; siehe etwa den Bericht von »S 4« v. 14.6.1935, e b d . — 61 Aktennotiz Sattlers v. 4.9.1936, als Faksimile abgedruckt in der Broschüre In Sachen Kriedemann, S. 12 f., die in der unmittelbaren Nachkriegszeit vom Vorstand der K P D in Frankfurt a.M. herausgegeben wurde. Das hier zitierte Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Archivs der Sozialen Demokratie (AdSD) in Bonn. Kriedemann gab nach 1945 an, sich mit Wissen von Parteifreunden der Gestapo als V-Mann zur Verfügung gestellt zu haben; vgl. Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1. München u.a. 1980, S. 397. — 62 SAPMO I 2/3/95; zahlreiche Fälle von Gestapo-V-Leuten innerhalb der kommunistischen Emigration sind belegt bei Kaufmann u. a.: Der Nachrichtenapparat der KPD, a. a. O., bes. S. 317 ff. und 407 ff. — 6 3 Ebd., S.415. — 6 4 Dieter Nelles: »Jan Valtins Tagebuch der Hölle< - Legende und Wirklichkeit eines Schlüsselromans der Totalitarismustheorie«. In: 1999 1 (1994), S. 1 1 - 4 5 . — 65 Für die KPD-Abschnittsleitung Saarpfalz im lothringischen Forbach siehe Gerhard Paul/KlausMichael Mallmann: Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bonn 1995, S. 411 ff. — 6 6 Ulrich Schlie: »Diener vieler Herren. Die verschlungenen Pfade des Reichskanzlers Joseph Wirth im Exil«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.2.1997; siehe auch den Beitrag von Ulrich Schlie in diesem Jahrbuch. — 6 7 Siehe hierzu Paul: Staatlicher Terror, a.a.O., S. 142 f. — 6 8 Paul/Mallmann: Milieus und Widerstand, a.a.O., S.413. — 6 9 BA-ZA, Z / C 13938 B d . 1 8 - 2 0 ; zu Carmen Mory siehe Gerhard Paul: »Carmen Mory: Wie eine Berner Arzttochter zur Spionin der Gestapo wurde«. In: Die Weltwoche (Zürich) v. 28.7.1994. — 7 0 AdSD, Emigration-Sopade 9. — 7 1 PA AA, Inland II AI B 8 3 - 6 0 . — 7 2 Diverse Spitzelwarnlisten befinden sich im SAPMO, I 2/705/12, sowie im Bundesarchiv Abteilungen Potsdam (BAP), PSt.3/262; BA-ZA, Z C 20052, Bd. 12. — 7 3 BÄK, R 58/641, Bl. 167 ff. — 7 4 Ebd., R 58/517. — 7 5 Ebd. — 7 6 Für die ExilKPD siehe Kaufmann u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, a . a . O . Die Bezeichnung AM bedeutet »Abteilung Militärpolitik«. Diese war für Nachrichtenfragen, gegnerische Zersetzung und die Abwehr von V-Leuten und Agenten zuständig. — 7 7 IfZ, Ed 201/3. — 7 8 Siehe die Beispiele Kaufmann u.a.: Der Nachrichtenapparat der KPD, a.a.O., S.413ff- — 79 Siehe etwa die Runderlasse v. 19.9.1933, 11.11.1935 und v. 18.2.1936, PAAA, Inland II A/B, 121/1, 115/4, 122/2; siehe Tutas: Nationalsozialismus und Exil, a.a.O., S. 67 ff., 73 ff.
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Gerhard Paul
— 80 Lehmann: »Acht und Ächtung politischer Gegner im Dritten Reich«, a.a.O., S. XIII. — 81 Siehe etwa den Bericht der Deutschen Gesandtschaft in Oslo v. 5 5.1939 zur Lage der sudetendeutschen Flüchtlinge in Norwegen, IfZ, MA 702. — 82 PA AA, Inland II A/B. — 83 Bericht/Gesandtschaft Kopenhagen v. 18.2.1937, ebd. 8 3 - 7 6 . — 84 Rainer Marwedel: Theodor Lessing 1872-1933• Eine Biographie. Darmstadt-Neuwied 1987, S.348. — 85 Siehe Paul/Mallmann (Hg.): Die Gestapo, a.a.O. — 86 PA AA, Inland II A/B 8 3 - 6 0 . — 87 Bilag til Beretning til Folketinget, afgivet at den af finget under 15-Juni 1945 nedsatte kommission i henhold tilgrundlovens § 45. VII / Bd.2. Kopenhagen 1950, S. 926; siehe auch Gerhard Paul: »Hans Hermannsen. Flensburgs Gestapo-Chef«. In: Verfahrt. Verfolgt. Verschleppt. Aspekte nationalsozialistischer Herrschaft in Flensburg. Flensburg 1996, S. 119. — 88 Kaufmann u.a.: Der Nachrichtendienst der KPD, a.a.O., S.318. — 89 BAP, PSt.3/45. — 90 PA AA, Missionsakten Kopenhagen 49/203. — 91 BAP, PSt.3/42, B1.363 f.; siehe auch Paul: Staatlicher Terror, a. a. O., S. 138, 339 ff. — 92 Siehe Antonio José Telo: Propaganda e Guerra Secreta em Portugal 1939-1945. Lisboa 1990. — 93 Sodas Resümee von Hermann Wichers: Im Kampf gegen Hitler. Deutsche Sozialisten im Schweizer Exil 1933—1940. Zürich 1994, S. 80 ff. — 94 GStA, Rep. 90 P Nr. 1, H. 2. — 95 Siehe Klaus-Richard Böhme: »Svensk polis och Gestapo«. In: Bo Hugemark (Hg.): 1 orkanens öga. 1941 — osäker neutralitet. Stockholm 1992; Michael F. Scholz: Herbert Wehner in Schweden 1941-1946. München 1995, S. 30 f., 43 ff.; Jan v. Flocken/Michael F. Scholz: Ernst Wollweber. Saboteur, Minister, Unperson. Berlin 1 994, S. 97 ff. Zur Zusammenarbeit der Gestapo mit der belgischen und niederländischen Polizei siehe Rudi van Doorslaer/Etienne Verhoegen: »L' Allemagne Nazie, la Police Belgie et l'Anticommunisme en Belgique (1936— 1944) — Un Aspect des Relations Belgo — Allemandes«. In: Revue Beige d'Histoire Contemporaine 17 (1986), S. 61 - 125; Bob Moore: »Unreliable Neighbours: The Impact of Nazi Rule in German Durch Law Enforcement Agencies, 1933—1940«. In: Clive Emsley/Barbara Weinberger (Hg.): Policing Western Europe. Politics, Professionalism, and Public Order, 1850-1940. New York - Westport - London 1991, S . 2 1 9 - 2 3 5 . — 9 6 Siehe die entsprechenden Erlasse v. 3. und 20.9.1939, BÄK, R 58/243. — 97 BAZ, Film 15600, Bl. 531550 ff. — 98 Zu den Einsatzgruppen siehe Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppedes Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942. Stuttgart 1981; Ralp Ogorreck: Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Rahmen der >Genesis der Endlösungt. Ein Beitrag zur Entschlußbildung der >Endlösungder Judenfrage< im Jahre 1941. Diss. Berlin 1992; Hans-Heinrich Wilhelm: Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42. Frankfurt/M. 1996. — 99 Vermerk Reinhard Heydrich v. 2.7.1940, zit. nach Krausnick/Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges, a.a.O., S. 19. — 100 BÄK, R 58/241. — 101 RSHAGeschäftsverteilungsplan Amt IV v. 1.3.1941, BAP, St.3/524. — 102 Ebd., St.3/526. — 103 Werner Röder: »Sonderfahndungsliste UdSSR. Über Quellenprobleme bei der Erforschung des deutschen Exils in der Sowjetunion«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch & (1990), S . 9 2 - 1 0 5 ; ders. (Hg.): Sonderfahndungsliste UdSSR. Faksimile der »Sonderfahndungsliste UdSSR« des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, das Fahndungsbuch der deutschen Einsatzgruppen im Rußlandfeldzug 1941. Erlangen 1976. —104 Siehe Anm. 48. — 105 Erlaß/Chef der SIPO u. des SD v. 30.10.1940, BÄK, R 58/243. — 106 Hans Uwe Petersen: »Dänemark und die antinazistischen Flüchtlinge ( 1 9 4 0 - 4 1 ) « . In: ders. (Hg.): Hitlerflüchtlinge im Norden. Asyl und politisches Exil 1933-1945. Kiel 1991, S. 71 ff. Zur Kooperation von deutschen und dänischen Polizeibehörden bei der Verfolgung der kommunistischen Emigranten in Dänemark siehe exemplarisch das Verhalten des Leiters der für die Kommunistenverfolgung zuständigen Gestapo-Abteilung IV 1 a beim Befehlshaber der SIPO und des SD in Kopenhagen Hans Hermannsen bei Paul: Hans Hermannsen, a.a.O., S. 118 ff. — 107 Gestapa an AA v. 1.1.1937, PA AA, Inland Ilg 81. — 108 Siehe die geheimen »Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen dem Militärbefehlshaber und dem Beauftragten des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich« v. 23.3.1941, Bundesarchiv Militärarchiv, RW 35/32. — 109 So Bernd Kasten: »Gute Franzosen«. Die französische Polizei und die deutsche Besatzungsmacht im besetzten Frankreich 1940-1944. Sigmaringen 1993, S. 24. — 110 Ebd., S. 76 ff. und 95 ff. — 111 BA-ZA, ZB 7126 A.3; siehe auch die Erinnerungen
»... alle Repressionen unnachsichtlich ergriffen werden«
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der nach Frankreich emigrierten Kommunistin Lore Wolf: Ein Leben ist viel zu wenig. Frankfurt/M. 1974, S. 89 ff. — 112 Siehe Christian Eggers: »Die Reise der Kundt-Kommission durch die französischen Lager«. In: Jacques Grandjonc/Theresia Grundtner (Hg.): Zone der Ungewißheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933—1944. Reinbek 1993, S. 2 3 5 - 2 4 6 , sowie Barbara Vormeier: »Die Lage der deutschen Flüchtlinge in Frankreich. September 1939 - J u l i 1942«, ebd., S. 218 ff. —113 Unter ihnen auch die Frankfurter Sozialdemokratin Johanna Kirchner, die am 9. Juni 1942 durch französische Geheimpolizisten festgenommen wurde. Siehe Antje Dertinger/Jan von Trott: >...und lebe immer in Eurer ErinnerungAbschiebung< der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Vernichtungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz. Konstanz 1990. — 119 Siehe die entsprechenden Verfügungen des RS HA bei Joseph Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien — Inhalt und Bedeutung. Heidelberg 2.Aufl. 1996, S.353, 361. — 120 BÄK, R 58/269. Es ist wenig bekannt, daß neben deutschen Arbeitern, die vor 1933 zwecks Arbeitsaufnahme in die Sowjetunion gegangen waren, »bereits in den Jahren 1937 und 1938 nachweislich über 80 deutsche Antifaschisten, in der Mehrzahl KPD-Mitglieder, vom NKWD zur Ausweisung verurteilt wurden«; Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo, S.48. Zu den »Rußlandrückkehrern« siehe jetzt auch Tischler: Flucht in die Verfolgung, S. 132 ff. — 121 Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung: Terrors in der UdSSR. Berlin 1991, In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des stalinistischen S.371; Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo, S. 54 ff. — 122 RS HA, Abt. IV v. 8.12.1939, PA AA, C IVa/Bd. 6; aus der Perspektive des eigenen Erlebens hierzu siehe Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. München 1949, S. 179 f. — 123 Zu diesen »Guides« siehe den Beitrag von Ludwig Eiber in diesem Jahrbuch. — 124 Siehe hierzu vor allem Beatrix Herlemann: Auf verlorenem Posten. Kommunistischer Widerstand im Zweiten Weltkrieg. Die Knöchel-Organisation. Bonn 1986; Karl Heinz Jahnke: In einer Front. Junge Deutsche an der Seite der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg. Berlin (DDR) 1986; Günther Nollau/Ludwig Zindel: Gestapo ruft Moskau. Sowjetische Fallschirmagenten im Zweiten Weltkrieg. München 1979; Horst Duhnke: Die KPD von 1933 bis 1945Köln 1972, S. 365 ff. — 125 Lehmann: In Acht und Bann, a.a.O., S. 47. — 126 Paul/Mallmann: Milieus und Widerstand a. a. O., S. 411 f. — 127 RSHA-Denkschrift »Betrachtung der Tätigkeit des Weltkommunismus seit dem Abschluß des sowjetischen Nichtangriffspaktes v. 23.8.1939 und die Auswirkungen in Großdeutschland« v. 20.8.1940, BÄK, R 58/18.
Klaus Sator
Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff
I Der 20. Juli 1944, der Tag des Attentats deutscher Militärs auf Adolf Hitler in seinem ostpreußischen Befehlsstand Wolfsschanze, ist im westlichen und auch noch im vereinten Deutschland das Synonym für den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geblieben. An der Rezeption seines sich in der deutschen Nachkriegsgeschichte wandelnden Bildes waren zahlreiche gesellschaftliche Gruppen beteiligt. Neben verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen sind dies vor allem Politiker und Journalisten sowie aktive Widerständler bzw. deren Angehörige gewesen. 1 Die ersten Versuche einer Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Widerstands sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Verfolgtenverbänden wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( W N ) oder der Forschungsgemeinschaft des »Andern Deutschland« geleistet worden. 2 Die Z u n f t der deutschen Historiker hat sich erst zu einem späteren Zeitpunkt und keineswegs gradlinig mit dem Widerstand gegen das NS-Regime beschäftigt. Wie kein anderes zeitgeschichtliches Phänomen war die Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand gegen Hitler in beiden deutschen Teilstaaten von Anfang an von einer politisch-ideologisch motivierten Instrumentalisierung und einer damit einhergehenden Ausgrenzung einzelner Widerstandsgruppen begleitet. 3 In der D D R stand über lange Zeit der Widerstand der deutschen Arbeiterbewegung, vor allem ihres kommunistischen Flügels im Vordergrund. Der Widerstand anderer gesellschaftlicher Gruppen wurde erst sehr spät gewürdigt. 4 In der Bundesrepublik war bis Ende der sechziger Jahre die Beschäftigung mit seiner bürgerlich-konservativen Seite dominierend. Der Fortgang des deutsch-deutschen Rezeptionsprozesses hat zu einer Ausweitung der in beiden deutschen Staaten zur Kenntnis genommenen Widerstandspotentiale geführt. Politisch motivierte Ausgrenzungsbestrebungen bestehen jedoch bis in die Gegenwart hinein fort, wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen u m die inhaltliche Konzeption der ständigen Ausstellung »Widerstand gegen den Nationalsozialismus« in der zentralen Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendler-Block in Berlin belegen. 5
D e r deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
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D i e zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus veröffentlichte wissenschaftliche Literatur hat zwischenzeitlich einen beträchtlichen U m f a n g erreicht. 6 D i e T h e m e n k o m p l e x e , mit denen sich die zeitgeschichtliche Widerstands-, Protest- und Resistenzforschung beschäftigt, weisen eine beachtliche Vielfalt auf. 7 Ihre Forschungsergebnisse lassen zahlreiche quantitative wie auch qualitative Aussagen über den deutschen Widerstand zu. O b w o h l dieser i m m e r nur eine Minderheitenposition dargestellt hat, gab es in allen Schichten der Bevölkerung M e n s c h e n , die auf sehr unterschiedliche Art und Weise gegen den Aufstieg und die Herrschaft der Nationalsozialisten gekämpft haben. Zwischenzeitlich ist eine große Spannweite des deutschen Widerstandspotentials aufgearbeitet und dokumentiert: Es gab den national-konservativen Widerstand aus den Reihen der Eliten, des Bürgertums und des Militärs, den Widerstand der Arbeiterbewegung und innerhalb der Kirchen, den Widerstand einzelner Gruppen wie zum Beispiel der »Weißen Rose« oder von Einzeltätern wie der Anschlag des schwäbischen Schreinergesellen J o h a n n G e o r g Eisner a u f Hitler im M ü n c h n e r Bürgerbräukeller am 8. November 1 9 3 9 . Relativ spät und weitgehend außerhalb der offiziellen Widerstandsforschung beider deutscher Staaten wurde mit der Aufarbeitung des von deutschen Juden geleisteten Widerstands begonnen. 8 Weitgehend unberücksichtigt geblieben ist bisher der Widerstand derjenigen Deutschen, die als Angehörige anderer Staaten sich auf vielfältige W e i se im K a m p f gegen den Nationalsozialismus engagiert haben. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten haben neben staats- und völkerrechtlichen Problemen zunehmend auch sozialgeschichtliche, soziologische, sozialpsychologische und philosophische Fragestellungen Eingang in die W i derstandsforschung gefunden. Es besteht Konsens, daß Widerstand sowohl innerhalb der Grenzen des »Dritten Reichs« als auch im Exil bzw. in der E m i gration geleistet wurde. Das von außen gegen das N S - R e g i m e gerichtete politische Engagement, das zunächst vor allem eine gegen das Informations- und M e i n u n g s m o n o p o l der Nationalsozialisten gerichtete publizistische Propaganda sowie die Unterstützung, Anleitung und Außenvertretung illegaler Gruppen in der H e i m a t , einen Stellvertreterkrieg gegen das N S - R e g i m e im Spanischen Bürgerkrieg und mit Kriegsbeginn die Unterstützung der nationalen Widerstandsbewegungen in den von Deutschland besetzten Ländern sowie unterschiedliche Formen einer aktiven Unterstützung der alliierten Kriegspolitik bei gleichzeitiger Darlegung nationaler deutscher Interessen beinhaltet hat, wird kaum noch mit landesverräterischem Verhalten in Verbindung gebracht, sondern als Widerstandstätigkeit anerkannt und gewürdigt. In der Bewertung unterschiedlicher Widerstandsformen ist ein weitgehender Verzicht auf normative Urteile feststellbar. Eine wertneutrale Widerstandstypologie, die die Selbstaussagen und Selbsteinschätzungen der einzelnen Widerstandskämpfer mit ihren jeweiligen Handlungsspielräumen
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Klaus Sator
und Verhaltensweisen in Beziehung setzt, hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt. 9 Im Ergebnis des wohl bedeutendsten Unternehmens, das bisher zur Erforschung des deutschen Widerstands in Angriff g e n o m m e n worden ist, die vom M ü n c h n e r Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus durchgeführte Untersuchung zum Widerstand in Bayern, wurden weitere Formen von Widersetzlichkeit wie Resistenz und Verweigerung dokumentiert 1 0 , wobei wiederholt auf die Problematik, solche Verhaltensweisen bereits als Widerstand zu klassifizieren, hingewiesen worden i s t . "
II Trotz der Leistungen und der Vielfalt der deutschen Widerstandsforschung ist der dort verwendete Widerstandsbegriff unbefriedigend geblieben. Er hat verhindert, daß bisher der U m f a n g und die politischen Konzeptionen des deutschen Widerstands in seiner gesamten Variationsbreite dokumentiert und gewürdigt werden konnten. Seine zentralen Mängel betreffen die enge A n b i n d u n g an das historische Widerstandsrecht, seine semantisch-staatsrechtliche Fixiertheit und damit zusammenhängend die zeitliche und die räumliche Dimension des Widerstandsbegriffs. Teilweise sind sie bereits von ausländischen Wissenschaftlern thematisiert worden, vor allem im Rahmen der österreichischen Widerstandsdiskussion. 1 2 Die dort zu dem in beiden deutschen Staaten verwendeten Widerstandsbegriff geäußerten Vorbehalte 1 3 sind von der deutschen Widerstandsforschung jedoch k a u m rezipiert worden. Eine Bestandsaufnahme zu seiner Verwendung im deutschen Sprachgebrauch macht deutlich, daß bisher kein allgemein anerkannter Widerstandsbegriff existiert. Er ist uneinheitlich und teilweise ausgesprochen unscharf gefaßt. Diese Feststellung trifft an erster Stelle den allgemeinen Sprachgebrauch, wo er seit Ende der sechziger Jahre als tagespolitisch instrumentalisiertes Schlagwort in der Bundesrepublik geradezu eine Inflationierung erfahren hat und zu einem modischen Allerweltswort geworden ist. Sie gilt jedoch auch für seinen Gebrauch innerhalb der Gesellschaftswissenschaften. Selbst die Historiker, die entschieden einem möglichst engen Widerstandsbegriff das Wort reden, haben sich bisher nicht darauf einigen können, wie Widerstand definiert werden soll. Unter ihnen ist strittig, o b eine präzise Definition von Widerstand überhaupt wünschenswert sei. O b w o h l der Widerstandsbegriff in unterschiedlichen historisch-politischen Z u s a m m e n h ä n g e n Verwendung findet, also keineswegs nur auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt ist, sondern jüngst auch bei der in Angriff
Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
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genommenen Aufarbeitung der SED-Diktatur in Deutschland thematisiert wird, hat das zu keiner größeren argumentativen Sicherheit geführt. 14 Ein Rückgriff auf deutschsprachige Lexika und sozialwissenschaftliche Nachschlagewerke hilft bei der Begriffsklärung kaum weiter. Dort sucht man oft vergeblich nach entsprechenden Ausführungen. Wo der Widerstandsbegriff explizit abgehandelt wird, sind eine primär staatsrechtliche Argumentation sowie die äußerst enge Anbindung an das klassische Widerstandsrecht vorherrschend. Die verschiedenen Entwicklungsphasen, die der Widerstandsbegriff parallel zum Fortgang der Widerstandsforschung durchlaufen hat, etwa der erste umfangreichere Versuch zu einem weiter gefaßten, mehr funktional verstandenen Widerstandsbegriff von Peter Hüttenberger 1,5 oder die zahlreichen Beiträge von Peter Steinbach 16 , haben sich dort bisher nur unzureichend niedergeschlagen. Die Schwierigkeiten und definitorischen Unschärfen im Umgang mit dem Widerstandsbegriff haben mehrere Gründe. Sie sind zunächst einmal prinzipieller Art. Jeder Begriffsdefinition haftet etwas Statisches an. Sie läuft damit stets Gefahr, historischen Wandel nicht mehr adäquat erfassen zu können. Beim Widerstandsbegriff kommt seine bis in die Gegenwart hinein zentrale Bedeutung als politischer Kampfbegriff hinzu. Wo jedoch eine Bewertung seiner Motive, seiner Ziele oder seiner Erfolgsaussichten das Selbstverständnis der Widerständler oder die Definitionsmacht der Nationalsozialisten überlagern, sind Ab- und Ausgrenzungsbestrebungen eine logische Konsequenz. Nicht zuletzt liegen die definitorischen Schwierigkeiten in der Komplexität und dem Facettenreichtum der Widerstandsproblematik selbst begründet. Für einen an die Zeit des Nationalsozialismus gebundenen Widerstandsbegriff gilt es weiterhin festzuhalten, daß sein Gebrauch sich zwar auf Seiten der NS-Verfolger nachweisen läßt, er im Umfeld der deutschen Widerstandskämpfer dagegen nur bedingt Verwendung fand und nicht immer in den uns heute vertrauten Zusammenhängen. Die von Anfang an gegen den Aufstieg und die Herrschaft Hitlers gerichtete Politik der deutschen Arbeiterbewegung etwa hat sich nicht als >Widerstands sondern als >Antifaschismus< verstanden. Weder die SPD noch die KPD haben zum >Widerstand gegen den Nationalsozialismus< aufgerufen, sondern einen >Kampf gegen den Faschismus< geführt. Seine Träger bezeichneten sich selbst als >AntifaschistenIllegaleDeutsch-Österreichs< an das D e u t s c h e Reich angestrebt. Aufgrund ihrer Verbundenheit mit der deutschen Kulturnation war ihr Widerstand weit weniger von der K o m ponente eines nationalen Befreiungskampfs getragen, als dies in den während des Zweiten Weltkriegs von Nazideutschland besetzten Ländern der Fall gewesen ist. 1 8 Bedeutende Gruppierungen des österreichischen Widerstands haben lange Zeit ihren K a m p f a u f eine Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse des von Hitler geschaffenen Großdeutschland beschränkt gesehen. D i e Entstehung eines ausgeprägten >Österreichbewußtseins< war erst das Ergebnis ihrer im und mit dem »Dritten Reich« gemachten Erfahrungen. Im Falle Österreichs hätte eine Koppelung des Widerstandsbegriffs mit dem Nationalstaat zur Folge, daß das von Anfang an a u f den Sturz des N S Regimes gerichtete W i r k e n bedeutender Teile der dortigen Hitlergegner nicht in all seinen Phasen als Widerstand zu klassifizieren wäre. O b w o h l der bisherige Fortgang der Widerstandsforschung eine Ausdifferenzierung des Widerstandsbegriffs in eine ideologische und eine staatsrechtliche K o m p o n e n t e nahelegt, findet der Widerstandsbegriff in der Regel nur Anwendung auf ein gegen den Nationalsozialismus gerichtetes politisches Engagement während seiner Systemphase. Die Ausweitung der zeitlichen D i m e n s i o n des Widerstandsbegriffs auch auf die Zeit davor und danach, wie sie etwa von dem US-amerikanischen Historiker Leonidas im Ergebnis seiner Bestandsaufnahme zum Stand der Forschung über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus bereits Anfang der achtziger J a h re gefordert wurde 1 9 , stellt in der deutschen Forschungslandschaft n o c h i m m e r eine Ausnahme dar. 2 0 D i e Beschränkung des Widerstandsbegriffs a u f die Z e i t des »Dritten Reichs« ist jedoch schon von der Sache her problematisch. D i e Errichtung und organisatorisch-institutionelle Absicherung der N S - D i k t a t u r in Deutschland ist nicht von heute auf morgen, sondern über einen längeren Zeitraum erfolgt. Erst durch die am 2 8 . Februar 1 9 3 3 erlassene Reichstagsbrandverordnung, mit der wichtige Grundrechte aufgehoben wurden, und das am 2 3 . März 1 9 3 3 v o m Deutschen Reichstag verabschiedete Ermächtigungsgesetz, das der Reichsregierung ermöglichte, Gesetze ohne Beratung und Verabschiedung durch das Parlament zu erlassen, wurde die Weimarer Verfassung faktisch außer Kraft gesetzt. D i e zur Observierung und Ausschaltung der politischen Gegner des Regimes geschaffenen zentralen Einrichtungen wie die G e h e i m e Staatspolizei 2 1 und der Volksgerichtshof 2 2 , in denen sich die Definitionsmacht des N S - R e g i m e s über das, was von i h m als Widerstand klassifiziert wurde, besonders anschaulich dokumentiert, sind noch später entstanden. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich die Festle-
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gung eines Zeitpunkts, zu dem ein gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus gerichtetes politisches Handels als Widerstand zu klassifizieren wäre, ausgesprochen schwierig. Weiterhin war die Beurteilung der damaligen politischen Vorgänge im Deutschen Reich für die Zeitgenossen keineswegs einfach. Selbst an der Spitze des Staats war man sich am 30. Januar 1933 nicht darüber im klaren gewesen, auf was man sich mit Hitler einließ. Als Reichspräsident von Hindenburg ihm als Führer der stärksten politischen Kraft im Lande das Amt des Reichskanzlers übertrug, wollte er damit keine nationalsozialistische Diktatur begründen. Interpretationsschwierigkeiten bestanden auch in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung, die über die Jahre hinweg das umfangreichste Widerstandspotential gegen den Nationalsozialismus hervorgebracht hat. 2 3 Das gilt in besonderem M a ß e für die von den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes am meisten betroffenen kommunistischen Widerstandskämpfer, die aufgrund des in ihren Reihen wirksamen Faschismusbegriffs 24 den qualitativen Unterschied der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler von den vorangegangenen Präsidialkabinetten zunächst überhaupt nicht wahrgen o m m e n haben. Eine retrospektiv vorgenommene zeitliche Fixierung des Beginns der NS-Diktatur wird den Interpretationsschwierigkeiten der deutschen Widerständler in der Beurteilung der politischen Lage in keiner Weise gerecht. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist eine Widerstandsdefinition problematisch, die den Widerstandsbegriff auf den Zeitraum beschränken will, in dem der Nationalsozialismus die Herrschaftsgewalt in Deutschland innehatte, da sie die Errichtung der NS-Diktatur zur notwendigen Voraussetzung für die Legitimität von Widerstand erklärt. Eine solche Position ließe sich zwar bedingt mit einer Berufung auf das historische Widerstandsrecht legitimieren. Sie widerspricht aber dem Selbstverständnis der überzeugten politischen Gegner der Nationalsozialisten in der Endphase der Weimarer Republik. Ihr politisches Handeln war zu dieser Zeit von der Zielsetzung getragen, eine Machtergreifung Hitlers zu verhindern, ein Anliegen, mit dem sie sich von der Mehrheit der Repräsentanten des späteren Widerstands aus dem bürgerlich-konservativen Lager unterschieden haben. Eine fundamentale politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bestand in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung bereits lange bevor dieser die Systemphase erreicht hatte. Der daraus abgeleitete Kampf gegen den Aufstieg Hitlers sollte, wie es dem Selbstverständnis vieler seiner Träger entspricht 2 5 , in die Definition des Widerstandsbegriffs eingehen. Für eine angemessene Beurteilung und Würdigung des Widerstands aus den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung hat Hans-Josef Steinberg schon Ende der siebziger Jahre auf die Wichtigkeit einer Beachtung der »Kontinuität von der legalen politischen Bekämpfung des Nationalsozialismus in der Endphase
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der Weimarer Republik bis zur illegalen Arbeit im nationalsozialistischen Staat« hingewiesen. 26 Von einer Konzeption, die als Widerstand das politische Handeln sowohl gegen den sich formierenden wie auch den an der Macht befindlichen Nationalsozialismus begreift, kann zudem ein tieferes Verständnis vom dynamischen Prozeß der Widerstandsentwicklung erwartet werden.
IV Während es zur zeitlichen Fixierung des Widerstandsbegriffs erste Vorstöße im Sinne einer Ausweitung gibt, ist sein räumlicher Geltungsbereich und damit der dem deutschen Widerstand zugerechnete Personenkreis nach wie vor auf diejenigen Deutschen beschränkt, die als Reichsangehörige oder vom Regime Ausgebürgerte auf eine Verhinderung der Errichtung bzw. den Sturz der NS-Diktatur hingearbeitet haben. Seine auslandsdeutsche Komponente, wie sie insbesondere in Europa (Tschechoslowakei, Polen, Ungarn), aber auch in Ubersee (Chile, Argentinien, Mexiko) anzutreffen war, ist bisher von der Forschung vernachlässigt worden. 2 7 Die Beschränkung der Betrachtung des deutschen Widerstands auf seine reichsdeutsche Komponente ist jedoch in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen ist jene Weltanschauung, aus der heraus das nationalsozialistische Deutschland seine Politik zu legitimieren versuchte, nicht nur auf dem Boden und innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs entstanden, sondern war untrennbar mit der Geschichte der Deutschen in ihrer Gesamtheit verbunden. Der NSDAP ähnliche Parteien haben sich zum Beispiel auch im damaligen Deutsch-Österreich und dem zur Tschechoslowakei gehörigen Sudetenland formiert. Der Verfasser des ersten umfangreichen theoretischen Beitrags zum Selbstverständnis der nationalsozialistischen Weltanschauung war nicht Adolf Hitler, sondern der Sudetendeutsche Rudolf Jung. 2 8 Zum anderen haben auch Deutsche aus einer kulturellen Verbundenheit mit der deutschen Geschichte heraus gegen Hitler gekämpft, die Angehörige anderer Staaten waren. Eine Reduzierung des deutschen Widerstands auf seine reichsdeutsche Komponente wird weder der Komplexität und Vielfalt des deutschen Widerstands noch der Verfolgungspraxis des »Dritten Reichs« oder dem Selbstverständnis der auslandsdeutschen Hitlergegner gerecht. Die Wirkungsmöglichkeiten des reichsdeutschen Arbeiterwiderstands in der Heimat und dem in seinen Reihen favorisierten tschechoslowakischen Exil 29 waren maßgeblich von den dortigen Bruderparteien bestimmt. Sudetendeutsche Sozialdemokraten und Kommunisten engagierten sich für die Absicherung des Aufenthalts geflüchteter Volks- und Gesinnungsgenossen. Weiterhin waren sie direkt in ihre Widerstandstätigkeit eingebunden und führend an
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der theoretischen Aufarbeitung der Niederlage beteiligt, welche die internationale Arbeiterbewegung mit dem Machtantritt Hitlers erlitten hatte. Als Angehörige des tschechoslowakischen Staats haben sie sich gegenüber ihren Landsleuten und der Weltöffentlichkeit als die Repräsentanten eines anderen, besseren Deutschland zu profilieren und Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Geschichte zu nehmen versucht. Mit ihrer Haltung gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und in der Tschechoslowakei 30 kann nachgewiesen werden, daß ihr politisches Handeln unter praktischen wie auch unter theoretischen Gesichtspunkten jeglichen staatsrechtlichen Bezugsrahmen gesprengt hat. Im Rahmen des gesamtdeutschen Widerstands stellt der sudetendeutsche Widerstand das umfangreichste Widerstandspotential dar. 31 Diese Einschätzung findet eine Bestätigung in der Beurteilung durch die Nationalsozialisten. Schon sehr früh hat die Aufmerksamkeit des NS-Staats den politischen Bestrebungen der außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Volksdeutschen gegolten. Auch sie waren von der Überwachung und Verfolgung durch die Sicherheitsorgane des »Dritten Reichs« betroffen. Das gegen das NS-Regime gerichtete politische Engagement sudetendeutscher Hitlergegner hat sie zu einem besonderen Verfolgungsobjekt der Geheimen Staatspolizei gemacht. Ihr Handeln ist dort von Anfang an als Widerstand gewertet worden. Soweit man ihrer habhaft werden konnte, wurden sie als tschechoslowakische Staatsangehörige schon in der Zeit vor der im Gefolge des Münchner Abkommens erfolgten Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich kriminalisiert und zum Beispiel vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hoch- und Landesverrat angeklagt und zu teilweise beträchtlichen Zuchthausstrafen verurteilt. 32
V Mit den vorangegangenen Ausführungen sollte der die deutsche Widerstandsdiskussion dominierende, semantisch-staatsrechtlich verengte Widerstandsbegriff offengelegt und problematisiert werden. Sein zentraler Mangel besteht darin, daß er schon lange nicht mehr den aktuellen Forschungsstand zum Thema widerspiegelt. Weiterhin knüpft er zu wenig am Selbstverständnis der Widerstandskämpfer und ihrer Verfolger an. Im Ergebnis dieser Defizite sind Teile des deutschen Widerstands gegen Hitler noch nicht in ausreichendem Maße ins Blickfeld der Widerstandsforschung gelangt. Während der ursprünglich auf den Kampf gegen Hitler innerhalb der Grenzen des »Dritten Reichs« beschränkte Widerstandsbegriff in den siebziger Jahren eine Ausweitung auf das Exil erfahren hat, steht eine Aufnahme des gegen das NS-Regime gerichteten politischen Engagements Deutscher anderer Staatsangehörigkeit noch aus. Ein die deutsche Kulturnation umfassen-
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der Widerstandsbegrifif könnte der Widerstandsforschung neue Impulse liefern. Mit ihm erhielte zum Beispiel die ungelöste deutsche Frage als zentraler Belastungsfaktor des deutschen Widerstands gegen Hitler einen höheren Stellenwert. U m bei einer noch ausstehenden Gesamtdarstellung zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus Ausgrenzungen zu vermeiden, sollte ihm jede politisch motivierte H a n d l u n g zugerechnet werden, die entweder nach dem zeitgenössischen Selbstverständnis ihrer Akteure oder in der Beurteilung des NS-Regimes geleistet wurde, um seiner Ideologie oder seiner Herrschaftspraxis entgegenzuwirken, unabhängig davon, wann, wo und von wem sie begangen wurde.
1 Vgl. hierzu insbesondere die Regionalstudie von Regina Holler: 20. Juli 1944. Vermächtnis oder Alibi? Wie Historiker, Politiker und Journalisten mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus umgehen. Eine Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur, der offiziellen Reden und der Zeitungsberichterstattung in Nordrhein-Westfalen von 1945—1986. M ü n chen-New Providence-London-Paris 1994. — 2 Vgl. Jürgen Danyel: »Bilder vom >anderen Deutschlands Frühe Widerstandskonzeptionen nach 1945«. In: Zeitschrift fur Geschichtswissenschaft 42 (1994), S. 611 - 621. — 3 Zu den verschiedenen Aspekten der unterschiedlichen Rezeption des deutschen Widerstands in den beiden deutschen Staaten vgl. die hierzu in Heft 7/1994 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlichte Aufsatzsammlung, insbesondere den Beitrag von Ines Reich: »Geteilter Widerstand. Die Tradierung des deutschen Widerstandes in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR«. In: Ebd. 42 (1994), S. 6 3 5 - 6 4 4 . — 4 Z u m Endstand der Widerstandsforschung der D D R vgl. die zweibändige Uberblicksdarstellung von Klaus Mammach: Widerstand 1933-1939(Teil I) bzw. 1939-1945 (Teil II). Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung im Inland und in der Emigration. Berlin (DDR) 1984 bzw. 1987. — 5 Zu den Hintergründen der Kontroverse um die dortige Darstellung des Nationalkomitees Freies Deutschland vgl. den Diskussionsbeitrag des ehemaligen Leiters der Gedenkstätte, Peter Steinbach: »Teufel Hitler - Beizebub Stalin?« In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994), S. 651 - 6 6 2 . — 6 Die erste und bisher einzige Bibliographie zur Widerstandsforschung ist nach wie vor die aus Anlaß des 40. Jahrestags des mißglückten Attentats auf Hitler von der Forschungsgemeinschaft 20. Juli e. V. vorgelegte, von Ulrich Cartarius erstellte Bibliographie Widerstand. München-New YorkLondon-Paris 1984. Sie weist rund 6.200 Titel aus. Eine umfangreiche Zusammenstellung beinhaltet auch Michael Ruck: Bibliographie zum Nationalsozialismus. Köln 1995, die rund 1.400 Veröffentlichungen zum T h e m a Widerstand nachweist. — 7 Einen ausgezeichneten Überblick über den aktuellen Stand der Widerstandsforschung bietet der aus Anlaß des 50. Jahrestags des mißglückten Attentats auf Hitler von Peter Steinbach und Johannes Tuchel herausgegebene Sammelband: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Bonn 1994. Vgl. weiterhin die Beiträge zu der aus Anlaß des 40. Jahrestags dieses Ereignisses in Berlin durchgeführten internationalen wissenschaftlichen Konferenz: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. München-Zürich 1985. — 8 Vgl. Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945. Köln 1994. Weiterhin: Konrad
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Klaus Sator
Kwiet/Helmut Eschwege: Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933—1945. Hamburg 1984. — 9 Es gibt jedoch auch gegenläufige Tendenzen. Vgl. z.B. die aktualisierte Neuausgabe der Dokumentation: Opposition gegen Hitler. Bilder, Texte, Dokumente. Berlin 1994. In einem gegenüber der Erstauflage zusätzlich aufgenommenen Nachwort grenzt Ulrich Cartarius einen nicht näher erläuterten, jedoch mit unverkennbarer Orientierung auf die Männer des 20. Juli verwendeten »wahren Widerstand« ab von einem als bloße »Opposition« klassifizierten politischen Handeln anderer gesellschaftlicher Kräfte. Vgl. ebd., S. 296. — 10 Die von Martin Broszat u.a. herausgegebenen Ergebnisse dieses Forschungsprojekts sind in sechs Bänden unter dem Haupttitel Bayern in der NS-Zeit. München 1977 ff. veröffentlicht worden; siehe jetzt auch die dreibändige, von Hans-Walter Herrmann herausgegebene Edition Widerstand und Verweigerung im Saargebiet 1935-1945: Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: Das zersplitterte Nein. Saarländergegen Hitler. Bonn 1989; dies.: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich. Bonn 1991; dies.: Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bonn 1995. Im Unterschied zum »Bayern-Projekt« bezieht diese Untersuchung ausführlich auch den Widerstand aus dem Exil ein und überschreitet bewußt die in der Widerstandsforschung ansonsten eher übliche Begrenzung auf den Zeitraum 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . — 11 Vgl. zuletzt Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: »Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff«. In: Zeitschrififür Geschichtswissenschaft 41 (1993), S. 99— I 16. — 12 Zur Geschichte der österreichischen Widerstandsforschung vgl. Wolfgang Neugebauer: »Widerstandsforschung in Osterreich«. In: Isabella Acherl/Walter Hummelberger/Hans Mommsen (Hg.): Politik und Gesellschaft im alten und neuen Osterreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag. Bd. 2. München 1981, S. 3 5 9 - 3 7 5 . Brigitte Bailer/Wolfgang Neugebauer: »Dreißig Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1963—1993)«. In: Jahrbuch Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1993), S. 6 - 3 4 . — 13 Am deutlichsten auf den Punkt gebracht hat sie Gerhard Botz: »Methoden- und Theorieprobleme der historischen Widerstandsforschung«. In: Helmut Konrad/Wolfgang Neugebauer (Hg.): Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalbewußtsein. Festschrift zum zwanzigjährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner. Wien-München-Zürich 1983, S. 1 3 7 - 1 5 1 . — 14 Vgl. z.B. Ulrich Poppe, Rainer Eckert, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995. — 15 Vorüberlegungen zum Widerstandsbegriff in Jürgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Göttingen 1977, S.l 1 6 - 1 3 4 . — 16 Vgl. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen. Ausgewählte Studien. Paderborn-München-Wien-Zürich 1994. — 17 Hierzu insbes. Willibald Ingo Holzer: Politischer Widerstand gegen die Staatsgewalt. Historische Aspekte, Problemstellungen, Forschungsperspektiven. Wien 1985. — 18 Michael Kißener/Harm-Hinrich Brandt/Wolfgang Altgeld: Widerstand in Europa. Zeitgeschichtliche Erinnerungen und Studien. Konstanz 1995. — 19 Vgl. »Towards a New History of German Resistance to Hitler«. In: Central European History 14 (1981), S. 3 6 9 - 3 9 9 . — 20 Sie ist z. B. kennzeichnend für Wolfgang Benz/Walter H. Pehle (Hg.): Lexikon des deutschen Widerstandes. Frankfurt/M. 1994. Im Rahmen der dortigen Überblicksdarstellungen findet sich ein von Wolfgang Benz verfaßter Beitrag zum »Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor 1933«, S. 1 5 - 2 7 . — 2 1 Zu ihrer Geschichte, ihren Aufgaben und ihrer Praxis siehe jetzt die Beiträge in Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Darmstadt 1995. — 22 Zur Entwicklung der Volksgerichtshofsjustiz und ihrer unterschiedlichen Zielgruppen vgl. Klaus Marxen: Das Volk und sein Gerichtshof. Eine Studie zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof. Frankfurt/M. 1994; Holger Schlüter: Die Urteilspraxis des nationabozialistischen Volksgerichtshofs. Berlin 1995. — 23 Ebd., Marxen, a. a. O., S. 3 8 - 4 4 ; Schlüter, a. a. O., S. 1 3 8 - 161. — 24 Zur Geschichte des kommunistischen Faschismusbegriffs vgl. Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921-1935. Stuttgart 1984. — 25 Vgl. z.B. die Verwendung des Widerstandsbegriffs im ersten Band der Memoiren des sozialdemokratischen Widerstandskämpfers und langjähri-
Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
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gen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn: Widerstand und Emigration. Die Jahre 1928- ¡945. Hamburg 1980, insbes. S. 48 ff., S. 53 ff. — 2 6 Thesen zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung. In: Christoph Kleßmann/Falk Pingel (Hg.): Gegner des Nationalsozialismus. Wissenschaftler und Widerstandskämpfer auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit. Frankfurt/M. - New York 1980, S. 67. — 2 7 Auf der 1984 in Berlin durchgeführten internationalen Konferenz zur Bilanzierung des bisherigen Forschungsstands zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat sich lediglich der US-amerikanische Historiker Ronald Smelser damit befaßt: »Auslandsdeutschtum vor der Wahl - Kollaboration und Widerstand am Beispiel Albrecht Haushofers«. In: Schmädeke/Steinbach, a . a . O . , S. 7 6 3 - 7 7 6 . — 28 Die erste, heute kaum noch zugängliche Ausgabe seiner Schrift Der nationale Sozialismus - Eine Erläuterung seiner Grundlagen und Ziele ist als Heft 1 der »Bücherei der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei in den sudetendeutschen Gebieten« im Jahre 1920 in Troppau erschienen. Bis zur Veröffentlichung von Hitlers Mein Kampf lagen davon noch weitere, neubearbeitete und erweiterte Ausgaben vor. — 2 9 Zur Bedeutung der Tschechoslowakei als Exilland für die reichsdeutsche Arbeiterbewegung vgl. Brigitte Seebacher-Brandt: »Die deutsche politische Emigration in der Tschechoslowakei«. In: Peter Glotz/Karl-Heinz Pollok/Karl Schwarzenberg/John van Nes Ziegler (Hg.): München 1938 - Das Ende des alten Europa. Essen 1990, S. 2 2 9 - 2 4 9 . — 3 0 Vgl. Klaus Sator: Anpassung ohne Erfolg. Die sudetendeutsche Arbeiterbewegung und der Aufstieg Hitlers und Henleins 1930-1938. Darmstadt 1996. — 31 Dies dokumentiert sich u.a. besonders anschaulich an der Vielzahl sudetendeutscher Emigranten. Gemessen an seiner Bevölkerungszahl war das sudetendeutsche Exil das umfangreichste in Europa. Vgl. hierzu: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd.l: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. M ü n chen-New York-London-Paris 1980, S. XXXVIIf. — 3 2 Zu den Verfolgungsmaßnahmen gegenüber sudetendeutschen Sozialdemokraten vgl. Kampf Widerstand, Verfolgung. Dokumentation der deutschen Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei im Kampf gegen Hitler. Stuttgart 1983; zu den sudetendeutschen Kommunisten: Schon damals kämpften wir gemeinsam. Erinnerungen deutscher und tschechoslowakischer Antifaschisten an ihre illegale Grenzarbeit 1933 bis 1938. Berlin (DDR) 1961.
Michael Wildt
Die Kraft der Verblendung Der Sozialdemokrat Max Brauer im Exil
I An einem der letzten Märztage des Jahres 1933 überschritt Max Brauer wie ein Tagesausflügler bei Freilassing die Grenze nach Osterreich, buchstäblich ohne einen Koffer in der Hand zu tragen. Die Flucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten sollte für einen der bedeutendsten Oberbürgermeister der Weimarer Republik in ein langjähriges Exil in Frankreich, China und schließlich in den USA münden, aus dem er erst 1946 wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Max Brauer wurde als achtes von dreizehn Kindern am 3. September 1887 als Sohn eines Glasbläsers in Ottensen, einem Stadtteil des damals preußischen Altona, geboren. Nach der Konfirmation im März 1902 begann er ebenfalls eine Glasbläserlehre, engagierte sich früh politisch und schloß sich 1904 den Sozialdemokraten an. Als Aktivist geriet er rasch auf die schwarze Liste der Fabrikanten, mußte sich als Bau- und Fabrikarbeiter durchschlagen, bis er 1910 eine Anstellung beim gewerkschaftlichen Konsum-, Bauund Sparverein Produktion in Altona fand. Noch im Ersten Weltkrieg, den Brauer als Soldat nur kurz erlebte, begann seine Karriere als Kommunalpolitiker. Er rückte 1916 auf der sozialdemokratischen Liste in die Altonaer Stadtverordnetenversammlung nach und gelangte im November 1918 als kommissarischer Senator in den Altonaer Magistrat. Brauer vertrat kompromißlos die Linie der Mehrheitssozialdemokraten und lehnte die linkssozialistischen Ziele der Unabhängigen Sozialdemokraten und jedwede rätedemokratischen Vorstellungen entschieden ab. 1924, als der bürgerliche Oberbürgermeister von Altona überraschend starb, errang Brauer, gerade 37 Jahre alt, als sozialdemokratischer Kandidat einen deutlichen Wahlsieg und gehörte damit bis 1933 neben Robert Leinert in Hannover, Hermann Beims und später Ernst Reuter in Magdeburg, Philipp Scheidemann in Kassel sowie Walter Dudek in Harburg zu den wenigen sozialdemokratischen Oberbürgermeistern der Weimarer Republik.' Brauer erschien geradezu als die erfolgreiche Verkörperung einer fortschrittlichen, am öffentlichen Wohl orientierten Kommunalpolitik. Die Eingemeindung einiger Landgemeinden 1927 und das preußisch-hamburgische Abkommen, den Altonaer und Hamburger Hafen als einheitliches
Die Kraft der Verblendung
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Wirtschaftsgebiet zu behandeln, stellten die Weichen für die Entwicklung Altonas zu einer der dynamischsten Großstädte Preußens. Gestützt vor allem auf seinen Bausenator Gustav Oelsner baute Brauer das »Neue Altona«. 2 Beide setzten Maßstäbe, die den Vergleich mit Hamburg, Berlin oder Frankfurt nicht zu scheuen brauchten. Brauers Führungsstil war ohne Zweifel autokratisch, aber nach wie vor fühlte er sich als sozialdemokratischer Politiker einer Reform- und Wohlfahrtspolitik verpflichtet, deren Ziel in der Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft lag - freilich mit jenem patriarchalen Anspruch, genau zu wissen, was gut und richtig für die ihm Anbefohlenen ist. Daß diese Politik letztlich scheiterte, lag in erster Linie an der tiefen Wirtschaftskrise ab 1929, die jede ökonomische Grundlage einer reformorientierten Wohlfahrts- und Sozialpolitik zerstörte und den ehrgeizigen Plänen Brauers ein Ende setzte. Mit der Wirtschaftskrise polarisierte sich das politische Leben in Deutschland zusehends. Der Straßenterror der SA nahm auch in Altona immer mehr zu3 und erreichte seinen Höhepunkt in der von den Nationalsozialisten provozierten Schießerei am 17. Juli 1932, in der achtzehn Menschen getötet wurden. 4 Den »Altonaer Blutsonntag« nahm die reaktionäre Reichsregierung unter v. Papen zum Anlaß, die sozialdemokratisch geführte Regierung in Preußen in einem Staatsstreich zu entmachten. Die Politik der autoritären Wende, die die rechtsorientierten Präsidialkabinette seit 1930 betrieben hatten, wandte sich mit dem »Preußenschlag« vom Juli 1932 direkt gegen die Republik. Das Ende der Weimarer Demokratie unter dem Druck ihrer Gegner war nur noch eine Frage der Zeit. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Am 27. Februar 1933, genau an jenem Tag, in dessen Abendstunden der Reichstag in Flammen aufging und sich damit Hitler die entscheidende Handhabe bot, die demokratischen Verfassungsrechte außer Kraft zu setzen, erschien das nationalsozialistische Hamburger Tageblatt mit der Schlagzeile: »Korruptionsskandal Brauer/Altona«. Brauer und seinem Senator August Kirch wurde vorgeworfen, vom ehemaligen Intendanten des Schillertheaters in Altona Geld und Geschenke angenommen und im Gegenzug das Theater mit hohen Subventionen aus dem Stadtsäckel bedacht zu haben. Der Artikel gipfelte in der Drohung: »Herr Brauer, Ihre Zeit ist abgelaufen. Sie sind keinen Tag länger Oberbürgermeister, als wir es wollen!« 5 Obwohl der Korruptionsvorwurf ebenso abgeschmackt und inszeniert war wie manch anderer zuvor6, war die politische Atmosphäre zu diesem Zeitpunkt so aufgeladen, daß Brauer am 3. März die Einleitung eines Dienststrafverfahrens gegen sich selbst beantragte und sich bis auf weiteres vom Amt des Oberbürgermeisters beurlauben ließ. Noch vor den Kommunalwahlen am 12. März fühlten sich die Altonaer Nationalsozialisten stark genug, die Macht in der Stadt zu übernehmen. In der Nacht zum 11. März
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besetzten SA- und SS-Leute das Rathaus, verkündeten das Ende des »roten Altona«, ernannten den nationalsozialistischen Landtagsabgeordneten Emil Brix zum »Kommissarischen Oberbürgermeister« und nahmen führende Altonaer Sozialdemokraten in »Schutzhaft«. Gustav Oelsner entging den Verfolgern nur knapp. 7 Brauer selbst berichtete später über die gewalttätige Atmosphäre dieser Wochen. Er sei jeden Abend zu einer Veranstaltung unterwegs gewesen, immer beschützt von einem Leibwächter. Trotz der Verhaftungen und des Terrors nach dem Reichstagsbrand, trotz wütender Hetze gegen ihn habe er bis zum 4. März seinen Posten gehalten. Zwei Tage später habe er Altona verlassen und sei nach Bayern abgereist, weil er hoffte, dieses katholische Land würde dem nationalsozialistischen Druck standhalten können. Am Tag der Reichstagswahl am 5. März, so erinnerte sich Brauers Tochter, kam die Polizei zu einer Haussuchung, als ihr Vater gerade wählen gegangen war. Die Familie fühlte sich seitdem im eigenen Haus nicht mehr sicher und reiste nach Oberhof in Thüringen ab, wohin Brauer nachfolgte. Kurze Zeit später floh er erst nach Österreich, dann über die Schweiz nach Frankreich.
II In Paris halfen ihm persönliche Kontakte weiter. Durch den Völkerbundsbeamten Dr. Ludvik Rajchmann, der im Auftrag der nationalchinesischen Regierung auf der Suche nach tüchtigen Verwaltungsfachleuten war, die China beim Aufbau einer an westlichen Standards orientierten, effektiven Administration helfen sollten, fand Brauer mit einigen anderen deutschen Emigranten für ein Jahr eine Anstellung als Berater in Nanking. 8 Dort erlebte er die Isolation eines europäischen Beraters in besonderer Weise. Seine Familie war in Genf geblieben. Zu den in China weilenden offiziellen und halboffiziellen Beratern aus Deutschland hielt er als politischer Emigrant ebenso Distanz wie diese zu ihm. So blieb ihm vor allem die Korrespondenz mit Bekannten, politischen Weggefährten und Familienangehörigen, um die eigene Einsamkeit im fernen Nanking zu überwinden und Neuigkeiten oder Vertrautes aus der Heimat zu erfahren. Sein Schwager Eduard Pehmöller zum Beispiel informierte ihn ausführlich über den Fortgang der Ereignisse in Altona, ebenso sein früherer Assessor, Erwin Memelsdorff, der jetzt in Paris lebte. Vor allem jedoch erfuhr er durch Hermann Schöndorff, ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Karstadt AG in Hamburg, der 1933 in die Schweiz emigriert war, und den ehemaligen Redakteur des sozialdemokratischen Hamburger Echo Ernst Langendorf Näheres aus Deutschland. Die Beschäftigung mit den politischen Verhältnissen in Deutschland, das unablässige Abwägen, wie lange sich die Nationalsozialisten an der Macht
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halten würden, bestimmten einen großen Teil der Korrespondenz Brauers in den Jahren 1933/34. Die Entfernung vom Geschehen machte es ihm besonders schwer, die Situation zu beurteilen. Meldungen über wichtige Ereignisse erreichten ihn erst Wochen später, ausländische Zeitungen waren in Nanking rar 9 , viele seiner Briefpartner lebten mittlerweile selbst nicht mehr in Deutschland, und die Zurückgebliebenen konnten aus Furcht vor der Uberwachung der Post nicht offenherzig schreiben. Die Abhängigkeit von Informationen aus zweiter und dritter Hand sowie der Mangel an eigener Anschauung verwiesen Brauer immer wieder zurück auf sein politisches Wissen und theoretisches Repertoire aus der Zeit vor der nationalsozialistischen »Machtergreifung« in Deutschland. Im Herbst 1933, »mit der Gewinnung der nötigen Distanz zu den deutschen Ereignissen«, hatte Brauer den Eindruck, daß sich das NS-Regime durchaus eine längere Zeit würde halten können. Die »herrschenden Schichten in Deutschland einschließlich Kleinbauern, Angestellte und sonstige Kleinbürger haben den Fascismus gewollt.« In die Entwicklung in Deutschland könnten »wir deutschen Emigranten kaum eingreifen. Dort kann der Umschwung nur von innen heraus kommen.« 1 0 Im Exil komme es darauf an - und an dieser Stelle formulierte Brauer sein Credo, das während der gesamten Exilzeit Geltung besitzen sollte weiter zu lernen und weiter zu arbeiten, um »für spätere Zeiten gerüstet zu sein«. In der Zwischenzeit müßten Deutschlands Nachbarländer die Stellung gegen den Nationalsozialismus halten wie Osterreich, dem nun die Aufgabe zufalle, »die deutsche geistige Stellung in der Welt zu erhalten« 11 , oder Frankreich, das Brauer zum »Wall gegen den Barbarismus« stilisierte, von dem aus »die unverlierbaren großen Ideen der Freiheit und der Menschlichkeit einen neuen Siegeszug antreten« sollten. 12 Es ist kennzeichnend, daß in Brauers Analyse der den Nationalsozialismus tragenden Schichten die Arbeiter nicht erschienen. Sie stellten in seinem Weltbild die unbelastete gesellschaftliche Gruppe in Deutschland dar, die quasi naturgemäß den Gegenpol zu den Nationalsozialisten bildete, weil einerseits das NS-Regime die Arbeiterorganisationen als ihre erklärten Gegner verfolgte und andererseits die bürgerlichen Schichten von der Politik der neuen Regierung profitierten. In einem späteren Brief schrieb Brauer, daß die große Mehrheit wohl vom Nationalsozialismus überrannt worden sei. 13 Seine Hoffnung richtete sich auf die Arbeiterschaft, die am meisten unter dem Nationalsozialismus zu leiden habe und am wenigstens von ihm beeinflußt sei. Sie werde deshalb den Umschwung herbeiführen. Eine Wende sei daher nur in einer Revolution möglich, als deren Ergebnis weder die Verhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg noch die des Weimarer Staates wiederhergestellt werden könnten. »Die verrottete Bourgeoisie in Deutschland kann nur noch durch eine soziale Revolution niedergefegt werden.« 1 4 Dieser
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Erwartung, daß »nach dem Verschwinden der erbärmlichen braunen Pest in Deutschland wir uns in einem befriedeten u n d sozialistischen Europa werden wiedersehen« 15 , stand allerdings Brauers eigene Befürchtung entgegen, die Angst vor dieser Revolution könnte selbst diejenigen Kreise in Deutschland, welche das Regime verabscheuten, an die Seite der Nationalsozialisten treten lassen. Und das Problem, ob die Arbeiterschaft überhaupt gewillt sein würde, die Revolution zu vollbringen, blieb auf eine kennzeichnende Weise offen. Der skeptischen Frage eines seiner Briefpartner, warum die deutschen Arbeiter denn Hitler noch nicht gestürzt hätten, setzte er ebenso unbeirrt wie uneinsichtig entgegen: »Wir wollen uns den Glauben an die geschichtliche Mission der Arbeiterklasse durch nichts rauben lassen.« 16 Kritik an dem Verhalten der Sozialdemokratischen Partei wies Brauer zurück. Schlimmer noch als die materielle Not der Einzelnen sehe er Gefahren »aus der sogenannten Selbstkritik und einer die gegebenen Verhältnisse nicht achtenden Revolutionsromantik. W i r können mit umgekehrten Vorzeichen den Kapp-Putsch nicht brauchen.« 1 7 Die blutige Niederschlagung des Aufstandes der Wiener Arbeiter im Februar 1934 durch das DollfußRegime war Brauer eine nachträgliche Rechtfertigung der zurückhaltenden Taktik der deutschen Sozialdemokratie 1933. »Die kommenden Ereignisse, in denen die Arbeiter wieder Weltgeschichte machen«, so Brauer unbeirrt, »müssen uns geläuterter und noch reifer finden. Also, lieber Langendorf, verlieren Sie nicht den Mut und suchen Sie, soviel als möglich in dieser Zeit zu lernen.« 18 Brauer erwartete eine neue große Wirtschaftskrise, in die das HitlerRegime das Land stürzen und aus der die Erhebung der verarmten Massen erwachsen würde. Im Sommer 1934 hielt er sogar zumindest Teile des deutschen Bürgertums für fähig, die NS-Herrschaft zu beseitigen, nachdem sich die Arbeiter durch bessere Einkünfte für das Regime hätten gewinnen lassen: »Der Abgrund, in den die Nazipolitik das Land reißt, wird in den Kreisen der deutschen Bourgeoisie nicht unbekannt bleiben. Ich glaube auch, daß von dieser Seite die ersten Versuche kommen, das Ruder herumzuwerfen. Hoffentlich ergibt sich dann nicht die Groteske, daß unsere Arbeiter das System retten wollen.« 19 Im Unterschied zu Rudolf Katz, der sich auf eine längere Dauer der Diktatur einrichtete, glaubte Brauer, daß der wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands nahe sei, immer verbunden mit der H o f f n u n g , in naher Z u k u n f t wieder nach Deutschland zurückkehren zu können. Der M o m e n t der Irritation über die Integration der Arbeiter in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft dauerte nur kurz, schnell stand das feste Vertrauen in die Arbeiterschaft wieder im Vordergrund. In einer langen politischen Analyse im Juni 1934 wagte Brauer sogar die Prognose: »Den Putsch der Rechten werden wir am Ende dieses kommenden Winters vielleicht erleben. D a n n werden wir eine Zeitlang die zweite Etappe des Hitlerismus haben.
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Ich erwarte d a n n eine Erweckung der großen Massen, ein In-BewegungGeraten unserer alten Anhänger. Hiermit öffnet sich das Tor der neuen Zeit.« 20 Als Brauer von den Vorgängen des sogenannten »Röhm-Putsches« erfuhr, fand er seinen Optimismus bestätigt. Im inneren Kräfteverhältnis zwischen Nationalsozialisten und Konservativen hätten die letzteren die O b e r h a n d gewonnnen, von ihnen sei Hitler das Vorgehen gegen die SA aufgezwungen worden. Hatte er nicht kurz zuvor einen Putsch der Rechten für den W i n ter 1934/35 vorhergesagt? In völliger Fehleinschätzung des tatsächlichen Machtkampfes, der in Deutschland ausgetragen wurde u n d aus dem Hitler, die Wehrmacht und die SS als Sieger hervorgingen, war sich Brauer gewiß, daß Hitler nun von den Konservativen bald fallengelassen würde. Euphorisch riet er Rudolf Katz sogar, an die Wiederaufnahme seiner Anwaltspraxis in Altona zu denken. U m so größer war die Enttäuschung, als sich herausstellte, daß die Ereignisse des 30. Juni das NS-Regime weit mehr stabilisiert als erschüttert hatten. N u r zwei Monate später kommentierte Brauer das Ergebnis der Volksabstimmung vom 19. August 1934, durch die sich Hitler nach dem Tode Hindenburgs die Vereinigung von Präsidentenund Kanzleramt bestätigen ließ, mit den Worten: »Die Vertrauenskundgeb u n g für die Gangster ist doch gradezu ein Schande. Ich habe mich zum ersten Mal des deutschen Volkes geschämt.« 21 Dieses Schwanken zwischen siegessicherer H o f f n u n g und gekränkter Enttäuschung offenbart, wie unsicher Brauer trotz aller nach außen gezeigter Festigkeit in der Beurteilung des Nationalsozialismus war. Seine politischen Vergleiche wie etwa mit dem Kapp-Putsch stammten sämtlich aus dem unmittelbaren Erleben der Weimarer Republik. Das Vertrauen in die Massen, die sich erheben würden, sobald ihnen die wirtschaftliche Ausweglosigkeit zu Bewußtsein gekommen sei, basierte — unabhängig von der ökonomischen Fehleinschätzung - auf der traditionellen Vorstellung, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimme. D a ß der Nationalsozialismus mit solchen Kriterien nicht zu erklären war, zeigte sich im Laufe der Dauer seiner Herrschaft. Damals allerdings stand Brauer mit einem solchen Urteil keineswegs allein, der überwiegende Teil der deutschen Emigration wiegte sich bis weit in die dreißiger Jahre hinein in dem Glauben, das Hitler-Regime sei nur von kurzer Dauer. Im Rekurs auf vertraute Theorien, Begriffe und Erfahrungen entging den Emigranten das revolutionär Neue des Nationalsozialismus, der die Massen band, indem er ihnen nicht allein wirtschaftliche Wohlfahrt versprach, sondern eine neue Gesellschaft: die Volksgemeinschaft. Die immer wieder beschworene Parallele zur Verfolgung durch die Bismarckschen Sozialistengesetze Ende des 19. Jahrhunderts vermochte zwar erfolgreich an die heroische Tradition der Sozialdemokratie zu appellieren. Die Erinnerung an das »kollektive Gedächtnis« half manchem
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verfolgten Sozialdemokraten sicher auch in der persönlichen Bewältigung der Ereignisse. Aber für die Analyse des Nationalsozialismus taugte sie nicht viel. D e n n im Unterschied zu den reaktionären und autoritären Regimes der Vergangenheit, deren Charakter als Klassendiktatur offensichtlich war, gelang es den Nationalsozialisten, das soziale durch das völkische Prinzip zu ersetzen und eine Loyalitätsbasis zu schaffen, die bis in die letzten Kriegsjahre hinein halten sollte. D i e Auffassung, das N S - R e g i m e sei eine rechte Diktatur, die den Klassenantagonismus nicht auflösen könne und deshalb letztlich an ihm scheitern werde, die Brauer mit der überwiegenden M e h r heit der linken Emigranten teilte, war deshalb nicht falsch, traf aber nicht das charakteristisch neue M o m e n t des Nationalsozialismus. Vielleicht aber war daher die irrige H o f f n u n g a u f die Arbeitermassen oder die liberale Bourgeoisie sogar eine entscheidende Kraft, die Emigration zu überleben. I m unerschütterlichen Festhalten an dem guten Wesen der Arbeiterschaft, das Brauer in so exemplarischer Weise demonstrierte, wußten sich die Verlierer des Januar 1 9 3 3 trotz alledem auf der Seite der künftigen historischen Sieger.
III 1 9 3 4 wurde das Völkerbundengagement Brauers nicht zuletzt auf massiven D r u c k des deutschen Auswärtigen Amtes hin beendet, am 2 9 . September 1 9 3 4 verließ M a x Brauer C h i n a in R i c h t u n g U S A . A m 3. November 1 9 3 4 , an eben dem Tag, an dem ihn das nationalsozialistische Deutschland ausbürgerte, erreichte er N e w York. Seine Erwartungen, entweder in den U S A oder in Lateinamerika Arbeit zu finden, zerschlugen sich jedoch. Als er E n d e November 1 9 3 4 nach Frankreich zurückkehrte, hatte er seit seiner Flucht aus Altona die Welt zwar einmal umrundet, aber die langen Exiljahre standen ihm n o c h bevor. Für Brauer wurde das Jahr 1 9 3 5 zu einem der schwersten seiner Exilzeit. D i e Geldreserven aus C h i n a neigten sich dem E n d e zu, seine B e m ü h u n g e n , in der Genossenschaftsbewegung in Großbritannien, Frankreich, Belgien oder Schweden eine Stelle zu finden, verliefen im Sande. U n d Brauer war nicht der Typ eines Parteifunktionärs, für den eine bescheidene Stelle im Apparat der Exilpartei in Frage kam. Artikel zu schreiben, w o m i t andere sich notdürftig über Wasser hielten, lag i h m nicht. I m G r u n d e suchte er eine Tätigkeit, die seiner administrativen K o m p e t e n z als Bürgermeister entsprach. D i e Zeit als Altonaer Oberbürgermeister in der Weimarer Republik blieb für M a x Brauer der Angelpunkt seines Lebens. D i e zwei großen Bände »Neues Altona« trug er als Referenz durch die ganze Welt mit sich. D i e bedrückende materielle Situation lähmte Brauer politisch allerdings
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keineswegs. Er suchte mit Erfolg Anschluß an die politischen Emigrantengruppen in Paris und beteiligte sich an den Aktivitäten zur Bildung der Volksfront. Bereits im Februar 1933 hatte Brauer gemeinsam mit T h o m a s u n d Heinrich M a n n , Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Ernst Reuter und anderen bekannten Persönlichkeiten zu dem von Willi Münzenberg initiierten Kongreß »Das freie Wort« in Berlin aufgerufen, der angesichts der Verbote kommunistischer Tageszeitungen durch die Nationalsozialisten für das G r u n d recht aufPresse- und Meinungsfreiheit eintrat. 22 Konrad Heiden überlieferte die Geschichte, daß Brauer auf der letzten Tagung des preußischen Staatsrates am 23. Februar 1933 in Berlin auf den Vorsitzenden der KPD-Reichstagsfraktion, Ernst Torgier, zuging und ihn fragte: »Torgier, es ist fünf M i n u ten vor zwölf. Sie sehen, was im Lande geschieht. Werdet Ihr nicht endlich Vernunft annehmen und mit uns zusammengehen?« 2 3 Unter den Emigranten im Paris der Jahre 1935/36 war die H o f f n u n g auf die Volksfront, die die alten Spaltungen zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum sowie zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten überwinden sollte und durch die vereinte Kraft die Nationalsozialisten besiegen könnte, ungleich höher als 1933. 24 Brauer selbst schrieb an Rudolf Katz, daß er das Positive in Paris »doch in der neuen geistigen Orientierung [sehe], wie sie in den letzten Monaten erfolgreich zustande gekommen ist.« 25 Seine Gefährten aus China blieben gleichfalls von diesem politisch-intellektuellen Klima nicht unberührt: O t t o Klepper nahm an den Volksfrontkonferenzen teil, Albert Grzesinski und Rudolf Katz engagierten sich in internationalen Flüchtlingskomitees. Und nicht zuletzt die Tatsache, daß kein geringerer als Heinrich M a n n einer der Wortführer der Volksfrontbewegung war, dürfte ihre W i r k u n g auf Brauer nicht verfehlt haben. Dennoch bleibt merkwürdig, daß der strikte Antikommunist Brauer, der aus seiner Gegnerschaft zu den Kommunisten weder 1919 noch später in den USA einen Hehl machte, in diesen Jahren in Paris zu den Unterstützern der Volksfront gehörte. Sein Engagement für den Kongreß »Das freie Wort« sowie der Brief an Katz weisen jedoch auf den besonderen historischen M o m e n t hin. Die unmittelbare Bedrohung durch die Nationalsozialisten und die H o f f n u n g , jene durch eine gemeinsame Anstrengung entmachten zu können, bewogen viele Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Die zunehmende Einsicht, daß der Schwenk der K P D im Herbst 1935 nur ein taktischer gewesen war und vor allem die Erfahrungen mit den Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg führten dagegen rasch zu einer Ernüchterung über die Chancen eines solchen Bündnisses. Das alte Mißtrauen gegenüber der stalinistischen K P D erwies sich als nur zu berechtigt, eine Zusammenarbeit mit ihr kam für Brauer in den USA nicht mehr in Frage. Nachdem er Weihnachten 1935 nur mit M ü h e der Auslieferung durch die
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französischen Behörden an Deutschland entgangen war, kam ihm das Angebot des American Jewish Congress für eine m e h r m o n a t i g e Vortragsreise in die U S A sehr zupaß. Dort erhielt er eine weitere Einladung des Federal Council of the Churches of Christ in America zu einer zweiten Vortragsreise, mit der Brauer nur noch einmal für kurze Zeit nach Paris zurück kehrte, um endgültig im Herbst 1937 mit seinem Sohn in die USA überzusiedeln, Frau und Tochter folgten 1938. Seine erste Rede in den U S A hielt er auf einem Bankett des American Jewish Congress am 16. M ä r z 1 9 3 6 in New York. Darin zeichnete Brauer ein düsteres Bild Deutschlands: Drei Jahre nationalsozialistischer Herrschaft hätten ausgereicht, Deutschland, »diese alte, hochzivilisierte Nation im Herzen Europas ins finsterste Mittelalter zurückzuversetzen. Stille u n d Trübsal lasten auf d e m Land.« Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und ein latenter Antisemitismus hätten den Nationalsozialisten und ihrer Parole, die Juden seien an allem schuld, z u m Erfolg verholfen. D u r c h Unterstützung von Rüstungsmagnaten und ostelbischen J u n k e r n seien sie an die M a c h t gelangt, während sich die deutschen Arbeiter als resistent gegenüber der Nazi-Ideologie erwiesen hätten. »Hitler ist nicht durch demokratisch legitimierte Wahlen an die M a c h t g e k o m m e n , sondern durch den Verrat des Reichspräsidenten, der deutschen Richter und der Reichswehr: Der K o m m a n d a n t der Festung ließ vor d e m anstürmenden Pöbel die Brücke herunter und verbündete sich mit den Feinden der Republik. Das war das Ende.« 2 6 Der Antisemitismus sei in Wahrheit eine Propagandawaffe, um von den innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken und die Kriegsvorbereitungen zu kaschieren. »Überall und zu allen Zeiten diente er dazu, nicht nur die Juden, sondern gerade auch jene Völker selbst zu reglementieren, die von ihm vergiftet worden waren.« Die antijüdischen Aktionen, Verordnungen, Erlasse vom Judenboykott im April 1933 bis zu den Nürnberger Rassegesetzen ließen, so Brauer, jede H o f f n u n g schwinden, d a ß Deutschland unter den Nationalsozialisten nach einer Zeit antisemitischer Exzesse wieder zur Normalität zurückfinden könne. »Die seit drei Jahren währende Nazi-Herrschaft sind drei Jahre der Judenverfolgung gewesen. Es ist den Nationalsozialisten nicht möglich, die Rassenpolitik, die einen integralen Bestandteil der Nazi-Ideologie bildet, zu widerrufen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um ein neues Evangelium: Die Nazis haben die deutschen J u d e n z u m Untergang verurteilt.« 2 7 Trotz dieser klaren Worte fand Brauer nicht zur Konsequenz, den deutschen Juden zu raten, so schnell wie möglich d e m Machtbereich der Nationalsozialisten zu entfliehen. In der Auseinandersetzung zwischen den assimilatorischen und zionistischen jüdischen Organisationen hielt sich Brauer an die politische Linie seiner Gastgeber, die die zionistische A u s w a n d e rungspolitik nach Palästina nicht unterstützten, sondern für einen weltwei-
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ten jüdischen Kongreß warben. Vor dem Terror des Regimes dürften die deutschen Juden — genauso wie die deutschen Arbeiter - nicht kapitulieren. Obwohl sie ebensowenig wie die übrige Opposition dazu in der Lage seien, »den nationalsozialistischen Machthabern den Kampf anzusagen, so müssen sie dennoch daheim und überall sonst in der Welt unbedingt an dem Glauben festhalten, daß eines Tages der Nazi-Terror sein Ende finden wird.« 28 Damit sprach Brauer sich auch selbst Mut zu, und im Appell an die Juden, in Deutschland auszuharren, statt sich in Sicherheit zu bringen, klang die Furcht mit, die Opposition gegen Hitler könne erlahmen und das Land den Nationalsozialisten vollends ausliefern.
IV Politisch fand Brauer eine Heimat in der German Labor Delegation (GLD), die im März 1939 als Sonderausschuß des mächtigen, konservativen amerikanischen Gewerkschaftsbundes American Federation of Labor (AFL) gegründet worden war. 29 Ziel der GLD war von Anfang an, Geld für die Emigration, vor allem für den sozialdemokratischen Parteivorstand in Europa zu sammeln. Zu diesem Zweck wurde ein Beirat der GLD geschaffen, dem führende amerikanische Gewerkschaftsfunktionäre aus der AFL sowie einflußreiche Politiker angehörten. Die Organisation selbst bestand nur aus einer Handvoll Mitgliedern: Albert Grzesinski, Rudolf Katz, der ehemaligen Abgeordneten im preußischen Landtag Hedwig Wachenheim, dem ehemaligen Wirtschaftsberater des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes Alfred Braunthal, dem Publizisten und ehemaligen Reichtstagsabgeordneten Gerhart Seger, dem ehemaligen Leiter der Gewerkschaftssschule in Flensburg Alfred Kähler sowie Max Brauer. Da die Mitglieder der GLD keineswegs demokratisch legitimiert waren und ein »closed shop« blieben, konnten sie nicht als offizielle Vertretung des Parteivorstandes in den USA auftreten. Doch die Präsenz einer Reihe von Vorstandsmitgliedern, vor allem Friedrich Stampfers, in der GLD unterstützte ihren politischen Anspruch, die rechtmäßige sozialdemokratische Repräsentanz in den Vereinigten Staaten zu sein. 30 Damit war von vornherein der lang anhaltende und zum Teil überaus heftig geführte Konflikt mit der Gruppe Neu Beginnen angelegt, insbesondere mit Paul Hagen, wie sich das ehemalige KPD- und SAP-Mitglied Karl Frank jetzt in den USA nannte. 31 Die Forderung von Neu Beginnen, mit der politischen Tradition der Sozialdemokratie vor 1933 zu brechen, sowie die Tatsache, daß ehemalige Kommunisten bei Neu Beginnen tätig waren, bestimmten die politische Gegnerschaft zur GLD. Aber sicher spielten auch persönliche Gegensätze und nicht zuletzt die Konkurrenz auf dem Gebiet
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des Spendensammelns eine gewichtige Rolle, die auf politischem Terrain ausgetragen wurden. Zweimal trat ein Untersuchungsausschuß, dem auch Brauer angehörte, zusammen, um die gegenseitigen Vorwürfe zu klären; jedesmal trennte sich die Kommission ohne Ergebnis. 32 Während es in London im Laufe des Frühjahrs 1941 gelang, die sozialistischen und sozialdemokratischen Exilgruppen unter einem Dach, der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien, zu vereinigen, aus der die Nachkriegs-SPD entstehen konnte 3 3 , blieb die G L D den alten Feindstrukturen verhaftet. Ihre erbitterte Rivalität zu Neu Beginnen in den USA konnte in all den Exiljahren nicht überwunden werden. Die deutschen Kriegsverbrechen führten bei den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition bekanntermaßen zu teilweise heftigen Meinungsverschiedenheiten über Deutschlands Z u k u n f t nach dem Ende des Krieges. Während sich Roosevelt und Churchill in der Atlantic Charta vom August 1941 auf das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung und territoriale Integrität verständigt hatten, forderte beispielsweise Robert Vansittart, Unterstaatssekretär im Foreign Office der britischen Regierung, daß die Deutschen als die Unruhestifter des 20. Jahrhunderts von außen an die Kette gelegt werden m ü ß ten. 34 Brauer polemisierte heftig gegen derartige Vorstellungen. Auf einer Round-Table-Konferenz Anfang 1942 empörte er sich gegen das Prinzip, Deutschland unter internationale Kontrolle zu stellen, um einen weiteren Krieg zu verhindern: »Falls ein solches System dem deutschen Volk aufgezwungen würde, würde ich die Deutschen auffordern: Kämpft bis zum letzten Blutstropfen, das ist allemal besser, als diese Zwangsjacke zu akzeptieren.« 35 Derartige Äußerungen m u ß t e n sowohl die amerikanischen Behörden als auch den Parteivorstand in London in hohem Maße irritieren. Erich Ollenhauer berichtete in einem Brief an Friedrich Stampfer, daß Brauers Ausführungen Gegenstand besonders heftiger Kritik geworden seien 36 , u n d mahnte Anstrengungen zur Einheit an: »Wir glauben nach wie vor, dass der konkrete Teil der Entschließung der >Union< auch Basis für eine Stellungnahme der >German Labour Delegation bilden könnte. Könnten Sie und Ihre Freunde das akzeptieren, dann wären wir ein gutes Stück weiter, und wir wären auch vor Reden wie der von Brauer geschützt, die ja wirklich nicht verteidigt werden kann.« 37 Brauer indessen hielt an dem ungeteilten Souveränitätsanspruch Deutschlands nach dem Krieg fest. In einer Rede im Februar 1942 vor der Handelskammer in Orlando, Florida, die Brauer für so wichtig hielt, daß er sie als einzige aus der Exilzeit in den Sammelband seiner Reden und Ansprachen nach dem Krieg aufnahm 3 8 , gab er zwar der Forderung nach Demilitarisierung Deutschlands recht, fand aber eine eigenwillige Begründung, indem er behauptete, Deutschland sei ja wie alle anderen Völker Europas zum Gegenstand des Angriffs gemacht worden. Deshalb würde es die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes sicher begrüßen,
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wenn die Alliierten die Entwaffnung sämtlicher Angreifer forderten. Diese Argumentation, die Deutschland zum gleichrangigen Opfer des NSRegimes wie die von ihm besetzten Länder stilisierte, ging weit über die Prämissen der Atlantic Charta hinaus. Brauer befürwortete die territoriale Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen des Versailler Vertrages einschließlich des »polnischen Korridors«, für dessen Verlust Polen litauische Gebiete erhalten solle. In keiner Weise, so Brauer, dürften die Alliierten in die inneren Probleme Deutschlands eingreifen, wollten sie nicht ihre gerechte Sache ihres ethischen Wertes berauben. Eine Aufsicht über das deutsche Volk sei auch nicht nötig, da es, so Brauers Grundüberzeugung, nach dem Krieg mit Sicherheit eine demokratische Regierung wählen werde. Und wie so oft erscheinen bei Brauer die deutschen Arbeiter als Garant seiner Uberzeugung: »Seit der Nationalsozialismus an der Macht ist, hat es in Deutschland immer bedeutende revolutionäre Kräfte gegeben. Die deutsche Arbeiterschaft hat Hitler und seine Ideologen niemals anerkannt.« 3 9 Vielleicht war der Glaube an die Unversehrtheit der deutschen Arbeiter ein unvermeidliches Konstrukt, um die Vertreibung aus der Heimat, die Entbehrungen und Enttäuschungen des Exils durchzustehen. Brauers nach außen demonstrierte Unerschütterlichkeit, die in einem so deutlichen Kontrast zu seiner realen Exilsituation stand, spricht sehr für diese Überlegung. Indem man weiterhin als freie Stimme des »anderen Deutschlands« sprach, konnte die Bitterkeit der Niederlage 1933 durch das moralische Bewußtsein, auf der gerechten Seite zu stehen, zumindest gemildert werden. Die tatsächliche Entwicklung in Deutschland in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ließ sich von den USA aus jedoch nur schwer verfolgen. Weder die Vollbeschäftigung seit 1935/36 noch die sozialpolitischen Initiativen des NS-Regimes und ihr Echo in der Arbeiterschaft waren in dem Bild der Emigranten von Deutschland enthalten. 40 Ebenso fehlte die wachsende Zustimmung zu Hitlers außenpolitischen Erfolgen, die auch Arbeiter in ihren Bann zogen. 41 Nicht zuletzt war ein Großteil der deutschen Arbeiterschaft im Krieg ganz anderen Einflüssen unterworfen als in den vertrauten Sozialmilieus des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Die Erfahrungen der massenhaft erlittenen und ausgeübten Gewalt prägten in diesem Jahrhundert mindestens zwei Generationen von Arbeitern und deren Familien. Arbeiter waren nicht nur Opfer der Kriegsgewalt, als Soldaten im Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion wurden sie auch zu Tätern. 4 2 Die Dimension dieser Erfahrungen, vor allem bei jüngeren Arbeitern, die in der Diktatur groß geworden waren, war für die Emigranten kaum zu erfassen. W i e würden diese jungen Arbeiter zur traditionellen Arbeiterbewegung stehen? Welche Auswirkungen besaß der Bombenkrieg, der auch Arbeiterviertel in Schutt und Asche legte und erhalten gebliebene Nachbarschaften und Familien weit zerstreute? »Wir wissen relativ wenig über die Stellungnahme der deutschen Arbeiter zu ihren
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alten Bewegungen«, warnte Hans Staudinger im Frühjahr 1943, »vor allem wissen wir gar nicht, wie die jüngeren sich zu ihnen verhalten. Noch unrichtiger wäre es, wenn wir uns anmaßen, daß der Parteivorstand oder auch wir die früheren Sozialdemokraten, die jetzt in der Emigration leben, repräsentieren würden. Dazu sind zu viele von uns weggegangen.« 43 Dennoch erwies sich gerade dieses »Unwissen« später als Vorteil, denn es erleichterte Brauer, Katz u n d anderen Emigranten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, unbefangen und voller Tatendrang an den Wiederaufbau zu gehen. Indem Brauer nach dem Krieg die Zeit des Nationalsozialismus einfach ausblendete und dort wieder anknüpfte, wo er 1933 unterbrochen worden war, bot er auch denen eine Chance zur Mitarbeit, die in das NS-Regime verstrickt gewesen waren. Im Exil in den USA legitimierte der Glaube an den guten Kern im deutschen Volk den Anspruch, nach der Entmachtung der Nationalsozialisten und der mit ihnen verbündeten Gruppen wieder gleichberechtigt in die Völkergemeinschaft eintreten zu können. Eher zog Brauer die politische Isolation vor, als sich dem antifaschistischen Zeitgeist zu beugen. Dem Leiter der Mitteleuropa-Abteilung des militärischen Nachrichtendienstes Office of Strategie Services (OSS), Walter L. Dorn, der ihn aufgefordert hatte, seine starre Ablehnung gegenüber den Linkssozialisten und Kommunisten zu begründen, schrieb er: »Gemeinsame Aktion ist nur möglich mit jenen Gruppen, deren Stellung zur Demokratie unzweideutig ist, und welche die demokratischen Spielregeln anerkennen. Einheit auf Kosten der Selbstaufgabe ist Selbstmord. Es würde für die Menschheit besser sein, wenn die große, alte sozialdemokratische Bewegung in Deutschland herabsänke auf ein Dutzend apostolischer Seelen, die sich selbst treu bleiben, als daß wir eine neue Massenbewegung erhalten, die alle geistigen und moralischen Ideale der früheren Bewegung verriete.« 44 Mit solchem auch nach außen getragenen Selbstbewußtsein mußten die deutschen Emigranten in der G L D ins Abseits geraten. Am 25. August 1942 schrieb Friedrich Stampfer dem Vorstand in London, daß die G L D , nachdem Sollmann und Kahler aufgrund politischer Differenzen ausgetreten seien und Staudinger sich zurückgezogen habe, faktisch nur noch aus Grzesinski, Brauer, Braunthal, Aufhäuser, Rinner, Katz, Wachenheim, Seger und ihm selbst bestehe. 45 Als Ausweg schlug Stampfer vor, die Basis zu verbreitern und einen neuen Vorsitzenden zu suchen. 4 6 Gegen dieses Drängen nach Rücktritt sträubte sich Grzesinski noch einige Zeit 47 , legte jedoch im Februar 1943 den Vorsitz nieder und erklärte seinen Austritt aus der G L D . Der Vorschlag Stampfers, den Vorsitz nun auf Brauer zu übertragen, stieß allerdings nach eigenem Bekunden noch »auf ziemlich starken Widerstand«. 4 8 Brauer, den Stampfer neben Hedwig Wachenheim u n d Hans Staudinger und in unverhohlener Abgrenzung zu Rudolf Katz — zu »den besten Leuten [zählte], die wir hier haben« 49 , m u ß t e sich den Vorstand mit Siegfried Auf-
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häuser teilen, bevor die übrigen GLD-Mitglieder ihn als Ko-Vorsitzenden akzeptierten. 50 Als im Frühjahr 1944 erstmals ein umfassendes, überparteiliches u n d politisch ausbalanciertes Gremium, das Council for a Democratic Germany 5 1 , durch das Engagement des Theologen Paul Tillich, zustande gekommen war, dem neben Bert Brecht, Erwin Piscator, Marie Juchacz, Heinrich M a n n , Fritz Sternberg auch Aufhäuser, Baerensprung und Grzesinski angehörten, gelang es der G L D wiederum nicht, sich aus den selbst geschaffenen Fesseln zu lösen. Nach einer anfänglichen Zusage verweigerte sie ihre Mitarbeit, weil sie unter keinen Umständen mit Kommunisten an einem Tisch sitzen wollte. 52 Aufhäuser verließ daraufhin die G L D , Brauer übernahm das Präsidentenamt allein. Ostern 1945, kurz vor dem Ende des Krieges, veröffentlichte die G L D eine Erklärung: »What Is To Be Done W i t h Germany?« 53 , die in moderateren T ö n e n inhaltlich dieselbe Position bezog. Die Autoren sind nicht eindeutig zu klären, doch handelte sich offenkundig um ein Gemeinschaftswerk von Stampfer, Brauer, Katz und Wachenheim. Eingangs wird noch einmal daran erinnert, daß die Arbeiterbewegung vor 1933 gegen Hitler gekämpft habe u n d auch während der NS-Herrschaft im Widerstand ihren Blutzoll geleistet habe. Die freie deutsche Arbeiterbewegung sei die Hauptstütze der künftigen Demokratie. Da sich die Deutschen jedoch nicht aus eigener Kraft von der NS-Herrschaft zu befreien vermocht hatten, sondern von der Anti-Hitler-Koalition militärisch besiegt wurden, müßten sie die alliierte Besatzung anerkennen. Aber so wichtig die harte Bestrafung der Naziverbrecher und die Ausrottung des Nazisystems auch sei, der Sieg über Deutschland dürfe nicht dessen Niederwerfung sein. Reparationen m ü ß t e n ihre Grenzen in der ökonomischen Kapazität finden, die Deutschen dürften nicht ihrer Hoffn u n g auf ein friedliches »Streben nach Glück« beraubt werden. Die Teilung Deutschlands müsse verhindert und die volle Souveränität schnellstmöglich wieder hergestellt werden. Auf keinen Fall dürften Gebiete ohne Zustimm u n g der dortigen Bevölkerung abgetrennt werden, die vor Hitlers Machtergreifung zu Deutschland gehörten. Die politischen Freiheiten der Weimarer Verfassung sollten so bald wie möglich wieder hergestellt und — solange es noch unmöglich sei, allgemeine Wahlen abzuhalten — zumindest auf kommunaler Ebene Selbstverwaltung und Wahlen zugelassen werden.
V Die Sozialdemokraten im Exil m u ß t e n allerdings schmerzlich erfahren, daß die Westalliierten keineswegs daran dachten, sie ohne weiteres das neue Deutschland nach ihren eigenen Vorstellungen aufbauen zu lassen. Im August 1944 hatte Stampfer geschrieben, daß er Tag u n d Nacht an die Rück-
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kehr denke 54 , sich aber von Ollenhauer hatte belehren lassen müssen, daß die Rückkehr von der Besatzungspolitik der Alliierten abhänge und es selbst unter den Westalliierten Stimmen gäbe, die von einer Beteiligung der Emigranten an der neu aufzubauenden Zivilverwaltung der Besatzungszonen nichts wissen wollten. 55 Auch Brauer bemühte sich nach Kräften um die Rückkehr nach Deutschland. Er versuchte, über die American Federation of Labor (ALF) die Reise nach Deutschland zu bewerkstelligen, schließlich stand er als GLD-Präsident einem offiziellen Gremium der AFL vor. Trotz der guten Verbindungen kostete es reichlich Mühen, bis Max Brauer und Rudolf Katz endlich im Besitz der notwendigen Reisepapiere waren. Erst im Juli 1946 konnten beide nach Deutschland zurückkehren. Brauer beschrieb die Rückkehr später: »Als wir das Nobis-Tor erreicht hatten, glaubten wir, nun beginne Altona, der Altstadtkern, der sich einmal eng um das schöne alte Rathaus geschachtelt hatte. W i r fanden weder das Rathaus noch den Stadtkern. W i r fanden Einöde. Unser Altona, unsere alte Heimat war ausgelöscht.« 56 Brauer und Katz reisten zwar im Auftrag der AFL, Brauer inzwischen als amerikanischer Staatsbürger, aber von Anfang an suchten sie ihre politische Zukunft in Deutschland. Zur Hamburger SPD bestanden bereits vor ihrer Abreise aus den USA Kontakte. Karl Meitmann, erster SPD-Vorsitzender in Hamburg nach dem Krieg, hatte Brauer bereits das Bürgermeisteramt mehr oder weniger offen im Falle eines Wahlsieges, an dem nicht zu zweifeln war, angeboten. Nach dem Sieg der SPD in den Bürgerschaftswahlen am 13. Oktober 1946 wurde Brauer der erste frei gewählte Bürgermeister Hamburgs nach dem Krieg. Damit gelang es ihm, den Kreis ganz in der Weise zu schließen, wie er es in all den Exiljahren erhofft und erwartet hatte: Als Altonaer Oberbürgermeister war er vor den Nazis geflohen und - durch das nationalsozialistische Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, das auch Altona eingemeindet hatte — als Hamburger Bürgermeister wieder zurückgekehrt. Brauer blieb ein Exilant auf Abruf, jederzeit bereit, nach Deutschland heimzukehren. Erst sehr spät, 1943, hat er die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt, die er ohne Zögern wieder aufgab, als sich die Chance bot, in Deutschland politisch zu wirken. Als Emigrant durchquerte Brauer die ganze Welt, und dennoch blieb sein Blick unbeirrt auf Deutschland gerichtet. In seinen Briefen und Reden spiegeln sich die Hoffnungen, Enttäuschungen und Pläne ebenso wie die Fehlurteile und Illusionen von Teilen des sozialdemokratischen Exils. Der Irrtum, die deutschen Arbeiter hätten sich als immun gegenüber den nationalsozialistischen Verführungen erwiesen, überdauerte sogar das Kriegsende. In einem exemplarischen Artikel schilderte Rudolf Katz das Wiedersehen mit den alten Parteifreunden auf einer Versammlung in Altona. »Unter den zahllosen Freunden gibt es zwei Klassen — solche, die sich äußerlich überhaupt nicht und solche, die sich sehr stark
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verändert haben. Dreizehn Jahre sind dreizehn Jahre, und wir werden alle nicht jünger. Aber manche von ihnen kamen dort auf mich zu und sahen dabei um keinen Deut anders aus als in der letzten Stadtkollegien-Sitzung von Anfang 1933.« Und er hörte, »daß von jenen alten 900 Mitgliedern nicht einmal zehn der Nazi-Partei beigetreten waren angesichts des ewigen und stärksten Drucks.« Folgerichtig war für Katz die Befürchtung, die Daheimgebliebenen könnten gegen die Emigranten Vorwürfe erheben, grundlos. »Daß man nichts mehr von ihnen wissen wollte, daß man sie als eine Art von Drückebergern vom Schlachtfeld ansähe, während die Heimgebliebenen und Untergrund-Kämpfer die wahren Heroen seien — alles das erweist sich jetzt als pure Legende.« 57 Und doch steckt in dieser »Verblendung« gegenüber der tatsächlichen Beteiligung so vieler an der Herrschaft wie an den Untaten des Nationalsozialismus auf paradoxe Weise eine entscheidende Kraft, die Ärmel aufzukrempeln und den Wiederaufbau Deutschlands anzupacken. Indem Brauer und Katz die reale Verstrickung der Deutschen nicht zur Kenntnis nahmen, waren sie in der Lage, mit den Belasteten zusammenzuarbeiten. Die Unbedenklichkeit, mit der Brauer als Hamburger Bürgermeister dieselbe Sekretärin weiterbeschäftigte, die schon dem NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Kaufmann gedient hatte, erhellt als charakteristische Anekdote seine Einstellung den Daheimgebliebenen gegenüber. Katzens Geschichte über die unbeschadeten Altonaer Sozialdemokraten, die quasi, nachdem sie über zwölf Jahre verschüttet waren, nun wieder ans Tageslicht gelangten, weist in die gleiche Richtung. Indem Emigranten als Heimkehrer nach dem Krieg an der Schuld der Dagebliebenen nicht rührten, boten sie einen »Wiederaufbaupakt« an, der, indem er die Vergangenheit ausklammerte, den Blick nach vorn richtete. Daß dieser »Wiederaufbaupakt« auf Verdrängung beruhte, machte ihn nicht weniger realitätsmächtig. Im Gegenteil, vielleicht war es sogar die verharmlosende Wahrnehmung des Nationalsozialismus, die es Brauer, Katz und anderen ermöglichte, unbeirrt, voller Tatkraft und im Glauben an das »Gute im Menschen« das Nachkriegs-Deutschland erfolgreich wiederaufzubauen.
1 Insgesamt amtierten im Deutschen Reich von 1918 bis 1933 in 19 Städten sozialdemokratische Oberbürgermeister, siehe Susanne Miller: »Sozialdemokratische Oberbürgermeister in der Weimarer Republik«. In: Klaus Schwabe (Hg.): Oberbürgermeister. Boppard a.Rh. 1981, S. 1 0 9 - 1 2 4 . — 2 Vgl. Neues Altona. Zehn Jahre Auftau einer Großstadt, herausgeben von Paul Theodor Hoffmann. Altona 1929; Christoph Timm: Gustav Oebner und das neue Altona.
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Kommunale Architektur und Stadtplanung in der Weimarer Republik. Hamburg 1984. — 3 Anthony McElligott: »>... und so kam es zu einer schweren Schlägerek Straßenschlachten in Altona und Hamburg am Ende der Weimarer Republik«. In: M.Bruhns u.a: »Hier war doch alles nicht so schlimm. « Wie die Nazis in Hamburg den Alltag eroberten. Hamburg 1984, S. 5 8 - 8 5 . — 4 Vgl. Léon Schirmann: Der Altonaer Blutsonntag 17. Juli 1932. Hamburg 1994. — 5 Hamburger TageblattWi. 4 9 vom 27. Februar 1933. Max Ellen selbst soll für die Veröffentlichung der Vorwürfe gesorgt haben; siehe das Urteil des Landgerichts Altona v o m 28. Juli 1933, Az. 9 L. 1 4 5 / 3 3 , Staatsarchiv Hamburg (StAH), Regierung Schleswig, D K 22. — 6 Siehe dazu ausführlicher das Kapitel »März - April 1933: Verfolgung und Flucht«. In: Christa Fladhammer/Michael Wildt (Hg.): Max Brauer im Exil. Briefe und Reden aus den Jahren 1933-1946. Hamburg 1994, S. 2 4 - 3 1 . — 7 Anthony McElligott: »Kommunalpolitische Entwicklungen in Altona von Weimar bis zum Dritten Reich«. In: Stadtteilarchiv Ottensen e.V. (Hg.): » Ohne uns hätten sie das gar nicht machen können«. Nazi-Zeit und Nachkrieg in Altona und Ottensen. Hamburg 1985, S. 1 2 - 1 9 . — 8 Vgl. dazu ausführlich Fladh a m m e r / W i l d t (Hg.): Max Brauer im Exil, a . a . O . , S. 31 - 4 9 . — 9 So klagte Rudolf Katz, der mit Brauer nach China gegangen war, im Juli 1934, daß man fünf Wochen auf die Freiheit warten müsse, um ein besseres Bild von deutschen Verhältnissen zu bekommen als die Shanghai-Zeitungen vermittelten; Rudolf Katz an Max Brauer, 9 . 7 . 1 9 3 4 , Fladhammer/Wildt (Hg.): Max Brauer im Exil, a . a . O . , S. 2 2 7 . Die sozialdemokratische Deutsche Freiheit unter Max Braun erschien von 1933 bis 1935 in Saarbrücken, anschließend bis 1939 in Paris. — 10 Max Brauer an Josef Witternigg, 6 . 9 . 1 9 3 3 ; ebd., S. 108. — 11 Ebd. — 12 Max Brauer a n M . Higelin, 2 6 . 9 . 1 9 3 3 ; ebd., S. 114. — 13 Max Brauer an Kurt Meyer-Radon, 16.5.1934; ebd., S. 1 9 5 - 1 9 7 . — 1 4 Max Brauer an Leopold Lichtwitz, 2 . 1 0 . 1 9 3 3 ; ebd., S. 1 16. — 15 Max Brauer an Charles Delzant, 12.9.1933; ebd., S. 1 12. — 16 Max Brauer an Ernst Langendorf, 17.3.1934; ebd., S. 1 6 5 - 1 6 6 . — 17 Ebd. — 18 Ebd. — 19 Max Brauer an Ernst Langendorf, 2 8 . 6 . 1 9 3 4 ; ebd., S. 218. — 2 0 Ebd., S. 219. — 2 1 Max Brauer an Rudolf Katz, 3 . 9 . 1 9 3 4 ; ebd., S . 2 3 9 . — 2 2 Berichte der Berliner Politischen Polizei über den Kongreß »Das freie Wort« sowie Aufrufe und Zeitungsartikel finden sich im Bundesarchiv Koblenz, R 5 8 / 3 9 1 . — 2 3 Torgier soll geantwortet haben: »Fällt uns gar nicht ein. Die Nazis müssen an die Macht. In vier Wochen wird dann die ganze Arbeiterschaft geeinigt sein unter der Führung der KPD.« Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Zürich 1936, S. 4 1 0 . — 2 4 Vgl. Ursula Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland?, Band I.Vorgeschichte und Gründung des >Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront< 1933-1936. Frankfurt/M. 1977. — 2 5 Max Brauer an Rudolf Katz, 11.1.1935; Fladhamm e r / W i l d t (Hg.): Max Brauer im Exil, a . a . O . , S. 2 5 0 . — 2 6 Rede vor dem American Jewish Congress in N e w York am 16. März 1936; ebd., S. 2 6 4 - 2 7 5 . — 2 7 Ebd. — 2 8 Ebd. — 2 9 Vgl. dazu insgesamt Joachim Radkau: Die deutsche Emigration in den USA. Düsseldorf 1971. — 3 0 Zur politischen Entwicklung der G L D und der sozialdemokratischen Emigration in den U S A vgl. Erich Matthias (Hg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer. Düsseldorf 1968. — 3 1 Vgl. Claus-Dieter Krohn: »Exilierte Sozialdemokraten in N e w York. Der Konflikt der German Labor Delegation mit der Gruppe N e u Beginnen«. In: » Front populaire allemand«. Einheitsfront- Volksfront. Etudes réunies par Michel Grunwald, FrithjofTrapp. Bern 1990, S. 8 1 - 9 8 . — 3 2 Bericht des Untersuchungsausschusses im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, F 2 2 0 / 1 ; siehe ebenfalls Radkau: Emigration, a . a . O . , S. 1 8 2 - 1 8 4 . — 3 3 Vgl. dazu Werner Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940-1945• Hannover 1968, S. 9 3 - 102; siehe hierzu auch den Beitrag von Ludwig Eiber in diesem Jahrbuch. — 3 4 Zum »Vansittartismus«, zu dem sich auch einige emigrierte Sozialdemokraten wie der ehemalige Vorzi/äm-Redakteur Curt Geyer (alias Max Klinger) bekannten, vgl. Erich Matthias: Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933—1938. Stuttgart 1952, S. 2 6 8 - 2 8 1 ; zu den »Vansittartisten« in den U S A siehe Radkau: Emigration, a. a. O., S. 2 0 4 - 2 1 3 . — 3 5 Zit. in der Erklärung der Fight for Freedom-Gruppe vom 2. März 1942, in: Matthias (Hg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland, a . a . O . , S. 5 4 0 . — 3 6 Ollenhauer an
Die Kraft der Verblendung
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Stampfer, 17. Februar 1942, in: ebd., S. 535. — 37 Ollenhauer an Stampfer, 22. März 1942, in: ebd., S. 544. Vgl. auch Helga Grebing: »Was wird aus Deutschland nach dem Krieg? Perspektiven linkssozialistischer Emigration für den Neuaufbau Deutschlands nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur«. In: Exilforschung 3 (1985), S. 4 3 - 5 8 . — 38 Rede »Krieg, Revolution und Frieden«, gehalten in Orlando/Florida am 3. Februar 1942, erstmals abgedruckt in: Max Brauer: Nüchternen Sinnes und heissen Herzens... Reden und Ansprachen. Hamburg 1952, S. 4 4 5 - 4 5 5 . — 39 Ebd. — 40 Zu den zahlreichen Versuchen der Nationalsozialisten, die Arbeiter zu »bändigen«, vgl. Timothy W. Mason (Hg.): Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Opladen 1975. — 41 Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 1980, S. 111 - 1 3 0 . — 42 Vgl. Alf Liidtke: »The Appeal of Exterminating >Othersz