Exil und Avantgarden [Reprint 2021 ed.] 9783112422823, 9783112422816


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German Pages 284 Year 1999

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Exil und Avantgarden [Reprint 2021 ed.]
 9783112422823, 9783112422816

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Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 16

EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 16 1998 EXIL UND AVANTGARDEN Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler und Wulf Koepke

edition text + kritik

Anschriften der Redaktion: Erwin Rotermund Grenzweg 7 55130 Mainz Lutz Winckler Vogelsangstraße 26 72131 Ofterdingen

Die deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme F.xil und Avantgarden / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn ... - München: edition text + kritik, 1998 (Exilforschung ; Bd. 16) ISBN 3-88377-591-6 NE: Krohn, Claus-Dieter [Hrsg.]

Satz: Fotosatz Schwarzenböck, Hohenlinden Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlag-Entwurf: Thomas Scheer/Konzeption: Dieter Vollendorf © edition text + kritik, München 1998 ISBN 3-88377-591-6

Inhalt

Vorwort

Peter Rautmann

Rosamunde Neugebauer

Stephan Braese

Gedächtnis — Erinnern — Eingedenken. Walter Benjamins Passagenarbeit und Dani Karavans Passagen in Portbou

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Avantgarde im Exil? Anmerkungen zum Schicksal der bildkünstlerischen Avantgarde Deutschlands nach 1933 und zum Exilwerk Richard Lindners

32

Auf der Spitze des Mastbaums. Walter Benjamin als Kritiker im Exil

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Dieter Schiller

Etwas Anständiges, das auch etwas W i n d macht. Zu Anna Seghers' Briefwechsel mit der Redaktion der Zeitschrift Das Wort 87

Doerte Bischoff

Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers

Thomas Hilsheimer

Marion Marquardt

Jost Hermand

Hebräerland

105

Das Scheitern der Wirtschaftsmacht an den politischen Umständen. Robert Neumanns Exilerzählung Sephardi

127

Zu einigen Aspekten der HofmeisterBearbeitung Bertolt Brechts

142

Das Eigene im Fremden. Die Wirkung der Exilanten und Exilantinnen auf die amerikanische Germanistik

157

Helmut G. Asper

Filmavantgardisten im Exil

174

Jörg Jewanski

»Ich brauche mich mit >Geschäften< nicht mehr zu befassen, nur mit Kunst«. Alexander Läszlö und die Weiterentwicklung seiner Farblichtmusik im amerikanischen Exil

194

»Wenn ich eines richtig gemacht habe...«. Berliner Sexualwissenschaftler in Palästina/ Israel

229

Joachim Schlör

Rezensionen

253

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

273

Vorwort

Fragen nach dem Zusammenhang von Exil und Avantgarde können von unterschiedlichen Standpunkten aus angegangen werden. Der früher erhobene Vorwurf des Traditionalismus der 1933 exilierten Künste tritt zunehmend zurück hinter grundsätzlichen Fragestellungen über die modernen Avantgardebewegungen — Überlegungen etwa, wie sie Peter Bürger in seiner 1974 erschienenen Theorie der Avantgarde zur historischen Institutionalisierung der Avantgardebewegungen angestellt hat oder wie sie die Autoren des 1979 in der DDR erschienenen Sammelbands Künstlerische Avantgarde zum Verhältnis von Avantgarde und Politik erörtert haben. Die Veröffentlichungen der siebziger Jahre gingen noch von der historischen Berechtigung der Avantgarden, von ihrer Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Selbsterneuerung im Rahmen eines säkularen Fortschrittsprozesses aus. Der Historismus der Postmoderne scheint zusammen mit dem Konzept des Fortschritts auch jenes der Avantgarden abgelegt zu haben. Die Skepsis gegenüber dem einlinigen Fortschrittsbegriff der Aufklärung und der in ihm begründeten technischen und politischen Modernisierungskonzeption hat auch die »Teleologie der modernen Kunst*, von der die Avantgarden leben, erreicht (Andreas Huyssen). Ein Paradigmenwechsel scheint sich vollzogen zu haben, der von der Philosophie auf die Kunst und deren wissenschaftliche Reflexion zurückschlägt: an die Stelle der Utopie tritt die Erinnerung, oder, wie Walter Benjamin in den 1940 niedergeschriebenen Thesen zur Geschichte notiert hat, das Eingedenken an die Opfer und ihre vom Fortschritt zunichtegemachten Hoffnungen. Der rückwärts auf die geschichtlichen Katastrophen, den Fortschrittsschutt, blickende >Engel der Geschichte* ersetzt den vorwärtsstrebenden Fortschrittsengel, der die Schalmeien der Arbeiterbewegung, die Trompete des Klassenkampfs blies und als >fée électricité* auf dem Wandgemälde Raoul Dufys zum Emblem der letzten Pariser Weltausstellung vor dem Zweiten Weltkrieg avanciert war. Die Beiträge dieses Bandes folgen den unterschiedlichen Linien dieser Debatte. Sie verfolgen Aspekte exil- und akkulturationsbedingter Institutionalisierung, der Migration und Transformation der in den zwanziger Jahren entstandenen, nach 1933 aus Deutschland vertriebenen Avantgardebewegungen an Beispielen aus Malerei, Film, Musik, aber auch der Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik. Einen Schwerpunkt bilden Untersuchungen, die sich mit Rekonstruktionsprozessen der ins Exil getriebenen literarischen Moderne beschäftigen: der Literaturkritik Walter Benjamins, dem epischen Werk Else Lasker-Schülers, den ästhetischen Positionen Anna

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Vorwort

Seghers', den Klassikerbearbeitungen Bertolt Brechts, dem Beitrag der amerikanischen Nachkriegsgermanistik zur wissenschaftlichen Rezeption der historischen Avantgarden der deutschen Literatur. Peter Rautmann interpretiert in seinem Beitrag über Dani Karavans Benjamin-Denkmal die Topographie des in Portbou errichteten Bauwerks im >Kontext der Geschichtstheorie< Walter Benjamins. Im Mittelpunkt der Denkmalsarchitektur steht die >PassageOrtlosigkeit< des Literaturkritikers auf dem Literaturmarkt, sondern verweisen auf grundlegende Aspekte des ästhetischen und philosophischen Denkens Walter Benjamins. In der Isolierung des Literaturkritikers auf dem Markt spiegelt sich der Verfall seines geschichtsphilosophischen Vertrauens in die ästhetische und politische Praxis einer Volksfront-Ästhetik, die zunehmend unter den Einfluß Stalinscher Dogmatik und Repression gerät. Diese Erfahrung begründet die geschichtstheologische Wendung Benjamins zum Messianismus einer revolutionären Jetzt-Zeit, die mit den Überlebenden der sich abzeichnenden Katastrophe zugleich die Opfer aller geschichtlichen Katastrophen erlösen werde. Die von Benjamin intendierte Neubestimmung der Avantgarde durch den Rückgriff auf den in jüdischer Theologie und jüdischer Exilerfahrung begründeten Messianismus, der mit der säkularisierten Geschichtsteleologie und ihren auf Totalität zielenden Versöhnungsangeboten bricht, rückt ihn in die Nähe zu Else Lasker-Schüler, deren in den dreißiger Jahren entstandenen Roman Das Hebräerland Doerte Bischoff untersucht. Ihre um Differenzierung und Abgrenzung von der bisherigen Forschung bemühte Analyse des Romans, seiner Raum- und Zeitstruktur, beruft sich auf eine Erzählstrategie, die alle Sinn- und Identitätsangebote zurückweist und statt dessen die Brüche und Hohlräume des ästhetischen

Vorwort

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Diskurses markiert. Wo die bisherige Forschung dem Roman und seiner Autorin einen Heimkehrwunsch, Ankunft in der >Heimat< Palästina unterstellt, sieht Doerte Bischoff das fortgesetzte Exil des Schreibens, das sich in der unabschließbaren Suche nach dem Anderen, Fremden — nach Differenz, manifestiere. Bischoff begreift Avantgardetexte als »Figurationen des Ubergangskritisch-dialektischen< Vollzug der Vernunft als alleinigem Medium und Ziel des Geschichtsprozesses band und auf diese Weise auch ästhetisch blind wurde für das Abweichende, die sich der Vernunft entziehenden Gefühle, für eine Moral, die sich der Ethik des Klassenkampfs nicht einfach unterordnet.

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Vorwort

Ein historisches Gegenszenarium zur unmittelbaren Nachkriegszeit in der DDR und der in ihr verorteten Theater-Avantgarde entwirft Jost Hermand in seinem Uberblick über die amerikanische Nachkriegsgermanistik und ihre Einstellung zur Exilliteratur. Der historische Durchbruch zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit den historischen Avantgarden, angefangen von den deutschen Jakobinern über Heinrich Heine bis hin zur Exilliteratur nach 1933, hat sich nach Hermand erst spät, gegen Ende der sechziger Jahre vollzogen. Er verbindet sich mit den Arbeiten einer jüngeren Forschergeneration, die, wie Jost Hermand selbst, seit den späten fünfziger Jahren in die USA gegangen ist. Ihr Versuch, der amerikanischen Germanistik und Öffentlichkeit die linksliberalen, radikaldemokratischen und sozialistischen Traditionen der deutschen Literatur und Kultur zugänglich zu machen, sei auf den Widerstand gerade der exilierten Germanisten und Germanistinnen, ihres an der Höhenkammliteratur orientierten traditionellen Literaturverständnisses gestoßen. Die Dominanz dieser kulturkonservativen Position sei erst gewichen, als die mit ihr verbündeten formal-ästhetischen Methoden des amerikanischen New Criticism durch ein sozialgeschichtliches Interpretations-Paradigma, das seine Quellen in den theoretischen und literarischen Texten des deutschen Exils gefunden habe, ersetzt worden sei. Der Filmavantgarde und ihrem Schicksal nach 1933 wenden sich Helmut G. Asper und Jörg Jewanski zu. Helmut G. Asper legt dar, wie die bereits vor 1933 relativ eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten der europäischen Filmavantgardisten sich im Exil weiter verschlechterten. Unter diesen Bedingungen war eine kontinuierliche Produktion nicht möglich. Der dennoch erhebliche Einfluß, den Hans Richter, Lázló Moholy-Nagy und andere auf die jüngere Generation von Filmkünstlern ausübten, beruhte auf der Nachund Fernwirkung ihrer früheren filmischen Experimente. In Ausnahmefällen, wie bei Oskar Fischinger, hat die Exilproduktion unmittelbar auf die neue Generation von Avantgardefilmern eingewirkt. Von einem ungewöhnlichen Avantgardeprojekt und den Gründen seines Scheiterns berichtet Jörg Jewanski in einer materialreichen, eine terra incógnita betretenden Studie über den Komponisten, Pianisten, Dirigenten und Erfinder Alexander László (1875-1970). Der 1938 nach New York emigrierte ehemalige Professor an der Staatlichen Deutschen Filmschule machte 1939/40 den vergeblichen Versuch, seine in den zwanziger Jahren entwickelte (durch ein Farblichtklavier zu realisierende) Farblichtmusik einzuführen, war dann allerdings jahrzehntelang als Film- und Fernsehkomponist erfolgreich. Joachim Schlör ist den Spuren zweier herausragender Berliner Sexualwissenschaftler in Palästina und Israel nachgegangen. Max Marcuse, langjähriger Herausgeber der ZeitschriftftirSexualwissenschaft\snd Verfasser eines 1923 erschienenen Handbuchs für Sexualwissenschaft, und Felix A. Theilhaber, Zionist und einer der Pioniere der Sexualreform, sind nach 1933 nach Palä-

Vorwort

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stina emigriert und haben dort als Ärzte, Psychiater, als Prozeßgutachter bzw. Gründer der ersten privaten Krankenversicherung gewirkt. Ihr Schicksal und das ihrer Disziplin legt es nahe, die Frage nach den Avantgarden neu - und zwar im Kontext ihrer sozialen Entstehungs- und Funktionsbedingungen — zu stellen. Der soziologische und kulturelle Kontext, in welchem sie um die Jahrhundertwende in Berlin und Wien entstanden waren, fehlte in Palästina. Dort trafen die emigrierten Sexualwissenschaftler auf einen Kontext, der nicht durch die westeuropäische Metropolenkultur, sondern durch die Ökonomie der agrarischen Kibbuzim, die durch die Ghettoerfahrung bestimmte Tradition der zumeist osteuropäischen Einwanderer und durch die zionistische Utopie bestimmt waren. Vor diesem Hintergrund m u ß die Leistung der emigrierten sexualwissenschaftlichen Avantgarde bewertet werden. Sie habe, so Schlör, »Traditionsbestände einstiger Avantgarde in ein neues Experiment, den Aufbau des jüdischen Staates, eingebracht«. Eine Feststellung, die möglicherweise auch ftir andere Avantgarden in anderen Exilländern gilt und die die Ausgangsfrage nach den Avantgarden insofern neu stellt, als der Akzent vom Exil auf die Akkulturation verlegt wird, das Exil der Avantgarden als Sonderproblem der auf internationalen Austausch angelegten Geschichte des Kulturtransfers erscheint. Der informationsreiche Beitrag von Rosamunde Neugebauer bestätigt mit seinem positiven Befund diesen Ansatz. Er gilt dem Maler Richard Lindner, der bis zu seinem 50. Lebensjahrais Werbegraphiker und Illustrator tätig war und der, wie sie zeigen kann, im Exil als Maler den Anschluß an die internationale Avantgarde gefunden hat.

Peter Rautmann

Gedächtnis - Erinnern - Eingedenken Walter Benjamins Passagenarbeit

und Dani Karavans Passagen in Portbou

Kultur und Barbarei Bereits in Walter Benjamins Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker finden sich grundlegende Formulierungen zu einer materialistischen Geschichtstheorie, wie sie später in den Thesen Uber den Begriff der Geschichte wieder aufgenommen werden. Benjamin kritisiert hier die Vorstellung einer angeblich selbständigen, von der politischen Geschichte als getrennt angesehenen Kulturgeschichte: »...was er (der historische Materialist, P. R.) an Kunst und Wissenschaft überblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.«1 Die Barbarei besteht für Benjamin in der Verselbständigung der Kulturgüter, sie als Beute- und Besitzstücke zu begreifen, losgelöst von ihren Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen und ihrer Einbettung in einen Konformismus der Uberlieferung. Diese Gefahr besteht gegenüber jedem geschichtlichen Material. Benjamin fordert dagegen, Vergangenes so zu betrachten, wie es im Augenblick der Gefahr aufblitzt, als ein Unwiederbringliches verloren zu gehen. Es geht ihm um den spezifischen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Bild der Vergangenheit und einem einmaligen Moment der Gegenwart. Hält man sich Benjamins These eines Zusammenhangs von Kultur und Barbarei vor Augen, dann ermißt man die Schwierigkeiten, vor die sich jegliche Errichtung von Gedenkstätten, Karavans Hommage an Walter Benjamin in Portbou eingeschlossen, gestellt sieht. Benjamin erhob die Forderung, nicht nur der Genies, sondern auch »der namenlosen Fron der Zeitgenossen« zu gedenken — dies bildet einen möglichen Maßstab zur Beurteilung von Gedenkstätten, insbesondere für die Opfer des Faschismus. Der vorliegende Text wurde in einer Zeit geschrieben, die durch die langwierige Diskussion um das Holocaust-Mahnmal in Berlin geprägt ist, in der, nach Ablehnung des ersten Wettbewerbs und dessen Neuausschreibung, zuletzt vier Entwürfe miteinander konkurrierten - der Entwurf von Jochen Gerz, der eine Kombination von Denk-Mal und Stätten der Stille, der Erinnerung, des

Gedächtnis - Erinnern - Eingedenken

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Gesprächs vorsah, in dem zentral die Frage »Warum?« stehen sollte, — die eine Gedenkmauer mit Bruchstellen vorsehende Arbeit des Architekten Daniel Libeskind, der auch einen Zusammenhang zu dem von ihm entworfenen jüdischen Museum vorsah, - die das Symbol eines Davidsterns in den Mittelpunkt stellende Arbeit der Berliner Architektin Gesine Weinmiller, der, zerbrochen, sich nur aus einem Blickwinkel vom Rande des Monuments zusammenschließt, - und der zum Schluß favorisierte Entwurf des amerikanischen Künstlers Richard Serra und des Architekten Peter Eisenman, in dem ein Wald von eng nebeneinander emporragenden Stelen an einen jüdischen Friedhof (den Prager Friedhof beispielsweise) zu erinnern vermag. 2 Beinahe täglich konnte man in der Presse Pro- und Contra-Stellungnahmen lesen, etwa die von namhaften deutschen Intellektuellen wie Walter Jens, Günter Grass und Wolf Lepenies unterschriebene Erklärung, die dem Mahnmal Überdimensionalität und in seiner Abstraktheit Kälte vorwerfen, worin beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik ein Unverständnis gegenüber der abstrakten Moderne glaubt wahrnehmen zu können. 3 In dieser Diskussion wurden grundsätzliche Fragen des Verhältnisses der Deutschen zu ihrer Geschichte, des Umgangs mit dem Völkermord an den Juden und speziell von Möglichkeiten und Grenzen einer diese Vergangenheit gedenkenden und thematisierenden Kunst angesprochen: Kann es Kunst gelingen, für das Unvorstellbare Bilder zu finden oder muß Kunst daran scheitern? Fragen, die bereits angesichts des Atombombenabwurfs in Hiroshima diskutiert wurden, die sich bei der Todes- und Kriegsthematik generell stellen — erinnert sei etwa an Diskussionen zu Vietnam- und Koreakrieg-Mahnmalen in den USA. Dahinter steht die Frage nach menschlicher Erinnerungsfähigkeit und deren Formfindung in der Kunst. Die sich beschleunigende Entwertung traditioneller Elemente von Kunst und Kultur befördert gleichzeitig ein Vergessen. Erinnern und Vergessen sind aber auch sich gegenseitig bedingende Seiten, denn jedes Erinnern beinhaltet, aufgrund von Auswahl und Hervorhebung, auch ein Vergessen: »Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« 4 Die Gedenkstätte für Walter Benjamin in Portbou, die inhaltliche Analyse der Benjamin-Gedenkstätte des israelischen Künstlers Dani Karavan im Kontext der Geschichtstheorie Walter Benjamins stellt eine spezifische, wenn auch nicht übertragbare Antwort auf die angeschnittenen Probleme dar. Karavan hat sein Environment Passagen genannt. Es erscheint daher naheliegend, sie mit Benjamins Passagenarbeit und den darin festgehaltenen Kategorien zu einer materialistischen Geschichtstheorie in Beziehung zu setzen. Die Kategorien der Erinnerung, das Verhältnis von Kontinuität zu Diskontinuität im Geschichtsverlauf, die Bedeutung der Topographie des Ortes sind wesentliche Aspekte seiner Geschichtstheorie, die zugleich wichtige Krite-

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Peter Rautmann

rien zur Analyse der Passagen von Karavan bereitstellen. Damit sollen aber nicht andere, beispielsweise aus der Entwicklung des künstlerischen Werks von Karavan resultierende Aspekte, die möglicherweise auch konträr zu Benjamins Gedanken stehen, ausgeschlossen werden.

Beschreibung der Passagen von Dani Karavan Nach einer ersten Grundsteinlegung 1990 dauerte es aufgrund von Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Gedenkstätte - so deren vorläufige Verweigerung durch den deutschen Bundestag, an dessen Stelle dann der Bundesrat trat — bis 1994, ehe die Gedenkstätte fertiggestellt und eingeweiht werden konnte. Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe des Ortes Portbou an der katalanisch-spanischen und französischen Grenze, hinter dem Friedhof des Ortes gelegen. Benjamin nahm sich in Portbou am 26. September 1940 das Leben, nachdem er zwar mit einer Emigrantengruppe den beschwerlichen Weg über den Frankreich und Spanien trennenden Gebirgszug der Pyrenäen überwunden hatte — Lisa Fittko hat diesen Teil in ihrem Buch Mein Weg über die Pyrenäen eindrücklich beschrieben —, ihm aber gleichwohl die Durchreise durch Spanien wegen der Grenzsperre und eines fehlenden Ausreisevisums verweigert wurde. Nachdem Benjamin von 1940 bis 1945 ein individuelles Grab auf dem katholischen Teil des Friedhofs hatte, wurde dieses nach Ablauf der gesetzlichen Frist wieder freigegeben und seine Uberreste in einer nicht mehr auffindbaren anonymen Grabstätte beigesetzt. Außerhalb des Friedhofs hat Dani Karavan die drei Stationen seiner Passagen angelegt: den Korridor, die Plattform mit Sitz und die Treppe (Abb. 1 - 4 ) . »Wenn man zum Friedhof kommt, stößt man schon auf seinem breiten und ebenen Vorplatz auf das erste und hauptsächliche >Element< von Karavans Environment, einen Schacht aus Cortenstahl, dem der Künstler den Namen Korridor gegeben hat; er ist schräg abwärts in den Felshang zum Meer hin eingegraben; auf seine hochgestellte rechteckige Öffnung hin fuhrt ein durch hellere, violettbestimmte Farbgebung hervorgehobener Stahlplatten->WegSackgasse< dar, da er auf der dem Korridor gegenüberliegenden Seite an die Felswand des Berges stößt; er endet an einer >Türad infernosfreie NaturSchwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.«lebendiges< Element zu schauen vermag, das Karavan offensichtlich seinem Kunstwerk integriert hat: auf einen Olivenbaum, der sich, wohl schutzsuchend vor den gewaltigen Stürmen, die an dieser Küste wehen, eng an die Friedhofsmauer angelehnt hat. Dann, noch weiter aufwärts, ebenso zur Linken, entdeckt man das dritte und letzte >Element< des Gedächtnismals: eine quadratische Plattform mit, in der Mitte, einem würfelartigen Sitz; beide Teile sind wiederum aus dem gleichen Stahl-Material konstruiert wie alle bisherigen Elemente. Von dieser Plattform aus fuhrt der Pfad noch weiter bis zu dem, von hier oben aus, wieder tiefer gelegenen Hintereingang des Friedhofs, dem Eingang in den sog. >Cementerio CivilSonderfriedhof< für Nicht-Katholiken, für Anders- und Nichtgläubige ist; heute kann man von ihm aus direkt, ohne die einstige Trennmauer, in den zentralen katholischen Friedhof weitergehen. Man kann diesen nicht verlassen, ohne an Benjamins Gedenkstein

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Peter R a u t m a n n

1 Platz vor dem Friedhofseingang mit dem Eingang zu dem Korridor, 1992 (Photo: Frank M i h m , Kassel)

2 Blick in den Korridor und auf die Glaswand mit dem Benjamintext (Photo: Frank M i h m , Kassel)

Gedächtnis - Erinnern - Eingedenken

4 Plattform mit Würfelsitz, 1992 (Photo: Frank Mihm, Kassel)

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Peter Rautmann

der Gemeinde Portbou vorbeizukommen, der innen an der Begrenzungsmauer zum Vorplatz aufgestellt wurde. Damit schließt sich ein Kreis: Benjamins Passage in Portbou ist ein Rundgang.«8

Passage, Erinnern und Eingedenken In Karavans Gedenkstätte für Benjamin kommen zwei Aspekte zusammen, die für Benjamins Denken konstitutiv sind: Passage und Erinnern bzw. Eingedenken. Benjamins Passagenarbeit bildete den Arbeitstitel für sein großangelegtes, unvollendet gebliebenes Projekt, in dem Benjamin eine neue Form einer materialistischen Geschichtsphilosophie plante. Die Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert war ihm zentral für ein Verständnis des 20., vor allem in der politischen Zuspitzung in den dreißiger Jahren, dem Faschismus, dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Hitler-StalinPakt. Passage beinhaltet ein Doppeltes für Benjamin: Zum einen eine neue Architekturform im 19. Jahrhundert, die durch ihren transitorischen Charakter gekennzeichnet ist - halb Haus, halb Straße, Wohnquartier wie Vereinigung von Einzelhandelsgeschäften, eine Verbindung von Wand und Glasdach, Fußgängerzone und Flanierbereich; zwischen innen und außen, Bewegung und Stillstand vermittelnd. Es handelt sich um eine Architekturform, die spezifisch auf ökonomische Verwertung ausgerichtet ist, um durch das Nebeneinander der Geschäfte und die Verglasung der Himmelszone als Schutz vor schlechtem Wetter den Warenverkauf zu erleichtern. Die sich entwickelnde Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Konsumorientierung zeigte sich für Benjamin hier in ihren Ursprüngen. Zugleich, dem Architekturtheoretiker Sigfried Giedion und seinem epochemachenden Buch Bauen in Frankreich (1928) folgend, kündigt sich ihm hier bereits die die zweite Jahrhunderthälfte bestimmende Bauweise mit den neuen Baumaterialien Glas und Eisen an, die weiter ins 20. Jahrhundert fuhrt: »...in dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts ahnte noch niemand, wie mit Glas und Eisen gebaut werden muß. Aber längst haben Hangars und Silos das eingelöst.«9 Zum anderen werden die Passagen für Benjamin zum geistig-dialektischen Bild, an dem sich die wichtigsten Tendenzen des 19. Jahrhunderts ablesen lassen; er verknüpft dieses Bild mit dem Kategorienpaar »Traum und Erwachen«. Die Passage stellt das Traumbild dar, aus dem es zu erwachen gilt, um die geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in ihren Voraussetzungen zu erkennen und zu überwinden. Benjamin fußt in der Deutung des Traumes auf Freud und den Surrealisten, vor allem Louis Aragons' Roman Pariser Landleben (1926), der in einer Pariser Passage kurz vor ihrem Abriß

Gedächtnis - Erinnern - Eingedenken

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spielt. Der heruntergekommene und wertlos gewordene Zustand der Passage macht die architektonische Erscheinung frei für eine bedeutungsmäßige Neubesetzung: Sie kann zum Abbild, Traumbild des Vergangenen werden. Benjamin hat das Buch Aragons als Initialzündung für sich empfunden, wenn er dessen Autor auch - im Bedürfnis eigener Abgrenzung - vorwirft, im Traumbereich zu verharren und für sich die Kategorie des Erwachens in Anspruch nimmt. Passage wird auch bei anderen zeitgenössischen Autoren zu einem Bild der Gesellschaft, und zwar zum Bild einer Gesellschaft im Ubergang, wie sie Siegfried Kracauer angesichts der Berliner Lindenpassage beschrieben hat:».. .Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird — vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«10

Architekturpassage und Naturbild Wenn Benjamin in plastisch-naturnahen Bildern von der Passage als »Grotte und Höhle« spricht, in denen »der letzte Dinosaurus Europas, der Konsument« hause, und meint: »An diesen Höhlenwänden wuchert als unvordenkliche Flora die Ware und geht, wie die Gewebe in Geschwüren, die regellosesten Verbindungen ein«11, dann möchte er die Passage nicht in eine Landschaftspassage überführen, sondern wählt die Welt der Fauna und Flora als Kontrastbild zur Architekturpassage, um damit die Architekturform zu verfremden und die solcherart verrückte Passagenwelt als Traumwelt zu charakterisieren. Dani Karavan verlegt dagegen seine Passagen in den Naturraum — mit umgekehrtem Akzent wie bei Benjamin: Dem mittelmeerischen Landschaftsraum mit seinem intensiven Licht, seinen bewegten Konturen, der Küste, dem Gestein, dem Wasser, dem Himmel, den tages- und jahreszeitlichen Veränderungen konfrontiert Karavan die geometrisch klaren Bauelemente seines Environments: die Plattform mit Sitz, die Treppe und, als wichtigstes Element, den Schacht des Korridors, der den Berghang zerschneidet und auf halber Strecke einen unterirdischen Gang bildet: Organische Form steht gegen geometrische Klarheit, das vielfältig Zerklüftete gegen den scharfen Schnitt, den die klaren Kanten der Eisenformen und ihre Schatten bilden, der Detailreichtum der Landschaft gegen den stereometrischen Würfel. Die Geometrie der Konstruktion wird zum Bild, das sich bewußt als menschliche Konstruktion gegenüber der Natur abhebt und sich als ein gedankliches Gebilde gegenüber dem Naturraum behauptet.

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Peter Rautmann

Karavan hat auf dem Bild der Natur als Ausgangserfahrung für sein Denkmal bestanden: »Ich schaue die Klippen hinunter auf das Meer. Das aufgewühlte Wasser wirbelt geräuschvoll, schießt dann plötzlich als weißer Schaum hervor, läuft wieder hinunter, dann ist es still. Das Meer ist unbewegt. Dann wieder Strudel, Schaum, Rauschen, Ruhe. Die Natur erzählt die Tragödie dieses Mannes. Niemand könnte das besser darstellen. Alles, was mir zu tun bleibt, ist, den Pilger dazu zu bringen, das zu sehen, was die Natur erzählt.« 12 Erst durch die gezielte Führung des Besuchers, insbesondere im Korridor, durch die Ausschnitte, die Karavan für das Sehen entwirft und die wie die Rahmen eines Bildes wirken, wird die Landschaft zu einer Bild-Allegorie, die auf Natur verweist und zugleich für etwas anderes steht: »Die Natur erzählt die Tragödie dieses Mannes.« Die Blickführung wird im Gang noch verstärkt durch die Abdeckung; der Gang wird zum Korridor. Er »wurde zu etwas anderem — er war kein Objekt mehr, keine Skulptur - er wurde zu einem Tunnel, zu einem Medium, das die Besucher leitet, das sie dazu bringt, etwas ganz Bestimmtes zu sehen. Er ist ein Instrument, ein Werkzeug. (...) das Hinabsteigen in den Korridor ... die Veränderung des Lichts, der Helligkeit, die Geräusche, die Beklemmung: all das sind Teile dieser Erfahrung (...). Zurück gehst Du wieder vom Licht in die Dunkelheit und siehst das Licht, das oben durch den Eingang fällt. Du steigst diesem Stück Himmel entgegen, entdeckst den Berg, dann die Mauer und endlich den Weg, der zu dieser Mauer führt.« 13 Diese Gegensätze formen »eine Passage von Leben zu Tod, von Tod zu Leben«, sie sind »eine künstlerisch komprimierte Naturerzählung über dieses ewige Ineinander.« 14 Erst der Text von Benjamin auf der Glaswand über die Namenlosen, denen die historische Konstruktion geweiht ist, gibt diesem »ewigen« Naturbild seine historische Dimension.

Eingedenken. Die Klage in der Geschichte Die Beschäftigung mit Geschichte und geschichtlichem Material hat sich für Benjamin von der Illusion fern zu halten, Geschichte zu erzählen, »wie es denn eigentlich gewesen sei«; der Historiker erstellt vielmehr Konstruktionen, deren Kühnheit und Leichtigkeit Benjamin mit dem Bild des Eiffelturms in Paris und des Pont Transbordeur in Marseille vergleicht: filigrane Gebilde, in denen die Luft durch das Gestänge streift und die in einem Prozeß der Montage zusammengesetzt wurden. Es gibt für ihn keine quasi organische Geschichtsschreibung, die Geschichte als Naturraum sich anverwandelte. Geschichtliche Konstruktionen sind künstliche Gebilde, in denen das von der Vergangenheit für erinnerungswert Gehaltene eingeschrieben ist. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit verdankt sich der Einsicht und der Erwartung, durch sie über die Gegenwart mehr zu erfah-

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ren; die gewonnene Erfahrung zielt auf eine umgestaltende Tätigkeit in der Gegenwart. Benjamin strebt nach einem theoretischen Neuanfang, einer neuen materialistischen Geschichtstheorie gegenüber dem Historismus. Dessen Geschichtstheorie sieht er durch drei Momente gekennzeichnet: Kontinuität, Einfühlung, Fortschritt. Geschichte wird als ein kontinuierlicher Prozeß begriffen. Benjamin setzt dagegen das Diskontinuierliche des Geschichtsverlaufs, dessen Unterbrechung: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«15 Es kommt Benjamin auf den jeweiligen Augenblick an. Zunächst die bürgerliche, dann die sozialdemokratische Geschichtsschreibung orientiere sich dagegen auf die Kategorie des Fortschritts und der Erwartung, in einer unendlichen Zukunft das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen. Der dritte, vielleicht wichtigste Aspekt, den er in der bestehenden Geschichtsschreibung kritisiert, ist die Kategorie der Einfühlung: Danach arbeite diese an einer Rechtfertigung des Geschichtsverlaufs und damit an einer Einfühlung in den Sieger: »Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut (...). Wer immer bis zu diesem Tag den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinfiihrt, die heute am Boden liegen.«16 Was läßt sich dagegen setzen? Aus dieser Frage sind die Thesen Uber den Begriff der Geschichte, Benjamins letzte theoretische Arbeit, entstanden. Der vorherrschenden Geschichtswissenschaft wirft er vor, sich vom Vorbild der Naturwissenschaften leiten zu lassen, aus dem Wunsch heraus, »Gesetze« des Geschichtsverlaufs zu ermitteln, Geschichte damit aber zugleich auch zu neutralisieren, indem mit dieser Gesetzlichkeit die »Klage« aus der Geschichte entfernt würde: »Die falsche Lebendigkeit der Vergegenwärtigung, die Beseitigung jedes Nachhalls der >Klage< aus der Geschichte, bezeichnet ihre (der Geschichtsschreibung des Historismus, P. R.) endgültige Unterwerfung unter dem modernen Begriff der Wissenschaft.«17 Die Problemstellungen Benjamins sind aktuell geblieben, wie beispielsweise die Historikerdebatte in der Bundesrepublik zeigte: Der Versuch, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg in die Kontinuität deutscher und der Weltgeschichte einzubinden, stellt den Versuch dar, den »gefährlichen Moment« (Benjamin) aus der Geschichtsschreibung zu entfernen, eine Normalität zu behaupten dort, wo es Benjamin um das Recht der Besiegten ging. Jüngst hat die Diskussion um das Buch des amerikanischen Historikers Goldhagen gezeigt, daß selbst in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus und der Analyse seiner strukturellen Gesetzlichkeiten, wie der

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Peter Rautmann

Zweckrationalität der Tötungsmaschinerie in den Vernichtungslagern, die Gefahr entsteht, daß die Klage - und mit ihr die Opfer — aus der Geschichte verschwinden. Benjamin möchte mit seiner Auffassung von Geschichtsschreibung eine Tradition der Besiegten stiften. Dies kann nur gelingen, wenn die bloß feststellende Erinnerung um das Eingedenken erweitert und vertieft wird, in dem die Klage der Besiegten ihren Platz findet. Heinz Brüggemann hat gezeigt, daß die Erfahrung des Eingedenkens als Solidarität mit den Unterlegenen sich wie ein roter Faden durch das Denken von Benjamin zieht und bereits die Wahrnehmung des Kindes bestimmte. So schildert Benjamin in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, wie er die Viktoria der Siegessäule aus dem Blickwinkel von unten, dem des Umgangs am Fuße der Siegessäule, erlebte. Der Umgang rief ihm Assoziationen an Dorés Stahlstiche zu Dantes Hölle wach. »Es schienen mir die Helden, deren Taten dort in der Säulenhalle dämmerten, im stillen ebenso verrufen wie die Scharen, die von Wirbelwinden gepeitscht, in blutende Baumstümpfe eingefleischt, in Gletscherblöcken vereist im finsteren Trichter schmachteten. So war denn dieser Umgang das Inferno, das rechte Widerspiel des Gnadenkreises, der oben um die strahlende Viktoria lief.«18 Benjamins These des Zusammenhangs von Kultur und Barbarei wird hier bereits an einem Denkmal erfahren. Zugleich liegt darin ein wichtiges Argument für die Bedeutung von Kunstwerken: Durch ihre emotionale und reflexive Wirkung, die sie auszulösen imstande sind, können sie die Klage der Besiegten wach halten. Brechts Gedicht An die Nachgeborenen ist Benjamin da Vorbild: »Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist/Gedenkt unser/Mit Nachsicht«19. Es macht die Brisanz der Karavanschen Passagen, speziell des Korridors, aus, diesen Aspekt in seine Arbeit einbezogen zu haben: Die emotionale Seite des Besuchers wird in dem Tunnel des Korridors mit einer Ästhetik des Schocks angesprochen bzw. aufgebrochen, so daß beim Anblick der Textzeile auf der abschließenden Glaswand eine um so größere Bereitschaft entsteht, sich auch gedanklich mit dem geschichtlichen Unrecht auseinanderzusetzen.

Passage und Schock Alle Besucher des Korridorsbcnùiten von einem umstürzenden Erlebnis beim Gang durch den Tunnel nach unten, so die Widerstandskämpferin Lisa Fittko: Karavan und ich »gingen zusammen zum Eingang: Er liegt vor dem weißen, terrassierten Friedhof, der wie ein Teil der Umgebung dorthin gehört. Ich sah zunächst nur die Stufen der dunklen Passage, die Dani geschaffen hatte (...). Diese Dunkelheit ist ja zum Greifen, sage ich vor mich hin, ohne zu wissen, was das heißt. Wir gehen weiter hinunter, immer weiter durch

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den dunklen Tunnel... Aber da vorne - da ist Licht! Das Licht ist das Wasser, das Mittelmeer. Weiter, nur noch einige Stufen hinunter. Da, zur Seite, ist jetzt der schwarze Felsen gegen den hellen Himmel und das Meer. Die Ausläufer der Pyrenäen, die wir so oft bestiegen haben, um Menschen vor dem faschistischen Terror zu retten, diese uralten Berge, wo wir jeden Winkel kannten. (...) im Moment bleiben mir die Worte weg. Immer wieder fragt man mich, wie ich das Kunstwerk deute. Ich weiß jetzt keine Antwort, ich kann nicht deuten, weil ich zu erschüttert bin.« 20 Arthur Lehning (Herausgeber der Avantgarde-Zeitung i 10, 1927/28 in Amsterdam): »Als ich unten vor der Scheibe stand — diese steile Treppe hatte mich quasi heruntergezogen — entdeckte ich das Zitat von Benjamin. Plötzlich fand ich meine Erinnerung an ihn und die Freunde, die mittlerweile schon alle gestorben sind, in diesen wenigen Worten konzentriert. Ich war äußerst bewegt, auch erschüttert.« 21 Helga Prinzessin zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg (Emigrantin und Widerstandskämpferin): »Dieser Entwurf packt einen, er packt einen im Innersten. Mir zum Beispiel gab der Gang durch den schmalen Korridor hinab zum Meer das Gefühl, als ginge ich ins Nichts, als gäbe es kein Zurück, wenn man einmal die Stufen hinuntergestiegen ist.«22 Der zentrale Teil der Passagen von Karavan ist der Korridor durch den Berg zum Wasser der Mittelmeerküste hinunter. Dieser Teil ist ganz wesentlich durch erlebnishafte Momente mitbestimmt: Der steile Treppengang fuhrt in die Tiefe und Dunkelheit: Aus der Helle des Tages wird man zu einem dunklen rechteckigen Loch gelenkt, tastet die Stufen hinab; erst kurz vor dem Einstieg und im Gang selbst entdeckt man den hellen Ausgang, der einen Blick auf das Schauspiel des immer bewegten Meeres mit dem an die Küste anschlagenden Spiel der Wellen freigibt. Aber auch dieser Gang ist versperrt: verriegelt von einer Glasscheibe, auf der in mehreren Sprachen das Benjamin-Zitat steht. Das Realerlebnis beim Abstieg (Dunkelheit, Angst, Beklemmung, Enge gegen Helle, Hoffnung, Weite) ist Ausgangspunkt einer inneren Öffnung, einer Bereitschaft zur Erinnerung. Die sinnlich-körperliche Erfahrung des Abstiegs, ein Hadesweg, wird von vielen Besuchern als Schock erfahren, als Auflösung eines Reizschutzes, der erst empfänglich macht fiir den auf der Scheibe plazierten Satz Benjamins. Die Passage kann erlebt werden »als abschüssiger Weg in die entschwundene Zeit: Für den Flanierenden geht folgende Verwandlung mit der Straße vor sich: sie leitet ihn durch eine entschwundene Zeit. Er schlendert die Straße entlang; ihm ist eine jede abschüssig. Sie fuhrt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist«23. Dieser Teil der Passage ermöglicht eine Schwellenerfahrung, von der Benjamin meinte, daß sie in unserer Gesellschaft selten geworden sei. An diesem Punkt ist Karavan wohl Benjamins Denken am nächsten gekommen. Die

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reale Passage verwandelt sich in eine geistige, die Körpererfahrung wird eingebracht in die Erfahrung geschichtlichen Unglücks und namenlosen Untergangs. Erst durch diese Erfahrung wird auf dem Gang zurück das verschlossene Tor in der Mauer, wird die ins Nichts führende Treppe, auf deren oberster Stufe man den Olivenbaum wahrnimmt, wird der Würfelsitz auf der Plattform in ihrer Doppelbödigkeit erfahrbar — als allesamt transitorische Motive, die von etwas Realem in eine geistige Ebene führen.

Passage und Topographie Versucht man Karavans Gedenkort für Benjamin einzureihen in sein bisheriges Werk, so fallen zwei gegenläufige Tendenzen ins Auge. Z u m einen verdichten sich in Portbou Elemente, die in seinem gesamten Werk immer wieder auftauchen: die klaren stereometrischen Grundformen, der Environmentcharakter seiner Arbeiten, der die umgebende Landschaft und speziell den Ort, wo etwas entsteht, in seiner geographisch-morphologischen wie historisch-politischen Dimension einbezieht. Das Gegeneinander von geometrischer Form und Lebendigkeit der Pflanzenwelt kommt vielleicht am klarsten in dem Tel Aviv-Ensemble Kihar Levane, der Weiße Platz, zwischen 1977 und 1988 entstanden, zum Ausdruck (Abb. 5).

5 Karavan, Kikar Levana. Environment aus weißem Beton, Olivenbaum, Rasen, Wasser, Licht und W i n d . Detail mit Halbkugel und Olivenbaum, Tel Aviv 1 9 7 7 - 1 9 8 8 (Photo: Avi Hai)

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Das skulpturale Ensemble bildet eine Art Idealstadt über der realen Stadt. Auf der rechteckigen, betonierten Grundfläche ruht unter anderem eine senkrecht zerschnittene Halbkugel aus weißem Beton. In ihrem hohlen Zentrum wächst eingezwängt und zugleich beschützt ein grünender Olivenbaum im Kern der idealen Form sprießt die lebendige Natur, eine Harmonie der Gegensätze. Auch die anderen Elemente des Platzes, wie Treppe und Plattform (hier kombiniert mit Stufen zu einer Art Forum der Begegnung), tauchen wieder in Portbou auf. Die topographischen Bedingungen des Ortes fließen in die Ensembles ein, wie in dem Tel Aviv-Projekt die geographische Höhe des Platzes. Die Landschaft wird als Rohmaterial benutzt und zugleich in ihrer Besonderheit gesteigert. In dem Projekt für Cergy-Pontoise westlich von Paris durchschneidet eine drei Kilometer lange Achse, die Axe Majeur, die Landschaft, von der Neustadt bis zum Seinefluß führend und dabei 12 verschiedene Stationen passierend. Wie dieses erschließen sich alle Projekte erst im Ablauf, in der Passage als einer Bewegung. Sie brauchen einen Besucher, der sich wechselnden Ereignissen aussetzt. Die »Vorstellung, ein Publikum über einen Ort zu leiten, ist von Anfang an charakteristisch für die meisten Werke Karavans«24. Karavan »vernetzt in seinem Werk Zusammenhänge, indem er den Betrachter mit bedeutsamen Punkten in Zeit und Raum verbindet.«25 Dies läßt sich auch von den Passagen in Portbou sagen. Vor allem das Element der Schneise, der Linie, die den Besucher leitet, wird dort wieder aufgegriffen. An diesem Punkt kann man aber auch eine zweite, eher neue Tendenz wahrnehmen. Soweit ich sehe, erschließt sich die Dimension des Schocks, der Dunkelheit (nicht des Schattens) und des Schreckens für Karavan erst hier. Auch die historische Dimension hat eine neue Qualität gewonnen: sie steht im Zentrum der Arbeit. Die neuen Aspekte entwickelten sich, so darf man wohl vermuten, in der Auseinandersetzung mit dem Werk Benjamins, seiner Interpreten und den Auftraggebern. Karavan urteilt: »Jeder dieser Arbeiten (im öffentlichen Raum, P. R.) war und ist ein ständiger, oft langwieriger Dialog mit dem Auftraggeber, den Nutzern, mit dem städtischen und landschaftlichen Umfeld, der Geschichte und den Erinnerungen eines Orts, die ich oft erst während der Planung entdecke.«26

Material, Topographie und Geschichte Nicht nur durch die Verbindung von Bild und Text wird das persönliche Erlebnis in eine geschichtliche Dimension geweitet; auch das Material Eisen / Cortenstahl bereitet dies vor. Eisen ist das Industriematerial des 19. Jahrhunderts, das auch das Zeitalter der Eisenbahn war. Benjamin hat in seiner Passagenarbeit dem Eisen ein Konvolut - F (Eisenkonstruktion) — gewidmet.

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Dort stellt er fest: »Die ersten Eisenbauten dienten transitorischen Zwecken: Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen. [F2,9]« Eisen wurde gebraucht für die Schienen des neuen Verkehrsmittels, Gußeisen fxir die neuen Bauten, die Brücken mit ihren großen Spannweiten, die Bahnhöfe mit ihren riesigen Hallen, die Passagen selbst mit ihren in Eisen gefaßten Glasdächern; das Wahrzeichen dieser Zeit ist der zur Weltausstellung und zur Hundertjahrfeier der Französischen Revolution 1889 gebaute Tour Eiffel. So erinnert das Material des Environments in seiner geschichtlichen Dimension für den mit Benjamins Denken vertrauten Besucher an einen Schwerpunkt seiner Passagenarbeit. Karavan ist sich dieses Aspekts wohlbewußt, hatte er doch ursprünglich, wie oft in seinen monumentalen Anlagen, an weißen Beton als Grundmaterial gedacht. Im Vor- und Umfeld des Portbou-Projekts taucht dann Eisen als Material auf; in dieser Hinsicht am nächsten dem Denkmal für Benjamin kam wohl das Environment Eisenbahnschienen, Schwellen und Schotter in der Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 1989 (Abb. 6). Das Unerbittliche des linearen Verlaufs der Schienen in dem geschlossenen weißen Ausstellungsraum ist Symbol für Raum- und Zeitüberwindung, aber auch für Vernichtung von Zeit und Lebensmöglichkeit, ein Zeichen für das Industriezeitalter des 19. und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

6 Karavan, Environment aus Eisenbahnschienen, Schwellen und Schotter in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1989 (Photo: Werner J . Hannapel, Essen)

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Karavan weitet den Materialgedanken noch aus, wenn er nicht nur das Material Eisen für seine Passagen als solches begreift, sondern auch Naturelemente in dieser Weise in seine Inszenierung einbezieht: »Den Olivenbaum verstehe ich zwar als symbolisches Element, aber mehr als Material, um zu zeigen, daß jeder Gegenstand als künstlerisches Material benutzt werden kann, Sand ebenso wie ein Baum« 2 7 . Entsprechendes läßt sich vom Zaun über der Friedhofsmauer, dem steinigen Pfad daneben, dem Gebirgsabhang der Pyrenäen, dem Strudel im Meer sagen. Karavan macht sich die Topographie des Ortes mit seinen historischen Zusammenhängen zunutze; die Landschaft markiert eine Grenze, die Benjamin verwehrt war zu überwinden. In der Landschaft sind Erinnerungsspuren der letzten Lebenstage Benjamins gegenwärtig. Vor allem die eindrückliche Schilderung Lisa Fittkos in ihrem Pyrenäenbuch, der Aufstieg ins Gebirge, der Abstieg nach Portbou hat sich mit dem Bild der Landschaft verbunden. 2 8 Fast alle Filme und Fernsehbeiträge, die zu seinem 50. Todesjahr 1 9 9 0 oder zu seinem 100. Geburtstag 1 9 9 2 gedreht wurden, arbeiten mit dieser Passagen- und Grenzmetapher. 2 9 Karavan entdeckt Barrieren (Drahtzaun, Mauer, Gebirgssilhouetten), die die Bilder der Freiheit (Gebirge, Himmel, Wasser - Meer, Olivenbaum) immer wieder verriegeln, und dennoch als Hoffnung offen halten. Nach Benjamin ist »...die Topographie der Aufriß jedes mythischen Traditionsraums..., ja (kann) der Schlüssel desselben werden ( . . . ) , wie die Geschichte, Lage, Verteilung der pariser Passagen für dies Jahrhundert Unterwelt, in das Paris versank, es werden soll.« 30 Karavan hat bekannt, daß der Ort Portbou ihn zu den Motiven und Ideen seiner Gedenkstätte angeregt habe: der Bahnhof mit den Schienen, den Geräuschen der Züge, der Strudel im Meer, dessen Wechsel von aufschäumendem Wasser und wieder eintretender Stille ihn an das Schicksal Benjamins erinnerte. »Die Natur erzählt hier die Tragödie dieses Mannes...«, dann »ein kleiner Olivenbaum, der um sein Leben kämpft« und »eine Mauer, ein Zaun, eine Barriere, dahinter Gräber. Weit weg unterhalb des Horizonts (...) das blaue Meer, der klare Himmel, die Freiheit. Ich beschloß, dort eine Plattform mit einem Sitz zu bauen, von dem man — durch den Zaun über den Friedhof hinweg — Richtung Freiheit sehen kann.« 31 Die Landschaft bei Portbou und der Friedhof werden zur Bühne seines Denkens, in dem das kleinste Detail eine allegorische Bedeutung in der Konstruktion der Lebens- und Todespassage von Benjamin gewinnt. Die persönliche Topographie weitet sich zugleich zu einem Geschichtsraum, in dem das Schicksal der Gegner des Faschismus, von Emigration und Exil allgemein, in dem es auch immer wieder um Grenzen und Barrieren geht, aufscheinen kann. Eine verwandte Verbindung von Topographie und Geschichte liegt in der Berliner »Topographie des Terrors« unweit des Martin-Gropius-Baus vor, wo die Uberreste der Naziherrschaft

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in Verbindung mit einem Dokumentationszentrum sich zu einem konkreten Bild des Terrors verbinden; eine solche Verbindung fehlt dagegen bei dem geplanten Holocaustdenkmal in Berlin.32 In der Gedenkstätte von Portbou durchdringen sich topographischgeschichtliche und allegorische Deutung der Landschaft - der Strudel als Lebens-Metapher. Solche Allegorisierung gemahnt an frühromantisches Denken, an Landschaftsbilder, wie sie sich etwa bei Caspar David Friedrich finden, von dem der französische Bildhauer David d'Angers sagte, er habe »die Tragödie der Landschaft« als Sinnbild der Tragödie des Menschen gemalt. 33 Auch Friedrichs bildräumliches Sehen arbeitet mit Barrieren, Vergitterungen, dem Gegensatz von Schließung und Öffnung, Dunklem und Hellem. Allegorie und bildräumliche Vorstellung werden nun bei Karavan mit der Realtopographie einer Landschaft verbunden, die durch die historische Situation zu einem Geschichtsraum geworden ist. Die Verbindung von Allegorie, Natur und Geschichte kann sich wiederum auf Benjamin berufen, der in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels im Antlitz der Natur die Vergeblichkeit und Unzulänglichkeit menschlicher Geschichte wahrgenommen hat: »Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Anbeginn an hat, prägt sich in einem Antlitz — nein in einem Totenkopfe aus.«34

Unterdrückung, Glück und Erlösung Mit Karavans Aktualisierung des konkreten Ortes und seines Primats von Naturbildern kann auch ein neues Licht auf solche Naturbilder Benjamins fallen, die immer dann auftauchen, wenn von Glück die Rede ist: »...das Bild von Glück, das wir hegen, (ist) durch und durch von der Zeit tingiert, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden ... können (...).« Glück und Erlösung (Aufhebung von Zeit) werden zusammengesehen. Das grandiose Naturschaupiel wie das Panorama der südlichen Gebirgs- und Küstenlandschaft kann eine Ahnung von Glück vermitteln, ein Erlebnis, das zugleich an geschichtliche Vergangenheit zurückgebunden wird: »Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?«35 Benjamin möchte auf Begriffe wie Glück und Erlösung im wissenschaftlichen Kontext nicht verzichten. Die Problematik eines religiösen Begriffs wie dem der Erlösung in diesem Zusammenhang ist ihm bewußt, »...im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschieh-

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te grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.« 36 Benjamins paradoxe Wendung, Geschichte nicht atheologisch zu begreifen, sie gleichwohl nicht in theologischen Begriffen schreiben zu dürfen, bedeutet, daß im modernen Wissenschaftsbegriff eben diese Begriffe herausfallen, keinen Ort haben, er daher auf vormoderne Kategorien zurückgreifen muß, um individuelle wie kollektive Ansprüche des Menschen an sein Leben (Glück) einbeziehen zu können. Benjamins Interesse an Kunst scheint hier eine Begründung zu haben: in ihr findet ein weiterbestehender Zusammenhang von modernem und vormodernem Denken, vormodernen Vorstellungen und Bildern statt. In der Kunst können Erinnerung und Eingedenken eine Symbiose eingehen, denn Kunst kennt »ihrem prophetischen Gehalt nach« keinen Fortschritt.37 Peter Weiss hat hier angeknüpft, indem er seinen Roman Ästhetik des Widerstands mit einem Kunstwerk der Antike, dem PergamonAltar, beginnen läßt. So wie Peter Weiss geht es Benjamin um eine »Geschichte der Unterdrückten«; »Aufgabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden.« 38 Er steht damit in der Tradition des Kommunistischen Manifests, in der es ebenfalls um die Geschichte der Unterdrückten geht und das Neue in Bildern des Alten verkündet wird: »Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus«, hebt das Manifest an. Eine Tradition der Unterdrückten zeichnet man dadurch auf, daß man ihr Unglück, ihr Leid nicht als ein abgeschlossenes begreift: »...die Geschichte (ist) nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ... Was die Wissenschaft >festgestellt< hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen.« 39 Das bedeutet einen neuen Begriff von Geschichte: Die Aufgabe einer linear-zeitlichen Geschichtsvorstellung zugunsten eines Ineinander und einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In der christlichen Vorstellung des Jüngsten Gerichts und des Jüngsten Tages steckt die Vorstellung, daß die Zeit nicht abgegolten werden kann, im Jüngsten Tag die Vergangenheit gegenwärtig bleibt: das scheint mit die Anziehungskraft solcher religiösen, christlich-jüdischen Vorstellungsbilder für Benjamin ausgemacht zu haben. Dani Karavan trifft auch hier einen wesentlichen Punkt des Geschichtsdenkens Benjamins, wenn er den in den Umkreis der Thesen gehörenden Satz Benjamins in seine Passagen aufnimmt: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.« Das gilt gerade für die Millionen ermordeter Juden, für die unbekannten Emigranten und Exilierten. Die Gedenkstätte für Walter Benjamin lebt von dieser Spannung: sie ist zweifellos einem Prominenten gewidmet, gleichwohl auch einem Ano-

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n y m e n — w i e sonst wäre es möglich gewesen, d a ß sein G r a b nicht mehr auffindbar

ist, nach der gesetzlich vorgeschriebenen Zeitfrist v o n f ü n f Jahren

wieder freigegeben w u r d e , u n d heute auf d e m Friedhof v o n Portbou n u r eine v o n der spanischen G e m e i n d e 1 9 9 0 angebrachte Gedenktafel an Benjamins Tod an der spanischen Grenze erinnert. D i e doppelte Passage - die Karavans außerhalb des Friedhofs u n d die durch den Friedhof als traditionellen O r t des Totengedenkens — verbindet das a n o n y m e Sterben mit d e m Tod eines herausgehobenen einzelnen, bindet die geistig-künstlerische A u f g a b e des Intellektuellen u n d Künstlers an das Schickal der A n o n y m e n , der Unterdrückten u n d Toten, an die, die keine S t i m m e haben. Es gibt keine »Lösung« fxir ein H o l o c a u s t - M a h n m a l . Ein D e n k - M a l k a n n n u r die Erinnerung an Fragen wachhalten, E m o t i o n e n h e r v o r r u f e n , Haltungen provozieren, die d a n n aufgegriffen w e r d e n u n d mit anderen M o m e n ten ( A u f k l ä r u n g über Geschichte) vertieft w e r d e n müssen. Diese Beschäftigung bleibt eine beunruhigende, nicht lösbare Aufgabe, solange m a n sich Benjamins These vergegenwärtigt, die die G e m e i n d e v o n Portbou ihrer Gedenktafel f ü r Benjamin hinzufügte: »Es ist niemals ein D o k u m e n t der Kultur, o h n e zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« 4 0

1 Walter Benjamin: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Frankfurt/M. 1980, S.476f. Für Hilfestellung bei der Bildbeschaffung und für die Abbildungsrechte danke ich Konrad Scheurmann, Weimar, den Fotografen und dem Künstler Dani Karavan, Paris. — 2 Siehe Bericht von Harald Fricke: »Im günstigsten Fall dauert es 50 Jahre«. In: taz, 17. 11. 1997, S.6; siehe auch ebendort, 8. und 12.12.1997, sowie taz mag, 17./18. 1. 1998. — 3 Severin Weiland: »Prominente gegen Holocaust-Mahnmal«. In: taz, 5. 2. 1998, Micha Brumlik: »Aufklärung als Verdrängung«. In: taz, 7-/8. 2. 1998. — 4 Walter Benjamin: Uber den Begriff der Geschichte. These V. In: Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. 1.2. Frankfurt/M. 1980, S.695. — 5 Ich beziehe mich hier im wesentlichen auf die Beschreibung meines Kollegen Nicolas Schalz, der am 30. 7. 1996 mit zwei Begleiterinnen die Gedenkstätte besuchte und seine Eindrücke in einem »Erlebnisbericht« niedergeschrieben hat, der am Ende unseres gemeinsamen Buches Passagen. Kreuz- und Quergänge durch die Moderne im 11. Kapitel festgehalten ist: Nicolas Schalz: »Lange Schatten. Benjamins Passage. Zu Dani Karavans Benjamin-Denkmal >Passagen< in Portbou«. Das zweibändige Buch, das, aufbauend auf der Philosophie Walter Benjamins, Kunst und Musik der letzten 25 Jahre behandelt, erscheint Ende 1998 im ConBrio Verlag Regensburg. — 6 Ebd. Benjamins Zitat in: Walter Benjamin: Materialien zu Uber den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd.1.3. Frankfurt/M. 1980, S. 1241. — 7 Rautmann / Schalz: Passagen. Kreuz- und Quergänge durch die Moderne. — 8 Ebd. — 9 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. V. 1. Frankfurt/M. 1983, S. 218, Konvolut F Eisenkonstruktion [F 3, 2]. — 10 Siegfried Kracauer: »Abschied von der Lindenpassage«. In: ders.: Der verbotene Blick. Leipzig 1992, S. 55. — 11 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Pariser Passagen II. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.2. Frankfurt/M. 1983, S. 1045 . — 12 Ingrid und Konrad Scheurmann (Hg.): Dani Karavan,

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Hommage an Walter Benjamin. Gedenkort »Passagen« in Portbou. Mainz 1995, S. 103. — 13 Ebd., S.72f. — 14 Nicolas Schalz: »Lange Schatten. Benjamins Passage. Zu Dani Karavans Benjamin-Denkmal >Passagen< in Portbou«. In: Rautmann / Schalz. Passagen. Kreuz- und Quergänge durch die Moderne. Regensburg 1998. — 15 Walter Benjamin: Materialien zu Uber den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.3, a.a.O., S. 1232. — 16 Walter Benjamin: Über den Begiffder Geschichte. These VII. In: Benjamin: Gesammelte Schrifien. Bd. 1.2, a.a.O., S.696. — 17 Walter Benjamin: Materialien zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.3, a.a.O., S. 1231. — 18 Heinz Brüggemann: »Walter Benjamin. Die Erfahrung des Eingedenkens«, Vortrag. Hannover, 20. November 1997; Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: Benjamin: Gesammelte Schrifien. Bd. IV.l, Frankfurt/M. 1980, S.242. — 19 Siehe Walter Benjamin: Materialien zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.3, a.a.O., S. 1240. — 20 I. und K. Scheurmann (Hg.): DaniKaravan, Hommage an Walter Benjamin. Gedenkort »Passagen« in Portbou, a. a. O., S. 24 f. — 21 Ebd., S. 26 f. — 22 Ebd., S. 28 f. — 23 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Pariser Passagen II In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V. 2, a. a. O., S. 1052 . — 24 Michael Gibson: »Dani Karavan. Ein neuer Künstlertyp«. In: Orte, 1992, Nr. 1, S. 15. — 25 Ebd., S. 18. — 26 »Fragen an Karavan«. In: Orte, 1992, Nr. 1, S. 55. — 27 Karavan im Interview mit Ingrid und Konrad Scheurmann. In: I. u. K. Scheurmann (Hg.): Dani Karavan, Hommage an Walter Benjamin. Gedenkort »Passagen« in Portbou, a.a.O., S. 84. — 28 Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnnerungen 1940/41. München 1989 (das Kapitel »Der alte Benjamin«), Das Schicksal Benjamins an der spanisch-französischen Grenze hat seinerseits Christoph Hein zu seinem Theaterstück Passage angeregt. Christoph Hein: Passage. Ein Kammerpiel in drei Akten. Darmstadt 1988. — 29 Beispielsweise Manuel Cussó-Ferrer: La dernière frontière. Walter Benjamin. Paris 1992; Gerd Roscher: Die letzte Passage. Deutschland 1989; Jean-Paul Lebesson und Vincent Bady: Walter Benjamin, Le Passant. Paris 1992. Siehe auch die Ausstellungsinstallation von Francese Abad: La Linia de Portbou. Homenage a Walter Benjamin, Direcció àudio-visual: Manuel Cussó-Ferrer, Barcelona (22. Nov. 1990-6. Jan. 1991). — 30 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Pariser Passagen II. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.2, a.a.O., S. 1019 . — 31 Interview Karavan in: I. und K. Scheurmann (Hg.): DaniKaravan, Hommagean Walter Benjamin. Gedenkort »Passagen« in Portbou, a.a.O., S. 104 f. — 32 Kein Ort in Berlin scheint allerdings neutral hinsichtlich seiner historischen Vergangenheit zu sein. An »dem Ort, der fiir das Mahnmal vorgesehen ist, hatte in Nazideutschland das ehemalige Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft die Hungerblockade russischer Großstädte beschlossen«, wie Harald Fricke, sich auf Götz Aly in der Berliner Zeitung berufend, schrieb. Harald Fricke: »Ein unbeschriebenes Blatt. Die Leerstelle als Versatzstück«. In: taz, 12. 12. 1997, S. 16; vgl. auch die Umfrage zum Holocaust-Mahnmal »Namen oder Steine?« In: Die Zeit, 12. 3. 1998, Nr. 12, S. 50. — 33 David d'Angers: Tagebuch {Les Carnets de David d'Angers). 7. 11. 1834. Bd. I. Paris 1958, S. 309. — 34 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.1, Frankfurt/M. 1980, S. 343. — 35 Walter Benjamin: Über den Begiff der Geschichte. These II. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2. a.a.O., S.693. — 36 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.l, a.a.O., S. 589 [N 8, 1] und Materialien zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.3, a.a.O., S. 1235. — 37 Walter Benjamin: Materialien zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.3, a.a.O., S. 1239. — 38 Ebd., S. 1236. — 39 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. V.l, a.a.O., S. 589 [N8,1].—40 Walter Benjamin: Über den Begiff der Geschichte. These VII. In: Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, a.a.O., S.696.

Rosamunde Neugebauer

Avantgarde im Exil? Anmerkungen zum Schicksal der bildkünstlerischen Avantgarde Deutschlands nach 1933 und zum Exilwerk Richard Lindners

»Degenerate Art«. The Fate of the Avant-Garde in Nazi Germany (»Entartete Kunst«. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland)1, so lautete der Titel der von Stephanie Barron organisierten, zuerst 1991 im Los Angeles County Museum of Art, dann in Museen in Chicago und Washington und im folgenden Jahr im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigten Ausstellung über die Verfemung und Verfolgung bestimmter Strömungen zeitgenössischer Kunst. Hauptanliegen dieser Ausstellung war es, die Münchner Station der NS-Schau »Entartete Kunst« weitestgehend mit den Originalen zu rekonstruieren und am Beispiel dieser Kampagne die Strategien der NS-Kunstpolitik zu verdeutlichen. Dabei konnte sie sich maßgeblich auf die 1987 von Mario-Andreas von Lüttichau zur Münchner Ausstellung Nationalsozialismus und »Entartete Kunst«. Die »Kunststadt« München 1937geleisteten Vorarbeiten stützen.2 Der Katalog befaßte sich auch mit den Vorläufern und anderen Stationen der Wanderausstellung »Entartete Kunst«3 sowie weiteren Facetten des NS-»Kulturkampfes«, etwa den Beschlagnahmungen in den Museen, dem Verkauf der verfemten Kunst in Luzern, der Filmzensur usw. Der Begriff der Avantgarde, mit dem hier ganz selbstverständlich operiert wird, kam in den Diffamierungskampagnen der NS-Ideologen selbst nicht vor; sie sprachen von »entarteter Kunst« und »moderner Kunst« in Anführungszeichen, von »Kunstbolschewismus«, »Judenkunst« und »Verfallskunst der Systemzeit« in endloser Repetition und zahlreichen Variationen aus dem Wörterbuch der Lingua tertii imperii wie »krankhafter und artfremder Verfallskunst«, »anarchisch-bolschewistischer Kunstentartung« oder »jüdischem Kunstgestammel«.4 Hatte der Begriff der Avantgarde für die Ohren der Nazis einen zu positiven Klang als daß er sich zur Denunziation geeignet hätte oder war er zur Entstehungszeit der von heute aus betrachtet historischen Avantgarden - Expressionismus, Dada, Surrealismus, Konstruktivismus usw. - sowie in den folgenden Jahren noch kaum gebräuchlich? Oder waren es gar nicht hauptsächlich die Vertreter der historischen Avantgardeströmungen, die von nazistischer Diffamierung, Verfolgung und Verbot betroffen waren? Wer sah sich zur Emigration gezwungen und wer nicht? Gingen denn die meisten als »entartet« mit Berufs- und Ausstellungsverbot

Zur bildkünstlerischen Avantgarde und zum Exilwerk Richard Lindners

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belegten avantgardistischen Kunstschaffenden ins Exil oder waren gar der Gefahr von Inhaftierung und Ermordung ausgesetzt? Der Begriff der Avantgarde5 ist ein in der heutigen Kunstgeschichte und Kunsttheorie unterschiedlich weit oder eng gefaßter, in seiner Bedeutung umstrittener, im allgemeinen immer noch positiv besetzter Terminus6, auch wenn die kritische Analyse bis Demontage des Mythos' der Moderne — was seit neuestem zur variationsreich praktizierten Fingerübung renommierter Kunstwissenschaftler zählt7 — auch am Image der historischen Avantgarden 8 kratzt, da sie meist mit klassischer Moderne in eins gesetzt werden. Ahnlich wie der Begriff Manierismus, mit dem zum einen eine Stilepoche zwischen Renaissance und Barock bezeichnet und zum anderen ein im essentialistischen Sinne zeitunabhängiges Kunstprinzip etikettiert wird 9 , dient auch die Bezeichnung Avantgarde einerseits zur konkreten Kennzeichnung stilistischer Strömungen — hier als Sammelbezeichnung fiir die neuen Ismen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs — und ist andererseits eine Metapher und ein anerkennendes Werturteil für eine bestimmte, prinzipielle künstlerische Haltung. 10 In jedem Falle wird das Revolutionäre, die radikale Neuerung als Wesensmerkmal betont. Uneinigkeit besteht jedoch bis heute, ob das Revolutionäre in einer radikalen Modernisierung der künstlerischen Mittel, der provozierenden Hinwendung zu bis dato tabuisierten Themen und im Angriff auf herrschende ästhetische Wertvorstellungen und Gattungsnormen (Aufhebung des Werkbegriffs) liegen müsse oder vor allem in der politischen Haltung und den gesellschaftlichen Zielen der Künstler und Künstlerinnen zu verorten sei, ob — um mit Beat Wyss prägnant und vereinfacht zu sprechen - sich avantgardistische Kunstschaffende eher der Utopie der Freiheit (»künstlerische Totalität«) oder eher der Utopie des Glücks (»totalitäre Politik«) zuwenden." Im »Idealfall« gehen ästhetisches und politisches Aufbegehren Hand in Hand 12 , wie etwa bei George Grosz und John Heartfield in den zwanziger Jahren. Meines Erachtens sind nur in diesem Fall politisch ambitionierte Kunstschaffende als Avantgardisten anzusprechen; mit konventionellen Mitteln und stereotypen Formeln arbeitende linksutopische Politkünstlerlnnen können höchstens als wackere Kämpferinnen zum Mittelfeld, nicht aber zur Vorhut gezählt werden. Ein Drittes ist die Frage, ob Avantgarde nicht nur einen Bewegungsmodus, sondern gleichzeitig eine Bewegung im Sinne eines Zusammenschlusses von Gleichgesinnten meint, die unter gemeinsamer ästhetischer Flagge oder mit gleicher ideologischer Stoßrichtung marschieren und mit den klassischen Phänomenen der Spaltung, Häresie und Erstarrung zu »kämpfen« haben. Auch die Rolle, die die Avantgardebewegungen bei der Entgrenzung von Kunst in Lebenspraxis spielen, wird kontrovers diskutiert. Bestimmten, ins Kritische gewendeten Folgerungen aus dieser Grundthese Peter Bürgers, die die Avantgardebewe-

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gungen zu unwillentlichen, aber zwangsläufigen Wegbereitern faschistischer Staatskunst erklären, oder umgekehrt in den Nazis die (illegitimen) ästhetischen Erben der Avantgarden sehen13, widersprechen Franz Dröge und Michael Müller: »Unter dem Eindruck postmoderner Entgrenzung ist in letzter Zeit häufig davon die Rede, die Asthetisierung des Alltags sei die kulturhistorisch bedeutendste Folge der Avantgarde< (...). Das aber übersieht ganz entschieden, daß diese Asthetisierung ihren Durchbruch in Deutschland sehr viel weniger den Intentionen und Praktiken der Avantgarden verdankt, sondern faktisch erst in den Jahren des Nationalsozialismus ihre gesellschaftlich relevante Gestalt angenommen hat«(kursiv im Orig.).14 Zu Gunsten der Avantgarde sei deren »rigoros aufklärerischer Gestus« (S.219) bei der Zertrümmerung der Aura ins Feld zu führen, wodurch der Betrachter aus seiner Position zwischen Andacht und Ohnmacht befreit worden sei (S. 56).15 Gerade die Aura wurde indes in NS-Deutschland, wohl nicht als Aura eines Bildwerkes, sondern im Personenkult und der Masseninszenierung, restituiert. Auch wenn die Moderne im allgemeinen und die Avantgarden als deren aufbegehrende, (noch) nicht etablierte Kinder im besonderen nicht ganz unschuldig seien,16 da vor allem letztere, mit ihrem Angriff auf die Kunstautonomie, den NS-Kulturstrategen in die Hände arbeiteten, so könne man ihnen dennoch nicht - so Dröge und Müller - die Rückgewinnung der Aura als Instrument der Barbarei anlasten. Die Avantgarden hätten die erkenntnistheoretische Seite des Ästhetischen stark gemacht und nicht auf eineÄsthetik des Politischen abgezielt.17 Das selbstreflexiv Individualistische, mit dem sich gerade »kein Staat machen« läßt, bekämpften die Nazis denn auch folgerichtig vehement. Doch werden wir konkret und greifen die eingangs gestellten Fragen wieder auf: Der Begriff Avantgarde spielte in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre in den von Kunstschaffenden18 und Kunstkritikern - wie etwa Julius Meier-Graefe, Gustav Friedrich Hartlaub, Karl Scheffler, Paul Westheim - geführten Diskussionen kaum eine Rolle. Für die Werke, die auf den NS-Schandausstellungen gezeigt und in den Museen als »entartet« beschlagnahmt wurden, ist erst heute die Bezeichnung Avantgardekunst synonym für Kunst der Moderne19 das gängige Etikett. Künstler mit politisch avantgardistischer Haltung waren kaum in den von der NS-Propaganda in den Museen zusammengestellten sogenannten Schreckenskammern und der berühmtberüchtigten »Entarteten Kunst«-Sc\\2M vertreten und konnten, da selten von der öffentlichen Hand angekauft, auch kaum in den Museen beschlagnahmt werden. Das eigentliche Medium der politisch-künstlerischen Avantgarde waren Zeitungen und Zeitschriften wie beispielsweise die satirischen Blätter Jedermann sein eigner Fußball, Die Pleite, Der blutige Ernst, Lachen links, Der Knüppel, deren Existenz bereits in der Weimarer Republik durch Beschlagnahmungen und gerichtliche Verfahren gefährdet war.

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Bemerkenswert wenige Künstler und Künstlerinnen, die ab 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland und nach dem sogenannten Anschluß 1938 aus Osterreich emigrieren mußten, gehörten zu der heute als Avantgarde bezeichneten Künstlerschaft, welche 1937 auf der Ausstellung »Entartete Kunst« und deren Vorläufern (seit 1933) diffamiert worden war. Von den 109 zeitgenössischen deutschen Künstlern20, die auf der Münchner Station als »entartet« denunziert wurden, emigrierten wohl immerhin 28 (d. h. etwas über ein Viertel), doch setzt man diese Zahl ins Verhältnis zu denen, die aus Gründen rassischer und politischer Verfolgung ins Exil gehen mußten, verschiebt sich die Relation auffällig. Von den ca. 300 im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 erfaßten emigrierten Künstlern und Künstlerinnen21 waren - nach meiner Zählung - nur ca. 15% auf den Vorläufern und Stationen der Diffamierungsschau »Entartete Kunst« und den parallelen antibolschewistischen Wanderausstellungen wie Der Bolschewismus — Große antibolschewistische Schau (1936) und Der ewige Jude (1937/38) mit Werken vertreten22 sowie von den Säuberungsaktionen in den Museen betroffen.23 Und unter denjenigen, die nicht öffentlich als »entartet« angeprangert wurden und emigrieren mußten, ist nur ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz ebenfalls den Avantgardebewegungen zuzurechnen, so daß der Anteil der Künstler-Emigranten, die unter das ästhetische Verdikt der Nazis fielen, auch bei großzügiger Schätzung deutlich unter 20% bleibt. Die biographische Erfassung des vom Institut für Zeitgeschichte München und der Research Foundation for Jewish Immigration herausgegebenen Handbuchs ist wohl unvollständig, doch dürfte sich tendenziell der Prozentsatz eher noch reduzieren, wie beispielsweise die Werke der von der Verfasserin recherchierten weiteren 37 emigrierten (unbekannteren) Künstler und Künstlerinnen vermuten lassen. Es ging weder der deutsche Expressionismus und Dada, noch Surrealismus und Konstruktivismus oder der Verismus geschlossen ins Exil (oder ins KZ) - im Gegenteil: die meisten blieben im Lande. Produzentinnen »urdeutscher«, an mittelalterlichen Vorbildern orientierter Holzschnittkunst hatten - sofern jüdischer Herkunft oder »jüdisch versippt« — ein härteres Schicksal als die meisten radikalen Protagonisten der Moderne. Die (wenigen) Avantgardekünstlerinnen, die in die KZs eingeliefert wurden, waren Opfer rassistischer oder politischer (und nicht ästhetischer) Verfolgung.24 Ästhetisch betrachtet bot die verfolgte und vertriebene Künstlerschaft einen stilistisch und qualitativ repräsentativen Querschnitt deutschen und österreichischen Kulturschaffens, das in den zwanziger Jahren keineswegs von den ästhetischen Avantgardebewegungen dominiert wurde. Ist doch gerade die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, von historisierender und konventioneller sowie moderner und avantgardistischer Kunst, Signatur dieser Zeit. Die politisch-ästhetische Avantgarde unter der Künstlerschaft, zu

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der man die Novembergruppe, die Assoziation Deutscher Revolutionärer Künstler (ASSO) und etliche andere linkspolitisch engagierte Künstlervereinigungen der zwanziger Jahre (zum Beispiel RIH, Üecht-Gruppe, KünstUrgruppe der Vagabunden, Die Zeitgemäßen)25 zählen kann, war — wie die jüdischen Künstler und Künstlerinnen - im weit höherem Maße als die als »entartet« diffamierte ästhetische Avantgarde direkt gefährdet. Vor allem bei den emigrierten Zeichnern und Graphikern beiderlei Geschlechts ist der Prozentsatz politisch links stehender Künstler, die entweder allein dem politischen oder zusätzlich dem rassischen und/oder ästhetischen Verdikt zum Opfer fielen, signifikant hoch. 26 Anders formuliert: Nur verhältnismäßig wenige nichtjüdische und unpolitische Künstler wie Max Beckmann, Wassily Kandinsky, Josef Albers oder Kurt Schwitters, die eben nicht um Leib und Leben fürchten mußten, sondern »nur« in ihrer künstlerischen Existenz durch Entlassung aus dem Lehramt, Ausstellungs- und Berufsverbot sowie öffentliche Diffamierung vernichtet werden sollten, gingen »freiwillig« 27 ins Exil. Der größere Teil der als »entartet« diffamierten Künstler befand sich ab 1933 in der inneren Emigration oder suchte sich den neuen Verhältnissen aus pragmatischen Gründen stilistisch anzupassen, und einige wenige, wie Emil Nolde, sahen in der Diskriminierung ihrer Kunst ein bedauerliches Mißverständnis der Nazis und hätten sich — vergleichbar mit manchen Futuristen in Italien - gerne als Protagonisten einer »echt deutschen Kunst« dem Staat angedient. Genau besehen hatte sich das Ende der Avantgarde bereits vor 1933, und nicht nur in Deutschland, angekündigt in der inzwischen vermehrt von der Kunsthistorie beachteten, die zweite Hälfte der zwanziger Jahre prägenden Hinwendung zu einem antiaufklärerischen Neoklassizismus.28 Ausstellungen wie beispielsweise Canto d'Amore in Basel29, die sich mit dem Phänomen der klassizistischen Moderne in Frankreich zwischen 1914 und 1935, der Hinwendung zum klassischen Formen- und Motivkanon (Akt, Torso, Büste) und zu mythologischen Themen befassen, haben inzwischen Konjunktur. Auch in der Beschäftigung mit der sogenannten jüdischen Renaissance und deren nichtavantgardistischer Bildwelt30 meine ich eine solche längst fällige Erweiterung des Blickfeldes auf keineswegs randständige Phänomene zu erkennen. Auch darf nicht übersehen werden, daß die ästhetischen Avantgarden sich im Laufe der zwanziger Jahre zum Gutteil erfolgreich etabliert hatten, in den Museen vertreten waren und in den Galerien hoch gehandelt wurden, somit zur klassischen Moderne mutiert waren. Insofern ist der Titel »Entartete Kunst«. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland der eingangs genannten Ausstellung dann korrekt, wenn man Avantgarde ausdrücklich wie Christoph Zuschlag oder Jutta Held - synonym für klassische Moderne setzt.31

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Standen die Zeichen der Zeit für die Avantgarde in Deutschland mehr als ungünstig, so konnte hingegen die Verbindung Avantgarde und Exil eine durchaus fruchtbare sein. Damit ist hier weniger der Siegeszug des mitteleuropäischen »Exportartikels« (vor allem für die USA) moderne autonome Kunst und deren Etablierung als Weltkunst gemeint32, auch wenn sicherlich nicht nur die US-amerikanische Atomphysik und die Kunstgeschichte33 um nur zwei andere bedeutende Beispiele, aus dem geistes- und naturwissenschaftlichen Bereich, zu nennen —, sondern auch die Architektur, die Malerei und Plastik sowie das Produktdesign (spez. die Buchgestaltung)34 wichtige, wenn nicht gar entscheidende Impulse durch die Werke deutschsprachiger Emigranten und vor allem durch deren Unterricht an den Hochschulen erhielten. Hier geht es auch nicht um die Feststellung, daß das Werk emigrierter Künstler wie Oskar Kokoschka, Max Beckmann 35 , Lea Grundig36 und vieler anderer durch die krisenhafte Erfahrung des Exils stilistisch und politisch-ikonographisch signifikante und ästhetisch beachtenswerte Veränderungen erfuhr, vielmehr darum, daß einige wie Richard Lindner, Hans Bellmer (beide vorher hauptsächlich Gebrauchsgraphiker), Mathias Goeritz (vorher Kunsthistoriker), Wols und die als Kinder emigrierten Frank Auerbach, Gustav Metzger, Eva Hesse und Hans Platschek erst in der Fremde zu Protagonisten einer ästhetischen Avantgarde wurden.

Das in den USA entstandene Œuvre Richard Lindners läßt den Schluß zu, daß gerade die krisenhafte Erfahrung des Exils eine Chance zur Neuorientierung gewähren kann und nicht zwangsläufig als ein Hemmnis gewertet werden muß, das zu überwinden - so Haftmanns noch immer wirkungsmächtiges, konservatives Credo - nur der großen autonomen Künstlerpersönlichkeit gelingt, die von den Wirrungen und Schrecknissen der Zeit unberührt bleibt. Richard Lindner, geboren 1901, aufgewachsen in Nürnberg, ausgebildeter Werbegraphiker, erfolgreicher Anzeigengestalter fur den Münchner Zeitungsverlag Knorr und Hirth, war ab 1933 als Jude und Sozialdemokrat doppelt gefährdet und emigrierte alsbald nach Paris. Nach dem Einmarsch der Deutschen von den Franzosen fur einige Monate interniert, dann entlassen, floh er nach Südfrankreich37, von wo ihm 1941 die Ausreise in die Vereinigten Staaten gelang. Hier konnte er in den vierziger und fünfziger Jahren — von der Kunstgeschichte bisher weitgehend ignoriert, da als kunstgewerblich und somit unbedeutend gewertet38 — seine Tätigkeit als Werbegraphiker und Illustrator erfolgreich bei großen Konzernen wie Harpens fortsetzen.39 Mit der Malerei, die ihn berühmt machen sollte, begann er erst im 50. Lebensjahr.

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The Meeting (Abb. 1) von 1953 ist eines von Lindners enigmatischen Hauptwerken, mit dessen Entschlüsselung sich die Kunstwissenschaft unverdrossen befaßt.40 Eine eigenartige, allein schon in den Größenverhältnissen nicht zusammenpassende Gesellschaft hat in einem guckkastenartigen Raum Position bezogen. Acht Menschen, die, nach ihrer Kleidung zu urteilen, verschiedenen Zeitebenen angehören, sowie eine Katze sind in einem engen Geviert zusammengepfercht, das sie nach oben und nach vorn zum Betrachter hin fast zu sprengen drohen. Trotz der drangvollen Enge sind die Figuren merkwürdig voneinander isoliert, denn sie stehen weder in einer perspektivisch noch erzählerisch inhaltlich (etwa durch eindeutige Blickkontakte, Handlungsbezüge) motivierten Beziehung zueinander. Gestik und Mimik der beteiligt Unbeteiligten wirken erstarrt, gleichsam als sei die Zeit angehalten. Eine Versammlung im Wartestand, die, nach der Kleidung zu urteilen, zudem unterschiedlichen Zeitphasen und Gesellschaftsschichten anzugehören scheint. Die bewährten Kompositionsschemata — Spiegelung an einer Mittelachse, Dreieckskomposition, diagonale Staffelung — sowie die komplementären Farbkorrespondenzen innerhalb der grauen Umfriedung und nicht zuletzt der einheitliche, samtene Schimmer der mit weichem Pinsel gestumpften, mittels Weiß- und Schwarzbeimischungen modellierten Lokalfarben verhindern ein Auseinanderbrechen des diachron wie synchron disparaten Treffens. Der inhaltliche Konnex muß, so ist zu vermuten, allegorischer Natur sein. Auch mit dem Raum weisen die Figuren kaum Berührungspunkte auf; einige Personen scheinen samt ihren Stühlen über dem Boden zu schweben, andere die Raumgrenze nach vorn zum Betrachter hin zu negieren, so daß dieser sich in einer eigenartigen, zwischen Distanz und Involviertheit schwankenden Position befindet. Hauptverantwortlich für diesen Eindruck ist die Rückenfigur im Korsett, deren rechte Armhaltung als Aufforderung wie auch als Abschirmgestus interpretierbar ist. Die dargestellten Gestalten sind - bis auf die Dame im Korsett und die Katze41 - keine Phantasiefiguren, sondern Porträts von Menschen, die im Leben Lindners eine Rolle spielten. In einem vom Künstler ausgefüllten Fragebogen für das New Yorker Museum of Modern Art, dem Eigentümer des Gemäldes42, werden die Personen genannt: links hinten die jung verstorbene Schwester des Künstlers, Lissy Lindner, auf der anderen Seite der Türöffnung im Matrosenanzug er selbst als Kind zusammen mit seiner Tante Else Bornstein, schräg daneben die Malerin Hedda Sterne im roten Kleid, ihr zu Füssen ihr Ehemann Saul Steinberg und eine namenlose Hauskatze, weiter im gegenläufigen Uhrzeigersinn eine von Lindner als »family cook« bezeichnete weibliche Rückenfigur in berufsuntypischer Aufmachung, deren rosi-

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1 Richard Lindner: The Meeting, 1953, Öl auf Leinwand, 152,4 x 182,9 cm, Museum of Modern Art, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

ges Fleisch mit dem ungesund grauen Inkarnat des schräg vor ihr befindlichen Bayernkönigs Ludwig II. kontrastiert, links unten die Fotografin Evelyn Hofer, die einzige, die uns ansieht. Die meisten Inspirationsquellen sowie die konkret verwendeten Bildvorlagen - Porträtfotos sowie Einzelmotive aus Bildern anderer Künstler - wurden von der Forschung rekonstruiert. Evelyn Hofer fotografierte auf Lindners Anweisung Sterne und Steinberg in den hier nun zitierten Posen.43 Das Jugendbild mit Tante entstand nach einem alten Familienfoto und das Königsbildnis wohl nach einer Postkarte, wie Dore Ashton herausfand.44 Die Figur der Schwester verhehlt nicht ihre Inspiration durch Fernand Legers Gestalten45, die Lindner nach eigenem Bekunden sehr schätzte. Für das Porträt der Fotografin Hofer könnten Christian Schads Frauenbildnisse46, die Lindner ebenfalls kannte, Pate gestanden haben. Und mit der getigerten Hauskatze zitiert er, denke ich, den Tiger aus Max Klingers Radierung Erste Zukunfi (Abb. 2), dort Symbol einer naturhaften,

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2 Max Klinger: Erste Zukunfl, Blatt 2 der Folge Eva und die Zukunft, Opus II, 1880, Aquatinta, 39,7 x 26,9 cm

unbezähmbaren Libido. Bei Lindner erscheint die Sinnlichkeit in der Gestalt des Haustiers domestiziert und erweist sich gleichzeitig durch den ins Hypnotische gesteigerten Blick der Katze und deren auffallende Größe als Camouflage. Der hypnotische Blick wird wiederum im Ornament des Korsetts der zentralen Frauengestalt und Schlüsselfigur, abstrahiert und gleichzeitig dämonisiert, aufgegriffen. Der Blick des Betrachters wird gebannt (abgewehrt) und gleichzeitig in Bann geschlagen (festgehalten). Trotz gewisser gestalterischer und rhetorischer Konvergenzen (Dislokation, Montage, Zitat, Präsenz des Gestischen) serviert uns Lindner mit dieser üppigen, mit Delikatesse gemalten Versammlung kein Remake des surrealistischen Freundschaftsbildnisses Rendezvous der Freunde (Abb. 3), mit dem Max Ernst ein einst harmonisches Ganzes einer Künstlergemeinschaft beschworen hatte. Als Max Ernst die Pariser Gruppe der Surrealisten zum Gruppenbild montierte, waren sich alle noch einig im sprechenden Habitus surreal manifester Glaubensgewißheit. Entsprechend korrespondiert die Exaltiertheit ihrer Hand- und Fußstellungen, als gehorchten sie einer einstudierten Choreographie. So kommt auch Evelyn Weiss zu dem Schluß: »Was aber die Gesamtdarstellung besonders prägt, ist die eigentümliche Gestik der Gruppe. Max Ernst verdeutlicht: Wir haben unsere eigenen Spielregeln und unsere Geheimsprache.« 47 Hinzu kommen die anekdotischen

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3 Max Ernst: Rendezvous der Freunde, 1922, Öl auf Leinwand, 130 x 195 cm, Museum Ludwig Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

Anspielungen und die beim »Wort genommenen« metaphorischen Aperçus, die den interessierten Betrachter, der sich auf das Spiel einläßt, auf seine Kosten kommen lassen. Die Entschlüsselung ist einkalkuliert, erscheint erwünscht. Lindner hingegen hat seine Zentralfigur, die Frau im Korsett, kaum so angelegt, daß die Zitatstellen, aus denen sie sich zusammensetzt, alsbald offenbar werden. Denn Lindner gehorcht bei der Verrätselung keinen anerkannten Gruppenspielregeln, gibt keinen Hinweis auf die Quellen, aus denen er seinen privaten Mythos speist. Doch die Forschung ist ihm »auf die Schliche gekommen«: In der Ornamentik des Mieders zitiert er die weibliche Rückenfigur aus Max Emsts weib, greis und blume (Abb. 4), mit der Frisur die Haartracht der Dame in Paul Delvauxs Le Mirroifö, und die Geste der rechten Hand entspricht der einer Figur aus Balthus' La Rue (Abb. 5). Nichts scheint authentisch oder gar neu zu sein. Lindner zitiert auf allen offenen und versteckten Ebenen und konzipiert sich so seinen privaten, den surrealistischen Ahnen bedingt verpflichteten Kosmos. Ist Lindner ein langweiliger Eklektizist, dem nichts Eigenes einfiel? Wohl kaum, denn auch das Wissen um die (geheimen) Quellen seiner Inspiration zerstört keineswegs die Suggestivkraft, sprich Aura49, des letztlich gerade durch seine künstliche Konstruiertheit spannungsreichen Bildes. Das Eige-

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4 Max Ernst: weib, greis und blume, 1923/24, 97 x 130 cm, Museum of Modern Art, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

ne ist das Fremde. Teile familiärer und historischer Erinnerung, Bruchstücke aus einer erträumten künstlerischen Vergangenheit im Paris der Surrealisten und die zu Posen erstarrte Gegenwart der Freunde montiert Lindner zu einem eigenartigen Welttheater, in dem die traditionelle Einheit von Ort und Zeit zerbrochen ist. Diese Versammlung ist im raum-zeitlichen Koordinatensystem nicht wirklich zu verorten. W i e das Exil ein mythischer »Ort Nirgendwo«, jenseits der Abfahrt (alte Heimat) und diesseits der Ankunft (neue Heimat), ein Zwischen-Zeit-Raum, ein psychischer Schwebezustand ist, so ist auch dies ein Treffen in einem Wartesaal auf unbestimmte Zeit, an unbestimmtem Ort. Das additive, synkretistische Prinzip verhindert die Simulation einer heilen Welt; die Bruchstellen bleiben bewußt sichtbar. Die eigenartige Aufforderung zur Annäherung und gleichzeitige Distanzierung, ja Abwehr, die in der Gestalt der korsettierten Frau kulminiert, aber auch beispielsweise in der Person der Fotografin (Blickkontakt und »Zugeknöpftheit«) sich spiegelt, erlaubt dem Betrachter nicht, eine eindeutige identifikatorische oder distanziert voyeuristische Position zu beziehen, verweist zugleich auf die ambivalente Haltung des Produzenten. Vor allem die Frau im Korsettpanzer, die aus »künstlerischen >Teilreizen< zusammengestückelte« 50 Zaubermeisterin, die die Versammlung versteinert zu haben scheint,

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5 Balthus: La Rue, 1933, Öl auf Leinwand, 193 x 235 cm, Museum of Modern Art, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

verweist auf tiefenpsychologische Sinnschichten51 und hält auch uns in Schach. Claudia Loyall deutet, mit Bezug auf Vladimir Nabokovs im Exil entstandene, autobiographische Essays52, in denen er mit dem Begriff des »individuellen Mysteriums« und dem Motiv des »unpersönlichen Blicks des reisenden Kindes« operiert, Lindners »Allegorie reele« (Courbet) als aus dem Geiste des Exils geborenes Weltkonstrukt. 53 Allerdings befand sich Lindner nicht erst seit den fünfziger Jahren, als seine Malerei schlagartig begann, im Exil. Was verraten die davor entstandenen graphischen Auftragsarbeiten über seine Befindlichkeit? In den vierziger Jahren illustrierte Lindner vier belletristische Bücher.54 Den Auftakt bildeten Illustrationen und Buchschmuck im Auftrag der bibliophilen Peter Pauper Press zu Flauberts Madame Bovary:55 Mit zehn feinlinigen, akkuraten Strichzeichnungen auf Tafeln sowie Initialen in Ornamentrahmen sucht Lindner den Geist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzufangen und zugleich Flauberts sachlich akribische Registrierung des sentimental trivialen Gefühlslebens der Hauptperson und der Banalität ihres Schicksals auch in der bildkünstlerischen Umsetzung kenntlich zu machen. Dem zwischen

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Pathetik und Ironie eigentümlich oszillierenden Stil des Autors, der identifikatorische Nähe und gleichzeitig nüchterne Distanz erzeugt, entsprechen Lindners einerseits leicht karikierend, andererseits gestelzt altmodisch und farblos wirkende Tableaus. Eine der Schlüsselszenen des Romans ist der Waldritt Emmas mit ihrem Geliebten Rodolphe, gleichzeitig Höhe- und Schlußpunkt ihrer Liebesbeziehung. Das romantische Naturerlebnis wird jäh entzaubert durch Rodolphes Weigerung, die Geliebte durch gemeinsame abenteuerliche Flucht aus ihrem langweiligen Ehealltag zu retten. Mit mechanistisch peniblem Strich komponiert Lindner eine versatzstückhaft romantische und dadurch platte Liebesszene im Wald (Abb. 6). Auch hier zitiert er ein Motiv aus dem Werk eines anderen Künstlers — Daniel Chodowieckis Glück der Liebe (Abb. 7) 56 von 1796.

6 Richard Lindner, Illustration aus: Gustav Flaubert: Madame Bovary, Mount Vernon, N. Y.: Peter Pauper Press (1944), © V G Bild-Kunst, Bonn 1998

7 Daniel Chodowiecki: Glück der Liebe, 1796, Federzeichnung, 10,6 x 7,2 cm, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt/M.

Doch was bei Chodowiecki sublime Zweisamkeit in idyllischer Parklandschaft, frühromantisches Natur- und Liebeserlebnis ist, erscheint bei Lindner als sinnentleertes Zitat, als hohle Phrase. Die schematischen Zweierkorrespondenzen der Menschen, der Pferde und der Bäume sowie die gleichmäßige, präzise zeichnerische Durchbildung aller Elemente als gleichgültig, das Fehlen eines charakteristischen Profils der Protagonisten und der Mangel an Ausdruck sind weniger Zeichen defizitärer Kreativität, vielmehr bewußt substanzloses Weltkonstrukt. Panzer und Masken gesellschaftlichen

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Spiels, O r n a m e n t e der Beziehungslosigkeit kennzeichnen nicht allein die späteren Gemälde, sondern sind bereits in den frühen Exilarbeiten angelegt. Z u m Avantgardisten aus d e m Geiste des Exils wird Lindner allerdings erst 1950, als er sich, bereits 49jährig, entschließt, von der angewandten Graphik zur freien Malerei zu wechseln. Auslöser ist eine Parisreise im Jahr 1950, bei der er an die abgerissenen Fäden seiner europäischen Vergangenheit anzuknüpfen sucht und gewahr wird, daß die Emigration unwiderruflich ist. Er, der sich, wie er wiederholt in Interviews äußert, als »ein Tourist auf Besuch in Amerika« 5 7 empfindet, m u ß nun erkennen, daß er nirgends eine H e i m a t hat, daß er überall ein Fremder ist. Erst in Paris, der einst ersten Station seines Exils u n d dem nun entzauberten mythischen Hort der europäischen M o d e r n e 5 8 , wird er endgültig zum »Berufsemigranten«, wie Günther Anders in seinem Essay Der Emigrant diejenigen bezeichnet, die (wie er selbst) es sich z u m »Programm machten, Fremdlinge zu bleiben«. 5 9 D a s Exil ist nun definitiv kein lokalisierbarer Zufluchtsort mehr, von dem man, nach N e u tralisierung der einstigen Gefahr, wieder in die selbstgewählte H e i m a t 6 0 zurückkehren kann, sondern eine Haltung, ein Standpunkt gegenüber der Welt. D i e Bilder belegen, daß Lindners Bekenntnis zum Außenseitertum kein kokettes Lippenbekenntnis ist. Wenn er sagt: »Im übrigen hilft einem die Zugehörigkeit zu einer verfolgten G r u p p e zweifelsohne dabei, einen Sinn für Kreativität zu entwickeln« 6 1 , so ist dies weder Attitüde noch bloße Selbststilisierung. Aber ist Lindner deswegen schon Avantgardist? » Z u einer Zeit, da andere Künstler im N e w York der Nachkriegszeit eine expressionistische Abstraktion neuer Art erkunden, entwickelt Richard Lindner, der vor der Nazi-Diktatur aus Deutschland geflohen war, ein kühnes und zutiefst verstörendes Œ u v r e — den avantgardistischen Trends diametral entgegengesetzt«, heißt es im Faltblatt zur großen Richard-Lindner-Retrospektive, die im Frühjahr 1997 im M ü n c h n e r H a u s der Kunst 6 2 zu sehen war. Richard Lindner also kein Avantgardist, sondern nur ein unzeitgemäßer Sonderling? O d e r sind »avantgardistische Trends« nicht eine Contradictio in adjecto, und wieso sollten die trendigen Kinder der Moderne den Alleinanspruch auf Innovation haben? K ö n n t e nicht gerade Lindner, den m a n in den sechziger Jahren z u m Pop-Artisten erklären wollte und dann doch wenigstens als solitären Vorläufer der Pop Art anerkennen mußte (und somit zur Vorhut der Postmoderne rechnen kann), wesentliche der gängigen Definitionskriterien erfüllen? Als Merkmale avantgardistischen Literaturschaffens faßt Rudolf N e u h ä u ser folgendes zusammen: » D a z u gehören >Depersonalisierung und D e h u manisierung< (die H i n w e n d u n g zur Maschinenwelt einerseits, und zu einem Primitivismus, zu C h a o s und z u m Irrationalen, andererseits), die Negation des euklidischen R a u m - und Zeitgefüges, die Zerstörung von Syntax und Semantik. Z u den positiven Merkmalen gehören die Tendenz zur Groteske

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und zum Absurden; der assoziative Strukturaufbau der Texte; das Manifest als literarische Gattung.«63 Die meisten dieser Kriterien (und etliche der weiter oben vorgestellten kategorialen Bestimmungsversuche) könnten auf Gemälde von Lindner angewandt werden, etwa auf The Street (Abb. 8) von 1963. Unter einem Titel, der eine städtische Freiluftszene suggeriert, werden wir mit einer Ansammlung von Personen konfrontiert, in rätselhafter Gemengelage, teils einander zugeordnet, teils voneinander separiert und in unklaren bis paradoxen Verhältnissen zu Fläche und Raum plaziert. Statt in eine Straße mit Passanten sehen wir auf ein artifizielles, nichteuklidisches Gebilde, daß durch ein Netz farbiger Geraden zusammengehalten wird64, die sowohl als Farbflächengrenzen als auch - motiviert durch die Staffelung der Figuren und ihrer Bewegungsmotive — als Perspektivlinien gelesen werden können. Bleibt das Patchwork der mit farbig abgesetzten Nähten verbundenen Farbkompartimente auf Grund ihrer nicht abschattierten jeweiligen Einfarbigkeit tendenziell im Zweidimensionalen verhaftet, so schaffen die zu Gewandbesatz und Strumpfnaht bei der weiblichen Rückenfigur abgewandelt auftretenden, körperhaft modellierenden Farblinien65 zusammen mit unsichtbaren Blickvektoren, die von den Personen in unterschiedlicher Intensität und Richtung ausgeschickt werden, ein Raum öffnendes Gegengewicht. Zum irritierenden Vexierbildcharakter des parzellierten Grundes hinzu tritt die ungleichartige Figurenbehandlung - zwischen plastisch modellierend und raumgreifend einerseits sowie scherenschnittartig und flächig montiert andererseits - , die Gestalten unterschiedlichen Realitätsgrades erzeugt. Als zeitgenössische amerikanische Großstadtpassanten im engeren Sinne sind die Zweiergruppe im Vordergrund und der weit ausschreitende Mann mit Hut und Schirm präsentiert, während die beiden Kinder im Mittelgrund einer anderen Zeit- und Raumebene (großbürgerliches Europa zu Anfang des Jahrhunderts) gehören. Die disfunktionale, entfernt an Blechspielzeug erinnernde Apparatur über (oder hinter) dem Mädchenkopf, die Schützensilhouette und das rotgefärbte Brustbild eines muskelprotzigen Comic-Helden oder Werbeträgers erscheinen als flächige Bildzitate aus den inkongruenten Bereichen russische Avantgarde, Kolportage und amerikanische Fassadenreklame. Doch auch der Anzug des flotten Spaziergängers mit Stockschirm wird von starren, abstrakten Formen überlagert, die Assoziationen zu kugelsicherer Brustpanzerung und Zuschneideteilen aus der Textilindustrie freisetzen, und der Korpus des Jungen ist unterhalb seines Kragens spurlos in die Fläche diffundiert. Als Ersatzbefriedigung für die in mehrfacher Weise nicht aufgelösten syntaktischen und semantischen Bilderwartungen dienen den bisherigen professionellen Interpreten ihre ansatzweisen, spekulativen Versuche, das

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8 Richard Lindner: The Street, 1963, Öl auf Leinwand, 179 x 179 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

Rätselbild narrativ oder allegorisch aufzulösen 66 , ein Unterfangen, das die glatte Oberfläche von Lindners Bildwelt aber schwerlich durchdringt. So reicht es auch nicht, sich wie Werner Schmalenbach 67 mit dem Hinweis zu begnügen, daß Lindner hier offensichtlich (wieder) von Balthus' La Rue (Abb. 5) inspiriert wurde, diesem von somnabulen Wesen bevölkerten Rätselort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Weniger die Gemeinsamkeiten im Kompositionsschema, Titel und Thema sind interessant als gerade Lindners Abweichung von der Vorgabe. Die alte, in eine Art autoerotischen Dornröschenschlaf versunkene Welt von Balthus wird bei Lindner aus den Angeln gehoben, ihre Bruchstücke zu einer neuartigen, schablonenartig verschränkten Zwischenwelt zusammengefügt, in der die

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menschlichen Beziehungen verdinglicht sind und die Dingwelt aus der Lotrechten gekippt ist. Die Straße, einst ein halb öffentlicher Ort kommunikativer Beziehungen und Passage zwischen steinernen Resultaten angewandter Stereometrie, wird hier zur Bühne eines polyadischen Balletts68, einer avantgardistisch-artistischen Nummer mit Hund. In The Meeting und The Street sind die Körper noch nicht demontiert, aus Versatzstücken restituiert und ins Monströse gebläht wie später beispielsweise die Leoparden-Lil'y69 von 1966, das Ort- und Zeitgeftige ist jedoch negiert und der Ausdruck erstarrt. Peter Gorsen spricht in Bezug auf Lindners Malerei von einer zweiten Entfremdung, mittels derer der Künstler sich von der entfremdeten Gesellschaft distanziere. Auf Grund dieser irritierenden, dialektischen Spannung hätten seine Bildwelten keinen Anteil an der affirmativen Warenästhetik der Pop Art. 70 Diese produktive Irritation hat sich bis heute nicht verbraucht, da Lindners Bilder nie modisch waren. Nur kurz wurde er von Warhol und anderen Pop-Artisten als einer der ihren angesehen, bis sich das Mißverständnis aufklärte und Lindner eben nicht in den Olymp der postmodernen Celebrities aufgenommen wurde, sondern an der Schwelle blieb, in jenem Liminalraum 71 , dem Ort des permanenten Ubergangs, sprich: im Exil. Fassen wir zusammen: Die kritisch empirische Sichtung der biographischen Daten erbrachte das überraschende Ergebnis, daß die ästhetische Avantgarde Deutschlands, die als »entartete« Kunst von den Nationalsozialisten diffamiert worden war, keineswegs — wie der Mythos glauben macht — das Gros der Künstlerschaft bildete, das zur Emigration gezwungen war, um der Verfolgung zu entgehen. Uber 80% der deutschen und österreichischen emigrierten Künstler und Künstlerinnen waren wegen ihres politischen Engagements und aufgrund rassistischer Diffamierung existentiell gefährdet gewesen und hatten deswegen das Land verlassen. Die meisten Vertreter des Expressionismus, Konstruktivismus, von Dada und den anderen historischen Avantgarden waren nicht im aktiven Widerstand und blieben im Lande. Sie wußten sich entweder mit den Machthabern zu arrangieren oder gingen in die innere Emigration. Es wäre jedoch, wie Dröge und Müller überzeugend darlegten, verfehlt, in den Avantgarden willentliche oder auch nur mißbrauchte Wegbereiter der faschistischen Staatskunst zu vermuten. Denn zum Wesen der Avantgarde gehört der rigoros aufklärerische Gestus, der sich nicht ideologisch instrumentalisieren läßt, ohne sich selbst zu negieren. Die Differenz zwischen symbolischer Weltzertrümmerung und praktizierter Gewalt, zwischen avantgardistischem Gestus und faschistischer Praxis ist essentiell. Bei genauer Betrachtung wurde das Ende der Avantgarde in Deutschland nicht mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 eingeläutet. Bereits in den zwanziger Jahren setzte die Selbstauflösung durch Etablierung

Zur bildkünstlerischen Avantgarde und zum Exilwerk Richard Lindners

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und Rückbesinnung auf traditionelle Werte ein, wofür die Phänomene der sogenannten klassizistischen Moderne und der jüdischen Renaissance stellvertretend genannt wurden. Das Exil dagegen mußte dem Kunstschaffen keineswegs abträglich sein, konnte im Gegenteil die kreative Chance bedeuten und, wie im Falle Richard Lindners, zum Kairos der Avantgarde werden.

1 Stephanie Barron: »Entartete Kunst«. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland. Ausstellung des Los Angeles County Museum of Art, übernommen vom Deutschen Historischen Museum in Berlin. München 1992. — 2 Mario-Andreas von Lüttichau: »>Deutsche Kunst< und »Entartete KunstKunststadt< München 1937. Hg. von Peter-Klaus Schuster. M ü n chen 1987, S. 8 3 - 118; Ders. (Bearb.): »Rekonstruktion der Ausstellung »Entartete KunstAvantgarde< und >AvantgardismusL'avantgarde allemandeJetztzeit< - , der das homogene Kontinuum des Historischen, die Vorstellung von einem unendlichen Fortschritt aufsprengen will« 15 . Doch während die diesem »Zwiespalt« charakteristisch eigene Spannung auf Benjamins Arbeit befruchtend, schließlich konstitutiv wirkte, galt ihre Spur in seinen Texten vielen zeitgenössischen Lesern — darunter für Benjamin maßgebliche — als Zeichen eines grundlegenden Mangels. In dem Maße, in dem Benjamin auf eine Verständigung mit seinen Lesern zielte, erweiterte sich dieser Widerspruch daher zum Dilemma: So konstitutiv gerade das ¿/«gelöste, das TVzcAf-Aufgehobene der Dichotomie für sein Schreiben war, so sehr mußte er zugleich darauf achten, daß seinen Lesern ihre »Lösung« noch denkbar war und daher seine vermeintliche Arbeit an ihr kreditwürdig sei. Solcher charakteristische Anspruch von Seiten eines der für Benjamin fraglos wichtigsten Leser ist in Gershom Scholems kritischen Anmerkungen zu Benjamins im Frühjahr 1931 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichtem »Kraus«-Essay dokumentiert. Der Freund wirft dem Verfasser vor, daß er sich »krampfhaft« bemühe, »deine zum Teil sehr weitreichenden Einsichten in einer der kommunistischen denkbar angenäherten Phraseologie vorzutragen, daß aber — und hierauf scheint es mir anzukommen — eine verblüffende Fremdheit und Beziehungslosigkeit besteht zwischen deinem wirklichen und deinem vorgegebenen Denkverfahren«. Benjamin habe seine »Einsichten nicht etwa durch eine strenge Anwendung einer materialistischen Methode, sondern vollständig unabhängig davon (...) wie du so wahr sagst im theologischen Verfahren gewonnen«16. Dieses charakteristische »Janusgesichts wie er (Benjamin, S. B.) es gern nannte«, habe sich, wie Scholem später erinnert, mit seiner »eine(n) Seite Brecht«, mit der »andere(n) mir (dargeboten)«17. In der Tat sind es diese beiden Persönlichkeiten, die den »Zwiespalt« nicht nur als »Dichotomie«, sondern als sich zusehends verschärfenden Antagonismus verkörpern — ein Antagonismus, der unter den Bedingungen des Exils ftir Benjamins kritische Arbeit zunehmend Bedeutung erlangt. Schon in seinem Brief vom 30. März 1931 läßt Scholem keinen Zweifel an seiner Auffassung, daß Benjamins »Denkverfahren« »die materialistische Probe« nicht bestehen, das heißt hier: »innerhalb der kommunistischen Partei«18 nicht zugelassen werden und daher ohne Wirkungschance bleiben würde. Uber den dialektischen Materialismus gerade nicht als »Dogma«, sondern als »Haltung«, die ihm als »Forscher (...) wissenschaftlich und menschlich in allen uns bewegenden Dingen fruchtbarer scheint als die idealistische«19, orien-

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tierte sich Benjamin allerdings nicht an der Partei, sondern an Brecht. Für Benjamin hielt Brecht genau das »Zentrum der Stellung (...), die eine kleine aber wichtigste avantgarde hier zurzeit besetzt hält« 2 0 . Der Antagonismus, in den sich Benjamins Arbeit gestellt sah, war daher konkret bestimmt nicht durch das Dogma der Partei und ihre sich verhärtende Position zur künstlerischen Avantgarde 21 , sondern durch Brechts offensive, zuweilen wie zur Schau getragene Indifferenz gegenüber jenen »Gedankenbereiche(n), in denen wir (Scholem und Benjamin, S. B.) früher gemeinsam zu Hause waren« 22 : »jüdischen Einsichten« 2 3 . Nicht nur galten »judaismen« Brecht bekanntlich als Hindernisse in jeder Bemühung, »klare« und »entwirrende« Einsichten zu gewinnen 24 ; auch machte er aus seinem Desinteresse an den spezifischen intellektuellen und moralischen Voraussetzungen jenes deutschen Judentums, das noch in einer gewissen Nähe zur Tradition aufgewachsen war, keinen Hehl: »BB langweilten die Juden« — eine »Langeweile«, deren Beitrag zur Gefährdung der Juden im Rückblick nicht mehr verkannt werden konnte. 2 5 Daß sich die Kontroverse zwischen Scholem und Benjamin ausgerechnet am »Kraus«-Essay entzündet hatte, bezeichnet den symptomatischen Rang nicht nur des »Kraus«-Textes, sondern zugleich der Person des Wiener Satirikers und seiner Arbeiten selbst im Problemfeld dieses »messianisch-marxistischen Zwiespalts«. In den umfangreichen Aufzeichnungen, die Benjamin zwischen 1 9 2 9 und 1931 zu Fragen der Literaturkritik anfertigt, ist nicht nur erkennbar, daß Benjamin sich selbst als »Schriftsteller aus der Schule von Karl Kraus« 2 6 betrachtete, sondern daß ihm gerade sei es die produktive Nutzung, sei es die Uberwindung des Zwiespalts im Modus einer — wohlverstanden: zeitgemäßen - literarischen Kritik im Zeichen der polemischen Arbeit von Kraus möglich erschien. Zunächst läßt Benjamin in diesen Aufzeichnungen keinen Zweifel an einem materialistischen, Sozialrevolutionären Standpunkt der Betrachtung: Deutschland werde »der Barbarei (verfallen), wenn der Kommunismus nicht siegt«; die Aufmerksamkeit des Kritikers habe zuallererst den »Produktionsverhältnisse(n) auf dem Büchermarkt« zu gelten; »materialistische Kritik« solle zeigen, »daß es keinen neutralen Boden der Kunst gibt«; dem pazifistischen Kriegsroman wird angekreidet, daß er »dem gegenwärtigen Stande des Kapitalismus dient« 2 7 . Doch den Aufgaben, die sich der »materialistische(n) Kritik« 2 8 hier stellten, würde diese nicht gerecht: Mehr als »ein dickfelliges Nachziehen der Linien in den Werken (...), deren sozialer Gehalt - wenn nicht soziale Tendenz - stellenweise zu Tage liegt« 29 , werde nicht geleistet. Solchem Abriß des status quo fugt Benjamin - über den Entwurf seines »Programm(s) der literarischen Kritik« - von Anfang an Leitmotive ein, die ganz offen Kraus und seine Schriften als Vorbild haben. Wenn Benjamin als erste Maxime notiert: »Die vernichtende Kritik m u ß sich ihr gutes Gewissen wieder erobern« und wenig später »die

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reine Zitatenkritik als ganze auszuarbeiten« 30 fordert, knüpft er direkt an Motive an, die er gleichzeitig oder wenig später31 im »Kraus«-Essay als zentrale von dessen kritischer Arbeit markieren wird. In einer weiteren Notiz bestimmt er »das Bild von Karl Kraus als des einzigen Bewahrers polemischer Kraft und polemischer Technik in dieser Zeit« und erwägt, die »Charakteristik einer echten mittelbaren Wirksamkeit des revolutionären Schrifttums am Werk von Karl Kraus durchzuführen«. Diese skizziert er wie folgt: »Der konservative Schein in einem solchen Schrifttum. Indem es sich nämlich um das Beste, das die Bürgerklasse hervorgebracht hat, gruppiert, lehrt es exemplarisch, daß das Wertvollste, das diese Klasse in die Welt gesetzt hat, in deren Lebenskreise ersticken muß und nur in einer revolutionären Haltung konserviert wird. Es lehrt aber auch, wie die Methoden, mit denen das Bürgertum seine Wissenschaft aufbaute, heute eben diese Wissenschaft stürzen, wenn sie nur streng und ohne Opportunismus gehandhabt werden.« 32 Solche Nähe von Benjamins Überlegungen zu einer »Verwendbarkeit«33 etwa in Brechts Sinn wird gleichzeitig wieder infragegestellt durch seine Betonung einer, gleichfalls am Werk von Kraus abgelesenen »Technik der magischen Kritik« 34 . Diese »magische Kritik« gilt ihm nicht nur »als eine Erscheinungsform der Kritik auf ihrer obersten Stufe« 35 , sondern direkt als Maßstab der bisherigen materialistischen Kritik: »Die ganze Kritik der materialistischen Literaturkritik dreht sich darum, daß ihr die >magischeaußen< hin — an Karl Kraus und sein Werk als sichtbare Gewähr geknüpft war. Es ist die Bewunderung von Kraus, in der sich Benjamin mit Brecht trifft und die zweifellos geeignet gewesen war, etwaige Reserven auf Brechts Seite gegenüber einer »magischen« Kritik, wie Benjamin sie betont hatte, auszuräumen, um dagegen die kritische Perspektive auf die Errungenschaften des Bürgertums, wie Benjamin sie in seiner kurzen Kraus-»Charakteristik« skizziert hatte, in einem gemeinsamen Zeitschriftenprojekt einem unzweideutiger materialistischen Standort zu gewinnen. Benjamins an Kraus geübte Beobachtung, daß »die Methoden, mit denen das Bürgertum seine Wissenschaft aufbaute, heute eben diese Wissenschaft stürzen, wenn sie nur streng und ohne Opportunismus gehandhabt werden«, entsprach genau der Zielsetzung der geplanten Zeitschrift »Krisis und Kritik«, »der bürgerlichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methoden des dialektischen Materialismus ihnen durch ihre eigensten Notwendigkeiten - Notwendigkeiten der geistigen Produktion und der Forschung, im weiteren auch Notwendigkeiten der Existenz — diktiert

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seien. Die Zeitschrift sollte der Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist«57. Zwar kam das Projekt schließlich nicht zustande 38 ; doch schon bald darauf war die politische Situation in Deutschland so grundlegend verwandelt, daß wenn vielleicht auch nicht über die innere Verfassung, so doch über den organisatorischen //¿/i radikaler Kritik gänzlich neue Überlegungen angestellt werden mußten. II Am 17. März 1933 verläßt Benjamin Berlin; am 18. trifft er in Paris ein. »Einen Begriff von der Lage«, schreibt er am 20. März an Scholem über die Situation in Deutschland, »gibt weniger der individuelle Terror, als die kulturelle Gesamtsituation. Uber den erstem ist schwer, absolut Zuverlässiges in Erfahrung zu bringen. Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten geholt und mißhandelt oder ermordet wurden. (...) Was mich betrifft, so sind es nicht diese — seit langem mehr oder minder absehbaren — Verhältnisse gewesen, die in mir, und zwar erst vor einer Woche, in unbestimmten Formen, die Entschließung, Deutschland zu verlassen zur schleunigsten Entfaltung gebracht haben. Es war vielmehr die fast mathematische Gleichzeitigkeit, mit der von allen überhaupt in Frage kommenden Stellen Manuscripte zurückgereicht, schwebende, beziehungsweise abschlußreife Verhandlungen abgebrochen, Anfragen unbeantwortet gelassen wurden. Der Terror gegen jede Haltung oder Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos angleicht, hat ein kaum zu überbietendes Maß angenommen. Unter diesen Umständen kann die äußerste politische Zurückhaltung, die ich seit jeher und mit gutem Grunde geübt hatte, den Betreffenden zwar vor planmäßiger Verfolgung, nicht aber vor dem Verhungern schützen.« 39 In der akuten Erfahrung des »neue(n) Regimes«40, das seinen Kritikern — sei es auf brutalste Weise wörtlich, sei es materiell - »die Kehle zuschnürt« 41 , muß der Marxismus - als jener ideologische Standort, der sich vermeintlich am konsequentesten als politischer Widerstand gegen das NS-Regime zu organisieren suchte - für Benjamin weiter an Anziehung gewinnen. Auf diesen Zusammenhang zwischen einer Einsicht in die konkrete historische Lage und einer durch sie neu legitimierten, fortzuentwickelnden Einlassung auf die kommunistische Perspektive deuten die Erinnerungen Scholems an seine Begegnung mit Benjamin im Februar 1938, während der es zu einer offenkundig »leidenschaftliche(n)« 42 Auseinandersetzung um Benjamins ideologischen Ort kam. Dabei habe Benjamin argumentiert, »die Uberführung metaphysischer, ja theologischer Gedankengänge, die er in unseren gemein-

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samen Jahren entwickelt habe, in die marxistischen Perspektiven sei geradezu ein Verdienst, weil sie dort ein stärkeres Leben entfalten könnten, mindestens in unserer Zeit, als in den ihnen ursprünglich angemessenen« 43 . Wie zum gleichen Zeitpunkt, da eine neue, erweiterte Annäherung an die kommunistischen Standpunkte als Gebot der historischen Stunde wahrgenommen wird, die Krise und die Perspektive ihrer Uberwindung in nahezu unverändertem Modus, nämlich im Zeichen von Karl Kraus artikuliert wird, verdeutlicht einer der ersten im Exil verfaßten Texte, »Erfahrung und Armut«. Die Rechenschaft, die hier abgelegt wird, atmet ganz die Weite und die Radikalität jener Krausschen Abrechnungen, die mindestens die Epoche meinen. Doch in Benjamins Text gibt sich dieser Ton jetzt neu zu lesen — aufgeladen mit der dramatischen Aktualität, mit der die Erfahrung der NS-Machtübernahme und der ersten Exilmonate solchen an Kraus geübten Ton versetzen mußten: »Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingegeben, oft um ein Hundertstel des Wertes im Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze des >Aktuellen< dafür vorgestreckt zu bekommen. In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg. Festhalten ist heut Sache der wenigen Mächtigen geworden, die weiß Gott nicht menschlicher sind als die vielen; meist barbarischer, aber nicht auf die gute Art. Die anderen aber haben sich einzurichten, neu und mit Wenigem. Sie halten es mit den Männern, die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht und es auf Einsicht und Verzicht begründet haben. In deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben. Und was die Hauptsache ist, sie tut es lachend. Vielleicht klingt dieses Lachen hie und da barbarisch. Gut. Mag doch der Einzelne bisweilen ein wenig Menschlichkeit an jene Masse abgeben, die sie eines Tages ihm mit Zins und Zinseszinsen wiedergibt.« 44 Benjamin gibt hier - unter deutlicher Anspielung auf, ja, direktem Zitat aus dem »Krausw-Essay45 - ein Bild der »Lage« 46 1933 aus seiner Sicht. Daß er Brecht zu jenen »Männern« zählt, »die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht haben, hatte er schon zuvor, noch in der Kontroverse mit Scholem um den »Kraus«-Essay 1931, deutlich gemacht. 47 An gleicher Stelle hatte er erneut um das Verständnis des Freundes für seine Position geworben. Dabei hatte er eingeräumt: »Insbesondere sollst du nicht meinen, daß ich das Schicksal meiner Sachen in der Partei, bzw. die Dauer einer möglichen Parteizugehörigkeit betreffend, die mindesten Illusionen habe. (...) meine Produktionsanstalt (...) liegt — auch darüber hege ich nicht die mindesten Illusionen — in Berlin W. W. W., wenn du willst. Die ausgebildetste Zivilisation und die »modernste* Kultur gehören nicht nur zu meinem privaten Komfort, sondern sie sind zum Teil geradezu Mittel meiner Produktion.« 48 »Aber«, fährt er im gleichen Brief fort, »willst du mir mit dem Hinweis, das

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sei ja nichts als ein Fetzchen Tuch, verwehren, die rote Fahne z u m Fenster herauszuhängen? Wenn m a n schon >gegenrevolutionäre< Schriften verfaßt wie d u die meinen v o m Parteistandpunkt aus ganz richtig qualifizierst - soll m a n sie der Gegenrevolution auch noch ausdrücklich zur Verfugung stellen? Soll m a n sie nicht vielmehr denaturieren, wie Spiritus, sie - auf die Gefahr hin, daß sie ungenießbar für jeden werden - bestimmt und zuverlässig ungenießbar ftir jene machen? (...) G u t , ich erreiche ein Extrem«, schließt Benjamin seinen Brief. »Ein Schiffbrüchiger, der a u f einem Wrack treibt, indem er a u f die Spitze des M a s t b a u m s klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.« 4 9 D a s denkbar Prekäre, das Benjamin im Bild des Schiffbrüchigen gezeichnet hatte, war nun, da er seine »Produktionsanstalt« »in Berlin W. W. W.« hatte aufgeben, wenngleich auch nicht aus d e m Territorium der »ausgebildetste(n) Zivilisation und d(er) >modernste(n)< Kultur« auslagern müssen, erneut zugespitzt. Wenn das »Wrack«, im April 1931, die untergehende deutsche Republik gewesen war, so war jetzt, im S o m m e r 1933, dieses Wrack unwiderruflich gesunken. D o c h die Zeilen aus »Erfahrung und A r m u t « ermöglichen eine aktualisierende Lektüre, die auch den neuesten Entwicklungen R e c h n u n g trägt: In ihr figuriert als Wrack »die Kultur«, die es, »wenn es sein muß, zu überleben« gilt. Benjamins Platz in ihr ist der äußerste, der vorgeschobenste; k a u m eine Erschütterung, eine G e f ä h r d u n g an der Basis, die dort nicht wahrnehmbar wäre. H o f f n u n g auf »Rettung« besteht einzig noch von diesem Posten aus. So >einsam< sich Benjamin im Bild gegenüber Scholem im April 1931 auch zeichnet — nicht zuletzt auch aus rhetorischem Kalkül heraus - , so begründet durfte er nach d e m Schock der M a c h t ü b e r n a h m e hoffen, daß einer radikalen Kritik insbesondere der deutschen Verhältnisse und ihrer Voraussetzungen neue, verstärkte Aufmerksamkeit — vor allem unter jenen deutschen Intellektuellen, die sofort in die Erfahrung des Exils gezwungen wurden sicher war. Nicht nur war solche, wenn auch unter den Bedingungen der letzten Jahre der Weimarer Republik formulierte Kritik durch die Vorgänge im Februar und M ä r z 1 9 3 3 auf's Dramatischste bestätigt und gerechtfertigt worden. Sondern darüber hinaus deuteten die noch im S o m m e r 1933 einsetzende Selbstorganisation des Exils im Zeichen des politischen Widerstands und die G r ü n d u n g eigener Zeitschriften mit so programmatischen Titeln wie etwa der Sammlung auf eine — zumindest zunächst formell zu Protokoll gegebene — Bereitschaft eines Teils der aus Deutschland exilierten Intellektuellen, miteinander - das heißt: auch mit den kommunistisch orientierten Kollegen — neu ins Gespräch zu k o m m e n . In welchem M a ß Benjamin auf eine solche, durch die politischen Entwicklungen dramatisch geschaffene, von G r u n d a u f neue Wirkungschance auch seiner kritischen Arbeit zunächst setzte, verdeutlichen vor allem sein

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Vortrag Der Autor als Produzent und die ihn begleitenden Bemühungen Benjamins, eine Diskussion der hier artikulierten Thesen in den Kreisen des deutschen Exils und seiner Sympathisanten zu bewirken. Zugleich erhellt die literaturpolitische Intervention, die Benjamin mit dem Vortrag anzielt, die spezifische Valenz, die seine kritische Position im Zwiespalt — der Dichotomie von politischem säkularisiertem Radikalismus und messianischer Utopie - im Kontext des Literaturbetriebs des Exils gewinnt. Für Scholem stellte der Vortrag Der Autor ab Produzent noch im Rückblick »einen Gipfelpunkt seiner (Benjamins, S.B.) materialistischen Anstrengungen dar«, hervorgebracht nur als »eine sichtbare tour de force«, gehalten im Hause »einer kommunistischen Frontorganisation« 50 . Auch daß Benjamin Scholem den Text ausdrücklich vorenthielt und noch 1938, als Scholem deswegen »in ihn drang, sagte (...): >Ich glaube, ich gebe es Dir lieber nicht zu lesen. < Seitdem ich den Aufsatz kenne, kann ich das verstehen«51, und daß Benjamin den Vortragstext dagegen mit Brecht ausführlich diskutierte 52 , scheint gleichfalls auf den ersten Blick darauf zu deuten, daß Benjamin seine charakteristische Position zugunsten einer »kommunistischen Frontorganisation(en)« kompatibleren zu verändern erwogen haben mag. Chryssoula Kambas hat gezeigt, wie Benjamin in der Tat, gekennzeichnet schon durch das dem Vortrag als Motto vorangestellte Zitat von Ramon Fernandez aus der Nouvelle Revue Française vom 1. April 1934, an aktuelle Kontroversen und Meinungsbildungsprozesse in der französischen Linken anzuknüpfen versuchte 53 und auch mit dem Institut pour l'étude du fascisme ein dafür offenkundig geeignetes Forum wählte. 54 Mit seinem Versuch jedoch zu »zeigen (...), daß die Tendenz einer Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt« 55 , widersprach sein Beitrag »wie nirgends im sozialistischen Volksfrontdiskurs einer Bündnisdogmatik >Buch im Klassenkampf« 5 6 . Gegen das Ende seiner Abrechnung insbesondere mit der Neuen Sachlichkeit, in der er sich der unverminderten Gültigkeit seiner seit Ende der zwanziger Jahre publizierten Einsichten vergewissert57, stellt er die unmißverständliche - im Manuskript kursivierte - Forderung auf: »Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden.«58 Damit war nichts Geringeres artikuliert als die Uberzeugung, daß die im ideologischen Kontext des antifaschistischen Widerstands und Wirkungswillens verfaßte Literatur nicht auch, sondern gerade poetologische Konsequenzen aus der Einsicht in die eigenen Produktionsverhältnisse zu ziehen habe — und zwar mit der Radikalität, die bisher nur die »vorgeschobensten« Werke - : die Avantgarde - der Krise abgewonnen hatten. Welches unmittelbare Echo dieser Vortrag hervorgerufen, ja, ob er tatsächlich gehalten wurde, ist bis heute nicht bekannt. Doch bereits am 28. April 1934 sendet Benjamin das Manuskript an den Herausgeber der Sammlung, Klaus Mann, dem er den Text zur Publikation anbietet unter Hinweis auf

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Philippe Soupaults Beitrag Auf Antwort wird gewartet, in dem dieser das Institut pour l'étude du fascisme vorgestellt hatte59 — »so schien mir die >Sammlung< für meine Arbeit der richtige Platz. Allerdings nicht aus diesem Grunde allein. Sie werden ja selbst finden, dass der Aufsatz wichtige theoretische Fundamente für die Arbeit derjenigen politisch wirkenden und zum Teil Ihrer Zeitschrift nahestehenden Autoren enthält, deren Produktion nicht ausschließlich von der Tendenz bestimmt wird.« Dieses Angebot, sowie das eines Artikels über Julien Benda60, verknüpft Benjamin mit einem weiteren Wunsch: »Meine Arbeiten bitte ich zu zeichnen: O. E. TAL. Unter diesem Pseudonym werde ich in der Emigration arbeiten, und ich würde mich freuen, es in der >Sammlung< ins Leben treten zu sehen. Es ist die Umkehrung des lateinischen LATEO.«61 Schon zuvor hatte Benjamin unter Pseudonym gearbeitet. Bereits 1931/ 32 hatte er bei einer Vor-Veröffentlichung der später unter dem Titel Deutsche Menschen geschlossen herausgebrachten Briefe in der Frankfurter Zeitung »den eigenen Namen verschweigen (müssen): der Faschismus warf seinen Schatten voraus.«62 Daß das unter dem NS-faschistischen Regime anstößige, daher >zu verschweigende< seines Namens sein Jüdisches war darüber gibt sich Benjamin in seinen »Agesilaus Santander«-Aufzeichnungen am 12. und 13. August 1933 illusionslos Rechenschaft: »Als ich geboren wurde, kam meinen Eltern der Gedanke, ich könnte vielleicht Schriftsteller werden. Dann sei es gut, wenn nicht gleich jeder merke, daß ich Jude sei. Darum gaben sie mir außer meinem Rufnamen noch zwei weitere, ausgefallene, an denen man weder sehen konnte, daß ein Jude sie trug, noch daß sie ihm als Vornamen gehörten. Weitblickender konnte vor vierzig Jahren ein Elternpaar sich nicht erweisen. Was es nur entfernt für möglich hielt, ist eingetroffen.« 63 Erste Forderung an das Pseudonym war daher sein >DeutschtumreaktionärDer Autor als Produzent Ihnen als solcher gilt. — Kurz, ich glaube, wir sind uns einig, die grundsätzliche Frage meiner Mitarbeit an diesem Aufsatz zur Entscheidung zu bringen: die Frage des Namens. Ich erkläre mich bereit, diesen Aufsatz (und damit die folgenden) namentlich zu zeichnen. Auf der anderen Seite kommt, wie Sie das ja sicher verstehen werden, für mich namentliche Zeichnung — angesichts aller der ernsten Probleme, die das heute einschliesst — nur dann in Frage, wenn ich mit Nennenswertem mich vernehmen zu lassen Gelegenheit habe. - Was das zweite Bedenken betrifft, welches bei Ihnen der Publikation des Aufsatzes entgegenstehen könnte, so kann ich zu dessen Behebung schwerlich etwas tun. Gewiss, nichts leichter, als den Namen Heinrich Manns, der nur einmal in meiner Ansprache gefallen ist, fortzulassen. (Dazu bin ich bereit.) Ich glaube aber, so steht das Problem nicht. Es handelt sich um grundsätzliche Ausführungen, an denen ich nichts zurechtrücken kann. Eben in diesem Umstand aber liegt, so scheint mir, die Handhabe ftir die Lösung der Frage. - Müsste es nicht Heinrich Mann oder einem der sonst Betroffenen und Massgeblichen - sehr gelegen sein, eine Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intelligenz akuter als sie es je war geworden ist, in seinem Sinne, also kontrovers zu mir, zu behandeln? Täusche ich mich oder wäre eine solche Kontroverse - die ja mit Literatengezänk weiss Gott nichts zu tun hat — Ihnen und Ihrer Zeitschrift nicht geradezu erwünscht?«69 Hatte Benjamin im Vortrag die Forderung an die antifaschistische Literatur artikuliert, den im siegreichen NS-Faschismus akut gewordenen Herausforderungen der Gegenwart mit den poetologischen und zugleich politischen Potentialen zu begegnen, die die avantgardistische Arbeit vor allem Brechts bereitgestellt hatte, galt es nun, solchen Gedankengängen jenes Forum im Exilbetrieb zu öffnen, das allein Ausgangspunkt einer Diskussion

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sein konnte. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, daß es einem ausschlaggebenden Teil der »Betroffenen und Massgeblichen« innerhalb dieses Betriebes durchaus nicht »sehr gelegen« zu sein schien, »eine Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intelligenz akuter als sie es je war geworden ist« —: die nach den fälligen Konsequenzen poetischer Arbeit — hörbar, vernehmlich stellen zu lassen. Daß von der Sammlung hinsichtlich der Veröffentlichung des Vortrags »freilich einige Entschlußkraft verlangt wird«, notierte Benjamin in einem Brief an Adorno vom 24. Mai. 70 Zu diesem Zeitpunkt hatte Klaus Mann bereits seine Reaktion auf Benjamins Stellungnahme vom 9. verfaßt. Zwar findet er »es gut und richtig, wenn Sie sich nun dazu entschliessen, einen so prinzipiellen Aufsatz, wie den über den Autor als Produzenten, mit Ihrem Namen erscheinen zu lassen.« Gleichwohl sei diese Arbeit »von der Art, dass ich nicht gerne über ihre Annahme entscheiden möchte, ohne sie dem deutschen Protektor der Zeitschrift Heinrich Mann, vorgelegt zu haben. (Ich würde ihm dabei natürlich mitteilen, dass sein eigener Name aus dem Text wegfallen könnte.)« 71 Benjamin muß erfahren, daß seine Bereitschaft, seine »grundsätzlichen Ausführungen« »namentlich zu zeichnen«, das Veto-Recht des »Protektors« im Vorfeld der Veröffentlichung, das heißt: diesseits der Wirkungschance, die die von Benjamin direkt vorgeschlagene Kontroverse mit Heinrich Mann hätte haben können, in Klaus Manns Verständnis unangetastet gelassen hat. Solchem Verständnis der noch unmittelbar zuvor erreichten Ubereinkunft in puncto »Ist es nicht genug der privaten Rücksichten?«72 mochte sich Benjamin offensichtlich nicht fügen. Kurz darauf zieht er seinen Beitrag zurück. Doch dieser gescheiterte Versuch, seiner kritischen Perspektive im Exil Öffentlichkeit, wenn möglich Wirkung zu verschaffen, war nicht das einzige Anzeichen, das bereits im Jahr 1934 auf die kommende und zunehmende Gefährdung des kritischen Orts deutete, den Benjamin hielt. Ende Juli erreichen Benjamin in Svendborg »recht verbürgte aber doch fast unglaubliche Nachrichten in dem Sinne (...), daß (Kraus) die Politik von Dollfuß als das kleinere Übel akzeptiert habe.«73 Bald darauf liegt ihm die 890. Fackel vor - ein Dokument, das Benjamin wie Brecht in Dänemark als Schock erreicht. Kraus' »Kapitulation vor dem Austrofaschismus, die Beschönigung des gegen die Wiener Arbeiter eingesetzten weißen Terrors, die Bewunderung für die - Lassalle ebenbürtige - Rhetorik von Starhemberg« münden für Benjamin in die desillusionierende Frage: »Wer kann nun eigentlich noch umfallen? Ein bitterer Trost - aber auf dieser Front werden wir keinen Verlust mehr haben, der neben diesem auch nur der Erwähnung wert wäre.«74 Der »schnelle Fall des guten Unwissenden«, wie Brecht kurz darauf seine Reflexion der Vorgänge überschreibt75, war — im dänischen Svendborg — bedeutungsvoll nicht nur als Schlag gegen das persönliche Nahverhältnis zwischen Brecht und Kraus, die gerade nach den Ereignissen im Januar 1933

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sorgsam Kontakt zueinander gehalten hatten 76 ; folgenreicher war die Erschütterung, in die durch die aktuelle Entwicklung das bisherige Vertrauen in das genuin aufklärerische Moment der Krausschen Arbeit geraten mußte. Unversehens schienen jene »ungewisse(n), unheimliche(n) Reflexe«77, die Benjamin schon 1931 am Kraus-Werk beobachtet hatte, in jenen »Selbstverrat« und »Untergang« 78 gemündet zu sein, als dessen Beweis die 890. Fackel auch Benjamin erreicht. Als beispielhafte Erscheinung in einem Entwurf »materialistischer Literaturkritik« 79 , wie sie Benjamin erst 1930/31 skizziert hatte, war Kraus damit bereits im Sommer 1934 untauglich geworden. Bei aller Ferne Benjamins zu den Maßstäben der Publizistik, die in der >Fall Krausoffizielle< Geltung bei einer Gelegenheit, die gleichfalls für Benjamins künftige Arbeit als Kritiker Konsequenzen zeitigen sollte: beim Moskauer Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller vom 17. August bis 1. September. Die Häme gegen Kraus Albert Ehrenstein kennzeichnet den Wiener Satiriker als »alte zahnlose Hexe«84 — bildet allerdings nur ein Detail in der mit großem Aufwand präsentierten diskurspolitischen Programmatik der Tagung: der autoritativen Durchsetzung der Parole vom Sozialistischen Realismus, wirkungsvoll flankiert vom Bann gegen die westliche Moderne. Daß dieses von Karl Radek vorgetragene, an den Beispielen Proust und Joyce illustrierte Urteil unverhohlen darauf zielt, »dem Künstler das Experimentieren (...) einfach (zu) untersagen«85 — und damit jede Avantgarde unter ein Generalverbot stellt —, wird von zahlreichen Gästen sogleich als Bedrohung erkannt und von Wieland Herzfelde noch vor dem Plenum kritisch denunziert; die Intervention bleibt vergeblich. Die Folgen solcher auf dem Moskauer Kongreß durchgesetzten Literaturpolitik für die publizistische Arbeit Benjamins zeichnen sich schon kurz darauf unmittelbar ab: Als er im Januar 1935 den kurz zuvor erschienenen Dreigroschenroman Brechts als »einen satirischen Roman großen Formats« zu würdigen beabsichtigt86, verstößt er bereits gegen Alfred Kantorowicz' offiziöses Diktum in Unserer Zeit, demzufolge das Werk »den (auch sehr weit gefaßten) Forderungen des Realismus nicht« 87 entspreche.

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III Ein Blick auf die Publikationsgeschichten der Schriften Walter Benjamins, die zwischen 1934 und 1939 erschienen sind, zeigt, daß die restriktive Entwicklung im Literaturbetrieb des Exils, die sich im Jahr 1934 bereits deutlich ankündigte, immer weiter Fortschritt; und daß sie, indem sie Benjamins kritischen Ort mit dem Entzug seiner Vernehmlichkeit bedrohte, zur akutesten Gefährdung seiner kritischen Arbeit wurde. Insofern Benjamins kritische Untersuchungen explizit verknüpft waren mit der Absicht, sie mal »unter den hiesigen emigrierten Schriftstellern zur Debatte zu stellen«88, mal »in Rußland erscheinen zu sehen«89, das heißt: unverändert - als funktionale Kritik - auf eine Selbstverständigung der Intelligenz jetzt zielten, wurden die Bedingungen ihrer Publikation zu zentralen, konstitutiven Faktoren in seiner kritischen Produktion. Wo Benjamins eingesandte Schriften überhaupt auf eine Veröffentlichungschance stießen, zeugen die überlieferten Dokumente ohne Ausnahme von erzwungener Rücksichtnahme, Änderungswünschen, Änderungen und Kürzungen mit und ohne Zustimmung des Autors. Benjamins Brief vom September 1936 an Karl Thieme, in dem er erörtert, auf welche Weise am ehesten zu gewährleisten sei, daß die Brieffolge Deutsche Menschen, in der Schweiz als Buch veröffentlicht, Eingang auch ins Reich finden kann 90 , wäre in einem Blick auf Benjamins Kontakte zur Exilpublizistik vielleicht deplaziert, wäre nicht die Ubereinstimmung in der Anstrengung, durch sorgfältige Einkalkulierung der spezifischen widrigen Bedingungen Wirkungen gleichwohl zu ermöglichen, so eklatant. Daß Rücksichtnahmen im Fall der von Ferdinand Lion und Thomas Mann herausgebrachten Zeitschrift Maß und Wert erforderlich waren, mag sich noch unmittelbar aus der Benjamin entgegengesetzten konservativen Prägung des Blattes erklären. Wie diese Prägung an diesem Ort publikationspolitisch umgesetzt wurde, verdeutlicht die von Lion umstandslos markierte conditio sine qua non jedes in Maß und Wert erscheinenden Beitrags: »Nur ein Punkt: er darf nicht kommunistisch sein«91; und »daß er (Lion, S. B.) mit dem Herzen bei der Sache ist, wenn er seinen Punkt eins formuliert« 92 , wußte Benjamin schon aus der Kenntnis von dessen Schriften. Wie unter dieser Bedingung gleichwohl in Maß und Wert ein aussagefähiger Artikel über das Institut für Sozialforschung zu plazieren sei, ist Gegenstand einer ausführlichen Korrespondenz Benjamins mit Horkheimer. Unter dem Druck der als »präsumptive Sabotageabsichten«93 wahrgenommenen Haltung Lions sieht Benjamin sich gezwungen zu prüfen, wie »sich die unumgänglichen Fluchtlinien ins Politische wohl am unscheinbarsten markieren«94 und »die Kritik am neuakademischen Lakaientum, die den Arbeiten der Zeitschrift (d.i.: Zeitschriftfür Sozialforschung, S. B.) gemeinsam ist, mit Vorsicht zur Geltung

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bringen«95 lassen. Doch auch mit diesen Einschränkungen gelingt es ihm, mit seinem Artikel Ein deutsches Institut freier Forschung einige wesentliche Einsichten in der Mai/Juni-Ausgabe 1938 zu plazieren. Daß die in den Arbeiten des Instituts für Sozialforschung geübte »Kritik des bürgerlichen Bewußtseins (...) sich nicht von außen (vollzieht), sondern als Selbstkritik«, wird etwa noch an gleicher Stelle demonstriert, wenn es heißt: »Man wird es nicht von den Intellektuellen behaupten, daß sie das Kommende vorhergesehen und noch weniger, daß sie ihm den Weg verlegt hätten. (...) Worauf es für die freiheitlichen Forscher derzeit ankommt, ist Einblick in die ihnen eigenen, ihnen vorbehaltenen Möglichkeiten, den Rückzug der Humanität zum Stehen zu bringen.« Als eine dieser Möglichkeiten skizziert Benjamin die Prüfung der Uberlieferung: »Im freiheitlichen Schrifttum ist derzeit viel vom deutschen >Kulturerbe< die Rede. Das ist angesichts des Zynismus verständlich, mit dem deutsche Geschichte zurzeit geschrieben, deutsche Habe zurzeit verwaltet wird. Aber es wäre nichts gewonnen, wenn auf der andern Seite unter den drinnen Schweigenden oder denen, die draußen das Wort für sie fuhren dürfen, die Süffisanz der Erbberechtigten sich hervortäte (...). Denn die geistigen Besitztümer sind derzeit um nichts besser gewährleistet als die materiellen. Und es ist Sache der Denker und Forscher, welche noch eine Freiheit der Forschung kennen, von der Vorstellung eines ein für alle Mal verfügbaren, ein für alle Mal inventarisierten Bestandes an Kulturgütern sich zu distanzieren« und, »auf Kosten bequemer Ubereinkommen, einer echten Überlieferung Platz«96 zu verschaffen. Als der genuine Ort, solche Einsichten — auch »auf Kosten« jener »bequemein) Ubereinkommen«, auf deren Tragfähigkeit sich die Exilpublizistik zusehends fragloser verließ - zur Diskussion zu stellen, bot sich unzweifelhaft jene Zeitschrift für Sozialforschung an, aus der Benjamin im Beitrag fiir Lion verschiedentlich zitiert. Die Bedingungen, unter denen Benjamin fiir das Institut arbeitete und in der Zeitschrift publizierte, sind bekanntlich in einer legendären Kontroverse, die bis heute lebhaft fortwirkt, vorgetragen und leidenschaftlich - auch leidenschaftlich kontrovers - bewertet worden. Jenseits dieser - verschieden motivierten - Bewertungen bleibt im Kontext der Frage nach den Bedingungen, unter denen Benjamin seinen kritischen Ort in den dreißiger Jahren öffentlich machen konnte, jedoch unübersehbar, daß auch die Zeitschrift den Kritiker zu einer Vielzahl von Rücksichtnahmen veranlaßte. Unter der Maßgabe, »die Zeitschrift als wissenschaftliches Organ davor zu bewahren, in politische Pressediskussionen hineingezogen zu werden«, die »eine ernsthafte Bedrohung unserer Arbeit in dieser und vielleicht noch in mancher anderen Richtung«97 bedeutet haben würden, bewegt Horkheimer Benjamin im Fall des Kunstwerk-Aufsatzes zur Zustimmung zu signifikanten Änderungen in der französischsprachigen Erst-

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Veröffentlichung: Der explizit politische Abschnitt I kommt »ganz in Wegfall«, anderes wird »wegen seiner politisch aktuellen Formulierung« gestrichen, die Formulierung »Le fascisme« wird durch »L'état totalitaire«, »la guerre impérialiste« durch »cette guerre«, »Le communisme« durch »Les forces constructives de l'humanité« ersetzt.98 Als einige dieser Änderungen zunächst »hinter (s)einem Rücken« 99 vorgenommen werden, verfaßt Benjamin ein Schreiben an Horkheimer, das, in dessen Worten, »stark an den Ton eines rechtgläubigen Moslems unmittelbar nach einer mutwilligen Verunreinigung der Hagia Sophia erinnert« 100 . Nach Beilegung des Streits berichtet Benjamin Kitty Marx-Steinschneider von der Bedeutung, die solche im Vorfeld der Veröffentlichung stattfindenden Auseinandersetzungen für ihn gleichwohl besitzen: »Für vielen Verdruß, der mit solchen Interventionen fast immer verbunden ist, bin ich durch den Reiz entschädigt, der mit der Beobachtung der frühesten, an charakteristischer Prägung oft der spätem gleichsam offiziell überlegenen, Reaktionen auf eine derartige Arbeit verbunden ist.«101 Auf diesen spezifischen Reiz blieb Benjamin immer wieder verwiesen folgten doch auf die »frühesten (...) Reaktionen«, mangels Publikation, keine »spätem«. Wohl am deutlichsten ist dies in Benjamins nachhaltigem Versuch dokumentiert, den Kunstwerk-Aufsatz in einer russischen Zeitschrift — Das Wort oder die Internationale Literatur — zu publizieren. Uberliefert sind verschiedene, allerdings sprechende solcher »frühesten Reaktionen« - eine Veröffentlichung kam nicht zustande. In Paris versucht Benjamin, durch eine Lesung des Aufsatzes »die Arbeit unter den hiesigen emigrierten Schriftstellern zur Debatte zu stellen (...) Am interessantesten war das Bestreben der Parteimitglieder unter den Schriftstellern, wenn schon nicht den Vortrag so die Debatte meiner Arbeit zu hintertreiben. Das gelang ihnen nicht und so beschränkten sie sich darauf, die Sache schweigend zu verfolgen, soweit sie ihr nicht ganz fern blieben. Es ist der Instinkt der Selbsterhaltung, der in solchen Fällen die Mängel der Auffassungsgabe kompensiert: diese Leute fühlen ihren so wohl eingespielten belletristischen Betrieb durch mich gefährdet, dürfen sich aber eine Auseinandersetzung mit mir sowohl vorläufig sparen als auf die Dauer nicht zutrauen.« 102 Ahnlich symptomatisch fällt die Reaktion Bernhard Reichs aus, dem Benjamin sein Manuskript nach Moskau schickt. Davon überzeugt, daß die »Fragestellung von der ich ausgehe (...) in Rußland auf das größte Interesse stoßen (müßte)« und »gegen meine Methode (...) vom Standpunkt der materialistischen Dialektik keine Einwände« bestehen dürften, erhält Benjamin von Reich eine Antwort, die »ablehnend (ist); und zwar auf unfruchtbare Art. Methodische Einwände erhebt Reich nirgends. Und aus dem Brief geht nur hervor, daß ihm die Sache >zu weit< geht; daß es sich wohl >nicht ganz so< verhalten dürfte, usw.«103

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Solche Erfahrung gerade mit Moskauer Stimmen war Benjamin in keiner Weise neu. Es war Reich gewesen, der Benjamin, während seines Moskauer Aufenthalts im Winter 1926/27, die spontane Reaktion keines Unmaßgeblicheren^04 als Karl Radek auf den Entwurf seines »Goethe«-Beitrags für die Sowjet-Enzyklopädie überliefert hatte: »Mißtrauisch hatte er sich erkundigt, von wem es sei. >Da kommt ja auf jeder Seite zehnmal >Klassenkampf< vor.< Reich wies ihm nach, das sei nicht richtig und sagte, man könne übrigens Goethes Wirken, welches in eine Zeit von großen Klassenkämpfen falle, nicht entwickeln, ohne dies Wort zu gebrauchen. Radek: >Es kommt nur darauf an, daß es an der richtigen Stelle geschieht^ Die Aussichten für die Annahme dieses Exposes«, hatte Benjamin in sein Tagebuch notiert, »sind hiernach äußerst gering. Denn die armseligen Leiter dieses Unternehmens sind viel zu unsicher, um auch dem schlechtesten Witz irgend einer Autorität gegenüber die Möglichkeit eigner Meinung sich zu behaupten.« 105 »Wieviel mir daran läge, den deutschen Text (des Kunstwerk-Aufsatzes, S. B.) im >Wort< erscheinen zu sehen«106, betont Benjamin Margarete Steffin gegenüber im Mai 1936. Daß Brecht - neben Feuchtwanger und Bredel - als Herausgeber des geplanten Organs firmieren sollte, versprach eine spezifische Chance. Bereits wenige Wochen später schien auch diese Chance bedroht: Nachdem »die Redaktion« ohne Absprache mit Brecht, dafür in voller Ubereinstimmung mit der literaturpolitischen Linie, wie sie im Sommer 1934 auf dem Schriftstellerkongreß ausgegeben worden war, dem verstorbenen Kraus »einige sehr törichte und respektlose Worte« nachgerufen hatte, war sich Benjamin nicht sicher, wie lange Brecht, der »sehr unwillig« auf diesen Vorfall reagiert hatte, der Redaktion des Worts noch angehören würde. 107 Brecht blieb; die Ablehnung des Kunstwerk-Aufsatzes — durch Bredel — erfolgt schließlich unter Hinweis auf seinen Umfang. 108 Zwar gelang es Benjamin, seinen ersten Pariser Brief im November im Wort zu plazieren. In seiner Würdigung André Gides übt er nicht nur Kritik etwa an der kommunistischen Literaturpolitik der zwanziger Jahre »Unverzeihlicherweise hat die revolutionäre deutsche Kritik vor 1930 es unterlassen, den Ideologien eines Gottfried Benn oder eines Arnolt Bronnen die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden« 109 ; sondern er wirbt zugleich für das Recht des Kritikers auf Dissidenz: »Hat Gide nicht die Idealfigur in sich verkörpert, die er in der Tagebucheintragung vom 28. März 1935 herausruft: den inquiéteur - den Beunruhigung Stiftenden?« Wohl bezeichnet Benjamins Nachsatz »In der Tat hat er sich zum Sprecher derer gemacht, die den faschistischen Autor wie nichts anderes beunruhigen« 110 unzweideutig, auf wen solche Haltung zielt, doch Benjamins im Exil verfaßte kritische Schriften lassen keinen Zweifel daran, daß er das Stiften von Beunruhigung, die Kündigung »bequemer Übereinkommen« 111 auch im eigenen Milieu für überfällig hielt.

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Dieser Pariser Brief blieb Benjamins einzige Veröffentlichung im Wort und wäre Gides Retour de l'URSS, die zu aggressiven Abrechnungen der kommunistischen Exilpublizistik mit Gide führte, nicht wenige Wochen nach Erscheinen des Briefi, sondern zuvor erschienen, wäre auch diese Veröffentlichung womöglich in Frage gestellt gewesen. »Sämtliche erreichbaren Wahrheiten aus(zu)sprechen«, galt nun ausdrücklich, wie Hermann Budzislawski in der Gide-Kontroverse, die in der Neuen Weltbühne gefuhrt wurde, formuliert hatte, als »eine unsinnige Forderung« 112 . Entsprechend sucht Benjamin für die Publikationsfähigkeit seines zweiten Pariser Briefs Brecht gegenüber mit dem Hinweis zu werben, daß die in ihm enthaltenen »interessanten Sachen (...) nirgends mit derzeitigen Parolen (kollidieren)« 1 ' 3 . Benjamins am Beispiel der modernen Malerei vorgetragene Auffassung, daß »der Begriff des Nutzens nicht weit genug gefaßt werden« könne und man »sich jeden Weg verbauen (würde), wollte man lediglich den unmittelbarsten Nutzen, den ein Werk durch sein Sujet haben kann, ins Auge fassen«114, konnten daran zweifeln lassen; ebenso seine Würdigung Hermann Brochs als »klugen und informierten Beobachter« und die beifällige Zitierung aus dessen »Rede zu Joyces 50. Geburtstag« 115 . Zwar nahm Bredel den Brief zunächst an; eine Veröffentlichung blieb jedoch aus. 116 Die im Mai 1938 in der Neuen Weltbühne zum Abdruck gekommene, umfangreiche Rezension von Anna Seghers' Roman Die Rettung markiert ein weiteres Mal, in paradigmatischer Zuspitzung, den für Benjamins kritische Arbeit im Exil kennzeichnenden Modus einer in der Dichotomie von säkularisiertem Radikalismus und messianischer Utopie entwickelten und durch sie abgestützten Selbstkritik der antifaschistischen Intelligenz unter dem akuten Zensurdruck, als der die Bedingungen der Exilpublizistik als unmittelbarste auf diese Arbeit einwirken. Wenn Benjamin von Seghers sagt, sie erzähle »mit Pausen wie einer, der auf die berufenen Zuhörer im Stillen wartet und, um Zeit zu gewinnen, manchmal innehält« 117 , ist zudem, wie oft bei ihm, nicht nur von der Bedingung des Exils >allgemein< — hier: des durch die Vertreibung verlorenen Publikums — die Rede, sondern zugleich, in einer Doppelschrift, von der spezifischeren Abgeschiedenheit, die Benjamin in diesem Exil — als Intellektueller - erlebte. Doch diese Erfahrung bringt Benjamin nicht ab von seinen Versuchen, an den Erscheinungen insbesondere der Literatur jene Perspektive zu üben — und zu propagieren —, die seinen charakteristischen kritischen Ort bezeichnet. Seghers' Rettung nimmt Benjamin etwa zum Anlaß, über die Geschichtsvorstellung des »Chronisten des Mittelalters« zu reflektieren, dem »seine Charaktere (...) an eine verklärte Zeit (grenzen), die ihr Wirken jäh unterbrechen kann. Das Reich Gottes ereilt sie als Katastrophe. Es ist gewiß diese Katastrophe nicht, die die Arbeitslosen erwartet, deren Chronik >die Rettung< ist. Aber sie ist etwas wie deren Gegenbild, das Heraufkommen des Antichrist. Dieser äfft bekanntlich den Segen

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nach, der als messianischer verheißen wurde.«118 Das Elend der Menschen, das neben den Folgen der Massenarbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise 1929 mit Beginn der NS-Herrschaft noch um »das Grauen der Nazikeller«119 erweitert wird, ruft in Benjamins Perspektive unabwendbarer denn je messianisch-utopisches Denken auf — ein Denken, das in besonderer Weise charakterisiert sein muß durch eine rückhaltlose Einsicht in die Katastrophe. Auch diese Haltung findet Benjamin in Seghers' Roman dokumentiert: »Die Erzählerin hat der Niederlage, die die Revolution in Deutschland erlitten hat, in die Augen zu sehen gewagt — eine männliche Fähigkeit, notwendiger als sie verbreitet ist.«120 Benjamins Frage nach dem Ausgang des Schicksals der Figuren muß folgerichtig in jenem Modus formuliert werden, der die Wendung zum Guten nur noch in jener »jähen«121 Unterbrechung des Geschichtsablaufs erkennt: »Werden sich diese Menschen befreien? Man ertappt sich auf dem Gefühl, daß es für sie, wie für arme Seelen, nur noch eine Erlösung gibt. Von welcher Seite sie kommen muß, hat die Verfasserin angedeutet (,..).« 122 Doch solcher nicht ohne listige Beiläufigkeit in die Rezension eingefädelte Anspruch an die kommunistische Umwälzung — der in den Leiden der Menschen niedergelegten Hoffnung auf eine tatsächliche, die messianische Wende gerecht zu werden — verstieß offenkundig zu eindeutig gegen die Richtlinien, die die Redaktion der Neuen Weltbühne im antifaschistischen Kampf bestimmten: Die ersten zwei dieser Sätze werden ersatzlos gestrichen; das im dritten auf »eine Erlösung.< bezügliche Personalpronomen durch »die Befreiung« ersetzt.123 Die Ortlosigkeit von Benjamins kritischem Standpunkt in der Publizistik - und damit den Foren - des Exils erhält kurz nach Erscheinen seiner Seghers-Rezension in der Neuen Weltbühne in der Juni-Ausgabe 1938 der Internationalen Literatur unmißverständlichsten Ausdruck. Bei der Lektüre des Cahiers du S«^-Sonderheftes zur deutschen Romantik war Alfred Kurella — 1931 von Benjamin noch zu den potentiellen Beiträgern zu Krisis und Kritik gezählt124 — auf Benjamins Aufsatz Die mythische Angst bei Goethe gestoßen. Unter dem Zwischentitel »Eine Warnung« vermerkt Kurella, daß zwar schon die französischen Autoren des Heftes »zu deutlich de(m) Einfluß gewisser Strömungen der >modernen< Literaturhistorie und -Theorie« folgten, doch müsse auf Benjamin, bei dem »dieser schädliche Einfluß besonders krass zum Ausdruck kommt« und »wirklich gefährlich« werde, »besonders hingewiesen werden«, denn sein »Versuch (...), Goethes Grundhaltung romantisch zu deuten und eine >Macht archaischer InstanzenUnbrauchbarkeit< der von Benjamin verrichteten kritischen Arbeit, sondern,

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ausdrücklich, ihrer >Gefährlichkeit< für den antifaschistischen Kampf. Jedweder Hoffnung auf ein — durch die im Vergleich zu 1931 völlig veränderten Bedingungen verursachtes —, womöglich günstigeres »Schicksal meiner Sachen in der Partei« 126 fehlte spätestens von nun an jede Grundlage.

IV Diesen hier skizzierten Bedingungen von Benjamins kritischer Arbeit während des Exils kommt Bedeutung zu keineswegs nur als >sozialgeschichtlichen< Daten, die >äußerlich< auf diese Arbeit Einfluß nahmen, sondern vor allem auch als genuiner, authentischer Ausdruck jener akuten historischen Lage, deren Erkennen Ziel dieser Arbeit war. Im Juli 1934 hatte Benjamin jene Einsicht in sein Notizbuch übertragen, mit der Brecht »einen Längsbalken, der die Decke von (seinem) Arbeitszimmer« in Svendborg stützte, verziert hatte: »>Die Wahrheit ist konkrete Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mit dem Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umgehängt und darauf geschrieben: >Auch ich muß es verstehen^« 127 Wie inkonsistent hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung, vor allem aber: wie prekär hinsichtlich ihrer politischen Praxis auch immer die unter KPÄgide organisierte und verantwortete Literaturpolitik war — sie war doch unstrittig Bestandteil jenes Kommunismus, wie er sich in der akuten historischen Situation verwirklichte. Je ungenügender er sich in der Konfrontation mit der Gegenwart erwies, desto gefährdeter mußte die Balance in jenem Zwiespalt sein, in dem Benjamins kritische Arbeit entstand. Oder, in anderen Worten: Je eindringlicher, unabweisbarer sich das katastrophische Moment des NS-Faschismus abzeichnet, desto >zuständiger< muß jene Option in der marxistisch-messianischen Dichotomie erscheinen, die >von Haus aus< mit der Katastrophe vertraut ist: die untrennbar mit der Erfahrung der Verfolgung verknüpfte Gedankenwelt des utopischen Messianismus. Wie — unter dem Eindruck der nicht mehr abwendbaren NS-faschistischen Katastrophe — diese spezifische Differenz zwischen politisch säkularisiertem Radikalismus und der historischen Perspektive des Messianismus auch in Benjamins Wahrnehmung wieder an Eigengewicht zunimmt, deutet seine Notiz über sein Gespräch mit Brecht Anfang August 1938 an. Nach einer Kette der Niederlagen für den Antifaschismus, ohne Zweifel über den kommenden Krieg, äußert Brecht, daß er das Eintreten der »geschichtslosen Epoche«, an deren Begriff sowohl er mit dem Cäsar-Roman wie Benjamin mit seinen Baudelaire-Aufzeichnungen zeitgleich arbeiten, »für wahrscheinlicher als den Sieg über den Faschismus« hält. »>Sie haben nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheures. Ungeheure Verbrechen. Sie machen vor nichts halt. (...) Sie planen Verwüstungen von rie-

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sigem Ausmaß. Darum können sie sich auch mit der Kirche nicht einigen, die auch ein Gang auf Jahrtausende ist.«< »Während er so sprach«, schreibt Benjamin über Brecht, »fühlte ich eine Gewalt auf mich wirken, die der des Faschismus gewachsen ist; ich will sagen eine Gewalt die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte entspringt als die faschistische. Es war ein sehr merkwürdiges, mir neues Gefühl.« 128 Beide Autoren suchen sich einer Einsicht in die historische Verfaßtheit der Gegenwart auszusetzen, die dem gängigen marxistischen Geschichtsdenken geschweige denn dessen Fortschrittsoptimismus sichtbar inkompatibel ist. Erster Ausdruck dieser Einsicht ist die Erwähnung einer Planung »auf dreißigtausend Jahre« und die Furcht, diese Planung könne Erfolg haben. Doch die »tiefen Tiefen der Geschichte«, in denen Benjamin die faschistische Gewalt entspringen sieht, sind der an der jüdischen Verfolgungserfahrung gebildeten geschichtlichen Perspektive durchaus sichtbarer als dem an der Geschichte des europäischen Bürgertums entwickelten und vorzugsweise nach Klassenantagonismen fahndenden historischen Materialismus, wie er Benjamin begegnet war. Dem solchen »Tiefen« entsprechenden historischen >Alter< stand die jüdische Verfolgungserfahrung genuin näher als der historische Materialismus. Diese Differenz ist von Benjamin mitnotiert im deutlichen Erstaunen darüber, daß Brecht diese spezifische Gewalt durch eine eigene, »in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte« entspringende habe kontern können: »(...) ein sehr merkwürdiges, mir neues Gefühl«. Solche der NS-faschistischen »gewachsene«, widerständige Kraft Brechts ist — schon für Benjamin: offenkundig — entwickelt gegen die geschichtsphilosophischen Verabredungen des organisierten kommunistischen Milieus. Der Druck auf Benjamins Denken wird nirgends sichtbarer als in jenem Moment, da zur konstitutionellen Unfähigkeit dieses Milieus, dem Katastrophischen des Nationalsozialismus noch irgendwelche Einsichten abzuringen, ein weiteres hinzukommt: seine Indifferenz gegenüber der extremsten Verwirklichung dieses Katastrophischen, der Vernichtung des — zunächst: - deutschen Judentums. Zwar hatte Heinrich Mann bereits im Herbst 1935, nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, in der Neuen Weltbühne in aller Deutlichkeit festgehalten: »Die deutschen Juden werden planmäßig vernichtet, daran ist nicht mehr zu zweifeln.« 129 Eine nähere Befassung mit dem NS-Antisemitismus, die die Grenzen des Theorems vom »Nebenwiderspruch« im Klassenantagonismus gesprengt hätte, ist in der kommunistischen Exilpublizistik gleichwohl unterblieben. Solcher Nicht-Ort des Schicksals der deutschen Juden auf den Foren der Selbstverständigung des >linken< Exils wird Benjamin nach dem November-Pogrom 1938 unaushaltbar. In seiner Rezension von Stephan Lackners Jan Heimatlos, die im Dezember 1938 in der Neuen Weltbühne erscheint, wird nicht nur wiederholt darauf verwiesen, daß »in

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Deutschland auf unabsehbare Zeit die Bindungen vernichtet werden, die zwischen dem deutschen Volk und den deutschen Juden bestanden haben«, etwa im Zitat einer jüdischen Figur des Romans und seines Kommentars: »>Wir harren aus, hier im Land, bis die Deutschen wieder zu sich selbst finden, oder bis wir zugrunde gehen.< Heute, da der zweite Teil dieser Alternative sich zu erfüllen droht, hat der Roman das Gewicht eines Dokuments.« Gleichzeitig sucht er der materialistischen Perspektive den Geltungsanspruch ihres analytischen Vermögens auch in dieser akuten gesellschaftlichen Lage zu erhalten — hier, indem er die Vorgänge im Stil des Dreigroschenromans begreifen möchte, wenn er den »satirische(n) Kern der Fabel« in dem Satz zusammenfaßt: »In dem rassisch gereinigten Vaterlande fuhren (...) die Anforderungen des Geschäftslebens unter Umständen ein blutschänderisches Verhältnis mit sich«130. Die charakteristische Besonderheit des NS-Antisemitismus und seiner Massenbasis in Deutschland ist in solcher, ganz um »die Anforderungen des Geschäftslebens« zentrierten, signalhafi um materialistische Einfärbung bemühten Diagnose nicht kenntlich. Wie sehr gerade nach dem Pogrom auf Benjamin der Druck lastete, dem materialistischen Moment in seiner kritischen Arbeit Geltung, Zuständigkeit gerade in seiner Anwendung auf diese Erscheinung des Katastrophischen zu erhalten, belegt besonders deutlich sein Kommentar des dritten Gedichts aus Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Unter Hinweis auf eine Äußerung Arnold Zweigs, »diese Gedichtfolge habe in den letzten Jahren einen neuen Sinn gewonnen«131, sucht Benjamin solchen neuen Sinn auch dem dritten Gedicht zu entnehmen. Er schreibt: »Die Vertreibung der Juden aus Deutschland wurde (bis zu den Pogromen von 1938) in der Haltung vollzogen, die in diesem Gedicht beschrieben wird. Die Juden wurden nicht erschlagen, wo man sie fand. Man verfuhr mit ihnen vielmehr nach dem Satz: Wir wollen den Ofen nicht einreißen / Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen. / Haus, Ofen und Topf kann bleiben/Und du sollst verschwinden. Brechts Gedicht wird für den heutigen Leser aufschlußreich. Es zeigt haarscharf, wozu der Nationalsozialismus den Antisemitismus braucht. Er braucht ihn als eine Parodie. Die Haltung, die von den Herrschenden dem Juden gegenüber künstlich ins Leben gerufen wird, ist eben die, die der unterdrückten Klasse den Herrschenden gegenüber natürlich wäre. Der Jude soll - das will Hitler - so trätiert werden, wie der große Ausbeuter hätte trätiert werden müssen. Und eben weil es dem Juden gegenüber nicht wirklich ernst ist, weil es sich in seiner Behandlung um das Zerrbild eines echten revolutionären Verfahrens handelt, wird der Sadismus in dieses Spiel gemischt. Ihn kann die Parodie nicht entbehren - die Parodie, deren Zweck es ist, die historische Vorlage - die Expropriierung der Expropriateure - dem Gespött preiszugeben.«132 Benjamin geht das Wagnis ein, die »Haltung«, die noch am Beispiel des ersten Gedichts aus der gleichen Sammlung als die des »Kämpfer(s) für die

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ausgebeutete Klasse«133 kenntlich gemacht worden war, umzulesen in die des Antisemiten - eines Täters, der an den Juden die fällige Enteignung der Enteigner parodistisch vollzieht. So erkennbar in dieser Deutung auch das Theorem der psychischen Funktion des >Sündenbocks< als Ersatz für die tatsächliche Befreiung, die politische >Funktion< der gesellschaftlichen Minderheit zur Geltung kommt, so wenig treffen ihre Beschreibungen die charakteristischen Kennzeichen jenes deutschen und in Deutschland organisierten Antisemitismus, von dem die Vernichtung der europäischen Juden ihren Ausgang nahm. Dieses — denkbar katastrophische — Vermögen, diese Vernichtungsgewalt entfaltete er genau in dem Maße, in dem er nicht »künstlich ins Leben gerufen« war und in dem es ihm »dem Juden gegenüber (...) wirklich ernst« war - Einsichten, die nicht notwendig an ein historisches Nachtragswissen gebunden waren, sondern die die jüdische Verfolgungserfahrung und die aus ihr entwickelte Gedankenwelt, der Benjamin nahestand, bereithielt. Im Kommentar des Brecht-Gedichts werden diese Einsichten unterdrückt im Dienst eines disparaten Versuchs, das endgültige Auseinanderreißen zwischen messianischer und marxistischer Perspektive am Gegenstand der Vernichtungspolitik an den Juden — und damit eine unwiderrufliche, durch die Geschichte verwirklichte objektive Widerlegung seiner theoretischen Arbeitsgrundlage - noch einmal aufzuhalten. Es scheint offensichtlich, daß die > Entpflichtung* vom organisierten Kommunismus, die Benjamins Schock über den Nichtangriffspakt auch bereithielt, sein Vermögen, konsistent in der Dichotomie zwischen politischem säkularisiertem Radikalismus und messianischer Utopie zu arbeiten, auf eine neue, produktive Grundlage stellte; davon künden, denkbar eindringlich, die Thesen zum Begriff der Geschichte. Scholem gegenüber macht Benjamin zudem keinen Hehl daraus, von welchem erkenntniskritischen Ort aus die neuesten »Veranstaltungen des Zeitgeistes« am erkennbarsten seien: dem »alte(r) Beduinen wie wir«, denen die »Markierungen« der »Wüstenlandschafit dieser Tage (...) unverkennbar sind«134. In der Tat: Was unter jener »Erlösung«, die ihm noch aus der Seghers-Rezension weggestrichen worden war, zu verstehen sei, gar unter dem »Segen (...), der als messianischer verheißen wurde«135, und der am gleichen Ort immerhin noch hatte durchgeschmuggelt werden können — davon ist in den Thesen nun unverstellt die Rede. Benjamins Uberzeugung, daß »Marx (...) in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert« habe und dem »Begriff der klassenlosen Gesellschaft (...) sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden (müsse), und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst«136, kommt nun zum Ausdruck in einem Modus, der sich polemisch sowohl gegen jene stellt, die zuvor Benjamins Arbeit behindert haben, wie gegen jene, die Mitschuld am NS-faschistischen Siegeszug tragen: Ohne die »Theologie (...), die heute bekanntlich

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klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen«, wird der »>historische MaterialismusMassenbasis< und schließlich ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat« werden als »drei Seiten derselben Sache«138 gekennzeichnet. Nicht nur flankiert, sondern getragen von solcher Lizenz der Kritik an der eigenen Partei gelingt Benjamin — »im Augenblick der Gefahr«, da das Katastrophische radikalisierter nicht mehr möglich scheint - der weitreichendste Versuch einer »Lösung«139 der Dichotomie, der signifikanterweise Brecht und Scholem noch einmal zusammenführt und auch Kraus >wiedereinsetztUmgruppierung< der Gesellschaft abzielte (,...) Becher und Anna Seghers, Bredel, Weinert, Marchwitza« »überhaupt nicht« existiert hätten. Dagegen »hatte Benjamin weder Hemmungen noch Bedenken, die f r a n k furter Zeitung< vom Ausland aus mit Manuskripten zu beliefern, die unter Pseudonym veröffentlicht wurden«; seine gleichzeitigen Bemühungen um Publikationsmöglichkeiten in linken Exilorganen markiert Reich-Ranicki als Probe seiner »Kunst (...), Artikel zu schreiben, die nirgends mit derzeitigen Parolen kollidierten« 144 . Sehr ähnlich argumentiert ein Jahr darauf Fritz J. Raddatz in seiner Sackgasse, nicht Einbahnstraße überschriebenen Rezension im Merkur. Auch er nimmt Anstoß daran, daß man »die wichtigen Autoren seiner Zeit, die großen Buchereignisse (...) Joyce oder Pound, Benn oder Kafka, Musil oder Thomas/Heinrich Mann« »in dem Band vergebens« suche. In Raddatz' Lektüre bestimmen »kaum Standpunkte verratende Wahllosigkeit seines kritischen Gegenstandes«, eine »Mischung aus kompromißbereiter Hybris und Egoismus« und eine »eher beschämende Gier nach dem Gedrucktwerden, koste es was es wolle«, das Profil der im Kritiken-Band veröffentlichten kritischen Arbeit Benjamins. Die vermeintliche Beobachtung, daß »Geschichte, auch die Eigenerfahrung Zeitgeschichte, (...) für Benjamin offenbar Nebeneinander der Taten von Einzelkämpfern« bleibe, daß Benjamin »an nichts anteil (nähme) als an sich« und daß »diese monologisch-manische Konstruktion eines eigenen Sonnensystems (...) jene >Teilhabe< (verhindere), die es zum Kritiker braucht«, fügt sich zu einem Bild, in dem Benjamin allenfalls als »ein >would-be-Linkernicht liest«*?146). Hin-

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sichtlich der literaturpolitischen Verfaßtheit der Verrisse aufschlußreicher ist jedoch die Antwort, die Jörg Drews FritzJ. Raddatz erteilt. Zwar klagt Drews von Raddatz ein, »den Literaturkritiker Benjamin in sein Gesamtwerk (eingeordnet) und seine Kritikertätigkeit in seine Lebensumstände eingebettet (zu sehen)«. Doch wenn er — ohne Zögern wie Reich-Ranicki und Raddatz auch er adpersonam sprechend — Benjamin als einen »im Grunde unpolitischein), ein(en) >altmodische(n)< Mensch(en)« bezeichnet, »allzu versponnen, zu idiosynkratisch in seinen Neigungen«, und damit unfähig, »sich diszipliniert jeweils in den Dienst des Aktuellen zu stellen, sich sozusagen regelmäßig an Neuerscheinungen zu entäußern, wie dies ein Kritiker normalerweise muß tun können« 147 — dann ist genau, freilich affirmativ, jenes Skandalon berührt, als welches Benjamins Kritiken auf die westdeutsche Literaturkritik stießen: die Text gewordene Einsicht, daß solcher »Dienst des Aktuellen«, den »ein Kritiker normalerweise muß tun können« — außer seiner Funktion im Markt —, jeden Sinn verloren habe. Zwar lagen 1973 Benjamins einschlägige Aufzeichnungen »Zur Literaturkritik« noch nicht vor; doch eine Skizze »des Rezensionsbetriebs«, wie er sich Benjamin darstellte, war schon im Band der Kritiken und Rezensionen auffindbar gewesen: »Unsere Buchkritik ist an die Neuerscheinung geheftet. Kaum eines ihrer Kennzeichen, insbesondere ihrer Gebrechen, das nicht mit diesem Tatbestand zusammenhinge. Informationen lösen täglich oder stündlich einander ab. Erkenntnisse können die Geschwindigkeitskonkurrenz mit ihnen nicht aufnehmen. Da stehen denn Reaktionen zur Verfügung, die in den Rezensenten den literarischen Reizen (der Neuerscheinung) mit der gleichen Geschwindigkeit antworten, mit der die Bücher aufeinander folgen. Information und Reaktion — auf dem lückenlosen Zusammenspiel dieser beiden beruht die Schlagkraft des Rezensionsbetriebes. Und was da >Urteil< oder >Wertung< heißt, das ist nur die Stafette, die sie im Augenblick der Ablösung einander zuwerfen. Daß dem Verfahren, Bücher so zu >wertenGenre< erkannte, in d e m seine kritische Arbeit sich am offenkundigsten >praktisch< verwirklicht hatte. Benjamins Kritiken und Rezensionen waren keine zweitrangigen »Brotarbeiten«, als die sie stigmatisiert werden sollten, sondern nichts Geringeres als die literaturpolitisch denkbar konkret verfaßten Einfallstore jenes ganzen kritischen Potentials, das Benjamin aufzubieten hatte. In diesen >kleinen< kritischen Schriften Benjamins, ersterschienen in den großen Zeitungen der Weimarer Republik, sodann in den wenigen Nischen u n d Zufallsorten, die ihm die Exilpublizistik gelassen hatte, war a m unmißverständlichsten der Anspruch artikuliert, daß die Einsichten seiner »umfangreichen Essays« 1 4 9 in den Foren einer größeren Öffentlichkeit erörterbar werden sollten. Reich-Ranicki und Raddatz haben deutlich erkannt — daran lassen ihre Reaktionen keinen Zweifel - , als was die Figur Benjamins mit einem solchen Anspruch im »Rezensionsbetrieb« unweigerlich wirken mußte: als »inquieteur — d(er) Beunruhig u n g Stiftende« 1 5 0 . W i e weit auch immer der Erneuerungsversuch eines solchen inquieteurs im westdeutschen Literaturbetrieb - und sei es nur durch eine zugelassene p o s t h u m e »außerordentliche Nachwirkung« 1 5 1 — ausgreifen mochte —: der Status jener, die die gegenwärtige Kritik verkörperten, wäre als erster gefährdet gewesen. Die Vorgeschobenheit, das >Avantgardistische< seines Postens hatte Benjamin im Bild des Schiffbrüchigen umschrieben, »der auf einem Wrack treibt, indem er a u f die Spitze des M a s t b a u m s klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.« 1 5 2 D a s Wrack >Kultur< ist in d e m Sinne, wie er neben vielen anderen Beispielen in Adornos Bemerkungen Zur Krisis der Literaturkritik aufscheint, unwiderruflich gesunken; die Behauptung, daß der Signalgeber »gerettet« worden sei, fällt — bei aller Achtung seiner »außerordentlichen Nachwirkung« 1 5 3 — schwer. Unmittelbarkeit heute zu Benjamin als Kritiker ist doppelt verstellt: zum einen durch die Vernichtung des europäischen J u d e n t u m s , die, als Zivilisationsbruch, auch die Kritik vor vordem ungekannte Fragen gestellt hat; zum andern durch die Auslöschung jener Menschen, in deren Erfahrung und D e n k e n jene »jüdischen Einsichten« 1 5 4 , ohne die Benjamins kritische Arbeit nicht gedacht werden kann, auch in Deutschland ein mal Halt hatten. Auch eine >moderne< Praxis der »Selbstverständigung der Intelligenz« kann diese Einsicht nicht tatsächlich hintergehen: daß eine solche Selbstverständigung von den H o f f n u n g e n , die sie noch in den zwanziger und dreißiger Jahren legitim hatten begleiten können, unwiderruflich — durch den A b g r u n d der Fakten, die die Massenvernichtung geschaffen hat — geschieden ist. Wohl hat die Prüfung der Arbeit Benjamins auf seine »Verwendbarkeit« 1 5 5 heute besonders im akademischen Betrieb weitreichende Folgen gezeitigt. D o c h gerade in der Vergewisserung des konkreten Orts in seiner Zeit, den Benjamin

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als Kritiker beanspruchte, entwickelte u n d — gegen alle W i d e r s t ä n d e — zu halten versuchte, bleibt der Eindruck einer v o n heute aus letztlich n u r mehr vermittelten Zugänglichkeit unabweisbar. Benjamin hat — in der A b w a n d lung eines Satzes über Seghers - »der Niederlage«, die der A b w e h r k a m p f gegen den NS-Faschismus »in Deutschland erlitten hat, in die A u g e n zu sehen gewagt«. In diesem Sachverhalt wurzelt eine Aktualität Benjamins als Kritiker heute, die vielleicht seine offenkundigste, >unwillkürlichste< ist: der seiner A r b e i t zugewachsene, unweigerliche Hinweis a u f das säkulare A u s m a ß dieser Niederlage.

1 Walter Benjamin an Bertolt Brecht, Paris, 5. 3. 1934. In: Walter Benjamin: Briefe. Hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt/M. 1966, Bd. 2, S. 602 f. Aus diesem Band wird im folgenden unter dem Kürzel Briefe zitiert. — 2 Anmerkungen zu Walter Benjamin: »Studien zum geplanten Vortrage bei Dr. Jean Dalsace«. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 741 f. Aus dieser Ausgabe wird im folgenden unter dem Kürzel GS + Bandangabe zitiert. — 3 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Berlin, 10. 12. 1932. In: Walter Benjamin /Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940. Frankfurt/M. 1980, S. 33 f. Aus diesem Band wird im folgenden unter dem Kürzel Briefwechsel zitiert. — 4 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Paris, 20. 1. 1930. In: Briefe, S. 505. — 5 »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus«. In: GS 11,1, S. 241. — 6 Bernd Witte: Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. Stuttgart 1976, S. IX. — 7 Ebd., S.8. — 8 »Uber Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«. In: GS 11,1, S. 1 4 0 - 157. — 9 »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus«. In: GS 11,1, S. 242. — 10 Witte 1976 (wie Anm. 6), S. 14. — 11 Ebd., S. XI. — 12 Ebd., S. 163. — 13 »Ein Außenseiter macht sich bemerkbar«. In: GS III, S. 225; vgl. auch die Deutung in Witte 1976 (wie Anm. 6), S. 159 ff. — 14 Ebd. — 15 Leo Löwenthal: »Zum Andenken Walter Benjamins«. In: ders.: Schriften. Hg. von Helmut Dubiel. Bd. 4: Judaica - Vorträge - Briefe, S. 125 f. — 16 Gershom Scholem an Walter Benjamin, Jericho, 30. 3. 1931. In: Briefe, S. 526, 528. — 17 Gershom Scholem: Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/M. 1990, S. 246. — 18 Wie Anm. 16, S. 527. — 19 Walter Benjamin an Max Rychner, Berlin, 7. 3. 1931. In: Briefe, S. 524.— 20 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Berlin, 17. 4. 1931. In: Briefe, S. 530. — 21 Siehe hierzu auch noch weiter unten. — 22 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Paris, 18. 10. 1936. In: Briefwechsel S. 246. — 23 Vgl. Scholem 1990 (wie Anm. 17), S. 246. — 24 Bertolt Brecht: ArheitsjournaL Erster Band 1938 bis 1942. Hg. von Werner Hecht, Frankfurt/M. 1974, S. 213. — 25 George Tabori: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt/M. 1981, S. 27. — 26 Walter Benjamin 1892-1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz. Marbach am Neckar 1990 (= Marbacher Magazin 55/1990), S. 119. — 27 »Programm der literarischen Kritik«. In: GS VI, S. 162, 164, 165. — 28 Ebd., S. 166. — 29 »Die Aufgabe des Kritikers«. In: GS VI, S. 172. — 30 Wie Anm. 27, S. 161, 162. — 31 Die Datierung der Fragmente zur Literaturkritik ist nicht ganz gesichert: vgl. GS VI, S. 731 f. — 32 »Falsche Kritik«. In: GS VI, S. 177 f. — 33 Bertolt Brecht: »Über Karl Kraus«. In: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 22.1. Berlin und Weimar/Frankfurt/M. 1991, S.35. — 34 Wie

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Anm. 32, S. 179. — 35 »Die Aufgabe des Kritikers«. In: GS VI, S. 173. — 36 Ebd., S. 174. — 37 Walter Benjamin an Bertolt Brecht, Berlin, (Ende Februar 1931). In: GS VI, S.826. (Kursivierung W. B.). Vgl. auch Briefe, S. 521 (Kursivierung fehlt hier). — 38 Vgl. GS VI, S. 825 ff. — 39 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Paris, 20. 3. 1933. In: Briefe, S. 566 f. — 4 0 Walter Benjamin an Gershom Scholem (28. 2. 1933). In: Briefe, S. 562. — 41 Ebd. — 42 Scholem 1990 (wie Anm. 17), S. 258. — 43 Ebd., Kursivierung S. B. — 44 »Erfahrung und Armut«. In: GS 11,1, S. 219. — 45 Vgl. die Passage »(...) bereitet die Menschheit sich darauf vor (...)« in: »Karl Kraus«, GS 11,1, S. 355. — 46 Wie Anm. 39. — 47 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Berlin, 17. 4. 1931. In: Briefe, S. 530. — 48 Ebd., S. 530, 531. — 49 Ebd., S. 531, 532. — 50 Scholem 1990 (wie Anm. 17), S.250. — 51 Ebd. — 52 Vgl. »Notizen Svendborg Sommer 1934«. In: GS VI, S. 523 f. — 53 Vgl. Chryssoula Kambas: Walter Benjamin im Exil — Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik. Tübingen 1983, S. 21 ff. — 54 Ebd., S. 2 6 - 3 2 . — 55 »Der Autor als Produzent«. In: GS 11,2, S. 684. — 56 Klaus Briegleb: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt/M. 1993, S. 152. — 57 Zu den Selbstzitaten vgl. GS 11,3, S. 1464. — 58 Wie Anm. 55, S.696. — 59 Philippe Soupault: »Auf Antwort wird gewartet«. In: Die Sammlung, 1. Jg., 7. Heft (März 1934), S. 3 7 9 - 3 8 3 . — 60 Wohl die Rezension »Julien Benda, Discours à la nation européenne. Paris: Librairie Gallimard (1933). 239 S. (Les Essais. 8.)«. In: GS III, S. 4 3 6 - 4 3 9 . — 61 Walter Benjamin an Klaus Mann, Paris, 28. 4. 1934. Für die Abdruckerlaubnis aus diesem wie dem weiter unten zitierten Brief Benjamins an Klaus Mann vom 9. 5. 1934 danke ich dem Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt am Main. Der vollständige Wortlaut der Briefe erscheint im Oktober 1998 in den vom Theodor W. Adorno Archiv herausgegebenen Gesammelten Briefen von Walter Benjamin, hier Bd. IV: 1931-1934. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1998, S. 400/401 (28. 4. 1934) sowie S. 4 2 0 - 4 2 2 (9. 5. 1934). Die Originale der Briefe Benjamins an Klaus Mann sind aufbewahrt in der Handschriften-Sammlung der Stadt-Bibliothek München. Margot Cohn danke ich für die Ermöglichung der Einsichtnahme in die Kopien, die das Manuscript Department der Jewish National and University Library Jersualem von diesem Briefwechsel besitzt. — 62 Theodor W. Adorno: »Uber Walter Benjamin«. In: ders.: Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe. Hg. und mit Anmerkungen versehen von RolfTiedemann. Frankfurt/M. 1990, S. 59. — 63 »Agesilaus Santander« (Zweite Fassung). In: GS VI, S. 521 f. — 64 Tal ist ein weitverbreiteter jüdischer Name. Vgl. auch hebr. : Morgentau. Ich danke Amir Eshel, Hamburg, für diesen Hinweis. — 65 Klaus Mann: Tagebücher 1934-1935. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. München 1989, S.31. Kursivierung K. M. — 66 Zum Skandal um die Sammlung^gl. Fritz H. Landshoff: »Vorwort«. In: Die Sammlung (Reprint). München 1986, S. V-XIII, sowie zuletzt Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933-1950. Bearbeitet von Hans-Albert Walter. Marbach am Neckar 1997 (= Marbacher Magazin 78/ 1997), S. 3 3 - 6 2 . — 67 Klaus Mann an Walter Benjamin, Amsterdam, 2 . 5 . 1 9 3 4 . Für die freundliche Abdruckerlaubnis aus diesem sowie dem weiter unten zitierten Brief Manns an Benjamin vom 19. 5. 1934 danke ich Dr. Uwe Naumann, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. — 68 Ebd. — 69 Walter Benjamin an Klaus Mann, Paris, 9. 5. 1934 (vgl. Anm. 61). — 70 Vgl. GS 11,3, S. 1461. — 71 Klaus Mann an Walter Benjamin, Amsterdam, 19. 5. 1934 (vgl. Anm. 67). — 72 Wie Anm. 67. — 73 Walter Benjamin an Werner Kraft, Svendborg (Ende Juli 1934?). In: Briefe, S. 616. — 74 Walter Benjamin an Werner Kraft, Svendborg, 27. 9. 1934. In: Briefe, S. 623. — 75 Bertolt Brecht: »Über den schnellen Fall des guten Unwissenden«. In: Große Berliner und Frankfurter Ausgabe (wie Anm. 33), Bd. 14, S. 2 1 6 - 2 1 7 . — 76 Zum Verhältnis zwischen Brecht und Kraus vgl. Kurt Krolop: »Bertolt Brecht und Karl Kraus«. In: ders.: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus Neun Studien. Berlin/ DDR 1987, S. 2 5 2 - 3 0 3 . — 77 »Karl Kraus«. In: GS 11,1, S. 353 f. — 78 Wie Anm. 74. — 79 »Die Aufgabe des Kritikers«. In: GS VI, S. 174. — 80 Wie Anm. 77, S. 359. — 81 »Falsche Kritik«. In: GS VI, S. 177. — 82 Wie Anm. 33. — 83 Walter Benjamin an Gershom Scholem, Svendborg, 15. 9. 1934. In: Briefe, S. 620. — 84 Albert Ehrenstein: (Beitrag zur 24. Sitzung). In: Hans-Jürgen Schmitt und Godehard Schramm (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen — Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjet-

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schriftsteiler. Frankfiirt/M. 1974, S. 357. — 85 Wieland Herzfelde: (Beitrag am 26. 8. 1934). In: Schmitt/ Schramm (wie Anm. 84), S.240. — 86 »Brechts Dreigroschenroman«. In: GS III, S. 440. Der Beitrag ist zu Lebzeiten Benjamins nicht erschienen. — 87 Alfred Kantorowicz: »Brechts >DreigroschenromanDie Rettung««. In: GS III, S. 533. — 118 Ebd., S. 535. — 119 Ebd. — 120 Ebd. — 121 Ebd. — 122 Ebd. — 123 Vgl. ebd., S. 691. — 124 »Krisis und Kritik«. In: GS VI, S. 620. — 125 Alfred Kurella: »Deutsche Romantik - Zum gleichnamigen Sonderheft der »Cahiers du SudWirtschaft< zuzurechnende Ereignisse in die Alltagswirklichkeit der Menschen ein und prägten diese maßgeblich. In einer Literatur, die auf die fortgesetzte gesellschaftliche Krisensituation reagierte, indem sie es sich zur Aufgabe machte, eine als krisenhaft empfundene Gegenwart zu analysieren und für sich und andere zu erklären, blieb die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Aspekten folglich nicht aus. »Wirtschaft ist das Schicksal« 10 , der viel zitierte Ausspruch Walther Rathenaus, brachte dabei die weit verbreitete Überzeugung vom Primat der Wirtschaft über die Politik auf einen allgemeinen Nenner. Der Satz »Geld regiert die Welt« ist nicht nur ein Romantitel von Hans Natonek 1 1 , sondern findet sich in allen möglichen Variationen und Ausdeutungen in fast allen literarischen Texten wieder, die von der Gegenwart der Wei-

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marer Republik handeln. Die Macht des Geldes und der kapitalistischen Organisationen, die darüber verfügten, und die Ohnmacht der Politik, des schwachen Staates und der in der >Schwatzbude< Parlament versammelten Politiker durchzieht die gesamte Zeitliteratur besonders der späten Weimarer Republik. Wie Richard Lewinsohn, langjähriger Weltbühne-Autor und Leiter des Wirtschaftsteils der Berliner Vossischen Zeitung, feststellte, beeinflußten »die großen wirtschaftlichen Interessen und in noch stärkerem Maße vielleicht die führenden wirtschaftlichen Persönlichkeiten (...) in allen zivilisierten Staaten die Politik.«12 Die, um einen weiteren berühmten Ausspruch Rathenaus zu zitieren, »dreihundert Männer (, die) die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents (leiten)« 13 , waren allgegenwärtig in der Presse, in politischen Büchern, Gesellschaftsanalysen, Unternehmerbiographien und in der schönen Literatur. Rockefeiler14, Morgan 15 , aber auch Stinnes16 und andere rheinische Schwerindustrielle17 — um nur einige der bekannteren Figuren zu nennen — bevölkern zahlreiche literarischen Texte der Zeit, und manchmal, in Extremfällen, wurden einzelne Kapitalisten sogar zu einer Art Weltenherrscher stilisiert18, manchmal >nur< zu im Dunkel agierenden quasi-Diktatoren Deutschlands.19 Auch Robert Neumann trug in der Weimarer Zeit mit zwei Werken zur Gattung des Zeitromans bei. Beide handeln, wie Neumann in einer Vorbemerkung zu seinem zweiten Roman, Die Macht20, erklärt, von der »Naturgeschichte des Geldes«. Sein erster Roman, Sintflut21, enthält wohl eine der besten Schilderungen der Inflationszeit einschließlich der dubiosen Geschäftspraktiken dieser Zeit, die Neumann aus eigener Erfahrung kannte. Aber erst sein zweiter Roman verknüpft die Wirtschaftsthematik mit dem Thema Macht, wie es der Titel des Romans verspricht. In Die Macht erzählt Neumann die Geschichte eines georgischen Fürsten, der nach einem mißglückten Aufstand nach Wien zieht, um vor dem Völkerbund das Recht auf seine angestammten, von der Sowjetunion annektierten Erblande einzuklagen. Die cervantesque Geschichte des entrechteten Fürsten, der die Gerechtigkeit der Welt zum Kampf gegen die Sowjetmacht aufruft, erhält dadurch ihre Brisanz, daß die beanspruchten Gebiete auch die kaukasischen Ölfelder umfassen. Damit aber gerät der Fürst mitten in den Erdölkonflikt zwischen einer der beiden größten Erdölfirmen der Welt, der Royal Dutch Shell Corporation mit ihrem Leiter Sir Henry Deterding, der im Roman als Sir Henry Vanderzee auftritt, und der Sowjetunion. Die georgischen Gebiete am Kaspischen Meer 22 sind Teil der Sowjetunion; zuvor aber waren die Erdölkonzessionen im Besitz der Shell. Als Vanderzee von dem Fürsten erfährt, wird dieser auch gleich in den Konflikt eingespannt: Das Druckmittel, das dem Olkonzern mit dem Fürsten mitgegeben ist, sind Originaldruckplatten von sowjetischen Geldnoten, den Tscherwonzen, derer der Fürst, unwissend, welchen Wert diese haben könnten, während seines Auf-

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standes habhaft geworden ist. Vanderzees Plan ist es nun, die Druckplatten einzusetzen und in großen Mengen Tscherwonzen drucken zu lassen, um damit die sowjetische Währung zu konterminieren. Mit diesem Druckmittel will Vanderzee ein günstiges Einvernehmen mit der sowjetischen Erdölkonkurrenz auf dem europäischen Markt erzielen, die ihn durch Dumpingpreise um seine Marktanteile zu bringen droht. Neumanns Roman unterscheidet sich nun in seiner Erzählhaltung von den meisten Zeitromanen seiner Zeit. Er verfolgte mit diesem Roman auch kein konkretes politisches Anliegen, der Roman beinhaltet keine Analyse, mit der er etwa kritisch auf seine Zeit aufmerksam machen, eine Warnung aussprechen oder gar ein politisches Programm vortragen wollte. Vielmehr handelt es sich bei Die Macht um einen Unterhaltungsroman im Kleide eines Zeitromans, fast eine Art Thriller, dessen spannende Handlung in Kreisen internationaler Wirtschaft und Politik spielt. Anders als die meisten Romane vergleichbarer Thematik behält Neumann durchweg eine deutliche Distanz zum Dargestellten, die sich auch sprachlich im häufigen Stilwechsel sowie in einem durchweg ironisierenden Duktus ausdrückt. Daraus läßt sich nun aber nicht schließen, daß der Autor auch auf Distanz zu Vorstellungen vom Primat der Wirtschaft über die Politik und von der Macht der Wirtschaftsmächtigen geht, die die Romanhandlung eindeutig leiten. So existiert der Ölkonzern bei Neumann recht eigentlich nur in der Gestalt seines Führers, der wie ein Marionettenspieler das Romangeschehen inszeniert. Unterstützt wird er dabei von einem Wiener Bankier, einem Musterbeispiel einer grauen Eminenz, der wegen einer Krankheit die Anweisungen Vanderzees nur von einem abgedunkelten Zimmer aus fast ausschließlich über Telefon und schriftliche Anweisungen ausfuhrt. Bezeichnend ist auch, welcher >Handlanger< Vanderzee sich bedient, um seinen Plan auszuführen: Mit der Tscherwonzenfälschung macht er sich selbstverständlich nicht selbst die Hände schmutzig, sondern sorgt dafür, daß der Fürst mit den Druckplatten in Kontakt zu einer in München ansässigen Gruppe deutscher Nationalisten tritt, die mit dem Erlös aus dem Verkauf der Banknoten ihre WafFenarsenale für die geplante Volkserhebung und den anschließenden Krieg gegen die > Bolschewiken< ausbauen wollen. 23 Das andere >politische< Instrument, das Vanderzee fiir seine Interessen einsetzt, ist der Völkerbund, an den sich der Fürst ja wegen seines Anspruches auf Georgien gewandt hatte. Es ist charakteristisch für das Ansehen, das der Völkerbund zu dieser Zeit genoß, daß der erst aktiv wird, als es Vanderzee gelegen kommt, internationalen Druck gegen die Sowjetunion zu mobilisieren. Damit will er erreichen, daß die sowjetischen Devisenguthaben auf internationalen Banken, die Erlöse aus den sowjetischen Auslandsgeschäften, eingefroren werden, womit die ohnehin kostspieligen Stützungsaktionen der Sowjetunion, die, um den durch die Tscherwonzenschwemme ausgelösten

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Kursverfall der Währung aufzuhalten, alle auf dem Markt erscheinenden Tscherwonzen aufkauft, weiter erschwert würden. Der große Kampf um die Weltmacht Öl, die Konfrontation kapitalistischer Mächte mit der kommunistischen Sowjetunion, ein Bürgerkrieg im Kaukasus, nationalistische Putschisten in Deutschland, die politische Ohnmacht des Völkerbundes sind also die Themen, die Neumann in seinem Roman aufgreift. Das Ganze wird allerdings noch — und auch das ist in der nicht direkt weltanschaulichen Zeitliteratur der Weimarer Republik durchaus üblich - von den persönlichen Schicksalen der an den verschiedenen Intrigen aktiv oder passiv Beteiligten überlagert, und dem reinen Kalkül werden Fragen nach Schuld und Verantwortung und dem Spiel mit der Macht das Prinzip des Geistigen und Ideellen gegenübergestellt. Der Roman endet zwar damit, daß Vanderzees Pläne zum Schaden seiner Gegner und vor allem zum Schaden des Fürsten aufgehen, der, völlig desillusioniert, in einer Wiederholung seines hoffnungslosen Aufstandes wahrscheinlich sein Leben verliert. Aber auch Vanderzees Handlanger werden am Ende ihrer Siege nicht froh: sie zerbrechen an dem Schicksal des kaukasischen Fürsten, das sie selbst verschuldet haben; dies sind aber, so könnte man sagen, recht hilflose Konstruktionen eines Autors, der die Repräsentanten der Geldmacht nicht ganz ohne Widerspruch triumphieren lassen will. Sein Roman Die Macht hat Neumann den Weg ins Exil auf eine Weise geebnet, die nicht vorauszusehen war. Der Umstand, daß Neumann in seinem Roman, als eine eher unwichtige Nebenfigur, den internationalen Waffenschieber Sir Basil Zaharoff, ehemals Leiter der Vickers-Armstrong-Werke, eines der größten Unternehmen der europäischen Rüstungsindustrie, auftreten ließ, verschaffte dem vermeintlichen Zaharoff-Experten den lukrativen Auftrag von einem Londoner Verleger, eine Zaharoff-Biographie zu schreiben.24 Uber Zaharoff, der sich aus der Rüstungsindustrie zurückgezogen hatte und der, hochbetagt, sein Lebensende in Monte Carlo als Besitzer des dortigen Kasinos verbrachte, hatte Richard Lewinsohn bereits 1929 eine Biographie unter dem Titel Der Mann im Dunkel. Die Lebensgeschichte Sir Basil Zaharoffi, des mysteriösen Europäers< geschrieben.25 Zaharoff war für Lewinsohn ein willkommenes Objekt, an dem er seine Uberzeugungen von der überwältigenden Bedeutung einzelner Wirtschaftsfiihrer als den wahrhaft Mächtigen der Welt demonstrieren und seine an anderer Stelle geäußerte Beobachtung illustrieren konnte, daß es »in der öffentlichen Diskussion, in den Parlamenten, in der Presse (...) als etwas ganz selbstverständliches (gelte), daß (...) die Kämpfe in Mesopotamien in Wahrheit um die dortigen Erdölquellen gefuhrt werden, daß in Südrußland, in Persien, in Mexiko, was auch dort politisch geschehen mag, die großen Petroleuminteressen die eigentlichen Drahtzieher sind.«26 Dementsprechend erscheint der Rüstungs-

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agent Zaharöff bei Lewinsohn überall dort, wo sich internationale Konflikte anbahnen, vor allem bei dem internationalen Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg und als geheimer Antreiber des Griechisch-Türkischen Krieges zu Anfang der zwanziger Jahre. Zaharoff kam Lewinsohns Deutungsansatz, der bereits aus dem Buchtitel und den beiden Zitaten deutlich genug hervorgeht, zudem insofern entgegen, daß er tatsächlich seine Herkunft, seine Stellung innerhalb der Rüstungsindustrie und seine Beziehungen zu den Regierungen verschiedener europäischer und außereuropäischer Staaten systematisch verschleierte. Neumann griff die durch Lewinsohn vorgegebenen Motive nun seinerseits dadurch auf, daß er die Lebensgeschichte Zaharoffs wie einen verzwickten Kriminalfall behandelte, dem er als Biograph mit detektivischen Mitteln nachspürte. Damit benutzte er das mysteriöse Dunkel, mit dem sich Zaharoff selbst umgeben hatte und das von Lewinsohn so schön ausgeschmückt worden war, um dem Gegenstand seiner Biographie ein Höchstmaß an Geheimnis und seinem Buch somit ein entsprechendes Interesse zu verleihen. Doch anders als Lewinsohn hat Neumann deutliche Distanzsignale27 gegenüber einer übertriebenen Mythisierung der Person Zaharoffs eingebaut, denn indem er Zaharoff wie einen wohl sehr geschickten, letztlich aber doch eher gewöhnlichen Verbrecher behandelt, untergräbt Neumann zugleich den Mythos des Großen Mannes, mit dem er spielt: »Dieser Mensch ist so moralisch und so unmoralisch wie viele andere, weder ein >Dämon< noch ein >großer Philanthropkleiner Fisch< im Vergleich zum amerikanischen Konzernriesen, der als ein »Goliath« (102) bezeichnet wird, doch sie ist finanzstark genug, um den Goliath wenigstens heftig zu zwicken. Daß sie dabei ihre eigene Existenz, also ihr Unternehmen, zu ruinieren droht, riskiert sie, da sie den Kronprinzen noch immer liebt; die Erzählung läßt keinen Zweifel daran, daß ihr wirtschaftlicher Erfolg als eine Ersatzhandlung verstanden werden soll. Bei ihrem Börsenmanöver gegen den Nickelkonzern kommen ihr ihre Kenntnisse der internationalen Finanzmärkte und der dort herrschenden Gesetzmäßigkeiten zu Hilfe, die sich in ihren Überlegungen äußern: »Solch eine Börsenmacht und Reputation ist empfindlich wie ein Erdbebenanzeiger in einem Observatorium. Rüttle ein wenig in Paris - schon schwankt der Zeiger in London, und in New York ist es eine kleine Panik. In Paris ein wenig zu rütteln, dieses und jenes Wort über gewisse katastrophale Nickeltransaktionen in die Zeitungen fließen zu lassen - dazu mußte es reichen. Glückte das, so gab es einen Kurssturz. Nun bedeutete aber eben damals die

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Beständigkeit seines Aktienkurses für den Giganten eine Irrsinnssumme in klingendem Geld; er stand vor einer Neu-Emission. Gelang, was ich plante, so war ich für den K o l o ß - nun, nicht ein wirklicher Widersacher, sicher nicht, aber doch der nicht mehr zu übersehende Störenfried.« ( 1 0 2 ) Die Machtstellung des Großkonzerns, wie überhaupt viele Darstellungen wirtschaftlicher Vorgänge im Werk Neumanns, ist hier sehr differenziert ausgearbeitet, indem etwa dessen Abhängigkeit vom Weltmarkt beschrieben wird. Auffällig ist, daß politische Überlegungen an dieser Stelle zunächst noch keinen Platz haben. Uberzeugend ist auch der Hinweis, daß das Balkangeschäft für den Großkonzern nur eines von vielen Geschäften ist, auf das dieser, sollte es ihn insgesamt gefährden oder ihm schaden, auch verzichten könnte. Sephardis Plan besteht also letztlich zunächst darin, sich dem Nickelkonzern als ein Gegner zu präsentieren, der durch seine ansonsten sinnlose Kampfansage vermuten läßt, daß er noch ganz andere Ziele verfolgt, als zunächst kenntlich sind. Aber selbst dafür hätte die Finanzmacht Sephardis nicht ausgereicht, wenn ihr nicht die politischen Entwicklungen in Europa zu Hilfe gekommen wären: »Einer der beiden mit der eisernen Faust und der eisernen Stirne, jener Diktator, hatte wieder einmal seine Kreaturen im Stechschritt aufmarschieren lassen zu einer seiner Jahresparaden. Er schrie sich heiser, Schaum vor dem M u n d , an einem Wortbrei — Friedensrede nannte er's, ausgestreckte Versöhnungshand. D e r Schrecken, der von dieser Art Frieden in alle vier W i n d e lief, brachte einen allgemeinen Kurssturz, so wie ich ihn brauchte. D i e Aktien des amerikanischen Goliath stolperten mit den anderen der Tiefe zu.« ( 1 0 2 ) D a m i t hat Sephardi ihr Ziel erreicht: U m wenigstens einen Faktor auszuschließen, der den Sturz seiner Aktien betreibt, ist der Nickelkonzern bereit, den Balkanvertrag zu lösen, woraufhin Sephardi den K a m p f gegen den Konzern einstellt. Sephardis Transaktion ist also gelungen, es fehlt nur noch die Unterschrift des Kronprinzen, die Sephardis Vollmacht für die Verhandlungen mit dem Nickelkonzern bestätigt. Diese will sie sich, u m ihren Triumph auszukosten, persönlich abholen. Sie fliegt in den Balkanstaat, steigt dort in einem Hotel ab, läßt sich mit Negrescu, jetzt Minister des Landes, verbinden und verabredet eine Audienz mit dem Kronprinzen. Bevor sie aber zu dieser abgeholt wird, trifft sie im Hotel auf zwei Juden, einen Großkaufmann und einen Bankier, die ihr ihren D a n k aussprechen für die Unterstützung des Kronprinzen und der liberalen Partei. O h n e daß die Jüdin Sephardi dies wußte, ist sie zur Wohltäterin von 1,5 Millionen Juden im Balkanstaat geworden, deren Lebensbedingungen durch den Sieg der - offensichtlich im Unterschied zur Vorgängerregierung nicht antisemitischen — Liberalen Partei sich deutlich verbessert haben. Bei jener Wahl, erfährt Sephardi nun, waren es die Juden des Landes, »die unter letzten Bemühungen den Liberalen zum Sieg verholfen hatten.« ( 1 0 7 )

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Dann wird Sephardi von einem Auto abgeholt, in dem neben Negrescu noch ein weiterer M a n n sitzt, der sich - der Wagen hat inzwischen auf offener Straße angehalten - als der Sekretär der faschistischen Partei des Landes herausstellt. Sephardis Transaktionen mit dem Nickelkonzern wegen des Monopolvertrags waren bekannt geworden u n d konnten nicht mehr vertuscht werden, woraufhin die Liberalen, die sich allein nicht mehr zu halten vermochten, ein Bündnis mit den Faschisten eingegangen sind. Darin konnten die Liberalen zwar ihr Staatsoberhaupt erhalten - das Glockengeläut im Hintergrund kündigt an, daß der König verstorben ist - , aber die Faschisten bestimmen n u n m e h r die Politik des Landes. Mit dem Regierungswechsel sind aber auch Sephardis Aktionen gegenstandslos geworden. O h n e die Unterschrift des nunmehrigen Königs behält der Monopolvertrag zwar weiterhin seine Gültigkeit, die faschistische Regierung aber kann es sich leisten, sich über diesen Vertrag einfach hinwegzusetzen und ihn in der Landespresse als eine Fälschung auszugeben. »Und was die Amerikaner anlangt, wenn die etwa klagen wollen — klagen müßten sie hier, bei den Gerichten in diesem Land.« (113) Nach der Klärung der Lage wird Sephardi zum Flughafen gebracht. Auf dem Weg dorthin kann sie noch einige Beobachtungen machen, die bereits andeuten, welche Konsequenzen der Regierungswechsel für das Land haben wird: »Der Weg dorthin ging durch die östliche Vorstadt. Gewirr enger Gassen - (...) Und das waren hebräische Lettern. Und dort an der Front eines Hauses der Davidstern. Eine Synagoge vielleicht. Sie war versperrt. Die Gassen lagen vereinsamt — (...). Die Geschäfte waren geschlossen. Was ging da vor? A u s n a h m e z u s t a n d s sagte der Alte neben mir mit einem undeutlichen Ausdruck im Gesicht. Das Volk, nach Beilegung des politischen Zwiespalts zur Einigkeit aufgewacht, wandte sich gegen gewisse Fremdkörper in seiner Mitte. Es war zu bedauern - aber verständlich. Eines Zeitungsjungen Sohlenklappern und Ruf widerhallten von erschrockener Häuserwand. >Schwindelhafte Verwendung des Namens einer hohen Person!< rief er. Jüdische Unverschämtheit^ Da, dort lungerten Einzelne, gewalttätig Aussehende — als warteten sie auf ein Signal. Einer hob ein Stück Ziegel, irgendwo klirrte es, eine Weiberstimme schrie gellend. Das Auto glitt eilig vorüber.« (114) Sephardi schließlich, obwohl sie, wie sie bald erfährt, aus ihren Börsenmanövern noch reicher hervorgegangen ist, als sie ohnehin schon war, fliegt nicht nach Paris, sondern macht sich über Umwegen auf den Weg »nach Jerusalem? N u r irgendwohin.« (116) Damit endet die Erzählung Sephardis, die in der Rahmenhandlung des Romans lediglich noch die Fortsetzung findet, daß Sephardi als einer der Passagiere des Busses bei dem Versuch, die palästinensische Grenze zu überschreiten, mit den elf anderen Passagieren tödlich verunglückt.

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Die Entsprechungen zwischen der Erzählung Sephardis aus Neumanns 1938 veröffentlichtem Roman An den Wassern von Babylon und dem 1932 veröffentlichten Roman Die Macht sind zunächst einmal recht oberflächlicher Natur. Beiden Texten liegt eine Art >Wirtschaftshandlung< zugrunde mit einem scheinbar übermächtigen internationalen Konzern, der Interesse an der Rohstoffausbeutung in einem kleinen Land zeigt, und beide Male greift die Wirtschaftshandlung in politische Konstellationen ein. Die zentrale Parallele zwischen den beiden Texten liegt aber darin, daß die dem Roman Die Macht zugrundeliegende Aussage über die >Natur< des Geldes, daß es in entsprechender Konzentration zu einem Machtfaktor wird, der sogar über die Politik eines Landes zu bestimmen imstande ist, in der Lebensgeschichte Sephardis wieder aufgegriffen wird. Sephardi gelangt nur durch einen Zufall in diese Kreise, als sie zunächst, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihr Kunstgeschichtestudium mit der Arbeit bei einer Bank vertauscht und sodann durch ihren Lebensgefährten in die Geschichte hineingezogen wird, die zu ihrer Lebensgeschichte wird. Der Tochter eines Kaufmannes gelingt es schnell, sich in den neuen Bedingungen zurechtzufinden, und sie legt auch bald ihr Meisterstück mit dem Nickelvertrag vor. Mit diesem ersten Ausflug in die große Finanzwelt finanziert sie den Wahlkampf und — so zumindest erscheint es ihr — den Wahlsieg der Liberalen und ermöglicht die Rückkehr ihres Lebensgefährten auf den Thron. Aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, als sie schon längst eine erfolgreiche Unternehmerin ist, erfährt sie, welche Macht ihr durch ihre Position gegeben ist. Um diese Erkenntnis Sephardis zu kennzeichnen, greift Neumann nun in auffälliger Weise auf ein Handlungselement zurück, mit dem er bereits in Die Macht demonstriert hatte, was die wirtschaftliche Macht eines Konzerns auszurichten vermag. Wie bereits oben erwähnt, beruhte Vanderzees Angriff auf die Sowjetunion maßgeblich darauf, daß er die sowjetische Währung konterminierte. Da der Tscherwonez aber gar nicht in der kapitalistischen Welt frei gehandelt wurde, konnte dieses Druckmittel nur dadurch eingesetzt werden, daß Vanderzee seinen Einfluß auf internationale Banken solcherart ausübte, daß sie die eigentlich wertlose Währung aufkauften und somit als einen Wert anerkannten. Neumann baut sodann dieses Motiv noch weiter aus. Es erscheinen nämlich, neben den echten nachgedruckten Tscherwonzen, nun auch gefälschte Tscherwonzen auf dem Markt, was Vanderzee aber nicht davon abhält, auch diese von seinen Banken für echt erklären und aufkaufen zu lassen. Vanderzees Macht, das besagen diese Vorgänge, ist also so groß, daß er selbst aus Falschgeld echtes Geld >zaubern< kann; Vanderzee bestimmt, was in der internationalen Finanzwelt Werte darstellt und was nicht. Die Kapitalistin Sephardi macht nun die Erfahrung, daß sie dies ebenso

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vermag, wenn auch in kleinerem Rahmen: »Als ich zum erstenmal wahrnahm, daß eine dieser Informationen falsch war von Grund auf - und doch richtig wurde im Nachhinein, rein dadurch, daß ich sie an meine Klienten weitergab, rein durch meine eigenen Käufe: das war der Wendepunkt.« (101) Wie in Die Macht die Person Vanderzees gleichsam die Deckung für eine sonst wertlose Währung bedeutete, bürgt nun Sephardis Kapitalmacht für den Wert und die Verwertbarkeit ihrer Informationen — obgleich diese zunächst auf einem Irrtum beruhen. Dadurch, daß man ihrer Herkunft Vertrauen schenkt, werden die falschen Informationen zu einer zuverlässigen Berechnungsgrundlage. Als ihr dies bewußt wird, weiß Sephardi auch ihre Macht so einzusetzen, daß ihre Transaktionen gegen den Nickelkonzern endlich zum Erfolg fuhren und sie dem Konzern den Monopolvertrag wieder abringen kann. Ein zweites Mal schickt sie sich an, durch den Einsatz ihrer Finanzmacht eine entscheidende Wende in der politischen Situation des Balkanstaates herbeizufuhren. Doch die Art und Weise, wie es Sephardi gelingt, den Nickelvertrag wieder rückgängig zu machen, läßt an der Interpretation, die die Erzählung durch die Figur der Sephardi nahelegt, zweifeln. Uber die Erörterung rein wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten schiebt sich nämlich sogleich eine weitere Ebene, die politische Umstände in Europa und schließlich im Balkanstaat mit in die Berechnungen aufnimmt. So ergreift Neumann auch nicht die Gelegenheit, die Anfälligkeit des Großkonzerns, die zu dessen Einlenken führt, etwa als die Folge einer wirtschaftlichen Krise darzustellen: Sephardis Transaktionen kommen letztlich nur zum Erfolg, weil »jener Diktator« einen »Schrecken« verursacht, der »einen allgemeinen Kurssturz« (102) brachte, unter dem auch der Nickelkonzern zu leiden hat. Was sich im Moment von Sephardis Triumph bereits andeutet, wird denn auch zu einem Wendepunkt in einem anderen Sinn, als sie es erhofft. Sephardi erfährt zunächst, daß keineswegs der Nickelscheck allein die »kostspieligen« (94) Wahlen zugunsten der liberalen Partei gewendet hat, sondern daß noch ganz andere Faktoren, politische Faktoren, auf die Sephardi keinen Einfluß hatte, nämlich der Einsatz der Juden des Balkanstaates für die liberale Partei, den Ausschlag gegeben hatten. Und wiederum politische Faktoren bewirken, daß Sephardis letzte Rechnung nicht aufgeht. Den Faschisten ist es inzwischen gelungen, aus dem Monopolvertrag, dessen Existenz nicht mehr verheimlicht werden konnte, politisches Kapital zu schlagen. Der Skandal, den sie aus dem Ausverkauf der Ressourcen des Landes an amerikanisches Kapital zu inszenieren drohen, zwingt die liberale Partei zum Einlenken und bringt die Faschisten an die Regierung. Mit den Faschisten schließlich scheint eine politische Kraft aufgetreten zu sein, die mächtig genug ist, sich über die Spielregeln der Weltwirtschaft hinwegzusetzen und den Monopolvertrag einfach zu ignorieren.

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Die Wendung, die Neumann seiner Erzählung Sephardi gegeben hat, ist keineswegs zufällig, sondern entspricht einem Paradigmenwechsel in der öffentlichen Meinung, der im Laufe der frühen dreißiger Jahre stattgefunden hat. War während der zwanziger Jahre die Uberzeugung vom Primat der Wirtschaft Allgemeingut, so begann sie mit der Weltwirtschaftskrise zu weichen. Richard Lewinsohn, in den zwanziger Jahren einer der Autoren, die Vorstellungen vom Primat der Wirtschaft am eifrigsten verbreiteten, schreibt 1934: »Die Zusammenbrüche bedeutender Privatunternehmungen und die üblen Skandal-Affären, die sich daran knüpften, haben dem persönlichen Prestige und damit auch der politischen Machtstellung der >Wirtschaftsfuhrer< empfindlich geschadet. (...) Die Krise hat nicht nur den Glauben an die überlegene Führerbegabung der Großkapitalisten, sondern auch an ihre Integrität stark erschüttert. (...) Regieren ist in der öffentlichen Meinung wieder eine selbständige Funktion geworden und nicht, wie es in der Zeit der Prosperity der Fall war, eine Nebenbeschäftigung der Großunternehmer.«30 Die Mächte der Wirtschaft, dieses Fazit zieht Lewinsohn aus der Weltwirtschaftskrise, haben ihre beherrschende Stellung verloren. Auch die Literatur reagierte auf diese Entwicklung. Die großen Männer der Weltwirtschaft, die bis Anfang der dreißiger Jahre so häufig in Zeitromanen auftraten, kommen in der Literatur des Exils kaum mehr vor. Neumanns Erzählung muß von ihrer Thematik her also als eine Ausnahme angesehen werden, die wiederum doch keine Ausnahme ist. Denn Neumann hat mit seiner Behandlung der Wirtschaftsthematik zunächst bewußt eine falsche Fährte gelegt. Die Erzählung, die wie eine Parabel über die Macht der Wirtschaft beginnt, endet damit, daß Neumann vor dem Hintergrund des europäischen Faschismus einen Abgesang auf das Primat der Wirtschaft über die Politik schreibt. Lewinsohn sah in Roosevelts New Deal eine Form staatlicher Wirtschaftsplanung, mit der ein demokratisches System einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise finden kann. Neumann dagegen schildert einen Fall, in dem eine demokratische Regierung an der Wirtschaftskrise scheitert und von einem faschistischen Regime abgelöst wird, das sich offensichtlich wirtschaftlich in Richtung einer Abkoppelung von der Weltwirtschaft und auf Planwirtschaft und Autarkie hin bewegt. Der Vergleich der politischen Entwicklung des Balkanstaats mit der Deutschlands, auf das Neumann mit dem Hinweis auf den Schrecken verursachenden Diktator bereits angespielt hatte, ist ganz offensichtlich beabsichtigt. Die Schilderung der antisemitischen Propaganda und der Ausschreitungen am Ende der Erzählung läßt daran keinen Zweifel.

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1 Das Buch erschien zuerst in englischer Übersetzung im Londoner Dent-Verlag unter dem Titel By the Waters ofBabylon. Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien ebenfalls im englischen Exil (Oxford 1945). Der Roman wird im folgenden zitiert nach der Ausgabe der Gesammelten Werke in Einzelausgaben (Robert Neumann: An den Wassern von Babylon. Treibgut. München u.a. 1960). — 2 Diesem Begriff verwende ich analog zu den eingeführten Begriffen Zeitstück und Zeitroman, diese übergreifend, aber auch Texte aller weiteren Gattungen miteinbeziehend, die sich mit der Gegenwartsanalyse beschäftigten. Da bei der Verwendung des Begriffs Zeitroman inhaltliche und weniger formale Aspekte im Vordergrund stehen, wird hier keine Unterscheidung etwa zur Gattung >Zeiterzählung< vorgenommen, der die einzelnen Erzählungen des Romans eigentlich zuzurechnen sind. — 3 Es mag auf den ersten Blick irreführend erscheinen, daß für den Österreicher Neumann die Umstände im Deutschland der Weimarer Republik geltend gemacht werden. Neumanns literarische Karriere wie auch sein Gang in das Exil sind aber viel mehr von der Geschichte Deutschlands geprägt als von der Österreichs. Zwar wechselte er Anfang der dreißiger Jahre vom Stuttgarter Engelhorn-Verlag zu dem in Wien ansässigen Zsolnay-Verlag, dieser aber veröffentlichte nach 1933 Bücher Neumanns nur noch in seiner >Exilabteilungentlieh< sich den Vornamen des damals wohl reichsten Mannes Amerikas für seinen Mauler in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe (1931). — 16 Stinnes ist z. B. das Vorbild für den Protagonisten in Heinrich Manns Novelle Kobes(\^lS) • — 18 So z. B. in Paul Gurks Roman — 17 Z. B. in Erik Regers Union der festen Hand^Vil). Palang( 1930). — 19 Felix Umballer ist ein unverkennbares Stinnes-Porträt in Frank Arnaus Das Antlitz der Macht (1930). — 20 Berlin u.a. 1932. — 2 1 Stuttgart 1929. — 2 2 Die Erdölfelder um Baku, die hier von Neumann wohl versehentlich Georgien zugeschlagen werden, gehörten in der Zeit der Romanhandlung zur Aserbeidschanischen SSR, heute zur Republik Aserbeidschan. — 23 Wegen der ausführlichen Darstellung dieses nationalistischen Verbandes hat man gerne Neumann als einen Warner vor dem aufkommenden Nationalsozialismus proklamiert: »Die Darstellung der Unterstützung des aufkommenden Faschismus durch wirtschaftliche Interessengruppen — von Neumann mehr erahnt als gewußt — gehört zu den seherischen Qualitäten des Romans.« (Ulrich Scheck: Die Prosa Robert Neumanns. Mit einem

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bibliographischen Anhang. New York u.a. 1985, S. 176) Die Nationalisten aber sind in diesem Roman nur ein Werkzeug in der Hand Vanderzees, und sie werden, sobald er sie nicht mehr braucht, von diesem auch wieder fallengelassen. — 24 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Buches vgl. Richard Dove: »>Ein Experte des Überlebensc Robert Neumann in British Exile 1933-1945«. In: Ian Wallace (Hg.): Aliens - Uneingebürgerte. German andAustrian Writers in Exile. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 159-173, bes. S. 159-162. — 25 Berlin 1929. — 26 Lewinsohn: Jüdische Weltfinanz, a.a.O., S. 10. — 27 So bemerkt er z. B. an einer Stelle seines Buches, daß bereits die Mitwelt um Zaharoff einen Mythos zu bauen sich anschickt. Dabei zitiert er ausführlich zwei literarische Texte, in denen solches geschieht: neben Emil Ludwigs Schauspiel Versailles (1929) seinen eigenen Roman Die Macht. — 28 Robert Neumann: Sir Basil Zaharoff, der König der Waffen. Zürich 1934, S. 9. — 29 Ebd. Am Ende des Buches greift er dies noch einmal auf, indem er eine Passage aus H. G. Wells' Work, Wealth and Happiness of Mankindzitiert: »Millionen seiner Zeitgenossen hätten dasselbe getan, wenn sie daran gedacht hätten und wenn sie gewußt hätten, wie man es macht. Nichts war in ihnen, das das hätte verhindern können. Ist da etwas nicht in Ordnung, so liegt es an den erzieherischen Einflüssen und an den politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnissen, die solche Menschen hervorbringen.« (Ebd., S. 395). — 30 Richard Lewinsohn (Morus): Die Geschichte der Krise. Wien, Leipzig 1934, S.223f.

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Zu einigen Aspekten der Bertolt Brechts

Hofmeister-Bearbeitung

I Aus retrospektiver Sicht scheint es ganz logisch, daß Brecht gerade auf den Sturm-und-Drang-Dramatiker Lenz gestoßen ist, als er nach literarhistorischen Parallelversuchen eines antiklassischen Realismus suchte. Verwunderlich ist eher, daß dies erst in der Nachkriegszeit in die berühmte HofmeisterBearbeitung einmündete. Immerhin war Lenz schon zu der Zeit, als Brecht zu schreiben begann, kein Unbekannter mehr, sondern bereits eine »Kultfigur«1 des Naturalismus und Expressionismus. Doch belegt eine Äußerung von Hans Otto Münsterer, daß Brecht - ob nun in kritischer oder traditionsbildender Intention in den zwanziger Jahren einen anderen Kanon deutscher Literatur bevorzugte. In den Erinnerungen Münsterers heißt es: »Unter den deutschen Klassikern hat Brecht nächst Büchner, Grabbe, Kleist und natürlich Goethe vor allem Schiller geschätzt, dagegen konnte ich ihn für den mir besonders nahestehenden Lenz damals noch nicht recht begeistern.«2 Immerhin verweist Laurence P. A. Kitching auf eine Äußerung von Elisabeth Hauptmann, daß Brecht schon Ende der zwanziger Jahre mit der Idee einer NeuaufRihrung des Hofmeisters umgegangen sei.3 Offensichtlich bilden die Exilzeit und ihre Literaturdebatten den eigentlichen Umschlagspunkt, an dem sich Brechts Lenz-Auseinandersetzung konkretisiert hat. Es finden sich kurze Erörterungen und Vergleiche zu Lenzens Hofmeister in den 1940 entstandenen Notizen über realistische Schreibweise^, die zeigen, daß es eine Kontinuität der Beschäftigung gibt, die von den dreißiger Jahren über das Exil bis hin zur Inszenierung des Berliner Ensembles fuhrt. So tangiert der im Hofmeister \on Lenz dargestellte Problemkomplex der Erziehung, der Sexualität, der sozialen Hierarchie und ihrer ästhetischen Spiegelung viele der Literaturdebatten der dreißiger Jahre um eine gesellschaftskritische realistische Kunst, die nach 1933 und dann unter den erschwerten Bedingungen des Exils eine antifaschistische Alternative zur Literatur in Deutschland profilieren mußte. Im Vordergrund sollen hier vor allem ästhetische Aspekte stehen, die Brechts Bearbeitung der Nachkriegszeit geleitet haben und die als Ergebnis-

Zur Hofmeister-Bearbeitung

Bertolt Brechts

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se eines längeren und insbesondere auch durch die Kontroverse mit Georg Lukäcs vorangetriebenen Selbstverständigungsprozesses interpretiert werden können. Es ist vor allem die Frage nach der Funktion der komischen Form in einem realistischen Kunstkonzept zu stellen, das sich in den Dienst der Veränderung und des antifaschistischen Kampfes stellt. Georg Lukäcs hatte sich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1932 ausführlich zur Theorie der Satire geäußert. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, da das Komische eher eine antiaristotelische Sicht nahelegt. Und Lukäcs unterstreicht dies noch, indem er sich nicht der klassischen Kunsttheorie Hegels oder Schillers anschließt, die, von einer idealisierenden Synthese- und Harmonisierungsfunktion der Kunst ausgehend, der Satire nur den Platz einer minderwertigen Darstellungsform zuwiesen. Lukäcs hingegen räumt dem Komischen eine eigenständige ästhetische Sphäre ein, die nicht auf Vermittlung von Wesen und Erscheinung in der Totalität des Werkganzen gegründet ist, sondern gerade darauf beruht, daß beide kontrastierend einander gegenübergestellt werden. So heißt es: »Denn die Dialektik von Erscheinung und Wesen kann — z. B. im Roman - durch ein ganzes bewegliches System von Vermittlungen hindurch zur Geltung kommen (...) Die Satire dagegen schaltet diese Vermittlungen bewußt aus. Diese Ausschaltung ist die Grundlage ihrer schöpferischen Methode.«5 Lukäcs gelingt damit eine ästhetische Aufwertung des Komischen, das nun nicht mehr nur als Unfähigkeit zur Darstellung des Ganzen erscheint. Zugleich wird es als künstlerische Methode den kathartischen Modellen gleichberechtigt zur Seite gestellt. Doch Lukäcs schränkt sofort den Geltungsrahmen für eine proletarischengagierte Literatur normativ ein. Denn, wenn auch das Werk selbst die Synthese nicht unbedingt zu leisten habe, so ist es doch die »Weltanschauungshöhe«6 des Autors, die es ermögliche, mit der kritisierten Wirklichkeit zugleich deren Alternative als konkret beschreibbare und anzustrebende Idealwelt ins Bild zu setzen. »Es ist klar«, so fuhrt er aus, »daß gerade hier jede weltanschauliche Unzulänglichkeit, jedes ungenügende Erfassen des Wesens jener Welt, die satirisch gestaltet wird, sogleich ins Auge springt.«7 Für Lukäcs hat die Satire nur eine Funktion, wenn sie zum »wirksamen Vehikel« des »Klasseninhalts«, d e s » h e i l i g e ( n ) Hass(es) der revolutionären Klasse«8, wird. Es ist nicht klar, ob Brecht diesen Aufsatz zur Kenntnis genommen hat. Er hat sich nur sehr allgemein zu den Essays von Georg Lukäcs geäußert, die in der Internationalen Literatur erschienen waren.9 In den Anmerkungen zu diesem Aufsatz wird er nicht erwähnt.10 Auffällig ist jedoch, daß er in den Notizen über realistische Schreibweise drei Autoren, nämlich Gay, Beaumarchais und Lenz, als Beispiele für »bürgerlich revolutionäre realistische Dramatik«11 heraushebt, die als Satiriker, oder doch, wie Lenz, als Tragikomödiendich-

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ter, in die Weltliteratur eingegangen sind. Er diskutiert sie jedoch unter dem Aspekt des Realismus, also ihres Wirklichkeitsverhältnisses. Lenzens Hofmeister erscheint ihm so als »Tragödie«, die der Misere der deutschen Zustände geschuldet sei, während die fortgeschritteneren französischen Verhältnisse mit Beaumarchais eine souveräne und das heißt komische Darstellung zuließen. Brechts Realismusvorstellung, konkretisiert im epischen Theater, hebt so die Äquivalenzbegriffe des Tragischen und des Komischen, wie sie die klassische ästhetische Theorie überliefert hatte, auf. Während also Lukäcs das Komische gleichsam noch vor der Folie der tradierten Ästhetik diskutiert, erscheint es bei Brecht so, als sei das Komische als Methode der intellektuellen Distanzierung, etwa als Mittel der Verfremdung, vollständig im Konzept des epischen Theaters und im Begriff des Realismus aufgegangen. Auch im Bereich der komischen Formen erneuert sich so die Alternative zwischen einem aristotelischen und einem nichtaristotelischen Modell für eine politisch engagierte Literatur, die in der Exilzeit immerhin auch eine unmittelbar gesellschaftsbezogene Funktion hatte und darüber hinaus sich als andere deutsche Literatur gegen die »gleichgeschalteten« Autoren behaupten mußte. Lukäcs plädiert für das Komische als intellektuell betonte Darstellungsmethode, die im Idealfall von der Höhe eines überlegenen Weltanschauungsstandpunktes aus eine Kritik am Bestehenden übt, die auf die neue Gesellschaft schon vorverweist. Brecht thematisiert die komische Form gar nicht als solche, sondern integriert einzelne Elemente des Komischen als formale Transportmittel in seine Vorstellung vom Realismus auf der Bühne. Dies zeigen dann auch seine unmittelbaren theaterpraktischen Arbeiten, in denen er sich in der Exilzeit mit dem Faschismus auseinandersetzt. Keines der Stücke bedient vordergründig, trotz der Situation in Deutschland, tragische Muster im Sinne der Katharsis, keines läßt sich aber auch ohne weiteres als Komödie bezeichnen, wenngleich satirische Elemente wie in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui oder komödienhafte wie in Herr Puntila und sein Knecht Matti durchaus dominieren können. Brechts Integration des Komischen als Intellektuell-Distanzierendem in seine Realismusvorstellung gewinnt noch eine weitere Dimension, wenn man sie in den Kontext der Auseinandersetzung mit dem faschistischen Literaturideal stellt. Sowohl Johannes R. Becher als auch Friedrich Wolf zentrierten ihre Kritik auf die Goebbelssche Parole von der »stählernen Romantik« 12 . Auch Goebbels bezieht sich auf den Realismus als anzustrebendes formales Ideal und bedient sich zu dessen Illustration Beispielen proletarischer Kunst. So zitiert Becher das faschistische Literaturprogramm mit den Worten Goebbels: »>Die deutsche Kunst der nächsten Jahrzehnte wird heroisch, wird stählern romaintisch, wird sentimentalitätslos sachlich, wird national mit großem Pathois sein, oder sie wird nicht sein.«< Und Becher setzt, gleichsam

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beschwörend, fort: »Aber alle schönrednerischen Versuche und Mahnungen, das faschistische Ideal der >stählernen Romantik< mit den Mitteln eines künstlerischen Realismus gleichsam zu untermauern, ja sogar die Goebbelssche Mahnung, die nationalsozialistischen Künstler sollten sich die realistische Kraft des Films vom >Panzerkreuzer Potemkin< zum Vorbild nehmen — das alles ist und bleibt vergeblich.«13 Während Becher und Wolf diesen Scheinrealismus zu entlarven versuchen, der sich eben der Mittel kathartischer Einfühlung oder des humorvollen Schilderns einfacher Volksschichten demagogisch bedient 14 , steht Brecht grundsätzlich außerhalb dieser Art Kunstproduktion. Sein Realismus muß sich nicht von einer faschistischen Realismus-Demagogie absetzen. Seine Hofmeister-Bearbeitung, die deutlich aus der Auseinandersetzung mit dem Faschismus erwachsen ist, akzentuiert noch die satirischen Mittel, durch die der Realismus als Transparent-Machen von Gesellschaftsstrukturen in Szene gesetzt wird. Ist so Brechts Auseinandersetzung mit Lenz eingebettet in die literaturtheoretischen Diskussionen um eine antifaschistische Literatur, gibt es gleichwohl auch einen direkten Dialog mit dem Werk selbst und seinem ästhetischen Angebot. Es fällt dabei zunächst auf, daß dieser Dialog nicht mit dem Gesamtwerk Lenzens, seiner Entstehungszeit und dem ästhetischen Kontext der Epoche geführt wird. Die Hofmeister-Bearbeitung steht merkwürdig isoliert. Die immerhin schon auf der Bühne präsenten Soldaten werden nicht erwähnt. Brechts während der Proben zum Hofmeister 1950 entstandene Anmerkungen 15 erläutern formale Sichtweisen und Umsetzungsvorschläge der Bearbeitung, gehen jedoch niemals auf die historische und ästhetische Besonderheit des bearbeiteten Stücks ein. Brecht selbst legt nahe, daß das Lenzsche Stück nur als Glied einer literarischen Reihe zu verstehen sei, die zu seinem Modell des epischen Theaters führe. In einer Notiz heißt es: »Die Linie, die zu gewissen Versuchen des epischen Theaters gezogen werden kann, führt aus der elisabethanischen Dramatik über Lenz, Schiller (Frühwerk), Goethe (>Götz< und >Faustaufgehoben< sein in zwei bis ins Detail durchdachten Ästhetiken (...): in den literaturtheoretischen Strategien von Georg Lukacs und Bertolt Brecht.« (Manfred Nössig: »Das Ringen um proletarisch-revolutionäre Kunstkonzeptionen (1929-1933)«. In: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918—1933. Berlin und Weimar 1980, S. 568.) Angesichts der Brisanz dieser Kontroverse ist jedoch die philologische Basis, d. h. direkte Bezugnahmen der beiden aufeinander, eher spärlich. So heißt es bei Werner Mittenzwei: »Der Gegensatz in den ästhetischen Positionen der beiden, so offenkundig er für den aufmerksamen Leser stets war, blieb jedoch lange Zeit verdeckt, da Brecht seine Lukäcs-Polemik nicht veröffentlichte (...) Umgekehrt ist auch in dem umfangreichen Gesamtwerk Georg Lukäcs' - mit Ausnahme der aus der späten Schaffensphase stammende >Ästhetik< - von Brecht kaum die Rede.« (Werner Mittenzwei: »Der Streit zwischen nichtaristotelischer und aristotelischer Kunstauffassung". In: Werner Mittenzwei u.a. (Hg.): Dialog und Kontroverse mit Georg Lukäcs. Leipzig 1975, S. 153 f.) Es bleibt so nur die Möglichkeit, beider Ansichten zu rekonstruieren und miteinander zu vergleichen, ohne daß abgesichert werden könnte, daß eine direkte Bezugnahme vorliegt. — 10 Gemeint ist der nicht datierte Aufsatz Brechts (vermutlich 1938) [»Die Essays von Georg Lukäcs«] in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 19, a. a. O., S. 296-298. In den Anmerkungen des Herausgebers werden (ebd., S. 2 der Anmerkungen) zahlreiche Aufsätze Lukäcs' aus der Internationalen Literatur erwähnt, jedoch nicht der hier zitierte über die Satire. — 11 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 19, a.a.O., S. 362. — 12 So etwa: Johannes R. Becher: »Beitrag auf dem Unionskongreß der Sowjetschriftsteller, 17. August bis 1. September 1934 in Moskau«. In: Internationale Literatur,

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Bertolt Brechts

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4. Jg., Nr. 5, 1934. Wiederabgedruckt unter dem Titel: »Das große Bündnis«. In: Johannes R. Becher: Von der Größe unserer Literatur. Leipzig 1971, S. 131-148. Und Friedrich Wolf: »Das zeitgenössische Theater in Deutschland. Vom expressionistisch-pazifistischen Drama zum episch-politischen Theater (1918-1934)«, entstanden 1934, oder »Die Dramatik des deutschen Faschismus«, entstanden 1936. In: Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe. Leipzig 1969, 5. 3 4 - 6 6 und S. 6 7 - 7 8 . — 13 Johannes R. Becher: »Das große Bündnis«, a.a.O., S. 133. — 14 Friedrich Wolf weist daraufhin, daß nicht nur der Heroismus der »stählernen Romantik« zum Kunstparadigma des Faschismus gehörte, sondern auch ein Genre wie das »Volksstück« mit humoresken Zügen. So heißt es über das Stück Die endlose Straße'. »Hier wird im Sinne eines >Volksstücks< das Schützengrabenleben scheinbar wahrhaft geschildert; auf der einen Seite das tapfere, ehrliche >Frontschweingerechterweise< - die Leuteschinder von Offizieren, die >Etappenhengste< in ihrer ganzen Erbärmlichkeit.« (Friedrich Wolf: »Die Dramatik des deutschen Faschismus«, a. a. O., S. 70.) — 15 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 17. Frankfurt/M. 1967, S. 1221-1251. — 16 Käthe Rülicke: Die Dramaturgie Brechts. Theater ab Mittel der Veränderung. Berlin 1966, S.94. — 17 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 17, a.a.O., S. 1221. — 18 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Der Hofmeister. Bearbeitung. Prolog. Bd. 6. Frankfurt/M. S. 2333. — 19 Siehe dazu Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 17, a.a.O., S. 1222. »Der Prolog vor dem Vorhang wurde zu den feinen Tönen einer Spieldose gesprochen. Da der Prologsprecher die ganze historische Spezies Hofmeister vertritt, wurde ihm etwas von der Mechanik von Glockenspielfiguren verliehen (...).« Der Wechsel vom 3. zum 4. Akt wird mit einem 2.wischenspiel unterbrochen, das der Regieanweisung folgt: »Zur Glockenmusik einer Spieldose, der einige Töne fehlen, dreht sich die Bühne...«. (Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 6, a.a. O., S. 2376.) — 20 Ebd., S. 2365. — 21 Ebd., S. 2366 f. — 22 Ebd., S. 2372. — 23 Bei Brecht: ebd., S. 2369. Bei Lenz: J. M. R. Lenz: Werke. Stuttgart 1992, S. 50. — 24 J. M. R. Lenz: Werke, a. a. O., S. 22. — 25 J. M. R. Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780 mit einem Nachwort hg. v. Christoph Weiss. St. Ingbert 1994. Hier wendet sich Lenz gegen das Dogma der Erbsünde und begreift die Sexualität als von Gott gegebene Eigenschaft, die zur Glückseligkeit notwendig ist. Zwar billigt Lenz der Sexualität einen autonomen Bereich neben, sogar über der Vernunft zu, orientiert jedoch wiederum auf die Ehe als lebbarem Kompromiß zwischen Gefühl und Vernunft. Siehe dort: »Baum des Erkenntnisses. Gutes und Böses. Supplement zur vorhergehenden Abhandlung«, S. 15: »Wenn Gott aus dem Menschen blos ein denkendes und empfindendes Wesen hätte machen wollen so würde ers bei den Schatten, die er um ihn her pflanzte (...) bewenden lassen. Aber er wollte ihn auch handelnd nicht blos leidend (...) Der Mensch sollte (...) auch frei, ein kleiner Schöpfer der Gottheit nachhandeln. Die Triebfeder unserer Handlungen ist die Konkupiscenz, ohne Begier nach etwas bleiben wir ruhig, und da handeln die größte aller menschlichen Realitäten ist, wie sträflich war es den Keim unserer Thätigkeit aller unserer Vortrefflichkeit zu ersticken. Gott wollte also unsere Konkupiscenz in Bewegung setzen, das konnte nur durch ein Verbot geschehen.« Sowie »Drittes und letztes Supplement«, S. 29: »Unsere Konkupiscenz soll also befriedigt werden (...) aber nur in der vom Gesez festgesezten Ordnung, denn das Gesez ist die Lehre von den Verhältnissen (...) und unsere Vernunft ist das Vermögen, diese Verhältnisse einzusehn...« — 26 Bei Brecht: ebd., S.2338 f. — 27 Bei Brecht: ebd., S. 2385. — 28 Bei Brecht: ebd. — 29 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 17, a.a.O., S. 1250 f. Bezeichnenderweise hat Paul Rillainder insgesamt sehr positiven Besprechung der Inszenierungen des Berliner Ensembles zwischen 1949 und 1951 bei Brechts Hofmeister diesen Antitypus zum Kritisierten als das eigentlich Gemeinte hinzugesetzt: »Brecht läßt im >Hofmeister< einen Epilog sprechen, worin ohne Umweg unsere soziale Praxis angesprochen wird. Der Epilog bleibt beim Thema des Stückes, wenn er den geduckten Schulmeister, desses Amt es ist, geduckte Untertanen zu erziehen, als Exempel statuiert: so sollen unsere neuen Lehrer nicht aussehen, so sehen sie nicht aus.« (Paul Rilla: Vom bürgerlichen zum sozialistischen Realismus. Aufiätze. Leipzig 1967, S. 186.) Vielleicht erklärt sich so auch z. T. die unterschiedliche Wirkung dieser Bearbeitung in der DDR

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und in der nichtsozialistischen Welt. Dort wirkte vor allem die kritische Stoßrichtung gegen ein noch wirklich präsentes konservatives Schulsystem, in der DDR hingegen erschien das Stück als affirmativer Hinweis auf die Bildungsreform. — 30 J. M. R. Lenz: »Über Götz von Berlichingen«. In: J. M. R. Lenz: Werke, a. a. O., S. 403. — 31 Die Schrift »Über die Soldatenehe« wurde wieder abgedruckt in: J. M. R. Lenz: Werke und Briefe in 3 Bänden. Hg. v. S. Damm. Leipzig 1987. Sie illustriert die berechtigte Kritik Lenzens an der Einrichtung der stehenden Heere und nimmt in gewissem Sinne die Idee eines Nationalheeres voraus. Die Reformpläne selbst stießen bereits beim Zeitgenossen Goethe auf Ablehnung, der sie »lächerlich und unausführbar« ( D i c h t u n g und Wahrheit, 14. Buch) fand. Winter weist daraufhin, daß Lenzens Vorschläge nichts am kritisierten Tatbestand geändert hätten, der nur durch die Aufhebung der Ständegesellschaft zu beheben gewesen wäre, während Lenz hier noch eine Art Optimierung des bestehenden Systems im Auge hatte. (Hans-Gerd Winter: J. M. R. Lenz, a.a. O., S. 72 f.) — 32 Kitching weist in seiner Studie nach, daß das Interesse an Lenz über die Bearbeitung Brechts neu geweckt wurde. Und er unterstreicht, daß Brechts Bearbeitung in der DDR weniger fruchtbar war als in anderen Ländern, die eigentlich vom Problem der Reorganisation eines sozialistischen Bildungswesens nun wirklich nicht betroffen waren, was die These von der DDR-Bezogenheit dieser Bearbeitung zusätzlich aushöhlt. »Since that time - and largely thanks to Brecht - Lenz has become the subject of renewed scholarly and editorial interest. In contrast, if the Berliner Ensemble and other theaters in the GDR today take little interest in Brecht s Hofmeister (...) the same is not true in Western theaters, as is obvious from the abundant Performances reviewed in newspaper articles listed in Appendix D.« (Laurence Patrick Anthony Kitching: Der Hofmeister..., a.a.O., S. 161.) — In einem umfangreichen Vergleich zwischen Lenz und Brecht geht Dirk Grathoff davon aus, daß es sich bei Brecht um eine Re-Aristotelisierung und damit um einen »Rückschritt im Fortschritt« handele: »Wenn Brecht also in Lenz einen frühen Vertreter nicht-aristotelischer Dramatik sehen konnte, so ist es umso bemerkenswerter, daß gerade seine Bearbeitung den Lenzschen Hofmeister in allen drei Regelbereichen gewissermaßen wieder re-aristotelisiert. Es mag überraschen, doch anhand der einfachen Regeln der alten (Regel) Poetik läßt sich die Intention von Brechts Bearbeitung deutlich erkennen: sie zielt in jeder Hinsicht (...) auf eine Zurücknahme der Auflösung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung bei Lenz.« (S. 173) (Dirk Grathoff (Hg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode (= Gießener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft Bd. 1)). Frankfurt/M., Bern, New York 1985. - Im Gegensatz dazu möchte ich hier die Modernität Brechts betonen, der sich außerhalb der aristotelischen Ästhetik sah. So ist zu fragen, ob überhaupt von einem traditionellen Handlungsbegriff gesprochen werden kann. Wie in der Interpretation im Text ausgeführt, ging es Brecht um die Verbildlichung einer Problemkonstellation. Daher gewinnen die um das zentrale Symbol der Kastration gruppierten Aktionen einen statischen, eher illustrierenden Charakter, der wesentlich keiner zeitlich-räumlichen Wechsel bedarf. Die Auflösung des Handlungsbegriffs, die Tendenz zum Gleichnishaften und zum zeitlich-räumlich unscharf Definierten teilt hier Brecht mit einem Großteil der avantgardistischen Dramatik des 20. Jahrhunderts.

Jost Hermand

Das Eigene im Fremden Die Wirkung der Exilanten und Exilantinnen auf die amerikanische Germanistik

Lange Zeit haben sich die Exilforscher, und zwar mit unermüdlichem Eifer, fast ausschließlich mit der imponierenden Reihe jener Dichter und Dichterinnen beschäftigt, die nach 1933 aus politischen oder rassischen Gründen Deutschland verlassen mußten. Erst in den letzten 10 bis 15 Jahren ist die gleiche Forschergruppe auch auf die Mehrheit der Nichtschriftsteller eingegangen, die nach 1933 aus den gleichen Gründen exiliert wurden. Dabei hat sich herausgestellt, daß — im Gegensatz zu der geradezu unübersehbaren Zahl deutsch-jüdischer Kaufleute, Arzte und Anwälte, aber auch deutscher und deutsch-jüdischer Naturwissenschaftler, Soziologen, Nationalökonomen, Psychiater, Historiker, Gymnasiallehrer, Journalisten und Politiker 1 - die Zahl der deutschen oder deutsch-jüdischen Germanisten und Germanistinnen, die sich dem Zugriff der nationalsozialistischen Behörden durch eine Flucht ins Ausland zu entziehen versuchten, relativ klein war. 2 Doch das sollte niemanden verwundern. Schließlich hatten viele Vertreter und Vertreterinnen dieses Fachs aufgrund ihrer Abneigung gegen den »liberalen«, das heißt in ihren Augen materialistisch-egoistischen »Ungeist« der Weimarer Republik schon vor 1933 eine nationalkonservative, ja chauvinistisch-reaktionäre Gesinnung an den Tag gelegt, die sich durchaus als »präfaschistisch« bezeichnen läßt und daher nach der Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 bruchlos in der Ideologie des »Dritten Reiches« aufging. 3 Berufsgermanisten oder-germanistinnen, die in Deutschland oder Osterreich bereits eine Professur oder Dozentur innegehabt hatten, waren demzufolge unter den Exilierten nicht gerade häufig. Zu Anfang gehörten dazu lediglich Richard Alewyn (a. o. Prof. Heidelberg), Walter A. Berendsohn (a. o. Prof. Hamburg), Melitta Gerhard (Priv. Doz. Kiel), Wolfgang Liepe (ord. Prof. Kiel), Werner Richter (ord. Prof. Berlin), Hans Sperber (a.o. Prof. Köln) und Marianne Thalmann (Priv. Doz. Wien). Kurz darauf folgte ihnen eine Reihe jüngerer Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, die wie Ludwig Kahn, Wolfgang Paulsen und Oskar Seidlin in der Schweiz promovierten, wie Claus Victor Bock, Charlotte Jolles, Siegbert Salomon Prawer, Hans Siegbert Reiss und Joseph Peter Stern nach England flüchteten, wie Richard Samuel nach Australien verschlagen wurden, wie Hans Eichner in Kanada landeten, wie Richard Thieberger nach Frankreich gin-

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gen oder wie Walter A. Berendsohn, Käte Hamburger und Johannes Klein ihre Zuflucht in Schweden suchten. 4 Die überwältigende Mehrheit innerhalb dieser Berufsgruppe, ohne die sich eine Beschäftigung mit der Germanistik im Exil kaum lohnen würde, ging hingegen in die USA. Zu ihr gehörten unter den bereits Genannten nicht nur Alewyn, Gerhard, Kahn, Liepe, Paulsen, Richter, Seidlin, Sperber und Thalmann, sondern auch Bernhard Blume, Dieter Cunz, Lieselotte Dieckmann, Curt Faber du Faur, Wolfgang Fleischhauer, Norbert Fuerst, Claude Hill (Klaus Hilzheimer), Hedda Korsch, Gerhard Loose, Ludwig Marcuse, Franz Mautner, Walter Naumann, Walter Perl, Ernst Philippson, Konstantin Reichardt, Arno Schirokauer, Stefan Schultz und Felix Wassermann, die bereits mit einem Dr. phil. in die Vereinigten Staaten kamen, sowie Franz Bäuml, Helmut Boeninger, Marianne Bonwit, Dorrit Cohn, Peter Demetz, Wolfgang Fleischmann, Lilian Fürst, Lieselotte Gumpel, Ulrich Goldsmith, Peter Heller, Frank Hirschbach, Lida Kirchberger, Ruth Angress (später Ruth Klüger), Herbert Lederer, Michael Mann, Michael Metzger, Heinz Politzer, Henry H. H. Remak, Peter Salm, Eva Schiffer, Egon Schwarz, Christoph Schweitzer, Walter Sokel, Guy Stern, Werner Vordtriede, Gerhard Weiss und Harry Zohn, die ihr Studium erst in diesem Land begannen oder fortsetzten, bevor sie - mit einem Ph.D.-Degree in der Tasche - an amerikanischen Universitäten oder Colleges zu unterrichten begannen, wobei sie meist mit Sprachkursen anfingen und erst nach mehreren Probejahren auch Literaturvorlesungen oder -Seminare geben durften. Vor allem nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Zahl der Exilanten unter den amerikanischen Germanisten und Germanistinnen ständig größer, zumal sich auch einige Schriftsteller, Journalisten, Anwälte oder Ehefrauen vertriebener Akademiker, für die sich in diesem Lande keine anderen Berufsmöglichkeiten eröffneten, wegen ihrer deutschen Sprach- und Literaturkenntnisse nach diesem Zeitpunkt entschlossen, sich an den zahlreichen »Deutschabteilungen«, wie sie unter den Exilanten hießen, nach möglichen Stellen umzusehen. 5 Was sie in diesen Departments vorfanden, war eine Form der Germanistik, die mehrheitlich noch immer ein »wilhelminisches« Gepräge trug. Das hängt weitgehend damit zusammen, daß in der politischen Imagebildung Amerikas das Deutschland vor 1914 weiterhin als das »gute, alte Deutschland« galt, an dessen Stelle erst im Ersten Weltkrieg ein räuberisch-aggressives Deutschland, ein Deutschland der Militanz, getreten sei, was 1917, bei Kriegseintritt der USA, zu gewaltigen Haßentladungen gegen alles Deutsche, darunter der Schließung vieler German Departments und deutschsprachiger Lehrerseminare geführt hatte. 6 Dieser Schock saß vielen in Amerika geborenen Germanisten, die 1917 ihre Jobs verloren und erst im Laufe der zwanziger Jahre an den wiedereröffneten German Departments erneut

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Anstellungen gefunden hatten, noch tief in den Knochen. Sie gaben sich darum nach 1933 die größte Mühe, der Gefahr neuer Haßausbrüche gegen Deutschland mit einer sorgfältig taktierenden, sprich: abwiegelnden Haltung entgegenzutreten, indem sie das neue Reich nicht von vornherein als eine kriegslüsterne und antisemitische Gewaltherrschaft verteufelten, dem die USA mit einer auf die Einhaltung der Menschenrechte pochenden Haltung entgegentreten müßte. Im Sinne dieser Einstellung rückten sie im Literaturunterricht vor allem die als unpolitisch geltenden klassisch-romantischen Werke von Goethe, Schiller, Novalis und Eichendorflf sowie jene Werke innerhalb der neueren deutschen Literatur in den Vordergrund, in denen sich ein spezifisch »deutsches« Traditionsbewußtsein in der Art von Paul Ernst, Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer, Agnes Miegel, Börries Freiherr von Münchhausen, Wilhelm Schäfer, Ina Seidel und Hermann Stehr manifestiere, die man in ihrer nationalkonservativen Art nicht mit den Fanatikern der nationalsozialistischen Bewegung verwechseln dürfe.7 Alle betont »modernistischen« Literaturformen des Expressionismus und der Weimarer Republik, vor allem, wenn sie von jüdischen Autoren oder Autorinnen stammten, ließen dagegen die amerikanischen Germanisten und Germanistinnen der dreißiger Jahren weitgehend unberücksichtigt. Erst nach dem 11. Dezember 1941, also dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, änderte sich diese Situation in den amerikanischen German Departments allmählich. So traten etwa die nationalkonservativen Autoren, welche die deutsch-jüdischen Exilanten und Exilantinnen schon vor 1941 nicht besonders geschätzt hatten, nach diesem Zeitpunkt im Literaturunterricht sowie in germanistischen Fachzeitschriften wie den Monatsheften zusehends in den Hintergrund. Und auch in den Sprachabteilungen vollzogen sich nach 1941 Wandlungen, welche sich für diese Gruppe günstig auswirkten. Schließlich entschieden sich - im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg - die USA diesmal, nach dem Ende der Kampfhandlungen als Besatzungsmacht in Deutschland zu bleiben und durch eine geschickt aufgezogene Propaganda des »American Way of Life« auch in diesem Land eine politische und kulturelle Demokratisierung in die Wege zu leiten.8 Während also gegen Ende des Ersten Weltkrieges, als in den Vereinigten Staaten noch die Ideologie des Isolationismus eine wichtige Rolle spielte, 22 Bundesstaaten den Unterricht der deutschen Sprache gesetzlich verboten hatten, richteten jetzt — im Zuge globaler Herrschaftsstrategien — sowohl die amerikanischen Universitäten als auch mehrere Abteilungen der US-Army eine Reihe groß aufgezogener Programme zum Erlernen der deutschen Sprache ein, die auch vielen aus Zentraleuropa Vertriebenen die Chance gaben, sich als Sprachlehrer oder -lehrerinnen zu betätigen und damit zu Mitgliedern der bestehenden German Departments zu werden, um so möglichst viele deutschsprechende oder zumindest deutschverstehende Soldaten heranzubilden,

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welche nach dem Krieg auf dem Restterritorium des »Dritten Reichs« stationiert werden sollten. 9 Uberhaupt verbesserten sich die Berufsaussichten der sich in den USA aufhaltenden Exilanten, die dort weitgehend als »Alien Residents« mit der obligaten »Green Card« lebten, nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten geradezu von Jahr zu Jahr, zumal zur selben Zeit der latente oder auch offene Antisemitismus, der in den dreißiger Jahren durch die wirtschaftliche Notsituation der weiterwirkenden Weltwirtschaftskrise einen neuen Auftrieb erhalten hatte 10 , im Zuge der ökonomischen Konjunktur durch eine größere ideologische Toleranz abgelöst wurde, die auch Juden, selbst wenn sie im damaligen Sinne »links« eingestellt waren, den Zugang zu den Universitäten erleichterte. Doch diese ideologische Offenheit währte nur wenige Jahre, da es im Zuge des nach 1946/47 einsetzenden Kalten Krieges gegen die Sowjetunion in den USA abermals zu einer ideologischen Vereinseitigung kam. Allerdings waren es diesmal nicht die Juden, sondern die »Kommies«, »Pinkos« und ihre »Fellow Travellers«, gegen die sich der Hauptzorn der durch die Massenmedien angeheizten Haßkampagnen richtete." Das hatte zwar für die amerikanische Germanistik, die sich ohnehin im Rahmen systemkonformer Normen bewegte, keine unmittelbar gefährlichen Auswirkungen, führte aber auch hier - vor allem nachdem sich »Joe« McCarthy, einer der Senatoren aus Wisconsin, in den frühen fünfziger Jahren in diese Verfolgungen und Säuberungen einmischte — zu einer merklichen Verengung der literarischen Interessen und politischen Parteinahmen, mit anderen Worten: einer verstärkten Dominanz jener klassisch-romantischen Traditionen, die nach alter Tradition als »konservativ« und demzufolge »unpolitisch« galten. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Jahr 1949, wo es auf den weithin beachteten Goethe-Feiern, die völlig im Zeichen einer dem gesellschaftlichen Status quo verpflichteten Demokratievorstellung standen, zu einer Reihe scharfer Ausfälle gegen alles »Linke« kam. Sogar die deutsch-jüdischen oder österreichisch-jüdischen Exilanten und Exilantinnen, die in diesen Jahren in der amerikanischen Germanistik Unterschlupf fanden, lehnten sich nur in den seltensten Fällen gegen diese Entwicklung auf. Vor allem jene, die einmal — wie Oskar Seidlin - in ihren Anfängen »linken« Anschauungen nahegestanden hatten, paßten sich in den frühen fünfziger Jahren immer stärker den gewandelten politischen Verhältnissen an, um nicht auf ihre Vergangenheit überprüft zu werden. Und das hatte seine Konsequenzen. So stand zwar diese Schicht der faschistischen Politik höchst kritisch, ja zornerfüllt gegenüber und bekannte sich in den USA zu allen liberalen Anschauungen und Institutionen, die ihr eine ideologische und berufliche Assimilation, wenn nicht gar Integration erlaubten, hielt aber auf literarischem Sektor vornehmlich jene Meisterautoren der deutschen Literatur in Ehren, die sich in ihren Dramen, Gedichten und Romanen nicht

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in die »Niederungen« der Politik eingelassen, sondern mit höchsten poetischen und philosophischen Ansprüchen das Existentielle, Universale oder Allgemein-Menschliche anvisiert hatten. Und damit näherten sie sich schrittweise jener literaturtheoretischen Sichtweise an, die von amerikanischen Literaturwissenschaftlern wie Cleanth Brooks, William Empson, John Crowe Ramson, Allen Täte und Robert Penn Warren damals als »New Criticism« bezeichnet wurde und auch in diesen Bereichen zu einer deutlichen Ontologisierung der wissenschaftlichen Deutungsmuster von Literatur geführt hatte. Auf diese Weise kam es zwischen diesen beiden Gruppen in methodologischer Hinsicht bald zu einer deutlichen Konvergenz, zumal sich die deutsch- oder österreichisch-jüdische Exilantengruppe im Laufe der Jahre auch sprachlich immer stärker assimilierte und in auf Englisch erscheinenden Zeitschriften zu publizieren begann. 12 Nur in einem Punkt empfand diese Schicht anders als die Mehrheit der in Amerika geborenen Germanisten und Germanistinnen wie auch der Vertreter und Vertreterinnen anderer literaturwissenschaftlicher Disziplinen. Sie huldigte zwar ebenfalls dem in den USA anerkannten Kanon der sogenannten Meisterwerke der mittelhochdeutschen Klassik, der Goethe-Zeit, der Romantik, des poetischen Realismus und einiger ausgewählter Autoren der Zeit um 1900, den sie — unter Auslassung aller »linken« Autoren — lediglich um Schriftsteller wie Hermann Broch, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Karl Kraus, Thomas Mann, Robert Musil, Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Franz Werfel erweiterte, konnte sich aber wegen ihrer deutsch-österreichischen Bildungstraditionen nicht mit der angeblichen »Kulturlosigkeit« der USA abfinden. Die Angehörigen dieser Schicht fanden zwar, wenn sie unter sich waren, daß man in den Vereinigten Staaten vielen »lieben Menschen« (»nice people«) begegne, die aber »halt keine Kultur hätten« 13 , da in diesem Lande alles noch so unausgereift oder bereits überkommerzialisiert sei. Und dadurch setzte sich in ihren Köpfen eine starre Dichotomie fest: Deutschland = katastrophale Politik, aber höchste Kultur, USA = demokratische Politik, aber weitgehende Kulturlosigkeit. Aus diesem Grunde entschieden sich die meisten von ihnen, zumal sie außer Alewyn und Liepe kaum Remigrationsangebote bekamen 1 4 , Bürger oder Bürgerinnen der »Neuen Welt« zu werden, lebten aber in ihrem Denken weiterhin im »Haus der deutschen Sprache und Kultur«. Doch diese Haltung machte sie an einigen Universitäten der USA, besonders denen der Ivy League der Nordoststaaten, wo ein ebenso bildungsbetont-elitärer Geist herrschte, der sich allerdings weniger an deutschen als an englischen oder französischen Vorbildern orientierte, keineswegs zu Außenseitern. Als nämlich dort, wie gesagt, in den vierziger und frühen fünfziger Jahren — aus Affekt gegen die sozialengagierten Tendenzen der von der Weltwirtschaftskrise geprägten »Red Decade« zwischen 1929 und 1939 - der

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sogenannte New Criticism zur fuhrenden literaturwissenschaftlichen Methodologie aufstieg, der ebenfalls zwischen Politik, Geschichte und Gesellschaft auf der einen Seite und angeblich autonomer, großer, ja größter Dichtung auf der anderen einen scharfen Trennungsstrich zog, kam es zwischen den zentraleuropäisch-jüdischen Bildungsbürgern unter den Exilanten und jenen Amerikanern, die immer noch auf H. L. Mencken schworen, der einmal in den zwanziger Jahren voller Haß auf das mangelnde Niveau der amerikanischen Kultur gesagt haben soll: »No one ever went bankrupt in the United States, underestimating the taste of the general public«, zu einer unübersehbaren Symbiose. Die von dem deutschsprachigen Tschechen René Wellek und dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Austin Warren zwar schon 1942 geschriebene, aber erst in den fünfziger Jahren in vielen Auflagen erschienene Theory of Literature wirkt daher wie ein Werk aus einem Guß. Beide, der aus dem Zirkel des Prager Strukturalismus kommende Refugee und der auf den Formalismus des amerikanischen New Criticism eingeschworene Amerikaner, sprachen sich in diesem Werk bei der Betrachtung von Literatur in aller Entschiedenheit gegen die Berücksichtigung sogenannter »extrinsic values« aus und wandten sich fast ausschließlich jenen sogenannten »intrisic values«, das heißt Dingen wie Sprache, Stil, Rhythmus, Metrik, Metapher oder Symbol zu, aus denen sich die eigentliche Form- oder Gestaltqualität aller großen literarischen Werke konstituiere.15 Demzufolge interessierten Wellek und Warren inhaltliche Faktoren wesentlich weniger als die Erfindung, das Erdichtete, die poetische Einbildungskraft. Literatur war für sie in erster Linie nichts als Literatur und besaß als solche ihre eigene Logik. Ihr mit einem aus der gesellschaftlichen Realität entlehnten Wahrheitsbegriff näherkommen zu wollen, lehnten sie deshalb als einen Verstoß gegen die Eigentlichkeit des genuin Dichterischen ab. Zugegeben, bei manchen der aus Zentraleuropa — ob nun aus Deutschland, Osterreich oder der Tschechoslowakei — vertriebenen Literaturwissenschaftlern wie Bernhard Blume, Dieter Cunz, Peter Demetz, Peter Heller, Wolfgang Paulsen, Heinz Politzer, Walter Sokel, Werner Vordtriede und anderen wirkten während der fünfziger Jahre in ihren Dissertationen oder Lehrveranstaltungen auch einige geistesgeschichtliche, philosophische, ja sogar politische Aspekte nach.16 Allerdings waren diese meist »konservativer« Art, jedenfalls was man damals darunter verstand, und machten selbst bei ihnen im Laufe der Zeit zusehends einer formanalytischen Betrachtungsweise Platz, die in den gleichen Jahren in der westdeutschen Germanistik in Anlehnung an Paul Böckmann, Wolfgang Kayser, Günther Müller und Emil Staiger, die sich nach mehr oder minder belastenden Abstechern ins Faschistische in den »harmlosen« Bereich sogenannter kunstgemäßer Analysen zurückgezogen hatten — als »werkimmanent« bezeichnet wurde.17 Doch wie dem auch sei, ob nun geistesgeschichtlich, philosophisch oder formal-

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ästhetisch ausgerichtet: was alle diese aus Europa vertriebenen Germanisten und Germanistinnen teilten, war ihre gleichbleibende Hochachtung aller großen, in sich stimmigen Kunstwerke, die ihnen in einer Welt der politischen, sprich: deutschen, und einer Welt der kulturindustriellen, sprich: amerikanischen »Barbarei« als Garanten einer wahren Humanität erschienen, mit deren Hilfe sie sich in Momenten des Mißmuts, der Trauer oder der Verzweiflung als Zeugnissen wahrer »Kultur«, das heißt des Unvergänglichen, Wertestiftenden, Klassischen, kurz: des Höchsten im Leben wieder aufzurichten versuchten, um so über den Verlust ihrer Heimat und zugleich ihrer bisherigen Identität hinwegzukommen. Was die Vertreter und Vertreterinnen dieser Gruppe damals als Privatpersonen dachten oder fühlten, läßt sich heute — nachdem ein Großteil von ihnen bereits gestorben ist — kaum noch ermitteln. Und doch ist ein solcher Rekonstruktionsversuch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Schließlich haben wir ja — neben einzelnen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen - noch immer jene Schriften auf den Regalen unserer Bibliotheken stehen, die sie in den fünfziger und sechziger Jahren veröffentlichten. Genauer betrachtet, reden diese eine nur allzu deutliche Sprache. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich auch mit Fragen des Exiliertseins — wie die von Egon Schwarz mit Matthias Wegner 1964 herausgegebene Anthologie Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil— sowie mit Fragen der jüdischen Herkunft - wie die Bücher Wiener Juden in der deutschen Literatur (1964) und Osterreichische Juden in der Literatur ( 1969) von Harry Zohn - beschäftigten, blieben fast alle diese Veröffentlichungen im bereits erwähnten Bereich des »Unpolitischen«. Immer wieder bekannten sich ihre Autoren und Autorinnen zu Goethe, den deutschen Romantikern, Grillparzer, den poetischen Realisten, den Lyrikern der Jahrhundertwende, zu österreichischen Autoren wie Broch, Kafka und Kraus sowie zu Stefan George und Thomas Mann, an denen sie vor allem die Größe ihrer poetischen Einbildungskraft und damit das Essentielle, Unvergängliche ihrer Werke herausstrichen. Dafür sprechen vor allem folgende Publikationen, welche die exilierten Germanisten und Germanistinnen in den fünfziger und sechziger Jahren entweder in den USA oder in Westdeutschland herausbrachten und die damals als durchaus »repräsentativ« für diese Gruppe galten: Thomas Mann und Goethe (1949) von Bernhard Blume, Der leidende Dritte. Das Problem der Entsagung im bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts (1952) von Marianne Bonwit, The Sleepwalkers: Elucidations of Hermann Broch' s Trilogy (1966) von Dorrit Cohn, Goethes »Die Aufgeregten« (1952), René Rilkes PragerJahre ( 1953) und Formendes Realismus: Theodor Fontane ( 1964) von Peter Demetz, Goethes »Faust« (1972) und Johann Wolfgang Goethe (1974) von Lieselotte Dieckmann, Phases of Rilke (1958), Grillparzer auf der Bühne

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(1958) und The Victorian Age of German Literature (1966) von Norbert Fuerst, Schiller (1950), Stefan George (1962) und Leben im Gesetz. Fünf Goethe-Aufsätze (1966) von Melitta Gerhard, Stefan George: A Study ofhis Early Work{ 1959) und Stefan George {1970) von Ulrich Goldsmith, Dialectics and Nihilism: Essays on Lessing, Nietzsche, Mann, and Kafka ( 1966) von Peter Heller, The Arrow and the Lyre: A Study of the Rôle ofLove in the Works of Thomas Mann (1955) von Frank Hirschbach, Goethe (1968) von Victor Lange, Thomas Mann and the Problem of Decadence (1941) und Franz Kafka und Amerika (1968) von Gerhard Loose, Mörikes »Mozart auf der Reise nach Prag« (1957) und Lichtenberg ( 1968) von Franz Mautner, Lessing and the Language of Comedy ( 1966) und Stefan George ( 1972) von Michael Metzger, Die »Ahnfrau«. Zu Grillparzers früher Dramatik (1962) und Eichendorff und sein »Taugenichts« (1975) von Wolfgang Paulsen, Thomas Mann 1933—1945. Vom deutschen Humanisten zum amerikanischen Weltbürger (1945) und Leopold Andrian und die »Blätterfür die Kunst« ( 1960) von Walter Perl, The Poem as a Plant: A Biological View ofGoethe's »Faust« ( 1971 ) von Peter Salm, Zwischen den Zeilen. Manuskriptänderungen bei Thomas Mann (1982) von Eva Schiffer, Hofmannsthal und Calderon (1962) und Joseph von Eichendorff (1972) von Egon Schwarz, Von Goethe zu Thomas Mann (1963), Versuche über Eichendorff (1965) und Klassische und moderne Klassiker: Goethe, Brentano, Eichendorff Gerhart Hauptmann, Thomas Mann ( 1972) von Oskar Seidlin, Franz Kafka — Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst (1964) von Walter Sokel, Ludwig Tieck (1960), Zeichensprache der Romantiker (1967) und Romantiker als Poeto logen ( 1970) von Marianne Thalmann, The Conception ofthe Poet in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George (1944) und Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte des dichterischen Symbols (1963) von Werner Vordtriede, Die Prosawerke Werner Bergengruens (1956) von Gerhard Weiss sowie Karl Kraus (1971) von Harry Zohn. Die Wirkung dieser Publikationen auf die amerikanische Germanistik bzw. Literaturwissenschaft im weiteren Sinne blieb — von einigen komparatistischen Impulsen, die von Peter Demetz, Henry H. H. Remak 18 und Werner Vordtriede wie auch dem Romanisten Erich Auerbach ausgingen, einmal abgesehen — recht minimal. Schließlich waren die Sehweisen, die sie vertraten, auch die Sehweisen der meisten amerikanischen Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, die - nach Abstechern ins »Linke« während der dreißiger Jahre - in diesem Zeitraum ebenfalls einem Kult der literarischen Vollkommenheit huldigten und sich in bewußter Abkehr von allen biographischen, soziologischen oder gar politischen Voraussetzungen auf das beschränkten, was Thomas Stearns Eliot, der Säulenheilige dieser Richtung, einmal als die »Ortlosigkeit« und vor allem »Zeitlosigkeit« aller wahrhaft hohen Kunst bezeichnet hat. 19 Um nur ja keiner »fallacy of communica-

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tion« zu verfallen, die den Kunstcharakter der jeweils ins Auge gefaßten Dichtung zerstören würde, blieben die New Critics absichtlich bei völlig neutralen, das heißt ins Poetische erhöhten, ja überhöhten Begriffsbildungen. Statt sich auch mit der »meaning« eines bestimmten literarischen Werkes auseinanderzusetzen, interessierten sie sich vornehmlich für die Gestalt gewordene Form als solche, die sie als wesentlich aussagekräftiger hinstellten als eine philosophische Idee, einen journalistischen Leitartikel oder ein politisches Manifest. Solche Theorien mußten auf viele der exilierten Germanisten und Germanistinnen sowie jene, die erst in den USA diesen Beruf ergriffen hatten, eine große Anziehungskraft ausüben. Während sich die Amerikaner und Amerikanerinnen mit Ansichten dieser Art von den »linken« Ansichten der »Red Decade« zu distanzieren versuchten, benutzten die in Zentraleuropa Geborenen die gleichen Ansichten, um sich — unter Zuhilfenahme der gängigen Totalitarismustheoreme der fünfziger Jahre - mit ihnen sowohl von den roten als auch den braunen Literaturtheorien der unmittelbaren Vergangenheit abzusetzen und in den angeblich unpolitischen Freiraum einer von allen Schlacken der schlechten Realität gereinigten Ästhetik auszuweichen, wo sie keine weiteren ideologischen Verstrickungen mehr zu befürchten hatten. Und damit gaben sie auf der Ebene ihrer beruflichen Tätigkeit, das heißt ihrer Publikationen und Lehrveranstaltungen, ihre Exilexistenz zusehends auf und wurden zu mehr oder minder wohlintegrierten amerikanischen Literaturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die zwar weiterhin die Meisterwerke der deutschen Literatur verehrten, um sich so einen Rest an europäischer Identität zu bewahren, sich aber sonst relativ eng an die in den Vereinigten Staaten herrschende Literaturwissenschaft anschlössen. Damit war jedoch die Geschichte der Wirkung bzw. der mangelnden Wirkung der deutschsprachigen Exilanten und Exilantinnen auf die amerikanische Germanistik noch keineswegs zu Ende. In den späten fünfziger bzw. sechziger Jahren setzte nämlich auf diesem Gebiet eine völlig neue Entwicklung ein, durch die — neben den unpolitischen und konservativen Autoren - endlich auch die linksliberalen und linken Exilautoren die ihnen gebührende Würdigung erfuhren. Dieser Trend ging - paradoxer bzw. nichtparadoxer Weise — weniger von den zentraleuropäisch-jüdischen Exilgermanisten und -germanistinnen als von jenen liberalen bis linksliberalen Vertretern und Vertreterinnen dieses Faches aus, die in diesem Zeitraum mehr oder minder freiwillig aus der ehemaligen Bundesrepublik in die USA einwanderten und sich dort — im Zuge einer vertieften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands — auch Exilschriften zuwandten, welche die konservativen Germanisten und Germanistinnen, ob nun deutscher, zentraleuropäisch-jüdischer oder amerikanischer Herkunft, bisher fast ausnahmslos gemieden hatten, weil sie ihnen im McCarthy-Klima der fünf-

166 Jost Hermand ziger Jahre als zu »links« erschienen waren. Zu dieser Gruppe jüngerer Westdeutscher, die weitgehend im Gefolge des Sputnik-Schocks von 1957 sowie der universitären Expansion seit der Mitte der sechziger Jahre in die USA einwanderten, gehörten vor allem Klaus L. Berghahn, Reinhold Grimm, Horst Denkler, Walter Hinderer, Peter Uwe Hohendahl, Andreas Huyssen, Anton Kaes, Klaus Peter, Jochen Schulte-Sasse, Ernst Schürer, Alexander Stephan, Frank Trommler, Rudolf Vaget, ich und mancher andere. Ich will diese Germanisten keineswegs über einen Kamm scheren, aber sie hatten doch einiges gemeinsam. Im Gegensatz zu den Vertretern und Vertreterinnen der älteren Exilgeneration waren sie nicht mehr so stark auf die großen Meisterwerke der deutschen Literatur von Goethe und Eichendorff bis zu Stefan George, Thomas Mann und Franz Kafka fixiert, sondern hatten als Sympathisanten der sich während der sechziger Jahre in Westdeutschland — in Opposition zur werkimmanenten Methode — entwickelnden sozialliterarischen Sicht keine Scheu, sich auch mit zweit- oder drittrangigen Literaturwerken sowie politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Texten zu beschäftigen. Was sie interessierte, war weniger die ästhetisch erhebende als die gesellschaftlich, ideologisch und damit politisch eingreifende Funktion von Literatur. Wie viele der westdeutschen Achtundsechziger und DDR-Theoretiker verwarfen sie demzufolge alle bisherigen auf die Kunst bezogenen Autonomievorstellungen und entwickelten ein ideologiekritisches Instrumentarium, mit dem sie sowohl an die von den Exponenten des werkimmanenten New Criticism als Exempla classica verehrten Meisterwerke der deutschen Dichtung als auch an die von den Vertretern der gleichen Richtung als »Grundsuppe« abqualifizierten Werke der sogenannten Trivialliteratur herangingen. Im Hinblick auf eine genauere Erkenntnis der politischen und sozialliterarischen Entwicklung war für sie alles Geschriebene erst einmal Literatur oder besser: literarisches Dokument, und zwar gleichviel, wie »hoch« oder »niedrig« die von ihnen ins Auge gefaßten Werke im Rahmen der älteren Germanistik bisher eingeschätzt worden waren. Daß diese westdeutschen Neuankömmlinge ihre ideologiekritische Sonde sogar an die bisher als sakrosankt geltende Goethe-Zeit ansetzten, wie das 1970 auf dem in Madison (Wisconsin) abgehaltenen Workshop »Die Klassik-Legende« geschah20, mußte daher viele der bis dahin maßgeblichen Vertreter der germanistischen Hochkultur in den Vereinigten Staaten, wie Oskar Seidlin, zutiefst verbittern. Und doch hatte auch diese Gruppe durchaus ein hochkulturelles Literaturkonzept, wenn auch eher in einem bildungspolitischen als einem formalästhetischen oder existentiellen Sinn. Sie wollte den älteren Kanon nicht einfach demolieren oder völlig ad acta legen, wie ihr häufig von den auf Erhaltung des »unpolitischen« Status quo bedachten Konservativen vorgeworfen wurde, sondern lediglich in einem linkskritischen Sinn gegen den Strich bür-

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sten. Ihre Sympathie galt daher weniger literarischen Größen wie Goethe, Novalis, Brentano, Tieck, Eichendorff, Mörike, Grillparzer, Hebbel, Conrad Ferdinand Meyer, Stefan George, Rilke, Hofmannsthal, Broch, Kafka oder Thomas Mann, den Lieblingen der in der amerikanischen Germanistik tätigen Exilgeneration, als Lessing, Wieland, den deutschen Jakobinern, Schiller, Heine, den Jungdeutschen, den Achtundvierzigern, den Naturalisten, Heinrich Mann, den linken Expressionisten, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Anna Seghers und Arnold Zweig, kurz: jenen Autoren und Autorinnen, die sich innerhalb Deutschlands oder im Exil - entgegen allen Tendenzen ins Beharrende, Rückwärtsgewandte oder gar Faschistische — für eine Wendung ins Aufgeklärte, Linksliberale oder Sozialistische eingesetzt hatten. So beschäftigte sich Klaus L. Berghahn mit Lessing und Schiller, Walter Hinderer mit Wieland, ich mit den Jakobinern, Jungdeutschen und Naturalisten, Horst Denkler mit den Achtundvierzigern, Peter Uwe Hohendahl mit Heine, Frank Trommler mit der sozialistischen Literatur, Reinhold Grimm mit Bertolt Brecht und Alexander Stephan mit Anna Seghers — um nur ein paar Beispiele herauszugreifen. Doch nicht nur das, diese Gruppe setzte sich zugleich erstmals für die Schriften linksorientierter zentraleuropäisch-jüdischer Exilpolitiker, Exilsoziologen, Exilhistoriker, Exilphilosophen und Exilpsychoanalytiker wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Magnus Hirschfeld, Max Horkheimer, Karl Korsch, Siegfried Kracauer, Leo Loewenthal, Georg Lukäcs, Herbert Marcuse, Hans Mayer, Wilhelm Reich usw. ein, denen die auf den goethezeitlichen Humanismus eingeschworenen Germanisten und Germanistinnen der älteren Exilgeneration — entweder aus Unkenntnis, ideologischer Abneigung oder unter dem Druck der McCarthy-Ära - mehrheitlich aus dem Wege gegangen waren. Auf diese Weise bildete sich innerhalb der amerikanischen Germanistik zwischen 1967/68 und 1975 eine Gruppe gesellschaftskritisch engagierter Jungakademiker heraus, welche - nach der Uberwindung der ersten Sprachschwierigkeiten - mit einer Reihe jüngerer amerikanischer Germanisten, die von der Civil Rights Movement oder der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung herkamen und sich seit der Gründung der Zeitschrift Studies on the Left 1959 als Vertreter und Vertreterinnen der internationalen »New Left« verstanden21, eine Art Solidarpakt schloß. Wohl ihren besten Ausdruck fand diese linksliberale Symbiose auf den beiden ersten Kongressen, die sich 1971 in Madison (Wisconsin) und St. Louis (Missouri) mit Problemen der deutschen Exilliteratur auseinandersetzten und die zu den ersten Tagungen dieser Art in der Welt gehörten. An ihnen nahmen als Sprecher unter anderem David Bathrick, David Bronsen, Reinhold Grimm, Hans Mayer, George L. Mosse, Werner Röder, Klaus Schröter, Egon Schwarz, John M. Spalek, Guy Stern, Frank Trommler, Hans-Albert Walter, Ulrich Weisstein und ich teil. Im selben Jahr wurde das Jahrbuch der

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Internationalen Bertolt-Brecht-Gesellschaft unter dem Titel Brecht heute — Brecht Today gegründet, das von dem Brecht-Ubersetzer Eric Bentley, dem damaligen Brecht-Schwärmer John Fuegi sowie von Reinhold Grimm und mir herausgegeben wurde. Die gleiche ideologische Haltung stand hinter der 1973 in Madison von David Bathrick, Andreas Huyssen, Anson Rabinbach und Jack Zipes ins Leben gerufenen Zeitschrift New German Critique, die sich weniger mit den goethezeitlich-romantischen, sprich: idealistischen als den materialistisch-linkskritischen Traditionen Deutschlands beschäftigte und diese in die politische und kulturtheoretische Diskussion der amerikanischen Neuen Linken einzubringen versuchte. Und damit begann in vielen German Departments der USA erstmals eine breitgefächerte Auseinandersetzung mit dem bisher fast total übersehenen oder bewußt verdrängten linken Flügel der deutschen Exilliteratur zwischen 1933 und 1950 sowie den sie flankierenden politischen, philosophischen, kulturtheoretischen, soziologischen und psychoanalytischen Schriften, welche die älteren Exilgermanisten und -germanistinnen, falls sie überhaupt Notiz davon nahmen, von vornherein als »nichtliterarisch« oder »totalitaristisch« abgelehnt hatten. Auf das Literaturkonzept dieser linksliberalen Gruppe hatte das folgende Auswirkungen. Einerseits interessierte sie sich — wie die sozialistisch-antifaschistischen Exilautoren und -autorinnen der dreißiger und frühen vierziger Jahre — wesentlich stärker für alle in die Politik eingreifenden Zweck- und Gebrauchsformen als die älteren Konservativen, andererseits hielt sie mit betont »fortschrittlicher« Akzentsetzung an den Hochkulturvorstellungen der Aufklärer, Linksliberalen und Sozialisten fest, denen es in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert keineswegs um die Eliminierung aller höheren Formen von Kultur, sondern im Hinblick auf die Schaffung der »einen großen, gebildeten Nation« um die Höherbildung der unterprivilegierten Klassen gegangen war, wie sich schon bei Franz Mehring nachlesen läßt.22 Der »linke«, von den antifaschistischen Exilschriften inspirierte Gegenschlag auf die bisherige kunstautonome Verkultung der deutschen Klassik und Romantik, zu dem diese Gruppe ausholte, hatte daher selten vandalistische Züge, sondern versuchte lediglich, die andere, die progressivere Linie der deutschen Literatur herauszustellen und diese — im Sinne der »Fortschritts«-Konzepte eines Georg Lukäcs oder der »Vorschein«-Ästhetik von Ernst Bloch — im Zuge einer kritischen Aneignung auf die Probleme der eigenen Situation zu beziehen. Für diese Richtung war also selbst die hohe Literatur nichts Abgehobenes, Ewiges, Existentielles, sondern-wie alle Formen von Kultur—etwas im dialektischen Strom der Zeit Befindliches, das politisch unter den gleichen Entscheidungszwängen steht, die sich in allen geistigen und kulturellen Produkten bestimmter Epochen manifestieren. Das entscheidende Kriterium bei der Beurteilung von Kunstwerken wurde deshalb im Rahmen dieser Gruppe der in ihnen enthaltene entwicklungsfördernde Charakter, das

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heißt ihr Funktionswert innerhalb jener aufklärerischen Etappenfolge eines ins Linke gewendeten Weltgeistes, dem ein nach vorn, ins Andere, Bessere gerichtetes teleologisches Staffettenprinzip zugrunde liegt. W i e schon auf dem linken Flügel der deutschen Exilautoren und -autorinnen der dreißiger und vierziger Jahre wurden demzufolge von dieser Gruppe, die erstmals das ins Politisch-Aktive zielende Erbe des deutschen Exils anzutreten versuchte, alle ins Fortschrittliche tendierenden deutschen Literaturwerke als Teil jener ins Aufgeklärte, Liberale drängenden Modernisierungsschübe interpretiert, die sich den älteren Hierarchisierungszwängen, patriarchalisch-autoritären Uberformungen und ideologischen Restaurationsversuchen mit den Konzepten einer progredienten Demokratisierung oder Sozialisierung entgegengestellt hätten. Dabei büßte der ältere Literaturbegriff zwar etwas von jener »Aura« ein, mit der ihn viele der konservativen Exilgermanisten und -germanistinnen umgeben hatten, wurde jedoch durch diesen Prozeß - trotz aller Betonung politischer und sozialhistorischer Faktoren - keineswegs entwertet. Lediglich die damit verbundenen Wertakzente verschoben sich zum Teil. Während die älteren Bildungsbürger unter den konservativen Exilanten die Größe der als meisterlich empfundenen Werke — neben ihrer ins Allgemein-Menschliche tendierenden Grundorientierung - vor allem in ihrer formalen Stimmigkeit und damit ästhetischen Perfektion gesehen hatten, betonte diese Gruppe vornehmlich das weltanschauliche Entscheidungsvermögen der hinter diesen Werken stehenden Autoren und Autorinnen, das heißt deren Fähigkeit, im Rahmen der dialektisch-komplexen Situationen ihrer Zeit die ideologisch bestmöglichen Folgerungen gezogen und ihren Werken zugleich einen realistisch-einprägsamen, mit anderen Worten: für breitere Bevölkerungsschichten verständlichen Charakter gegeben zu haben. Deshalb lehnte sie sowohl das KlassizistischAbgehobene der von Heinrich Heine attackierten »Kunstperiode« als auch das Versnobte und Verschmockte gewisser Bereiche der modernistischelitären Literatur seit 1900 ab. Damit waren Kriterien vorgegeben, die sich nicht nur auf die Geschichte der deutschen Literatur, sondern auch auf andere kulturelle Phänomene anwenden oder übertragen ließen. Und das gab den Konzepten dieser Richtung, besonders den kulturkritischen Theorien der »Frankfurter Schule«, einen auch auf die amerikanischen Verhältnisse anwendbaren Charakter. Demzufolge bahnte sich um 1970, wie gesagt, innerhalb dieser Richtung eine zwar kurzlebige, aber intensive Symbiose westdeutscher und amerikanischer Germanisten und Germanistinnen an, die - im Gegensatz zu den älteren Exilanten und Exilantinnen - ihr »Weimar« nicht mehr in den Werken Goethes und Schillers, sondern in den linkskritischen Schriften jener Autoren und Autorinnen der Weimarer Republik sahen, die nach ihrer Vertreibung aus Deutschland mehrheitlich in die USA geflüchtet waren und

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sich dort — bis zum Beginn des Kalten Krieges — weiterhin zu einer Ideologie bekannt hatten, die in ihrer antifaschistischen Haltung zugleich eine kulturpädagogische Komponente enthielt. Das Literaturkonzept des vom Geiste der »New Lefit«, das heißt des von Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Bertolt Brecht sowie der rebellischen Stimmung der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung beeinflußten Teils der amerikanischen Germanistik der frühen siebziger Jahre war daher ein ebenso anspruchsvolles wie das seiner Vorgänger und Vorgängerinnen, wenn auch aus dem Erhabenen ins Kritische gewendet. Es schloß alle bedeutsamen Werke der aufklärerischen, jakobinischen, humanistischen, linksliberalen und sozialistischen Tradition in sich ein 23 , an welche diese Gruppe zwar nicht mehr mit der gleichen respektvollen Haltung herantrat wie die Vertreter der kulturkonservativen Richtung an die kanonischen Werke der Klassik und Romantik vor ihnen, denen sie jedoch als bildungspolitischen Vehikeln einer fortschreitenden Demokratisierung eine ebenso wichtige Funktion zugestand. Im Zuge dieser Entwicklung kam es innerhalb der liberal eingestellten German Departments in den USA, zu denen damals vor allem die »Deutschabteilungen« der Columbia University in New York, der University of California in Berkeley, der Ohio State University, der University of Wisconsin in Madison und der Cornell University gehörten, in den dort angebotenen Literaturkursen zu zwei ideologischen Verschiebungen: 1. zu einem Paradigmawechsel von eher konservativen zu eher linksliberal empfundenen Autoren und Autorinnen, sowie 2. zu einem Wandel im Hinblick auf die gesellschaftliche Einschätzung von Literatur, von der man hoffte, sie aus dem Besitz weniger Auserwählter in den Besitz aller Menschen überfuhren zu können. Ja, einige Vertreter und Vertreterinnen der »Neuen Linken« gingen zwischen 1970 und 1980 so weit, in der hohen Literatur — im Sinne von Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« — eines der wichtigsten Vehikel auf dem Wege zu einer wahrhaft gebildeten, aufgeklärten und damit humanisierten Menschheit zu sehen. So viel — in idealtypologischer Vereinfachung — zu einigen Wandlungen innerhalb der amerikanischen Germanistik der letzten 60 Jahre, soweit sie die Wirkung der aus dem »Dritten Reich« vertriebenen Autoren und Akademiker sowie die von ihnen vertretenen Literaturvorstellungen und ideologischen Haltungen betreffen. W i e auf allen Gebieten der durch die Großereignisse der Politik mitbeeinflußten kulturellen und institutionellen Wandlungsprozesse sollte man sich hierbei allerdings vor leichtfertigen Pauschalisierungen hüten. So wie es zwischen 1933 und 1945 kein einheitliches Exil gegeben hat, hat es in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren keine einheitliche amerikanische Germanistik gegeben. Beides waren tief »zerklüftete« Felder verschiedenster Interessen und Zielrichtungen 24 , auf denen — je nach den politischen Klimaveränderungen und zugleich lokalen Vor-

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aussetzungen — mal diese oder mal jene Sichtweisen die Oberhand gewannen. Dennoch ist die These nicht ganz unangebracht, daß in den fünfziger Jahren — bedingt durch die Totalitarismustheoreme des Kalten Krieges - eher eine ins Formalästhetische oder Existentielle vorherrschende Tendenz im Vordergrund stand, während sich seit der Mitte der sechziger Jahre - bedingt durch die Civil Rights Proklamationen sowie die Anti-Vietnamkrieg-Proteste - auch eine ins Rebellische zielende Richtung bemerkbar machte. Und zwar ging die Tendenz ins Bildungsbürgerliche, Werkimmanente oder auch Erhabene bis 1965 weitgehend von jenen Exilanten und Exilantinnen aus, die im Laufe der vierziger und fünfziger Jahre in diesem Fach Fuß gefaßt hatten. Die linkskritischen Tendenzen wurden dagegen nach 1965 vornehmlich von jenen jüngeren westdeutschen Germanisten in Gang gesetzt, die in den späten fünfziger und sechziger Jahren in die USA eingewandert waren und sich im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung - mit Unterstützung der jüngeren Amerikaner und Amerikanerinnen innerhalb der »New Left«-Bewegung — hauptsächlich auf die politischen und kulturkritischen Schriften der betont antifaschistisch eingestellten Exilautoren und -autorinnen zu stützen versuchten. Es waren daher eher sie als die Exilanten und Exilantinnen, die noch unter dem Schock des eben Erlebten standen und sich um eine kulturelle Rückversicherung bei den literarischen Meisterwerken der Vergangenheit bemühten, welche der amerikanischen Öffentlichkeit einen Eindruck davon vermittelten, was es heißt, ein Linker und/ oder Jude zu sein - und darum ins Exil getrieben zu werden. 25 Zusammenfassend läßt sich heute im Hinblick auf die Wirkung dieser beiden Gruppen auf die amerikanische Germanistik in typologisierender Vereinfachung sagen, daß die werkimmanenten oder universalistischen Interpretationen bedeutender deutscher Literaturwerke durch die Exilanten und Exilantinnen in dieser Disziplin wesentlich weniger Spuren hinterlassen haben als die Kulturvorstellungen jener sich auf die linkskritischen Schriften Bertolt Brechts, Walter Benjamins, Ernst Blochs sowie der Mitglieder der Frankfurter Schule berufenden »New Left«-Bewegung um 1970 26 , die wie die Arbeiten von David Bathrick, Helen Fehervary, Peter Uwe Hohendahl, Robert C. Holub, Andreas Huyssen, Fredric Jameson, Martin Jay, Anton Kaes, Sara Lennox, Marc Silberman, Alexander Stephan, Jack Zipes und anderen belegen — bis heute virulent geblieben sind. Ja, durch sie wurde innerhalb der amerikanischen Germanistik eine kulturwissenschaftliche Sichrweise begründet, die bei der Betrachtung eines bestimmten literarischen Werks nie seine politischen, sozio-ökonomischen, kulturellen, mentalitätsgeschichtlichen und institutionellen Verankerungen vergißt, ohne die es ein bloßes Artefakt bliebe, das sich zwar als etwas ästhetisch Perfektioniertes, wenn nicht gar Zeitloses bewundern läßt, aber seine wahre Bedeutungsfülle verlieren würde. So gesehen, haben die kulturtheoretischen und zugleich

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kulturkritischen Schriften der späten Weimarer Republik und vor allem der Exilzeit Perspektiven eröffnet, die bis weit in die achtziger Jahre als wichtig empfunden wurden. W i e fast alle kulturellen und methodologischen Paradigmenwechsel hatte auch dieser Prozeß seine positiven und seine negativen Seiten. Schließlich setzte sich durch diesen Wandel vom Formalästhetischen und Essentiellen zum Kulturwissenschaftlichen und zugleich politisch Engagierten zwar einerseits eine wesentlich größere Bewußtheit in ideologischen und kulturtheoretischen Fragen durch, während sich andererseits beobachten läßt, daß diese Akzentverschiebung - trotz aller hochkulturellen Beteuerungen auf Seiten der ehemaligen »New Left«-Bewegung — dennoch zu einem gewissen Respektverlust vor den großen Meisterleistungen der deutschen Literatur geführt hat. Daran sind jedoch nicht nur die »Linken« schuld, wie manche der »Konservativen« zwischen 1970 und 1980 — mit deutlichen KaltenKriegs-Ressentiments - immer wieder beteuert haben. Genauer betrachtet, geht dieser Pietätsschwund auf den allgemeinen Werteverfall innerhalb der marktwirtschaftlich organisierten Kulturindustrie sowie den Rückzug vieler Kulturinteressierter in ästhetisch-elitäre Randzonen zurück. Eine sozialpolitisch relevante Aneignung des literarischen Erbes findet daher immer weniger Befürworter. Doch das gehört bereits in ein neues Kapitel innerhalb der Geschichte der amerikanischen Germanistik, das mit der Wirkung der deutschen Exilanten und Emigranten nur noch höchst indirekt zusammenhängt. 27

1 Vgl. u.a. Claus-Dieter Krohn: Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School of Social Research. Frankfurt/M. 1987 und John M. Spalek: »Research on the Intellectual Migration to the United States after 1933«. In: Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien. Hg. von Herbert A. Strauss u.a. München 1991, S. 187-301. — 2 Vgl. Gisela Hoecherl-Alden: Germanisten im »Niemandsland«. Die exilierten Akademiker und ihre Wirkung auf die amerikanische Germanistik 1933-1953. Diss. Wisconsin 1996, S. 4 2 - 7 0 . — 3 Vgl. meine Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994, S. 8 3 - 9 7 . — 4 Vgl. hierzu Walter Schmitz (Hg.): Modernisierung oder Überfremdung? Zur Wirkungdeutscher Exilanten in der Germanistik der Aufnahmeländer. Stuttgart 1994. — 5 Vgl. Gisela Hoecherl-Alden: Germanisten im »Niemandsland«, a.a.O., S. 1 3 0 - 1 6 9 . — 6 Vgl. Henry J. Schmidt: »The Rhetoric of Survival. The Germanist in America from 1900 to 1925«. In: America and the Germans. An Assessment of a Three-HundredYear History. Hg. von Frank Trommler und Joseph McVeigh. Philadelphia 1985, S. 2 0 4 - 2 1 6 , und Cora Lee Nollendorfs: »The First World War and the Survival of German«. In: Teaching German in America. Prolegomena to a History. Hg. von David Benseler u.a. Madison 1988, S. 1 7 6 - 1 9 6 . — 7 Zu den faschistischen Trends in der amerikanischen Germanistik vgl. Erika Salloch: »Traces of Fascist Ideology in American Professional Journals, 1933-1945«. In: Teaching German in America, a. a.O., S. 2 5 3 - 2 7 0 . — 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Guy Stern

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in dem Band: Moiiernisierung oder Überfremdung.a.a.O., S. 8 5 - 1 0 4 . — 9 Vgl. Frank Trommler in: Moiiernisierung oder Überfremdung?, a.a.O., S. 106f., und Gisela HoecherlAlden: Germanisten im »Niemandsland«, a.a.O., S. 2 9 5 - 3 3 0 . — 10 Vgl. Response of George L. Mosse. In: George Mosse: »On the Occasion of His Retirement«, 17. 6. 1985, Jerusalem 1986, S. 27, mein Nachwort zu Charles Chaplin: Schlußrede aus dem Film »Der große Diktator«. Hg. von Jost Hermand. Hamburg 1993, S. 4 0 - 4 8 , und den Beitrag von Henry oder Überfremdung.a.a.O., S. 181. — 11 Vgl. H. H. Remak zu dem Band: Modernisierung meinen Aufsatz: »>Der häßliche Deutsche wird wieder schön.< Das westdeutsche Wandlungswunder in den Nachrichtenmagazinen der Luce-Presse 1 9 4 7 - 1955«. In: Jost Hermand: Angewandte Literatur. Politische Strategien in den Massenmedien. Berlin 1996, S. 7 3 - 9 0 . — 12 Vgl. Gisela Hoecherl-Alden: Germanisten im »Niemandsland«, a.a.O., S. 7 2 - 9 0 . — 13 In schärfster Form erlebte ich das später in Gesprächen mit dem New Yorker Verleger Frederick Ungar, der behauptete, daß in den USA, wo »es halt keine Kultur gebe«, noch niemand von Goethe oder Nietzsche gehört habe, und ich daher bei der Übersetzung meines Buches Synthetisches Interpretieren, das 1975 in seinem Verlag unter dem Titel Interpretive Synthesis: The Task of Literary Scholarship herauskam, unbedingt unterm Strich auf ihre Lebensdaten und Hauptwerke hinweisen solle. — 14 Vgl. Regina Weber: »Zur Remigration des Germanisten Richard Alewyn«. In: Die Emigration der Wissenschaften nach 1933, a.a.O., S. 235—256. — 15 Vgl. René Wellek und Austin Warren: Theorie der Literatur. Berlin 1963, wo die Begriffe »extrinsic« und »intrinsic« mit »außerliterarisch« und »innerliterarisch« übersetzt werden. — 16 Vgl. zu einigen dieser Germanisten, deren Nachlässe im Marbacher Literaturarchiv liegen, Regina Weber: »Veranrwortung für deutsche Kultur. Das Beispiel des emigrierten Germanisten Bernhard Blume«. In: Exilforschung 14, 1996, S. 1 6 4 - 1 8 5 , und dies.: »Der emigrierte Germanist als >Führer< zur deutschen Dichtung? Werner Vordtriede im Exil«. In: Exilforschung 13, 1995, S. 1 3 7 - 1 6 5 . — 17 Vgl. Klaus L. Berghahn: »Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik seit 1945«. In: Monatsheftel\, 1979, S. 3 8 7 - 3 9 8 , und Klaus R. Scherpe: »Die Renovierung eines alten Gebäudes. Westdeutsche Literaturwissenschaft 1945-1950«. In: Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945? Hg. von Walter H. Pehle und Peter Sillem. Frankfurt/M. 1992, S. 149-163. — 18 Vgl. hierzu den Beitrag von Henry H. H. Remak in dem Band: Modernisierung oder Überfremdung.a.a.O., S. 183, 195. — 19 Vgl. Jost Hermand: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft. München 1968, S. 144. — 20 Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt/M. 1971. — 21 Vgl. meinen Aufsatz: »Madison, Wisconsin 1959- 1973. Der Einfluß der deutschen Emigranten auf die Entstehung der Neuen Linken«. In: Exilforschung 13, München 1995, S. 5 2 - 6 7 . — 22 Vgl. meinen Aufsatz: »>Die Kunst dem Volke!< Franz Mehrings Einstellung zum Kulturellen Erbe«. In: Franz Mehring Kolloquium. Hg. von Wolfgang Beutin. Frankfurt/M. 1997. — 23 Vgl. Gabrielle Bersier, Yvette Brazell und Robert C. Holub: »Reappropriation of the Democratic Bourgeois Heritage. Leftist Research on Jacobinism, Vormärz, and Naturalism«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 11, 1979, S. 1 0 2 - 1 2 1 . — 24 Vgl. Jost Hermand: »Der Kalte Krieg in der Literatur. Über die Schwierigkeiten bei der Rückeingliederung deutscher Exilautoren und -autorinnen nach 1945«. In: Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkrieges. Hg. von Hans-Erich Volkmann. München 1995, S. 5 8 1 - 6 0 6 . — 25 Erst in jüngster Zeit sind in den USA auch einige der älteren Exilgermanisten in ihren gedruckten Erinnerungen etwas konkreter auf ihre jüdische Herkunft und den Prozeß ihrer Vertreibung aus Deutschland oder Österreich eingegangen. Vgl. u. a. Egon Schwarz: Keine Zeit für Eichendarff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre. Frankfurt/M. 1979, 2. Auflage 1991, und ders.: »Eine kleine Geschichte der miterlebten amerikanischen Germanistik«. In: LililG, 1996, S. 1 4 2 - 1 4 8 . — 26 Vgl. Andreas Huyssen: »Postmoderne - eine amerikanische Internationale?«. In: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Hg. von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe. Reinbek 1986, S. 1 3 - 4 4 . — 27 Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 14. März 1997 auf der Leipziger Tagung »Fernwirkungen des Exils«, veranstaltet von der Gesellschaft für Exilforschung, gehalten habe.

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Vorspann Das Fähnlein der aufrechten Avantgardefilmer der zwanziger Jahre war bereits vor 1933 sehr zusammengeschmolzen: »Der größte Teil der alten Avantgarde ist verschwunden, aufgesogen von der Industrie oder aus Entmutigung verstummt: René Clair, Picabia, Léger, Cavalcanti, Feyder, Renoir, Man Ray. Außer mir sind Albrecht Viktor Blum und Hans Richter die einzigen, die übrig blieben«, stellte Laszló Moholy-Nagy bereits 19321 fest. Schon diese Namensaufzählung von Künstlern äußerst unterschiedlicher Herkunft, die auch verschiedene ästhetische Positionen und Arbeitsschwerpunkte vertraten, verdeutlicht die Probleme der genauen Definition und Abgrenzung der Begriffe >Avantgardefilm< oder Experimenteller FilmLaokoon< sind unbestimmter geworden. Es gibt eine Augenmusik.«u Momentaufnahme: Die Vertreibung der Avantgardefilmer aus NaziDeutschland seit 1933 1933 kann man von einer einheitlichen Avantgardefilmbewegung schon nicht mehr sprechen, die experimentellen Filmemacher arbeiteten weitgehend isoliert voneinander und hatten teilweise Deutschland bereits verlas-

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sen. Die Aufführungs- und Auswertungsmöglichkeiten für ihre Filme waren stets äußerst begrenzt gewesen; sie mußten ihre Filme selbst finanzieren, nur selten fand sich ein großzügiger Mäzen, der die Kosten übernahm. Die Aufführung der Avantgardefilme blieb zumeist auf einmalige Veranstaltungen in Museen oder Ausstellungen beschränkt. Nur wenn es den Filmemachern gelang, ihre abstrakten Filme einer großen Filmfirma zu verkaufen, die diese dann als Kulturfilme im Beiprogramm einsetzte, gelangten ihre Arbeiten überhaupt ins Kino. Diese außerordentlich schwierigen Produktions- und Verleihbedingungen sind ein wesentlicher Grund, weshalb einige bildende Künstler sich nur sporadisch mit dem Medium Film beschäftigten, andere Filmemacher zum Dokumentär-, Industrie- und Werbefilm abwanderten oder Spielfilme herstellten, wobei sie sich den Anforderungen der Kino-Industrie notwendig anpassen mußten. Diese ohnehin schwierigen Arbeitsbedingungen der Filmavantgardisten wurden in Deutschland nach der Machtübergabe an die Nazis noch weiter erschwert, denn die abstrakten Filmexperimente wurden von den Nazis ebenso abgelehnt wie die abstrakte Malerei und ihre Vertreter. Läszlo MoholyNagy emigrierte aus Deutschland nach der durch die Gestapo erzwungenen Schließung des Bauhauses Mitte 1933; Werner Graeff, der inzwischen eine eigene »Berliner Fotoschule« gegründet hatte, mußte 1934 emigrieren, zunächst nach Spanien, nach Beginn des Bürgerkriegs flüchtete er in die Schweiz. Er arbeitete im Exil ausschließlich als Werbegrafiker und Fotograf. Kurt Schwerdtfeger war seit 1925 Dozent an der Werkkunstschule Stettin und wurde 1937 als »entartet« entlassen; Ludwig Hirschfeld-Mack, mit dem er gemeinsam die »Reflektorischen Farblichtspiele« konzipiert hatte, war schon 1935 nach England exiliert, 1940 emigrierte er weiter nach Australien, wo er ebenso wie in England als Lehrer tätig war. Der Musiker Alexander Läszlo, der ein Farblichtklavier und Farblichtkompositionen entwickelt hatte, kehrte 1933 nach Ungarn zurück und exilierte 1938 in die USA. Hans Richter war bereits 1931 nach Moskau übergesiedelt, wo er an einem Film arbeitete; seine Berliner Wohnung wurde nach dem Reichstagsbrand von der Gestapo durchsucht und seine Kunstsammlung teilweise zerstört. Da Richter sich auch in Moskau nicht sicher fühlte, flüchtete er 1933 auf Umwegen nach Holland. Von 1936 bis 1940 lebte und arbeitete er in der Schweiz und exilierte 1941 in die USA. Oskar Fischinger, der ständig am Rande des Existenzminimums sein Leben fristete, weil die Aufwendungen für seine Filmexperimente die Einnahmen aus seinen erfolgreichen Werbefilmen oder die geringen Vorschüsse der Filmfirmen verschlangen, arbeitete unter großen Schwierigkeiten noch bis 1935 weiter in Deutschland, doch wurden seine abstrakten Filme von offizieller Seite im Propagandaministerium als »nicht dem Zeitgeist entsprechend« abgelehnt und seine Filme wurden von der Zensurbehörde nicht zur Vor-

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fuhrung zugelassen. Ihm wurde »Kunstsnobismus« vorgeworfen, gegen den das Volk angeblich einen »Widerwillen« habe, so daß Verleiher es nicht mehr wagten, seine Filme zu vertreiben. 12 Nur noch mittels Tricks gelang es einigen befreundeten Kinobesitzern, Fischingers Filme im Beiprogramm aufzuführen, die sich dann freilich weiterhin großer Beliebtheit beim Publikum erfreuten und wochenlang gespielt wurden. Aufgrund der unhaltbaren Situation emigrierte Fischinger schließlich Anfang 1936 in die USA. Lotte Reiniger emigrierte zunächst 1933 gemeinsam mit ihrem politisch gefährdeten Mann Carl Koch nach Paris, wo Koch seine Zusammenarbeit mit Jean Renoir aus den zwanziger Jahren fortsetzte. Sie kehrte jedoch 1934 nach Berlin zurück, wo sie bis 1936 sechs weitere Silhouettenkurzspielfilme drehte. Albrecht Viktor Blum, der vor allem für Erwin Piscators Theaterauffiihrungen sowie für mehrere kommunistische Organisationen und Produktionsfirmen Filme hergestellt hatte, exilierte bereits 1933 und ging zunächst in die CSR. Andere avantgardistische Filmkünstler der zwanziger Jahre blieben im »Dritten Reich«: Walter Ruttmann, der Kameramann und Regisseur Piel Jutzi, die Kameramänner Guido Seeber und Reimar Kuntze. Sie brachten ihre Arbeit, ihr Talent und ihre ästhetischen Erfahrungen in den Film des »Dritten Reichs« ein, ihr Einfluß auf die Ästhetik des Spiel- und Propagandafilms im »Dritten Reich« ist noch kaum untersucht.

Totale: Arbeits- und Produktionsbedingungen der Filmavantgardisten im Exil Waren schon die Arbeitsmöglichkeiten der Filmavantgardisten und die Finanzierung ihrer Filme in Deutschland sehr eingeschränkt gewesen, so konnte unter den noch weit schwierigeren Rahmenbedingungen des Exils erst recht keine kontinuierliche avantgardistische Filmproduktion aufgebaut werden. Die langwierige und kostspielige Herstellung der Filme, die selbst keine nennenswerten Einspielergebnisse brachten, konnte von den Filmkünstlern nur unter größten Schwierigkeiten finanziert werden, so daß Produktionszeiten von mehreren Jahren keine Seltenheit sind. Die Filmavantgardisten mußten - genau wie auch andere exilierte Filmemacher - zunächst ihren Lebensunterhalt verdienen und sich dabei - soweit sie überhaupt im Filmbereich arbeiten konnten - an die Produktions- und Rezeptionsbedingungen ihrer Exilländer anpassen bzw. im Lehrbetrieb der Kunsthochschulen Aufgaben übernehmen, die eine ausschließliche Konzentration auf die eigene Filmarbeit verhinderten.

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Lotte Reiniger gelang es, ihre Filmarbeit in den dreißiger und vierziger Jahren in mehreren Ländern fortzusetzen.13 1936 wurde sie eingeladen, ihre Figuren aufAusstellungen in England zu zeigen, und dabei bekam sie in London Kontakt mit dem Dokumentarfilmer John Grierson und seiner Gruppe, für die sie 1936/37 zwei Filme realisierte. 1937 schuf sie in Paris die Schattenspielsequenz für Renoirs La Marseillaise. Bei Kriegsbeginn folgte sie Carl Koch nach Rom, der dort mit Renoir Toscali drehte, den Koch nach Renoirs Emigration in die USA allein fertigstellte. Bei diesem und dem zweiten von Koch 1941/42 in Italien gedrehten Spielfilm Una signora dell'ovest arbeitete Reiniger auch am Drehbuch mit und hielt die Stationen der gemeinsamen Arbeit in einem gezeichneten Tagebuch fest. 1944 kehrte das Ehepaar nach Berlin zurück, wo Lotte Reinigers alte Mutter lebte. Reiniger arbeitete dann im »Dritten Reich« wieder an einem Scherenschnittfilm Die goldene Gans, den sie für das Reichsinstitut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht drehte. 1945 gründete sie eine eigene Bühne, die Berliner Schattenspiele, und arbeitete zeitweilig als Bühnenbildnerin für das von Fritz Wisten geleitete Theater am Schiffbauerdamm. Da sie jedoch in der desolaten Nachkriegssituation im Film nicht wieder Fuß fassen konnte, emigrierte sie mit ihrem Mann 1949 nach England, wo sie bis 1980 lebte und arbeitete. Alexander Laszlö führte zunächst in Budapest, ab 1938 am Institute of Design in Chicago seine Filmexperimente fort und arbeitete ab 1944 als Filmkomponist in Hollywood. Andere avantgardistische Filmkünstler konnten im Exil ihre Filmarbeit nicht fortsetzen: Albrecht Viktor Blum arbeitete zunächst am Theater in Reichenberg ((¿SR) kurzzeitig als Schauspieler, wurde jedoch wegen kommunistischer Aktivitäten verhaftet und ausgewiesen. 1936 kämpfte er als Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, nach der Niederlage der Republikaner exilierte er nach Mexiko. Er verdiente seinen Lebensunterhalt dort als Fotograf und nahm aktiv an dem reichhaltigen kulturellen Leben der deutschen Exilanten in Mexiko teil, vor allem wirkte er als Regisseur und Schauspieler bei den Theateraufführungen des Heine-Klubs - einen Film hat er jedoch nie wieder drehen können. Auch die Bauhaus-Filmemacher Schwerdtfeger, Graeff und Mack haben im Exil keine Filme mehr realisieren können. Schwerdtfeger und Graeff haben erst lange nach dem Krieg an ihre Filmexperimente der zwanziger Jahren anknüpfen bzw. diese rekonstruieren können. Der gebürtige Schweizer Bernhard Diebold ging 1934 in die Schweiz zurück, wo er jahrelang vor allem als Lektor für die von ihm gemeinsam mit Julius Marx gegründete Filmstoffagentur Thema arbeitete, erst 1939 konnte er für die Zeitung Die Tat seine Kritikertätigkeit wieder aufnehmen. 15 Probleme hatten auch die in die USA exilierten Filmavantgardisten: Die amerikanischen Filmproduzenten standen in ihrer Mehrheit dem abstrakten

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Film völlig verständnislos gegenüber, so daß Fischinger, der mehrere Anläufe nahm, sich in die amerikanische Filmindustrie zu integrieren, stets aufs Neue scheiterte und gezwungen war, geradezu erniedrigende Verhandlungen mit Mäzenen zu fuhren. Die Zerstreuung der Filmavantgarde in unterschiedliche Exilländer und in USA an die Ost- und Westküste verhinderte einen Gruppenzusammenschluß und gemeinsame Filmproduktionen und schränkte die Wirkungsmöglichkeiten erheblich ein. Doch trotz aller Beschränkungen haben die exilierten Filmavantgardisten mit ihren Filmen und durch ihre Lehre an Film- und Kunsthochschulen in ihren Exilländern Wirkung entfaltet und die Herausbildung der nächsten Generation der Filmavantgarde gefördert.

Vier Großaufnahmen 1 Oskar Fischinger, Hollywood und die amerikanische Filmavantgarde Der mit Fischinger befreundete und seit langem in USA arbeitende Regisseur Ernst Lubitsch bewog das Paramount-Studio dazu, Fischingers noch in Deutschland gedrehten Film Komposition in Blau zu kaufen und ihm einen Vertrag anzubieten. Aufgrund dieser Offerte exilierte Fischinger im Februar 1936 in die USA, die Berliner Vertretung der Paramount war ihm dabei behilflich, Kopien seiner Filme aus dem »Dritten Reich« herauszuschmuggeln, sie waren Fischingers wertvollster Besitz. Doch weder bei Paramount (1936) noch bei Walt Disney, in dessen Studio Fischinger in den Jahren 1938/39 arbeitete, konnte Fischinger sich mit seinen Ideen durchsetzen. Das hatte mehrere Gründe: Die amerikanischen Filmproduzenten vertraten durchweg die Auffassung, daß das breite Filmpublikum mit den abstrakten Filmen bzw. Filmsequenzen, die Fischinger für verschiedene Filmprojekte — darunter vor allem Fantasia - entworfen hatte, nichts anfangen könne. Sie benutzten daher seine Entwürfe nicht in den fertigen Filmen oder ließen sie derart überarbeiten, daß Fischinger damit nichts mehr zu tun haben wollte. So untersagte er Disney, seinen Namen im Vorspann von Fantasia zu nennen, denn obwohl er ein Jahr lang an der Episode Toccata und Fuge in D-Moll von J. S. Bach gearbeitet hatte, fand er die Veränderungen, die Disney an seinen Entwürfen vornehmen ließ, derart geschmacklos, daß er seinen Namen nicht dafür hergeben wollte. Die Überarbeitungen waren typisch für den Stil des amerikanischen Studios: die abstrakten Formen Fischingers wurden so verändert, daß sie an Figuren oder Landschaftsformationen erinnerten, die Bewegungen wurden vereinfacht und die kühnen Farbkompositionen wurden reduziert. Trotz dieser verfla-

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chenden und entstellenden Überarbeitung ist in der 7o «-¿^-Episode die Handschrift Fischingers doch immer noch zu erkennen. Sein Einfluß im Disney-Studio ging trotz der Trennung weit über den Film Fantasia und das Jahr 1939 hinaus: »Er brachte Kopien seiner Filme mit, die neun Monate lang jede Woche der gesamten Belegschaft bei Disney während des Mittagessens und der Pausen vorgeführt wurden. Auf diese Weise breitete sich Fischingers Einfluß bei Disney allmählich aus und schlug sich in Filmen wie Dumbo oder Pinocchio nieder, für den Fischinger die Trickeffekte für den Zauberstab der Blauen Fee animierte.« 16 Da Fischinger sich in seiner Arbeit als völlig kompromißlos erwies, außerdem ein heftiges Temperament hatte und er auch nach jahrelangem USAAufenthalt noch große Sprachschwierigkeiten vor allem bei erregten Diskussionen hatte, wirkte er insgesamt auf die Amerikaner befremdlich. Auch dies war einer der Gründe, weshalb Fischinger nach seiner Trennung von Disney in Hollywood nur noch sporadisch Arbeit fand. 1941/42 arbeitete er für das nicht vollendete Projekt It's all True von Orson Welles, der, selbst ein Außenseiter der Filmindustrie, ihn anschließend privat mehrere Monate lang bei seiner Mercury Production beschäftigte, so daß Fischinger an seinem Film Radio Dynamics arbeiten konnte. 1944 entwarf er, vermutlich ebenfalls auf Anregung von Welles, die Titelsequenz für den Film Jane Eyre, dagegen wurde die von ihm entwickelte Traumsequenz für Fritz Längs Film Secret Beyond the Door (1947) in der endgültigen Fassung nicht benutzt. Enttäuscht von Hollywood widmete Fischinger sich verstärkt der Malerei und schuf ein großes malerisches Werk, das ihm auch Anerkennung eintrug. Für seine kostspielige Filmarbeit blieb er jedoch ganz auf die Unterstützung durch Mäzene angewiesen und geriet in ein geradezu masochistisches Abhängigkeitsverhältnis zu Hilla Rebay, der Kuratorin der Guggenheim-Stiftung. Seine Filme An Optical Poem, den er 1937 an die MGM verkaufen konnte, die den Film auch verlieh, American March (1941), Radio Dynamics (1943) und seine Motion Paintings ernteten begeisterte Zustimmung sowohl bei den exilierten europäischen als auch bei jungen amerikanischen Künstlern, die bald den Kreis von Fischinger-Anhängern vergrößerten und die von ihm beeinflußt wurden. Die Bewunderung galt nicht nur Fischingers perfekter Technik, sondern auch der mystischen Kraft seiner Film- und Bildkompositionen. Fischinger hatte sich schon seit Ende der zwanziger Jahre intensiv mit verschiedenen Formen der Mystik befaßt und setzte diese Studien auch in USA fort. Er besuchte das dem Schamanismus und Hinduismus nahestehende Institute of Mental Physics, führte lange Diskussionen mit der befreundeten Galeristin und Krishnamurti-Anhängerin Galka Scheyer und hatte Freude an Gesprächen und gemeinsamen Meditationen mit Freunden, die ebenfalls das Baghavad Gita, Tao und Tantra Yoga studierten.

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»Radio Dynamics, gemalt und aufgenommen in den frühen vierziger Jahren und geschnitten 1943/44, ist vielleicht Fischingers vollkommenster Film, in dem seine Kunstfertigkeit einerseits und seine spirituellen Ideen andererseits wunderbar ausbalanciert sind. Der Film besitzt die Struktur von Yoga« — schreibt Fischingers Biograph, der Filmwissenschaftler William Moritz, der den Film als »eine hypnotische Yoga-Meditation« über die »wesentlichen ungelösten kosmischen Rätsel Einsteins und Heisenbergs (...) das Gleichgewicht zwischen Energie, Materie, Geschwindigkeit und Beobachter« interpretiert. »Fischinger beschreibt dies mit ausschließlich visuellen Begriffen - klar und doch emotional, einfach und trotzdem raffiniert und vielschichtig - , mit denen der Betrachter konfrontiert wird und die er unmittelbar ohne erläuternde Worte verstehen kann.«17 Fischingers Filme wurden ab Mitte der vierziger Jahre bei Ausstellungen in Galerien und an verschiedenen Kunsthochschulen in Südkalifornien regelmäßig gezeigt, so daß sich ein Kreis von Anhängern bildete und Fischinger zum großen Anreger der Westcoast-Richtung des New American Cinema wurde. »Regelrechte Wallfahrten« zu ihm unternahmen zahlreiche junge Filmemacher; angeregt und inspiriert durch seine Arbeiten und die Gespräche mit ihm wurden unter anderen die Brüder Whitney, Kenneth Anger, Ciaire Parker, Alexandre Alexeieflf, Maya Deren, John Cage — mit dem er auch an einem unvollendet gebliebenen Projekt zusammengearbeitet hat —, Curtis Harrington und Gregory Markopoulos. Fischingers Einfluß auf die junge Avantgardegeneration vergrößerte sich noch nach dem beispiellosen Erfolg seines Films Motion Painting No. 1, den er 1948 drehte. In diesem Film zeigte er die Entstehung eines von ihm gemalten Ölgemäldes auf Plexiglas, der gesamte Film ist in Einzelbildschaltungen aufgenommen und musikalisch unterlegt von Bachs Brandenburgischem Konzert No.3. Mit Motion Painting No. 1 feierte Fischinger Triumphe nicht nur bei Vorführungen in den USA, sondern auch wieder in Europa, 1949 erhielt er für diesen Film den Großen Preis beim Internationalen Experimentalfilm-Wettbewerb in Brüssel. Dennoch konnte Fischinger keinen weiteren Film mehr realisieren, über Motion Painting No. 1 hatte er sich mit Hilla Rebay vollends zerstritten, da seine Vorstellungen von Abstraktion schlicht nicht ihrem Geschmack entsprachen und sie ihm daher künftig jede Unterstützung der Guggenheim Stiftung verweigerte. Fischinger konnte für seine noch zahlreichen Projekte auch keine anderen Geldgeber gewinnen, da »niemand glaubte, wahrscheinlich zu Recht, die Investitionen in einen abstrakten Film zurückzubekommen.«18 Doch erlebte Fischinger, der 1967 in Hollywood starb, noch selbst, daß seine Gemälde und Filme bei allen Avantgarde-Kunst-Ausstellungen und -Retrospektiven in Europa und USA gefeiert wurden; die Bedeutung seiner Arbeit und seine Rolle als Anreger der jungen Generation der amerikanischen Filmavantgarde sind heute völlig unbestritten.

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2 Hans Richter — Filmemacher, Filmtheoretiker, Filmdozent Völlig mittellos kam Richter 1933 in Holland an, doch die Radiofirma Philips unterstützte ihn mit der Vergabe von Filmaufträgen; drei kurze Dokumentarfilme drehte Richter bis 1936 in den Niederlanden: Europa Radio und Hallo Everybody (beide 1933) und Vom Blitz zum Fernsehbild (1936). Die beiden ersten Filme sind »unterschiedliche Versionen desselben Themas; sie befassen sich beide mit der Bedeutung und den Möglichkeiten des damals noch jungen Mediums Rundfunk«19, in dem dritten Film stellte Richter die Entwicklung des Fernsehens dar. Richter arbeitete in den dreißiger Jahren ausschließlich für den Film, auch in der Schweiz konnte er mit Industriefilmen seinen Lebensunterhalt sichern und setzte damit seine Arbeit für den kommerziellen Film in Deutschland ab Ende der zwanziger Jahre auch im Exil fort. Zeitweise war er sogar fest angestellter Produktionsleiter der Werbefilmgesellschaft Central in Zürich. Seine Industriefilme aus dieser Zeit (u. a. Eine kleine Welt im Dunkel (1938) über die Schädlichkeit der Kleidermotte und die Forschungsarbeit der Firma Geigy über Insektizide; Die Geburt der Farbe (1938); Die Börse (1939)) gelten längst als Klassiker dieses vielfach unterschätzten Filmgenres, doch haben sie nichts mehr zu tun mit den abstrakten Filmexperimenten Richters in den zwanziger Jahren. Andererseits scheiterte Richter in diesen Jahren immer wieder bei seinen Versuchen, seine eigenen Filmprojekte zu realisieren. Sein in der UdSSR begonnener Film Metall blieb unvollendet, und die Filmprojekte Keine Zeit fiir Tränen nach einem Drehbuch von Anna Seghers und Die Lügen des Baron Münchhausen, für den der Filmpionier George Melies die Dekorationen entwerfen sollte, konnten nicht einmal begonnen werden. Seit 1934 schrieb Richter im Exil neben seiner Filmarbeit an seinem zweiten Filmbuch, das er 1939 vollendete, das jedoch erst vierzig Jahre später um etwa ein Drittel gekürzt unter dem Titel Der Kampf um den Film veröffentlicht wurde.20 Nachdem er 1929 in seinem ersten Buch Filmgegner von heute — Filmfreunde von morgen vor allem Fragen der Filmästhetik behandelt hatte, stellte Richter in diesem Werk »hauptsächlich die gesellschaftliche Verantwortung des Films als Massenmediumv. heraus. Das Buch ist zugleich »eine bewußte Stellungnahme gegen totalitäre Regime wie das des Dritten Reichs«21 und schließt auch mit einem Appell an Leser und Filmemacher: »Begriffe wie >Menschenwürde< und >Geistesfreiheit< werden die Geschichte des fortschrittlichen Films als einen Teil der Geschichte des fortschrittlichen Geistes und der Menschheit unserer Zeit kennzeichnen. Ob Freiheit und Fortschritt siegen oder untergehen, das hängt von der Entwicklung ab, in deren Mitte wir stehen — also auch von uns selbst. Seien wir uns dieser Verantwortlichkeit bewußt.«22 Das kommerzielle Filmschaffen Richters endete mit seiner Emigration in die USA. Vermittelt von dem Eisenstein-Schüler Jan Leyda hielt Richter 1941

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einen Vortrag vor den Mitgliedern der Documentary Film Producers Association, und aufgrund dieses Vortrags bot ihm der Filmproduzent Irving Jacoby die Leitung des neugegründeten Institute of Film Techniques am New Yorker City College an, das Richter dann bis 1956 leitete und an dem er lehrte. Unter Richters Leitung wurde das Film Institute »rasch zum Mittelpunkt des Filmgeschehens an der Ostküste und rechtfertigte Richters gelegentliches Prahlen damit, daß praktisch jeder amerikanische Experimentalfilmemacher der Nachkriegszeit und wenigstens ein Mitglied von jeder New Yorker Produktionsgesellschaft das Film Institute irgendwann einmal besucht hatte.« Richter holte bekannte Filmemacher und -historiker als Lehrer an seine Schule, an der zeitweise 23 Tages- und Abendkurse angeboten wurden; er unterstützte zahlreiche Filmaktivitäten auch außerhalb des Colleges und »initiierte beispielsweise den Robert J. Flaherty Preis für den besten Dokumentarfilm des Jahres«23. Nicht zuletzt begann er auch wieder mit seiner eigenen Filmarbeit, bei der er jedoch nicht mehr an seine frühen abstrakten Anfänge anknüpfte. Vielmehr entwickelte Richter bereits bei seinem ersten, unvollendet gebliebenen amerikanischen Filmprojekt The Movie Takes a Holiday ( 1944) das Konzept einer Anthologie der Filmavantgarde. Auch sein wichtigster Film aus der Exilzeit, Dreams That Money Can BuylA (1944-1947), folgt im Grunde dieser Idee. Der Film enthält sieben Episoden, die jeweils von einem Künstler aus dem Kreis der Dadaisten und Surrealisten gestaltet wurde: 1. Desire von Max Ernst; 2. The Girl with the Prefabricated Heart von Fernand Léger; 3. Ruth, Roses and Revolvers von Man Ray; 4. Color Records and Nudes Descending a Staircase von Marcel Duchamp; 5. A Ballet in the Universe von Alexander Calder; 6. Circusvon Alexander Calder; 7. Narcissus von Hans Richter. Der nach Richter zwischen »Märchen und Psychoanalyse« angesiedelte Film wurde von der Kritik sehr zwiespältig aufgenommen und großteils abgelehnt, gewann jedoch 1947 auf der Biennale in Venedig einen Preis als »bester Originalbeitrag zum Fortschritt der Kinematographie« und beeindruckte junge amerikanische Filmkünstler wie Jonas Mekas: »Es war kein vollkommener Film — bei weitem nicht so vollkommen wie einige seiner früheren Filme, aber er kam mir zur rechten Zeit.«25 Die Produktion hatte unter chronischem Geldmangel gelitten, die Unterstützung durch Peggy Guggenheim war keineswegs ausreichend, so daß Richter jahrelang über die Hälfte der Produktionskosten von seinem Gehalt zahlen mußte und seine Studenten vor und hinter der Kamera einsetzte, was bei manchen Kritikern zu dem Vorwurf von Laienhaftigkeit führte. Richter arbeitete in diesen Jahren auch wieder als Maler und nahm die Konzeption der »Rollenbilder«, die er Anfang der zwanziger Jahre, vor Beginn seiner Filmarbeit, mit Eggeling entwickelt hatte, wieder auf. Jedoch arbeitete er jetzt auch dabei — ähnlich wie in seinen Filmen — nicht mehr mit rein

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abstrakten Bildern. Vielmehr entstand aus seiner Beschäftigung mit den Ereignissen von Stalingrad eine neue Collageform aus gesammelten Zeitungsausschnitten, die auf einer sechs Meter langen Rolle durch geometrische Formen verbunden sind, die die Kriegsmaschinerie symbolisieren. Nach Stalingrad stellte Richter noch weitere Rollenbilder Invasion und Befreiung von Paris her. Die beiden Filmprojekte The Story of the Unicom und The Minotaur26 konnte Richter in den USA nicht realisieren, seine vollendeten späten Filme sind ausnahmslos Kompilationsfilme, Anthologien von Avantgardefilmen oder retrospektive Dokumentationen der alten Dada-Freunde, in denen Richter auf durchaus eindrucksvolle Weise Werke und Persönlichkeiten der klassischen Avantgarde im Filmbild festgehalten und der Nachwelt überliefert hat, doch sind diese Filme selbst keine avantgardistischen Filme mehr. Als Richter 1956 aus Altersgründen das Film Institute verließ, war er längst »als weiser >Staatsmann< der amerikanischen Avantgardefilmbewegung anerkannt.« Richter hat als Lehrer am Film Institute zahlreiche junge Filmemacher beeinflußt; für Jonas Mekas war er »wie ein unverrückbarer Felsen; seine Maßstäbe waren hoch gesetzt und kompromißlos. Er fragte nach dem Höchsten, nach dem Schwierigsten (...) das war Einfluß und Inspiration an sich. Er war einer unserer Gründerväter und wir respektierten ihn alle und hatten Angst vor seinem väterlichen Urteil.« Für Robert Russett, selbst Filmemacher und Filmdozent, war Richter »wahrscheinlich die einflußreichste Figur auf dem Gebiet des experimentellen Films.« Allerdings, das gemeinsame Band zwischen den jungen amerikanischen Filmemachern und ihrem Ahnherrn Richter war die »geometrische Animation, wie sie Ruttmann, Eggeling und Richter in den frühen 20ern entwickelten« 27 — nicht seine im Exil entstandenen Filme.

3 Läszlö Moholy-Nagy: Konstruktivist und Amateur »Kunst als Ausdruck subjektiver psychischer Erfahrungen hat jede Bedeutung verloren: sie muß vielmehr die objektiven Bedürfnisse unserer Epoche befriedigen. Die Kunst kann sich nicht der Pflicht entziehen, die ungelösten Probleme in ihrem Verhältnis zum zeitgenössischen Leben zu lösen. Man muß einen Weg finden, um mit neuen Instrumenten und neuen Fachleuten auf gemeinsamer, vorbehaltloser Basis zu arbeiten.« 28 An diesem schon 1922 formulierten Credo hat Moholy-Nagy sein Leben lang festgehalten, er blieb seiner Uberzeugung treu, daß »nur eine gründliche Umwandlung der Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen und eine wirkliche Erneuerung seiner schöpferischen Kräfte jene radikale Veränderung der sozialen Beziehungen und jenen Aufbau eines sozialistischen

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>neuen Humanismus< herbeiführen würden«29. Seine Ideen konkretisierte Moholy-Nagy in den zwanziger Jahren in zahlreichen Entwürfen, theoretischen Schriften und in seinen Filmen. Sein gesellschaftliches Engagement tritt besonders deutlich in dem Drehbuch Dynamik der Gross-Stadt (1924) und dem Film Großstadt-Zigeuner (1932) hervor, während seine theoretischen Schriften wie sein Bauhausbuch Malerei Photographie Film*3 eher von konstruktivistischen Ideen geprägt sind. Seine programmatische Suche nach den »neuen Instrumenten« führte in seiner Arbeit zu einem Ineinanderfließen von Malerei, Architektur, Theater, Fotografie und Film, wie vor allem in seinem Lichtrequisit einer elektrischen Bühne erkennbar wird, dessen Licht-, Schatten-, Bewegungs- und Raumgestaltung Moholy-Nagy 1930 in dem Film Ein Lichtspiel schwarz-weiß-grau festgehalten hat. Moholy-Nagy hatte sich bereits 1933 von diesen abstrakten Experimenten abgewandt und mit dem 1933 gedrehten Film Architekturkongreß den neuen Weg des persönlichen Tagebuchfilms beschritten. Als Amateur, mit einer I6mm-Handkamera, drehte er einen Reisebericht von dem Internationalen Architekturkongreß, der auf einer Mittelmeerkreuzfahrt Marseille - Athen - Marseille stattfand. Er war dabei sein eigener Kameramann, Drehbuchautor, Cutter und Regisseur und entwickelte eine eigene, nicht-narrative Dramaturgie der Darstellung. Seine Kameraeinstellungen zeigen seine auch aus seinen Fotografien bekannte Vorliebe ftir ungewöhnliche und verfremdende Perspektiven, und auch seine Lichtgestaltung ist von extremen Licht- und Schattenspielen geprägt. Moholy-Nagy hielt an dieser Produktionsweise fest, er distanzierte sich sowohl von der industriellen Filmproduktion als auch von der unabhängigen avantgardistischen Szeneproduktion und entwickelte auch in den folgenden Jahren seine persönliche Form des Tagebuchfilms. Moholy-Nagy sah, ganz ähnlich wie Joris Ivens, seit dem Aufkommen und der technischen Perfektionierung der handlichen 16mmKameras im Filmamateur die einzige Zukunft für den wahrhaft unabhängigen und künstlerischen Film, auf den er seine Hoffnungen setzte.31 Durch das Exil wurde allerdings seine filmische Arbeit besonders stark beschnitten; seine 1936/37 in England gedrehten Auftragsproduktionen Lobsters und The New Architecture and the London Zoo sind konventionellere Dokumentationen, und die von ihm entwickelten Spezialeffekte und Architekturentwürfe für den von Alexander Korda produzierten Science-fiction-Film Things to Come (1936) wurden bis auf eine kurze Sequenz nicht im fertigen Film verwendet.32 Im amerikanischen Exil übernahm Moholy-Nagy 1937 zunächst die Leitung des New Bauhaus in Chicago und eröffnete nach dessen schnellem Ende die eigene School of Design, deren Programm auf die Ausbildung von Designern und Architekten ausgerichtet war und die größte Bedeutung für die Entwicklung der modernen Gestaltung erlangt hat. Sein erst nach seinem

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Tod publiziertes Hauptwerk Vision in MotiorP3, in dem Moholy-Nagy sein Erziehungsprogramm zusammengefaßt hat, hat seine Ideen auch wieder nach Deutschland zurückgebracht, die vor allem in der Ulmer Hochschule für Gestaltung weitergeführt wurden. In Moholy-Nagys eigenem Schaffen stand in seinen letzten Jahren die Malerei wieder im Mittelpunkt, doch hat er auch seine Filmideen weiterentwickelt. Vor allem spielte der Film eine wichtige Rolle in seinem interdisziplinären Unterrichtsprogramm. Erst vor einigen Jahren sind sieben Filme wiederentdeckt worden, die Moholy-Nagy offenbar gemeinsam mit Studenten in den Jahren 1940 bis 1945 gedreht hat und die Dokumentationen und Tagebuchfilme über die Arbeit und Fortschritte der Studenten sind.34 Moholy-Nagys Wirkung als Künstler und Lehrer im Bereich von Design, Architektur, Fotografie und Malerei ist unstrittig, im Filmbereich hat er bislang vor allem als Theoretiker mit seinen Schriften aus den zwanziger Jahren gewirkt, das allgemeine Verdikt über seine Filmpraxis war, daß seine Filme hinter seiner Theorie zurückblieben. Dem hat jüngst Horak scharf widersprochen und darauf hingewiesen, daß ein großer Teil von MoholyNagys Filmen praktisch verschollen oder bislang nicht zugänglich war, und in einer genauen Analyse der Dokumentar-und Tagebuchfilme gezeigt, daß Moholy-Nagy mit ihnen als Vorläufer der amerikanischen Filmavantgarde der fünfziger und sechziger Jahre gelten darf, die gerade diese Filmformen übernommen und weiterentwickelt hat. 4 Helmar Lerski und die Anfänge des Films in Israel Der Fotograf und Kameramann Helmar Lerski35 hatte zwar seit 1917 kontinuierlich in der deutschen Filmindustrie gearbeitet, war jedoch nicht mit eigenen Filmen hervorgetreten. Dennoch kann er zum erweiterten Kreis der Filmavantgarde gezählt werden, da er prononcierte Ideen zur Lichtgestaltung des Films und zur Verwendung und zum Einsatz von Großaufnahmen verfocht. Lerskis Absicht, auch in seinen zahlreichen fotografischen Porträtserien, war es, »durch künstlerisch und technisch neue Anwendung und Anordnung der Lichtquellen... alle Seelenvorgänge eines Menschen, im Antlitz mit der Bildkraft lebendigster Wirklichkeit widerzuspiegeln.«36 Diese Ideen konnte Lerski auch bei künstlerisch ambitionierten Regisseuren in die Filme einbringen, da ihm als Kameramann ein Mitspracherecht zugestanden wurde und er nicht nur Anweisungen des Regisseurs auszuführen hatte. Als Kameramann arbeitete Lerski auch an mehreren avantgardistischen Spielfilmen mit, wie Paul Lenis Wachsfigurenkabinett {1923), Berthold Viertels Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins ( 1926), einem Querschnittfilm, für den der Filmtheoretiker und -autor Béla Baläsz das Buch geschrieben hatte, und Sprengbagger 1010 (1929).

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Als Regisseur konnte er jedoch erst im Exil in Palästina, wo er seit 1932 lebte, eigene Filme realisieren. 1933 drehte er seinen ersten Film Avodah (Arbeit), in dem es um die Aufbauarbeit Palästinas, um die Einwanderung und die Suche nach Wasser und die Fruchtbarmachung des Landes geht. Der mit dokumentarischen Bildern arbeitende Propagandafilm lehnte sich in der Montage deutlich an avantgardistische Filme an, denn seine »Bilder (steigern) sich oft zu höchster Dynamik. Mensch und Maschine ist der Vorwurf. Die Maschinen in ihrem Takt, das Schwingen der Räder, das Hämmern der Kolben und Rattern der Bohrer. Seit dem Potemkinfilm haben wir diesen Rhythmus nicht mehr erlebt.« 37 Lerskis Film wurde weit über Palästina hinaus bekannt und mit großem Erfolg bei der Kritik in London, Wien, Prag, Budapest und sogar bei der Biennale in Venedig 1935 vorgeführt. Sein zweiter, 1934/35 gedrehter Film Hebrew Melody, ebenfalls ein zionistischer Propagandafilm, wurde sogar in Berlin unter Mitwirkung des Orchesters des Jüdischen Kulturbundes vertont. Der trotz guter Kritiken mangelnde Publikumserfolg seiner Filme ließ Lerski vorerst wieder als Fotograf arbeiten. Erst 1939 kam er wieder mit dem Film in Berührung, als er auf Golda Meirs Vorschlag hin die Filmabteilung der Histadruth aufbaute; er organisierte Filmworkshops, in denen kurze Dokumentarfilme für den Einsatz im Ausland gedreht wurden. In einem Interview sagte der damals siebzigjährige Lerski über seine Arbeit: »At my age I cannot expect to make the Palestine film of the future. I can only hope to train people who will stand on my shoulders. First small documentary films, then a real Palestinian picture. No Hollywood. Something springing from this soil. Born out of the strife and struggle of the hard land.« 38 Wegen des Krieges in Europa wurde diese Filmarbeit, aus der mehrere Dokumentarfilme hervorgingen, jedoch 1941 eingestellt. Erst 1947 drehte Lerski seinen letzten Film Adamah, die Geschichte eines Waisenkindes, das Auschwitz überlebt und in einem israelischen Kinderdorf seine psychischen Schäden überwindet. Der Film wurde in USA ohne Lerskis Einwilligung stark bearbeitet und kam dann unter dem Titel Tomorrow is a Wonderfiil Day heraus: trotz Lerskis wütenden Protesten gegen diese verstümmelte Fassung wurde der Film in dieser Version ein großer Publikumserfolg und weltweit gespielt. Wiederum lobte die Kritik enthusiastisch nicht nur den dokumentarischen Inhalt — »a highly significant document« — sondern auch »continuity and photography«: »In terms of its ligthing and photography, Adamah was a typical Lerski film«, urteilt der Filmhistoriker Jan-Christopher Horak. »Utilizing numerous close-ups, reflecting the bright sun through mirrors into his youthful actors' faces, presenting the skewed vision of its young hero, Benjamin, through obtuse camera-angles, Lerski gives the village of Ben Shemen a larger-than-life presence. At the same time, Lerski's fragmented editing and the multitude of spoken languages (...)

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create a sense of emotional chaos...« Horak hält Lerski für den mit Abstand originellsten Filmemacher, der vor der Staatsgründung in Israel gearbeitet hat und der am Beginn der israelischen Filmgeschichte steht: »It was the single-mindedness of his artistic visions, his formal concerns as >writer with lightThe Minotaur< (1948-1952)«. In: Hans Richter. Malerei und Film (s. Anm. 5), S. 112-116, und in demselben Katalogbuch den Faksimileabdruck von Hans Richters Manuskript The Minotaur, S. 1 1 7 - 1 4 5 . — 27 Starr (s. Anm. 23), S. 36. — — 28 Manifest der Gruppe MA aus dem Jahr 1922, zitiert nach Gianni Rondolino: »Läszlö Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film«. In: Ausstellungskatalog(s. Anm. 6), S. 1 3 - 2 0 , S. 13. — 29 Ebd. — 30 Läszlö Moholy-Nagy: Malerei Photographie Film. München 1925 (= Bauhausbücher Serie 1, Bd. 8). Nachdruck Mainz 1967. — 31 Jan-Christopher Horak: »Läszlö Moholy-Nagy: The Constructivist Urge«. In: ders.: Making Images Move. Photographers and Avant-Garde Cinema. Washington, London 1997, S. 1 0 9 - 1 3 6 , S. 130 f. — 32 »Things to Come«. In: Dietrich Neumann (Hg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bisBlade Runner. München, New York 1996, S. 118-121. — 33 Läszlö Moholy-Nagy: Vision in Motion. Chicago 1947. — 34 Horak (s. Anm. 31), S. 134. — 35 Da es mir nicht möglich war, Lerskis Filme selbst zu sichten, folgt meine Darstellung der Filmarbeit Lerskis dem Ausstellungskatalog Helmar Lerski, Lichtbildner. Fotografien und Filme 1910-1947. Hg. von Ute Eskildsen und JanChristopher Horak. Essen 1983, und Jan-Christopher Horak: »Helmar Lerski: The Penetrating Power of Light«. In: Making Images Move (s. Anm. 31), S. 5 5 - 7 8 . — 36 Ute Eskildsen/Jan-Christopher Horak: »Israel Schmuklerski. Helmar Lerski 1876—1956. Schauspieler, Fotograf und Filmer«. In: Helmar Lerski, Lichtbildner (s. Anm. 35), S. 5 - 2 2 , S. 9. — 37 Kritik über Avodah in der Jüdischen Rundschau vom 13. 8. 1935, zitiert nach Eskildsen/ Horak (s. Anm. 36), S. 16. — 38 »Lerski at Seventy«. In: PalestinePostvom 2\. 2. 1941, zitiert nach Horak (s. Anm. 35), S. 74. — 39 Alle Zitate ebd., S. 75 ff. — 40 Der Maler Peter Weiss. Bilder. Zeichnungen. Collagen. Filme. Ausstellungskatalog. Bochum 1982. Peter Weiss: Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Beat Mazenauer. Frankfurt/M. 1995- (Die schwedische Ausgabe ist 1956 erschienen.) — 41 Daß über Peter Lilienthal bislang eine ausführliche Monographie fehlt, deutet auf die Außenseiterposition dieses Film- und Fernsehregisseurs hin. Vgl. zu ihm Klaus Eder: Peter Lilienthal. Goethe-Institut 1984, sowie den Eintrag in CineGraph (vgl. Anm. 1) und die dort nachgewiesenen Interviews. — 42 Scheugl/Schmidt (s. Anm. 4), Bd. 2, S. 1083. — 43 Harun Farocki: »Gespräch mit Peter Weiss«. In: Filme und Texte von Peter Weiss. (= Filmkritik Nr. 294, Juni 1981), S. 2 4 5 - 2 5 2 , S. 247. — 44 Ebd., S. 245. — 45 Vgl. hierzu Peter Lilienthals Essays: »Abgewendete Blicke« (1979). In: Augenzeugen. 100 Texte neuer deutscher Filmemacher. Hg. von Hans Helmut Prinzler u. Eric Rentschier. Frankfurt/M. 1988, S. 310 f., und »Meine Brüder, meine Kinohelden«. In: Für Konrad Wolf.(= Film und Fernsehen, H.l 0/Oktober 1982), S. 65. — 46 Da es mir nicht möglich war, die frühen experimentellen Filme Lilienthals zu sichten, stütze ich meine Ausführungen auf die hier angegebene Sekundärliteratur. — 47 Eintrag über Lilienthal in CineGraph {s. Anm. 1).

Jörg Jewanski

»Ich brauche mich mit >Geschäften< nicht mehr zu befassen, nur mit Kunst« Alexander Laszlo und die Weiterentwicklung seiner Farblichtmusik im amerikanischen Exil

»Wie das Leben hier ist? Ein Eldorado dagegen, was ich in den letzten Jahren durchmachte. Erst hier bin ich wieder ein Kulturmensch geworden (...)«'. In diesem schwärmerischen Tonfall sind viele Briefe Alexander Läszlös gehalten, die er aus seinem amerikanischen Exil an seine Freunde in Europa schickte. Am 13. Oktober 1938 war er, der ungarische Halbjude, auf seiner Flucht in New York angekommen und hatte am 28. Dezember 1938 den Antrag auf Staatsbürgerschaft gestellt. Der oben zitierte Brief ist mit 29. März 1939 datiert, Laszlo war also erst seit wenigen Monaten in Amerika. Innerhalb dieser kurzen Zeit hatte er sich so weit etabliert, daß er künstlerisch arbeiten konnte und noch dazu keine Geldsorgen hatte. Nicht jedem Flüchtling war das so schnell gelungen — wenn überhaupt. Kurze Zeit später ermutigte er schon alte Freunde, es ihm nachzumachen und auch nach Amerika zu kommen: »Sie werden ja, wenn Gott will, dieses einzigartige Land auch erleben. Es gibt das nur einmal in der Welt. Alles haben wir hier in Fülle. Stellen Sie sich mal das vor: Sie fahren auf einer wundervollen Straße, machen ihr Radio in ihrem Wagen an, hören sogar mal eine Station ungarisch, bleiben am Wegrande stehen und können für 10c die wundervollste grüne Melone eisgekühlt bekommen, oder Ananas, oder was nur auf dieser Erde wächst, fahren durch die Staaten New York, New Jersey, Pennsylvania, Maryland, ohne Grenzen, ohne Paß, ohne etwas, als freier Mensch, und wo sie hinkommen, freundliche, liebe Menschen, und heiliger Friede ...« 2 . Daß es ihm so gut ging, lag daran, daß er etwas in seinem Handgepäck aus Europa mitgebracht hatte, das ihm in kürzester Zeit in New York Kontakte mit der an der Filmavantgarde interessierten Szene einbrachte und seine Existenz im amerikanischen Exil sicherte: seine Farblichtmusik.

I Rückblick Zunächst müssen wir die Vorgeschichte in Deutschland betrachten, nicht nur, um die Farblichtmusik zu verstehen und in die Kunstentwicklung der 1920er Jahre einordnen zu können, sondern auch, um die deutsche Situa-

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tion mit der in New York vergleichen zu können, die Läszlö dort 1938 vorfand. Alexander Läszlö, 1895 in Budapest geboren, Pianist, Komponist und Dirigent, lebte seit 1918 in Deutschland, erst in Berlin, dann in und um München. International bekannt wurde er ab 1925 durch die Farblichtmusik, ein Avantgardeprojekt, mit dem er zu »einer der Randfiguren der experimentellen Filmbewegung der zwanziger Jahre«3 wurde. Hierbei handelt es sich um eine gleichzeitige Darbietung von Klaviermusik und auf eine Leinwand projiziertem abstrakten und changierenden Färb- und Formenspiel mit dem Ziel, Malerei und Musik zu einer neuen Kunst zusammenzuführen. Basierend auf Läszlös synästhetischen Erscheinungen, also seinen inneren Farbvorstellungen, die er bei Musik empfand, hatte er zusammen mit dem Maler Matthias Holl Bilder entworfen, die auf Dias übertragen und mittels eines Farblichtklaviers auf eine Leinwand projiziert wurden. Dieses von Läszlö entwickelte Instrument bestand aus einer Art Mischpult, mehreren Projektionsapparaten und weiteren Lichtquellen, die durch spezielle technische Vorrichtungen wie Radkonstruktionen, Farbfilter oder Möglichkeiten zur Veränderung des Fokussierpunktes gesteuert wurden. So ließen sich die Projektionen der an sich starren Dias auf der dreigeteilten Leinwand beweglich gestalten. Während sich die Farben und Formen ständig veränderten, spielte Läszlö gleichzeitig auf einem Konzertflügel - entweder Eigenkompositionen wie die Träume. Fünf Stücke für Klavier und Farblicht (op. 9, 1926), Elf Präludien für Klavier und Färb licht (op. 10, 1925) und die dreisätzige Sonatina für Klavier und Farblicht (op. 11, 1926) oder Klaviermusik anderer Komponisten: Maurice Ravels Jeux d'eaux, Claude Debussys Mouvement aus Images oder Alexander Skrjabins Vers la flamme (op. 72). Zum ersten Mal aufgeführt wurde die Farblichtmusik am 16. Juni 1925 in Kiel während des 55. Deutschen Tonkünstlerfestes. Damit war Läszlö über Nacht in ganz Deutschland populär. In dutzenden von Artikeln hatten er und sein Mitarbeiter und früherer Klavierschüler Otto A. Graef in Tageszeitungen und Fachzeitschriften diese Aufführung schon im Vorfeld zum Ereignis stilisiert. Zahlreiche wichtige Kritiker aus Musik- und Kunstwissenschaft waren in Kiel und besprachen hinterher diese neue Kunst. Etwa zwei Jahre lang jagte ein Konzerttermin den nächsten. Jeder wollte die Farblichtmusik sehen. Allein während der Düsseldorfer Gesolei-Ausstellung 1926 fanden binnen fünf Monaten ca. 1.200 Aufführungen statt, die von 41.499 Personen besucht wurden. Die überwiegend negative Kritik pendelte zwischen Avantgarde und Kitsch, zwischen neuer Kunstform und Kunsthandwerk, zwischen Gesamtkunstwerk und bloßer artistischer Spielerei.4 So neu und spektakulär die Farblichtmusik 1925 erschien, ist sie doch eine zeittypische Erscheinung und in die Kunstströmung der bewegten Malerei und, damit zusammenhängend, des absoluten Films einzuordnen: Versuche,

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den Parameter Zeit in die Malerei zu integrieren, unternahm zum Beispiel der englische Landschaftsmaler Alexander Wallace Rimington, der 1895 in London eine Farbenorgel öffentlich vorgeführt hatte. Er wollte die Farben beweglich machen und experimentierte statt mit Farben mit flexiblen farbigen Lichtquellen und einer Leinwand. Dieses Farbenspiel wurde sowohl gleichzeitig zur Musik als auch als reine Farbenkunst aufgeführt; die Abfolge der farbigen Lichter wurde sowohl durch die Musik gesteuert, indem er einzelne Töne mit einzelnen Farben koppelte, als auch unabhängig davon festgelegt. 1911 erschien sein Buch Colour-music. The Art of Mobile. Im deutschsprachigen Raum hatte 1916 Bernhard Diebold die »Starrheit aller Malerei«5 als hemmend für die Kunstentwicklung betrachtet. 1921 forderte er: »Wenn ihr mit dem Pinsel Musik erzeugen wollt, dann müßt ihr Gemälde in die Zeit versetzen, d.h. Farben bewegen. Und eure ultima ratio wird notwendig die kinetische Malerei sein.«6 Die Integration der Zeit in die Malerei wurde von Malern unterschiedlich gelöst: Robert Delaunay wählte ein extrem langes Format bei Les Fenêtres sur la ville (1912, 53x207cm), Paul Klee überlagerte unterschiedlich strukturierte Flächen und gelangte zu einer polyphonen Malerei Wie in Polyphon gefaßtes Weiß{ 1930) 7 . Breite und Tiefe waren die Möglichkeiten der Leinwand. Andere Maler wandten sich von der Malerei ab und dem absoluten Film zu. Walther Ruttmann, Viking Eggeling und Hans Richter experimentierten ab der zweiten Hälfte der 1910er Jahre mit Rollenbildern und gelangten darüber zum Film. Ihre nicht-narrativen Filme bestanden aus sich bewegenden Linien, Formen und Flächen. Schon Titel wie Film ist Rhythmus (Richter) oder Symphonie Diagonale (Eggeling) zeigen, daß sich die Filmkünstler an der Musik orientierten. Aufgeführt wurden diese absoluten Filme in zwei Matineen am 3. und am 10. Mai 1925 in Berlin, organisiert von der Novembergruppe. Ergänzend waren dem damaligen Programm unter dem Titel Der absolute Film zwei französische Beiträge von Fernand Leger /Dudley Morphy {Ballet Mécanique [= Images mobile\) und René Clair (Entr'Acte), die Realaufnahmen integrierten, beigefügt, sowie Ludwig Hirschfeld-Macks Dreiteilige Farbensonatine, die kein Film war, sondern Reflektorische Farbenspiele und parallel zur Musik dargeboten wurde. Ein Kritiker beschrieb sie so: »Wie ein frühes Aquarell von Paul Klee, bunte Flächen, die übereinander, gegeneinander, durcheinander bewegt sind.«8 Die auf der Berliner Matinee gezeigten sieben Filme und die Farbenspiele gelten heute als »Klassiker der Filmavantgarde« 9 . Die Veranstaltung kann als Höhepunkt und gleichzeitig als Ende des absoluten Films in Deutschland verstanden werden. Für den weiteren Verlauf unserer Gedanken bezeichnen wir als Avantgarde- bzw. Experimentalfilm jegliche Form von Film, der ausschließlich künstlerische Ziele verfolgt und neue Entwicklungen einleiten will. Zu ihm gehört der absolute Film, der gegenständliche Abbildungen aufweist, jedoch nicht

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narrativ ist, und als dessen Sonderform der abstrakte Film, der auf jegliche Gegenständlichkeit verzichtet. Läszlös Farblichtmusik ist dem abstrakten Film verwandt. Zu der europäischen Avantgarde ist also auch Läszlös Farblichtmusik zu zählen. Nur war sein Medium nicht der Film, sondern eine Mehrfachdiaprojektion. Dieses Verfahren hatte auch der Experimentalfilmer Oskar Fischinger angewandt, bevor er, unter Beibehaltung seiner künstlerischen Ideen, Filme erstellte. Er hatte 1927 die teilweise kolorierte Mehrfach-Projektion R1 —Ein Formspiel fertiggestellt, die dann in Läszlös Farblichtmusik verwendet wurde. In der Musik gab es einen Vorläufer: Alexander Skrjabin, der 1908 bis 1910 in Le poeme du feu >Promethee< für Orchester, Chor und Tastieraper luce, op. 60 eine Vertiefung des musikalischen Empfindens durch die gleichzeitig dargebotene Farbstimme erreichen wollte. Aufgeführt wurde das Werk erstmals mit Lichteinsatz am 20. März 1915 in New York, der Stadt, in der Läszlö ab 1939 seine eigenen Versuche von Musik und Licht fortsetzen sollte. Zeitgleich mit der Berliner Matinee führte Läszlö also seine Ideen einer neuen Einheit von Musik und zeitlicher Malerei 1925 in Kiel auf. Seine technischen Konstruktionen, um die Starrheit aller Dias mit Kinetik anzureichern, lassen den Film als künstlerisches Ziel erkennen. Der Farbenfilm war jedoch noch nicht erfunden. Während manche der absoluten Filme schwarzweiß waren, andere schon handkoloriert, konnte die Farblichtmusik zwar mit voller Farbenpracht glänzen, hatte dafür das Handicap der trägen Projektionsbedienung. Am Bauhaus, an dem 1925 auch Hirschfeld-Mack studierte, arbeitete der Ungar Läszlö Moholy-Nagy an seinem Licht-Raum-Modulator (= Das Lichtrequisit) (1922-30). Für ihn war die Licht-Komposition »ein neues künstlerisches Medium (...), wie die Farbe in der Malerei oder der Ton in der Musik.« 10 So fanden zur gleichen Zeit mit unterschiedlichen Mitteln ähnliche künstlerische Experimente statt. 1927 hatte Läszlö einen eigenen absoluten Film hergestellt, Pacific 231, nach der Musik von Arthur Honegger. Ab 1928 arbeitete er als Professor an der Staatlichen Deutschen Filmschule und beschäftigte sich mit den neuen Möglichkeiten des Tonfilms. 1933 flüchtete er zurück in seine ungarische Heimat — »1933 hat mich Hitlers Bewegung von meinem Lehrstuhl der Deutschen Schauspiel- und Film-Schule aus München vertrieben« 11 - und schrieb in einem Lebenslauf: »1933: am 1. Mai: Herr Hitler kommt - Herr Läszlö geht.«12 Während in Deutschland seine Farblichtmusik explizit als »modernistisch aufgeputzte jüdische Pseudokunst« 13 diffamiert wurde, übernahm Läszlö in Budapest vielfältige Aufgaben in der Filmbranche. Für neue Experimente an der Farblichtmusik blieb wenig Zeit. Trotzdem unternahm er Farbfilmversuche und stand mit Fischinger im Kontakt, mit dem er schon 1925 bis 1927 zusammengearbeitet hatte. Er schrieb ihm am 14.7.1935: »Ich sah aber schon lange, daß der Weg nicht durch ein eigenes Instrument

198 Jörg Jewanski {Farblichtklavier), sondern über den Farbfilm fuhrt.«14 In weiteren Briefen wurde ihre Zusammenarbeit präzisiert, aber im Februar 1936 emigrierte Fischinger in die USA. Nach dem >Anschluß< Österreichs 1938 mußte Läszló aus Ungarn fliehen. In seinem maschinenschriftlichen Lebenslauf heißt es: »1938: Antisemitismus und Judengesetze in Ungarn zerschlagen jede produktive Arbeit. Geleistete Filmkompositionen Làszlós gingen unter Namen von arischen >Komponistenmodern painter< has been struggling for over a century.«19 Wilfred gab seine frühere Karriere als Lautensänger auf, um sich der Art of Light zu widmen. 1926 illustrierte er Scheherazade von Nikolai Rimskij-Korsakov unter dem Dirigat von Leopold Stokowski mit Formen und Farben. 1930 gründete er ein Art Institute of Light mit integriertem Konzertsaal. So wurden 1933 zweimal wöchentlich Aufführungen gegeben. Verbesserte LumiaModelle und Auffuhrungen in USA und außerhalb folgten. Der skizzierte Stand der abstrakten Malerei und die Arbeiten Wilfreds mögen zunächst reichen, um festzustellen, daß es in den 1930er Jahren in New York eine an kinetischer Kunst und absolutem Film interessierte Avantgardebewegung gab, so daß Läszlö einerseits mit seiner Farblichtmusik nicht konkurrenzlos war, andererseits mit Interesse an seiner speziellen Kunst rechnen durfte. Jedoch kannte er diese Strömungen nicht, als er Ende 1938 emigrierte. Mit der Geschichte der Farbenmusik hatte er sich in seinem Buch Die Farblichtmusik (1925) auseinandergesetzt. Nach 1927 verlagerte er seine Interessen ja zur Filmmusik. In den Briefen aus Budapest klagte er gegenüber Fischinger, daß ihm keine Zeit bleibe, sich intensiv mit der Weiterentwicklung seiner neuen Kunst zu beschäftigen. Läszlö wußte also nur, daß Skrjabins Promethee 1915 mit Farbenklavier in New York aufgeführt worden war.20 Wilfred kannte er nur dem Namen nach, wenn in Artikeln über die Farblichtmusik auch auf ihn Bezug genommen wurde. Die Entwicklungen der abstrakten Malerei in Amerika werden ihm unbekannt gewesen sein. Der Entwicklungsstand seiner eigenen Farblichtmusik entsprach etwa dem Jahr 1927, seitdem hatte er sich anderen Projekten zugewandt. Was Läszlö über moderne Kunst in Amerika konkret wußte, war, daß MoholyNagy, mit dem er weiterhin in Briefkontakt stand, seit 1937 als Leiter des New Bauhaus in Chicago kinetische Kunst fördern würde. Aber die ihm

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versprochene Tätigkeit an dieser Einrichtung hatte sich ja kurzfristig zerschlagen. Läszlö lebte als einziger der schon erwähnten Avantgardisten im Umfeld des absoluten Films der 1920er Jahre nun in N e w York. Eggeling war schon 1925 gestorben; R u t t m a n n war in Deutschland geblieben, Clair in Frankreich; Hirschfeld-Mack war 1935 zunächst nach England emigriert und lebte seit 1940 in Australien. Alle anderen in die U S A emigrierten lebten entweder nicht in N e w York oder kamen erst in den vierziger Jahren: Fischinger war 1936 nach Kalifornien emigiriert, M o h o l y - N a g y wirkte seit 1937 in Chicago; Léger emigirierte E n d e 1940 in die U S A , hatte eine Professur an der Yale University in N e w Haven/Connecticut, beschäftigte sich aber mit Malerei; 1941 emigirierte Richter in die U S A , aber zu dieser Zeit hatte für Läszlö schon wieder eine neue Schaffensperiode begonnen. Die Ausgangsbedingungen waren also E n d e 1938 günstig für ihn. Er hatte sich nur mit den amerikanischen Künstlern auseinanderzusetzen.

III D i e G r ü n d u n g der »American Colorlight-Music Society« A n h a n d der kürzlich v o m Autor entdeckten Briefe Läszlös lassen sich sein Leben im Exil, sein künstlerischer Werdegang und seine erneute Beschäftig u n g mit Farblichtmusik in Amerika detailliert rekonstruieren. A m 12. August 1938 hatte Läszlö aufgrund seiner Einladung zum New Bauhaus cm N o n - q u o t a - V i s u m erhalten, a m 20. September 1938 floh er. Im September »saß ich in Triest und wartete auf meinen Dampfer. (Ich packte innerhalb von 2 4 Stunden und verließ Ungarn plötzlich. 24 Stunden später waren die Grenzen wegen der Sudentenland-Tschechen in Ungarn gesperrt. Die Hitler-Rede und Mussolini persönlich hörte ich bereits in Triest.) N u n sollte ich Dir antworten. Was? Es war ja alles so sinnlos.... In N e w York angek o m m e n , hatte ich ein neues Instrument von Zeiss Ikon mitgebracht, welches unter d e m N a m e n >Farblichtprojektor< nach meinem A-Modell heute gebaut wird.« 2 1 S e i t d e m 8. Dezember 1938 war Läszlö Mitglied in àzi American Fédération ofMusicians und beschrieb in seinem ersten erhaltenen Brief aus d e m Exil v o m 2. Januar 1939 seine berufliche Situation. »Es sind natürlich heute Schutzmaßnahmen gegen die N e u a n k ö m m l i n g e , so daß ich auch z. Z . noch Spielverbot habe von der Musikerunion bis zum 1. März. / Musikerunion ist die >MusikergewerkschaftFarblichtspiele< vorgeführt, wobei ich den Klavierpart übernahm.«28 Es gab also doch noch einen zweiten Musiker in New York, der sich mit kinetischer Kunst im Umfeld des deutschen absoluten Films auskannte. Aber der Brief erreichte Läszlö just in dem Moment, als dessen berufliche Zukunft geebnet schien. Neben dem Projekt der Farblichtmusik hatte Läszlö, der immer schon ein brillanter Pianist gewesen war29, eine eigene 30minütige Radiosendung, in der er einmal wöchentlich Colorful Piano Music spielte. Auf dem Programm für April 1939 standen u.a. seine Sonatinafür Klavier und Farblicht, hier also als eigenständiges Klavierstück, Skrjabins Vers la flamme und Haussermanns Tuto >Preludes SymphoniesillustriertMondschein-Sonate< eine Farbenspiel-Begleitung >komponiert< zu haben. Durch geschmacklosen und kitschigen Applaus eines auf falsche Fährte geführten Auditoriums angeführt und durch geschäftstüchtige Patentanwälte unterstützt, erzielte sie u.a. ein Patent auf >crescendodiminuendobranntenur< in der Verbindung der Farb>und< Tonkunst eine erblühende Zukunft für das gestaltlose und farbige Lichtspiel.« Solcherart abgegrenzt von diesen Versuchen fiel es László nicht schwer, Wilfreds Experimente positiv zu würdigen: »Auf alle Fälle müssen wir Wilfreds Standpunkt, absolutes Farbenspiel als Kunstart zu pflegen, ganz und gar anerkennen.« 81

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Die dritte Person, die auf ähnlichem Gebiet arbeitete, war Mary Ellen Bute, die, 1908 geboren, die jüngste der in diesem Sektor arbeitenden Künstler war. Sie lebte seit 1929 in New York und erstellte zwischen 1934 und 1959 elf abstrakte Filme, die im ganzen Land gezeigt wurden. Als Vorfilme zum eigentlichen Hauptprogramm hat ein Millionenpublikum ihre Filme gesehen. Bute war ursprünglich Malerin und, wie andere experimentelle Filmer auch, auf der Suche nach der Integration von Zeit in ihre Kunst. Dabei kam sie 1929 in Kontakt mit Wilfred und sah 1931 auch eine von Fischingers Studien. Sie betrachtete den abstrakten Film als neues Ausdrucksmedium. »Here the artist creates a world of color, form, movement, and sound in which the elements are in a state of controllable flux, the two materials (visual and aural) being subject to any conceivable interrelation and modification.« 82 Die meisten ihrer Filme entstanden zusammen mit dem Kameramann Ted Nemeth, unter anderen Rhythm in Light (1934), der vermutlich erste amerikanische abstrakte Film, eine Visualisierung von Anitras Tanz, dem dritten Satz aus der Peer Gynt Suite Nr. 1 (op. 46) von Edward Grieg, und Escape (1939), eine Visualisierung von Johann Sebastian Bachs berühmter Orgeltoccata in d-moll (BWV 565) 83 . Diese Filme, auch den gerade fertiggestellten Film Escape, ihren ersten Farbfilm, sah Läszlö und urteilte in seinem Vortragsmanuskript: »Auch die Vereinigten Staaten Nordamerikas stellen Kräfte für filmische Versuche farbig-abstrakter Art in die Kampfreihe. Mary Ellen Bute und der Filmoperateur Ted Nemeth schlössen sich zusammen, um schwarz-weiße und farbige non-objective Filme zu produzieren. Leider wurde auch hier die Musik von klassischen Meistern geliehen. Ich sah Filme auf Grieg's >Anitras Tanz< und auf ein Orgelpräludium von Bach. Obwohl Erstlingswerke, tragen diese Filmstreifen eine hoffnungsvolle Zukunft in sich, wenn in der kinetischen und farbigen Komposition mit einer eigens komponierten Musik die künstlerische Führung die Oberhand erhält.«84 Zu Oskar Fischinger, der seit 1936 in Hollywood und 1938 durch die Unterstützung von Rebay eine Zeitlang in New York lebte85, hatte Laszlo nur kurz Kontakt. Fischinger hatte im November 1938, nach seiner Rückkehr aus New York, eine Stelle in den Walt Disney-Studios angenommen und an dem Film Fantasia mitgearbeitet, fur den er Entwürfe zu der Filmsequenz Toccata und Fuge in d-moll von Johann Sebastian Bach erstellte.86 Für seine geplante Vorlesung wünschte Läszlö am 17. Dezember 1939 Photos mit Szenen aus Fischingers abstrakten Filmen87, die auch in New York vorgeführt wurden, unter anderen 1938 die Komposition in Blau (1934/35) in einem >ungarischen< Kino der Firma Danubia-Film der Gebrüder Szenes88 oder im gleichen Jahr mit großem Erfolg im Fifth Avenue Playhouse89. Laszlo und Fischinger hätten sich beide fast noch getroffen, denn sie wollten, unabhängig voneinander, auf der New Yorker Weltausstellung 1939 ihre neue Kunst auffuhren, Läszlö seine Farblichtmusik, Fischinger einen abstrakten

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Animationsfilm zu Dvoräks Symphonie aus der Neuen Welt90. Aber Fischingers Pläne zerbrachen schon im Vorfeld der Ausstellung, und Läszlös Fertigstellung seiner Apparatur hatte sich immer mehr verzögert. In seinem Vortrag würdigte er Fischingers Filme mit den Worten: »Einer der talentiertesten zwischen den Filmtechnikern ist Oskar Fischinger, dessen Namen Sie sich merken müssen. Er arbeitete 1927 noch mit mir in München, dann - ein Sonderling wie er war - ging er die 400 Meilen zu Fuß von München nach Berlin und machte dort die erfreulichsten abstrakten Bilder; 1934 entstand seine Komposition in Blau mit Gasparcolor-System, die auch hier in New York zu sehen war. Sie ist auf die Ouvertüre der Lustigen Weiber von Nicolai synchronisiert. Wenn Fischinger in die Lage käme, solche Kompromisse gegenüber dem Publikum nicht mehr machen zu brauchen, so ist ihm eine große Zukunft sicher.«91 Walter Ruttmanns Opus 2, 3 und ^ waren auf der Berliner Matinee 1925 vorgeführt worden. Auch er kam von der Malerei und war auf der Suche nach einer Malerei mit Zeit. 1927 entstand Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, ein Film ohne Schauspieler und literarischen Inhalt, jedoch mit gegenständlichen Motiven und damit als Weiterführung seiner früheren abstrakten Filme zu verstehen. 92 Auch Laszlö hatte 1927 einen absoluten Film erstellt, Pacific 231, den fast jeder Kritiker mit Ruttmanns Berlin verglichen hatte. Dabei war Läszlös Film vor Ruttmanns gedreht worden. Dessen Film war 1939 in New York zu sehen, und Laszlö kommentierte ihn in seinem Vortragsmanuskript: »Walter Ruttmanns >Symphonie der Großstadt< ist Besuchern des >Museum of Modern Art< nicht unbekannt. Der Film wird dort ständig auf dem Programm gehalten. Ich erwähne diesen Film hauptsächlich aus dem Grunde, weil in ihm konkretes Bildmaterial in Form von Montage und Uberblendung zur abstrakten Form verändert und als innerliches Gestaltungsmaterial verwendet wurde.« 93 Von der abstrakten Malerei kannte Laszlö zum Beispiel Bilder von Kandinsky. Bis 1939 waren in Amerika dessen Werke mehrfach ausgestellt worden, veranstaltet von Rebay im Museum of Non-Objective Painting, doch gelangte sein Werk erst 1945 durch die große Kandinsky-Retrospektive, wiederum im Museum of Non-Objective Painting, ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. 94 Durch die Einbeziehung von Kandinskys Gemälden in seinen Vortrag von 1939 wollte Laszlö auch einen Beitrag zum Verständnis Neuer Kunst leisten, denn: »Bei jeder neu-eröffneten Non-objective-Kunst-Ausstellung werden wir noch eine kopfschüttelnde Menge vorfinden.« 95 In Kandinskys Bildern sah er Beziehungen zur Musik, wie er in seinem Vortrag ausführte. »Seine Bilder sollten dieselbe psychische Wirkung auf die Zuschauer ausüben, wie die Musik, durch konsonante, dissonante Farbharmonien, verschiedene Tempi der Bewegung im Bilde sollten Rhythmen atmen; aufwühlende, beruhigende Farbkombinationen erwirkten rückspiegelnde

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Empfindungen der Seele.« So folgerte er, »daß die Bedeutung ihres Schöpfers für die Farblichtmusik, wie überhaupt für jede Lichtkunst unvergleichlich groß ist.« 96 Die Fortführung der Ideen von Bildern des Blauen Reiters sah er in dreidimensionalen Lichtwirkungen. »Man sah hier durch die Formen, als wären sie trotz der Schwere ihres Materials durchsichtig; Farbflächen schnitten sich in additiver und subtraktiver Weise; die Formen der konstruktiven Geometrie erhielten die Oberhand.« 97 Hier stellte er die Arbeiten unter anderem von Moholy-Nagy, Rudolf Bauer, der 1939 emigriert war, oder Friedrich Vordemberge-Gildewart heraus, einem der frühesten deutschen Vertreter abstrakter Malerei, der in den 1920er Jahren stereometrische Experimente durchgeführt hatte und 1938 emigriert war. Das Photogramm, eine kameralose Photographie, bei der Gegenstände direkt auf lichtempfindliches photographisches Papier gruppiert werden, so daß Licht- und Schattenformen entstehen und sich Konkretes in Abstraktes verwandelt, wurde von Moholy-Nagy und Man Ray zur Kunstform erhoben. In New York wurden in Julien Levy Galleries zwischen dem 17. und 30. Oktober 1939 farbige Exponate von Nicholas Ház gezeigt, auf die László ebenfalls einging. Die Beziehung der abstrakten Malerei und der Photogramme zu seiner eigenen Kunst waren für ihn offensichtlich: »Die weitere Entwicklung der abstrakten Malerei mündete folgerichtig in der Rhythmisierung in der Art der Farbenmusik.« 98 Und: »Wenn diese Formen, Linien und Farb-Wesen nun wirklich durch einen Zauberstab zum Leben erweckt würden, so hätten wir bereits die neue Kunst der Farbenmusik.« 99 Die Nähe zur abstrakten Malerei und zu Photogrammen betonend setzte sich László von den anderen oben geschilderten Versuchen ab: Wilfred arbeite ohne Musik, Fischinger und Hailock Greenewalt verwenden sie nur als Untermalung, jedoch ohne zwingende Verbindung. Bute und Fischinger würden sich durch die Auswahl von populärer klassischer Musik zu sehr dem Publikum anbiedern, Ruttmann gehe mit seinem konkreten Bildmaterial ohnehin andere Wege, die aber mit Lászlós eigenem Film Pacific 231 zu vergleichen seien. Er bemängelte bei diesen Versuchen vor allem das Fehlen einer künstlerischen Einheit von Musik und Bild: »Man benutzte eine künstlerische Materie, den Ton, der aus ganz anderen ästhetischen Voraussetzungen entstand, wie die darüber gelegte Farbe; Tonwerke, deren Struktur, Inhalt, Form und Ausdruck keinerlei Forderungen einer Paarung mit optisch-kinetischen Bildkompositionen stellten.«100 Gemeinsam sei allen Experimenten der zwanziger Jahre das Innovative: »Wenn die eingebrochene Katastrophe des Weltkrieges auch jede produktive künstlerische Arbeit insbesondere in Europa verhinderte, so ist wiederum nicht abzuleugnen, daß die veränderte politische Situation wie eine frische Brise durch die Lande wehte; neue Hoffnungen wurden wach, größere Freiheit des künstlerischen Schaffens gewährleistete den mutigen Vorstoß der Avant-Gardisten. So entstanden die Arbei-

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ten Adrian Bernard Kleins in London, Ludwig Hirschfeld-Macks im Weimarer >Bauhausrauskommen, um Vorpropaganda fiir meine Konzertreise zu machen. Nach diesem langen Präludium wirst Du verstehen, daß meine Leute hier im vorhinein keine Zeile Propaganda anfangen wollen. Dadurch entbehre ich noch jede Verbindung mit Zeitungsleuten (...).« 121 Läszlö wartete und perfektionierte sich und sein Instrument, um dann gleich in großem Rahmen an die Öffentlichkeit zu treten. Seine erste Anfrage galt dem Museum ofNon-Objective Painting, wo er direkt eine eigene Abteilung gründen wollte. Diese Selbstüberschätzung rührte vermutlich von der euphorischen Stimmung her, in der er sich durch die Freundschaft mit der Haussermann-Familie und dem damit einhergehenden Dollarregen befand. Aus heutiger Sicht betrachtet wäre die Errichtung einer Forschungsabteilung zum absoluten Film eine Pioniertat gewesen. Noch heute fehlt solch eine Einrichtung weltweit. Aber 1939 war die Kunst nicht derart in der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt, daß die Notwendigkeit einer solchen Abteilung eingesehen wurde. Hätte Läszlö in gleicher Intensität wie damals in Deutschland farblichtmusikalische Aufführungen gegeben, wäre vielleicht nach einigen Jahren ein solches Institut eingerichtet worden. Aber die Situation in New York war anders als in Deutschland. Es gab zwar eine Tradition des amerikanischen Avantgardefilmes, die jedoch in Amerika ebenso unbekannt war wie die europäische.122 In Lewis Jacobs' Buch The Rise of the American Film, erschienen 1939 in New York, wird der Experimentalfilm nicht erwähnt. Erst in der zweiten Auflage von 1968 erscheint ein diesbezüglicher Anhang. 123 Im Museum of Modern Art begann Iris Barry erst Ende der dreißiger Jahre, ein Filmarchiv aufzubauen und reiste nach Europa, von wo sie Avantgardefilme mit zurückbrachte.124 Das erste den Avantgardefilm thematisierende Festival in Amerika fand erst 1946 unter dem Titel Art in Cinema im Museum of Modern Art in San Francisco statt.125 Weiterhin hatte es in Amerika keine Diskussion der Synästhesie gegeben, also einer Wahrnehmungskoppelung, die durch die Erregung eines Sinnesreizes ausgelöst wird. Läszlö hatte bei sich Farbassoziationen festgestellt, die bei seinem eigenen Klavierspiel auftraten und diese zum Ausgangspunkt seiner Farblichtmusik gemacht. In Deutschland hatte es eine regelrechte Synästhesie-Euphorie gegeben, zahlreiche künstlerische Projekte und wissenschaftliche Studien waren entstanden, die in vier Farbe-Ton-Kongressen (Hamburg 1927, 1930, 1933 und 1936) ihren Höhepunkt fanden. Bei dem ersten hatte Läszlö im Mittelpunkt gestanden. All das war ihm natürlich geläufig, für New York war es neu. Auch die moderne Malerei war in New York nicht so entwickelt wie in Europa. Die im Museum of Modern Art 1936/37 gezeigte Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism setzte Zeichen, aber erst Anfang der vierziger Jahren entwickelte sich unter dem Einfluß von surrealistisch arbeitenden Exilanten der amerikanische abstrakte Expressio-

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nismus, der als Teil der New York School von Künstlern wie Jackson Pollock, Robert Motherwell, Adolph Gottlieb oder Richard Pusette-Dart geprägt war.126 Erstmals wurde New York damit in der Malerei des 20. Jahrhunderts tonangebend. Mit seinen abstrakten Farbspielen hätte Laszlö eigentlich in diese sich formierende Avantgarde gepaßt, aber seine Briefe und sein Vortrag lassen keine Kenntnis der amerikanischen modernen Malerei oder Kontakte zu Künstlern erkennen. Betrachten wir zum Vergleich einen anderen ebenfalls abstrakt arbeitenden Filmer: Thomas Wilfred, der seit Jahren in New York wirkte und ein eigenes Institute of Light gegründet hatte. Vielleicht hätte Laszlö auch diesen Weg wählen sollen, anstatt direkt eine Abteilung im Museum ofNon-Objective Painting oder einen Lehrstuhl für Farblichtmusik an einer Universität bekommen zu wollen. Erst 1942 erwarb das Museum of Modern Art mehrere von Wilfreds Lumia-Apparaten zur Vorführung, exakt 20 Jahre nach der ersten öffentlichen Vorführung in New York. 1968, ein weiteres Vierteljahrhundert später, erhielt Wilfred die Ehrendoktorwürde des Philadelphia College of Art. Bei Laszlö sollte alles innerhalb eines Jahres vonstatten gehen. In Deutschland war er vor allem durch die GVWez-Ausstellung 1926 populär geworden.127 In Amerika griffen er bzw. Haussermann zu hoch. Zur New Yorker Weltausstellung, die unter dem Motto The World of Tomorrow stand, also genau passend für Laszlös Zukunftskunst, und zu der fast 45 Millionen Besucher kamen, war sein Instrument noch nicht fertig.128 Ungeduldig, zu sehr von seiner Kunst überzeugt, zu hohe Ziele verfolgend und zu euphorisch wegen seines reichen Gönners hatte Laszlö den Blick für die Realität verloren und scheiterte. Daher blieben auch seine zahlreichen Manuskripte inklusive der geplanten Notenausgaben unveröffentlicht129, der anvisierte abstrakte farbige Film wurde nicht mehr hergestellt. Etwas sensibler eingeführt, hätte seine Farblichtmusik in einer sich langsam bildenden Avantgardeszene in New York sicherlich eine Chance gehabt. Aus den bisher bekannten Dokumenten läßt sich das Scheitern von Laszlös Farblichtmusik nicht eindeutig erklären. Zu wenig ist bekannt über die Gründe der Ablehnung von Museen und Universitäten, über die Zeit seiner Unterrichtstätigkeit am New York College of Music, über den weiteren Verlauf seiner Freundschaft zu Haussermann und über möglicherweise auch vorhandene rein persönliche Gründe. Die Tatsache, daß er Moholy-Nagy 1945 schrieb, »Do as you think and get rid of all the junk which is not valuable at all«, verdeutlicht einen Wandel von starkem Engagement 1939/40 zu nun zutage tretender Gleichgültigkeit, der möglicherweise auf Verdrängung hinweist.130 Wenige Monate nach dem Beenden seines Farblichtmusik-Projektes wurde am 13. November 1940 in New York Walt Disneys Film Fantasia erstaufgeführt und führte zu einem Siegeszug von technisch perfekten Trickfil-

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men, die an den Bedürfnissen eines breiten Publikums orientiert waren. Mit Ausnahme der Bach- und der Ton-Sequenz, die abstrakt gestaltet wurden, sind die übrigen Teile gegenständliche Zeichentrickfilme. Am Ende der Einleitungstakte von Leopold Stokowskis pompöser Bearbeitung, wenn sich die Musik verdichtet, erscheint im Film auf dem bisher blauen Hintergrund eine leuchtend rote Sonne, danach werden bei den Motivwiederholungen die sich abwechselnden Instrumentengruppen verschiedenfarbig illuminiert. Das entspricht den Vorstellungen, die Hailock Greenewalt hatte. Direkt zu Beginn der Fuge ist Fischingers Handschrift zu erkennen. Im weiteren Verlauf werden unterschiedliche Animations-Techniken eingesetzt, so daß der Film aus einer Sammlung verschiedener Ideen besteht und die Einheit der Musik kein Pendant im Visuellen findet. Bei den anderen Musikstücken wurden zur klassischen Musik wie Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 6 oder Peter Tschaikowskis Nußknackersuite, also Highlights des Repertoires, Handlungen konzipiert 131 . Disney entführt den Zuschauer in eine Fantasie- und Märchenwelt, mit neckischen Geschichten von tanzenden Nilpferden und dergleichen, bei der sich die Musik exakt der Handlung anzupassen scheint. Von der >künstlerischen< Einheit zwischen Musik und Bild, die Läszlö vorschwebte, war dieser Film weit entfernt. Auch Fischinger bezeichnete ihn als »unkünstlerisch« und »geschmacklos« und bestand darauf, daß sein Name nicht in der credit-Liste erschien. 132 Aber Fantasia hatte Erfolg, lief 49 Wochen in New York, spielte im ersten halben Jahr 1,3 Millionen Dollar ein und wurde, über 50 Jahre später, im Januar 1992 mit 14,2 Millionen verkaufter Exemplare das meistverkaufte Video aller Zeiten. 133 Das Attribut des Kitsches, das sich bei Fantasia unweigerlich aufdrängt, war auch einer der Kritikpunkte bei Läszlös Farblichtmusik 1925 bis 1927 in Deutschland gewesen. Ohnehin gleichen sich die Kritiken bei Fantasia und der Farblichtmusik: der Konflikt zwischen Hören und Sehen, der Eingriff in die eigenen inneren Bilder beim Hören, die Frage nach dem kulturellen Wert dieser hybriden Mischung aus Film und Musik. Aber Läszlö hatte an diesen Kritikpunkten gearbeitet. Eine eigens komponierte Musik und ein eigens hierfür >komponiertes< abstraktes Farbenspiel sollten zu einer Symbiose und einem Gleichgewicht der Künste führen, das außerhalb von Disneys Interessen lag, der Fantasia eher als ein Konzert denn als einen Film betrachtete. Die Illustrierung von klassischen Highlights hatte Läszlö abgelehnt. Er kannte Fantasia, ganz sicher hat er ihn auch gesehen. 134

VIII Die Bedeutung der Farblichtmusik für Läszlös Exilsituation Auch wenn die Farblichtmusik scheiterte, war sie es doch, die dem Exilanten Alexander Läszlö einen Neuanfang in einem fremden Land ermöglichte. Und das in doppelter Hinsicht. Moholy-Nagy hatte ihm durch eine ver-

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sprochene Anstellung am New Bauhaus die Möglichkeit gegeben, Europa zu verlassen, Läszlös Sponsor Haussermann sorgte dafür, daß sein Schützling finanziell sorgenfrei leben und sich gleichzeitig seiner Kunst widmen konnte. An Graef schrieb Läszlö im März 1939: »Eines ist dabei wundervoll: ich brauche mich mit >Geschäften< nicht mehr zu befassen, nur mit Kunst, und das auch ohne Geldsorgen. Was brauche ich Ihnen zu sagen, wie glücklich ich bin, und Gott segne Euren >Führer< für all die Freude, die er mir verschaffte.«135 Schon im Januar 1939 hatte Läszlö für sich erkannt: »Ich bin überglücklich darüber, daß ich Europa den Rücken gekehrt habe und leider, leider darüber, daß ich dies nicht schon vor 15 Jahren machte, könnte ich mir heute den Kopf einschlagen.«136 Spekulieren wir: Wäre er 1933 direkt in die USA emigriert, anstatt zunächst in seine Heimat zurückzugehen, hätte er dann ebenfalls die Möglichkeit gehabt, seine Farblichtmusik voranzutreiben, und hätte er dann versucht, möglichst früh an die Öffentlichkeit zu gelangen, wäre es ihm vielleicht ähnlich wie in Deutschland gelungen, großes Interesse für seine Kunst zu erreichen. Fischingers erster abstrakter Film in den USA war An Optical Poem von 1937, jedoch, ähnlich wie bei Bute, auf populäre klassische Musik synchronisiert, hier auf Franz Liszts Ungarische Rhapsodie hl r. 2. Auch wäre vermutlich Laszlös Karriere als Filmkomponist in Hollywood anders verlaufen, wenn er nicht erst 1943, sondern schon sechs Jahre früher dort gewesen und die Konkurrenz der europäischen Emigranten kleiner gewesen wäre. So geriet er in die Massenemigration nach Hollywood Anfang der vierziger Jahre. 137 Aber selbst wenn er 1940 mit seiner Farblichtmusik erfolgreich gewesen wäre, wäre es nicht unbedingt geradlinig weiter aufwärts gegangen. Erstens zeigte der Erfolg von Fantasia ab Ende 1940 die erfolgreiche Kommerzialisierung von Musik-Film-Projekten abseits der Avantgarde. Möglicherweise wäre Läszlö sogar Teil dieser Entwicklung geworden. Zweitens hätte es bald Konkurrenz auf dem Gebiet der theoretischen Auseinandersetzung mit dem absoluten Film gegeben: Im April 1941 emigrierte Richter, der schon bei der Berliner Matinee 1925 mitgewirkt hatte, nach New York aufgrund einer Einladung von Rebay, um über den absoluten Film zu lehren und dort ein Filmarchiv einzurichten. Schon ein Jahr später bekam er eine Stelle im neuen Institute ofFilm Techniques am City College ofNew York, welches er kurz darauf leitete und zum Zentrum des amerikanischen Experimentalfilms der Ostküste ausbaute. 138 Und drittens wurde die Situation für Künstler mit Amerikas Eintritt in den Krieg nach dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 schwierig. »When America entered the war, the experimental film went into limbo.« 139 Auch Wilfred mußte 1943 sein Institute of Light schließen. Erst mit Kriegsende kam es zu einem unerwarteten und heftigen Ausbruch an Aktivitäten von Experimentalfilmern im ganzen Land; dies führte zum Beispiel 1946 zum oben erwähnten Festival Art in Cinema.

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Lászlós Farblichtmusik führte auch dazu, daß er in seinem Vortrag die interessierte Öffentlichkeit auch mit der europäischen Avantgarde bekannt machen wollte. So erscheinen in seinem Manuskript neben den schon erwähnten Personen auch Passagen über Viking Eggeling, dessen Film Diagonal-Sinfonie von 1924 auf der erwähnten Berliner Matinee erstmals öffentlich aufgeführt wurde, über Anatol Vietinghofif-Scheel, der mit seinem Chromatophon von 1929 ähnlich wie Hailock Greenewalt Klaviermusik mit Farben begleitete, oder über die schon oben erwähnten Versuche von Rimington und besonders von Skrjabin. Auch wollte er Louis Bertrand Castel vorstellen, der ab 1723 in Paris das erste Farbenklavier der Geschichte anvisiert hatte und der in Amerika unbekannt war. Historische Studien zur Vorgeschichte der Farbenmusik sind in Amerika nicht bekannt, während László auf die intensive deutsche Forschung und den von ihm ausgewerteten Bestand der New York Public Library zurückgreifen konnte. 140 Nur Donald Stephen Schier arbeitete exakt zur gleichen Zeit an einer Dissertation über Castel an der Columbia-University in New York. Seine Studie wurde 1941 in Cedar Rapids im fernen Iowa veröffentlicht. Das Literaturverzeichnis und seine unzureichende historische Einordnung der Colormusic lassen aber keine Kenntnis des Bestandes der New York Public Library erkennen.141 Lászlós Vortrag stellte also in mehrfacher Hinsicht eine Neuheit dar. Das erste Jahr im amerikanischen Exil war für László trotz des Scheiterns seiner Farblichtmusik überaus positiv verlaufen. Uber die schwierige Anfangsphase hatte ihm die Unterstützung von Haussermann geholfen. So jemanden hatte er in Deutschland nicht kennengelernt. »Was für ein Mensch wird das sein, (...) der für ein solches rein künstlerischen Experimenten dienendes Instrument eine solche Summe wie nichts zur Verfügung stellt? Und wie muß das Land sein, wo solche Menschen geboren werden?«142 Jetzt komponierte er wieder verstärkt. Schon sein nächstes Stück, Improvisations ort Oh Susannah, op. 16, Variationen im Stil verschiedener Komponisten, wurde im Frühjahr 1940 fertiggestellt. Mit der Übernahme dieses Oh Susannah, einem populären amerikanischen Volkslied von Stephen Foster143, hatte sich László endgültig >amerikanisiertDer absolute Film>, 3. und 10. Mai 1925. Diss. Heidelberg 1993, Münster 1994, S. 12, Anm. 53. — 9 Rainer Rother: »Absoluter Film«. In: ders. (Hg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 12. — 10 Zit. nach Krisztina Passuth: Moholy-Nagy. Weingarten 1986, S.310. — 11 Brief Läszlös an die Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, vom 19. Juli 1939. — 12 Lebenslauf, ca. Ende 1938. — 13 Institut zum Studium der Judenfrage (Hg.): Die Juden in Deutschland. München 1935, 3 . - 5 . Aufl. 1936, S. 352 f. — 14 DFF, Nr. 202434. — 15 Jörg Jewanski: »>Your taste and mine are meeting each other...< Künstlerische und biografische Parallelen zwischen Läszlö Moholy-Nagy und Alexander Läszlö«. In: Gottfried Jäger/Gudrun Wessing (Hg.): über moholy-nagy. Ergebnisse aus dem Internationalen Läszlö Moholy-Nagy Symposium. Bielefeld 1995, Bielefeld 1997, S. 2 1 5 - 2 2 4 . — 16 Robert Hughes: American Visions. New York 1997; dt.: Bilder von Amerika. Die amerikanische Kunst von den Anfangen bis zur Gegenwart. München 1997, S. 3 5 3 - 3 6 2 , 419. Barbara Rose: American Art Since 1900 — A Critical History. New York 1967; dt.: Amerikas Weg zur modernen Kunst. Von der Mülltonnenschule zur Minimal Art. Köln 1967, S. 6 7 - 8 5 . Noch 1925 hatte die Galeristin Galka Scheyer große Schwierigkeiten, in New York eine Ausstellung der Blauen Vier (Feininger, Jawlensky, Kandinsky, Klee) zu organisieren und übersiedelte deshalb nach Kalifornien. Vgl. Christina Houstian: »Minister, Kindermädchen, Little Friend: Galka Scheyer und die Blaue Vier«. In: Die Blaue Vier. Feininger, Jawlensky, Kandinsky, Klee in der Neuen Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Köln 1997, S. 2 8 - 5 0 , hier S.41. — 17 Donna M. Stein: Thomas Wilfred: Lumia. A Retrospective Exhibiton. Ausstellungskatalog Corcoran Gallery of Art Washington/D.C. 1971, S. 12. — 18 George Vail: »Visible Music: The Birth of a New Art«. In: The Nation 115. Jg. (1922) Nr. 2978, S. 1 2 0 - 1 2 4 . — 19 Willard Huntington Wright: The Future of Painting. New York 1923, S . 4 9 f . In Sheldon Cheneys Buch A Primer of Modern Art erscheint in allen Auflagen seit 1924 ein Wilfred thematisierendes Kapitel The Art of Mobile Color, z.B. Ausgabe New York 1958, S. 1 7 5 - 1 8 8 . — 20 Alexander Läszlö: Die Farblichtmusik. Leipzig 1925, S. 18. Dort datiert er irrtümlich mit 1916. — 21 Brief Läszlös an Else Luz vom 28. Januar 1939. — 22 Brief Läszlös an Else Luz vom 2. Januar 1939. — 23 Brief Läszlös an Else Luz vom 28. Januar 1939. — 24 Vgl. auch

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Leonhard M. Fiedler: »Max Reinhardts amerikanische Spielpläne«. In: Heinrich Huesmann: Welttheater Reinhardt. München 1983, S. 4 3 3 - 4 6 4 , Nr. 2628. — 25 Brief Laszlös an John W. Hau&sermann Jr. vom 21. Februar 1939. — 2 6 Brief Laszlös an Ralf vom 1. März 1939. Zu John W. Haussermann sr. (1867-1965, amerikanische Schreibweise auch: Hausserman) vgl. »John William Haussermann«. In: Who was Who in America. Vol. 4: 1961-1968, Chicago/Illinois 1968, S. 418; zum Komponisten Haussermann (geb. 1909) vgl. »John Haussermann«. In: Baker's Biographical Dictionary of Musicians. Revised by Nicolas Slonimsky, 7. Aufl. London 1984, S. 969. — 2 7 Hans Walter Heinsheimer, Jg. 1900, war seit 1924 Leiter der Opernabteilung bei dem Verlag Universal-Edition in Wien und setzte sich besonders für zeitgenössische Werke ein. Zur Zeit des >Anschlusses< Österreichs war er gerade in Amerika, so daß seine Dienstreise zum Exil wurde. Als die American Colorlight-MusicSocietygegründet wurde, arbeitete er in der New Yorker Zweigstelle des Verlages Boosey & Hawkes. 1947 wurde er Leiter der Opern- und symphonischen Abteilung beim Verlag G. Schirmer, 1972 Vizepräsident des Verlages. Vgl. Hans W. Heinsheimer: »Hans Walter Heinsheimer«. In: Friedrich Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 16, Kassel 1976, Sp. 634. — 28 Brief John H. Winges an Hans W. Heinsheimer vom 12. Februar 1939. — 29JörgJewanski: »Auf der Suche nach dem Gesamtkunstwerk. Der Pianist Alexander Läszlö und die Farblichtmusik«. In: Piano News. Magazinfür Klavier und Flügel l . J g . (1998) H . 2 , S . 2 8 - 3 2 . — 30 Beilage zum Brief Laszlös an Oskar Fischinger vom 26. März 1939 (LB, Nr. 202445). — 31 Brief Laszlös an Pistas vom 29. März 1939. —32 Brief Laszlös an Ralf vom 1. März 1939. — 33 Ebd. — 34 Brief Laszlös an Dela vom 4. Juni 1939. — 35 Brief Laszlös an Frau Körösi vom 18. November 1940. — 36 Brief Laszlös an Ralf vom 1. März 1939. — 3 7 Brief Laszlös an Otto A. Graef vom 28. März 1939. — 38 In einem Brief Laszlös an Delicam vom 28. März 1939 schrieb er zu dem Werk: »Ich werde es cca im Juni anfangen, wenn der Betrieb auf der Ausstellung schon läuft.« — 39 Brief Laszlös an Dr. Haase vom 2. März 1939. — 40 Brief vom Verlag Breitkopf & Härtel an Läszlö vom 21. März 1939. — 41 Brief Laszlös an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 31. März 1939. — 42 Brief Laszlös an Oskar Fischinger vom 26. März 1939 (LB, Nr. 202445). — 43 Ebd. — 44 Brief Laszlös an Pista vom 29. März 1939. — 45 Brief Laszlös an Marianne vom 21. Januar 1940. — 4 6 Manuskript, S. 3 f. — 4 7 Ebd., S. 20. — 48 Brief Laszlös an Dela vom 4. Juni 1939. — 49 Ebd. — 50 Ebd. — 51 Brief Laszlös an Baer vom 4. Juni 1939. — 52 Brief Laszlös an die Solomon R. Guggenheim Foundation vom 19. Juli 1939. — 53 Brief Lester Ronas an Albert Gallatin vom 27. September 1939. — 54 Brief Lester Ronas an FrederickJ. Kiesler vom 28. September 1939. — 55 Brief Lester Ronas an Otto Ortmann vom 29. September 1939. — 56 Brief Lester Ronas an Elmer Hintz vom 29. September 1939. — 57 Brief Laszlös an Netti S. Hoch vom 5. Oktober 1939. — 58 Brief Otto Ortmanns an Lester Rona vom 28. Oktober 1939. — 59 Brief Laszlös an Oskar Fischinger vom 17. Dezember 1939 (LB, Nr. 202446; WY). Auch in einem Brief Laszlös an Paulam vom 1. Januar 1940: »Zurückkommend [aus Chicago; J.J.] halte ich zwei Vorträge an der Columbia-University über Colorlight-Music, danach folgen die Yale-University, die Harvard usw.« — 60 William Moritz: »Americans in Paris: Man Ray and Dudley Murphy«. In: Jan-Christoph Horak (Hg.): Lovers of Cinema. The First American Film Avant-Garde 1919-1945. Madison/Wisconsin 1995, S. 135, Anm. 26. — 61 Barbara Lesäk: »Von Czernowitz nach New York. Friedrich Kieslers Aufbruch in die >Neue WeltThis Is Alexander Laszlö,« Composer Tells of Early Use of Color-Music«. (Zeitungsausschnitt ohne nähere Angabe, Tageszeitung in Ohio, Anfang März 1941, Interview anläßlich eines Konzertes an der School of Music der Ohio University am 9. März 1941; EN). Trotz des Titels ist nur ein Absatz der Farblichtmusik gewidmet. Dort steht u.a.: »Every artist, composer, painter, writer is always seeking a new mode of expression. Color-light music answers that need for him.« — 116 Erste Erwähnung in einem Brief Laszlös an Herrn Floer vom 1. September 1940. In einem Brief an Frau Körösi vom 21. Juni 1941 sprach er davon, daß er schon seit 1 l k Jahren »Mit Guild Publications assoziiert« sei. — 117 Brief Laszlös an einen Herrn Doktor vom 3. Juni 1941. — 118 In der New York Public Library befinden sich neben einigen Notenausgaben (New York Public Library, Reference Department (Hg.): Dictionary Catalog of the Music Collection. Boston/Massachusetts 1964, Art.: Ldszld, Bd. 17, S. 20 f.) nur wenige Unterlagen zu Laszlö, hauptsächlich seine Künstlerprospekte (Brief der New York Public Library an den Autor vom 10. November 1997), die aber auch in den anderen Konvoluten zu finden sind. In Resources of American Music History. A Directory ofSource Materialsfrom Colonial Times to World WarII(hg. von D. W. Krümmel u.a. Urbana 1981) erscheint unter dem Stichwort >Laszlö< nur das Konvolut in Wyoming (Nr. 1646, S. 386), jedoch mit fehlerhaften Angaben. Statt der »12 boxes of film-music scores« befindet sich dort ein 207 Kisten (davon 116 mit Noten, Briefen und Büchern, jeweils ungeordnet) umfassender Nachlaß, der bisher unkatalogisiert ist und seit seiner Übergabe an die Bibliothek (im Zeitraum vom 13. Mai 1970 bis 31. August 1975) erstmals vom Autor im August 1995 durchgesehen wurde. Für ihre freundliche Hilfestellung bedanke ich mich besonders bei den Archivaren Jennifer King und Rick Ewing. Partituren zu Laszlös Filmmusik fur RKO-Pictures befinden sich in der Arts Library, Special Collection der University of California in Los Angeles. Die dort vorhandenen 14 Kisten wurden vom Autor im Juli 1997 durchgesehen. Für ihre freundliche Hilfestellung bedanke ich mich bei der Archivarin Brigitte Küppers. — 119 Dorle Jarmel: »When Sound and Color Meet Across a Rainbow Scale«. In: Musical America, 4. Juli 1925, S. 3 und 18 (EN). — 120 Jewanski (s. Anm. 4), S. 16. — 121 Brief von Laszlö an Baer vom 4. Juni 1939. Grundsätzlich beherrschte Laszlö die Öffentlichkeitsarbeit so gut, daß ein Artikel im Times-Herald, genau diese Fähigkeit thematisierte; Glenn Dillard Gunn: »Laszlö Music To Be Played at Water Gate. Magyar Composer Wins Hearing by Modern Promotion«. In: Times-Herald, 9. Juli 1940, S. 13; EN. — 122 Lewis Jacobs: »Avant-garde Production in America«. In: Roger Manvell: Experiment in the Film. London 1949, Nachdr. New York 1970, 5. 113-152; Jan-Christopher Horak: »The First American Film Avant-Garde, 1919-1945«. In: Ders. (Hg.): Lovers of Cinema. Madison/Wisconsin 1995, S. 14-66; Peter Weiss: Avantgarde Film. Frankfurt/M. 1995, S. 9 7 - 1 0 3 . — 123 Gerald O'Grady: »Articulated Light: An Appendix«. In: O'Grady/Posner 1995 (s. Anm. 65), S. 3. — 124 The Museum of Modern Art. The History and the Collection. Ausstellungskatalog New York 1997, S. 527-530. — 125 Frank Staufifacher (Hg.): Art in Cinema. A Symposium on the Avantgarde Film. San Francisco 1947. — 126 Britta E. Buhlmann (Hg.): Malerei des amerikanischen abstrakten Expressionismus. Ausstellungskatalog Pfalzgalerie Kaiserlautern 1997. — 127 Jewanski (s. Anm. 4), S. 2 3 - 2 7 . — 128 In seinem Nachlaß fand sich nur ein Brief des Ausstellungsleiters Leslie S. Bakers vom 18. August 1939, bei dem es um technische Einzelheiten geht. — 129 Seine Kompositionen op. 13 und 17 sowie sein Concerto grosso können somit auf das Jahr 1939 datiert werden. — 130 Als William Moritz Laszlö kurz vor dessen Tod 1970 in Los Angeles besuchte, war dieser nicht bereit, über seine Farblichtmusik zu reden (Brief von Moritz an den Autor vom 4. Januar 1995). — 131 Vgl. die Photos in John Culhane: Walt Disneys Fantasia. New York 1983, Nachdr. ebd. 1987. — 132 Moritz 1993 (s. Anm. 85), S. 5 5 - 5 7 . — 133 Moya Luckett: »Fantasia: Cultural Constructions of Disney's >MasterpieceSilent Musicreiche Amerikaner ein Faible für außergewöhnliche Kunstprojekte hatten, denn auch die schon mehrfach erwähnte Hallock Greenewalt wurde zur gleichen Zeit von einem anderen sehr reichen Industriellen gesponsort: In Wilmington/Delaware hatte sie auf dem Anwesen der Familie Du Pont von den dreißiger Jahren bis zu ihrem Tod 1950 einen Raum, um ihr Farbenklavier bei besonderen Anlässen vorzufuhren. Ihr Instrument blieb dort auch nach ihrem Tod. Erstab etwa 1955 waren die veralteten Röhren des Instruments nicht mehr zu ersetzen, so daß es aufgelöst wurde. Vermutlich steht das Ende ihres Farbenklaviers auch in Zusammenhang mit dem Tod ihres Förderers Pierre du Pont (1870-1954, zur Biographie vgl. Who was Who in America. A Companion Biographical Reference Work to Who's Who in America. Vol. 3, Chicago/ Illinois 1960, S. 244). Noch heute gibt es auf dem Grundstück einen renovierten Springbrunnen mit farbigem Licht. Diese Informationen zu Hallock Greenewalt entstammen einem Telephonat des Autors mit William Moritz (Los Angeles/Kalifornien) am 1. Februar 1998. Moritz hatte die Familie Du Pont etwa 1982/83 besucht. — 143 Zur Uraufführung am 10. Juli 1940 in Washington erschienen einen Tag später zwei Berichte samt Photo von Läszlo und Rona auf der Titelseite der Washington Post. Zu Foster vgl. H. Wiley Hitchcock: »Stephen Collins Foster«. In: Stanley Sadie (Hg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 6. Aufl. London 1980, Bd. 6, S. 730. Seine Lieder My old Kentucky und Old Folks at Home wurden offizielle Hymnen der Bundesstaaten Kentucky bzw. Florida. — 144 Brief Läszlos an Frau Körösi vom 21. Juni 1941. — 145 Brief Läszlos an Frau Körösi vom 9. April 1941. — 146 Brief Läszlos an Frau Körösi vom 21. Juni 1941.

Joachim Schlör

»Wenn ich eines richtig gemacht habe...« Berliner Sexualwissenschaftler in Palästina/Israel

Vorbemerkung Es sei die Aufgabe der Exilforschung, »das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis zugleich an einem historisch und anthropologisch verbindlichen Gegenstand zu schulen«, schreibt Wolfgang Frühwald in seinen Prologomena zu einer Theorie des Exils1. Aus der Erforschung des Exils - als »dem prototypisch transitorischen Zustand menschlichen Daseins und zugleich als dem historisch als vernichtend und einmalig erfahrenen Zustand« — sollen die Konstituenten jener »anamnetischen« Kultur erkannt und gewonnen werden, »die aus Deutschland verschwunden ist, seit die Träger dieser Kultur, das deutsche Judentum, vernichtet oder vertrieben sind«. Diese Prämisse kann für die folgende Darstellung nur eingeschränkt gelten. Bei aller grundsätzlichen Zustimmung (und sogar Dankbarkeit für den Versuch, ein theoretisches Rahmenprogramm für die gelegentlich weit auseinanderstrebenden Themen der Forschung zu erarbeiten) muß kritisch angemerkt werden, daß der in diesen Überlegungen verwendete Begriff des Exils zu einheitlich und zu sehr auf das Herkunftsland (in unseren Texten ja fast immer: Deutschland) bezogen ist. Exil ist in Frühwalds Definition »der meist durch religiöse, politische oder rassische Verfolgung bedingte, auf Rückkehr in die Heimat angelegte Aufenthalt im Ausland«2. Aber viele Erlebnisse und Erfahrungen — »Phänomene der Akkulturation (...), der Abstoßung, der Integration und der Transformation« —, die von der Exilforschung dargestellt und analysiert werden, gelten ebenso für Exilierte, die ihre Emigration aus Deutschland nicht mit der Hoffnung auf eine Rückkehr verbunden haben, die nicht zu »Exilanten« wurden. Mit der Festlegung auf die Rückkehr-Erwartung als konstitutiven Bestandteil des Exils schließt die Definition einen allzu großen Teil der Emigration aus. Das gilt nicht nur für diejenigen, die nach Palästina/Israel gegangen und dort geblieben sind, auch wenn - wie hier zu zeigen sein wird - die Dichotomie von »Herkunftsheimat« und »Hinwendungsheimat« in diesem Fall besonders bedeutsam und für die Forschung aufschlußreich ist. Die ganze Welt, um es so pathetisch zu formulieren, wie es meine Erinnerung an deutschsprachige Stammtische in Tel-Aviv oder New York verlangt, beherbergt Menschen, die aus Deutschland vertrieben wurden und hierher nicht

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zurückkehren wollen. Frühwalds Formel, »das deutsche Judentum« sei »vernichtet oder vertrieben«, ist deshalb auch nur in einer deutschlandzentrierten Sicht haltbar. Es hat - das läßt sich sagen, ohne die Einzigartigkeit der Shoah bestreiten zu wollen — eine Fortsetzung (und Transformation) in anderen Zusammenhängen gefunden. Gerade im Zusammenhang mit dem Begriff der »Avantgarde«, der die Beiträge dieses Bandes zusammenbinden soll, ist schließlich zu betonen, daß die Erfahrung des Exils auch Energien freigesetzt hat, die mit dem ausschließlichen Bezug auf Deutschland und seinen »Verlust« nicht zu begreifen sind.3 Die beiden handelnden Personen der folgenden Darstellung jedenfalls haben ihren »Aufenthalt« im fremden Land nicht als »Exil« verstanden (wohl aber als Ergebnis einer Vertreibung), wir können sie nicht nachträglich darunter fassen; wir können ihre Erfahrungen aber auch nicht, um der Reinheit unserer Definition willen, an einen anderen Forschungsbereich abgeben.

I Magnus Hirschfeld4 erhielt im November 1930 aus New York »die telegraphische Anfrage, ob ich bereit sein würde, am 1. Dezember dort vor der deutsch-amerikanischen Ärzteschaft einen Vortrag Über den gegenwärtigen Stand der Sexualpathologie zu halten«.5 Er »kabelte Einverständnis« und verließ Berlin 14 Tage später mit der »Columbus« des Norddeutschen Lloyd. Erst einige Zeit nach diesem Vortrag, an den sich weitere Einladungen anschlössen, in San Francisco, faßte er den Entschluß, von dort aus »durch Asien nach Europa zurückzukehren«, also das zu unternehmen, was wir mit dem sehnsuchtsvollen Wort einer Weltreise bezeichnen — einmal um den Globus, von Deutschland nach Amerika nach Asien und zurück. »Bei der Abfahrt von meiner Berliner Wirkungsstätte hatte ich eine Reise um die Welt weder beabsichtigt noch geplant«, aber die Kunde »der von mir vertretenen Forschung über das menschliche Liebes- und Sexualleben« war doch weit gedrungen, und so warteten auf allen Stationen der Reise nicht nur neue Forschungsfelder, sondern auch interessierte Hörer, die Hirschfeld in insgesamt 176 Vorträgen während 500 Tagen (!) mit Informationen über seine merkwürdige Wissenschaft versorgte. Das Vorwort zur Weltreise eines Sexualforschers wurde bereits in Zürich abgefaßt. Kurz zuvor hielt er sich fünf Wochen in einem seltsamen Land auf: Palästina. Von dort berichtet Hirschfeld Ungewöhnliches: »Schon um seiner Jugend willen führt Tel Aviv seinen Namen, der in wörtlicher Übersetzung >Frühlingshügel< bedeutet, mit Recht. Tel Aviv war der erste Ort, an dem ich in Palästina Aufenthalt nahm. Das hatte zwei Gründe. Der eine war, daß ich früher wiederholt von Kennern den Ausspruch gehört hatte, daß von den

Berliner Sexualwissenschaftler in Palästina/Israel

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drei größeren Städten des Landes Jerusalem die Vergangenheit, Tel Aviv die Gegenwart und Haifa die Zukunft verkörpere. Die Gegenwart aber war es, die mich anzog. Der zweite Grund war, daß in Tel Aviv Dr. Chaim Berlin, einer der treuesten Schüler unseres Instituts für Sexualwissenschaft, praktizierte, mit dem ich, als er das letzte Mal in Deutschland war, bereits meinen Besuch in Palästina verabredet hatte (...).« 6 Hirschfeld begründet seinen Aufenthalt in dieser Stadt mit dem Umstand, daß es im Februar für einen Besuch in Jerusalem ganz einfach zu kalt gewesen wäre: »Das dicht an der Mittelmeerküste zwischen den Orangenhainen der Saronaebene unmittelbar im Norden der biblischen Stadt Jaffa (Jaffa heißt schön) gelegene Tel Aviv hat ein ungleich milderes Klima als Jerusalem, so daß es der Bevölkerung möglich ist, acht Monate im Jahre See- und Luftbäder zu nehmen, eine Begünstigung, von der, wie ich mich im Februar 1 9 3 2 überzeugen konnte, reichlich Gebrauch gemacht wird.« 7 Hirschfeld zeichnet mit seinen so ganz anders geschulten Augen ein neues Bild vom jüdischen Palästina, als wir es etwa aus Berichten von politisch voreingenommenen - zionistischen oder antizionistischen - Reisenden kennen. 8 Sein Blick ist der des Arztes. Er sieht nicht - oder »nur ganz selten, seltener jedenfalls als etwa in Karlsbad oder Marienbad« - die karikaturhafte Figur des gebeugten Ghettojuden, »wie sie in meiner Jugend Sichel malte«, er sieht kaum die »sogenannte Judennase«, sieht vor allem im zionistischen Experiment, dem er sich nun öfifnet, den Beweis für die Wirkung einer »Erziehungs- und Schicksalsgemeinschaft« und den Einfluß der »Umweltfaktoren« auf Aussehen, Sprache, Kleidung, Anschauung und Bildung der Menschen. »Das Leben knetet den Teig.« Die Sichtweise bleibt europäisch eingeschränkt, so spricht sich Hirschfeld gegen die Neubelebung der hebräischen Sprache aus — »auch mir wäre das ein wesentlicher Hinderungsgrund, in Palästina meinen Alterswohnsitz zu nehmen« — und plädiert für die Universalität des Englischen. Aber in einem anderen Bereich sieht er das Neue gewinnen: »So wurde Tel Aviv für eine jetzt etwa 5 0 . 0 0 0 zählende Menge von Juden, die der Verfolgung und Verachtung ihrer Geburtsländer müde waren, ein Ort seelischer Entspannung und Befreiung, ihr >Platz an der Sonne