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German Pages [334] Year 2016
Monika Schuol / Christian Wendt / Julia Wilker (Hgg.)
exempla imitanda Mit der Vergangenheit die Gegenwart bewältigen?
Festschrift für Ernst Baltrusch zum 60. Geburtstag
Vandenhoeck & Ruprecht
®
MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-25323-6 ISBN 978-3-647-25323-7 (E-Book) ISBN 978-3-666-25323-2 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft e.V. Ó 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
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Alexander Demandt Carl Schmitt und der antike Feindbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Esders Montesquieu über das Absterben und Fortleben des römischen Rechts im frühen Mittelalter (De l’esprit des lois 28) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Fadinger Peisistratos von Athen als Aisymnet und Tyrann: Die zwei Stufen einer diktatorischen Machtergreifung in der griechischen Antike . . . . . . . .
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Klaus Geus Der Widerstand gegen die Theorie von der Erde als Kugel: Paradigma einer Wissenschaftsfeindlichkeit in der heidnischen und christlichen Antike? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sabine R. Huebner Die Königin der langen Straßen – Eine Rezeptionsgeschichte der Via Appia Antica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Kopp Kriege für die Reisefreiheit der anderen? Polybios und ein Kernaspekt der römischen Reichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Christian Mileta Beobachtungen und Überlegungen zum Status und zur Funktion der Neuen Poleis Kleinasiens im Gefüge des hellenistischen Staates . . . . . . 121
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Inhalt
Uwe Puschner Sparta – »Lichtblick in der Menschheitsgeschichte«: Völkische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Heinrich Schlange-Schöningen Zur Funktion der Antikenbezüge bei Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . 153 Fabian Schulz Gerontokratie avant la lettre? Platon und Aristoteles über die Herrschaft der Alten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Knut Schulz Die Vegetius-Rezeption während des Spätmittelalters (14. bis frühes 16. Jahrhundert) vornehmlich im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . 187 Monika Schuol Der Selbstmord des Varus: Ein historisches exemplum für den »Opfertod« in Stalingrad? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Florian Sittig Caesarenwahnsinn, Professorenwahnsinn, Volkswahnsinn – Gebrauchsanweisung für eine historische Analysekategorie . . . . . . . . 229 Peter Spahn Aristophanes und Boccaccio – Handel und Geldgeschäft in Athen und Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sarah Walter Florenz regieren, wie man Britannien verwaltet? Machiavellis Il Principe und Tacitus’ Agricola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Christian Wendt Durch Stahlgewitter auf die Marmorklippen – Ernst Jüngers Aneignung des Thukydides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Julia Wilker Eine Königin in Rom – Berenike als Cleopatra rediviva? Schriftenverzeichnis Ernst Baltrusch
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Vorwort der Herausgeber
Ernst Baltrusch zum 60. Geburtstag zu gratulieren und ihm dabei ein Geschenk zu machen, das zum Ausdruck bringt, wie sehr seine direkten Kollegen an der Freien Universität Berlin und Schülerinnen und Schüler die Arbeit mit dem Jubilar und insbesondere sein intellektuelles Werk schätzen – diese Aufgabe war direkter Ausdruck eines Bedürfnisses. Allen in diesem Buch Versammelten liegt es daran, weit mehr als Dank und Wertschätzung auszusprechen. Vielmehr ist der Wunsch, Ernst Baltrusch anläßlich einer Etappenankunft zu ehren und seine Bedeutung für alle Beteiligten durch eine Schrift zu unterstreichen, die als gemeinsames Nachdenken bezeugt, wie groß sein Anteil an unser aller wissenschaftlichen Arbeit ist. Wie kann das Besondere an der Verbindung zwischen Ernst Baltrusch und seinen Schülerinnen und Schülern bzw. seinen Kolleginnen und Kollegen (hier teils in Personalunion vertreten) verdeutlicht werden? Die spezifischen Charakteristika, die ihn in seinen verschiedenen Funktionen besonders ausmachen, seien hier in aller Kürze bezeichnet, ohne in wiederholbare Elogen zu verfallen, wie es auch dem Jubilar nicht angenehm wäre. Seine Loyalität im Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen und von einer gesunden Portion Pragmatismus geleiteten konstruktiven Lösungsansätze allfälliger Probleme bescheren ihm die (von ihm sicherlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge quittierte) regelmäßige Übertragung verantwortungsvoller Aufgaben in der Gremienarbeit. Als akademischer Lehrer und Doktorvater hat er uns von seiner ständigen Bereitschaft zum Gespräch und »intellektuellen Freigiebigkeit« profitieren lassen und mit seinem unprätentiösen, gänzlich an der Sache orientierten Auftreten die angenehme und inspirierende Arbeitsatmosphäre an seinem Lehrstuhl geprägt. Dabei lassen sein Ideenreichtum, der »Blick für das Ganze« ebenso wie der gesunde Abstand zu den Moden und Trends des Wissenschaftsbetriebs den wissenschaftlichen Austausch und die Arbeit an gemeinsamen Projekten immer wieder zu einem Gewinn werden, der selbst durch die zumindest den Herausgebern unverständliche Treue zu einem süddeutschen Bundesligaverein nicht geschmälert werden kann.
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Vorwort der Herausgeber
Unser Anliegen war es, eine Festschrift vorzulegen, deren Teile sich einer leitenden und übergreifenden Fragestellung widmen. Dabei ging es nicht zwingend darum, die Themen aufzugreifen, die Ernst Baltrusch ins Zentrum seiner eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung gestellt hat. Statt dessen sollte exemplarisch untersucht werden, wie sich das Verhältnis zwischen einer antiken Vorlage und einer Aufnahme derselben in einer mehr oder weniger entfernten Epoche gestaltet hat, also Fallstudien von Rezeption, Transformation oder bloßer Ähnlichkeit durchgeführt werden. Diese übergreifende Frage hat auch Ernst Baltruschs wissenschaftliches Interesse immer wieder geleitet, und so haben wir uns am ersten römischen Princeps Augustus orientiert und dessen Tatenbericht (RgdA 8) das Motto entnommen, das zu beleuchten, anzuwenden und zu hinterfragen die Beiträgerinnen und Beiträger angetreten sind: exempla imitanda, nachzuahmende Beispiele, als einen Ansatz für den Umgang, ja die Bewältigung der eigenen Gegenwart zu verstehen. Die Vielzahl der zu diesem Zweck gewählten Ansätze belegt, wie verschieden ein solcher programmatischer Anspruch aufgefaßt und umgesetzt werden kann – und dies spricht nicht zuletzt für die Virtuosität des Augustus, ein derartig interpretierbares Konzept zu einem seiner Identifikationsmerkmale zu wählen. Und dennoch fällt ins Auge, wie stark in diesem Buch die großen Themen vertreten sind, denen sich Ernst Baltrusch in seiner wissenschaftlichen Vita gewidmet hat, ohne daß eine konkrete Vorgabe die Gratulanten geleitet hätte. Es finden sich die Rechtsgeschichte und das antike Völkerrecht, Sparta, die jüdischrömischen Beziehungen, die Konzeption des Imperium Romanum oder die Bewertung des Prinzipats neben dem Umgang mit Autoren, die Ernst Baltrusch besonders wichtig sind, wie Thukydides oder Tacitus – und doch erschöpft sich die Kollektion nicht darin. Daß dies so ist, verdankt sich sicher dem grundsätzlichen Herangehen Ernst Baltruschs an Geschichte und damit auch an die Antike: Alle Detailkenntnis und rigorose Rekonstruktion müssen stets einem größeren Ziel zuarbeiten, das die überzeitliche Relevanz der althistorischen Interpretation, die Sinnhaftigkeit der Analogie zu aktuellen Fragestellungen betonen will, um zu ihrer Beantwortung beizutragen. Ganz in bester thukydideischer Tradition will Ernst Baltrusch etwas Nützliches in seiner Befassung mit der Alten Welt finden, und so erklärt es sich, daß auch im hier vorgelegten Band ein »Element Baltrusch« allgegenwärtig ist, das nicht allein mit seinem intellektuellen Einfluß auf die Schreibenden erklärbar ist. Es ist just die Frage nach möglicher Analogie, nach Nutzung der Antike, nach Erkenntnis größerer Bögen, die so parallel zur Arbeit des Jubilars zu sehen ist. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber freuen sich, ihrem akademischen Lehrer diese Aufmerksamkeit als Zeichen ihrer Verbundenheit und Dankbarkeit zukommen lassen zu können. Für die Realisierung unseres Pro-
Vorwort der Herausgeber
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jektes möchten wir dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herzlich danken, und für die großzügige finanzielle Unterstützung gilt unser besonderer Dank der Ernst-Reuter-Gesellschaft e.V. Wie spontan sämtliche angefragten Kolleginnen und Kollegen zusagten, beweist, welchen Rang Ernst Baltrusch für sein wissenschaftliches Umfeld einnimmt. Dies zu dokumentieren ist Aufgabe des vorliegenden Buches, ebenso wie den Jubilar und weitere Leser mit einigen hoffentlich anregenden Einsichten und Gedankenspielen zu versorgen. Wie lebendig die Antike in den meisten uns bekannten Zeiten stets war und wie lebendig sie auch heute noch ist, mag an den hier gewählten Beispielen abgelesen werden. Für ehrende Rückblicke ist es noch zu früh. Statt dessen freuen wir uns sehr auf viele weitere Jahre der Zusammenarbeit mit und des Lernens von Ernst Baltrusch! Monika Schuol, Christian Wendt und Julia Wilker Berlin/Philadelphia, Januar 2016
Alexander Demandt
Carl Schmitt und der antike Feindbegriff
»Ein Historiker wird für alle geschichtlichen Situationen Beispiele und Parallelen in der Weltgeschichte finden«, so Carl Schmitt 1962 (ThP. 88). Dies gilt ebenso für Begriffe, erweist sich Schmitt doch selbst in diesem Sinne als Historiker. Er wird zumal in der Antike fündig, jener »Vorküche« der Politik (Ernst Jünger). Antikisierend nannte Schmitt sich selbst 1945 den »christlichen Epimetheus«, den »Hinterher Klugen«, nachdem er die Büchse der Pandora geöffnet hatte (CS. 12). Damit sei gewiss nicht das Wort Salomos bestätigt, es gebe nichts Neues unter der Sonne. Denn das übersähe oder unterschlüge schon die Tatsache, dass auch jene Erkenntnis einmal neu war, wenn nicht bei dem Prediger selbst, dann doch irgendwann zuvor. Neuheit ist steigerbar. Wir fragen, »wie neu« eine Sache sei, die neu sein will. »Völlig neu« ist wenig. Meist gab es das »in gewisser Weise« schon einmal. Jede historische Erscheinung zeigt alte und neue Züge in je unterschiedlicher Verteilung. Es gibt Übereinstimmungen mit älteren Phänomenen und Unterschiede zu ihnen. Das Interesse an letzteren gilt dem Einmaligen, Besonderen, Individuellen; bei den Gemeinsamkeiten geht es um das Wiederholbare, Allgemeine, Typische. Dieses liefert konstante Elemente für eine historische Anthropologie, für ein »Alphabet des Weltgeistes«, wie Goethe am 29. April 1818 zum Kanzler v. Müller bemerkte. Zu diesen Konstanten gehört das Freund-Feindverhältnis.
Freund oder Feind Freundschaft und Feindschaft ergeben sich aus dem Zusammenleben der Menschen. Freundschaft beruht auf gemeinsamen Interessen, auf Verwandtschaft und ähnlichen Wesensmerkmalen. Feindschaft entsteht aus Interessengegensätzen, aus Fremdheit und Wesensunterschieden. Das äußert sich in Abneigung oder Hass und führt zu verbalen oder tätlichen, ja tödlichen Auseinandersetzungen. So heißt es bei Aristoteles (pol. 1253 a): anthro¯pos physei politikon zo¯on, der »Mensch ist ein von Natur politisches Wesen«. Die
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Alexander Demandt
Polis, der Stadtstaat, war für Aristoteles als Griechen die klassische Form der Gemeinschaft. Sie ist, wie er anschließt, die Voraussetzung für die Entstehung der Sprache und insoweit »älter« als der Mensch, der diesen Namen erst als sprechendes Wesen verdient. Die Gruppen versorgen sich gemeinschaftlich mit Lebensunterhalt. Eine natürliche Methode ist die Jagd, das Beutemachen. Das richtet sich sowohl gegen das Wild als auch gegen andere Gruppen. Es handelt sich für Aristoteles beide Male um eine Erwerbstätigkeit, kte¯tike¯ techne¯. Daher sei der Krieg ebenso natürlich wie die Jagd, ja von Natur aus gerecht, polemos physei dikaios (1256 b). Damit ist für Aristoteles Feindschaft zwischen zusammenlebenden Gruppen, zwischen poleis, normal und naturgegeben. Der Bestand einer Polis erfordert demgemäß die Fähigkeit, innere und äußere Gegensätze auszugleichen oder auszuhalten und sich anderen poleis gegenüber zu behaupten. Dies ist die politike¯ techne¯, die Staatskunst, das »Politische«, wie Schmitt das griechische Adjektiv substantiviert. Schmitts Kernsatz von 1933 lautet: »Die eigentlich politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind« (BP.3 7). Schon 1926 heißt es: »Im Bereich des Politischen« stehen sich »Verbündete oder Gegner« gegenüber (PB. 61). 1927 ergänzt er : »Die maßgebende Einheit« ist »ihrem Wesen nach die politische Einheit«, der Staat. Und die »maßgebende Gruppierung« ist die »nach Freund und Feind« im inneren wie im äußeren Krieg (PB. 68). Das im Staat assoziierte Volk besitzt das ius belli, das Recht, »durch eigene Bestimmung auf eigene Gefahr« ein anderes Volk zum Feind zu erklären und zu bekämpfen (PB. 7f.). Dieses »Recht« ist das Kriterium der Souveränität, der politischen Freiheit, der militärischen Macht. Es beruht nicht auf einem stillschweigenden oder festgestellten Konsens der Völker, nicht auf einer humanitären Idee des gedeihlichen Zusammenlebens, sondern ergibt sich gleichsam gottgegeben aus der Natur und dem Begriff des Schmittschen Staates, der keinen irdischen Richter über sich anerkennt (PB. 50). Er muss im Kampf die »Negation der eigenen Art Existenz« durch den Fremden, den Feind verhindern, »um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren« (BP.2 15). Was heißt das? Der »Kampf um die Existenz« ist eine Pathosformel des Verlierers, 1833 bei Ranke1, 1922 bei Adenauer2 und 1944 bei Goebbels. »Existenz« ist ein Reizwort von hohem Gefühlswert und geringer Begriffsschärfe. Schmitts politischer Existentialismus meint außer der Tatsache der Existenz auch die Form der Existenz, außer dem nackten Überleben auch die Verfügung über Waffen und die freie Wahl der Lebensart. Politik ist nicht Kampf ums Dasein, sondern Kampf ums Sosein. Die an Heideggers Begriffslyrik erinnernde ontologische »Seinsmäßigkeit« be1 Ranke 1995, S. 41. 2 Quaritsch 1995, S. 81.
Carl Schmitt und der antike Feindbegriff
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stimmt der Staat so, wie er den Feind bestimmt, »gegen den die Armee zu kämpfen hat« (ThP. 87), autonom gemäß seiner Staatsraison. Fehlt es am Willen oder an der Fähigkeit, »kraft eigener Entscheidung« Krieg zu führen, dann »verschwindet nur ein schwaches Volk« aus der Sphäre des Politischen (BP.2 41). Es gibt Völker, die angeblich noch nicht, und andere, die nicht mehr oder überhaupt nicht in der Lage sind, die Bedingung der Staatlichkeit zu erfüllen (PB. 285). Völker, die noch auf niederer Zivilisationsstufe stehen, unmündig sind und einen Kolonialherren oder Mandatar benötigen, kennt die Satzung des Völkerbundes im Paragraphen 22 (PB. 163f.; L. 72). England und Frankreich nahmen solche »Vormundschaften« auf sich, ebenso Italien mit der politischen »Vernichtung Abessiniens« 1936, das – durch Bomben und Giftgas bezwungen (PB. 235) – bewiesen habe, dass es, unfähig zur Selbstbehauptung, »kein Staat« war (PB. 310ff.). Der Krieg gegen das uralte christliche Königreich Äthiopien, Mitglied im Völkerbund wie auch Italien, war daher kein bellum, sondern eine debellatio wie die militärische Annexion der Burenstaaten 1902 durch England (PB. 210ff.). Gegen Äthiopien hatte London 1868 eine Strafexpedition durchgeführt, den Kaiser Theodor II in den Tod getrieben und das erreichbare Kulturgut für das Britische Museum sichergestellt. Das Wort debellatio ist eine nachantike Substantivierung von debellare bei Vergil (Aen. VI 833). Es bedeutet: »in einem bestehenden bellum den Feind niederkämpfen.« In Schmitts politischer Welt leben die Staaten »in einem Raum fortwährender Gefahr und Gefährdung«; zwischen ihnen herrscht wie bei Aristoteles der »Naturzustand«, mithin naturgemäß potentiell Krieg aller gegen alle (L. 75f.). Das ist weder zu ändern noch zu beklagen, denn Krieg ist die »Hochzeitsnacht der Gegensätze«, so 1948 (G. 157), der Übergang von einer alten Ordnung zu einer neuen Ordnung, so 1939 (PB. 307). Ähnlich dachte Ranke3, und Bismarck bemerkte einmal, fast in jedem Jahrhundert habe es einen großen Krieg gegeben, »der die deutsche Normaluhr« richtig gestellt habe.4 Bei Schmitt gilt das für Europa, es sei überhaupt und immer »Kampfgebiet« (PB. 128). Heraklit wird variiert: »Im Krieg steckt der Kern der Dinge«, so 1937 (PB. 236). Der Krieg entspreche völkerrechtlich nach dem Ius Publicum Europaeum »einem anerkannten Duell« mit einem »satisfaktionsfähigen« Gegner (PB. 285; 307; L. 74). Dieser sei nicht zu diskriminieren, sondern zu besiegen, und zwar, durchaus nicht duellgemäß, mit allen militärischen Mitteln (PB. 69; 235). Das ist dann der »totale Krieg«. Er »erhält seinen Sinn durch den totalen Feind« und führt zu einem »Gottesurteil«, so 1937 (PB. 239). Das erlaubt dem Sieger Stolz, er kann sagen: »Gott mit uns«. Das bietet dem Verlierer Trost, er kann sagen: »Es war Gottes Wille.« Nach 1945 zitierte Schmitt, sich heroisierend, Lukan (I 128): 3 Ranke 1995, S. 61. 4 Demandt 1978, S. 163.
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Alexander Demandt
victrix causa deis placuit, sed victa Catoni. Schmitt ist Cato. Nun zeigt der Kriegsausgang: Gott war gegen uns (G. 105; 170; 287).
Griechen Die »eigentlich politische Entscheidung« treffen wir heute nicht »zwischen Freund und Feind« außen wie innen, sondern außenpolitisch zwischen Verteidiger und Angreifer, innenpolitisch zwischen Ordnung und Anarchie, zwischen Gemeinwohl und Eigennutz, zwischen liberalem Erfolgsstreben und sozialer Fürsorge, kurz: zwischen Gerechtigkeit und Faustrecht. Gerechtigkeit war das Kriterium für die ›Politeia‹ bei Platon. Auf ihn beruft sich Schmitt in seiner Differenzierung des Feindbegriffs. »Feind ist nur der öffentliche Feind« im Krieg (BP.2 16), nicht der private Feind, der Widersacher oder Konkurrent im Streit um Recht, um Ämter, um Sieg im sportlichen Wettkampf. Platon (polit. 470 CD) unterschied zwischen Barbaren als den »natürlichen Feinden« (polemioi physei) aller Griechen und Griechen als Feinden (echthroi) von Griechen. Der Krieg zwischen ihnen sei kein polemos, sondern stasis, also Aufstand, Rebellion, Bürgerzwist. Platon verknüpft hier den Feind in der Nachbarstadt und den Feind in der eigenen Stadt. Der Begriff echthros steht bei Homer als Adjektiv für »verhasst, zuwider«, das Grundwort echthra – »Feindschaft« bezeichnet das Verhältnis zwischen Trojanern und Danaern (Il. III 416f.). Anders als Schmitt annimmt, verwendet Platon echthros für alle Arten von Feinden, ebenso den Begriff polemios. Auch der Bürgerkriegsgegner kann so heißen (epist. VIII 353 a). Die politische Welt des klassischen Griechentums war so strukturiert, wie sie gemäß dem neuzeitlichen Völkerrecht Schmitt vorschwebt: ein »Pluriversum« souveräner Staaten (PB. 72), die das uneingeschränkte Recht besitzen, andere zu Feinden zu erklären und zu bekämpfen (BP.2 33). Davon haben die Griechen ausgiebig Gebrauch gemacht. Der Kriegszustand war bei Platon (leg. 626 A-D) wie bei Schmitt normal und natürlich (kata physin). Friede sei ein leerer Name (monon onoma). Krieg herrsche auch, wenn er nicht erklärt sei (ake¯rykton). Daher müsse eine Polis so stark sein, dass sie jede andere bezwingen kann. Kurz: Friede ist besser als Krieg, aber Sieg ist besser als Friede. In Platons Politeia (451 Dff.) leisten auch Frauen Wehrdienst. Der Dauerzwist sollte nur während des »Gottesfriedens« (hierome¯nia) in der Zeit der panhellenischen Spiele ausgesetzt sein. Friede zwischen Städten wurde jeweils nur auf eine bestimmte Zeit vereinbart, die aber selten eingehalten wurde. Die Kriegsführung war brutal, obschon doch die Griechen einander keineswegs im Sinne Schmitts »seinsmäßig verneinten«, also keine echten Feinde waren. Und doch haben die Athener nach der Eroberung von Melos 416 v. Chr. die Männer getötet, Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft (Thuk. V 116).
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Das war kein Einzelfall: Plataiai 427, Orchomenos 363, Olynth 348 zeigen es.5 Vorbild war die Vernichtung von Troja. Man musste Rache fürchten.6 Die Spartaner, Erbfeinde der Tegeaten und Argiver, erklärten den Messeniern alljährlich den Krieg (Plut. Lykurg 28). Gegen Griechen fordert Platon (polit. 469 Bff.) milderes Vorgehen. Griechen sollten Griechen nicht versklaven. Frauen, Kinder und Greise, Häuser und Bäume des Feindes sollen geschont werden, die Beute auf die Jahresernte beschränkt bleiben. Waffen besiegter Griechen den Göttern zu weihen und in Tempeln aufzuhängen, wie es in Delphi geschah (Paus. X 9), sei miasma, Befleckung. Ansätze zu einem »gehegten Krieg« im Sinne Schmitts zeigen sich in der Ächtung von Fernwaffen (Strab. X 1,12) und in dem Verzicht auf steinerne Siegesdenkmäler. Sie sollten aus vergänglichem Holz bestehen (Diod. XIII 24,5; Cic. inv. II 70). So hart wie die Kriege zwischen den griechischen Städten wurden auch Bürgerkriege innerhalb der Städte geführt. Thukydides (III 70ff.) illustriert das an der mörderischen stasis in Kerkyra/Korfu 427 bis 425. Derartiges wird von Platon verurteilt. Er empfiehlt Versöhnung, in Syrakus nach dem Sturz von Dionysios II 353 (epist. VIII 356 aff.) wie in Athen 403 bei der Amnestie der Anhänger der Dreißig Tyrannen (Xen. hell. II 4,43; Plut. Cicero 42). Vorbild ist der Schluss der Odyssee (XXIV 484f.), wo nach dem Freiermord Zeus den Streit zu beenden und aus der Erinnerung zu tilgen befiehlt und das mit Donner und Blitz beglaubigt. In Parenthese: Auf diese Homerstelle beruft sich Schmitt 1949 bei seiner Wendung gegen die »politische Justiz« (G. 257). Er spricht hier, selbst der Amnestie bedürftig, aus der Situation des Betroffenen, während er aus der Position des Richters 1934 den inneren Feind Ernst Röhm zu liquidieren erlaubte. Das war für ihn »höchste Justiz«, fraglos politisch (PB. 200). Ein zweites Exemplum zu seinen Gunsten fand Schmitt schon 1948 in dem Rededuell zwischen Cato und Caesar im Senat, als es um die Behandlung der als innere Feinde gefangenen Catilinarier ging (Sall. Catil. 51f.). Hier vertrat er die milde Haltung Caesars (G. 142), nachdem er 1934 die scharfe Position Catos eingenommen hatte. Doch zurück zu Platon! So verwerflich Rebellion für ihn auch ist, verdient der Rebell als Mitbürger doch Verzeihung. Indem Platon den Begriff stasis auf Kriege zwischen den poleis überträgt, betont er die Verwerflichkeit innergriechischer Gewalt. Die Griechen seien doch alle verwandt, eine einzige große Familie. Jeder Hellene solle ein »Philhellene« sein (leg. 470 E). Man möge zusammenstehen gegen die Barbaren, die Nichtgriechen (polit. 262 D), mit denen unvermeidlich Krieg, polemos, herrsche. Im Westen sind das die Karthager. Sie seien aus Sizilien 5 Burckhardt 1898/1956 I, S. 270ff. 6 Gehrke 1987.
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Alexander Demandt
zu vertreiben oder zu versklaven, so wie angeblich jene die Griechen versklaven wollten (epist. 333 A. 336 A; 353 A). Im Osten ist der Perserkönig der Erzfeind aller Griechen. Den Athenern wird ihr »angeborener Barbarenhass« (physei misobarbaron, Menex. 245 C) nachgerühmt. Barbaren sind für Platon in der Schmittschen Diktion existentielle, »totale Feinde«. Der Kampf gegen sie fördert die panhellenische Solidarität, so wie der Krieg gegen Troja die Griechen einigte. Feindschaft außen fördert Freundschaft innen. Ein »totaler Feind« ist nicht vorgegeben, sondern wird propagandistisch aufgebaut, wie bei Schmitt, so bei den Griechen. Denn sie waren ihrerseits weder für die Karthager noch für die Perser Todfeinde. Die Karthager duldeten eine griechische Kolonie in ihrer Stadt, nutzten die griechische Sprache und förderten die griechischen Kulte in ihrem Bereich (Diod. XIV 77,5; XXX 2,25). Die Perser beschäftigten griechische Ärzte und Bildhauer, Seefahrer und Söldner. Sie schätzten die griechische Kunst und die griechische Literatur (Gell. VI 17). Darius verehrte den Apollon von Delos (Hdt. VI 97) und den von Klaros (Gadatas-Inschrift). Artaxerxes gewährte Themistokles, dem Sieger von Salamis, ein fürstliches Asyl (Plut. Themistokles 29). Herodot, Aischylos und Xenophon betrachteten die Perser keineswegs als Todfeinde. Aristoteles freilich vertrat die Position Platons und riet seinem Schüler Alexander, die Griechen als Verwandte und Freunde zu betrachten, die persischen »Barbaren« aber wie Feinde (polemioi) und Tiere zu behandeln (Strab. I 66; Plut. mor. 329 CD). Mit Alexander änderten sich politisch wirksam das Menschenbild und der Feindbegriff der Griechen. Er verwarf den Rat des Aristoteles, unterschied Freund und Feind, nicht aber Griechen und Perser. Schon den Kommandanten von Sardes, Mithrenes, der ihm Burg und Schatz übergeben hatte, nahm er in sein Gefolge auf (Arr. an. I 17,4). Seit Gordion fühlte sich Alexander als »gottgesandter« Weltenrichter (theothen diallakte¯s to¯n holo¯n, Plut. mor. 329 C) und Herr Asiens. Er besiegte Darius ohne persönliche Feindschaft (echthra, Arr. an. II 12,5) in einem ritterlich geführten Krieg (Arr. an. III 10,2), dessen Ausgang sowohl er als auch Darius als Gottesurteil verstanden. So konnte Alexander behaupten, er habe »rechtmäßig« (ennomo¯s) die Herrschaft erlangt (Arr. an II 14,3 u. 7). Er errichtete keine Siegesdenkmäler (tropaia), heiratete eine persische Prinzessin und zelebrierte in der griechisch-persischen Massenhochzeit von Susa das Ende der Erbfeindschaft. Von seinem Hofmaler Apelles ließ er sich als Sieger nicht über die Perser, sondern über den Kriegsdämon Polemos darstellen (Plin. nat. XXXV 93f.). Wenn Schmitt einen Krieg ohne Diskriminierung als Duell und Gottesurteil favorisierte, bietet Alexander das antike Muster. Dass ein Krieg im Namen der Menschheit um des Weltfriedens willen besonders »unmenschlich« sein müsse (PB. 73; 132), lässt sich an Alexander nicht bestätigen.
Carl Schmitt und der antike Feindbegriff
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Rom Für die Spezifizierung des Feindbegriffs beruft sich Schmitt auch auf das römische Recht. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem, politischem Feind und dem zivilen, privaten Gegner, die er bei Platon in dem »Gegensatz« von polemios und echthros zu erkennen glaubt, findet sich im Latein, das hostis für den Landesfeind und inimicus für den inneren Gegner verwendet, auch für den Staatsfeind (Cic. off. II 50). Schmitt verweist auf die Digesten (L. 16,118), die allerdings eine andere Unterscheidung treffen. Dort heißt es: »Feinde sind jene, die mit uns oder mit denen wir einen öffentlich erklärten Krieg führen. Alle übrigen sind Räuber oder Banditen.« (hostes hi sunt, qui nobis aut quibus nos publice bellum decrevimus, ceteri latrones aut praedones sunt). Diese verfolgen kein politisches Ziel, sie suchen Beute, wo immer sie zu finden ist. Sie bekämpfen keinen bestimmten Gegner, sondern sind Feinde der Menschheit, communes hostes omnium, wie Cicero (off. III 107) schreibt. Gegen Räuber, Gewaltverbrecher und aufständische Sklaven sind alle Mittel erlaubt (Plut. Crassus 11). Gegenüber dem Räuber besteht »absolute« oder »totale Feindschaft« im Unterschied zur »gehegten und geregelten Feindschaft« im regulären Krieg (ThP. 63). Sie unterscheidet zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, also zwischen Militär und Zivil. Cicero (off. III 107) spricht vom hostis legitimus, Gellius (V 6,21) vom hostis iustus. Der »ordentliche« Feind setzt einen Kriegsbeschluss durch Senat und Volk voraus, sowie eine Kriegserklärung mit einem ultimativen Wiedergutmachungsverlangen (Liv. I 24,7f.). Zugrunde liegt die Theorie des bellum iustum, des gerechten Krieges.7 Polybios (XXXVI 2,3f.) bemerkt, die Römer achteten immer darauf, einen gerechten Kriegsgrund zu haben. Dazu zählte Cicero (rep. III 35) pro salute und pro fide, eigene Verteidigung und Schutz der Bundesgenossen, die sich meist bereits im Krieg mit einer dritten Macht befanden. Dass dies keine bloße Propaganda war, zeigt sich darin, dass die Römer ihre Niederlagen selbstkritisch auf die Strafe des Himmels für eigene Verletzungen rechtlicher oder religiöser Gesetze zurückgeführt haben.8 Bei Varro (Gell. I 25,15) bestimmt das ius belli, was der Krieg erlaubt; bei Cicero regeln die iura belli (off. I 34), beziehungsweise das ius bellicum (III 107) die Pflichten gegenüber dem Feind. Man müsse maßvoll Vergeltung üben und Wort halten, fides est conservanda, so wie Regulus 250 v. Chr., auf Ehrenwort entlassen, in die Gefangenschaft der Karthager zurückkehrte. Gesandte sind zu schonen und Besiegte milde zu behandeln. Wenn der Feind die Waffen strecke und sich der fides des Feldherrn anvertraue, müsse er aufgenommen werden, selbst wenn der Mauerbrecher die Bresche schon geschlagen habe – so Cicero 7 Demandt 1993, S. 245ff. 8 Demandt 1992.
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(off. I 33ff.; III 107; Gell. III 8). Die Göttin Fides hatte einen Tempel auf dem Kapitol. Die Schonung der Besiegten, heißt es bei Cato, verpflichte diese zum Dank (Diod. XXXI 3,4). Misshandlung von Gefangenen wurde bestraft (Diod. XXIV 12,3). Milde liegt im Interesse aller. Bei Schmitt gibt es das ius belli, genauer : das ius ad bellum, aber kein bellum iustum. Der gerechte Krieg sei das »Schauerlichste, was menschliche Rechthaberei erfunden hat« (G. 252), weil er einseitig ist. »Staatenkrieg ist weder gerecht noch ungerecht«, sondern »auf beiden Seiten in gleichem Maße völkerrechtlich gerecht«, eine »Staatsangelegenheit« (L. 73f.; PB. 285). Schmitt unterscheidet nicht zwischen Kriegsparteien, aber zwischen Kriegsgründen. Krieg für »hohe Ideale«, »Rechtsnormen« oder »irgendwelche Abstraktionen« ist widersinnig, für ökonomische Ziele ist er »grauenhaft und verrückt«. Ein anderer Krieg als der für die »seinsmäßige Behauptung der eigenen Existenzform« lässt sich »nicht rechtfertigen« (PB. 69ff.). Der aber doch. Muss er das? Dazu Ernst Jünger an Schmitt am 30. November 1930: »Was ist, das soll man nicht begründen.« Schmitt äußert sich abfällig über ein »allgemeines Moralgebot« (PB. 47ff.), über den Begriff »Rechtsstaat« (PB. 186; 215), über den »Mythos der Menschenrechte« in der »liberal demokratischen Weltanschauung« (PB. 299f.). Das ist Feindpropaganda. Es gibt keine »Kriegsschuld«, auch nicht für den Angriffskrieg, selbst wenn er nur wegen einer Beleidigung geführt wird (PB. 42; 245). Es gibt nur den unbegrenzten Anspruch auf die selbstbestimmte »Existenz«. Die Sanktionierung der Grenzen, des status quo, erhebt die Realität zur Normalität, die Sachlage zur Rechtslage, kantianisch: das Sein zum Sollen. Quod absit. Der status quo taugt als Legitimationsprinzip nur, wenn er ein Rechtszustand ist und zudem »als normal empfunden« wird (PB. 40f.). Das ist also Gefühlssache. »Jede Norm setzt eine normale Situation voraus« (PB. 136). Die Besitzstandwahrung liegt im Interesse der Besitzenden, der beati possidentes (PB. 33ff.; 121; 301). Im Interesse der Benachteiligten steht ein für sie »problematischer«, »abnormer« status quo zur Disposition und zur Dezision (PB. 41; 47; 207). Denn eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit ist auf pluralistischer Basis undurchführbar (PB. 207). Also sollen die Waffen entscheiden.
Jesus Einen Unterschied zwischen dem politisch-militärischen und dem privat-persönlichen Feind entdeckt Schmitt auch in der Bibel (BP.2 17). Das Wort Jesu »Liebet eure Feinde« sucht er vom Verdacht des Pazifismus zu befreien. Gemeint sei nicht der Feind im Kriege, sondern der Widersacher »in der Sphäre des
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Privaten«. Nur dort habe es »einen Sinn, seinen ›Feind‹, d. h. seinen Gegner, zu lieben«. Schmitt liest in der Bergpredigt (Mt 5,44; Lk 6,27) das Wort echthros. Das Wort polemios sei bewusst vermieden. Und echthros, von Hieronymus in der Vulgata mit inimicus übersetzt, meine nur den nichtmilitärischen Widersacher. Was mag Jesus wirklich gesagt haben? Vorauszusetzen ist aramäisch be¯l dababi, »den Verhassten« im Akkusativ.9 Das bezeichnet, so wie echthtros, jeden ungeliebten Gegner. Das Gebot der Feindesliebe steht im Umfeld der Gewaltverbote bei Jesus (Mt 5,39; Jo 18,11) und Paulus (Röm 12f.). Die dem entgegenstehenden militanten Herrenworte (Mt 10,34; Lk 3,14; 12,49ff.; 19,27) entwerten das nicht. Das von Schmitt vermisste polemios kommt im Neuen Testament gar nicht vor ; echthroi sind alle Gegner, die Juden als Feinde der Christen (Röm 11,28), die Fremden als Todfeinde der Israeliten (Lk 1,71 nach Ps 106,10). Jesus fordert den Tod seiner echthroi (Lk 19,27). Der Tod ist der »letzte Feind« des Menschen (1Kor 15,25f.). Der vorletzte ist der Teufel als Feind Gottes und der Menschen (Mt 13,39; Lk 10,19). »Friede auf Erden« ist ein »frommer Wunsch« bei Lukas (2,14). Schmitts Umdeutung der Feindesliebe legitimiert die christliche Kriegsführung. Er spricht vom »tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam« zur Abwehr der Islamisierung (BP.2 17). Doch weder bei Tours und Poitiers 732 noch vor Wien 1529 und 1683 ging es primär um Religion. Christen waren im Osmanenreich gelitten, schon wegen der Kopfsteuer. Religiös begründete Todfeindschaft gab es hingegen zwischen den christlichen Konfessionen. Die Antike kannte Religionskrieg nur bei den Juden, denken wir an die Zwangsbeschneidung der von Hyrkan unterworfenen Idumäer (Ios. ant. Iud. XIII 9,1).
Versailles Wie zu den Grundbegriffen von Schmitts »Freund-Feindorientierung« (BP.2 10) gibt es antike Bezüge zu den politischen Positionen, die er beschreibt oder bezieht. Meist deckt er sie selbst auf, bisweilen zeigen sie sich dem Historiker. Traumatisiert durch Versailles, empfindet Schmitt die Situation Deutschlands als völkerrechtliche »Abnormität« (PB. 247). Es herrsche weder offener Krieg noch echter Friede, sondern die schwelende Feindschaft einer Zwischenkriegszeit, durchaus prophetisch. Indem Schmitt den status quo 1928 als »ungerecht«, ja als ein »Meer von Ungerechtigkeiten« bezeichnet (PB. 97; 286) und 1932 Deutschland »in der Defensive« sieht (PB. 179), macht er aus seinem Rechtsgefühl nun doch Anleihen an die Theorie vom bellum iustum. Er spricht 9 Jenni/Westermann 1971, S. 118.
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1933 von einer unter Umständen »rechtmäßigen Überschreitung der Grenze« (PB. 207) und 1939 von »berechtigten Ansprüchen Deutschlands« (PB. 29), dabei denkt er wohl an eine Wiederherstellung des status quo ante 1914, die damalige »Großmachtstellung«.10 Die Sieger von 1919 sind weiterhin die »Feinde« Deutschlands (PB. 203). 1938 heißt es, »Feindschaft, der animus hostilis« sei der »primäre Begriff geworden« (PB. 249), Schmitt erwartet den »Krieg der Demokratien gegen die totalitären Staaten« (PB. 255). Für den außenpolitischen Zustand Deutschlands findet Schmitt (PB. 247) eine innenpolitische Parallele in Ciceros Reden gegen Antonius (Phil. VIII 4). Dass es zwischen Krieg und Frieden kein Mittelding gebe, also Friede herrsche, wenn kein Krieg sei, das scheint dem Redner angesichts des vom hostis publicus angezettelten tumultum unsinnig. Friede ist das ebensowenig wie in Deutschland nach 1919. Die fortbestehende Feindschaft illustriert Schmitt an der Kontroverse, ob die in Versailles festgelegten Zahlungen politisch korrekte »Reparationen« oder nicht vielmehr »Tribute« seien. Schmitt verweist auf einen ähnlichen Begriffsstreit aus dem 16. Jahrhundert, als die Habsburger dem Sultan feste Jahresgaben lieferten, um Frieden zu haben (PB.2 19). Ferdinand zahlte an Suleiman seit 1547 jährlich 30 000 Dukaten. Das war in türkischen Augen ein Tribut, doch sprach der Kaiser von »Pension«, ja von »kaiserlicher Türkenverehrung«. Das römische, von Schmitt nicht herangezogene Analogon sind die enormen Stillhaltegelder, die von den Kaisern seit Severus Alexander (Herodian. VI 7,9) bis Justinian (Menander 6,1) den Germanen, Hunnen und Persern gezahlt wurden. Constantin, der das verweigerte, sprach von »Sklaverei« (Eus. VC IV 5). Diese Jahrgelder hießen »Geschenke«, Freundschaftsgaben für den Landesfeind. Als die Alamannen 364 in Mailand die certa et praestituta ex more munera abholen wollten und nicht den vollen Betrag erhielten, unternahmen sie einen Raubzug nach Gallien (Amm. XXVI 5,7), so wie die Franzosen 1923 die verzögerten Kohlelieferungen mit der Besetzung des Ruhrgebietes beantworteten. Ist das Friede? In der herrschenden Spannung erscheint Schmitt Neutralität kaum noch möglich. 1938 ruft er Vae Neutris! (PB. 251ff.) in Anlehnung an das Vae victis! des geldgierigen Keltenfürsten Brennus nach der Eroberung Roms 387 v. Chr. (Liv. V 48). Von Neutralität kann keine Rede sein, wenn der »neutrale« Staat eine der beiden Streitparteien wirtschaftlich unterstützt oder – wie im Fall »Lusitania« – dies seinen Bürgern freistellt. Er verletzt die Neutralität bereits, sobald er einer Seite Recht gibt oder sie diskriminiert. Die unausgesprochene Folge ist, dass der betroffene Staat den »Neutralen« als Feind betrachten darf. Das antike Musterbeispiel wäre der Fall von Melos im Peloponnesischen Krieg. Die neutrale 10 Quaritsch 1995, S. 69.
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Insel wurde 416 von den Athenern erobert, nur weil die Melier als Dorier mit den stammverwandten Spartanern sympathisierten (Thuk. V 84ff.). Im Peloponnesischen Krieg findet sich auch eine Parallele zu der »Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden« seit 1919. Es ist die Zeit des »faulen Friedens« zwischen Athen und Sparta.11 Im Jahre 421 hatte der athenische Staatsmann Nikias die Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten genutzt, einen 50jährigen Frieden zu vereinbaren (Thuk. V 23; 25; Diod. XII 75,2). Beide Seiten verpflichteten sich, die im Krieg gemachten Gewinne herauszugeben. Das aber unterblieb, ein »Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden« trat ein, wie ihn Schmitt ebenso 1938 feststellte (PB. 249). Eine Entscheidung war nicht gefallen, sie wurde 415 von Athen unter der Führung von Alkibiades gesucht, der sich stark fühlte. Nach Anfangserfolgen unterlag Athen 405. Durch Versailles sah Schmitt sein politisches Weltbild in Frage gestellt. Es entsprach dem von Ranke. Er ging 1836 aus von einem Nebeneinander von Staaten, gewissermaßen »Gedanken Gottes«,12 die sich aufgrund ihrer historischen Entwicklung zu Individualitäten ausgebildet haben und diese gegen Einflüsse von außen verteidigen müssen. Dies betrifft vornehmlich Ideen der Französischen Revolution. Machtgelüste der Nachbarn erforderten eine Priorität der Außenpolitik. Dieses Ranke-Schmittsche »Pluriversum« souveräner Staaten (PB. 72; 141) wurde 1919 überschattet durch das »Universum« einer allgemeinen Friedensordnung, wie sie der Völkerbund und der Kellogg-Pakt von 1928 anstrebten. Mit ihrer »Wendung ins Pazifistisch-Humanitäre« (PB. 306) erklärten die Staaten den Verzicht auf das volle ius belli, und Amerika war im Begriff, »Schiedsrichter der Welt« zu werden, so 1932 (PB. 169) und wieder 1939 (PB. 298). Dahinter witterte Schmitt den »ökonomischen Imperialismus« der »liberalkapitalistischen Dollar-Diplomacy« (PB. 162f.; 173), die aus der Welt einen gewinnträchtigen »Kapitalmarkt« machen will (PB. 38; 296ff.).
Hitler Im April 1939 präsentierte Schmitt seine Großraum-Theorie (PB. 295ff.), seinen »vernünftigen Raumabgrenzungsgedanken«, gewissermaßen ein Mittelding zwischen Pluriversum und Universum. Im Rückgriff auf die Monroe-Doktrin von 1923, die ganz Amerika als Interessengebiet der USA gegen Einmischung von außen abschirmte, konzedierte er den Japanern Ostasien und unterstützte einen entsprechend begründeten Führungsanspruch Hitlers von 1938 in »Europa« (PB. 302). Die Welt ist ein großer Kuchen. Schmitt kürt das »Reich« als 11 Bengtson 1960, S. 231. 12 Ranke 1995, S. 95.
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neues völkerrechtliches Subjekt an der Stelle des »Staates«. Im Unterschied zu Deutschland als Staat in festen Grenzen beherrscht Schmitts »Reich« darüber hinaus einen Großraum, in den die »Sonne des Reichsbegriffs« ihre »politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf« (PB. 303). Das ist verboten. Schmitts Raum- und Reichsideologie impliziert eine Rangordnung unter den Staaten, die zwar völkerrechtlich abgelehnt werde, aber gegeben sei. Das zeige die »Hegemonie« der USA über ganz Amerika (PB. 169), die bisherige »Hegemonie« Frankreichs über Europa (PB. 39) und die »Hegemonie Englands und Frankreichs« über die im Völkerbund vereinten Staaten (PB. 306). Mit der »Erneuerung der deutschen Volkskraft durch Adolf Hitler« (PB. 294) hat sich das Pluriversum verändert. Innerhalb Europas erkennt Schmitt keine »totale Feindschaft« (PB. 239), hatte doch Hitler schon 1936 die Europäer als »Familie« und Europa als gemeinsames »Haus« bezeichnet (PB. 213), allerdings ohne sich als Familienvater oder Hausherrn zu bekennen. Der jeweilige Großraum-Hegemon hat das ius belli, unter anderem dann, wenn es um die Beschaffung existentiell notwendiger Rohstoffe geht, so im Fall Japans (PB. 306) oder wenn existentiell notwendiger »Lebensraum« gewonnen werden muss, so im Fall Deutschlands (PB. 297f.). Indem Schmitt »normativ« durch »existentiell« ersetzt (PB. 124) und das »Lebensrecht« mit dem »natürlichen Wachstum lebendiger Völker« verknüpft (PB. 300ff.), sind wir bei Darwin. Ein hegemonial gestuftes Modell der Staatenwelt kennt der Historiker in der Neuzeit bei der Suprematie Ludwig XIV auf dem Kontinent,13 beim Rheinbund unter dem »Protektor« Napoleon als Oberbefehlshaber, in der Antike bei den hegemonialen Symmachien. In klassischer Zeit war die Hegemonie in einem Kampfbund mehrerer Städte das Vorrecht, auf dem rechten Angriffsflügel zu stehen, von dem man den Sieg erwartete. Diese Position besaß im Peloponnesischen Bund Sparta (Pol. I 2,3f.). Im delisch-attischen Seebund war die Hegemonie Athens bereits eine echte Herrschaftsstellung. Als dann im 4. Jahrhundert Friedenssehnsucht aufkam, nutzte Philipp II von Makedonien das zur Gründung des Korinthischen Bundes unter seiner Hegemonie. Auch Alexander sah sich als der vom Bund bestellte »Hegemon« (Arr. an. II 14,4), der innergriechischen und innerstädtischen Frieden verordnete und den Krieg gegen Persien führte. Im Hellenismus erscheinen Könige von Makedonien und Ägypten, von Syrien und Pontos als Hegemone der griechischen Städte und Städtebünde.
13 Ranke 1995, S. 45.
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Die Ära von Actium Die Hegemone des deutsch-europäischen und des japanisch-ostasiatischen Großraums haben von ihrem ius belli Gebrauch gemacht und sind gescheitert. Dadurch entstanden der amerikanische und der russische Großraum, bis auch letzterer schrumpfte und nur eine einzige Weltmacht überdauerte und heute die Ökumene kontrolliert. Was Schmitt 1932 befürchtet hat, ist 1990 eingetreten. Machtkonzentration war in gewissem Sinne nichts Neues.14 Eine solche war das Ergebnis der politischen Geschichte in der Antike. Die zerstrittenen Kleinstaaten der griechischen Welt waren im Alexanderreich aufgegangen. Aus der Feindschaft zwischen den Städten wurde die Feindschaft zwischen den Reichen. Die verfeindeten Großstaaten des Hellenismus gerieten unter die Herrschaft Roms, der Senat wurde orbis terrae consilium (Cic. Phil. IV 14), »Schiedsrichter der Welt«, indem die Römer bellum iustum und Imperialismus verbanden. Der Feldherr, der einen Angreifer besiegt hatte, nahm ihn ins Reich auf und wurde sein Patron. Die italischen Gegner erhielten das Bürgerrecht in der Republik, die anderen nach und nach von den Kaisern, flächendeckend 212 n. Chr. In Rom konnten auch Afrikaner wie Septimius Severus und Araber wie Philippus Arabs Kaiser werden. Vergil (Aen. VI 853) gebietet den Römern parcere subiectis et debellare superbos. In diesem Sinne behauptet Augustus von sich: Kein Volk habe ich zu Unrecht, per iniuriam mit Krieg überzogen und alle, denen man vertrauensvoll verzeihen konnte, habe ich lieber bewahrt als vernichtet. So habe ich durch meine Siege Frieden geschaffen: parta victoriis pax (R. Gest. div. Aug. V 26; 32). Der seit den Gracchen herrschende Bürgerkrieg war mit Actium 31 v. Chr. vorbei. In dem von Rom überschaubaren Raum, der antiken Welt, war aus dem orbis terrarum ein orbis Romanus geworden, ein imperium sine fine und sine finibus. Denn Rom umgab sich mit einem Kranz von Klientelstaaten,15 in die »seine Idee ausstrahlte«. Schmitt nannte 1944/50 mit Proudhon unsere Zeit eine Àre actiaque und berief sich dabei auf Spengler, der hier eine kulturmorphologische »Gleichzeitigkeit« gesehen hatte: dort das Ende der »apollinischen Kultur«, hier das Ende der »faustischen Kultur«, also den »Untergang des Abendlandes«. Mit Augustus beginne die Zeit der Zivilisation und des Caesarismus, so wie in der Gegenwart wiederum.16 Schmitt nannte dies die »große Parallele« zwischen Neuzeit und Antike (C. 92ff.; G. 287).17 Die »Ära von Actium« entdeckt Schmitt in seiner 14 15 16 17
Bender 2003. Kornemann 1943. Spengler 1923, S. 60. Mehring 2009, 435ff.
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Gegenwart in dreierlei Hinsicht. So wie damals der »christliche Aion« begann, ahnt er nun eine neue, unchristliche Grundüberzeugung. Als solche präsentieren sich der Sozialismus (DC. 95ff.) und die Toterklärung Gottes (G. 287). Punkt zwei ist bei ihm der Bürgerkrieg (DC. 93), doch war der in Rom mit Actium vorbei und ist in der Gegenwart gewiss nicht signifikant. Drittens diagnostiziert Schmitt die Wiederkehr des Cäsarismus. Tatsächlich gab es dem »Caesar« Napoleon ähnliche Herrscher, doch bestimmen sie nicht den politischen Charakter der Zeit. Das römische Kaisertum war tendenziell eine Erbmonarchie, die nur beim Wechsel der Dynastien cäsarische Männer auf den Thron brachte. Schmitt hatte gegen Diktatur und Cäsarismus keine grundsätzlichen Vorbehalte. Augustus beschwor er bereits 1929 (PB. 132) und wieder 1939 und 194118 (PB. 312) mit der verkürzt zitierten Vierten Ekloge Vergils: (Magnus) ab integro (saeclorum) nascitur ordo. Schmitt verstand ordo als »Ordnung«, ein für ihn zentraler Wertbegriff, doch bedeutet ordo (saeclorum) hier die zeitliche »Reihe« gemäß der Weltalterfolge die Wiederkehr eines Großen Jahres und die Rückkehr des Goldenen Zeitalters.19 Schmitt begrüßte eine Zeitenwende, die er freilich nach Kriegsende anders beurteilte. Zuvor konnte Augustus als Hegemon eines Großraums positiv gesehen werden, nun entlarvte er sich als Herrscher eines Universalreiches. Der Übergang vom Pluriversum zum Universum hat wie in der Moderne so in der Antike das Freund-Feind-Verhältnis geändert. Das betrifft Formen und Ziele der Kriegsführung. Schon die Kriege Napoleons hatten keinen Duellcharakter mehr. Der Korse kämpfte gegen Feinde rundum, und diese kämpften gegen ihn. Einer gegen alle, alle gegen einen, wie wieder 1914 bis 1918. Eine Weltallianz gegen einen Weltfeind, also ein »Weltbürgerkrieg« (ThP. 96). Proklamiertes Kriegsziel ist der Weltfriede. Ihn bedroht der jeweilige Weltfeind, noch immer. Das waren die Deutschen (politisch), der Totalitarismus (ideologisch), das ist der Terrorismus (kriminell) und der Islamismus (existentiell im Sinne Schmitts). Der Weltfriede aber wurde weder durch die internationalen Organisationen noch durch Kriegseinsätze und Luftschläge der US-Air Force erreicht. Auf police bombing, nach 1920 im Irak erprobt, vertraute der britische Völkerrechtler James Molony Spaight schon 1930, wie Schmitt (PB. 311) ausführt. The bomber saves civilisation, schrieb Spaight 1944. Das ius belli aber hat sich durch militante Polizeiaktionen nicht monopolisieren lassen. Die friedliebenden Industrienationen beliefern die Welt mit Waffen. Wie in der Moderne die Zeit der »regulären Kriege« vorüber ist, so gab es in der Antike schon vor Actium keine Kriege mit Duellcharakter mehr. Von gelegentlichem Schlagabtausch mit Parthern und Persern abgesehen, hatte Rom 18 Mehring 2009, S. 397. 19 Gatz 1967.
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keinen Feind auf Augenhöhe mehr (L. 74). Ein solcher war noch Pyrrhos. Der König gab 279 v. Chr. die römischen Kriegsgefangenen ohne Lösegeld frei, denn er sei »kein Kaufmann«; umgekehrt stellte der Senat ihm einen Überläufer gebunden zu, der Pyrrhos zu vergiften angeboten hatte. Das war Ehrensache. Fortuna sollte in offenem Kampf zeigen, wem die Herrschaft gebühre – also ein Gottesurteil (Cic. off. I 38ff.). Seit dem Sieg über Hannibal konnte kein äußerer Feind mehr das Imperium »seinsmäßig verneinen«. Der Kimbernschreck war Panikmache (Plutarch, Marius 11ff.). Caesars Bellum Gallicum blieb in der Sprache Schmitts eine debellatio unzivilisierter Stämme. Kriege mit reichsfremden Barbaren waren meist Strafexpeditionen für Beutezüge oder Vorfeldsicherung, wie das jüngst entdeckte römisch-germanische Schlachtfeld am Harzhorn bestätigt. Mit der Pax Augusti, aus der bei Seneca (De prov. 4,14) die Pax Romana wurde, zeigte sich, wessen und welcher Friede gemeint war. Das ist für Schmitt die Crux bei jedem Frieden. Um wessen Frieden handelt es sich heute? Quis iudicabit? (PB. 37f.; 176). Der »römische« Friede hieß nach der Garantiemacht wie danach die Pax Britannica, die Pax Americana. Die von Schmitt nach Hobbes betonte Verbundenheit von Schutz und Gehorsam war für den römischen Imperialismus konstitutiv. Die unterworfenen Völker verloren das ius belli und die Blutgerichtsbarkeit, wie aus der Johannespassion bekannt ist (Jo 18,31). Das wurde nicht sofort verschmerzt. Als der Akarnane Lykiskos 209 v. Chr. die Griechen zum Kampf gegen die anstehende Invasion der Römer aufrief, gegen den echthros aus dem Westen, kennzeichnete er die bedrohte Freiheit durch das Recht, weiterhin nach eigenem Ermessen Krieg zu führen oder Frieden zu schließen anstatt dies den Römern zu überlassen (Pol. IX 32f.). Man kämpft dafür, kämpfen zu können. Dieses Staatsideal schwebt auch Schmitt vor, wenn er schreibt, »für politische Freiheit und politische Unabhängigkeit gibt es kein gerechtes Äquivalent, mag die Bestechungssumme noch so groß sein« (BP.2 64). Wer Friede und Wohlstand höher schätzt als ständige Kriegsbereitschaft, ist somit korrupt. Dies trifft die Völker im Römerreich pauschal – mit Ausnahme der militant orthodoxen Juden. Den Griechen, so Plutarch (mor. 824 C), beließen die Römer so viel Freiheit, wie gut für sie war. Auch heute wäre nicht zweifelhaft, wie die Wahl zwischen Freiheit und Glück ausfiele. Rom gewährte Sicherheit und Wohlstand, kommunale, kulturelle und religiöse Selbstbestimmung. Der römische Universalismus führte zu einer »übervölkischen« Weltordnung prosperierender Zivilisation, wie sie der »übervölkische« Universalismus der Westmächte gleichfalls im Gefolge hat (PB. 257; 297). Da er aber im Kielwasser der USA schwimmt, sieht Schmitt hier nur das hegemoniale Interesse des dollardominierten Kapitalismus (PB. 173). Friede erfordere die »unwiderstehliche Entscheidung eines sicher funktionierenden gesetz-
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lichen Zwangssystems« (L. 69), dessen Paragraphen die Supermacht schreibt. Das ist die Antwort auf die Frage: Quis iudicabit? Die kosmopolitische Ideologie Roms suchte Feindschaft grundsätzlich zu überwinden, so wie Alexander den Krieg besiegen wollte. Die Kaiser bemühten sich, Reichsfeinde zu schonen und einzubürgern. Roms gefährlichste Nachbarn, die Germanen, von Tacitus (Germ. 33) trotz ihrer Bedrohlichkeit für das Reich mit Sympathie behandelt, wurden zu Zehntausenden im Reich angesiedelt, teils auf deren Bitten, teils als Kriegsgefangene. Germanen finden wir seit Caesar in römischem Sold, seit Augustus in der kaiserlichen Leibgarde und seit Constantin in den höchsten Kommandostellen. Diese Politik war lange erfolgreich, aber zuletzt verderblich. Die Goten, die 378 bei Adrianopel das oströmische Heer vernichteten, waren mit kaiserlicher Erlaubnis über die Donau gekommen. Als Theodosius den Eindringlingen 382 in einem Vertrag von gleich zu gleich Land anwies, pries der Hofredner Themistios (or. 16) die Philanthropie des Kaisers und betonte seine Sorgepflicht für alle Menschen. Menschenliebe in der Position des Starken ist für Schmitt eine Propagandalüge zur Machterhaltung. »Wer Menschheit sagt, will betrügen« (PB.2 42). In der Position des Schwachen wird das für ihn zum Selbstbetrug. Hat Themistios aus der Not eine Tugend gemacht oder Tugend in der Not bewiesen? Der Historiker, der laut Schmitt für alles Parallelen beibringen kann, findet solche auch für Schmitts Freund-Feind-Konstante. Strukturell entspricht sein universaler Dualismus dem unüberwindbaren Gegensatz zwischen Freunden und Feinden Gottes, zwischen Civitas Dei und Civitas Diaboli bei Augustin (civ. XVII 20). Der Kirchenvater übertrug den Begriff civitas – »Bürgerschaft« aus der politischen in die metaphysische Sphäre, und Schmitt repolitisiert das im Sinne von »Wir und die anderen«, denn der Feind ist immer der andere. Der »methodische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen« (BP3 45f.), den Schmitt 1922 »politische Theologie« nannte, zeigt sich auch bei ihm selbst. Wenn er in der Politik wie Augustinus in der Religion an die Unüberwindbarkeit des Freund-Feind- Gegensatzes glaubt, so geben ihm Platon und Aristoteles Recht. Aber Alexander und Augustus sprechen dagegen. Sie haben gezeigt, dass und wie Völkerfriede möglich ist, wenn auch nur zeitweise. Was aber ist hienieden nicht zeitweise?
Literatur Bender, Peter, Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart 2003. Bengtson, Hermann, Griechische Geschichte, 2. Aufl. München 1960. Burckhardt, Jacob, Griechische Kulturgeschichte, Basel 1898/1956.
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Demandt, Alexander, Metaphern für Geschichte: Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978. Ders., Historische Selbstentlastung in der Antike, in: Bedrich Loewenstein (Hrsg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, 115–142. Ders., Staatsform und Feindbild bei Carl Schmitt (1987/88), in: Ders., Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays, Köln 1997, 160–169. Gatz, Bodo, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967. Jenni, Ernst/Westermann, Claus (Hgg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. I, München 1971. Jünger, Ernst/Schmitt, Carl, Briefe 1930–1983. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999. Kornemann, Ernst, Die unsichtbaren Grenzen des römischen Reiches, in: Ders., Gestalten und Reiche. Essays zur Alten Geschichte, Leipzig 1943, 323–338. Mehring, Reinhard, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009. Quaritsch, Helmut, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 3. Aufl.1995. Ranke, Leopold von, Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von U. Muhlack, Frankfurt/Main 1995. Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, München/Leipzig 1932 (BP.2). Ders., Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933 (BP.3). Ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938/ND Köln 1982 (L.). Ders., Der Begriff des Politischen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), S. 1–33; teilweise wiederveröffentlicht in: Ders., Positionen und Begriffe, 1940, 67–74 (PB.). Ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Hamburg 1940 (PB.). Ders., Juan Donoso Cort¦s in gesamteuropäischer Interpretation. 4 Aufsätze, Köln 1950 (C.). Ders., Ex captivitate salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950 (CS). Ders., Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 (ThP.). Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, München 1923.
Stefan Esders
Montesquieu über das Absterben und Fortleben des römischen Rechts im frühen Mittelalter (De l’esprit des lois 28)
Im Bereich der Geschichtswissenschaft wird Wissenschaftsgeschichte zumeist in der Absicht betrieben, die historische Bedingtheit früheren Erkennens herauszuarbeiten. Was hat Geschichtsschreiber früherer Zeiten jeweils veranlasst, ausgehend von Themen und Problemstellungen ihrer Gegenwart spezifische Fragen an die Vergangenheit zu richten? Notwendigerweise erfolgt das moderne Bemühen um Historisierung vor dem Hintergrund eines seitdem erheblich veränderten Kenntnisstandes. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, man wäre deswegen heute die Dinge »richtiger« einzuschätzen imstande. So unverzichtbar Vorstellungen vom Gang und Stand der Forschung zu einem Thema für die innerwissenschaftliche Verständigung und für ein heuristisch begründetes Voranschreiten sind, so unbezweifelbar bleibt, dass sich aus der Beschäftigung mit längst vergangenen oder zum Teil bereits vergessenen Autoren Anlass ergeben kann, alte Fragen neu zu durchdenken und sich von früheren Betrachtungen für die eigene Arbeit inspirieren zu lassen. Für die Beschäftigung mit der so genannten »Vormoderne« gilt dies in besonderem Maße.1 Der bedeutende Staatstheoretiker und Rechtsphilosoph Charles de Montesquieu (1689–1755),2 um den es im folgenden Beitrag gehen soll, schrieb vor mehr als 250 Jahren über jenen Zeitabschnitt, den man erst lange nach seinem Wirken als Zeit der ausgehenden Antike und des beginnenden Mittelalters fester einzuordnen begann. Obwohl er damit seine Reflexionen noch vor dem 19. Jahrhundert als der Schwellenzeit des modernen historischen Bewusstseins3 anstellte, stand Montesquieu in vielen Hinsichten in der Tradition langfristiger Entwicklungen, die erst nach ihm abbrechen sollten, und damit der fraglichen Zeit um eben genau diese 250 Jahre näher als wir. Über der zwölfjährigen Arbeit an seinem eigentlich systematisch angelegten 1 Zu Begriff und Problem vgl. zuletzt Patzold/Ridder 2013. 2 Zur Einführung in Montesquieus Leben und Werk vgl. Shackleton 1961; Hereth 1995; Campagna 2001. 3 Oexle 1996.
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Hauptwerk De l’esprit des lois, das er im Jahr 1748 anonym in Genf veröffentlichte,4 reifte Montesquieu zu einem profunden historischen und rechtshistorischen Forscher.5 So stellte er einige bemerkenswerte Überlegungen zur Kontinuität und Diskontinuität der römischen Rechtskultur nach dem Ende des weströmischen Reiches an, die noch heute Aktualität beanspruchen dürfen.6 Die Relevanz dieses Themas ergab sich für ihn zunächst aus seinem persönlichen Hintergrund als Jurist und Mitglied des Parlaments von Bordeaux. Mindestens ebenso inspirierten ihn jedoch aktuelle Debatten über den Charakter der politischen Verfassung Frankreichs, in denen man fieberhaft nach historischen Argumenten und Beweisketten suchte und daher auch energisch über die frühe fränkische Geschichte sowie deren Verhältnis zur vorhergehenden spätrömischen Zeit stritt.7 So hatte sich Henri de Boulainvilliers (1658–1722) in seinem posthum veröffentlichten Werk Êtat de la France von 1727 sowie seinen Essais sur la noblesse de France von 1732 vor allem mit der Genese der französischen Aristokratie beschäftigt, die er in seiner Gegenwart gefährdet sah.8 Die exklusive, durch Geburt begründete Stellung des Adels als militärische Elite leitete er aus der Entstehung der Franken und ihrer Begründung des Frankenreiches durch Eroberung ab. Wichtige Zeugnisse stellten für Boullainvilliers dabei die fränkischen leges dar, deren Freiheitsideal er mit dem seiner Ansicht nach despotischen spätrömischen Recht kontrastierte;9 hinter den Erbrechtsregelungen der Lex Salica10 mit ihrer Zurücksetzung der Frauen vermutete er sogar die politische Absicht, die ehebedingte Übertragung von Land an die Gallorömer zu unterbinden.11 Demgegenüber betonte der Abb¦ Jean-Baptiste Du Bos (1670–1742) in bürgerlicher Tradition in seiner 1734 erschienenen L’histoire critique de l’¦tablissement de la monarchie franÅaise dans les Gaules die Kontinuität der französischen Monarchie zum römischen Kaisertum und lieferte damit dem absoluten Königtum seiner Zeit eine gewichtige historische Legitimation.12 Die für Du Bos zentrale fiskalische Kontinuität des fränkischen Staates zum römischen Imperium ließ kaum Platz für eigene Rechte der fränkischen 4 Benutzt nach der von J. Brethe de la Gressaye besorgten Ausgabe: Montesquieu 1950/61; im Folgenden wiedergegebene wörtliche Textzitate folgen der Übersetzung von Ernst Forsthoff: Montesquieu 1992. 5 Bühler 1977; Cox 1983; Jaeck 1993. 6 Zur aktuellen Diskussion dieser Frage vgl. etwa Wood 1996; Esders 1997; Lauranson-Rosaz 2006; Siems 2006; Lauranson-Rosaz 2008; Esders (im Druck a); Liebs (im Druck a); ders. (im Druck b). 7 Fetscher 1985, S. 423–528; Werner 1989, S. 46ff.; Wood 2013, S. 19–51. 8 Ellis 1988. 9 Wood 2013, S. 21–27. 10 Lex Salica 59,5 (hg. Eckhardt 1962, S. 223). Zur modernen Diskussion dieser Stelle vgl. etwa Anderson 1995; Bachrach 1997. 11 Vgl. dazu Wood 2013, S. 26. 12 Zu ihm vgl. Lombard 1913, S. 412ff., 420ff., 428ff. u. ö.; Wood 2013, S. 29–36.
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bzw. französischen Aristokratie, welche ihre exponierte Stellung im wesentlichen ihrer Rolle als römische Föderaten verdankte. Das Frankenreich war für ihn folgerichtig das Resultat einer geglückten römisch-fränkischen Symbiose, die vor allem der dem spätrömischen Staat entwachsenen fränkischen Monarchie zu verdanken war, und nicht einer eigentlichen militärischen Eroberung durch die Franken.13 Montesquieu, der sich schon früher in seinen Consid¦rations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur d¦cadence (1734) mit dem Untergang Roms als geschichts- und moralphilosophischem Problem befasst hatte,14 griff in diese Diskussion ein, indem er sich in De l’esprit des lois vor allem mit Du Bos kritisch auseinandersetzte.15 Im Mittelpunkt stand für ihn die Frage, in welchem Maße die politische Verfasstheit Frankreichs unter seiner ersten Dynastie, der »premiÀrerace« der Merowinger, lediglich die regional begrenzte Fortführung des römischen Imperium darstellte oder aber einen Neuanfang markierte, der zu einer Verschiebung der politischen Gewichte führte und damit der Aristokratie ein größeres Gewicht beimaß. Letzteres war für Montesquieu unzweifelhaft, und in den letzten beiden Büchern seines Werkes hat er aufgrund eigener Forschungen die Genese und Entwicklung der fränkischen Feudalverfassung folgerichtig als Prozess beschrieben, in dessen Verlauf schon früh die Aristokratie erfolgreich auf den erblichen Besitz ihrer Lehen pochte und sich weitreichende politische Partizipationsrechte sicherte.16 In diesem Sinne ordnete Montesquieu beispielsweise die Gesetzgebung des merowingischen Königs Chlothar II. (584–629) ein, der sich nach langjährigen Bürgerkriegen und Beseitigung der Despotenherrschaft der Königin Brunichilde im Jahr 613 als alleiniger Herrscher durchzusetzen verstand und im Gegenzug den kirchlichen und weltlichen Großen weitreichende Konzessionen machte und ihre Rechte und Lehen bestätigte.17 Für Montesquieu offenbarte sich hierin ein Grundprinzip der gesamten französischen Geschichte, dass nämlich zentrifugale Prozesse immer dann einsetzten, sobald die Monarchie ihren gemäßigten Charakter verlöre.18 13 Dazu Wood 2013, S. 30 u. 34. 14 Deutsche Übersetzung: Montesquieu 1957; vgl. dazu auch zusammenfassend Demandt 2014, S. 139. 15 So insbesondere in De l’esprit des lois 30,23ff.; vgl. hierzu Cox 1983, S. 32, 110ff. u. 158ff.; Werner 1989, S. 46ff.; Jaeck 1993, S. 552ff. 16 Das Buch 30 trägt den Titel Th¦orie des lois f¦odales chez les Francs dans le rapport qu’elles ont avec l’¦tablissement de la monarchie, das sein Hauptwerk beschließende 31. Buch überschrieb er Th¦orie des lois f¦odales chez les Francs, dans le rapport qu’elles ont avec les r¦volutions de leur monarchie. Dass die historischen Bücher des Werkes als integrale Bestandteile der politischen Philosophie Montesquieus zu verstehen sind, betonen Cox 1983, S. 16ff., 29 u. ö., und Jaeck 1993. 17 Dazu Esders 1997, S. 9–19. 18 Vgl. dazu Cox 1983, S. 37 u. 40f.
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Steht Montesquieu damit am Beginn einer Geschichtskontroverse, die in Gestalt der Feudalimusdiskussion bis ins 20. Jahrhundert hinein Geschichtswissenschaft und Rechtshistorie in Frankreich und Deutschland intensiv beschäftigen sollte,19 so fand weitaus weniger Beachtung, dass er auch im engeren Feld der Rechtsgeschichte eine Reihe von grundlegenden Quellenforschungen unternahm. Deren unmittelbarer Auslöser ist zwar ebenfalls in den zu seiner Zeit geführten strittigen Debatten über die französische Frühgeschichte zu suchen, doch war sein wissenschaftliches Interesse auch durch seine juristische Tätigkeit, seinen hier gesammelten Erfahrungsschatz und die Rolle der als Gerichtshöfe tätigen Parlamente bestimmt.20 Es verband sich aufs engste mit Montesquieus verfassungstheoretischen Überlegungen, denen zufolge die wichtigste intermediäre Gewalt, welche die europäischen Monarchien vom Despotismus trenne, eine vom König unabhängige Ausübung der Rechtsprechung sein müsse.21 Die im 28. Buch von De l’esprit des lois unter dem Titel »De l’origine et des r¦volutions des lois civiles chez les FranÅais« auf knapp 100 Seiten formulierten Überlegungen zum Fortleben bzw. Untergang des römischen Rechts im fränkischen Gallien hatten ihren Autor alle Kraft gekostet: Ich habe mich drei Monate lang fast zu Tode gearbeitet, um ein Buch über den Ursprung und die Umwälzungen unserer bürgerlichen Gesetze fertigzustellen. Seine Lektüre wird nur drei Stunden in Anspruch nehmen; aber ich kann Ihnen versichern, es hat mich so viel Mühe gekostet, daß meine Haare darüber ergraut sind.22
Montesquieu war sich, das wird aus seinem Hauptwerk immer wieder deutlich, vollkommen der Tatsache bewusst, dass ihn seine Überlegungen und Hypothesen immer wieder zu Primärforschung nötigten. Seine herausragende Quellenkenntnis23 ist dabei ebenso bemerkenswert wie sein besonderer Zugriff auf das »Recht«, welches er schon früh als ein kulturelles Phänomen zu verstehen gelernt hatte. Breite Reisetätigkeit, die ihn 1728/1729 nach Italien, Deutschland und England geführt hatte,24 sensibilisierte ihn nicht nur für die kulturellen, sondern auch die politischen und rechtlichen Unterschiede zwischen den europäischen Monarchien, und auch innerhalb Frankreichs vermochte er eine 19 Roth 1850; Herdmann 1990; Böckenförde 1995; ferner Oexle 2002. 20 Vgl. dazu insbesondere Bühler 1977. 21 So insbesondere in dem berühmten Kapitel über die Verfassung Englands, an deren Beispiel er das Prinzip der Gewaltenteilung bzw. -verschränkung verdeutlichte: De l’esprit des lois 11,6. 22 Montesquieu an Msgr. Cerati, Brief vom 18. März 1748, hier zitiert nach Montesquieu 1992, 2, S. 254 Anm. *. 23 Zu Montesquieus rechtshistorischen Quellen für Buch 28 von De l’esprit des lois vgl. Bühler 1977, S. 69–73 sowie Cox 1983, S. 88–96. 24 Montesquieu 2014.
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Vielzahl regionaler Besonderheiten des Rechtslebens festzustellen. In diesem »Kulturrelativismus« unterschied er sich markant von vielen seiner Zeitgenossen, mit denen er stritt, und auch sein in De l’esprit des lois gewählter komparatistischer Zugriff war hiervon maßgeblich geprägt. Für Montesquieu unterschieden sich »Gesetze«, wie man sie in verschiedenen Kulturen finden konnte, erheblich nach der Lebensweise eines Volkes, der Größe eines Gemeinwesens, klimatischen und geographischen Bedingungen, ökonomischen Faktoren wie Landwirtschaft und Handel, aber auch jeweils nach Religion, Traditionsbewusstsein und Mentalität.25 Jede Form von »Gesetzgebung« hatte diese Faktoren und Bedingungen zu berücksichtigen, nicht minder hatte sie jedoch auch bestimmte Grundideen zu verwirklichen, denen »Recht« entsprechen und dienen sollte, z. B. Gerechtigkeit, Ehre, Freiheit und Sicherheit.26 Auch Montesquieus Überlegungen zur Rechtsgeschichte Frankreich sind vor diesem Hintergrund zu sehen, dass er Recht als ein kulturell geprägtes Phänomen betrachtete, dessen genaue Ausformung sich je nach Gesellschaft unterschiedlich zu vollziehen pflegt. Für die frühe Rechtsgeschichte Frankreichs war dabei ein Nebeneinander unterschiedlicher Rechte charakteristisch, dessen Folgenreichtum Montesquieu bis in seine eigene Gegenwart hineinwirken sah: Das Land, das man heute Frankreich nennt, stand während der ersten Dynastie unter der Herrschaft des römischen Rechts oder des Codex Theodosianus, sowie der verschiedenen Gesetze der dort ansässigen Barbaren. In den fränkischen Ländern galt das salische Gesetz für die Franken und der Codex Theodosianus für die Römer. In dem unter westgotischer Herrschaft stehenden Landesteil regelte die Streitfragen der Römer eine Kompilation, die auf Befehl Alarichs aus dem Codex Theodosianus hergestellt worden war, während die unter den Westgoten entstandenen Streitigkeiten nach dem einheimischen Gewohnheitsrecht entschieden wurden, das Eurich schriftlich niederlegen ließ. Doch weshalb errangen die salischen Gesetze in dem Lande der Franken eine fast allgemeine Geltung? Und weshalb kam dort das römische Recht nach und nach immer mehr außer Gebrauch, während es sich in dem Gebiete der Westgoten ausbreitete, um dann zum allein geltenden Recht zu werden? Ich behaupte: das römische Recht kam bei den Franken wegen der großen Vorteile außer Gebrauch, die ein Franke, ein Barbar wie überhaupt jeder, der unter salischem Recht lebte, genoß. Folglich sah sich alle Welt veranlaßt, das römische Recht aufzugeben und stattdessen unter salischem Recht zu leben. Nur von den Geistlichen wurde es beibehalten, da für sie kein Interesse für einen Wechsel bestand. Unterschiede hinsichtlich des Personalstandes und der Rangverhältnisse ergaben sich, wie ich an anderer Stelle zeigen werde, nur aus der verschiedenen Höhe der Bußen. Den Geistlichen sprachen indessen besondere Gesetze Bußsätze zu, die ebenso günstig waren wie die der Franken: folglich hielten sie an dem römischen Recht fest. Sie hatten dadurch keine Nachteile; außerdem gefiel es ihnen, weil es das Werk christlicher Kaiser war. 25 Vgl. dazu Fetscher 1985, S. 444. 26 Ebd. S. 446–448.
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Andererseits hatten, da das westgotische Gesetz den Westgoten in ihrem eigenen Gebiet keine bürgerlich-rechtlichen Vorteile vor den Römern gewährte, die Römer auch keinen Grund, ihr eigenes Recht aufzugeben, um sich einem anderen zu unterwerfen: sie behielten folglich ihre Gesetze bei und nahmen die der Westgoten nicht an. Der gleiche Gedanke findet auch sonst seine Bestätigung. Das Gesetz Gundobalds war sehr unparteiisch und für die Burgunder nicht günstiger als für die Römer […] Das römische Recht erhielt sich in Burgund, um etwaige Streitigkeiten der Römer untereinander zu ordnen. Anders als in den fränkischen Ländern hatten hier also die Römer keinen Grund ihr Recht aufzugeben, umso mehr, als das salische Gesetz, wie es nach dem berühmten Brief Agobards an Ludwig den Frommen den Anschein hat, in Burgund nicht eingeführt wurde. […] So erhielt und erhält sich auch heute das römische Recht in allen Provinzen, die einst zu diesem Königreiche gehörten. Das römische Recht und das gotische Gesetz blieben auch in den Niederlassungen der Goten in Kraft: das salische Recht wurde dort niemals eingeführt. Als Pippin und Karl Martel die Sarazenen vertrieben, wünschten die Städte und Provinzen, die sich diesen Fürsten ergaben, ihre Gesetze beizubehalten, was ihnen bewilligt wurde: dies führte trotz der damaligen Übung, alle Gesetze an die Person zu binden, bald dahin, daß das römische Recht in diesen Ländern als ein echtes Territorialrecht angesehen wurde. Beweis hierfür ist das Edikt Karls des Kahlen, erlassen zu Pistes im Jahre 864, das die Länder, in denen nach römischem Recht geurteilt wurde, von denen unterscheidet, in denen dies nicht der Fall war. Das Edikt von Pistes beweist …, daß die Länder, in denen man nach römischem Recht urteilte, genau dieselben waren, in denen man dies auch heute noch tut … Man unterschied also schon zur Zeit des Edikts von Pistes zwischen solchen Gebieten Frankreichs, in denen Gewohnheitsrecht galt, und solchen, die unter der Herrschaft des geschriebenen Rechts standen. […] Ich weiß wohl, daß ich hier etwas Neues sage; aber wenn es wahr ist, dann ist diese Wahrheit sehr alt.27
Die rechtskulturelle Aufteilung Frankreichs in Gebiete mit Schriftrecht und solche mit Gewohnheitsrecht (pays du droit ¦crit und pays du droit coutumier), deren Auswirkungen er noch in seiner Gegenwart spüren konnte,28 nahm Montesquieu zum Ausgang der Überlegung, warum das römische Recht in manchen Gebieten Galliens völlig verschwand, während es im Süden Frankreichs zu einem territorial gültigen Recht wurde. In dem 864 von Karl dem Kahlen erlassenen Edikt von Ptres29 erblickte er dabei den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die er mit der Niederlassung germanischer Völkerschaften in Gallien im 5. Jahrhundert einsetzen sah. Was waren die genauen Gründe dafür, dass das römische Recht mancherorts verdrängt wurde, während es in anderen Gegenden dominant blieb? Den wohl wichtigsten Ausgangspunkt dieser Entwicklung sah Montesquieu im Aufkommen des Prinzips der Rechtspersonalität, demzufolge Menschen vor Gericht 27 De l’esprit des lois 28,4 (Übersetzung Montesquieu 1992, 2, S. 261–265). 28 Vgl. dazu etwa zusammenfassend Reyerson/Henneman 1986; Strayer 1986. 29 Capitularia regum Francorum II, hg. Boretius/Krause 1897, Nr. 273, S. 310ff., insbes. cc. 13, 16, 20, 23, (28,) 31 u. 34. Zum Edikt vgl. etwa Nelson 1989.
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nach dem (ethnisch definierten) Recht ihrer Herkunft zu beurteilen waren.30 Hierin gründete für ihn die Entstehung der Rechtsvielfalt im Frankenreich:31 Entscheidend war dabei der Gedanke, dass das persönliche Recht nicht nur vererbt werden konnte, sondern dass auch, wie er aus der Constitutio Romana Lothars I. vom Jahr 824 schloss,32 die Möglichkeit bestand, »sein Recht« frei zu wählen und öffentlich zu bekennen33 – in Form der sog. Professio iuris.34 Die Bevölkerung hatte demnach eine Art Wahlmöglichkeit, durfte bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden, nach welchem Recht sie leben wollte. Bestand hier also so etwas wie ein »rational choice«, so stellte sich sodann die Frage, nach welchen Kriterien sich eine solche Wahl richten würde. Für Montesquieu stand fest: War das Recht gerecht, so gab es für Angehörige ethnischer Gruppierungen auch keinen Grund, das Recht zu wechseln. Hier nun kamen für ihn zahlreiche rechtskulturelle Gesichtspunkte ins Spiel, die er einem Vergleich der leges barbarorum entnahm. Ein wichtiger Aspekt waren dabei die Modalitäten des Beweisrechts: In einigen der germanischen Rechte fand er den gerichtlichen Zweikampf als Beweismittel – ein Thema, das er über die Jahrhunderte bis zu den großen Gerichtsreformen Ludwigs des Heiligen weiterverfolgte.35 Den Zweikampf sah er als typisch für das Rechtswesen einer Kriegerkultur an, und überhaupt waren die leges barbarorum zu sehr auf die spezifischen Interessen einer Adelskultur zugeschnitten und auch ihrer Struktur nach zu einfach, um das Rechtssystem für eine verschiedengestaltige Gesellschaft bilden zu können.36 Aus diesem Grund, so glaubte er, lehnten die Bürger der hochmittelalterlichen italienischen Kommunen das langobardische Recht des Zweikampfes ab: Die Bürger der neuen Republiken … zeigten keine Neigung, ein Recht anzunehmen, das den gerichtlichen Zweikampf zu einem Brauch erhob, und dessen Einrichtungen auch sonst vielfach mit den Gebräuchen und Gewohnheiten der Ritterschaft übereinstimmten.37
Die sozialgeschichtlichen Veränderungen, die sich in der Kommunebildung niederschlugen, verlangten nach einem anderen Recht, das den Bedingungen des Handels zuträglicher war und auch dem Habitus des Bürgertums entsprach. 30 Ebd. Zum Prinzip der Rechtspersonalität vgl. Guterman 1972; 1990; Hoppenbrouwers 2013. 31 De l’esprit des lois 28,2. 32 Constitutio Romana a. 824, c. 5: Capitulariaregum Francorum I, hg. Boretius 1883, Nr. 161, S. 323. 33 De l’esprit des lois 28,2. 34 Zu diesem bisher vergleichsweise wenig untersuchten Phänomen vgl. Gaupp 1859; Guterman 1990, S. 225–239. 35 De l’esprit des lois 28,14–15, 17–20 u. 23–33. 36 Ebd. 28,6. 37 Ebd. (Übersetzung Montesquieu 1992, 2, S. 266f.).
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Die italienischen Kommunalstatuten sollten dies gewährleisten, und entsprechend ließen sie sich leichter aus dem thematisch weitgespannten römischen Recht ergänzen als aus dem langobardischen.38 Im spanischen Westgotenreich kam es dagegen nach der Aufhebung des Eheschließungsverbotes zwischen Goten und Römern bereits im 7. Jahrhundert zur Territorialisierung des gotischen Rechts, während das römische Recht in den gallischen Teilen des Westgotenreiches erhalten blieb: Doch obwohl die Könige der Westgoten das römische Recht verbannt hatten, erhielt es sich auch weiterhin in den Gebieten, die sie im südlichen Gallien besaßen. […] Die spanischen Gesetze entsprachen weder ihrer Lebensweise noch ihrer damaligen Lage. Vielleicht hielt das Volk auch deshalb am römischen Recht fest, weil es mit ihm die Idee der Freiheit verband.39
Auch die Rolle der Juden in diesem Grenzgebiet sah Montesquieu als einen Grund für das dortige Fortleben der römischen Rechtskultur an,40 wenngleich ihm das Fortleben des gotischen Rechts in Septimanien keineswegs entgangen war.41 Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Nord- und Südgallien zeichnete sich in den verschiedenen Strafen ab, die Montesquieu in den Leges barbarorum beobachtete: Burgunder, Westgoten und Langobarden seien in ihren Gesetzen stärker romanisiert gewesen und hätten deswegen in ihren Gesetzen vielfach Körperstrafen angedroht, während er in der Dominanz der Geldstrafen im fränkischen Sanktionssystem, vor allem beim Wergeld und in den Kompositionsbußen, den »germanischen Rechtsgeist« wirken sah.42 Die langen Listen der Wergeldtarife und Kompositionssummen, die er in den leges fand, lieferten ihm den Schlüssel, um die Attraktivität des fränkischen Rechts in den nördlichen Gebieten Galliens zu erklären: In den salischen und ripuarischen Gesetzen wie in denen der Alemannen, Bajuwaren, Thüringer und Friesen herrscht bewunderungswürdige Schlichtheit: man findet in ihnen eine urwüchsige Reinheit und einen Geist, der noch durch keinen fremden Geist geschwächt ist. Sie änderten sich kaum, da ja all diese Völker, mit Ausnahme der Franken, in Germanien verblieben. Selbst die Franken bauten dort einen Teil ihrer Herrschaft auf: ihre Gesetze nahmen daher ein durchaus gemischtes Gepräge an. Anders stand es mit den Gesetzen der Westgoten, Langobarden und Burgunder ; sie büßten einen großen Teil ihrer Eigenart ein, da diese Völker, die sich an ihren neuen Wohnorten festsetzten, selbst vielfach ihre Eigenart verloren. […] Die Gesetze der Burgunder und besonders die der Westgoten ließen die Körperstrafen zu. Die salischen 38 39 40 41 42
Ebd. De l’esprit des lois 28,7 (Übersetzung Montesquieu 1992, 2, S. 268). Ebd. Ebd. Vgl. dazu etwa aus neuerer Sicht Kienast 1968. De l’esprit des lois 28,1. Zur Diskussion vgl. auch Stutz 1934, S. 1–3.
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und ripuarischen Gesetze nahmen sie dagegen nicht auf und bewahrten dadurch besser ihre Eigenart. Die Burgunder und die Westgoten, deren Gebiete ungeschützt waren, suchten sich die Einheimischen43 dadurch zu Freunden zu machen, daß sie ihnen die denkbar gerechtesten bürgerlichen Gesetze gaben, während die fränkischen Könige, die ihrer Macht sicher waren, solche Rücksicht nicht nahmen. […] Ich habe bereits erwähnt, daß die Gesetze der Burgunder und Westgoten gerecht waren; nicht so das salische, das zwischen Franken und Römern recht peinliche Unterschiede machte. Wer einen Franken, einen Barbaren oder einen nach salischem Recht lebenden Menschen getötet hatte, zahlte an dessen Verwandten eine Buße von zweihundert Dukaten; hatte jemand dagegen einen römischen Grundbesitzer getötet, so brauchte er nur einhundert Dukaten zu zahlen, und wenn das Opfer ein zinspflichtiger Römer war, nur fünfundvierzig Dukaten. Die Buße für die Ermordung eines fränkischen Königsvasallen betrug sechshundert Dukaten und die für die Ermordung eines römischen Gastfreundes des Königs wiederum nur dreihundert Dukaten. Das Gesetz machte demnach einen grausamen Unterschied zwischen einem fränkischen und einem römischen Edelmann, wie auch zwischen Franken und Römern mittleren Standes. […] Dies alles mußte für die Römer niederdrückend sein. Gleichwohl gibt ein berühmter Schriftsteller von der ›Niederlassung der Franken in Gallien‹44 eine Darstellung, die von der Voraussetzung ausgeht, daß sie die besten Freunde der Römer gewesen seien. Die Franken waren also die besten Freunde der Römer, sie, die ihnen schreckliche Leiden zufügten und ihrerseits durch die Römer erlitten? Die Franken waren die besten Freunde der Römer, sie, die sie nach ihrer Unterwerfung durch Waffengewalt kaltblütig durch ihre Gesetze unterdrückten? Ja, sie waren die Freunde der Römer, so wie die Tataren, nach ihrer Eroberung Chinas, Freunde der Chinesen waren.45
Montesquieu lag weniger daran, den alles durchdringenden Einfluss des germanischen Rechts nachzuweisen als zu betonen, wie verschieden die leges letztlich waren.46 Das hier erstmals eingehender thematisierte und bis in die jüngste Forschung unserer Tage umstrittene »Römerwergeld« der fränkischen leges war für ihn entscheidend.47 Die einschlägigen Listen, in denen die verschiedenen Gruppen der Römer im Fall ihrer Tötung viel niedriger tarifiert wurden als diejenigen der Franken und auch anderer germanischer Völkerschaften, entnahm er der Lex Salica aus dem frühen 6. und der Lex Ribuaria aus dem 7. Jahrhundert.48 Man hat zwar später, weil man nicht glauben konnte, dass die Franken die Römer derart schlecht behandelt hätten, diese Regelungen an43 Forsthoffs Übersetzung »Stammesbewohner« ist an dieser Stelle sachlich unpräzise; gemeint sind hier die Römer. 44 Gemeint ist hier der Abb¦ Du Bos. 45 De l’esprit des lois 28,1 u. 3 (Übersetzung Montesquieu 1992, 2, S. 255–257 u. 259–261). 46 In diesem Sinne zuletzt auch Wormald 2003. 47 Mit der Heraufstufung der Klerikerwergelder im fränkischen Recht erklärte Montesquieu zudem, dass das römische Recht, wenngleich für die Kirche wichtig, für den Klerus nicht unverzichtbar war. Zum Klerikerwergeld vgl. van Hartingsveldt 1989. 48 Lex Salica 41–42 (hg. Eckhardt 1962, S. 154–165); Lex Ribuaria 7 u. 40 (36) (Lex Ribuaria, hg. Beyerle/Buchner 1954, S. 77 u. 92–95).
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ders zu interpretieren versucht,49 indem man beispielsweise unterschiedliche Verwandtschaftsstrukturen annahm oder die Unvollständigkeit der Bestimmungen geltend machte,50 aber der jüngst von Karl Ubl gemachte Quellenfund einer Handschrift des 9. Jahrhunderts, in der man die Römerwergelder der fränkischen leges am Rand eines römischen Rechtskompendiums nachgetragen hat, dürfte dieser Möglichkeit jegliche Berechtigung entzogen haben: Noch in karolingischer Zeit sind die rechtlichen Unterschiede zwischen Römern und Franken demnach in höchster Differenzierung aufrechterhalten worden, um die Römer als minderberechtigten Ethnos zu kategorisieren.51 Montesquieus Frage, warum die Franken im Norden Galliens die Römer so niedrig einstuften und sie als Bürger zweiter Klasse behandelten, behält daher ihre Berechtigung. Nicht weniger bemerkenswert für seine Zeit ist sein Fingerzeig, dass die Rechtsaufzeichnungen der Burgunder und Westgoten stärker vom römischen Recht geprägt waren und die Römer der »barbarischen« Bevölkerungsgruppe mehr oder weniger gleichstellten, während die fränkischen Rechtsaufzeichnungen dies nicht taten. Es gibt einen recht einfachen Grund für diesen Unterschied, den Montesquieu zwar nicht erwähnt, der sich aber umso deutlicher aus der aktuellen Forschungsdiskussion ergibt: Die Burgunder und Westgoten waren im 5. Jahrhundert in Gallien mit Genehmigung der Reichsregierung angesiedelt worden, weil beide Völkerschaften eine zentrale Rolle in der militärischen Reorganisation Galliens spielten.52 Ihre Rechtsaufzeichnungen müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden.53 Bei den Franken ist dies weniger klar erkennbar,54 zudem treten sie nach ersten Zeugnissen des 4. Jahrhunderts erst seit den 460er Jahren wieder stärker in das Licht der Überlieferung.55 Zwar gibt es auch in den fränkischen Leges Bestimmungen, die materialiter auf das römische Militärrecht zurückreichen,56 aber die Lex Salica ist augenscheinlich erst zu einem Zeitpunkt aufgezeichnet worden, als das weströmische Imperium nicht mehr bestand und die fränkischen Beziehungen zu Ostrom nicht besonders intensiv waren. Prokop berichtet zwar, wie König Chlodwig den Arborychern, unter denen wohl die Bewohner der Armorica zu verstehen sind, ihr eigenes Recht garantierte, aber aus dem Kontext der Stelle 49 Vgl. dazu Bothe (im Druck). 50 Brunner 1892, S. 614 Anm. 7; dazu insbesondere Stutz 1934, S. 15–20; weiterhin Dannenbauer 1958; Bothe (im Druck). 51 Paris, BibliothÀque nationale, lat. 4416, fol. 50v : Die von Karl Ubl entdeckten Glossen unterschieden noch in karolingischer Zeit das Wergeld des civis Romanus, des Latinus, der dediticius und des Romanus possessor voneinander. 52 Vgl. zusammenfassend Wolfram 1992, S. 211–228 u. 351–364. 53 Rüegger 1949; Frye 1990; zur westgotischen Gesetzgebung vgl. Nehlsen 1982; Harries 2001. 54 Vgl. dazu Liebs (im Druck a). 55 Vgl. etwa Nonn 2010, S. 95–113. 56 Zur Diskussion vgl. auch Esders (im Druck b).
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geht vor allem hervor, dass es hier um militärrechtliche Privilegien ging, die eine rasche Integration der gallorömischen Truppen in das fränkische Heer ermöglichen sollten; den Analogieschluss auf eine mögliche Gleichbehandlung der römischen Zivilbevölkerung erlaubt die Stelle also gerade nicht.57 Umgekehrt ist klar, dass die Gesetze der Burgunder, verfügt von ihren Königen, die zugleich magistri militum per Gallias waren, also das höchste römische Militäramt innehatten,58 und ihre Erlasse z. T. nach römischen Konsulatsjahren datierten, niemals die Anerkennung der Reichsregierung in Ravenna bzw. Konstantinopel gefunden hätten, wenn sie die breite römische Bevölkerungsmehrheit auf das Niveau von Bürgern zweiter Klasse degradiert hätten.59 Im Laufe der Zeit sollte dann, wie Montesquieu genau registrierte, das Personalitätsprinzip verschwinden60 und sollten die leges barbarorum ihre Bedeutung verlieren.61 Das entstehende Lehnrecht und die aufkommenden Sonderherrschaften zersetzten sie, Geldwertschwankungen nahmen den Geldbußen ihren Realitätsgehalt, mit dem Niedergang der missi dominici verloren schließlich auch die Kapitularien ihre Gültigkeit.62 Der Rückgang der Schriftkultur63 und die Entstehung lokalen, mündlich tradierten Gewohnheitsrechts, das sich von den leges barbarorum unterschied,64 waren für Montesquieu weitere Gründe für den Niedergang des römischen Rechts wie auch von leges barbarorum und Kapitularien in vielen Gebieten Galliens und Spaniens. Vorzugsweise südlich der Alpen blieb Schriftlichkeit bestimmend: Besser erhielt sich der Gebrauch der Schrift in Italien, wo die Päpste und die griechischen Kaiser herrschten, wo es blühende Städte und fast den einzigen Handel gab, der zu jener Zeit überhaupt betrieben wurde. Diese Nähe Italiens bewirkte, daß sich das römische Recht besser in den Gegenden Galliens erhielt, die früher den Goten und Burgundern unterworfen waren, und dies umso mehr, als dieses Recht hier Landesrecht und eine Art Sonderrecht war.65
Diese Beobachtung war ihm jedoch auch Anlass, die juristische Qualität des römischen Rechts als Territorialrecht der südlichen Gebiete Galliens zu hinterfragen. Blieb es dort auch unübersehbar ein wichtiges identitätsstiftendes Ele57 Prok. BG V, 12, 9 (Prokop 1966, S. 94–97). Vgl. dazu Esders 2014, S. 339–361. 58 Dazu demnächst Wood (im Druck). 59 Umgekehrt ist dies auch ein Argument dafür, warum die fränkischen leges nicht, wie z. T. angenommen wurde, von römischen Offizieren als Militärrecht verkündet worden sein können. Vgl. dazu Ubl 2014, S. 432. 60 De l’esprit des lois 28,5 u. 11. 61 Ebd. 28,9. 62 Ebd. 28,9. 63 Ebd. 28,11. 64 Ebd. 28,11–12. 65 Ebd. 28,11 (Übersetzung Montesquieu 21992, 2, S. 273).
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ment, so schien ihm die Praxis des römischen Rechts mit dem Wandel der Gesellschaft auch einer beständigen Veränderung unterworfen: Wieso nun ließ die Unwissenheit überall die persönlichen Gesetze der Barbarenvölker zugrunde gehen, während das römische Recht sich als Landesrecht in den westgotischen und burgundischen Provinzen erhielt? Die Antwort lautet, daß auch das römische Recht fast das gleiche Schicksal wie die anderen persönlichen Rechte hatte, sonst hätten wir in den Provinzen, wo das römische Recht als Landesrecht galt, noch den Codex Theodosianus statt der Gesetze Justinians. Diesen Provinzen blieb beinahe nichts als der Name von Ländern mit römischem oder geschriebenem Recht, als die Liebe, die Völker für ihr Recht hegen, besonders wenn sie es als ein Vorrecht betrachten, und als einige Bestimmungen des römischen Rechts, welche die Leute im Gedächtnis behielten. Aber das genügte, um zu bewirken, daß die Gesetzessammlungen Justinians bei ihrem Erscheinen in den Provinzen des gotischen und burgundischen Gebietes als geschriebenes Recht angenommen wurden, während sie in dem alten Gebiet der Franken nur als geschriebenes Vernunftrecht galten.66
Die Unterscheidung zwischen dem Codex Theodosianus und dessen Derivaten auf der einen und der justinianischen Kodifikation und Gesetzgebung auf der anderen Seite ermöglichte Montesquieu also, deutlich zwischen dem Fortleben des römischen Rechts und seiner neuerlichen Rezeption zu differenzieren, was auch seine Sicht auf die spätere Entwicklung grundlegend bestimmen sollte. Die weitere Rechtsentwicklung Frankreichs sah Montesquieu nämlich vor allem durch den Triumph bestimmter Eigenheiten bestimmt, die er zuerst in den fränkischen leges fand: vor allem ein neues Beweisrecht, das den klägerischen Beweis nicht oder kaum kannte,67 in seinem negativen Beweis durch Reinigungseid eher dem »Geist der Barbarengesetze« entsprach68 und mit gerichtlichem Zweikampf sowie Ordal »irrationale« Beweismittel bevorzugte.69 Diese Beweispraktiken seien zunehmend vom Gesichtspunkt der zu behauptenden oder wiederherzustellenden Ehre70 bestimmt gewesen und hätten das Recht daher letztlich ungerecht werden lassen: Ich behaupte also, daß unter den Zeitverhältnissen, unter denen der Beweis durch Zweikampf, durch heißes Eisen oder siedendes Wasser in Übung war, eine solche Übereinstimmung zwischen diesen Gesetzen und den Sitten bestand, daß diese Gesetze weniger zu Ungerechtigkeiten führen konnten, als sie ungerecht waren; daß ihre Wirkungen unschuldiger waren als die Ursachen, daß sie mehr gegen die Billigkeit verstießen, als daß sie Rechte verletzten, und daß sie eher unvernünftig als tyrannisch waren.71 66 67 68 69 70 71
Ebd. 28,12 (Übersetzung Montesquieu 21992, 2, S. 276f.). Ebd. 28,13. Ebd. 28,18. Ebd. 28,18–19. Ebd. 28,19–20. Ebd. 28,17 (Übersetzung Montesquieu 21992, 2, S. 283f.).
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Die Dominanz des Ehrbegriffes veranlasste ihn, diese Erscheinungsformen des Rechts über Rittertum und Kriegerideal vor allem sozial definiert und letztlich in germanischen Vorstellungen verwurzelt zu sehen.72 Seinen sinnfälligsten Ausdruck erblickte Montesquieu im gerichtlichen Zweikampf, dessen Geschichte er von den Anfängen ausführlich über sein Eindringen in das Lehnrecht und zu seiner Beschränkung durch die Gerichtsreformen Ludwigs des Heiligen verfolgte.73 Das 28. Buch von De l’esprit des lois beschloss er mit Überlegungen zur nachlassenden Wirkung dieser Reformen, dem Aufstieg des kanonischen Rechts, der Wiedergeburt des römischen Rechts und der Verschriftlichung des »droit coutumier«.74 Resumierend mag man darüber streiten, ob im fränkischen Gallien die Rechtszugehörigkeit wirklich so frei gewählt werden konnte, wie Montesquieu dies anzunehmen schien.75 Heute wird die Rechtspersonalität im Frankenreich vor allem als migrationssteuernde Maßnahme erklärt, durch welche die fränkischen Könige militärische Eliten unterschiedlicher ethnischer Herkunft zur Mobilität innerhalb ihres Großreiches anhalten wollten, indem man ihnen auch am fremden Ort ihr herkömmliches Recht garantierte.76 Gleichwohl hat Montesquieu mit der sich im Gefolge der Eroberungen des 5. Jahrhunderts vollziehenden Auflösung eines einheitliches Rechts und der Entstehung einer Rechtsvielfalt, die stärker mit den Interessen exponierter, sozial, ethnisch und ständisch definierter Gruppen korrespondierte, klar den zentralen Gesichtspunkt erkannt, dem für das regional verschiedene Fortleben und Absterben des römischen Rechts entscheidende Bedeutung zukam. In dieser Sicht lieferte ihm das Römerwergeld der fränkischen leges den wichtigsten Grund, die burgundischen und westgotischen (bzw. langobardischen) auf der einen von den fränkischen Rechtsaufzeichnungen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Diese Erkenntnis hatte Montesquieu sich aus einem Vergleich erarbeitet, der noch immer als weitgehend zutreffend erscheint, selbst wenn man heute stärker betonen würde, dass die Föderatverhältnisse des 5. Jahrhunderts, in deren Folge es zu den königlich veranlassten Rechtsaufzeichnungen der Burgunder und Westgoten kam, eine Schlechterstellung der Römer nicht in Frage kommen ließen, während genau dies in den vom fränkischen Recht geprägten Gebieten offenbar der Fall gewesen ist. Aber dies sind letztlich Aspekte, die am Ende nur unterstreichen, wie anregend es nach wie vor sein kann, mit Montesquieus
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Ebd. 28,18–21. Ebd. 28,23–34. Ebd. 28,37–45. Vgl. zu dieser Frage etwa Geary 1983. Vgl. hierzu Hoppenbrouwers 2013.
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historischen Überlegungen in Dialog zu treten: »Man muss die Geschichte durch die Gesetze erklären und die Gesetze durch die Geschichte«.77
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Volker Fadinger
Peisistratos von Athen als Aisymnet und Tyrann: Die zwei Stufen einer diktatorischen Machtergreifung in der griechischen Antike
Einleitung: Eine neue Hypothese In Kapitel 22 seiner Verfassung der Athener schiebt Aristoteles in seinen Bericht über die Entstehung und Entwicklung der attischen Demokratie einen historischen Rückblick über die Tyrannis des Peisistratos ein. Er beschränkt ihn auf einzigen Satz, der es in sich hat: Er entfaltet geradezu universalhistorische Relevanz nicht nur, was die Ambivalenz der griechischen Diktaturgewalt anbelangt, sondern auch darüber hinaus für ein vertieftes Verständnis der modernen Diktaturgewalt und ihrer zwiespältigen Funktions- und Entwicklungsmöglichkeiten. Nur muss man den Satz richtig übersetzen. Erst dann offenbart er seine ganze Tragweite, die bisher von der Forschung nicht erkannt worden ist und daher Thema dieser Studie sein soll. Der fragliche Satz lautet: Peis_stqator dglacyc¹r ja· stqatgc¹r £m t}qammor jat]stg.1
Achtet man streng auf die unterschiedliche Aktionsarten – einmal die durative des Partizip Präsens ¥m, zum anderen die punktuelle des Aorist jat]stg – so lautet der Satz im Deutschen: Peisistratos war (über eine längere Zeitspanne) Demagoge und Stratege, bevor er (zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt) Tyrann wurde.
Das war der Grund, weshalb Kleisthenes nach dem Sturz der Tyrannis der Peisistratiden das Gesetz über den Ostrakismos beschließen ließ. Er wollte die neu begründete und durch seine Phylen-und Demenreform 508/507 v. Chr. verbesserte »demokratische« Verfassung Solons wirksamer als bisher vor eventuellen Staatsstreichgelüsten von »Möchtegern-Tyrannen« schützen. Die »schleichende« Machtergreifung des Peisistratos lieferte ihm in der Volksver1 Arist. AP 22,3–4 im Anschluss an Androtion FGrHist 324 F 6 apud Harpokration s.v. ^ppaqwor. Zum Kontext des Ostrakismos-Gesetzes: Arist. AP 22,1–2; dazu Rhodes 1981, S. 261.
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sammlung das warnende Beispiel, wie notwendig seine Gesetzesinitiative war, um ein für allemal die Hauptgefahr für den demokratischen Rechtsstaat zu bannen. Es sollte sich nicht mehr wiederholen, dass ein Tyrann vom Schlage des Peisistratos und seiner Söhne eine Verfassungsordnung wie die des Solon von 594/93 v. Chr. außer Kraft setzte, indem deren Gesetze einfach nicht angewendet wurden.2 Der eingangs zitierte Satz skizziert den Aufstieg des Peisistratos zum Tyrannen in zwei Stufen: Der Schwerpunkt meines erkenntnisleitenden Interesse liegt auf der ersten Stufe der politischen Wirksamkeit des Peisistratos. Aristoteles umschreibt mit »Demagoge« und »Stratege« die amtliche Stellung des Peisistratos als die eines »gewählten Tyrannen«, d. h. Aisymneten. Er zählt ihn zu jenem Typus von ehrgeizigen Machthabern aus dem Adel, die sich zunächst vom ganzen Volk zur wirksamen Bekämpfung eines akuten Staatsnotstandes mit außerordentlichen Vollmachten betrauen ließen, um dann in einer zweiten Stufe zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Staatsstreich diese legale, befristete Diktaturgewalt in eine illegale unbefristete Diktatur oder echte Tyrannis zu überführen. Aus dieser zunächst hypothetischen Perspektive müsste der oben zitierte Satz des Androtion-Aristoteles so gedeutet werden: Peisistratos war in seiner ersten, legalen Stufe seiner Machtergreifung wie sein Vorgänger Solon der vom ganzen Volk gewählte höchste zivile (= Demagoge) und militärische (= Stratege) Beamte. Nur mit einer Kompetenz, die der Solons entsprach, kann Peisistratos etwa eine tiefgreifende und umfassende Reorganisation der Panathenäen durchgeführt haben. Trifft das zu, liefert das Archontat des Hippokleides 566/65 v. Chr. den terminus post quem für die Wahl des Peisistratos zum Aisymneten.3 Der Übergang zur verfassungswidrigen Tyrannis wäre dann der terminus
2 Arist. AP 22,1–2, dazu Rhodes 1981, S. 261 und Fadinger 1993, S. 275 A. 58 und 282 und A. 99 mit weit. Lit. Zu Kleisthenes als Neugründer der bereits von Solon eingerichteten, aber unter der Tyrannis verkümmerten (gemäßigten) »Demokratie«: Arist. AP 22,1; 41,2; Isokr. VII 16; Arist. Pol. IV p. 1319 b Z. 20–21; vgl. auch Hdt. 6,131,1. Dass in manchem Adligen der Polis Athen ein »Möchtegern-Tyrann« steckte, beklagt bereits Solon in einem Gedicht (F 33,1ff. West2); dazu u. a. Raaflaub 1985, S. 115 A. 209. 3 Zur Begründung der Großen Panathenäen durch Peisistratos Arist. frg. 637, p. 395 Z. 5f. und bes. 18–21 (Rose) aus Schol. zu Aelius Aristides, Panathenaicus 189.4 (Dindorf III 3.323): »Peisistratos schuf die großen (sc. Panathenäen).« Zur Datierung: ins Jahr 566/65 Pherekydes nach Didymos bei Markell. Vit. Thuk. 2,4 und Hellanikos (FGrH 3 F 2,4 F 22); Euseb. Chron. Ad Ol. 53,3; Hieron. chron. p. 102b 4f. Zum bisherigen Forschungsstand u. a. Kolb 1977, S. 113 u. 133, der das Dilemma der Datierung so aufzulösen versucht: 566/65 v. Chr. Begründung der Großen Panathenäen durch Hippokleides, die weitere Ausgestaltung unter der Tyrannis des P. seit 561/60 v. Chr. Dass Peisistratos als Aisymnet der Urheber dieser wichtigen Neuorganisation war, soll demnächst in einem weiteren Beitrag über den Kontext der Großen Panathenäen nachgewiesen werden.
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ante quem. Er ist gut dokumentiert und mit Aristoteles in das Archontat des Komeas 561/60 v. Chr. zu datieren.4
Der Aisymnet Peisistratos als Stratege Mit welcher »List« sich Peisistratos den Weg von der ersten zur zweiten Stufe seiner Machtergreifung geebnet hat, beschreibt Aristoteles in Kap. 14 seiner fortlaufenden, chronologisch gegliederten Darstellung. Im Vorspann dazu zieht er knapp Bilanz über die vorausgehende 1. Stufe: Peisistratos schien besonders v o l k s f r e u n d l i c h zu sein und hatte sich großen Ruhm im Krieg gegen die Megarer erworben.5
Durch seine volksfreundliche Politik als »Demagoge« und seine militärischen Erfolge war er schon einige Zeit vor 561/60 zu hohem Ansehen in der Bürgerschaft Athens gelangt. Damals befehligte er im Krieg gegen Megara, der um den Besitz der Insel Salamis geführt wurde, das attische Hoplitenheer und eroberte die wichtige Hafenstadt Nisaia. Auf diesen ruhmreichen Kampf wies bereits Herodot hin und ebenso, in welchem Amt er damals das Heer befehligte: Er war »Stratege«.6 In diesem Punkt stimmt er mit Aristoteles überein. Was aber dieser Titel genau beinhaltete, ist bis heute noch nicht befriedigend gelöst. Ist »Strategie« im amtlichen Sinne zu verstehen oder im untechnischen Sprachgebrauch von »militärischem Oberbefehl« über ein Heer?7 Die meisten Forscher haben das Problem geschickt umschifft und Peisistratos im jährlich wechselnden Amt eines »Polemarchen« in den Krieg ziehen lassen.8 Dagegen bezieht Develin vehement Position und kritisiert, dass diese »langlebige Idee« nicht den geringsten Rückhalt in der Überlieferung habe. Diese definiere vielmehr unisono das Feldherrnamt des Peisistratos im technischen Sinne als »Strategie«.9 Doch was dieses erst aus dem 5. Jh. bekannte reguläre Jahresamt in der archaischen Epoche 4 Arist. AP 14,1; Plut. Sol. 32,3 und Marm. Par. Ep. 40; Eusebios (Hieron.) z.J.; dazu u. a. Cadoux 1948, S. 104ff.; Develin 1989, S. 42 und zuletzt Stein-Hölkeskamp 2015, S. 240. Ohne Datierung: Hdt. 1,59,6. 5 Arist. AP 14,1; siehe auch Arist. AP 17,2: »S t r a t e g e « im Krieg gegen Megara um Salamis; Ain. Takt. 4,8. Alle Sperrungen im Text vom Verfasser. 6 Hdt. 1,59,4–5. 7 Dazu detailliert De Libero 1996, S. 53f. mit A. 59, die selbst den Begriff stqatgc_a nicht im amtlichen Sinn verstanden wissen will, sondern allgemein in der Bedeutung von »Feldherr«. So auch zuletzt Stein-Hölkeskamp 2015, S. 238. 8 So u. a. Berve 1967, Bd. 1, S. 47 und Chambers 1990, S. 199; Rhodes 1981, S. 199f. geht auf dieses Problem nicht ein. 9 Develin 1989, S. 41, s.v. Strategos zum Jahr ?562/61 (Ol. 54,3). Stahl 2003, S. 203 spricht zu Recht von der »Strategie« als Vorstufe zur echten Tyrannis von einem »höchsten Amt«, ohne aber diese Auffassung näher zu begründen.
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Griechenlands für die erste Stufe der Machtergreifung von Tyrannen bedeuten könnte, erfahren wir nicht. Die einzige überzeugende Lösung des Problems bietet die Aisymnetie. Die wichtigste Kompetenz dieses Typus von Wahlkönigtum war, die Gemeinde gegenüber den Göttern zu vertreten. Wie angedeutet wurde, nutzte sie Peisistratos, um die Großen Panathenäen zu begründen. Gleich danach kommt der mit unbeschränkter Vollmacht ausgestattete Oberbefehl über die Hoplitenarmee, die »Strategia«, die in historischer Zeit sonst nur für das spartanische Königtum bezeugt ist,10 mit dem Unterschied, dass sie in der Aisymnetie zeitlich bis zur erfolgreichen Beseitigung eines Notstandes befristet war. An diese Form der »Strategie« (quasi eine legale Tyrannis) dachte Aristoteles, sooft er in ihr die Vorstufe zu einer echten Tyrannis sah. Sie überlebte in der »sogenannten Aisymnetie, d. h. »gewählten Tyrannis« als Überrest aus der mykenischen Königszeit, in welcher der Herrscher »S t r a t e g e, Richter und Herr der Angelegenheiten gegenüber den Göttern war«.11 Und ebenso in der 4. Erscheinungsform des Königtums, dem der Lakedaimonier ; denn »dieses ist auf einen einfachen Nenner gebracht eine erbliche S t r a t e g i e auf Lebenszeit«.12 Noch präziser definiert Aristoteles dieses Königtum mit der Wendung: »Wie eine Art Strategie von Inhabern mit unbeschränkter Macht und lebenslänglich«.13 Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Die »Strategia« des Peisistratos ist ein anderer Begriff für »Aisymnetie«. Sie betont die nur einem König zustehende unbeschränkte Feldherrngewalt eines »Tyrannen«, der vom Volk bei einem akuten Notstand auf Zeit gewählt wurde, bis die Ordnung des Staats wiederhergestellt war. Auf die gleiche Weise ließ sich der adlige »Demagoge« Aristodemos von Kyme um 505 v. Chr. zum Strategûs autokrtor wählen, bis die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederhergestellt sei und sie »eine demokratische Verfassung eingerichtet hätten«,14 um dann kurz darauf diese verfassungsmäßige Notstandsdiktatur in eine »echte« Tyrannis auf Lebenszeit umzuwandeln.15 10 Hdt. 6,56–57; vgl. Clauss 1983, S. 119, der zu Recht betont, dass in historischer Zeit »der König unumschränkter Befehlshaber im Krieg war und blieb«; vgl. ferner Baltrusch 1998, S. 24f. Dazu auch pointiert Arist. Pol. III 10 1285 b Z. 26–28. 11 Arist. Pol. III 10 p. 1285 b Z. 21–24, das Zitat Z. 23f.; zur »sogenannten Aisymnetie (diese ist von der Entstehung her eine gewählte Tyrannis)« als »dritter Erscheinungsform von Königsherrschaft« ebd. Z. 25–26; s. Pol. 3,86,7 zur »Übersetzung« des legalen römischen Diktators als stqatgc¹r aqtojq\tyq. 12 Arist. Pol. III 10 p. 1285 b Z. 26–28; vgl. dazu Kiechle 1963, S. 158ff. und Link 1994, S. 56f. 13 Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 3–15, 7f. 14 Dion. Hal. ant. VII 8,1–2, der eine zeitgenössische glaubwürdige Lokalchronik von Kyme als Quelle benutzt hat; dazu im einzelnen Alföldi 1977, S. 51–71, bes. 62ff. 15 Dion. a.O. VII 3–12,1; dazu Berve 1967, Bd. 1, S. 160; zu Aristodemos als Typus eines Demagogen und Strategen, der wie Peisistratos und Dionysios I. von Syrakus schließlich die Tyrannis usurpierte: Arist. Pol. V 4 p. 1305 a Z. 23–29 und V 8 p. 1310 b Z. 15–32; dazu Busolt 1920, S. 387 A. 3.
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Der Aisymnet Peisistratos als »Demagoge« bzw. »Vorsteher des Demos« (Prostáte¯s tou de¯mou) Ein anderer s y n o n y m e r Begriff für diese »legale Tyrannis« war offensichtlich »Vorsteher des Demos (Prostte¯s tou de¯mou)«. Er konnte in gleicher Bedeutung mit dem Begriff »Demagoge« wie in der eingangs zitierten Passage Arist. AP 22,3–4 variiert werden. Aristoteles zählt nämlich Solon als »ersten«, Peisistratos als »zweiten« und Kleisthenes als weiteren »Prosttes des Demos«.16 Er will beweisen, dass »in früheren Zeiten ohne Bruch der Kontinuität immer die Adligen »D e m a g o g e n« waren«.17 Folgerichtig leitet er in der chronologisch gegliederten Verlaufsgeschichte den Bericht über die Wahl Solons gleichsam mit einer plakativen Überschrift ein: »Dieser wurde der e r s t e Prostte¯s tou de¯mou«.18 Solon war in einer schweren Staatskrise 594/93 v. Chr. »zugleich zum Archon, Versöhner und Gesetzgeber« mit diktatorischen Vollmachten gewählt worden, um den akuten Notstand und die herrschende Gesetzlosigkeit (Dysnomia) wirksam zu bekämpfen und der Polis wieder eine gute gesetzliche Ordnung (Eunomia) zu geben.19 Plutarch umschreibt am ausführlichsten, was man damals unter einem solchen Ausnahmeamt verstand: Sie ernannten Solon zum Verfassungs- und Gesetzgeber, indem sie ihm unbeschränkt geradezu alles anvertrauten: Ämter, Volksversammlungen, Gerichtshöfe und Räte. Er sollte die Höhe des Einkommens für jede dieser Institutionen festlegen, ihre Anzahl und Tagungszeiten. Er sollte bestehende Einrichtungen nach seinem Gutdünken abschaffen und bewahren.20
Solons engste Vertrauten, so der Autor weiter, ließen keinen Zweifel aufkommen, dass Solon eine Königsherrschaft zuteil geworden war von der Art, wie sie einst
16 Arist. AP 28,2; dazu. u. a. Nordin 1905, S. 399 und Rhodes 1981, S. 345ff. Zu Kleisthenes vgl. auch Arist. AP 20,4. Zur Datierung seiner Ermächtigung zum Aisymneten ins Jahr 511/10 v. Chr. (Archontat des Isagoras) ebd. AP 21,1. 17 Arist. AP 28,1–2. 18 Arist. AP 2,2–3. 19 Arist. AP 5,2–3. Dazu auch AP 6,1, wonach Solon damals »Herr über die Staatsangelegenheiten geworden war«; ferner Plut. Sol. 14,2; s. hier A. 20. Anschaulich zur Staatskrise und Gefährdung der Polis und der scheinbar notwendigen Tyrannis Plut. Sol. 13,2–3. Hier kann mit »Tyrannis« nur die Aisymnetie als verfassungsgemäße Notstandsdiktatur gemeint sein. 20 Plut. Sol. 16,3; vgl. auch 14,2: »Er wurde nach Philombrotos zum Archon und zugleich zum Versöhner und Gesetzgeber gewählt, wobei ihn die Reichen bereitwillig akzeptierten, weil er begütert war, die Armen, weil er rechtschaffen war.« Zu Solons programmatischer »Eunomia«-Elegie, die er unmittelbar vor der Wahl verfasst haben muss: Sol. frg. 24 D3 = 36 W. = 30 G.-P.; dazu und zur Wahl im einzelnen Fadinger 1996, S. 182ff. und S. 183 A. 13. Zum Zeitpunkt der Publikation vgl. auch Spahn 1977, S. 121 und Raaflaub 1985, S. 33 mit A. 29.
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bei den Euböern Tynonndas ausübte und jetzt bei den Mytilenäern Pittakos, den sie zum Tyrannen gewählt hätten.21
Wesen und Bedeutung der Aisymnetie Aristoteles will in der Politik am historischen Beispiel der Wahl des Pittakos von Mytilene das Wesen der »Aisymnetie« aufzeigen.22 Er definiert das Ausnahmeamt als eine »gewählte Tyrannis« (aRqetµ tuqamm_r) und zitiert als Quelle den Zeitzeugen und Dichter Alkaios.23 Auf dessen glaubwürdigem Zeugnis fußt letztlich auch Plutarch, wenn er von der »Wahl des Pittakos zum Tyrannen« spricht. Aristoteles folgt sein Schüler Theophrastos, nach dem »die sogenannten Aisymneten seit alter Zeit bei den Griechen eine Art gewählter Tyrannen« waren.24 Dionysios von Halikarnassos, der diesen Text überliefert, fügt hinzu, dass diese »gewählte Tyrannis« genau der römischen »Diktatur« entspreche. Die Römer, so vermutet er, hätten diese Institution wohl von den Griechen übernommen.25 Aristoteles rechnet die Aisymnetie einerseits zur Kategorie der »Tyrannis«, weil die Aisymneten »despotisch und nach ihren eigenem Gutdünken herrschen«26 und erklärt sie andererseits zur Gattung des legitimen »Königtums«, weil ihr Amt »auf gesetzlicher Grundlage und dem freien Willen der Beherrschten« beruhe.27 Das habe die Aisymnetie mit dem Königtum der Barbaren gemeinsam, doch unterscheide sie sich von ihm dadurch, dass sie nicht erblich sei.28 Ein weiterer Unterschied zum Königtum ist die zeitliche Befristung des Amtes. Die Aisymneten »pflegten bis zu bestimmten Zeitgrenzen oder der Erledigung ganz bestimmter Aufgaben zu herrschen«.29 Die »Wahlmonarchie in Gestalt der Aisymnetie«30 ist also immer zeitlich durch ein kalendarisches Datum oder eine Zweckbindung befristet, wobei die Zweckfrist den absoluten Vorrang 21 22 23 24 25 26 27 28
Plut. Sol. 14,4. Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 38–1285 b. Arist. Pol. III 9, 1285 a Z. 31–33; III 10 p. 1285 b Z. 25f. Theophrast frg. 127 Wimmer nach Dion. Hal. ant. 5,73,3. Dion. Hal. ant. 5,73,3: 5sti c±q aRqetµ tuqamm·r B dijtatoq_a. Arist. Pol. III 9 p. 1285 b Z. 1–3 und besonders IV 8, p. 1295 a Z. 16f. Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 7f.; 1285 b Z. 2f.; IV 8, p. 1295 a Z. 16f. Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 33–35. Unter dem Königtum der »Barbaren« von Asien versteht Aristoteles vor allem die Monarchien der Babylonier, Assyrer, Meder und besonders der Perser : Pol. III 8 p. 1284 b Z. 1ff. und III 9 p. 1285 a Z. 18ff.; V 9 p. 1313 a Z. 34- p. 1314 b Z. 29; dazu im einzelnen Fadinger 1993, S. 263ff. 29 Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 35f. 30 So übersetzt W. Pape, Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Nachdruck der 3. Auflage, bearb. v. M. Sengebusch, Bd. 1, Graz 1954, S. 62 aQsulmgte_a.
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vor einer Zeitfrist hat. Immer liegt ein akuter Notstand vor, der nur dadurch behoben werden kann, dass die gestörte Verfassungsordnung aufgehoben ist und die stimmberechtigten Bürger in der Volksversammlung einem einzigen Politen eine unbeschränkte, keiner Kontrolle unterworfenen monarchische Gewalt übertragen.31 Beide Autoren stimmen mit Plutarch überein und zählen die Tyrannis in Gestalt der Aisymnetie zum Königtum, weil sie auf gesetzlicher Grundlage zustandekommt und durch ihre Verfassungsintention strikt am Gemeininteresse orientiert ist. Daher leisten ihr die Bürger freiwillig Gehorsam. Der Aisymnet soll wie der König »Wächter« sein, damit einerseits diejenigen, welche über Hab und Gut verfügen, keinerlei Unrecht erleiden, andererseits das nichtadlige Volk in keiner Weise unter einer Zügellosigkeit von Lüsten und Begierden der Reichen und Mächtigen zu leiden hat, die in Worten und Taten über das rechte Maß hinausgehen und aus Überfluss und Übermacht einen Übermut entstehen lassen, der göttliche und menschliche Rechte verachtet (lµ rbq_fgtai lgh]m).32 Solons Ethos entsprach es, die Reformen als Aisymnet streng auf diese Wächterfunktion eines Königs zu beschränken. Daher lehnte er die Tyrannis im eigentlichen Sinn des Wortes entschieden ab, weil sie nicht auf das Gemeinwohl schaut, sondern nur den eigenen Vorteil im Blick hat.33 Die Aisymnetie unterscheidet sich vom Königtum dadurch, dass ihre Repräsentanten »despotisch nach eigener Willkür herrschen«. Sie sind also an keine bestehenden Gesetze gebunden, unterliegen keinerlei Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Sie stehen gewissermaßen außerhalb und über der Verfassung, bis sie ihren Auftrag, die akute Staatskrise zu beenden und die gestörte Verfassungsordnung zu erneuern, durch ihre Gesetzgebung erfüllt haben.34 31 Dazu etwa Theophrast frg. 127 Wimmer nach Dion. Hal. ant. 5,73,3 (unmittelbar im Anschluss an S. 52 A. 24, S. 10 Anm. 43). Zu Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 35ff. (= hier A. 42, A. 36) als Quelle des Theophrast: Mason 1970, S. 154; vgl. auch den RE-Artikel von Regenbogen 1940; und Romer 1982, S. 33f. mit A. 31. Zum Widerspruch zu Aristoteles in der Befristung auch Schütrumpf 1991, S. 543. Er ergibt sich daraus, dass Theophrast dem Moment des jaiq|r eine grundsätzliche Bedeutung beimisst: Stob. II 142,4 a. Seine wichtigste Schrift sind die pokitij± pq¹r to»r jaiqo}r. Eine knappe Inhaltsangabe bei Cic. fin. V 11: quae essent in re publica inclinationes rerum et momenta temporum, quibus esset moderandum utcumque res postularet; vgl. auch Cic. rep. 1,29,45; Att. 2,9,2. Daraus folgt, dass das staatsrechtliche Interesse des Autors besonders der Frage des Staatsschutzes in revolutionären Krisen und den legalen Mitteln einer wirksamen und raschen Beseitigung des Notstandes galt; vgl. Regenbogen 1940, Sp. 1517. 32 Arist. Pol. V 8 p. 1310 b – p. 1311 a Z. 40–42; s. im gleichen Sinn Sol. frg. 5 W. = 7 G.-P., 1–6 aus Arist. AP 12,1 und Plut. Sol. 18,4–5, der in Z. 1 statt c]qar jq\tor (»Gewalt, Herrschaft«) überliefert hat. 33 Zu diesem Unterscheidungsmerkmal Arist. Pol. V 8 1311 a Z. 42–44. 34 Arist. Pol. IV 8 p. 1295 a Z. 8–22 (zusammenfassend): Zur Aisymnetie als Form der Monarchie 1) »wegen ihrer Machtfülle, die in gewisser Weise auch zum Königtum hinüberspielt.« 2) »Weil diese beiden Herrschaftsformen im Einklang mit dem Recht und Gesetz sind.«
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Von dieser »gewählten Tyrannis«, welche »in alter Zeit bei den alten Griechen« Aisymnetie genannt wurde, unterscheidet Aristoteles grundlegend eine »dritte Art von Tyrannis, welche im eigentlichen Sinn des Wortes als solche zu gelten hat«.35 Aristoteles geißelt sie als »Entartung des Königtums«, weil sie eine »Monarchie zum Nutzen des Alleinherrschers ist«.36 Daraus folgt: »Vorsteher des Demos« bzw. »Demagoge« ist identisch mit einem »Aisymneten« oder »gewählten Tyrannen« und steht synonym für »Stratege und Demagoge«. Der beste nur denkbare Zeuge für diesen Sprachgebrauch ist wiederum Solon: Er wurde vom ganzen Demos zum Aisymneten gewählt, was ihn voller Stolz gleich zu Beginn seiner Rechenschaftselegie hervorheben lässt, er habe »den Demos zusammengeführt«.37 Aristoteles greift auf dieses Selbstzeugnis Solons zurück und betont (AP 2,2): »Solon wurde der erste Prostte¯s tou de¯mou«.38 Am Ende der Rechenschaftselegie rühmt sich Solon außerdem, dass er nur die mit der Wahl freiwillig vom Volk übertragene schrankenlose »tyrannische Gewalt (b_a)« akzeptierte, weil sie »mit Recht gepaart« war. Er hat sie »mit der harten Macht des Gesetzes« ausgeübt, aber nicht zum eigenen Vorteil, sondern um das, was er dem Demos bei der Wahl zum Aisymneten versprochen hatte, zu erfüllen.39 Solon wollte und sollte als Aisymnet wirken, auch wenn er diesen Titel hinter dem eines »Archonten« geschickt verbarg. Im Schlussteil der Elegie macht er darauf aufmerksam, dass es für ihn zu seiner Aisymnetie alias »Prostasa tou de¯mou« keine Alternative gab: (20) hätt’ die Stachelknute (j]mtqom) ein anderer so wie ich erhalten Ein schlimmsinnender und besitzliebender Mann, er hätte den Demos nicht gebändigt: Denn wenn ich gewillt gewesen wäre zu dem, was den Gegnern damals gefiel, andererseits zu dem, was immer diesen die anderen zugedacht, (25) dann wäre vieler Männer beraubt worden unsere Stadt. Zu diesen Zwecken schuf ich Wehr mir auf allen Seiten und wie unter vielen Hunden dreht’ ich mich: Ein Wolf.40
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Aristoteles belegt das empirisch mit zwei historischen Beispielen (Z. 12–14): 1) »denn unter einigen der Barbaren wählen sie souveräne Monarchen« und 2) »auch in alter Zeit unter den alten Griechen wurden auf diese Weise einige Monarchen, die sie Aisymneten zu nennen pflegten«. Als Beispiel Nr. 1 hat Aristoteles wohl an Hdt. 1,98 über die Wahl des Deiokes zum König der Meder gedacht. Arist. Pol. III 8 p. 1295 a Z. 19. Arist. Pol. III 5 p. 1279 b Z. 5–7. Sol. frg. 30 G.-P. = 24 D3 =36 W. aus Arist. AP. 12,4 und Plut. Sol.15,2, Z. 1; dazu Mülke 2002, S. 370. Vgl. dazu Busolt-Swoboda 1926/72, S. 828. Sol. a.O. Z.16 Sol. a.O. Z. 20–27 in der Übersetzung von Mülke 2002, S. 69 mit Ausnahme von j]mtqom, dort mit »Gerte« übersetzt.
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So grenzt Solon seine Aisymnetie von der echten Tyrannis ab. Er beschwört die Gefahr des Missbrauchs durch machtgierige Adlige, die sie als Sprungbrett benutzen, um sich in einem Staatsstreich zur entarteten Form der Tyrannis zu putschen. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat Solon damit die zwei Arten der griechischen Tyrannis klar unterschieden41 und vom Standpunkt des Rechtsstaates aus als gegensätzlich und miteinander unvereinbar erklärt. Auch das Zweistufenmodell des Ü b e r g a n g s von der einen in die andere Form als geschichtlich bedeutsamen und bis in die Moderne nachwirkenden Regelmechanismus hat er erstmals präzise beschrieben. Auf Solons Reflexionen fußt im wesentlichen die Typologie der Tyrannis, die Aristoteles in seiner »Politik« aus dem empirischen Beobachtungen des attischen Dichters und Gesetzgebers in einer Synthese zusammengeführt hat, ohne aber neues Gedankengut hinzuzufügen. Für Solon beruhte seine »Volksführerschaft« und »Strategie« ohne Wenn und Aber einzig und allein auf der verfassungsmäßigen Form der Tyrannis, der Aisymnetie oder »Wahltyrannis«. Daher irrt sich die neueste Forschung, wenn sie Aristoteles zwar zustimmt, dass es in der archaischen Epoche Griechenlands die Aisymnetie mit nahezu unbeschränkten Befugnissen und zeitlichen wie sachlichen Auflagen gegeben habe.42 Wenn er aber dieses Amt als »Wahltyrannis« definiere, sei das ein rein gedankliches »Konstrukt« des Autors, um der negativen »Tyrannis« in der Theorie ein positives Äquivalent entgegen zu setzen. Daher beruhe die »Aisymnetie« des Pittakos von Mytilene und damit auch die seines Zeitgenossen Solon nicht auf dem Zeugnis wirklich authentischer »historischer« Quellen.43 Diese Kritik blendet völlig aus, dass Aristoteles die Unterscheidung der beiden Tyrannisarten der zuverlässigsten aller nur möglichen Quellen verdankt: Der historisch exakten Auswertung der Gedichte des Aisymneten Solon und im Falle des Pittakos der Kampflieder von dessen Todfeind Alkaios. Der Vorwurf 41 Dazu auch Sol. frg. 23 D3 = 34 West, 1–10 = 31 G.-P. aus Arist. AP 12 und teilweise Plut. Sol, 16,2 (Verse 6–8), mit der ausdrücklichen Zurückweisung des Tyrannen-Mottos aus Theogn. 363f. (»Kirre den Feind gehörig; doch kommt er dir unter die Hände, wirf das verhüllende Wort von dir und züchtige ihn!«); Sol. frg. 25 D3 = 37 W, 4–10 aus Arist. AP 12,5 zu der Schonung des Gemeinwesens und der Reichen; vgl. auch Plut. Sol. 16,2. 42 Arist. Pol. III 9 p. 1285 a Z. 30f.; III 10, p. 1286 b 38–41: Zahlenmäßig begrenzte Leibgarde wie in alter Zeit, »sooft sie einen aus der Polis einsetzten, den sie Aisymnet oder Tyrann nannten« und Ders., a.O. IV 10 p. 1295 a Z. 12–14. 43 Vgl. zusammenfassend De Libero 1996, S. 326; zustimmend Hölkeskamp 1999, S. 220f. und Cobet 2000, Sp. 1055, wonach »Aristoteles’ Verfassungstypologie das Zitat des Alkaios (frg. 348) und P. als Prototyp für sein Konstrukt der »gewählten Tyrannis« benutzt, wofür er den Begriff aisymne¯te¯s okkupiert.« Romer 1982, S. 35–46 stellt zwar die Aisymnetie als »Wahltyrannis« nicht in Frage, kritisiert aber die aristotelische Definition, welche diese als rechtmäßige Tyrannis der usurpierten verfassungswidrigen Tyrannis gegenüber stelle. Auch Andrewes 1956/1974, S. 97 sieht Aristoteles in einem Dilemma: »An elective tyrant is still a tyrant.« Vgl. ferner Rösler 1980, S. 26f. Anm. 3.
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einer unhistorischen Arbeitsweise von Seiten seiner modernen Interpreten trifft daher einen der bedeutendsten Staatstheoretiker der Weltgeschichte völlig zu Unrecht. Er verstellt zudem den Blick auf jenen historischen Prozess des Übergangs von der einen Form der Tyrannis in die entgegengesetzte, der sich nicht nur in der Antike, sondern bis in die Moderne so oft vollzogen hat, mit schrecklichsten Folgen für die Menschheitsgeschichte in den zwei Stufen der Machtergreifung des Diktators Adolf Hitler.44 Daraus folgt: Peisistratos als zweiter und auch Kleisthenes, Archon von 508/ 507 v. Chr. und Reformer, als dritter »Prostte¯s tou de¯mou« müssen die gleiche amtliche Stellung eines Aisymneten bzw. »gewählten Tyrannen« bekleidet haben wie Solon. Ihn zählt Aristoteles seit seiner Wahl von 594/93 v. Chr. als ersten »Vorsteher des Volkes«. »Stratege« wie »Demagoge« sind zwei verschiedene Bezeichnungen für das Amt des »Aisymneten«. Für »Demagoge« verwendet Platon im gleichen gedanklichen Kontext wie Aristoteles das Synonym »Prostte¯s tou de¯mou«. Jeder Begriff für sich, aber auch beide zusammen können für das Ganze stehen. Bei Arist. AP 22,3–4 bilden sie die 1. Stufe der Machtergreifung des Peisistratos ab. In gleicher Weise verwendet er sie in einem Fragment bei Athen. VIII, p. 348 C für das Zwei-Stufen-Modell der Machtergreifung des Tyrannen Lygdamis von Naxos (ca. 540 v. Chr.).45 Wie »Demagoge und Stratege« ist also »Prostte¯s tou de¯mou« nur ein anderer Begriff für eine Aisymnetie oder »gewählte Tyrannis«. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die drei Politiker grundsätzlich voneinander : Solon und Kleisthenes legten ebenso wie Pittakos von Mytilene nach Erfüllung ihres Reformauftrages die zeitlich befristete Notstandsdiktatur nieder und erfüllten die Intention des Amtes und das Vertrauen der Wähler. Peisistratos dagegen missbrauchte wie später Aristodemos von Kyme und Dionysios I. von Syrakus die »gewählte Tyrannis« als Sprungbrett für eine verfassungswidrige (echte) Tyrannis. Platon und Aristoteles greifen auf Solons Zwei-Stufen-Modell der Tyrannisentstehung zurück46, und von beiden Autoren wird »Demagoge« synonym mit »Tyrann« im Sinne eines gewählten Tyrannen oder Aisymneten
44 Vgl. dazu nur Bracher 1976, S. 163ff.; Bracher 1957, bes. S. 81f. Bracher sieht die Wurzeln des modernen Diktaturbegriffs, seiner Doppeldeutigkeit und Problematik des Übergangs von der konstitutionellen zur souveränen Diktatur in der römischen Antike (Prototyp: C. Iulius Caesar!). Dass die römische Diktatur mit all ihren Merkmalen ihren Vorläufer in der griechischen Aisymnetie/Tyrannis hatte, war ihm und der modernen Forschung bisher nicht bekannt. Vielleicht kann dieser Beitrag die Forschungslücke schließen. 45 Athen., Deipnosoph., a.O. = Arist., Man_ym pokite_a frg. 558 Rose; Arist. Pol. V 6 1305 a Z. 38–1305 b 1; dazu Berve 1967, Bd. 1, S. 78f.; De Libero 1996, S. 236f. und Kierdorf 1999. 46 Plat. Pol. VIII 565; vgl. auch 568 E: »Der Demos ist es, der den Tyrannen zeugt und gebiert«; Arist. Pol. V 8 p. 1310 b Z. 12–17 und 29–31 mit Peisistratos von Athen und Dionysios I. von Syrakus als Musterbeispielen.
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gebraucht. Damit schließt sich der Kreis zu dem eingangs zitierten Zeugnis aus AP 22,1–4.
Peisistratos: Vom Aisymneten zum Tyrannen In Solons Abwesenheit war der Parteienstreit erneut aufgeflammt. Herodot berichtet, dass Peisistratos die, wie er sie nennt, »Hyperakrier« erst als Reaktion auf die Auseinandersetzung zwischen Megakles und Lykurgos als 3. Parteiung um sich geschart habe. Es sei der Zeitpunkt gewesen, als er »den Entschluss gefasst hatte, Tyrann zu werden«.47 Die Parteiung des Peisistratos scheint in dem Moment, wo er sich im Stillen entschlossen hatte, die Tyrannis zu usurpieren, in dreifacher Hinsicht den Rahmen der üblichen adligen Anhängerschaften gesprengt zu haben. Sie war im Gegensatz zu den anderen beiden Parteiungen überregional und schichtenübergreifend.48 Durch die Masse der Anhänger aus der Klasse der Theten erweckte Peisistratos nun »den Anschein, der größte Volksfreund zu sein«.49 Nach seiner Heimkehr soll Solon versucht haben, die rivalisierenden Parteiungen miteinander auszusöhnen. Peisistratos’ Motive habe er schnell durchschaut,50 dennoch aber immer wieder versucht, ihn zu besänftigen und aufzuklären. Häufig habe er zu ihm und anderen gesagt, dass es wenn man ihm (= Peisistratos) den Ehrgeiz, der Erste zu sein Aus der Seele nähme und seine Gier nach der T y r a n n i s heilte, keinen anderen gebe, der besser für die Tugend geeignet sei und ein besserer Bürger sei.51
Was hat Plutarch mit dem »listenreichen Anschlag« (Plut. Sol. 29,3: 1pibouk^) konkret gemeint? Es ist das gleiche spektakuläre Schauspiel, das Herodot Peisistratos inszenieren ließ; auch Aristoteles folgt dessen Darstellung. Ebenso sind sich alle Autoren darin einig, dass Peisistratos schon »vorher« (Hdt. 1,59,4: pq|teqom) als »Stratege und Demagoge« eine führende Stellung im Staate einnahm.52 So hatte er, neben »anderen großen Taten«, sich großen Ruhm und Ansehen bei den Bürgern erworben, als er in seiner Strategie Nisaia, die Ha47 48 49 50 51
Hdt. 1,59,3; hier folgt ihm Aristoteles: Pol. V 5 1305 a Z. 23–27. Stein-Hölkeskamp 2015, S. 240. Arist. AP 14,1: dglotij~tator dû eWmai doj_m b Peis_stqator. Vgl. dazu Plut. Sol. 29. Sol. frg. 35 W aus Plut. Sol. 29,3–4; dazu Mülke 2002, S. 67 mit Kommentar auf. S. 360f., dessen Zweifel, dass hier Verse Solons zugrunde liegen (S. 361), ich nicht teile. Es entspricht der Arbeitsweise Plutarchs, seine Biographie über Solon mit möglichst vielen Zitaten aus Solons Gedichten zu beglaubigen. Zur Politik des Peisistratos als Aisymnet aus der Perspektive Solons vgl. die Paraphrase bei Plut. Sol. 29,2–3. 52 Hdt. 1,59; Arist. AP 14,1–3; Plut. Sol. 30.
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fenstadt von Megara, eroberte.53 Solon macht Peisistratos gar das Kompliment, die Aisymnetie bis zu dem ominösen »Anschlag« als sein würdiger Nachfolger geführt und am Leitgedanken der Gleichheit aller vor Recht und Gesetz sowie Eunomia ausgerichtet zu haben.54 Eines Tages kam Peisistratos mit seinem Gespann auf die Agora gefahren. Er war verwundet und auch sein Maultiergespann blutete. Dem zusammenströmenden Volk erzählte er von einem Überfall, dem er knapp mit dem Leben entkommen sei. Seine innenpolitischen Gegner hätten ihn auf der Fahrt aufs Land wegen seiner politischen Einstellung umbringen wollen. Da müsste man ihm eine Schar mit Keulen bewaffneter Anhänger als Leibwache gewähren. Die Athener, mit dem Straßensystem, ihrer Stadt und der umliegenden Landgemeinden gut vertraut, ahnten sofort, welcher Parteiung die Attentäter angehörten. Als der Überfall geschah, so suggerierte er seinen Zuhörern, war er unterwegs von Athen zu seinem Landgut in Brauron – die direkte Verbindung verlief durch das Kephisostal auf der sog. Prozessionsstraße. Dort lag das attische Getreideanbaugebiet, in dem der Großgrundbesitz des Lykurg und seiner Parteiung der reichen Pedieis/Pediaker konzentriert war. Sie waren mit der Reform Solons unzufrieden und hätten das Rad der Geschichte am liebsten wieder in die Zeit der vorsolonischen Oligarchie zurückgedreht. Da sich die Auseinandersetzungen zugespitzt hatten, dürften die Vorwürfe des Peisistratos, dass die Attentäter aus der Parteiung der bei den Armen verhassten Pediaker kamen, für viele Bürger nachvollziehbar und glaubhaft gewesen sein,55 selbst wenn Solon sich nahe zu ihm hinbegab, neben ihn stellte und zu ihm sprach: O Sohn des Hippokrates, nicht gut spielst du den homerischen Odysseus; Denn du tust das, um die Bürger zu täuschen, womit jener die Feinde täuschte, als er sich selbst misshandelte.56
Doch die große Menge stellte sich auf Peisistratos’ Seite. Aristion, ein Anhänger von ihm, stellte in der Volksversammlung den Antrag, diesem eine Leibwache von 50 Keulenträgern zum Schutz seines Lebens zu bewilligen.57 Für De Libero 53 Hdt. 1,59,4–5; bei den »anderen großen Taten« ist sicher vor allem an die Neuorganisation der Großen Panathenäen zu denken. 54 Plut. Sol.29,2–3; zu Solons »Gleichheits«ideal und seiner Umsetzung im Reformwerk Plut. Sol. 14,2–3 und Sol. frg. 30 G.-P. = 24 D3 = 36 W., Z. 18–20. Zu dem entsprechenden Leitmotiv in der Reform des Aisymneten Pittakos von Mytilene Diod. 9,27,4; vgl. Diog. Laert. 1,77 und Hölkeskamp 1999, S. 220. Auf Solons Urteil basiert letztlich Aristoteles, wenn er (AP 28,2; siehe hier S. 51 A. 16, S. 5 A. 17) Peisistratos in der ersten Phase seiner legalen Tyrannis als zweiten »Prostte¯s tou de¯mou« nach Solon zählt. 55 Vgl. auch Stahl 1987, S. 65 und 93 und De Libero 1996, S. 57. 56 Sol. T 62 G.-P. aus Plut. Sol. 30,1. Zur List des Odysseus Hom. Od. 4,244–264. 57 Plut. Sol. 30,2, der die Zahl »50« und den Namen des Antragsstellers mit »Ariston« angibt;
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und die moderne Forschung insgesamt gilt der Antrag »dem vermeintlich in seinem Leben bedrohten A r i s t o k r a t e n«.58 Tatsächlich stand Peisistratos eine solche Schutztruppe in seiner Position als königgleichem A i s y m n e t e n zu. Die bisherige Forschung hat eine wichtige Passage in Aristoteles’ Politik übersehen. Danach pflegten die Griechen in alter Zeit eine Leibwache zu geben, sooft sie einen aus der Stadt einsetzten, den sie Aisymneten oder (sc. gewählten) Tyrannen nannten.59
Sie muss jedoch zahlenmäßig beschränkt sein, und zwar so, dass der Aisymnet »stärker als jedes einzelne Individuum oder sogar mehrere zusammengenommen, aber schwächer als die Masse ist«.60 Das soll verhindern, dass der Aisymnet die Leibgarde für einen Staatsstreich missbraucht. Außerdem sollte die Leibwache wie die eines Königs aus Bürgern bestehen und nicht wie bei den Tyrannen aus ausländischen Söldnern.61 Der Antrag des Arist(i)on entsprach also den Bestimmungen und auch dem Verfassungsvorbehalt im Hinblick auf die Zahl der Leibgardisten, die auf 50 beschränkt war. Und doch hielt Solon eine flammende Rede gegen den Antrag des Arist(i)on: Er warnte wie in seinen früheren Gedichten vor der Gefahr, die Aisymnetie durch einen Staatsstreich in eine echte Tyrannis überzuleiten und unterstellte Peisistratos diese Absicht.62 Gemäß der solonischen Verfassungsreform wurde der Antrag des Arist(i)on erst im neu geschaffenen Rat der 400 vorberaten, bevor er in der Volksversammlung endgültig auf der Basis des Vorbeschlusses des Rates verabschiedet
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Arist. AP 14,1 nennt den Antragsteller »Aristion«, gibt aber keine Anzahl der »Keulenträger« an. Hdt. 1,59,4–5 erwähnt weder den Namen des Antragstellers noch die im Antrag geforderte Zahl. So auch Diod. 13,95,6, dessen Vergleich mit Dionysios I. von Syrakus aber impliziert, dass es eine Anzahl war, die sich im Rahmen der Verfassung bewegte. Vgl. dazu Berve 1967, Bd. 1, S. 48 und Bd. 2, S. 543; Welwei 1992, S. 227; De Libero 1996, S. 57 mit A. 78 und Stein-Hölkeskamp 2015, S. 240. De Libero 1996, S. 57. Arist. Pol. III 10 p. 1286 b Z. 38–40. Arist a.O. Z. 35–38. Arist., a.O. V 8 p. 1311 b Z. 8; als Beispiel nennt Aristoteles Dionysios I. von Syrakus; siehe auch die Leibwache des Pittakos: Alk. frg. 5,12 Voigt = 118 D.: nustovoq¶lemor; dazu De Libero 1996, S. 321; die Leibwache der spartanischen Könige: Hdt. 6,56–57. Zu den »300«: Clauss 1983, S. 69, 154, 156f. und 202 mit weit. Lit. Sol. frg. 10 D.3 = 9 W. = 12 G.-P., Z. 1–6 aus Diod. 9,20,2, der die Verse als Beleg zitiert, dass Solon den Athenern die werdende Tyrannis des Peisistratos vorausgesagt habe, und Diod. 19,1,4 mit den Versen 3–4; zustimmend Diog. Laert. 1,50 mit den Versen 1–4 und Plut. Sol. 30,2 (allgemein) und ebd. 3,6 mit Zitat der Verse 1–2; dazu Mülke 2002, S. 50f. mit Text und Übersetzung von 9 W. und ausführlichem Kommentar S. 202–213, wobei das Gedicht völlig aus dem historischen Kontext der werdenden Tyrannis des Peisistratos gerissen wird; vgl. jedoch Fränkel 1962, S. 262. In keiner Sammlung der solonischen Fragmente wird bei der Zählung berücksichtigt, dass es sich um ein Altersgedicht Solons aus der Zeit kurz vor 561/60 v. Chr. handelt.
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werden konnte. Bei der Abstimmung im Rat zahlte sich aus, dass Peisistratos beim wehrfähigen Demos großes Ansehen und Vertrauen wegen seiner militärischen Erfolge im Krieg gegen Megara genoss, trotz der Warnungen, die Solon in den Vorberatungen geäußert hatte.63 Der Demos stimmte dem Antrag des Arist(i)on zu und genehmigte Peisistratos die Leibgarde von 50 Keulenträgern, »die er aus den Bürgern (!st_m) auswählte«.64 Bis hierhin handelte Peisistratos noch im Rahmen seiner legalen Tyrannis. Was dann 561/60 v. Chr. folgte, war der von Solon vorausgesagte Staatsstreich, mit dem Peisistratos seine Aisymnetie in eine verfassungswidrige Tyrannis überleitete. Der Demos war nämlich gegenüber Peisistratos hinsichtlich der Zahl der Knüppelträger nicht mehr sehr kleinlich, sondern ließ ganz offen zu, dass er soviele er wollte hielt und versammelte, bis er die Akropolis in Besitz nahm.65
Polyainos und der Scholiast zu Platons Politeia teilen ergänzend mit, dass er die Zahl der Leibgardisten illegal um das 6-fache auf 300 aufstockte, bis er sich stark genug fühlte, mit ihrer Hilfe die Akropolis zu besetzen.66 Herodot ist in erster Linie am rechtlichen Aspekt von Peisistratos’ Vorgehen interessiert. Er habe den Demos nicht nur »getäuscht«, sondern »mit den Knüppelträgern zusammen gegen ihn einen Aufruhr angezettelt«.67 Aristoteles folgt dieser Sicht, indem er ausdrücklich betont, dass »Peisistratos mit diesen (= Knüppelträgern) gegen den Demos putschte und die Akropolis besetzte«.68 Mit der Usurpation der Tyrannis hatte Peisistratos die (gemäßigt) demokratische Verfassung Solons de facto ausgehebelt, auch wenn er sie formal bestehen ließ.69 Kein Wunder, dass es Solon jetzt, wo sein Reformwerk insgesamt in 63 Diog. Laert. 1,49. 64 Hdt. 1,59,5; der Wortgebrauch ist hier bemerkenswert, erinnert er doch daran, dass der Begriff astoi noch in der solonischen Eunomia-Elegie (Sol. frg. 9 D 3= 10 W.= 14 G.-P., Z. 1) für die Schuldigen an der akuten Staatskrise verwendet wurde, nämlich den exklusiven kleinen Kreis besonders reicher und mächtiger Adelsfamilien, die in der Parteiung der Pedieis/Pediaker organisiert waren; es scheint so, als sollte Peisistratos’ Auswahl der Leibgarde aus den »Städtern« daran gemahnen, welcher Verlust an Rechten allen Bürgern drohte, falls die Parteiung der Pediaker obsiegen würde. Seit Solons Reform bezeichnet nämlich der Begriff alle vollbürtigen, politisch berechtigten Staatsbürger : Sol. frg. 9 D 3=10 W. = 14 G.-P., 1–2 aus Diog. Laert. 1,49; dazu Busolt-Swoboda 1926/1972, S. 778 und 857. 65 Plut. Sol. 30,3 (im Anschluss an das Leibwachengesetz der Volksversammlung). 66 Polyain. Strat. 1,21; Schol. Plat. Polit. VIII 566 a. 67 Hdt. 1,59,5–6. 68 Arist. AP 14; beide Autoren verwenden mit dem Verb (sum-)epam_stgli (»sich mit gegen jem. auflehnen, aufrührerisch werden«) einen terminus technicus aus dem Staatsschutzgesetz für Straftaten des Hochverrats, das Solon kodifiziert hatte. 69 Arist. AP 22,1; Isokrates 12,148 nennt das Verbrechen des Peisistratos beim Namen, wenn er die Usurpation der Tyrannis mit »Auflösung des Demos« (t|m te d/lom jat]kuse) gleichsetzt.
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Frage gestellt war, nicht mehr im stillen Kämmerchen aushielt. Es drängte ihn in die Öffentlichkeit, um seine Mitbürger noch einmal zu belehren, dass nicht die Götter, sondern allein sie selbst an ihrem Unglück schuld seien. Sol. frg. 8 D3 = 11 W. = 15 G.-P., 1–8:70 (1) Habt ihr jetzt Trübsal zu leiden durch Schlechtigkeit eures Verhaltens, so schiebt nicht den Göttern dieser Dinge Schickung zu! Denn selbst machtet ihr diese Männer groß, indem ihr ihnen Schützer (= Anspielung auf die Leibwache der Knüppelträger) gabt. Und deshalb erhieltet ihr schlimme Knechtschaft. (5) Von euch schreitet zwar ein jeder für sich in des Fuchses Spuren Doch euch allen zusammen wohnt inne hohler Verstand; denn ihr blickt auf die Zung’ und das Wort eines schmeichelnden Mannes, und ihr blickt nicht darauf, was denn an Taten geschieht.
In den vier letzten Versen beschreibt Solon, wie Fränkel zu Recht hervorhebt, ein Grundphänomen dessen, was heute »Massenpsychologie« genannt wird: den erstaunlichen Kontrast zwischen der Intelligenz jedes einzelnen und der Dummheit einer versammelten Menge, die sich von einem geschickten Redner manipulieren lässt.71 Damit ist Solon der erste, der die Gefahr, die diesem Phänomen bis heute inhärent ist, erkannt und für die Analyse gesellschaftlicher Missstände verwendet hat.72 Jedoch richtet sich seine Kritik zum mindesten ebenso gegen die meisten Aisymneten-Tyrannen, die wie Peisistratos ihre legale Notstandsdiktatur in eine verfassungswidrige Tyrannis übergeleitet haben.73
70 Aus Diod. 9,20,3, wonach Solon diese Verse 1–8 für die Athener verfasste, »als P. schon Tyrann war«. So auch Diog. Laert. 1,51; Plut. Sol. 30,6 mit Zitat der V. 1–4 und 30,3 mit Z. 5–7. Zu dieser historischen Einordnung, der ich mich anschließe, vgl. u. a. Berve 1967, Bd. 1, S. 46 und Bd. 2, S. 541; Fränkel 1962, S. 263; Raaflaub 1985, S. 34; Chambers 1990, S. 199f. und Gentili 1995, S. 259. Zweifel an dieser Einordnung bei De Libero 1996, S. 51f., Rhodes 1981, S. 202 und Mülke 2002, S. 217, die mich nicht überzeugen. 71 Fränkel 1962, S. 264. 72 Mülke 2002, S. 219. 73 Vgl. dazu die enge Parallele zu Dionysios I. von Syrakus und dessen erlisteter zweistufiger Machtergreifung: Diod. 16,5,4 und 20,78,3; dazu Frolov 1975, S. 104. Diod. 13,94–96; vgl. auch Plat. Ep. VIII p. 353 a-b; Arist. Pol. V 4 p. 1305 a Z. 27–29; Plut. Dion 3,3; Polyain. 5,7 dazu im einzelnen Stroheker 1958, S. 41f.; Berve 1967, Bd. 1, S. 223 und 236; Bd. 2, S. 644; Frolov 1975, S. 114f. und Jordovic´ 2005, S. 251f.; zu Peisistratos als bewusst gewähltem Vorbild des Dionysios Diod. 13,95,3–96 und Fadinger 1993, S. 286 A. 132.
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Der Widerstand gegen die Theorie von der Erde als Kugel: Paradigma einer Wissenschaftsfeindlichkeit in der heidnischen und christlichen Antike?1 »Es ist eine betrübliche Tatsache, daß diese zuerst heidnischen, dann christlichen Mönchsorden die Henker der wissenschaftlichen Naturerkenntnis im Altertum geworden sind.«2
Schaut man auf die Erfolge von Filmen wie Gladiator, 300 oder Troia, Comics wie Asterix oder Alix, und Ausstellungen wie Babylon oder Uruk, scheint das Altertum im kulturellen Gedächtnis der Moderne präsenter denn je zu sein. Blickt man aber näher hin, was genau da verankert ist und was das erinnert wird, stößt man als gerade als Altertumswissenschaftler oft auf Klischees und Stereotypen. Falsche und schiefe Vorstellungen über die Antike scheinen unausrottbar. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Behauptung, dass die Griechen und Römer die Erde für eine Scheibe hielten.3 Schlägt man dazu in einschlägigen Handbüchern und Lexika nach,4 liest man nämlich, dass dies keineswegs der Fall gewesen sei: vielmehr sei die Behauptung, die Menschen der Antike hätte an eine Welt »mit Rand« gedacht, ein Mythos der Neuzeit: die Griechen hätten seit etwa 500 v. Chr. gewusst, dass die Erde eine Kugel sei. Und das Kugelmodell habe das Scheibenmodell sehr rasch verdrängt. In diesem speziellen Fall ist es aber nun so, dass weder das Klischee noch das Handbuch Recht haben. Ich will dies in drei Schritten nachweisen, indem ich die folgenden Fragen diskutiere: 1. Wann und warum entstand die Erdkugeltheorie? 2. Wie akzeptiert und verbreitet war die Erdkugeltheorie?
1 Dieser Beitrag ist meinem lieben Berliner Kollegen Ernst Baltrusch gewidmet. Marco Frenschkowski (Leipzig) danke ich für zahlreiche Anregungen, Carsten Hoffmann für Korrekturhinweise, schließlich dem Exzellenzcluster TOPOI für einige »Mußestunden«, die die Fertigstellung dieses Aufsatzes ermöglichten. 2 Wellmann 1930, S. 116. 3 Eine Auswahl an Belegen in deutschen Geschichtswerken findet sich bei Bernhard 2013. 4 Vgl. z. B. Krüger 2000. Leider ist der erste Band seiner auf vier Bände konzipierten Sammlung »Eine Welt ohne Amerika« nie erschienen. Vgl. aber Krüger 2001.
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3. Welche Haltung nahmen die Christen zur Erdkugeltheorie ein und kann man diese Haltung als Wissenschaftsfeindlichkeit bezeichnen?5
1.
Wann und warum entstand die Erdkugeltheorie?
Jeder Mensch heute weiß, dass die Erde rund ist. Aber für die Menschen des Altertums war die Vorstellung, dass wir uns auf einer gewölbten Oberfläche befinden und dass auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel Menschen mit den Füßen zu uns sich befinden, nicht unmittelbar einsichtig, ja sogar kontraintuitiv. Daher stellten sich die frühen Kulturen, einschließlich des archaischen Griechenlands, die Welt als Scheibe oder zumindest als flach vor. Nach Homer ist die »grenzenlose Erde«6 eine kreisrunde (?)7 Ebene, deren äußerste Ränder der Okeanos, der »sanft fließende« und »tiefe« Weltstrom, ringsum bespült. Auf Säulen, welche im Westen der Riese Atlas stützt, ruht – einem ehernen Gewölbe gleich – der ewige Himmel und umspannt mit seiner sternenschimmernden Wölbung die Länder und Meere der Erde, während sich unterhalb davon der Tartaros wölbt. Im Zentrum der Erde ragt der gewaltige, »schluchtenreiche« Olymp empor, auf dessen höchstem Gipfel die griechischen Götter leben.8 Die geographischen Ansichten Homers – insbesondere die Erdscheibe und »die heilige Strömung des Okeanos« –, übernimmt der nächste griechische Dichter, Hesiod (um 700 v. Chr.), mit nur wenigen Veränderungen. Hesiod lässt wie Homer die Erdscheibe vom Okeanos, dem er die anschaulichen Epitheta »in sich selbst zurückfließend« und »alles umkreisend« beilegt, eingefasst sein.9 Der 5 Zu Begriff und Bedeutung zuletzt Bussmann 2014. 6 Sämtliche Übersetzungen im Folgenden stammen von mir. 7 Obwohl in der Ilias und der Odyssee nicht explizit gesagt wird, dass die Erde eine gewölbte Scheibe ist, die vom Okeanos umflossen wird, lässt sich diese Vorstellung jedoch durch sekundäre Quellen (Gemin. 16,27, p. 81 Aujac) problemlos auf diese frühe Zeit übertragen. Der Allegoriker Heraklit (Hom. probl. 48) behauptet fälschlich, dass Homer die Erde als Kugel schildert; vgl. auch Strab. 1,1,20,C 12. In der neueren Forschung herrscht die Tendenz, die Entdeckung von der Kugelgestalt der Erde in möglichst frühe Zeit heraufzurücken. Vgl. z. B. Richter 1991, der diese Kenntnis bereits dem Homer zuschreiben möchte. Ich halte das wegen des eindeutigen Wortlauts gleich mehrerer Passagen für völlig unmöglich. 8 Il. 7,446, Od. 19,107 u. ö. (grenzenlose Erde); Od. 5,282f.; 13,380f. (Ebene); Il. 7,422 (tief); Il. 14,245f.; 18,607; 20,7; Od. 11,157; vgl. Strab. 1,1,7,C 4. (sanft fließender Okeanos); Od. 1,52–54; vgl. Hesiod. theog. 517f. (Atlas); Il. 8,16 (Tartaros, Olymp). Mit diesem grundsätzlichen Aufbau sind bestimmte Aussagen innerhalb des Epos unvereinbar. Da den homerischen Epen eine Jahrhunderte lange mündliche Erzähltradition vorausging, haben sich teilweise unterschiedliche Vorstellungen überlagert. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass Homer einiges über die Geographie der Länder jenseits des Okeanos zu berichten weiß, obwohl dieser doch den Rand der Welt bildet. Vgl. z. B. Od. 10,508–512. 9 Vgl. Hes. theog. 242, 776, 959; erg. 566; außerdem [Hes.] scut. 314–318.
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Erdscheibe schreibt er allerdings Wurzeln zu, die in der Unterwelt, im Tartaros, haften.10 Zudem ist sie nicht mehr »grenzenlos« gedacht.11 Auch in den kosmologischen Spekulationen der Vorsokratiker treffen wir auf das Scheibenmodell, das wir schon bei den frühgriechischen Dichtern kennen gelernt haben. Vielen Denkern aus Kleinasien (Thales, Anaximander, Anaximenes, Anaxagoras, Demokrit, Hekataios, Herodot, Ephoros) wird diese Auffassung zugeschrieben, so dass sie geradezu als Dogma der ionischen bzw. ostgriechischen Naturphilosophie gelten kann. Die berühmten »kreisrunden Karten« der Ionier, über die sich Herodot (4,36) am Ende des 5. Jh. v. Chr. lustig machte, mögen in etwa so ausgesehen haben:12 10 Hes. theog. 728, 807; vgl. erg. 19. 11 Anders Fehling 1985, S. 206: Flachdach. 12 Zu den ionischen Karten vgl. bes. Ballabriga 1986, S. 147–176.
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Das Bild zeigt die Karte des Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.). Sichtbar sind die kreisrunde Form, der Okeanos als umlaufender Weltfluss und die halbmythischen Rhipäischen Gebirge im hohen Norden (vielleicht eine rudimentäre Kenntnis der Alpen).13 Dagegen vertraten die westgriechischen Philosophen – allen voran die Pythagoreer und die Eleaten – in der Frage der Erdgestalt seit dem Anfang des 5. Jh. v. Chr. eine andere Lehre: die Lehre von der Erde als Kugel. Im Detail waren die Unterschiede zwischen den italischen Schulen beträchtlich.14 Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie sich bei der Formulierung des Grundkonzepts der Kugel wohl weniger von praktischen Erfahrungen und Beobachtungen als von philosophischen Spekulationen leiten ließen. Wir können also »Pythagoras« als den ersten Vertreter der Lehre von der 13 Zu den Rhipäen oder Riphäen zuletzt Dan (in Druckvorbereitung). 14 Nach Ansicht der Pythagoreer kreisen um ein zentrales Feuer die Erde, eine Gegenerde (Antichthon) auf der »Rückseite«, Mond und Sonne, die fünf Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn), sowie das mit Sternen versehene Himmelsgewölbe.
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Kugelgestalt der Erde bezeichnen, dies allerdings nur unter den Prämissen, dass es Pythagoras als historische Person überhaupt gegeben hat und dass die aus dem dritten Jahrhundert nach Christus stammenden Informationen aus der Feder des Diogenes Laertius das Richtige treffen.15 Und hier kann man sehr wohl unterschiedlicher Auffassung sein.16 Doch selbst wenn die Anekdoten über Pythagoras und die frühen Pythagoreer sich zum großen Teil als späte Erfindung erweisen sollten, so ist doch kaum an dem Faktum zu rütteln, dass die Erdkugeltheorie in dieser Schule aufgekommen ist. Denn bereits um 400 v. Chr. – also vielleicht ein Jahrhundert nach dieser revolutionären Entdeckung – war man bei den Pythagoreern bereits zur Erörterung des Problems übergegangen, »ob diese Erdkugel feststehe oder sich bewege«, hatte sich also schon mit einem Spezialproblem der Erdkugellehre auseinandergesetzt.17 Dass ich geneigt bin, die Erkenntnis der Kugelgestalt der Erde in diese relativ frühe Zeit zu datieren, hängt auch damit zusammen, dass es weitere Vertreter dieser Theorie in Italien gab.18 Parmenides aus Elea in Unteritalien (ca. 515–450 v. Chr.), der Begründer der eleatischen Schule, ging von seiner philosophischen Grundüberzeugung aus, dass »das Seiende« unbewegt und in sich abgeschlossen ist, und koppelte sie mit dem Gedanken der geometrischen Proportionalität und Kongruenz. Er zog daher den Schluss, dass das Weltall, der Kosmos, eine vollkommene Gestalt, die einer Kugel, habe. Die Einzelheiten seiner Kosmologie liegen weithin im Dunkeln.19 Poseidonios im ersten Jahrhundert v. Chr. schreibt ihm explizit die Lehre von der Kugelgestalt der Erde zu.20 Diese Nachricht, die in letzter Instanz auf einer vertrauenswürdigen Quelle, nämlich Theophrast, fußt, hat dazu geführt, dass das Altertum Parmenides neben Pythagoras als den Erfinder der Erdkugellehre ansah. 15 Diog. Laert. 8, 1; weitere Quellen mit Diskussion ihrer Glaubwürdigkeit bei Zhmud 1997, S. 45–49. 16 Für diese Annahme sprach sich schon Berger 1903, S. 178f. aus; vgl. Berger, 1906, S. 36f., mit nochmaliger Begründung der These. In dieselbe Richtung tendiert auch Gisinger 1924, S. 573. 17 Berger 1906, S. 26. 18 Fehling 1985 hält Platon für den Erfinder der Sphärizität der Erde und die antiken Nachrichten über eine frühere Entdeckung für »untergeschoben«. Damit überschätzt er aber die Originalität Platons in astronomischen und mathematischen Dingen. Zu Platon als »Trittbrettfahrer« der zeitgenössischen Naturwissenschaftler vgl. z. B. Zhmud 1998. 19 Die Aufnahme von pythagoreischen Lehren seitens des Parmenides scheint über (den Lehrer und Vermittler) Xenophanes greifbar zu werden. 20 Klar erkennbar ist noch, dass die Erde und die anderen Gestirne ebenfalls Kugelgestalt haben. Offensichtlich verstanden bestimmte Kreise der Pythagoreer und möglicherweise auch schon Pythagoras selbst die Erde – wie auch den Mond – als von Lebewesen bewohnte Kugeln, die konzentrisch im ebenfalls kugelförmigen Himmel schwebten. Man vergleiche auch den diesbezüglich kurzen Abschnitt bei Muris/Saarmann 1961, S. 18.
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Parmenides werden von späteren Doxographen weitere astronomische Erkenntnisse zugeschrieben.21 Anscheinend hat bereits er aus der Kugeltheorie verschiedene Folgerungen abgeleitet. Die wichtigste Konsequenz ist die nach der Aufteilung der Erde in bestimmte Gebiete. Parmenides (und später Aristoteles) teilten die Erde in Zonen oder, griechisch ausgedrückt, klimata ein, die um die ganze Erdkugel herumgeführt wurden.
Nach seiner Ansicht gibt es auf der Erde fünf Zonen, zwei bewohnbare Zonen und drei unbewohnbare Zonen.22 Die mittlere »verbrannte« Zone ist durch die beiden Wendekreise (ca. 368, bezogen auf Griechenland bzw. Rhodos)23 beschränkt und durch den Äquator halbiert. Die beiden »gemäßigten« Zonen sind äquatorwärts von den beiden Wendekreisen, polwärts von den sog. arktischen 21 Vgl. Diog. Laert. 8,48; 9,21 u. 23. 22 Die Grenzen der Zonen erhielt er durch die Projektion des Sonnenlaufes und von Breitenkreisen auf die Erdkugel. 23 Vgl. Aujac 1996: 14f. zu Gemin. 5,48 (vgl. allgemein schon Aujac 1976).
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(ca. 548) Kreisen begrenzt. Zwischen den arktischen Kreisen und den beiden Polen befinden sich in Norden und im Süden zwei »kalte« Zonen.24 Als bewohnbar gelten nur die gemäßigten Zonen, die drei restlichen Zonen sind auf Grund ihrer besonders hohen oder niedrigen Temperaturen unbewohnt. Das Modell des Parmenides galt in seiner Grundform als korrekt, behielt lange seine Gültigkeit bei und war bis in die römische Kaiserzeit weit verbreitet. Besonders Platon hatte sich im Phaidon zur Kugelgestalt der Erde bekannt, die sich in der Mitte einer einzigen kosmischen Vollkugel befinde.25 Vor allem durch die Autorität des Aristoteles und des Eratosthenes sowie durch die kanonischen Dichtungen des Arat und des Vergil wurde die Lehre von fünf Klimazonen sehr populär, obwohl man durch Forschungsreisen rasch erkannte, dass sie den tatsächlichen Gegebenheiten nicht immer entsprach: Die Gegenden in der Nähe des Äquators waren nicht schlichtweg »verbrannt«, wie zum Beispiel die mehrfache Umsegelung Afrikas in der Antike gezeigt hatte. Trotzdem wurde der dem Modell inhärente Schematismus bei allen zunehmenden Erkenntnissen über die Bewohnbarkeit der Gegenden im Norden und am Äquator perpetuiert.26
2.
Wie akzeptiert und verbreitet war die Erdkugeltheorie?
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass wir relativ gut Bescheid wissen, in welcher Zeit welche wissenschaftlichen Erkenntnisse in der griechischen Wissenschaft erzielt worden sind. Die Griechen hatten ein Faible dafür, die ersten Erfinder und Entdecker zu benennen. Ein eigenes Schrifttum hielt das fest. Dadurch ergeben sich aber bei der historischen Rekonstruktion zwei Gefahren. Zum einen kann der irreführende Gedanke entstehen, als habe sich in der griechischen Antike die Genese von primitiven Scheibenmodell hin zum modernen Kugelmodell der Erde linear vollzogen, gleichsam vom Mythos zum 24 Vgl. auch Strab. 2,5,3,C 111. 25 Plat. Phaid. 108e4–109b4: »Zunächst also … bin ich davon überzeugt, dass, wenn sie (sc. die Erde) denn als Kugel im Zentrum des Kosmos sich befinde, sie keine Luft benötigt, um nicht zu fallen, und auch keine andere Hilfe. Denn um sie zu halten, reichen die konstante Gleichförmigkeit der Welt sowie das Gleichgewicht der Erde selbst. Denn ein gleichförmig Seiendes, in das Zentrum eines anderen Gleichförmigen gesetzt, wird keinen Grund haben, sich mehr oder weniger nach der einen oder anderen Seite zu neigen, sondern wird in seiner Gleichförmigkeit ohne Neigung fixiert bleiben. Dies ist zunächst meine Überzeugung. Des Weiteren aber, dass sie sehr groß ist und dass wir als Bewohner des Raumes zwischen Phasis und den Säulen des Herakles nur einen kleinen Teil von ihr besitzen und um das Meer wohnen wie die Ameisen oder Frösche um einen Teich, während noch weitere an vielen anderen Orten in ähnlicher Weise wohnen.« Vgl. auch Plat. Tim. 62d12–63a. 26 Vgl. Geus 2002, S. 249f.
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Logos und analog zu jener neuzeitlichen Entwicklung vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild.27 Wie das Schicksal des heliozentrischen Weltbildes des Aristarch von Samos (ca. 280 v. Chr.) zeigt, war dies aber keineswegs immer ein Siegeszug des Fortschritts. Die zweite Gefahr besteht darin, dass derlei doxographische Aussagen allenfalls partiell, nämlich für wissenschaftliche und hoch gebildete Kreise, gültig sind. Sie besagen wenig über die Akzeptanz solcher Theorien bei wissenschaftlichen Kollegen und oder gar über den Kenntnisstand der breiten Masse. Im unserem Fall finden wir nun eine ganze Reihe von verstreuten Aussagen und Hinweisen darauf, dass der Paradigmen-Wechsel von der Scheibe zur Kugel nicht kampflos stattgefunden hat. »Manche«, so berichtet Aristoteles an einer Stelle in seiner Schrift De caelo, »meinen, die Erde sei eine Kugel, andere wiederum, sie sei flach.«28 Ähnlich soll etwa eine Generation später Dikaiarch, vielleicht um 315 v. Chr. nach Martianus Capella (6,590 = Dikaiarch, fr. 121 Mirhady) behauptet haben: Dass die Gestalt der Erde nicht flach ist, wie die meinen, die ihr die Lage einer einigermaßen plattgedrückten Scheibe anreden wollen, noch ausgehöhlt,29 wie andere wollten, die geltend machten, der Regen laufe in den Schoß der Erde doch hinunter, sondern gerundet, ja kugelförmig, behauptet Dikaiarch …
Man hat also nicht uneingeschränkt das Kugelmodell übernommen. In die philosophischen Schulen der Akademie, des Peripatos und der Stoa hat sie zwar Eingang gefunden, nicht aber zum Beispiel bei den Atomisten, der Schule Leukipps und Epikurs.30 Diogenes Laertios (9,30) schreibt etwa über Leukipps Kosmologie:31 27 Es sei an dieser Stelle auf die grundlegenden und richtungsweisenden Arbeiten von Hugo Berger (1903, 1906) verwiesen. Bezüglich der neueren Arbeiten vgl. das Literaturverzeichnis. Zur Illustration des Gesagten sei nur das Werk von Harley/Woodward 1987 (bes. S. 135f.) angeführt, das weitere Belegstellen zitiert. 28 Aristot. cael. 2,13,1. 29 Gemeint ist wahrscheinlich Demokrit. Vgl. Aet. 3,10,5: »Demokrit nennt [die Form der Erde] scheibenförmig im Umriss, in der Mitte gehöhlt.« 30 Epikur hat die »flat earth theory« wegen seiner Bewegungslehre gestützt. Vgl. Furley 1999, S. 429: »An astronomical argument for the thesis that the earth is spherical, used by Eratosthenes to calculate the earth’s circumference but possibly known much earlier, depended on taking the sun’s rays at different latitudes on the earth’s surface to be parallel to each other. In a flat earth theory, which Epicurus wanted to maintain, in order to support his theory of motion, as we have seen, the different angles of the sun’s elevation observed at the same time at different latitudes can be accounted for only if the sun is relatively close to the earth, so that its rays at different earthly latitudes cannot be taken as parallel.« Vgl. auch Sedley 1976. 31 Aet. 3,10,4: »Leukippos lehrte, die Erde habe die Gestalt eines Tympanons.« Etwas schwieriger ist die Quellenlage für Epikur : Epic, fr. 27 Arrighetti: »Sie hielten [an der Vorstellung] fest, sie [die Erde] gleiche dem Segment eines Tympanons. Diejenigen nämlich, die sich
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Die Erde finde Halt, indem sie in der Mitte herumgewirbelt werde; sie habe die Form eines Tympanons.
Ähnliches findet sich bei dem Doxographen Aetios (3,12,1): Leukippos lehrt, die Erde neige sich nach Süden wegen der der im Süden vorherrschenden lockeren Beschaffenheit; denn der Norden sei in Folge des Frostes festgefroren, das gegenüber liegende Gebiet hingegen befinde sich in Glut.
Die antiken Atomisten blieben also beim Scheibenmodell der Ionier, scheinen es aber – wie die Bemerkung zu Nord und Süd zeigt – mit wissenschaftlichen Gründen untermauert zu haben, um astronomische Phänomene zu er klären. Die Einzelheiten, insbesondere ihre Argumente gegen die Kugellehre, sind leider heute kaum mehr rekonstruierbar. Für die Frage der Akzeptanz des Kugelmodells möchte ich außerdem noch auf eine weitere, bisher kaum beachtete Quellengattung hinweisen, die der antiken Utopien. Utopien transportieren ja nicht nur fiktive Elemente, sondern auch – und zwar eher unterschwellig – Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt und spiegeln den geographischen Horizont ihrer Zeit wider.32 Etwa um 300 v. Chr. schrieb Hekataios von Abdera ein Werk über das mysteriöse Volk der Hyperboreer.33 Erhalten sind davon nur Bruchstücke, die bei späteren Autoren zitiert werden, u. a. bei Diodor und Älian. Wie etwa Theopomp vor ihm und nach ihm Euhemeros gehört Hekataios in die Reihe der »philosophierenden« Historiker.34 Ein längeres Fragment hat uns der Historiker Diodor (2,47,1–7 = FGrHist 264, F 7) überliefert, aus dem ein kurzer Abschnitt übersetzt sei:35 Denn von den alten Mythographen berichten Hekataios und andere, dass gegenüber dem Land der Kelten im Okeanos eine Insel liegt. Sie sei nicht kleiner als Sizilien, liege im Norden und werde von den Hyperboreern bewohnt. Sie heißen so, weil sie weit jenseits des Nordwindes siedeln. Die Insel habe guten Boden, auf dem alles wachse, und ihr Klima sei so ausgezeichnet, dass sie zweimal im Jahr Früchte hervorbringe. (…) Der
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gleichsam Wände dachten, die die Erde kreisförmig umgeben (und) diesen [Wirbel abhalten? … glaubten damit eine Erklärung für den Schwebezustand der Erde gefunden zu haben …] Textlücke.« Utopien konnten nur dann als Reiseberichte gelesen werden, wenn ihre geographischen Aussagen mit den geographischen Kenntnissen ihrer Zeit übereinstimmten oder zumindest nicht im Widerspruch dazu standen. Vgl. dazu Geus 2001. Weiter verfasste er eine Schrift über die Dichtung Homers und Hesiods, eine Schrift Aigyptiaka (»Ägyptische Geschichte«), die vielleicht die Grundlage von Diodors 1. Buch bildete. Dass nach Diogenes Laertios (1,10 = FGrHist 264, F 1) Hekataios auch ein Buch »Über die Philosophie der Ägypter« verfasste, ist wohl nur eine Umschreibung der Aigyptiaka. Vgl. Schol. Apoll. Rhod. 2,675 (= FGrHist 264, T 6a = F 10); vgl. auch F 7; anders Plin. nat. 6,55 (= FGrHist 264, T 6b): privatim condidit volumen. In späterer Zeit galt Hekataios als ein Autor, der besonders viele »Wundererzählungen« berichtet hat. Vgl. zuletzt Morgan 1985, S. 478.
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Mond soll von jener Insel aus der Erde ganz nah erscheinen, und einige bergähnliche Erhebungen seien auf ihm sichtbar.36
Der Text erinnert zwar an eine bekannte Stellen bei Platon (etwa den »Fußball« im Phaidon oder den Atlantis-Mythos im Timaios und Kritias),37 dennoch besteht ein entscheidender Unterschied. Bei einem Kugelmodell, wie es Platon vertritt, spielt der Standort des Mannes, der den Mond beobachtet, keine Rolle. Anders ist es beim Scheibenmodell der ionischen Naturphilosophen. Den Wechsel von Tag und Nacht hatten sie nämlich damit erklärt, dass die Gestirne »unter der Erdscheibe hindurchfliegen« oder durch hohe Gebirge im Norden verdeckt werden. Diese Gebirge in Norden wurden in der Antike als die schon erwähnten Rhipäischen Berge identifiziert – dieselben Berge, die die Hyperboreer von der bekannten Welt trennten.38 Wir finden also auch bei Hekataios nicht das moderne Kugelmodell, sondern das alte Scheibenmodell vor. Ähnliche Passagen finden wir auch später in anderen utopisch-phantastischen Passagen der Antike, etwa in Lukians Wahren Geschichten oder in Antonios Diogenes’ Wundern jenseits von Thule.39 Es kann also nach dem bisher Gesagten keine Rede davon sein, dass das Kugelmodell in Griechenland ab der Mitte des 4. Jhs. unumstritten war (wie heute oft behauptet wird). Während die bisher von mir zitierte Quellen auf Diskurse zwischen Wissenschaftlern und Philosophen, oder wie im Falle des Hekataios zumindest auf die von gebildeten Kreisen, hindeuten, erklärt der ältere Plinius (nat. 2,161) die Frage, ob die Erde flach oder kugelförmig ist, zu einer Debatte zwischen dem Gelehrten und dem gemeinen Mann: Gewaltig ist der Streit zwischen Gebildeten und der Masse darüber, dass Menschen überall auf der Erd[oberfläche] verstreut sind, mit den Füßen jeweils zueinander stehen, der Scheitelpunkt [zum Himmel] allen ähnlich ist und man in ähnlicher Weise von jedem Teil [der Erdoberfläche] aus auf die Mitte zu tritt; auch wenn jene [die Masse] 36 Älian (nat. 11, 1 = FGrHist 264, F 11) erzählt »nach Hekataios von Abdera«, dass »unzählige Schwärme von Schwänen« von den »Rhipäischen Bergen« zum »Apollon-Tempel« der Hyperboreer fliegen, um dort den Gott zu ehren. 37 So Berger 1903, S. 349f., der auf Plat. Phaid. 109b; 109d; 111b; Olympiod. in Aristot. meteor. 2, 1, 2 (CAG XII 2) verweist. 38 Dieser Name taucht wenigstens bei dem zeitgenössischen Dichter Alkman (ca. 650–600 v. Chr.) auf (F 90 Page). Aus weiteren Bemerkungen des Ependichters Aristeas von Prokonnesos (2. Hälfte des 7. Jh. v. Chr.?) und des Geographen Damastes von Sigeion (5. Jh. v. Chr.) lässt sich ein frühgriechischer Mythos rekonstruieren, der den Wechsel von Tag und Nacht erklären will. Vgl. bes. Aristot. meteor. 2 1, p. 354a23–32. 39 Auch ein jüdischer Schriftsteller aus der hellenistischen Zeit, der Verfasser des Jubiläenbuches, griff auf alte ionische Vorstellungen zurück. Vgl. Jub VIII–X. Zur Datierung des Jubiläenbuches: »als proto-essenische Schrift mag es ca. 150 v. Chr. oder unter Johannes Hyrkan I (134–104 v. Chr.) entstanden sein«: Lang 1995, Sp. 396. Zur geographischen Vorstellung: Hölscher 1949, S. 57.
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fragen mag, warum die [uns] gegenüber Gelegenen nicht herunterfallen, ist dennoch kein Grund vorhanden, warum jene sich wundern sollten, dass wir nicht herabfallen.40
Es war also vor allem die Antipodenlehre, die irritierend auf die Menschen der Antike wirkte. Sie konnten sich anscheinend vorstellen, dass wir uns auf einer gerundeten Erde befinden. Da diese Erde riesig und unbeweglich war, mochte man durchaus das Gefühl haben, »oben« auf einer relativ flach erscheinenden Oberfläche zu stehen. Doch hätten in diesem speziellen Fall die Antipoden »unten« von der Erde herabfallen müssen. Von der Schwerkraft hatte man ja in der Antike noch keine rechte Vorstellung. Die Ablehnung der Antipoden-Lehre bei gleichzeitiger Akzeptanz der Kugellehre ist dann auch noch bei den Christen wiederzufinden.41
3.
Welche Haltung nahmen die Christen zur Erdkugeltheorie ein und kann man diese Haltung als Wissenschaftsfeindlichkeit bezeichnen?
Der gebildete Apologet Laktanz hat sich um 300 n. Chr. mit der Kugelgestalt der Erde auseinander gesetzt (inst. 3,24). In einer reductio ad absurdum wird diese Lehre vor allem mit dem Argument ausgehebelt, dass in einem solchen Konzept die Erdoberfläche auf allen Seiten bewohnt sein müsse, aber die Antipoden42 auf der anderen Seite des Erdballs doch gar nicht feststehen könnten.43 Das ist nichts anderes als das Argument der Masse bei Plinius. Auch der Kirchenvater Augustinus spricht sich gegen die Vorstellung aus, dass auf der Gegenseite Menschen lebten (civ. 14, 9).44 40 Ingens hic pugna litterarum contraque vulgi, circumfundi terrae undique homines conversisque inter se pedibus stare, et cunctis similem esse verticem, simili modo ex quacumque parte media calcari, illo quaerente, cur non decidant contra siti, tamquam non ratio praesto sit, ut nos non decidere mirentur illi. Plinius spricht an anderer Stelle von der Kraft der Luft. 41 Die Literatur zu dem Thema »Christentum und Weltbild« ist Legion. Für unsere Fragestellung von besonderem Interesse sind Watts 2005; 2006; Nicolaides 2011. 42 Zur Antipodenlehre vgl. bes. Moretti 1991; Hiatt 2008. Zu einem Seitenaspekt jetzt Geus 2014 (dort weitere Literatur). 43 Hanc igitur caeli rotunditatem illud sequebatur, ut terra in medio sinu eius esset inclusa. Quod si ita esset, etiam ipsam terram globo similem; neque enim fieri posset, ut non esset rotundum, quod rotundo conclusum tenerentur. Si autem rotunda etiam terra esset, necesse esse, ut in omnes caeli partes eandem faciem gerat, id est montes erigat, campos tendat, maria consternat. Quod si esset, etiam sequebatur illud extremum, ut nulla sit pars terrae, quae non ab hominibus ceterisque animalibus incolatur. Sic pendulos istos Antipodes caeli rotunditas adinvenit. 44 Lindgren 1990 ist vor allem den Vorstellungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit nachgegangen.
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9. Sind auf dem nach unten gekehrten, unserem Aufenthalt entgegengesetzten Teil der Erde Antipoden anzunehmen? Wenn man aber gar noch von Antipoden fabelt, von Menschen, die im entgegengesetzten Teil der Erde, wo die Sonne aufgeht, wenn sie bei uns untergeht, auf dem unseren Füßen gegenüberliegenden Boden wandeln, so ist das durchaus nicht anzunehmen. Man beruft sich ja hierfür auch nicht auf irgendwelche geschichtliche Überlieferung und Erfahrung, sondern vermutet es nur auf Grund von Schlussfolgerungen, davon ausgehend, dass die Erde innerhalb des Himmelsgewölbes aufgehängt sei und die Welt den gleichen Punkt sowohl zum untersten wie zum mittleren habe; darauf bauen sie die Vermutung, dass auch der andere, untere Teil der Erde nicht unbevölkert sein könne. Sie lassen dabei jedoch außer Acht, dass, wenn man auch für die Welt eine kugelförmige oder runde Gestalt annimmt oder durch Gründe erweist, daraus mitnichten folge, dass es auch auf jener Seite eine von Wassermassen freie Erde gebe oder dass eine solche, selbst wenn sie dort anzutreffen sein sollte, sofort auch von Menschen bevölkert sein müsse. Denn nie und nimmer lügt unsere Schrift, die ihren Berichten Glaubwürdigkeit verschafft dadurch, dass ihre Vorhersagen in Erfüllung gehen, und es wäre doch gar zu ungereimt zu behaupten, es hätte irgendjemand aus dem oberen in den unteren Teil über den unermesslichen Ozean hin zu Schiff gelangen können, um auch dort das aus jenem einen ersten Menschen hervorgegangene Menschengeschlecht einzubürgern.
Augustinus’ Argument lautet etwas anders als das der bisher zitierten Autoren. Er bezweifelt nicht a priori die runde Form der Erde, nicht einmal die theoretische Möglichkeit von Antipoden, bestreitet aber die Möglichkeit, mit dem Schiff zur anderen Seite der Erdoberfläche zu gelangen. Da nun aber durch die Sintflut alle Regionen auf der Erde überschwemmt worden sind, können die Nachkommen Noahs auch nicht zur südlichen Hemisphäre gekommen sein. Es sind also keine naturwissenschaftlichen (bzw. pseudo-naturwissenschaftlichen) Gründe, die Augustinus hier ins Feld führt, sondern »historische« Gründe, die aus dem Verständnis herrühren, dass die biblischen Erzählungen wörtlich und historisch zu nehmen sind. Kommen wir zu einem weiteren Beispiel, das in einem syrischen Fragment aus dem Genesis-Kommentar des Theodor von Mopsuestia (ca. 352–428 n. Chr.)45 steht.46 Überflüssig hingegen scheint es mir hier, auf die Fabeleien der Heiden einzugehen; denn das wäre für die ins Auge gefasste Unterweisung ohne Nutzen, da jene sich in
45 Zu Theodor vgl. bes. Devreesse 1948; Schleicher 2014, S. 188–95. Zu den geographischen Texten im Syrischen vgl. jetzt Defaux 2014 (dort weitere Literatur). 46 Der syrische Text findet sich bei Sachau 1869, S. 9–13. Mir ist keine Übersetzung in eine moderne Sprache bekannt. Ich danke Edgar Reich (Baunach) und Rainer Voigt (Berlin) für sprachliche Hinweise. Ich hoffe auf diesen Text an anderer Stelle ausführlicher eingehen zu können.
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einem vielfältigen, verworrenen Irrtum befinden, der auch nicht eine einzige fundierte Position noch irgendein Quentchen wahren Gehalts aufweist; (…) Denn sie haben sich für den Himmel eine Form ausgedacht, die zum Aberwitz ihrer Gedankenwelt passt. Und so, wie sie von Ehre, von echter Dankbarkeit und auch von der Wahrheit nicht einen Funken in ihrem Inneren besitzen, haben sie auch vom Himmel die Vorstellung, dass er keineswegs feststehe, sondern sich allezeit im Kreis drehe, da er eine ewige Bewegung habe und eine Umdrehung, die nicht ende,47 was ja wahrlich zu der Dummheit der Erfindungen solcher Leute passt, die in ihren gedanklichen Vorstellungen bald hierhin bald dorthin umherwirbeln und sich unablässig mit der Erforschung von Dingen wie diesen beschäftigen, ohne dabei jedoch bis auf den heutigen Tag die Wahrheit gefunden zu haben; denn in der Lehre über diese Dinge stimmen sie weder mit sich selbst noch miteinander überein, vielmehr ergeht es ihnen so, wie es Betrunkenen zu ergehen pflegt. Wenn sie glauben, dass der Himmel sich immerzu drehe, (sind sie vergleichbar mit) jenen, die in ihrem Rausch, bei dem sich in ihnen alles dreht, fälschlich meinen,48 es drehe sich die Erde, auf der sie stehen. Wenn nämlich der Himmel etwas Geschaffenes ist, muss er feststehend und unbeweglich sein gemäß der Bestimmung, die ihm vom Schöpfer festgesetzt ist, der dem Himmel und der Erde deshalb einen festgefügten Standort und ein sicheres Fundament gesetzt hat, damit sie, weil sie außen sind und das Ganze umschließen, einen hinreichenden Schutz bieten für die [Dinge], welche sich im Innern befinden. Gemäß der Grenze, die ihnen von Gott festgesetzt ist, sollen sie sich bewegen können, soweit sie im Innern sind, doch über die ihnen gesetzte Grenze hinaus können sie sich nicht bewegen. Dass wir aber von diesen [sc. vom Himmel und der Erde] glauben sollen,49 sie seien ewig und hätten nicht von einem anderen den Anfang der Existenz empfangen, die, wie jene meinen, in der Form einer Kugel bestehe, das zeugt schon von einer Menge Dummheit; denn das Ewige hat ja keinen Körper und auch keine Form und ist weder zusammengesetzt noch zeitlich begrenzt, und zu dieser Natur (Wesenskategorie) passt eine Kugelgestalt nicht. Wenn hingegen (etwas) ein Körper ist, ist es auf jeden Fall zusammengesetzt, hat eine Form und auch ein Ende gemäß dem Gesetz der Körper. (…) So sehr sie sich auch ihrer Erfindungen rühmen, dass sie aus(gehend von) der Umdrehung des Himmels und dieser neuen (neu eingeführten?) Sphäre die Wissenschaft der Astronomie entwickelt haben, die bei ihnen bewundert wird, so kann ich doch nur lachen über ihre Dummheit, weil ich von ihnen denke, dass sie jenen Traumwandlern gleichen, die, während sie in ihren Betten liegen und auf einmal nicht mehr wissen, wo sie sind, meinen, dass sie fliegen und sich in die Höhe erheben. So (sind) auch sie: weil sie, was vor ihren Füßen liegt, nicht genau prüfen und nicht imstande sind, ihre Angelegenheiten gut auf die Reihe zu bringen, weit aufgerissenem Mund auf die nen so genannte (?) Sphäre, und bilden sich ein, ihr törichter Wahn ermögliche es ihnen, alles herauszufinden, was geschieht. Dabei labern sie uns 47 Ptolemaios’ Meinung war das nicht, eher die Platons. Ptolemaios vertrat nicht nur eine geozentrische, sondern sogar geostationäre Theorie. Vgl. Geus 2008. 48 Vgl. zu dieser Bedeutung Sokoloff 2009, S. 919a (s. v. nkl). 49 nesbar ist wohl in nesbaru¯n zu ändern.
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auch (noch) etwas vor über den Stand der Gestirne – davon hat ja die Erfindung der Astrologie ihren Ausgang genommen –, doch ohne uns mit dergleichen etwas anderes zu beweisen, als dass sie dumm sind. Wenn wir nämlich dem [jeweiligen] Stand der Sterne entsprechend, so wie die Rede dieser Leute es behauptet, unkeusch und keusch, betrunken und nüchtern, gerecht und ungerecht, oder kurz gesagt: gut und böse sind, woran sieht man denn dann, dass wir etwas Höheres sind als die Tiere, wenn wir (wirklich) das Gute nicht vom Bösen unterscheiden können, das Böse nicht hassen, das Gute nicht lieben und unentrinnbar jeweils entsprechend dem Stand der Sterne zum Guten und zum Bösen determiniert sind, so wie sie das behaupten und ihre Fabeleien es lehren?
Für Theodor ist also die Erdkugellehre schlichtweg die Lehre der Heiden. Er ignoriert damit einerseits die Ansichten der Epikureer, die ebenfalls diese Lehre ablehnten, andererseits aber auch die von gebildeten Christen, die sich mit ihr durchaus anfreunden konnten. (Diese gab es nämlich auch.) Auch ist es weniger die Antipoden-Lehre, die Theodors Kritik findet, sondern die inakzeptable Vorstellung, dass die Erde sich in ewiger Bewegung befinde. In Wirklichkeit müsse ewige Bewegung körperlos sein. Die Basis seiner Argumentation ist natürlich die christliche Vorstellung, dass die Welt von Gott geschaffen wurde und damit nicht ewig, sondern endlich sei. Interessanterweise gebraucht Theodor hier philosophische Argumente, die wir vor allem aus der Aristoteles-Interpretation der Spätantike kennen. Er verweist ja u. a. auf das »Gesetz der Körper«. Theodors Äußerungen bewegen sich also, bei aller Polemik und Häme gegen die Heiden, innerhalb des damals üblichen Rahmens philosophischer Diskurse. Vor allem seine Kritik an der Astrologie und dem Determinismus der Gestirne im Schlussteil seiner Ausführungen ist ja durchaus nicht ungewöhnlich und hätte so oder ähnlich auch von heidnischen Autoren stammen können. Während die früheren Äußerungen der Christen vor allem Ablehnungen des »heidnischen« Erdkugelmodells darstellten,50 fehlte es eigenen, positiven Äußerungen, an einem Gegenentwurf zur Kugellehre. Die Bibel lieferte nur wenige Informationen über den möglichen Aufbau der Welt. Zudem waren diese Äußerungen widersprüchlich und nicht geeignet, kompliziertere Phänomene wie Finsternisse oder die scheinbaren Planetenschleifen am Himmel zu erklären. Ein solches christliches Gegenmodell ist erst in der Mitte des 6. Jh. n. Chr. fassbar. Damals unternahm der Mönch Kosmas Indikopleustes den Versuch nachzuweisen, dass die Erde keine Kugel, sondern eine rechteckige Scheibe sei.51 Das 1. Buch seiner Christlichen Topographie widmet sich ausführlich der 50 Vgl. Fürst 2007. 51 Neben Angaben aus der Bibel zog er in seiner Christlichen Topographie übrigens auch die Atlantis-Erzählung Platons und das Erdbild des Ephoros heran. Auch ein christlicher Autor aus Ravenna um 700, der sog. Anonymus Ravennatus, übernimmt das Weltbild des Alten Testaments und stellt sich die Erde als Scheibe vor. Vgl. Schleicher 2014, S. 373–381.
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Widerlegung physikalischer Vorstellungen der heidnischen Antike, insbesondere der Erdkugeltheorie. Kosmas’ Adressatenkreis sind vor allem Christen, die sich von dieser Kugellehre »in die Irre führen« ließen.52 Unter seinen bekannten Argumenten findet sich auch wieder die von der Absurdität der AntipodenLehre, so z. B. in 1,20:53 Wenn aber einer in Bezug auf die Antipoden eine genauere Untersuchung anstellen möchte, dann wird er leicht ihr [der Anhänger der Erdkugeltheorie] Altweibergeschwätz entlarven. Man stelle sich vor, dass die Füße eines Menschen mit den Füßen eines anderen Menschen auf der gegenüberliegenden Seite verbunden sind, und dann stellt man die beiden auf die Erde oder ins Wasser oder in die Luft oder ins Feuer oder in welchen Stoff auch immer, wie können dann beide aufrecht stehen? Wie wird man dann nicht finden, dass der eine der Natur entsprechend, der andere wider die Natur mit dem Kopf nach unten steht? So etwas ist unlogisch und mit unserer Natur und Ordnung unvereinbar. Wie kann man dann sagen, wenn es auf beide regnet, dass der Regen auf beide herabfällt? Ist es denn unmöglich, dass er einerseits herab, andererseits aber nach oben fällt oder auf die gegenüberliegende Seite oder hinein und heraus? Denn die Vorstellung von Antipoden hat notwendig auch die Vorstellung eines Anti-Regens auf sie zur Folge. Und mit Recht wird man über diese lachhaften Theorien sich lustig machen, weil sie Unpassendes, Ungeordnetes und Unnatürliches verlauten lassen.
Ab dem 2. Buch stellt Kosmas nun seine eigene Theorie von der Erde vor. Sie steht im Einklang mit Aussagen der Bibel, versucht aber durchaus auch den sichtbaren astronomischen und geographischen Phänomenen gerecht zu werden. Inspiriert ist Kosmas’ Weltbild, wie er später im 5. Buch ausführlich erläutert, von der biblischen Beschreibung des Bundeszeltes, das Moses gebaut hat. Einen Abschnitt aus dem 4. Logos (4,11) möchte ich als letzten Text vorstellen. Die ganze Erde ist rechteckig, wie sie zuvor gezeichnet worden ist. Ihre Erhöhung an der mittlersten Stelle und die Höhen im Norden und Westen haben wir hier bezeichnet und graphisch dargestellt, so dass sie [die Erde], die sich in der Mitte befindet, rings um sich den Okeanos hat und wiederum rings um ihn herum die gegenüberliegende Erde, während die Sterne sie umkreisen, und sie [die Erde] auch einen konischen Schatten werfen kann gemäß denen, die draußen [außerhalb der christlichen Gemeinschaft] sind, und dass auch dieser Form entsprechend Finsternisse des Mondes und die Nächte und Tage produziert werden können, und dass die Heilige Schrift das noch wahrer sagt, wenn es heißt: »Die Sonne geht auf und die Sonne versinkt und sie zieht sich zu ihrem Ausgangspunkt zurück; wenn sie dort aufgeht, wandert sie nach Süden und sie wandert im Kreis nach Norden; sie wandert im Kreis auf einer Kreisbahn und auf ihren Kreisbahnen dreht sich der Wind« (Koh 1, 5–6), als ob sie, indem sie die Luft kreisend durchwandert, wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. 52 Aus der Fülle der Literatur zum Erdmodell des Kosmas nenne ich nur Elwesekiöld 2005 (bes. S. 93–102, 126–131); Kominko 2005; Kominko 2013a; Kominko 2013b; Schleicher 2014, S. 241–261. 53 Für eine Abhängigkeit des Kosmas von Theodor in dieser Frage plädiert Becker 2006, S. 39f.
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12. [Text]: So nun sind die bewohnbaren Gegenden in dieser Hinsicht. Wenn nun die Sonne im Osten aufgeht und den Süden durchläuft entsprechend ihren Wenden und sie jedes Mal auf die Höhe der Erde scheint oder auch auf die Erde selbst, dann erzeugt sie Nacht jenseits der Höhe der Erde entlang des Okeanos und der jenseits davon befindlichen Erde. Und wenn sie wiederum im Westen und Norden ist unter der Höhe der Erde, dann erzeugt sie dort Nacht, bis sie auf ihrer Kreisbahn wieder aufscheint in den flachen Gegenden des Ostens und wieder zurückwandert in den Süden und dieses Universum erleuchtet. (…) 14. Keineswegs also schaden solche Ansichten [der Erdkugeltheoretiker] unseren Thesen – lediglich die Behauptung, dass sich der Himmel im Kreise bewege, was eine Umkehrung der gesamten Heiligen Schrift ist, des Alten und des Neuen Testaments und der christlichen Lehre. Das aber darüber hinaus weiter zu untersuchen, haben wir nicht die Zeit – denn solches Wissen ist nicht nützlich. Deshalb halten wir uns lieber an ein nützliches Wissen, das in unseren Seelen eine gute und nützliche Hoffnung erzeugt, die auch der Herr nach seiner Verheißung eher denen zu geben versprochen hat, die an ihn glauben, denen aber, die nicht an ihn glauben, nur die unheilvolle Strafe.
Die Erde als Scheibe! Ohne dass Kosmas es hier explizit sagt, ist doch klar, dass er bei seinen Überlegungen auf das uralte Scheibenmodell der Ionier zurückgreift. Platon und Ephoros werden an anderer Stelle des Werkes zitiert. Das wird besonders bei der Erklärung des Wechsels von Tag und Nacht deutlich, der mit einem Verschwinden der Sonne hinter einem Bergmassiv im Nordwesten begründet wird. Mehr als 1000 Jahre nach Anaximander und Hekataios feiert also der Rhipäen-Mythos bei Kosmas seine Wiederauferstehung. Aber vielleicht war es gar keine Wiederauferstehung? Denn die Erinnerung an das Scheibenmodell mag vielleicht gar nicht verloren gegangen sein.
4.
Conclusio
Die antiken Quellen sprechen, wie wir gesehen haben, in der Frage der Akzeptanz des Kugelmodells eine ganz andere Sprache, als unsere Handbücher, die eine klare Linie eines wissenschaftlichen Fortschritts ziehen. Es mag gefährlich sein, aus den Stimmen der Epikureer, aus den Utopien, aus den Ansichten der Christen (und Juden) sowie aus vereinzelten Aussagen darauf zu schließen, dass ein großer Teil oder vielleicht sogar die Mehrheit der Griechen und Römer an das Scheibenmodell glaubte. Umgekehrt geht es aber auch nicht an zu sagen, dass innerhalb der Schicht von antiken Gelehrten und Gebildeten die Debatte eindeutig zu Gunsten der Kugeltheoretiker entschieden war. Es war zwar großenteils ein Streit zwischen »Masse« und »Gebildeten« wie Plinius meint, aber doch nicht nur. Auch innerhalb der Gruppen von Gebildeten, vielleicht besser : innerhalb der Gruppen von astronomisch/kosmologisch/geographisch Interessierten war die Sache keinesfalls ausdiskutiert.
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Was die Position der Christen angeht, ist zunächst zu betonen, dass man bei ihnen ebenso wenig von einer einheitlichen Position sprechen kann wie bei den Heiden. Während manche Christen wie Johannes Philoponos54 die Erdkugeltheorie anscheinend uneingeschränkt übernahmen, argumentierte Augustinus auf Grundlage der Bibel, dass es wegen der Sintflut auf der anderen Seite der Erde keine Menschen geben könne; Laktanz benutzte die verbreitete kontraintuitive Vorstellung, dass auf der anderen Seite der Erdoberfläche Antipoden mit den Füßen zu uns existieren könnten, ohne herunterzufallen; Theodor wendete sich sogar mit philosophischen Argumenten gegen eine rotierende und ewige Erde. Kosmas schließlich versuchte Bibelexegese und Sinneserfahrungen zu vereinen, indem er – teilweise in Rückgriff auf die uralten Traditionen des Scheibenmodells – ein Gegenmodell entwickelte. Die Argumente, die die verschiedenen christlichen Autoren jeweils ins Spiel bringen, können trotz der teilweise drastischen Sprache des Theodor, als durchaus rational bezeichnet werden und unterscheiden sich nicht substanziell von Argumenten, wie wir sie bei anderen Autoren (etwa in Philoponos’ Werk De opificio mundi) finden. Bei Theodor und Kosmas taucht aber erstmals ein Gedanke auf, den man als Beginn einer Wissenschaftsfeindlichkeit oder vielleicht eher als Wissensfeindlichkeit deuten kann:55 die Beschäftigung mit diesen Dingen sei überflüssig und nicht nützlich, heißt es dort. Bezeichnend ist hier der abschließende Argumentationsgang des Kosmas: Nachdem er sich über viele Seiten seiner Topographia Christiana mit den angeblich falschen Ansichten herumgeschlagen hat, gipfelt er in der conclusio: nur das wahre Weltbild der Bibel erzeuge in »unseren Seelen ein gute und nützliche Hoffnung«.56 Die ratio ist hier zu einem sekundären Argument geworden.
54 Vgl. Sorabji 1987, S. 5. 55 Der Vorwurf ist übrigens alt und nicht auf die Griechen beschränkt. Vgl. Movses von Khoren, Geschichte der Armenier, 3: »Zudem scheint mir wie jetzt so auch bei den alten Armeniern eine Abneigung gegen Wissenschaft und verständige Gesänge geherrscht zu haben. Daher ist es überflüssig, noch etwas über jene unvernünftigen, leichtsinnigen und rohen Männer zu sagen.« 56 Vgl. z. B. 5,243: »Darüber hinaus können sie nichts erhoffen, weder Auferstehung noch Königreich im Himmel, noch einen besseren Zustand, weil sie die Kugelform zulassen und so die Hoffnung, die sie haben, verlieren«. Es sind also weniger (falsche) wissenschaftliche als vielmehr religiöse Argumente.
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Sabine R. Huebner
Die Königin der langen Straßen – Eine Rezeptionsgeschichte der Via Appia Antica
I.
Ein Mythos aus Basalt
Nach Dionysius von Halikarnassos gehörten die Straßen zu jenen Leistungen der Römer, welche die Größe des römischen Reiches zur Schau stellten.1 Die Via Appia galt dabei als die Königin der römischen Konsularstraßen. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hat diese Straße die Bewunderung ihrer Besucher geweckt und zu deren Inspiration gedient. Die Via Appia ist immer Gegenstand von Prosa und Poesie, Motiv für Malerei, Fotografie, Stichkunst und selbst der Musik gewesen. Im frühen 20. Jahrhundert noch hat der italienische Komponist Ottorino Respighi den Schlusssatz seiner Symphonischen Dichtung »I pini di Roma« mit »I pini della via Appia« überschrieben. Mehr als jede andere Straße geht von ihr eine Faszination aus, die vielleicht vergleichbar ist mit jener der legendären Route 66, dem US-Highway, der die Vereinigten Staaten von Ost nach West verbindet und deren Name als Metapher steht für den kolonialen Drang nach Westen, die große Freiheit, das Abenteuer des Reisens und die Epoche der großen Entdeckungen. Verfolgt man die Geschichte der Via Appia zurück bis an ihre Anfänge, wird man unweigerlich mit den Meilensteinen der römischen Geschichte konfrontiert. Mehr als ihre Konstruktionsweise und mehr als das System der römischen Straßenverwaltung und deren archäologische Zeugnisse soll uns hier jedoch die Idee der Via Appia interessieren, ihre Rezeption durch die Zeitgenossen und die Nachwelt, ihre Symbolik und ihre kulturgeschichtliche Wirkung. Eine Festschrift ist ebenfalls ein Meilenstein einer individuellen wissenschaftlichen Laufbahn, gilt sie doch als Zeichen großer wissenschaftlicher Resonanz und erfolgsträchtiger Nachwuchsförderung. Zu Ehren von Ernst Baltrusch, dem Betreuer meiner Habilitation an der Freien Universität Berlin und allseits präsenten Mentor bei Fragen zur wissenschaftlichen Laufbahn, befasse 1 Ant. Rom. 3,67,5. Hier wie im Folgenden handelt es sich um eigene Übersetzungen, wenn nicht anders angemerkt.
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ich mich in diesem Beitrag mit einer der zentralen Ideen seiner Dissertationsschrift, der Idealisierung des römischen mos maiorum in der spätrepublikanischen Epoche und frühen Kaiserzeit. Im Gegensatz zur Rezeptionsgeschichte römischer Literatur, politischer Diskurse und bedeutender Bauwerke wie dem Pantheon oder dem Kolosseum wird die Rezeptionsgeschichte des antiken Straßenwesens in der Forschung bislang vernachlässigt, obwohl diese in der Rückschau keinen geringeren Einfluss auf die Selbstwahrnehmung der Römer und das Urteil der Nachwelt über die Leistung römischer Zivilisation hatte. Selten wird so deutlich, wie stark die Rezeption der Antike vom gesellschaftlichen Kontext und dem eigenen Weltbild abhängt, in dessen Ordnung sie erfolgt. Einen Zeitraum von 2300 Jahren Geschichte und die Nachwirkung auch nur einer einzigen Straße angemessen zu erfassen, wäre Stoff genug für eine ganze Monographie. Ein solch zeitlich weitgespanntes Unternehmen läuft immer Gefahr, nur an der Oberfläche zu kratzen oder im schlimmsten Fall Zeiten, Kulturen, gesellschaftliche Umstände und subjektive Ansichten bei der Beurteilung und Einschätzung in einen Topf zu werfen, ohne auch nur in irgendeiner Weise angemessen den jeweiligen zeitgegebenen und individuellen Hintergründen gerecht zu werden. Ich versuche diese Schwierigkeiten in der Weise zu umgehen, indem ich mich auf einen eng begrenzten Abschnitt dieser berühmten Straße beschränke, die in ihrer Gesamtlänge von rund 560 km durch halb Italien führte: nämlich auf den ersten und zweifellos geschichtsträchtigsten Abschnitt von Rom bis Terracina. Zuletzt möchte ich bei meiner Untersuchung besonders auf zwei konkrete Epochen der Rezeption eingehen, nämlich zum Ersten auf die Zeit der späten römischen Republik und zum Zweiten auf die Epoche des sog. Klassizismus des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ich werde mich in diesem (engen) Rahmen zudem auf die Schriftquellen beschränken und andere, wie beispielsweise die abbildende Kunst, außen vor lassen. Rezeption kann in vielfältiger Weise definiert werden, wie sich allein dem Beitrag von Cancik und Mohr zu »Rezeptionsformen« im Neuen Pauly entnehmen lässt.2 Demnach lassen sich zwei grundlegende Formen der Rezeption unterscheiden: Zum einen bezeichnet »Rezeption« die Auf- und Übernahme fremder Ideen, Normen und Wertvorstellungen sowie Verhaltensweisen, aber auch fremden Kulturguts, insbesondere jede Art der kommunikativen Aneignung von Literatur, Kunst und Musik. Der Begriff wird darüber hinaus für die Art und Weise der Aufnahme von Werken und historischen Ereignissen durch die Öffentlichkeit – also des Betrachters, Hörers oder Lesers im Verlauf der Geschichte – verwendet. Es ist diese zweite Bedeutung, die hier im Vordergrund stehen soll. 2 Cancik/Mohr 2002, S. 759–770.
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In der ersten der beiden Epochen, die in unserer Untersuchung im Zentrum stehen sollen, geschah die Rezeption mit einem Blick von innen. Die Zeitgenossen der späten römischen Republik waren Anwohner der Via Appia und benutzten diese regelmäßig. Für sie war diese Straße von großem praktischen Nutzen, da sie Rom mit dem südöstlichen Italien und dem östlichen Seehafen Brundisium verband. Der Bau der Via Appia hatte ferner entscheidend zur Erschließung Süditaliens beigetragen und machte den raschen Truppentransport nach Griechenland und anderen östlichen Provinzen möglich. Wie wir im Folgenden sehen werden, war die Via Appia, abgesehen von ihrem praktischen Nutzen, aber auch ein Symbol für den ruhmreichen Aufstieg Roms und die Tatkraft und Umsicht seiner Vorfahren. Für die Besucher und Reisenden der Neuzeit, die aus dem Norden Europas nach Rom und weiter nach Kampanien reisten, war Rezeption eher mit dem Blick von außen verbunden. Rezeption bedeutete hier vor allem einen beobachtenden und wertenden Blick auf die antiken Zeugnisse als Teil einer fremden und doch eigenen Kultur.3 Im Laufe der Jahrhunderte ergaben sich für Nordeuropäer sehr unterschiedliche Motive, nach Italien aufzubrechen. Im Mittelalter nahmen vor allem Pilger und Ritter aus religiösen oder politischen Gründen die beschwerliche und gefahrvolle Reise nach Rom auf sich und interessierten sich dabei vermutlich wenig für die antiken Überreste sowie Land und Leute. Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Motivation und es wurde für einen jugendlichen Adeligen durchaus üblich, auf Kavalierstour fremde Länder und Sitten kennen zu lernen, um als welterfahrener Rückkehrer ein wohldotiertes Amt antreten zu können. Hauptzweck war der gesellschaftliche Aufstieg, die wissenschaftliche Laufbahn oder die Beamtenkarriere. Nach den Pilgern und dem Adel kam seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch das Bürgertum, das in der Regel einen Bildungsund Nutzwert suchte. Berichte von solchen ›Bildungsreisen‹ signalisieren bereits den Siegeszug eines neuen Kulturideals – es war die Epoche der wiederentdeckten Antike, als deren Hauptvertreter Winckelmann und Goethe auftraten.
II.
Von Rom bis Brundisium
Die Hauptquelle für die Erforschung des römischen Straßenwesens im Allgemeinen und der Via Appia im Besonderen sind die archäologischen Befunde. Die moderne Überbauung weiter Abschnitte macht eine genaue Untersuchung sowie die zeitliche Abgrenzung einzelner Bauphasen mitunter jedoch schwierig. Neben dem archäologischen Material stehen uns literarische Zeugnisse zur 3 Gehrke 2010, S. 362.
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Verfügung, sei es in der Historiographie, Reisebeschreibung oder Dichtung. Ferner sind die epigraphischen Quellen nicht zu vernachlässigen; besonders den Meilensteinen kommt Bedeutung zu. Überliefert sind die Straßenverläufe auch durch spätantike Itinerare. Italienische Gelehrte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem Canina, Fratelli, Mauiri, und Castagnoli, haben sich um einzelne Abschnitte verdient gemacht.4 Eine der wenigen Gesamtdarstellungen der Via Appia von Ivana Della Portella und Kollegen aus dem Jahr 2003 lässt jedoch eine Darstellung der Forschungskontroversen vermissen.5 Die wichtigsten Studien in deutscher Sprache zum römischen Straßensystem im Allgemeinen stammen von Pekry, Radke, Kolb und Rathmann.6 Die Via Appia war ursprünglich als Mittel für den Truppentransport konzipiert worden, diente somit zur Eroberung neuer Territorien und wurde noch im Jahre 1944 von den Amerikanern bei ihrem Einmarsch in Rom in dieser Funktion benutzt. Die Via Appia spielte bei der siegreichen Ausdehnung des römischen Reiches keine zu vernachlässigende Rolle, vor allem wenn man bedenkt, dass die militärischen Erfolge gerade auf den logistischen Fähigkeiten beruhten, mit welchen die Römer mächtige Heerscharen einberufen und mit ihrem Tross auf das Schlachtfeld befördern konnten. In Friedenszeiten war es vor allem der Handel, der über die Via Appia abgewickelt wurde. Waren aus Italien oder dem östlichen Mittelmeer, die im Hafen von Brundisium verladen wurden, transportierte man auf diesem Weg nach Rom. Gleichzeitig diente die Straße dem privaten Reiseverkehr sowie als Kommunikationsweg der Staatspost. Schließlich kam ihr auch eine Funktion als Erinnerungsort zu, was für uns noch heute unmittelbar ersichtlich ist. So säumen zahlreiche Gräber die Via Appia auf den ersten Kilometern außerhalb Roms und anderer Städte; als Monumente wie auch durch ihre Inschriften erinnern sie sowohl an berühmte als auch an weniger bekannte Persönlichkeiten der römischen Geschichte. Die Via Appia ist eines der wenigen Bauwerke der römischen Antike, das – zumindest in Abschnitten – noch im 21. Jahrhundert genutzt wird. Moderne Schnellstraßen folgen bis heute dem antiken Straßenverlauf und so manche der Viadukte und Brücken haben die Jahrhunderte schadlos überstanden. Zwar ist die antike Trasse der Via Appia oftmals unter dem Asphalt der modernen Autobahnen verborgen, zum Teil ist jedoch noch das antike Straßenpflaster zu erkennen, so z. B. auf den ersten Kilometern außerhalb Roms, in abgelegenen
4 Canina 1853; Fratelli 1923; Maiuri 1941; Castagnoli 1956. 5 Portella et al. 2003. 6 Pekry 1968; Radke 1971; Kolb 2000; Rathmann 2003.
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Gegenden und auf ihrem Abschnitt als Decumanus Maximus durch die Ausgrabungen des römischen Minturnae. Der Bau der Straße wurde veranlasst durch den Krieg gegen die Samniten, die ein Bündnis zwischen Rom und dem kampanischen Capua verhindern wollten und gegen die neugegründeten römischen Kolonien in Terracina, Minturnae und Sinuessa aufbegehrten. Als im Jahre 312 im zweiten Samnitenkrieg die Lage für Rom ausweglos schien, begann der Zensor Appius Claudius Caecus mit dem Bau der Straße. Appius war einer der wenigen Zensoren, welche den Bau einer via publica veranlassten, denn normalerweise besaß ein Zensor kein imperium, das ihm erlaubte, Privatland für öffentliche Bauten zu enteignen; dies stand nur den Konsuln und Prätoren zu. Der Straßenbau des Appius zur Zeit seiner Zensur stellt damit eine Besonderheit dar und ist nur dadurch zu erklären, dass er den ersten Abschnitt der Trasse von Rom bis Formiae bereits über Staatsland führen konnte.7 Die Erweiterung bis Capua erfolgte vermutlich in seinem Konsulat, als er das ius publicandi innehatte und damit privaten Grund und Boden enteignen konnte.8 Zwischen Rom und Terracina lagen die pontinischen Sümpfe – ein unwegsames Malariagebiet, dessen Trockenlegung bis ins 20. Jahrhundert scheiterte. Im Mittelalter verfiel die Via Appia in diesem Gebiet und viele Menschen verließen vor allem wegen der Malariagefahr ihre Dörfer. Heute durchzieht ein Kanalsystem das trockengelegte Areal, in dem hauptsächlich Weizen, Obst und Wein angebaut werden, und der einstmals öde pontinische Acker ist eine blühende Landschaft mit modernen Städten aus der Nachkriegszeit, welche um das Jahr 2000 von über eine halbe Million Menschen bewohnt wurde. Vor dem Bau der Via Appia gab es zwar bereits eine ältere Straße, die Via Latina, die sich, die Sümpfe umgehend, am Fuße der latinischen und lepinischen Berge nach Capua schlängelte; diese Reise war jedoch lang und beschwerlich. Mit der neuen Straße quer durch die Sümpfe sollte der Truppentransport vereinfacht und beschleunigt werden. Die Via Appia verlief, wenn nur irgend möglich, absolut gradlinig und nahm auf die Gegebenheiten des Geländes wenig Rücksicht: Flüsse und Täler wurden mit Brücken überwunden, Berge geteilt, und in den pontinischen Sümpfen baute man Substruktionen aus Pfählen und Bohlen für die Straße. Von Rom bis Capua waren es 195 km (oder 132 römische Meilen), eine Entfernung, die zu Pferde in weniger als zwei Tagen zurückgelegt werden konnte, zu Fuß oder auf Ochsenkarren in fünf oder sechs Tagen. Stationen auf der Strecke waren Aricia (Ariccia), Tres Tabernae, Forum Appii, Tarracina (Terracina), Fundi (Fondi), Formiae (Formia), Minturnae (Minturno), Sinuessa (Mondra7 MacBain 1980, S. 361–363; Humm 1996, S. 693–746. 8 Diod. 20,36,2; Frontin. Aqu. 5.
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gone) und schließlich Capua. Im Laufe der nächsten einhundert Jahre wurde die Via Appia zunächst bis nach Beneventum und dann bis nach Brundisium verlängert. Diese spätere Verlängerung ist wiederum vor dem Hintergrund der politischen Ausdehnung Roms zu betrachten.9 Aurelius Victor schreibt die Streckenführung bis Brundisium bereits Appius Claudius zu, doch irrt er hier, denn Brundisium wurde erst im Jahre 244 v. Chr. römische Kolonie.10 Der Ausbau des römischen Straßennetzes bis in alle Provinzen erfolgte parallel zum Wachstum des Reiches und so folgten in den nächsten Jahrhunderten viele weitere Straßen innerhalb und außerhalb Italiens. Diese wurden entweder nach ihrem Erbauer benannt, wie z. B. die Via Domitia (Prokonsul Gnaeus Domitius Ahenobarbus), die Via Flaminia (Zensor Gaius Flaminius), die Via Aurelia (Zensor Gaius Aurelius Cotta) oder die Via Appia selbst, nach ihrer Funktion, wie z. B. die Via Salaria, oder nach ihrem Zielort, wie die Via Gabina (Gabii) oder die Via Nomentana (Nomentum). Im Gegensatz zu jüngeren Staatsstraßen war die Via Appia jedoch die einzige, die nicht das Gentilnomen ihres Erbauers, sondern dessen Praenomen im Namen trug.
III.
Die erste der Straßen im ausonischen Land
Die Via Appia war stets mehr als nur eine Straße, die Orte verband und über die Truppen und Waren transportiert wurden. Durch ihre ganze Geschichte hindurch, von ihrem Bau Ende des 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 21. Jahrhundert, war sie Trägerin einer Botschaft, auch wenn sich diese im Laufe der Zeit wandelte. Durch ihren revolutionären geradlinigen Bau waren plötzlich Truppenverlegungen in einer Schnelligkeit möglich, die zuvor nicht denkbar gewesen wären. Die Straße war damit in den neueroberten Gebieten südlich von Rom ein Zeichen für den römischen Organisationswillen und die römische Organisationskraft. Nach Kissel manifestierte sich im Bau der Via Appia der »Ausdruck römischer Suprematie über Natur und Umwelt«, ein eindrückliches Symbol der maiestas imperii für all jene, die über sie nach Rom reisten.11 Der Bau dieser Straße war Ausdruck einer neuen politischen Wirklichkeit: Rom war zur führenden Macht in Italien und im Mittelmeerraum aufgestiegen. Die Via Appia bildete ein allgemein sichtbares Zeugnis römischen Herrschaftswillens und römischer Herrschaftskonzeption. Den Verantwortlichen des Baus war denn auch stets daran gelegen, diese Leistung sowohl für die Zeitge9 Die genauen Daten für den Ausbau sind unbekannt, aber im Jahre 191 v. Chr. reiste Cato der Ältere bereits auf der erweiterten Straße von Rom nach Brundisium: Liv. 36,21,6; Plut. Cato Maior 14. 10 Aur. Vict. 34. 11 Kissel 2002, S. 146–147.
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nossen als auch für die Nachwelt zu dokumentieren. Die Straße selbst war dabei ein Monument römischer Schaffenskraft für die Ewigkeit – unvergänglich nicht nur aus heutiger Sicht, sondern auch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Diodor nennt die Via Appia ein lmgle?om !h\matom – ein unsterbliches Monument.12 In Terracina wurde unter der Regierung Trajans ein Felsvorsprung am Meer abgesprengt, wodurch die Via Appia fortan direkt am Meer durch die Stadt geführt werden konnte. In den Fels wurden von oben herab die Ziffern X bis CXX eingemeißelt, die die Tiefe des Einschnitts in römischen Fuß anzeigten und jedem Reisenden eindrücklich machten, welche Gesteinsmassen hier für seinen Reisekomfort aus dem Weg geräumt worden waren.13 Die Via Appia galt den Römern stets als eindrucksvolle Demonstration der Effizienz und Tatkraft ihrer Vorfahren. Und trotz späterer Verlängerungen sowie zahlreicher Reparaturen und Umbauten blieb die Straße durch ihren Namen dauerhaft mit ihrem ursprünglichen Schöpfer verbunden. So war die Via Appia allzeit ein Monument, das die Erinnerung an diesen ›großen Mann‹ der römischen Geschichte, an die alte römische Republik und an einen ihrer glorreichen Vorfahren im Gedächtnis wachhielt. Als nächstes pflasterte er mit festen Steinen den größten Teil der Via Appia, die nach ihm benannt wurde, und die über eine Länge von mehr als 1.000 Stadien von Rom bis nach Capua führte. Und weil er Berge durchgraben und Einschnitte und Täler mit großem Aufwand auffüllen musste, verwendete er den gesamten Inhalt der Staatskasse darauf. Aber er hinterließ sich selbst durch seinen Ehrgeiz für das öffentliche Wohl ein zeitloses Denkmal.14
Der Ruf des claudischen Geschlechts, aus dem Appius stammte, war generell umstritten: Livius nennt es hochmütig und grausam (familia superbissima ac crudelissima), an anderer Stelle herrschaftssüchtig und hochmütig (imperiosissima et superbissima),15 und nach Tacitus war dieser Familie der Hochmut angeboren (insita Claudiae familiae superbia).16 Appius gehörte jedoch unbestritten zu den Lichtgestalten dieser Gens und der Bau der Via Appia fügt sich gut in sein politisches Handeln ein. So ermöglichte er beispielsweise gegen den Widerstand der Nobilität Freigelassenen die Teilnahme an Wahlen und deren Kindern sogar die Aufnahme in den Senat. Des Weiteren reformierte er sowohl
12 13 14 15 16
Diod. 20,36. Vgl. Kissel 2002, S. 151. Kissel 2002, S. 146–147. Diod. 20,36. Liv. 2,56,7 und 9,34,15. Tac. Ann. 1,4.
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die lateinische Rechtschreibung als auch die römische Rechtsordnung und den Gerichtskalender.17 In den Tusculanen Ciceros ist Appius der unumstrittene Held – erfolgreich in der politischen Arena wie auch im Privatleben – und so ist auch die Via Appia für Cicero Ausdruck der Würde und Vorbildhaftigkeit ihres Erbauers.18 Wiederholt instrumentalisiert Cicero Appius in seinen Gerichtsreden als exemplum maius altrömischer constantia und gravitas, indem er auch immer wieder direkt auf die Via Appia Bezug nimmt – so z. B. in seiner Rede Pro Milone, in der er den Mörder des berühmt-berüchtigten Volkstribunen Publius Clodius, eines direkten Nachfahren des Appius, verteidigt. Clodius besaß an der 14. Meile der Via Appia in der Nähe von Bovillae ein Landgut. Von hier war er am 18. Januar des Jahres 52 v. Chr. in Richtung Rom unterwegs, als er auf seinen politischen Gegenspieler Milo und dessen Männer traf, die in entgegengesetzter Richtung auf dem Weg nach Lanuvium waren. Beide Männer kandidierten in diesem Jahr um ein Prätorenamt und während Clodius in seinen politischen Ambitionen von Caesar unterstützt wurde, genoss Milo den Rückhalt von Pompeius und Cicero. Beim zufälligen Aufeinandertreffen beider Männer auf der Via Appia an diesem Wintertag provozierten die Begleiter eine Schlägerei; Clodius wurde dabei im Kampf verletzt und getötet. Cicero übernahm später Milos Verteidigung vor Gericht und verglich dabei die Taten seiner Zeitgenossen mit denen der maiores, der Vorfahren. Hinsichtlich der gemeinsamen Abstammung des Clodius und des Erbauers der Via Appia bemerkt er : So als wenn der große Appius Claudius Caecus die Straße nicht eröffnet habe, damit sie dem Volke nütz(t)e, sondern damit sich seine Nachfahren auf ihr wie Halunken benehmen könn(t)en.19
In der Rede Pro Caelio, die sich gegen Clodia, die Schwester des Clodius, richtet, greift Cicero erneut auf die Person des Appius zurück. Er schlüpft sogar in die Rolle dieses berühmten Vorfahren, um desto nachdrücklicher dessen vermeintlich unwürdige Nachfahrin anzuklagen: Angesichts des Ansehens, der Würde und der Errungenschaften des Appius solle Clodia sich ihrer Lebensweise und ihres Umgangs schämen, so Cicero. Cicero zählt in der Rolle des Appius dessen drei große Leistungen für Rom auf: seine Rede gegen Pyrrhus, den Bau der Wasserleitung und schließlich die Via Appia. Cicero lässt den Appius seine missratene Nachfahrin fragen:
17 Vgl. MacBain 1980, S. 361–363; Humm 1996, S. 693–746; Fögen 2003, S. 150–157. 18 Cic. Tusc. 5,38; Cic. Cat. 16. 19 Cic. Mil.17.
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Hab’ ich etwa die Via Appia gebaut, damit Du auf ihr auf und ab fährst in Begleitung von Ehemännern anderer Frauen?20
Die Aufstellung einer Statue des Appius Claudius unter den summi viri auf dem Augustusforum zeigt, welche Bedeutung Appius im kollektiven Gedächtnis des römischen Volkes besaß. In diesem Sinne war zweifellos auch das dazugehörende Elogium (CIL 11, 1827) intendiert: Appius Claudius, Sohn des Gaius, Caecus, Zensor, zweimal Konsul, Diktator, dreimal Interrex, zweimal Prätor, zweimal kurulischer Ädil, Quästor, dreimal Militärtribun. Er eroberte zahlreiche Städte der Samniten. Er besiegte das Heer der Sabiner und Etrusker. Er verbot, dass man Frieden schlösse mit König Pyrrhus. Während seiner Zensur pflasterte er die Via Appia und führte eine Wasserleitung in die Stadt. Er erbaute den Tempel der Bellona.
Appius wird hier als siegreicher Feldherr, weiser Politiker und Erbauer der Via Appia, der Aqua Appia und des Bellonatempels geehrt. Er wird instrumentalisiert als Prototyp des Augustus selbst, als Freund des Volkes mit seinem ehrgeizigen Bauprogramm, welches Straßen und Aquädukte umfasste. Livius, als Hofhistoriograph des Augustus – immer bemüht, Augustus als Kulmination der großen Männer der römischen Geschichte erscheinen zu lassen –, hebt unter den Taten des Appius vor allem die Straße und die Wasserleitung hervor (9,29,6): In dieses Jahr (313/12 v. Chr.) fiel auch die berühmte Zensur des Appius Claudius und des C. Plautius. Doch bei der Nachwelt blieb der Name des Appius besser in Erinnerung, weil er eine Straße mit fester Decke anlegte und eine Wasserleitung in die Stadt führte und die Arbeiten allein vollendete.
Mit der Via Appia hatte Appius Claudius ein Monument geschaffen, das den Römern späterer Zeiten immer als ein Zeichen der Größe Roms und dessen kultureller Errungenschaften galt. Statius preist die Straße in seinen Silvae als »Königin der langen Straßen« (Appia longarum regina viarum 4,3,40–41), »großartige Appia« (ingens Appia 5,1,222–224), »altehrwürdige Appia« (annosa Appia 4,3,163) und »berühmte Appia« (nobilis Appia 4,4,2). Martial adressiert sie »als erste der Straßen im ausonischen Land« (d. h. Mittel- und Süditaliens, des Stammgebietes der Ausonier).21
20 Cic. Cael. 34. 21 Mart. 9,101.
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IV.
Auf den Spuren des Horaz – Die Wiederentdeckung des klassischen Reiseerlebnisses
Wir überspringen nun rund 1800 Jahre und begeben uns in die Zeit Johann Joachim Winckelmanns, der mit seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) einen Grundstein in der Geschichte der Italienwahrnehmung setzte. Mit dieser epochemachenden Monographie begann nicht nur die Wiederentdeckung der griechisch-römischen Antike, hier lagen die Anfänge für historisches Verstehen von Kunst und Kultur, die Anfänge der modernen Kunstgeschichtsschreibung. Zugleich trat fortan das Schöne als neues ästhetisches Ideal neben die traditionellen religiösen und gelehrten Werte.22 Diese Zeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die kunstgeschichtlich auch den Beginn des Klassizismus markiert, zeichnet sich in der deutschen Gelehrtenwelt besonders durch eine Italiensehnsucht und eine Sehnsucht nach den klassischen Altertümern aus. In Form einer Bildungsreise machten sie sich auf, die Stätten und Landschaften des antiken Italien und der Magna Graecia persönlich in Augenschein zu nehmen. Ihre Wege führen zu bekannten Kunstwerken und Naturwundern, zu Originalschauplätzen antiker Literatur und ›großer Geschichte‹, zu Denk- und Grabmälern berühmter Persönlichkeiten. Daraus entstandene Reiseberichte formten die Rezeption späterer Reisender. Bei ihnen wurden die Ruinen der Via Appia zum Sinnbild einer Stimmung, welche die Sehnsucht nach der Natur mit einem Gefühl der Vergänglichkeit verschmolz. Die italienische Wirklichkeit mit ihren sozialen, ökonomischen und politischen Problemen wurde von ihnen nur am Rande wahrgenommen. In Goethes klassischem Werk Die italienische Reise (1786) vereinigte sich die Liebe zur Natur mit jener zur antiken Kunst. Das Ideal seiner Bildungsreise dient nicht allein der Anschauung historischer und künstlerischer Sehenswürdigkeiten, sondern vor allem der Selbstbildung und Kultivierung der Persönlichkeit des Reisenden. Goethe schrieb auf seiner italienischen Reise am 11. November 1786: Heut’ hab’ ich die Nymphe Egeria besucht, dann die Rennbahn des Caracalla, die zerstörten Grabstätten längs der Via Appia und das Grab der Metella, das einem erst einen Begriff von solidem Mauerwerk gibt. Diese Menschen arbeiteten für die Ewigkeit, es war auf alles kalkuliert, nur auf den Unsinn der Verwüster nicht, dem alles weichen mußte.23
Der Schriftsteller und Historiker Ferdinand Gregorovius, wohl einer der besten Italienkenner aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, beschrieb in seinem Reisebericht Wanderjahre in Italien den Blick von den Lepinischen Bergen auf die 22 Haupt 2014. 23 Goethe 1981, S. 135.
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südlich vor ihm liegende Sumpf- und Küstenlandschaft der pontinischen Sümpfe: Vor mir lag das strahlende Schauspiel der Maritima, das weite pontinische Sumpfland, ein in sanftesten Farben glühender Teppich, das von der Sonne vergoldete Meer, die fernen Ponza-Inseln in seiner strahlenden Flut, das Kap der Circe, der Turm Astura, die Linea Pia, das Kastell Sermonta zu unseren Füßen. Der Anblick dieses Gemäldes, eines der schönsten, welches Italien überhaupt besitzt, war (…) so überwältigend, dass ich dafür weder damals ein Wort fand, noch heute eines habe.24
An anderer Stelle schwärmt er : Ich habe die meisten Gefilde Italiens durchzogen, ich habe die berühmten Fluren von Agrigent und Syrakus durchwandert, aber trotz aller Farbenpracht jener südlichen Zone muß ich doch bekennen, daß mir die Campagna von Rom und Latium den mächtigsten Eindruck macht. (…) Sie liegt da wie ein erhabenes Theater der Geschichte, eine große Bühne der Welt. Kein Wort des Poeten, kein Pinselstrich des Malers, so viele Bilder davon gemalt sind, kann die verklärte Heldenschönheit Latiums auch nur andeutend denjenigen ahnen lassen, der sie nicht selber sah und empfand.25
Im Jahre 37 v. Chr. war Horaz mit einigen Freunden auf der Via Appia von Rom zu ihrem Endpunkt in Brundisium gereist – eine Strecke von 560 Kilometern, die der Gruppe einige teils heitere, teils mühsame und beschwerliche Tage bescherte. Unterwegs rasteten sie entweder in Herbergen oder in den Landgütern ihrer Freunde. Horaz beschreibt diese Reise in Versen in seinem sogenannten Iter Brundisinum. 1800 Jahre später war dann jene launige Reisebeschreibung des Horaz Pilgerführer für die Bildungsreisenden des Nordens. In andächtiger Versenkung reiste man entlang der Via Appia auf den Spuren des Dichters: »Auf der Via Appia einherzuziehn, ohne Schritt für Schritt im Geiste die lauter Leben und Frohsinn atmende Reise durchzumachen, die vor achtzehnhundert Jahren im Gefolge Maecens von Rom nach Brundisium tat« sei wie nach Vaucluse in der Provence zu pilgern, ohne den dortigen Manen zu opfern, schrieb gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Dichter Friedrich von Matthisson über seine Fahrt von Rom nach Capua.26 Auf seiner Reise war ihm das Iter Brundisinum ein unzertrennlicher Begleiter und er verglich seine Erlebnisse mit denjenigen des Horaz an den berühmten Wegstationen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb der Literatur- und Kunstschriftsteller Adolf Stahr in seinem Werk Ein Jahr in Italien:
24 Gregorovius 1997, S. 382. 25 Gregorovius 1997, S. 373. 26 Matthisson 1796, S. 68–69.
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Es macht wohl schwerlich ein klassisch Gebildeter die Reise auf der Königin der Straßen, ohne an des römischen Dichters humoristische Reisebeschreibung seines Ausfluges nach Brundisium erinnert zu werden.27
Auch dem dichtenden Wanderer Johann Gottfried Seume (1763–1810), der im Jahre 1802/3 von seinem Heimatort, dem sächsischen Grimma, bis nach Syrakus auf Sizilien und zurück wanderte, diente die Wegbeschreibung des Horaz auf der Strecke zwischen Rom und Terracina. Seume schrieb in seinen Reiseaufzeichnungen zu Albano: Von Albano ging ich den andern Morgen über eben dieses Aricia, dessen Horaz in seiner Reiseepistel von Rom nach Brindisi gedenkt, nach Gensano und Veletri und immer in die Pontinen hinein.28
Sein Erlebnisbericht Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 beschrieb ein bis dahin unbekanntes Reiseerlebnis subjektiv, eigenwillig, politisch, kritisch, alltagsnah, und bildete damit einen eindringlichen Kontrast zu Goethes Italienischer Reise: Wo Goethe Hof gehalten hatte, suchte Seume mit spartanischem Gepäck eine billige Unterkunft. Als Fußgänger lernte Seume ein zerrüttetes Land kennen und die ernüchternde Gegenwart Italiens verdrängte bei ihm oft die Bewunderung für die Zeugen der großen Vergangenheit. Die nächste Raststation auf der Via Appia nach Arricia war Tres Tabernae im Gebiet der heutigen Stadt Cisterna di Latina. Der Ort wird unter anderem in zahlreichen Briefen Ciceros und in der Apostelgeschichte (Apg 28,14–15) erwähnt. Unser Reisender aus dem sächsischen Grimma folgte weiter den Spuren des Horaz: In Cisterne (beim römischen Tres Tabernae) wollte ich übernachten, aber das Wirtshaus hatte die schlechteste Miene von der Welt. Übrigens fiel mir ein, dass dies vermutlich der Ort war, wo Horaz so sehr von den Flöhen gebissen wurde und noch andere traurige Abenteuer hatte; dass auch der Apostel Paulus hier geschlafen haben soll, ehe man ihn nach Rom in die Kerker des Kapitols einsperrte. Das war nun lauter böses Omen. Wir beschlossen also, zumal da es noch am Tage war, noch eine Station weiter zu wandeln, bis Torre di tre Ponti.29
Als nächstes kam man nach Forum Appii, das ebenfalls im Namen an den berühmten Erbauer erinnerte. Dies war die nächste Wegstation auf Horaz’ Reise nach Brundisium. Forum Appii lag an der Stelle, wo die pontinischen Sümpfe begannen, die bis ins 20. Jahrhundert ein unwegsames malariaverseuchtes Gebiet waren, und daher große Anforderungen an die römischen Ingenieure stellten. Über 19 römische Meilen führte die Via Appia teils über Substruktionen 27 Stahr 1874, Bd. 2, S. 404. 28 Seume 1850, S. 48. 29 Seume 1850, S. 48–49.
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aus Holzpfählen durch morastiges Gelände. Appius hatte ursprünglich geplant, die Sümpfe trockenzulegen, was jedoch misslang und in der Folgezeit häufige Reparaturen an der Straße und ihren Brücken erforderlich machte. Im Jahre 162 v. Chr. wurde als Alternative ein Kanal parallel zur Via Appia gebaut, auf dem Reisende die Strecke bequem mit Lastbooten zurücklegen konnten, anstatt zu Fuß zu reisen. Die Römer schienen den Kanal zu bevorzugen. Horaz beschreibt im Detail diesen Teilabschnitt von Forum Appii bis Terracina. Die Freunde verlassen hier die Via Appia und steigen in eine Fähre um, die sie über Nacht auf dem Treidelkanal nach Terracina bringen soll.30 Der Düsseldorfer Georg Arnold Jacobi dichtete am Ende des 18. Jahrhunderts zum Teilstück von Forum Appia bis Terracina in Anlehnung an die berühmten Verse des Horaz: Noch strömt das Wasser dahin, und trägt den schwankenden Kahn, noch singen zahllose Heere von Fröschen den müden Wanderer hier in den Schlaf; noch muss er mit den beschwerlichen Mücken kämpfen und noch erschallen die Schäferlieder einsamer Schiffer.31
Am Beispiel der Via Appia spiegelt sich eine Wahrnehmung, die in der Folge als charakteristisch für die Rezeption der Antike in dieser Zeit gelten wird. Der Blick ist vor allem auf den Gegensatz zwischen dem tru¨ b-grauen Norden und dem glanzvoll-lebendigen Su¨ den gerichtet. Seume unterscheidet sich hier von seinen Zeitgenossen durch seinen nüchternen Blick auf den italienischen Alltag und die Suche nach den Ursachen sozialen Elends. Im Gegensatz zu den deutschen Italienbegeisterten des späten 18. Jahrhunderts wie Goethe, Heinse, von Matthisson, Stahr und Jacobi und im 19. Jahrhundert Seume und Gregorovius, beklagten andere Romreisende seit dem Mittelalter die Verödung des Landstriches und den Kontrast des gegenwärtigen Zustands des Verfalls mit der vermeintlichen Größe der Antike.32 Der urbs aeterna wurde die Vergänglichkeit gegenübergestellt. Der Comte de Chateaubriand, französischer Schriftsteller, Politiker und Diplomat, im Jahre 1803 als Botschafter in Rom tätig, schrieb an seinen Freund, Monsieur de Fontanes: Denken Sie sich so etwas, wie die Zerstörung von Tyrus und von Babylon, wovon die Bibel redet; ein Schweigen und eine Einsamkeit, so unermesslich, als das Geräusch und der Lärm der Menschen, die sich einst auf diesem Boden drängten. (…) Man sieht hier uns da einige Überreste römischer Straßen, an Orten, wo kein Mensch mehr wandet; (…) Kaum erblickt man einige Bäume, aber überall Trümmer von Wasserleitungen und Gräbern, welche die einheimischen Wälder und Pflanzen eines Bodens zu sein scheinen, der aus dem Staube der Toten und dem Schutte des Reiches besteht. (…) Kurz, man möchte sagen, kein Volk habe es gewagt, den Weltherrschern auf ihrem heimat30 Hor. sat. 1,5,11–12. 31 Jacobi 1796–1797, Bd. 1, S. 242. 32 Vgl. Rehm 1960.
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lichen Boden nachzufolgen, und man sehe diese Gefilde noch gerade so, wie die Pflugschar des Cincinnatus, oder der letzte römische Pflug sie zurück gelassen hat.33
Ein ähnliches Bild des Verfalls und der Verödung bot sich Charles Dickens, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine Eindrücke auf einer Wanderung entlang der Via Appia beschrieb: Wir wanderten auf der appischen Straße hinaus, und gingen dann meilenweit unter verfallenen Gräbern und zertrümmerten Mauern hindurch, unter denen hier und da ein verlassenes, unbewohntes Haus stand, an dem Circus des Romulus vorbei, wo die Bahn der Wagen und die Plätze der Richter, der Teilnehmer an dem Rennen und der Zuschauer noch so deutlich zu sehen sind wie in der alten Zeit; an dem Grabe der Cecilia Metella vorüber, an allen Einfriedungen, Hecken, Zäunen, Mauern und Gräbern vorüber hinaus auf die freie Campagna, wo auf dieser Seite von Rom nichts zu sehen ist als Ruinen. Ausgenommen da, wo die entfernten Apenninen links die Aussicht begrenzen, ist der ganze weite Prospect ein einziges Feld von Trümmern. Verfallene Wasserleitungen, von denen noch höchst malerische und schöne Bogengruppen vorhanden sind; zertrümmerte Tempel, zertrümmerte Gräber. Eine Wüste des Verfalls, die über allen Ausdruck düster und öde ist, während jeder Stein, der auf dem Boden umhergestreut liegt, seine eigene Geschichte hat.34
Wenige Jahre zuvor, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, war auch der Hallenser Professor Ludwig Gottfried Blanc nach Rom gereist und hatte das Erlebnis seines Aufenthalts an der Via Appia folgendermaßen beschrieben: Außerhalb der Thore, besonders zu beiden Seiten der Appischen Straßen, zieht sich eine Reihe Trümmer von Grabmählern in weiter Ferne hin, unter welchen man besonders das Grabmal der Caecilia Metella, ein zirkelrundes sehr festes Gebäude, und das Grabmal der Servilischen Familie bemerkt. (…) Überhaupt ist die ganze Campagna di Roma meilenweit mit Trümmern von Tempeln und Denkmälern aller Art bedeckt, welche jetzt einen furchtbaren Contrast mit der menschenleeren Öde eben dieser Gegenden bilden. (…) Die Gegend um Rom, die Campagna di Roma, einst mit blühenden Städten und Dörfern, mit einer zahlreichen Bevölkerung und vielen Denkmälern der Kunst bedeckt, ist jetzt eine beinahe ganz menschenleere verpestete Einöde, ohne Bäume und beinahe ganz ohne Anbau. (…) Niemand vermag zu sagen, ob unwiderstehliche Veränderungen in der Natur oder die Nachlässigkeiten der Menschen diesen furchtbaren Zustand herbeigeführt haben.35
Dieses Bild der Vergänglichkeit einstiger Größe, das die letztgenannten Reisenden von der Via Appia und Latium zeichnen, spiegelt die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider. Italien war nach den Napoleonischen Kriegen verarmt und niedergedrückt von Fremdherrschaft, territorialer Zer33 Vicomte de Chateaubriand, 1829, S. 14–15. 34 Dickens 1846, S. 201. 35 Blanc 1840, S. 378.
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stückelung und Absolutismus. Die antike und heutige Millionenstadt Rom zählte zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur gut 100.000 Einwohner.
V.
2300 Jahre unter Pinien
Wie wir gesehen haben, ergeben sich für die beiden Epochen der Untersuchung zwei völlig voneinander verschiedene Deutungs- und Betrachtungsweisen dieser Straße. In spätrepublikanischer Zeit im 1. Jahrhundert v. Chr. war die Via Appia nicht nur Schauplatz bedeutender Begebenheiten, sie war auch sichtbares Zeugnis der Leistungen römischer Technik, römischer Verwaltung und römischer Wirtschaftskraft. Die Römer hatten die Bedeutung des Straßenbaus für die Aufrechterhaltung und Ausdehnung ihrer Macht im antiken Mittelmeerraum erkannt, und so wurde der Bau von Reichsstraßen zum außenpolitischen Instrument und zur Begleiterscheinung der Expansion. Rational, gut organisiert und weitgespannt, verband dieses Netzwerk alle Teile des sich ausdehnenden Reiches und ermöglichte es den Römern, die neueroberten Gebiete militärisch zu kontrollieren und effizient zu verwalten. Die Straßen beförderten auch eine gewisse Integration peripherer Regionen, brachten sie doch römische Verwaltung und Lebensart in die Provinzen, sowie andererseits ausländische Waren, Steuereinnahmen, Gebräuche und Kulte nach Rom. Die Geschichte der Konstruktion und Instandhaltung römischer Straßen machte sowohl Reisenden als auch anliegenden Gemeinden die Effizienz und Komplexität der politischen Organisation des römischen Reiches deutlich. In der Epoche der frühen Kaiserzeit galt die Via Appia schließlich mehr als jede andere Straße als altrömische Institution, die von vorausschauenden weisen Vorfahren geschaffen worden war. Sie stand als Metapher für die Überwindung der Natur, für die militärische Schlagkraft und die kulturelle Vorherrschaft Roms. Dadurch geriet sie zu einem Monument der Unvergänglichkeit römischer Herrschaft und Symbol altrömischer Tugenden mit Vorbildcharakter. Die Straße und ihr Bauherr Appius Claudius Caecus waren zur Inkarnation römischer Ideale geworden. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts war die Via Appia dann zum zentralen Gegenstand empfindsamer ›Antikenschwärmerei‹ geworden – zu einem Denkmal römischer Zivilisation, das sich durch Abschreiten der Spuren antiker Autoren selbst erfahren ließ. Für die Bildungsreisenden der klassizistischen Epoche war die Via Appia Sinnbild der landschaftlichen Reize der italienischen Campagna, Metapher für die einst glorreiche Vergangenheit Roms und Kontrast vergangener Größe mit zeitgenössischer Verarmung und Verwahrlosung des Landes. Jeder Reisende entwarf zudem eigene Bilder der italienischen Campagna und der Via Appia, die auch mit den antiken Texten verglichen und ihnen zum Teil kontrovers gegenübergestellt wurden. Während die
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meisten Besucher die Ruinen der Via Appia als Zeichen der Vergänglichkeit sahen und den Gegensatz der vergangenen Größe Roms und des desolaten Zustands des zeitgenössischen Italiens herausstellten, werden vor allem von deutschen Reisenden – von Goethe, Matthisson, Stahr und Gregorovius – die Schönheit des Landstrichs in hellen und üppigen Farben gemalt. Dieser Beitrag kann nur als Ausblick darauf dienen, was eine umfassendere Untersuchung zur Bedeutung der Via Appia an Erkenntnissen zur Rezeptionsgeschichte der Antike beitragen könnte. Man denke vor allem an die zahlreichen Reparaturen und Verlängerungen durch Kaiser wie Trajan – weithin wurden die Baumaßnahmen durch Inschriften auf Meilensteinen und Torbögen angepriesen und verewigten so die Namen der Verantwortlichen für die Zeitgenossen und die Nachwelt. Wir besitzen auch byzantinische Zeugnisse zur Via Appia, wie etwa den Bericht des Prokop, der 900 Jahre nach ihrem Bau voll Bewunderung von ihrer Qualität und ihrem Erhaltungszustand spricht: Diese Straße verdient die höchste Bewunderung. (…) Obschon lange Zeit Tag für Tag darüber viele Fuhrwerke fuhren und alle möglichen Lebewesen auf ihnen gingen, haben sich weder die Steine aus ihrer Verfugung irgendwie gelöst noch ist einer von ihnen zerbrochen oder kleiner geworden; nicht einmal an Glanz büßten sie ein.36
Auch eine Studie der Quellen zur Via Appia in Zeiten der Pilger und Päpste des Mittelalters verspricht interessante Erkenntnisse: Auf den Spuren des Apostels Paulus (Apg 28,13–16) gelangte man auf ihr nunmehr zu den bedeutendsten Gebets- und Wallfahrtsstätten des Christentums. Die Gräber der Märtyrer an der zweiten und dritten Meile der Via Appia entwickelten sich zu bedeutenden Kultzentren, wodurch die Straße selbst zu einem Ort der Besinnung und zu einer Quelle christlicher Spiritualität wurde. Im Mittelalter verfiel die Via Appia zusehends: Mangelhafte Instandhaltung, Versumpfung sowie vor allem ihre Verwendung als Steinbruch riefen die Päpste der Renaissance auf den Plan, die einen Appell zur Bewahrung der antiken Kunstschätze ergehen ließen.37 Auch im 20. Jahrhundert erregt die Via Appia noch die Gemüter. Die historische Forschung des 20. Jahrhunderts hat sich grundlegend von der Richtung des Klassizismus abgewandt. Man ist sich einig, dass eine ästhetische Überhöhung der antiken Kunst und Kultur einer historisch ausgewogenen Bewertung im Wege steht und zu unhistorischen Beurteilungen und romantisierenden Übertragungen von modernen Konzepten und Erwartungen auf die antiken Zeugnisse führt. Eine auf wissenschaftlichen Kriterien beruhende Erforschung der archäologischen Zeugnisse stand im Vordergrund. Schon gegen Ende des 36 Procop. BG 1,14. 37 Fiorani 1969, S. 121–122; Pisani Sartorio 2003, S. 29–31.
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19. Jahrhunderts wurde ein archäologischer Park angedacht, dessen Verwirklichung sich jedoch aufgrund von Uneinigkeiten auf der politischen Bühne und Kompetenzgerangel zwischen städtischen, regionalen und staatlichen Interessen um rund 100 Jahre verzögerte. Im Jahre 1988 wurde schließlich der Parco regionale dell’Appia Antica gegründet, in dem deren archäologische, landschaftliche und naturkundliche Schätze aufs erste einen angemessenen konservatorischen Rahmen gefunden haben. So wandelt sich die Bewertung der Via Appia über die Jahrhunderte und Jahrtausende seit ihrer Erbauung. Die Straße hat immer fasziniert und ihre Rezeption dient uns als Spiegel des Zeitgeists. Die Via Appia wird durch die Zeiten als Meilenstein der Kunst des römischen Straßenbaues gefeiert und als herausragende Kulturleistung der Römer den zeitgenössischen Zuständen gegenübergestellt.
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Kriege für die Reisefreiheit der anderen? Polybios und ein Kernaspekt der römischen Reichsidee
I.
Was macht ein ›Reich‹ aus? Skizzen einer Forschungsdebatte
Was ist eigentlich ein ›Reich‹? Was kennzeichnet diese politische Form, diesen so typischen Anführungszeichen-Begriff der Alten Geschichte, oft gebraucht und noch öfter in Frage gestellt? Welche Rolle kommt im Rahmen dieser Reflexion dem Vorbild fast aller ›Reiche‹, dem imperium Romanum zu, und wie gestaltete sich dessen Weg von einem italischen Stadtstaat mit überschaubarem Territorium hin zu einem planvoll organisierten ›Reich‹? Dieser Frage hat sich Ernst Baltrusch wiederholt angenommen, und man kann wohl konstatieren, dass dieses Problem zu den stetigen Grundfragen seines Forschens gehört.1 Was die Möglichkeit betrifft, das ›Reich‹ als historische Interpretationsschablone in verschiedensten Kontexten zu nutzen, so stand dabei für Baltrusch immer weniger im Mittelpunkt, mittels welcher allgemeineren theoretischen Kategorien sich ein letztlich ahistorisches Modell des ›Reiches‹ oder des ›Imperiums‹ konstruieren lässt, sondern vielmehr, wie sich das ›Reich‹ als Chiffre zur Beschreibung historischer Verhältnisse aus seiner jeweiligen Zeit heraus begreifen lässt. In dem Aufsatz von 2011,2 dessen als Titel genommenes Zitat aus Livius (»bella gerere pro libertate aliorum«, 33,33,5) auch dem Titel dieses Beitrags als Inspiration diente, näherte sich Baltrusch dieser Frage, indem er sich der ›imperialen Mission‹ Roms, wie sie sich im 2. Jahrhundert v. Chr. dargestellt habe, annahm, nicht jedoch aus einer genuin römischen Perspektive (für die uns für diese Zeit ohnehin zu großen Teilen die direkten Zeugnisse fehlen), sondern aus der Sicht derjenigen, die ein vielleicht differenzierteres, vielleicht ›gerechteres‹, auf jeden Fall aber von möglichen Vorgaben des römischen Zentrums abweichendes Bild vom Wesen des römischen ›Reiches‹ gehabt haben dürften: diejenigen, die es von außen sahen, sei es als neutrale Beobachter oder als Föderierte und potentielle Untertanen. Wir »können diejenigen Texte auswerten, die 1 Etwa Baltrusch 2002; 2008, S. 151–176; 2011; 2012, S. 92–102. 2 Baltrusch 2011.
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über jeden Verdacht, dass sie von Rom beeinflusst sein könnten und darum positiv oder negativ urteilen, erhaben sind«, so Baltrusch, und die Außenperspektive mag, so die Prämisse, die wohl geeignetere Folie bilden, vor der sich die Konturen des römischen ›Reiches‹ getreuer abzeichnen könnten. Der Beitrag war die Replik auf einen zuvor von Frank Bernstein unter dem Titel »Das Imperium Romanum – ein ›Reich‹?« veröffentlichten Aufsatz.3 Darin hatte Bernstein, unter Bezugnahme auf vier für die Klassifikation als ›Reich‹ ausschlaggebende Merkmale, argumentiert, von einem römischen ›Reich‹ könne für die Zeit der Republik keine Rede sein. Von einem solchen könne erst unter den wesentlich strafferen, bürokratisch zentralisierteren Bedingungen der Kaiserzeit gesprochen werden; mithin habe Augustus das imperium Romanum erst zum ›Reich‹ umgestaltet.4 Dieses Urteil Bernsteins lieferte den Anreiz zur weiteren Reflexion des ›Reichs‹-Begriffs. Denn ›Reich‹ war und ist ja, wie Baltrusch feststellte, »kein antik abzuleitender Begriff«, und daher »dient das Wort ja ohnehin nur einer Vergegenwärtigung antiker Verhältnisse, nicht einer exakten, nach Kriterien überprüfbaren Definition«.5 Wie der Untertitel des damaligen Beitrages schon deutlich macht, besteht für Baltrusch das Wesen des römischen Reiches (und in Fortführung vielleicht jeden Reiches) weniger bzw. nicht nur in formalen Kriterien, den Nuancen und Stufen der Abhängigkeiten, den Modi der Verwaltung oder der ›Gewalt‹ der Vormacht gegenüber den Untertanen, sondern auch und zunächst im (selbstgewählten oder von außen zugewiesenen) Auftrag der Herrschaft, einer ›imperialen Mission‹, ein Begriff, der der jüngeren politikwissenschaftlichen Imperienforschung entnommen ist.6 Was Baltrusch dann anschließend anhand einer Analyse des 1. Makkabäerbuches als die weitestgehend von römischen Einflüssen freie Sicht der Peripherie auf das Wesen der römischen Macht ausmachte – allen voran Verlässlichkeit, Bündnistreue, »stark und wild, entschlossen und zuverlässig, dem Schwächeren gegen den Mächtigen helfend«7 –, das muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Worauf es mir mit diesem recht langen Vorlauf einzig ankam, war, für eine Frage und Feststellung zu sensibilisieren, die für die Beurteilung nicht allein des römischen ›Reiches‹, sondern letztlich jeder Herrschaft zentral ist. In Baltruschs Worten:
3 Bernstein 2010. 4 Bernstein 2010, S. 55–58, ein Urteil, zu dem etwa auch (wenngleich aufgrund gänzlich anderer Überlegungen) Richardson 2008, S. 116 kommt: »The creation of the imperium Romanum […] was to be the achievement of the empire of the emperors.« Zur Frage der Entstehung eines römischen Reichsgedankens vgl. auch Kienast 1982 (mit der früheren Literatur). 5 Baltrusch 2011, S. 44. 6 Siehe Münkler 2006, S. 132–150. 7 Baltrusch 2011, S. 51.
Kriege für die Reisefreiheit der anderen?
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Das Interesse Roms für seine »Untertanen« lag allein schon in dem Wunsch begründet, mit möglichst geringem Aufwand Herrschaft auszuüben, und dafür benötigte Rom die Zustimmung dieser Untertanen, und diese Zustimmung erhielt man nicht »gratis«. Genau darum soll es im folgenden in erster Linie gehen. Zugegeben ein wenig plakativ möchte ich eine »imperiale Mission« Roms zur Diskussion stellen.8
Wohl ebenfalls ein wenig plakativ möchte ich im nun Folgenden einen anderen Aspekt der römischen ›imperialen Mission‹ behandeln, der zwar im Makkabäerbuch keinen Widerhall fand, jedoch in anderen Quellen (sowohl originär römischen als auch in der Außenwahrnehmung) wie auch in modernen Bewertungen zu den zentralen Elementen der römischen Reichsidee und deren Wahrnehmung gehörte. Ich möchte dies als das Problem der ›Reisefreiheit‹ benennen. Die Frage lautet also: Führte Rom im Zuge seiner ›Mission‹ auch ›Kriege für die Reise-Freiheit der anderen‹ bzw. konnte die Leistung des imperium Romanum von Zeitgenossen so begriffen werden? Dabei wird vor allem das Zeugnis des Polybios von besonderer Bedeutung sein.
II.
Römischer Frieden und die ›Reisefreiheit‹: ein Blick in alte und moderne Zeugnisse
Bevor jedoch Polybios in den Mittelpunkt rückt, müssen zunächst andere Stimmen gehört werden. Die sogenannte Romrede (EQr U¾lgm) des Aelius Aristides, ein enthusiastisches Enkomion eines griechischen Rhetors und Philosophen auf die Größe und Einzigartigkeit römischer Macht aus dem Jahr 143 n. Chr., vorgetragen am Hof des Antoninus Pius,9 beginnt mit der Evokation der vielfältigen Gefahren, die eine lange Reise, zu Lande und zu Wasser, in der Antike stets bereithielt. Deshalb gehöre das Stoßgebet, wie Aristides bemerkt, zur Fernreise untrennbar mit dazu: Wenn die Menschen auf dem Meer oder auf dem Lande reisen (to?r pke¼ousi ja· bdoipoqoOsim), so pflegt jeder zu geloben, was ihm gerade in den Sinn kommt. Ein Dichter sagte sogar einmal scherzhaft, er habe »Weihrauchkörner mit vergoldeten Hörnern« gelobt. Wir aber, ihr Männer, gelobten auf dem Weg hierher zu Lande und auf dem Meer (paq± tµm bd¹m tµm 1mtaOha ja· t¹m pkoOm) nichts, was Mangel an Bildung und Wohlklang verriete und mit unserer Kunst nicht vereinbar wäre, sondern wir wollten, wenn wir wohlbehalten ankämen (eQ syhe¸lgm), die Stadt mit einer öffentlichen Rede begrüßen. (1, Übers. R. Klein)
Was in Aristides’ Bemerkung sicherlich mitgedacht ist, das sind die zahlreichen Gefahren, die dem Reisenden in der Antike (und auch darüber hinaus) immer 8 Baltrusch 2011, S. 44. 9 Immer noch grundlegend dazu Bleicken 1998. Zur Datierungsfrage vgl. Klein 1981.
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begegnen konnten: Stürme, Räuber, Piraten, Gefangennahme, Versklavung.10 Dass er jedoch seine Lobrede auf Rom gerade mit dem Hinweis auf die erfolgte (und ja offensichtlich) erfolgreiche Reise »zu Lande und auf dem Meer« beginnen lässt, ist wohl kein Zufall, sondern eröffnet gleich zu Beginn eine Art Spannungsfeld zwischen den durch Stoßgebete begleiteten Gefahren, die üblicherweise auf Reisen lauern, und der »wohlbehaltenen« Ankunft in Rom. Etliche Passagen weiter vertieft er dieses Thema noch einmal und formuliert dabei ein regelrechtes Hohelied antiker ›Reisefreiheit‹: Ja, das von jedem gebrauchte Wort, dass die Erde die Mutter aller und das für alle gemeinsame Vaterland sei, wurde durch euch aufs beste bewiesen. Jetzt ist es sowohl dem Griechen wie dem Barbaren möglich, mit oder ohne Habe ohne Schwierigkeit zu reisen, wohin er will (bad¸feim fpoi bo¼ketai Nôd¸yr), gerade als ob er von einer Heimatstadt in eine andere zöge. Es schrecken ihn weder die »Kilikischen Tore« noch die schmale und sandige Durchgangsstraße durch das Land der Araber nach Ägypten, nicht unwegsame Gebirge, nicht unermesslich große Flüsse und nicht wilde Barbarenstämme, sondern es bedeutet Sicherheit genug, ein Römer zu sein oder vielmehr einer von denen, die unter eurer Herrschaft leben (1r !sv²keiam 1naqje? Uyla?ym eWmai, l÷kkom d³ 6ma t_m rv’ rl?m). (100, Übers. R. Klein)
Deutlich wird hier ein Zustand unter römischer Herrschaft gepriesen, der die »Schrecken« (vºbom paq´wousim) des Reisens in früheren Zeiten wie einen Schatten aus ferner, unzivilisierter Vergangenheit erscheinen lässt. Explizit wird die Möglichkeit, gefahrlos und sicher durch die Länder des Mittelmeerraumes reisen zu können, als ein Zustand der Gegenwart (mOm coOm 5nesti) gepriesen, doch ist dieses Jetzt kaum im eigentlichen Sinne historisch zu werten. Es meint nicht allein das Jahr 143 n. Chr. noch das Jahrzehnt oder die Herrschaft eines spezifischen Kaisers im engeren Sinne, sondern zugleich vage und doch konkret das ahistorische Jetzt unter römischer Herrschaft, sozusagen kein historisches Datum, sondern eine weltgeschichtliche Einheit. Enkomiastische Loblieder müssen dabei nicht immer zwangsläufig ohne Grundierung in der Realität sein, und Anne Kolb etwa führt den zitierten Passus bei Aristides auf die bekannte Durchdringung des Raumes durch das römische Straßensystem zurück, die derartige Bekenntnisse ermöglicht und befördert habe.11 Und in der Tat führt Aristides sodann auch noch die technischen und infrastrukturellen Errungenschaften Roms an, die »Vermessung« des gesamten Erdkreises, den Brücken- und Straßenbau, durchstoßene Bergkämme, die zahlreichen Poststationen und anderes mehr : 10 Zu Reisen in der Antike siehe Casson 1974 und Chevallier 1988. Zu den Gefahren, die den Reisenden erwarten konnten, siehe Chevallier 1988, S. 53–56 (Landreisen), S. 114–119 (Seereisen). 11 Kolb 2012, S. 71.
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Sämtliche Tore des Erdkreises wurden von euch aufgestoßen und alle erhielten die Gelegenheit, sich mit eigenen Augen überall umzusehen, wenn sie es wollten (101, Übers. R. Klein).
Doch resultierte die »Sicherheit« (!sv²keia), gefahrlos durch alle Gegenden reisen zu können, ja nicht allein aus konkreter Gefahrenbeseitigung, durch den Bau von Straßen, das Roden von Wäldern, das Bekämpfen von Räubern und Piraten, sondern letztlich auch daraus, so Aristides, »ein Römer zu sein oder vielmehr einer von denen, die unter eurer Herrschaft leben«. Aristides’ Lobrede ist, so Jürgen Malitz, »ein fulminantes Lob der Romanisierung, der Vereinheitlichung der Welt unter römischem Vorzeichen«,12 und wie zum Beweis dieser gelungenen Vereinheitlichung als auch der schon zuvor postulierten ›Reisefreiheit‹ steht ja die griechische Reisetruppe unter Führung des Aristides in Rom; ihnen war es tatsächlich »Sicherheit genug«, zu den römischen Untertanen zu gehören, um wohlbehalten die Welthauptstadt zu erreichen. Es lassen sich leicht weitere Stimmen vor allem aus der frühen Kaiserzeit anführen, die die ›Reisefreiheit‹ zu den hervorstechendsten Segnungen der pax Romana zählen. Philon von Alexandria etwa äußerte seinen Glauben an die »Herrschaftskunst« der Römer (was bei ihm heißt: den Kaiser selbst), denn im Vertrauen darauf werde jedes Meer mit Lastschiffen gefahrlos durchfahren (p÷sa d³ h²katta … !jimd¼myr diapke?stai) zum Austausch der Güter, die die Länder einander anbieten in ihrem Wunsch nach gemeinsamem Verkehr. […] (leg. 47)
Horaz evozierte das Bild eines befriedeten Meeres, das wie als Chiffre römischer Friedensherrschaft die Schiffe sanft gleiten ließe (carm. 4,5,19: »pacatum volitant per mare navitae«); und Plinius d. Ä. war überzeugt, dass »durch die Vereinigung der ganzen Erde (»communicato orbe terrarum«) unter der Hoheit des römischen Reiches auch das Leben aus dem Handelsverkehr und aus einem gemeinsamen glücklichen Frieden Vorteile erhalten habe« (nat. 14,2; vgl. auch 27,3).13 Jenseits aller poetischen oder panegyrischen Überformung wird in all diesen Zeugnissen stets die sichere Reise, das gefahrlose Durchqueren des imperialen Raumes, der diese Sicherheit erst geschaffen habe, als ein Kern der römischen Segnungen begriffen. Dass die Autoren dieser Zeit, vor allem die Dichter, auch anders schreiben konnten und ihren Blick für die potentiellen Gefahren vor allem des Meeres und der Seefahrt nicht gänzlich verloren hatten, mag an dieser Stelle außenvorbleiben. 12 Malitz 2000, S. 48. 13 Vgl. etwa Ando 2000, S. 388: »Other writers throughout the lenghth and history of the empire expressed similar gratitude for the ability to travel that the pax Romana afforded, for the empire’s lack of piracy, of strife, and even of shipwrecks.«
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Die Moderne und die althistorische Wissenschaft insbesondere hat sich diesem Urteil der antiken Zeugnisse weitestgehend angeschlossen und die ›Reisefreiheit‹ zu den zentralen, typischen, ganz tatsächlich und alltäglich erfahrbaren Segnungen römisch-imperialer Herrschaft erklärt. Lionel Casson etwa stimmte geradezu ein Loblied auf die ›Reisefreiheit‹ der Kaiserzeit an, das hinter dem des Aristides kaum oder gar nicht zurückbleibt: And so, the first two centuries of the Christian Era were halycon days for a traveller. He could make his way from the shores of the Euphrates to the border between England and Scotland without crossing a foreign frontier, always within the bounds of one government’s jurisdiction. A purseful of Roman coins was the only kind of cash he had to carry ; they were accepted or could be changed everywhere. He could sail through any waters without fear of pirates, thanks to the emperor’s patrol squadrons. A planned network of good roads gave him access to all major centres, and through routes were policed well enough for him to ride them with relatively little fear of bandits […] Wherever he went, he was under the protective umbrella of a well-organized, efficient legal system.14
In unserem Kontext ist nicht allein die besondere Betonung des sicheren und gefahrlosen Reisens von Bedeutung, sondern auch die enge Verzahnung mit dem ›imperialen‹ Charakter der römischen Schutzmacht. Denn diese ›Reisefreiheit‹ kommt nicht von ungefähr, sondern wird als ein essentieller Bestandteil der übergeordneten römischen Möglichkeit zur administrativen Durchdringung und Befriedung des imperialen Raumes begriffen, wie sie sich seit der Neukonzeption des Imperiums durch Augustus eingestellt habe. Keine ›Reisefreiheit‹ ohne ein ›Reich‹, das sie garantieren kann. Als ein letztes Beispiel für jene Sicht auf das römische Reich als welthistorischen Glücksfall, der den Menschen, die in ihm lebten, aufs Ganze gesehen doch weitaus mehr Vor- als Nachteile brachte, sei noch ein Historiker zitiert, der wie kaum ein anderer Expertenstatus bezüglich der mediterranen Lebenswelt beanspruchen darf: Fernand Braudel. Obwohl nun Braudel hauptsächlich für seine Untersuchungen zum Mittelmeergebiet des 15. und 16. Jahrhunderts berühmt wurde, hat er sich dennoch auch mit der Geschichte der Antike beschäftigt. In seiner Ende der 1960er Jahre verfassten,15 dann aus vielfältigen Umständen nicht publizierten und erst später posthum veröffentlichten Geschichte des antiken Mittelmeerraumes kommt auch dieser, der Unterstützung herrschaftlicher Propaganda und ›imperialistischer‹ Ideologie völlig unverdächtige Historiker zu einem Urteil über die Segnungen des römischen Reiches, das wiederum nicht anders auch bei Aelius Aristides hätten stehen können:
14 Casson 1974, S. 122. 15 Braudel 2001, zuerst 1998 im französischen Original.
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With Rome victorious, the Mediterranean continued to be true to its own identity. That meant diversity over time and place, and a wealth of different colours, for in this sea of age-old riches, nothing ever disappeared without a trace: sooner or later everything surfaced once more. But at the same time, the Mare nostrum, as centuries of the Pax Romana encouraged trade between regions, also displayed a certain unity in style and life. This civilization, as it became established, would become one of the most outstanding in human history […] The sea had long made such voyages possible, but with the unlimited authority of the Empire, barriers fell and transfers happened more quickly.16
Der Umstand, dass Rom zu einem bestimmten Zeitpunkt einen ungeheuer ausgedehnten Raum, in der Terminologie früherer Jahrzehnte einen ›Großraum‹, erobert und beherrscht hat, führte zur beinahe notwendigen Einsicht, dass die Erfassung dieses Raumes zu den sich wie natürlich ergebenden Problemen und Herausforderungen römischer Herrschaft gehörte. Die schiere Land- und auch Wassermasse, die Rom ab einem bestimmten Zeitpunkt unterstand, ließ die Frage nach den Möglichkeiten, diesen Raum zu begreifen, zu ordnen und zu gestalten, zu einem Kernelement der römischen ›imperialen Mission‹ werden. Der Verfasser des 1. Makkabäerbuches konnte oder mochte davon noch nicht so viel wissen; andere Quellen wie die eben zitierten, vor allem jedoch die moderne Wissenschaft haben diesen Aspekt gleichwohl zu einem zentralen Feld der Beschäftigung mit dem imperium Romanum erhoben. Für die ältere Forschung mag hier etwa der Aufsatz von Joseph Vogt zu Raumerfassung und Raumordnung in der römischen Politik stehen, in dem Vogt den herausgehobenen Rang des römischen »Herrenvolkes« in der »Raumüberwindung durch den Straßenbau« erkennen will.17 Auch die jüngere Forschung hat, gerade auch aus archäologischer Sicht, wiederholt hervorgehoben, wie sehr die römische Herrschaft sich als die Erfassung und Bewältigung des Raumes mittels einer planmäßig vorangetriebenen und administrativ wie technologisch hochentwickelten Infrastruktur begreifen ließe. Römische Herrschaft ist nicht ohne Straßensysteme und sichere Verkehrswege zu denken.18 Ich habe das Vorhergehende auch daher ausführlich behandelt, weil sich gerade im recht raschen Brückenschlag von augusteischen Autoren über Aelius Aristides bis hin zur aktuellen historisch-archäologischen Forschung die Konstanz des Motivs des von Rom sicher und befahrbar gemachten (und damit bewältigten) Raumes als ein wesentliches Interpretament römisch-imperialer Herrschaft, des römischen ›Reiches‹ also, erkennen lässt. Die Rom unterstellten, einmal eroberten Gebiete auch durch friedenssichernde Maßnahmen zu einem für alle Untertanen zu Lande und zu Wasser sicher passierbaren Raum zu ma16 Braudel 2001, S. 335–336. 17 Vogt 1960, die Zitate auf S. 179. 18 Vgl. Kolb 2012; 2015.
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chen, ist spätestens seit der frühen Kaiserzeit fester Bestandteil der römischen ›imperialen Mission‹, und für jeden, der diesem ›Reich‹ etwas Positives abgewinnen wollte und will, ist der Verweis auf die Mobilität und Konnektivität, die es seinen Untertanen gewährleisten konnte und auch wollte, ein dankbares Mittel. Um nochmals Baltrusch zu zitieren: Wenn »imperiale Missionen nicht nur als Verschleierung in Wahrheit egoistischer Ziele aufgefasst werden müssen, sondern auch erfolgreich sein und Anhänger finden können«,19 so gilt das insbesondere auch für die mission civilatrice römisch verbürgter ›Reisefreiheit‹ im Mittelmeerraum.
III.
›Reisefreiheit‹ und pax Romana bei Polybios
Doch woher kommt eigentlich die Idee dieser ›Reisefreiheit‹, die wir doch als zentrales Element römischer Herrschaftslegitimation erkennen können? Ist sie, wie es die vorher genannten Zeugnisse von Philon, Horaz, Plinius oder Aelius Aristides vermuten lassen, ein Produkt erst der Kaiserzeit und der seit Augustus immer stärker werdenden Tendenz hin zur aktiven, ja teils aggressiven Legitimierung und auch Ideologisierung der eigenen Herrschaft, was der von Bernstein vertretenen Auffassung wieder zuarbeiten würde, erst die unter Augustus auf den Weg gebrachte straffere und organisiertere Administration könne von einem römischen ›Reich‹ sprechen lassen? Oder lassen sich auch frühere, von kaiserzeitlichen Vorstellungen noch unberührte Hinweise auf den Ursprung dieses Interpretaments finden? Gewiss erhielt die Idee einer umfassenden Befriedung des imperialen Raumes ihre deutlichste Ausprägung während des augusteischen Prinzipats; zu denken ist hier vor allem an die sich zwar auf frühere Zeiten beziehende, in ihrer Botschaft jedoch die Gegenwart berührende Bekundung der Res gestae zur Schließung der Tore des Janus-Tempels: »[p]er totum i[mperium po]puli Roma[ni terra marique es]set parta victoriis pax« (RgdA 13), durch siegreiche Kriege sei im gesamten imperium der Römer zu Lande und zu Wasser Frieden geschaffen worden. Ist dies nur die Sprachregelung der Reichszentrale selbst, die spezifisch augusteische Form der ideologischen Verkleidung eigener Herrschaft als Friedensschaffung? Oder ist mit dieser Formel und dem Gedanken dahinter ein grundlegendes Rechtfertigungsmoment des römischen Reiches, seine auch von außen als solche wahrnehmbare und akzeptierte ›Mission‹ benannt? Kurz gefragt: War die so ungeheuer starke, ideologisch zentrale Rolle der Friedenssicherung mitsamt der dadurch bewirkten ›Reisefreiheit‹ ein Propagandamotiv erst augusteischer Selbststilisie-
19 Baltrusch 2011, S. 47.
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rung oder ein bereits früher und von außen so wahrnehmbares, dadurch vielleicht ›objektiveres‹ Merkmal dieses Reiches? Auch hier hilft es wieder, um mit Baltrusch zu sprechen, die »Ränder des Imperiums, die Peripherie, die Außenwelt selbst in den Blick zu nehmen: Wie wurde römische Außenpolitik in der Formationsphase des Imperiums von den ›anderen‹ wahrgenommen?«20 Nun gibt es bekanntlich gerade für die in Frage kommende Formationsphase des römischen Imperiums, also in etwa die Jahre vom Ende des ersten Punischen Krieges 241 v. Chr. bis spätestens zur Zerstörung Karthagos 146 v. Chr., nicht allzu viele aussagekräftige zeitgenössische Quellen. Meistens, und auch hier, bleibt nicht viel anderes übrig (wenn Quellen wie die Makkabäerbücher nichts zum Thema bereithalten), als sich auf denjenigen griechischen Gewährsmann mit römischer Prägung zu stützen, dem sich auch die bedeutendste antike Darstellung des Werdens römischer Herrschaft verdankt, den Historiker Polybios. Nun ist Polybios, wie auch Baltrusch bemerkt,21 keineswegs apriorisch und ohne Einschränkung als Stimme der Peripherie oder gar als ›neutraler‹ Beobachter zu bezeichnen, sondern allein schon aufgrund seiner Biographie und Lebensumstände als ein Autor zu sehen, der römische Sichtweisen ›verinnerlicht‹ hatte. Auch wenn hier weder der Ort noch die Notwendigkeit vorhanden ist, die ausufernde Debatte um den Standpunkt und die Urteile des Polybios über Rom im Einzelnen zu referieren,22 so lässt sich doch konstatieren, dass letztlich nur über den Grad und das Ausmaß der positiven Beurteilung Roms durch Polybios, nicht jedoch über deren grundlegende Existenz gestritten werden kann. Das Spektrum der vorgebrachten Interpretationen reicht zwar von der Annahme, Polybios sei Rom gegenüber von Anfang an sehr kritisch eingestellt gewesen,23 bis hin zur gegenteiligen Auffassung, die doch deutlich romkritischen Bemerkungen vor allem in den Büchern 30 bis 33 seien nur punktuelle, kaum stark zu gewichtende Einschübe, die die generelle Bewunderung der römischen Herrschaft seitens des Historikers kaum schmälern würden,24 doch ist an der in der Summe positiven Sicht des Polybios auf Rom kaum zu zweifeln. Angesichts des großen Umfangs seines Geschichtswerks und dessen langen Abfassungszeitraums, in dem sich Polybios’ Lebensumstände wie die Modi römischer Politik und Expansion mehrfach veränderten, ist es daher wohl sinnvoll, gar nicht erst nach der einen konsistenten Haltung des
20 21 22 23 24
Baltrusch 2011, S. 47. Baltrusch 2011, S. 48. Siehe dazu generell den Überblick von Walbank 2002a, S. 13–21. So vor allem Millar 1987; Shimron 1979/80; Gruen 2011. Etwa Baronowski 2011.
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Polybios zu fragen, sondern ihm durchaus verschiedene Wertungen und Schwerpunktsetzungen zuzugestehen.25 Warum also lobt Polybios die römische Herrschaft? Und was hat die ›Reisefreiheit‹ damit zu tun? Das Lobenswerte an der römischen Herrschaft besteht für Polybios zunächst vor allem im gleichsam beruhigenden, ordnenden und für Stabilität sorgenden Einfluss, den Rom in dem ehemals durch das wenig kontrollierte Ringen mehrerer Groß- und Mittelmächte gezeichneten Raum des östlichen Mittelmeers ausübte. Das ist gut bekannt. Doch hat dieser Einfluss, diese grundlegende und positiv zu bewertende Umwälzung der bisherigen Zustände auch ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben im Mittelmeerraum, wie Polybios an zwei zentralen Stellen, denen ich mich jetzt zuwenden möchte, bekundet. Im dritten Buch, in einem Exkurs über die geographischen Bemühungen seiner Vorgänger, führt Polybios die Unzulänglichkeit früherer Versuche auf diesem Gebiet auf die Unmöglichkeit zurück, das, was es zu beschreiben und erkunden gälte, nämlich die Welt selbst, auch mit eigenen Augen zu sehen; zu viele und zahlreich seien früher (1m l³m c±q t` pqocecom|ti wq|m\, 3,58,5) zu Wasser und zu Lande die Gefahren gewesen, als dass Griechen wie er sich in entferntere Gebiete hätten wagen können, um in eigener Anschauung von diesen Weltgegenden zu berichten (pokko· l³m c±q Gsam oR jat± h\kattam t|te j_mdumoi ja· dusenaq_hlgtoi, pokkapk\sioi d³ to}tym oR jat± c/m, 3,58,6). Demgegenüber habe der römische Einfluss nun eine wesentliche Veränderung mit sich gebracht, indem durch Roms Wirken all die Gefahren wenn nicht beseitigt, so doch so sehr geschwächt worden seien, dass mangelnde ›Reisefreiheit‹ nicht länger als Ausrede für fehlenden Erkundungsmut gelten könne: Da aber in unseren Tagen (1m d³ to?r jah’ Bl÷r) die Länder Asiens durch die Herrschaft Alexanders, die übrigen Gegenden der Welt durch die Macht Roms (di± tµm Uyla_ym rpeqow¶m) fast alle zu Schiff oder zu Lande zugänglich geworden sind (swed¹m "p²mtym pkyt_m ja· poqeut_m cecomºtym), da ferner die Männer, die eine öffentliche Tätigkeit ausübten, durch kriegerische und staatliche Aufgaben nicht mehr in Anspruch genommen sind und dadurch reichlich Zeit und Gelegenheit zu wissenschaftlicher Forschungsarbeit erhalten haben, so wäre wohl zu fordern, daß wir von den früher unbekannten Ländern eine bessere und wahrere Kenntnis gewinnen. (3,59,3–5, Übers. H. Drexler)
Eben zu diesem Zweck habe auch er selbst seine Reisen nach Libyen, Spanien und darüber hinaus unternommen, ja sogar den Atlantik befahren (3,59,7).26 In ganz ähnlicher Weise sollte später dann ja auch Aelius Aristides die Möglichkeit 25 So etwa Walbank 1974; 2002a, S. 17–21; Dubuisson 1990; Zahrnt 2002; Champion 2004, S. 196–197; Baronowski 2011. 26 Zu Polybios’ geographischen Interessen siehe Walbank 2002b.
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zur Autopsie als eine der römischen Zivilisationsleistungen rühmen (101). Dass in dieser Aufforderung des Polybios auch ein Stückweit Larmoyanz über eine verlorengegangene politische Bedeutung von Männern wie ihm selbst mitschwingt, die nun zu so viel ›Freizeit‹ gezwungen seien, ist offensichtlich,27 braucht hier jedoch nicht weiter zu interessieren. In Buch 4 wiederholt Polybios diese Gedanken dann fast wortwörtlich noch einmal, wenn er – erneut im Rahmen einer der Praxis der Historiographie geschuldeten Bemerkung über die Notwendigkeit, den Leser über alles genauestens aufzuklären und über nichts fahrlässigerweise im Unklaren zu lassen – diese neue ›Reisefreiheit‹ als Eigentümlichkeit (Udiom) seiner eigenen Gegenwart, und das heißt in Polybios’ Modell: der vollendeten römischen Weltherrschaft, hervorhebt: Denn darin liegt der Fortschritt der Gegenwart (toOto c±q Udi|m 1sti t_m mOm jaiq_m), in der alle Länder zu Wasser und zu Lande zugänglich geworden sind (1m oXr p\mtym pkyt_m ja· poqeut_m cecom|tym), daß es nicht mehr zulässig ist, Dichter und Mythographen zu Zeugen für die unerforschten Gebiete zu nehmen, wie es die Alten zu tun pflegten, sich nach den Worten Heraklits auf unglaubwürdige Gewährsmänner für Zweifelhaftes berufend, sondern man muß versuchen, auf Grund von unmittelbaren Erkundungen und Erforschung den Lesern einen wirklich zuverlässigen Bericht zu bieten. (4,40,1–3)
»Rom hat euch die Welt eröffnet, nun nutzt sie auch!«, scheint Polybios seinen Zeitgenossen zurufen zu wollen. Hier fehlt sogar die Einschränkung »fast« (swedºm), die an der früheren Stelle noch enthalten war. Alexander und die Reichsbildungsversuche der Makedonen hatte er ja schon im Proömium seines Werks dafür getadelt, dass sie sich ganz auf den asiatischen Raum beschränkt hätten, ohne auch nur einen Gedanken an den westlichen Mittelmeerraum zu verschwenden (1,2,4–6). Diesem gleichsam noch fragmentierten Weltzustand habe dann die ›Verflechtung‹ durch die römische Expansion ein Ende gemacht,28 und die ›bewohnte‹ Welt um das Mittelmeer herum zu einer Einheit transformiert, eben dem holon, dessen Beherrschung durch Rom Polybios immer wieder ins Gedächtnis ruft. An anderen Stellen seines Werks gibt Polybios auch Hinweise darauf, wie sich die ›Raumerschließung‹ und Gefahrenbeseitigung durch Rom konkret äußern konnte; so verweist er öfters auf die Beseitigung der Piratengefahr und berichtet, wie ganze Piratengeschwader beim Anblick römischer Schiffe ihr Heil in der Flucht suchten (21,12) oder wie sich die Polybios so verhassten Aitoler jetzt, unter römischer Suprematie (let± d³ taOta Uyla_ym 1pist\mtym to?r pq\c27 Vgl. Woolf 2011, S. 63–64. 28 Dieses Interpretationsschema wird auch in der Forschung mitunter übernommen; vgl. etwa Bresson 2005, S. 103: »Then the two basins of the Mediterranean were at last united and this time a general connectivity could come into being.«
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lasi), damit begnügen müssten, sich selbst zu berauben, und daher keine große Gefahr mehr für die restliche Welt darstellten (30,11,1–3).29 Schon Roms erstes Übergreifen in den Osten des Mittelmeerraumes, nach Illyrien im Jahr 228 v. Chr., war ja Polybios zufolge von dem Wunsch begleitet gewesen, ordnend und regulierend die »gemeinsamen Feinde« – die illyrischen Piraten – zum Wohlergehen aller (vornehmlich der Griechen) zu beseitigen (oq c±q tis·m, !kk± p÷si t|te joimo»r 1whqo»r eWmai sum]baime to»r Ykkuqio}r, 2,12,6). Dass hier bereits die spätere ciceronische Formel von den Piraten als den communes hostes omnium (off. 3,107) vorweggenommen ist, verwundert dann kaum noch. Solche Passagen jedenfalls mögen Indizien für die konkret realhistorische Grundierung der zitierten Behauptungen sein. Gewiss: Die kühne Behauptung, alle Länder der bekannten Welt seien erst in Polybios’ Gegenwart durch die Segnungen Roms sicher bereisbar geworden, darf aus engerer Perspektive als Übertreibung bezeichnet werden, dazu verfasst, seiner historiographiepraktischen Argumentation an den beiden Stellen mehr Gewicht zu verleihen. Und auch der Umstand, dass Polybios auf seinen eigenen Reisen (nach Spanien und Afrika) teils ›Begleitschutz‹ in Gestalt römischer Truppen hatte,30 mag die Überzeugungskraft des Arguments der nun prinzipiell allen Menschen zuteilgewordenen ›Reisefreiheit‹ ein wenig schmälern. Dennoch war Polybios mit dieser tendenziellen Einschätzung nicht alleine, und auf diesem Wege möchte ich zurückkehren zu einer der anfänglich geäußerten Überzeugungen Baltruschs: Es lässt sich vielfach in der Geschichte nachweisen, dass imperiale Missionen nicht nur als Verschleierung in Wahrheit egoistischer Ziele aufgefasst werden müssen, sondern auch erfolgreich sein und Anhänger finden können, die dann wiederum maßgeblich an der Imperiumsbildung bzw. -erhaltung beteiligt sind.31
Es scheint, als habe nicht nur der erklärte Romfreund Polybios zumindest irgendeinen Anlass gehabt, römische Herrschaft als das Niederreißen zuvor empfundener Barrieren des Reisens, des Austauschs und der (modern gesprochen) ›Konnektivität‹ oder gar ›Globalisierung‹ zu preisen,32 sondern auch andere Mitglieder der gebildeten, literarischen Schicht des Ostens, die ob ihres Wirkens in ihrem kulturellen Umfeld als Träger einer pro-römischen (und daher 29 30 31 32
Dazu allgemein de Souza 1999, Kap. 3. Siehe Walbank 2002b, S. 34. Baltrusch 2011, S. 47. Vgl. Isayev 2015, S. 136: »The Roman state fostered a global consciousness, which in turn is what most likely prompted the Polybian reflection in his Histories, a perspective which we may choose to term globalisation. To characterise such a development as globalisation, however, does not necessarily tell us very much about the ancient context, but rather the way that contemporaries perceived it.«
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auch pro-imperialen) Haltung bezeichnet werden dürfen.33 In Pseudo-Skymnos’ Periegesis, einem geographischen Lehrgedicht eines Anonymus aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr., finden sich Zeilen, die ganz ähnlich den Aspekt der allgemeinen Bereisbarkeit und Zugänglichkeit der Welt mit deren literarischer Repräsentation verbinden und so implizit den auch von Polybios beschriebenen Weltzustand voraussetzen.34 Von Rom ist bei ihm nicht explizit die Rede, und ob der Autor ein ausgewiesener ›Romfreund‹ war, wissen wir nicht; die dem Text zugrundeliegende ›Welterfahrung‹ dürfte jedoch dieselbe sein, auf die sich auch Polybios bezog. Weniger die tatsächliche Angemessenheit oder der topische Charakter dieser Dikta steht dabei hier im Vordergrund, sondern die Feststellung, dass es offensichtlich schon früh, im 2. Jahrhundert v. Chr., zu den Mechanismen griechischer Rechtfertigungen römischer Herrschaft gehören konnte, die zuvor unbekannten und nun manifesten Möglichkeiten der Raumerkundung und -nutzung hervorzuheben und dieses völlig neue ›Weltgefühl‹ nicht einer unbekannt waltenden Macht oder anonymen Prozessen zuzuschreiben, sondern explizit dem Wirken Roms, das wie nebenher die Welt zu einem Ganzen vereinigt (Pol. 1,3,3–4) und diese ›Reisefreiheit‹ dadurch ermöglicht habe.35
IV.
Fazit: Polybios, die ›Reisefreiheit‹ und der römische Reichsgedanke
Dass die von Polybios entworfene Idee eines römisch gesicherten Welt-Raumes des ungefährdeten Reisens eine Konstruktion ist, in dem Sinne, wie auch die Idee der pax Romana als Ganzes eine recht einseitige Interpretation historischer Zustände aus einem ganz bestimmten Blickwinkel darstellt,36 muss kaum eigens erörtert werden. Dagegen, dass wirklich alle Länder zu Wasser und zu Lande gefahrlos zugänglich waren, als Rom das Zepter der Welt ergriffen hatte, dürfen doch Zweifel angebracht werden, auch wenn die Vorstellung eines die Ver-
33 Zum problematischen Verhältnis der griechischen (intellektuellen) Eliten zu Rom siehe Crawford 1978. 34 Z. 65–8: 9j t_m spoq²dgm c±q Rstoqoul´mym tis·m / 1m 1pitol0 soi c´cqava t±r !poij¸ar / jt¸seir te pºkeym, t/r fkgr te c/r swed¹m / fr 1st· pkyt± ja· poqeut± t_m tºpym (Text nach Korenjak 2003, S. 24). 35 Zum Problem geographischer Weltsicht und Universalhistorie bei Polybios Clarke 1999, S. 114–128. Crawley Quinn 2013 zu Polybios’ Konstruktion und Darstellung eines »imperial Mediterranean«. 36 Vgl. Woolf 1993.
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kehrssicherheit befördernden römischen Imperialismus im Großen und Ganzen wohl akzeptiert werden kann.37 Doch ging es mir hier ja um etwas anderes, nämlich um die Rolle, die Polybios in der Herausbildung der Idee einer ›imperialen Mission‹ Roms gespielt hat, bzw. die Frage, welche Erkenntnisse sein Beitrag für die Kategorisierung des imperium Romanum als ›Reich‹ liefern kann. Die Kategorien der ›Konnektivität‹, der ›Kommunikation‹ und der ›Globalisierung‹ sind seit geraumer Zeit florierende Schlagworte und Analysekriterien der Untersuchung imperialer Räume, auch des römischen Reiches,38 wobei der Trend, diese Kategorien zur Beschreibung und Analyse der Kultur und Geschichte des Mittelmeerraumes heranzuziehen und diesen nach Einheit oder Disparität zu untersuchen, schon länger besteht.39 Da nun der Mittelmeerraum als vermeintliche geographische, kulturelle und politische Einheit zumindest eine gewisse (und historisch gut dokumentierte) Zeit über mehr oder weniger deckungsgleich mit dem römischen Reich war, wenngleich sich die Antike kaum allein so geographisch definieren lässt,40 bleibt es kaum aus, dass sich die Kategorien und Kriterien hier überlappen. Und dass diese Sicht nicht allein moderner Provenienz ist, zeigt ja schon Plinius’ Diktum »communicato orbe terrarum maiestate Romani imperii« (nat. 14,2). Die gleichsam ›altruistische‹ bzw. auch aus der Außenwahrnehmung so deutbare »komplette Öffnung des Territoriums einschließlich abgelegener, menschenfeindlicher Regionen« kann so als wesentliches definitorisches Moment der römischen Herrschaft stehen, und nicht allein Aristides war der Auffassung, »dass die Römer den Raum der gesamten Mittelmeerwelt auf Basis ihres Verkehrssystems erfasst, erschlossen und durchdrungen haben, wodurch sie innerhalb des Reichsgebietes eine kultivierte und geordnete Lebensweise etablierten.«41 Dieser spezifische Bestandteil der ›imperialen Mission‹ Roms war, wie der eingangs gewagte Überblick über antike wie moderne Zeugnisse von Aelius Aristides bis Fernand Braudel deutlich machen konnte, kein später Zusatz, sondern seit Beginn des Prinzipats als Interpretament und Legitimation des römischen Reiches fest verankert. Doch, und das sollten die vorangehenden Überlegungen verdeutlichen, reichen die Spuren dieses Modells weiter zurück als eine von der kaiserlichen Zentrale aus gesteuerte Selbstrepräsentation, und es waren vielleicht nicht einmal originär römische Stimmen, die diese ›Mission‹ 37 Siehe etwa jüngst Morley 2015, S. 56: »Most of the impact of Roman imperialism on connectivity lay in the reduction of the costs involved in travel and transport; for example, the imposition of a higher level of security through the unification of the Mediterranean and actions (albeit patchy and of limited efficacy) against pirates and bandits.« 38 Vgl. Kolb 2015 sowie die Beiträge in Pitts/Versluys 2015. 39 Horden/Purcell 2000; Harris 2005; Bresson 2005. 40 Zur Kritik am »Mythos vom Mittelmeerraum« siehe Timpe 2004. 41 Kolb 2012, S. 71. Vgl. dazu jetzt auch Scheidel 2014.
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zuerst formulierten, sondern die Untertanen, die Profiteure der ›Reisefreiheit‹ selbst, wenn auch nur eine privilegierte Minderheit unter ihnen. Das lässt sich sicherlich nicht zweifelsfrei rekonstruieren, doch deutet vieles darauf hin. Dass ja Polybios dem aufstrebenden römischen Reich Denkmuster und Interpretationsansätze zur Sicht auf sich selbst lieferte, ist keineswegs eine neue Erkenntnis.42 Analog zu einer Bemerkung von Alfred Heuß ließe sich formulieren:43 Die Behauptung, dass die Römer durch ihren Einfluss einen befriedeten, gefahrlos zu bereisenden imperialen Raum geschaffen hatten, mag ob ihrer Berechtigung angezweifelt werden; dass sie diesen Anspruch jedoch zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft als einer ›Mission‹ nutzen konnten, musste ihnen erst von dem Griechen Polybios gesagt werden – und das lange vor Augustus und dem Prinzipat.
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Christian Mileta
Beobachtungen und Überlegungen zum Status und zur Funktion der Neuen Poleis Kleinasiens im Gefüge des hellenistischen Staates1
Eine wichtige Besonderheit im Städtewesen des hellenistischen Kleinasien bestand darin, dass es dort neben zwei schon seit langem bestehenden Städtegruppen, nämlich den griechischen Poleis im Einzugsbereich der Küsten sowie den indigenen Städten im Binnenland, in letzterem Gebiet auch etwa einhundert Neue Poleis gab. Bei diesen handelte es sich um Städte mit griechischer Verfassung und Kultur, die erst in hellenistischer Zeit, und zwar auf Veranlassung, mindestens aber mit Erlaubnis staatlicher Stellen, entstanden waren.2 Dies geschah vereinzelt auf dem Wege der völligen Neugründung, in den allermeisten Fällen aber durch die Umgründung von Militärkolonien3 bzw. indigenen Städten4 und Dörfern in Neue Poleis. Schon deshalb wurden diese in der Regel von einem Bevölkerungsgemisch bewohnt, das mehrheitlich aus kleinasiatischen Indigenen und daneben aus Militärsiedlern sowie aus zivilen Zuwanderern graeco-makedonischer und sonstiger nichtanatolischer Herkunft bestand. Die Neuen Poleis entstanden im Prinzip in zwei Wellen: Die erste und größere 1 Ernst Baltrusch und den Verfasser dieses Artikels verbindet seit über zwanzig Jahren eine kollegiale Freundschaft. Außerdem war der Jubilar Leiter eines an der FU Berlin verankerten DFG-Projektes, in dessen Rahmen der Autor über das Königliche Gebiet des hellenistischen Kleinasiens forschte; und schließlich war EB auch Gutachter im Habilitationsverfahren des Verfassers. 2 Siehe hierzu ausführlicher Mileta 2009, S. 82–89. Fu¨ r die Anwendbarkeit des Staatsbegriffes auf die Antike im Allgemeinen sowie auf die hellenistische Epoche im Besonderen siehe Eder 2001, S. 873, sowie Schmitt 2005, S. 1010 und S. 1014f. 3 Bei den Militärkolonien handelte es sich um größere Siedlungen, in denen aktive Soldaten bzw. Reservisten der hellenistischen Heere samt ihren Familien dauerhaft lebten. Die Kolonien waren im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. aus unmittelbaren strategischen Gründen oder auch zum Zweck der langfristigen Herrschaftssicherung gegründet worden. Die Militärsiedler unterstanden militärischer Befehlsgewalt und waren, was ihre ethnische Herkunft angeht, Graeco-Makedonen oder hellenisierte Einheimische bzw. Zuwanderer. 4 Als indigene Städte werden hier alle Städte bezeichnet, die hinsichtlich ihrer Kultur und Verfassungsordnung einheimisch, also etwa lydisch oder phrygisch, waren. Damit waren sie nach griechischen Maßstäben zwar Städte und wurden durchaus auch als poleis im weiteren Sinne des Wortes bezeichnet. Dabei war allen Seiten klar, dass es sich (noch) nicht um Städte griechischen Typs, also um poleis im engeren Sinne des Wortes handelte.
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davon ist in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. und damit in die Seleukidenzeit zu datieren, während die zweite in die erste Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts fiel, als größere Teile des west- und südkleinasiatischen Binnenlands zum Attalidenreich gehörten. Das Verbreitungsgebiet der Neuen Poleis erstreckte sich im wesentlichen über die westanatolischen Landschaften Lydien, Phrygien und Karien, über ein Gebiet also, das in etwa der Hälfte des heutigen Ostdeutschlands entspricht. Die Anzahl von einhundert Neugründungen ist angesichts der geringen Bevölkerungsdichte und der überwiegend agrarischen Wirtschaftsstruktur, die im kleinasiatische Binnenland in der Antike herrschten, durchaus erstaunlich. Da die Neuen Poleis sämtlich im indigen geprägten Binnenland Kleinasiens lagen, waren sie kulturell und wirtschaftlich eng mit den Einheimischen und deren Gemeinwesen verbunden. Das betraf allerdings weniger die relativ wenigen Stämme bzw. Stammesgruppen (ethne¯), als vielmehr die im Bereich des königlichen Gebiets (auch: Königsland)5 gelegenen indigenen Städte und Dörfer, die dann auch regelmäßig in die Neugründung von Poleis einbezogen worden sind. Die Notwendigkeit, indigene Dörfer in die Neugründungen zu integrieren bzw. indigene Städte durch Umgründung in Neue Poleis zu verwandeln und die Bevölkerung dieser Städte dann durch Graeco-Makedonen und sonstige Zuwanderer, vor allem aber durch Indigene aus dem Umland zu vermehren, ergab sich schon aus den ethnischen Verhältnissen, die im hellenistischen Osten herrschten: Nach neueren und relativ konservativen Schätzungen lebten im klassischen Griechenland inklusive Thessalien, Epirus und Makedonien zwischen 2 und 3,5 Millionen Menschen. Hinzu kamen zusammengenommen weitere 2 Millionen Griechen in Kleinasien, Sizilien und Süditalien sowie in Westkleinasien und der Schwarzmeerregion. Demgegenüber hatte das später von Alexander eroberte Perserreich über eine Bevölkerung von 20–25 Millionen Menschen verfügt.6 Das Alexanderheer zählte samt dem Tross etwa 100.000 Makedonen und Griechen, von denen dann wohl jeweils ein Drittel 5 Die Quellen haben keinen feststehenden Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Territorien und Wirtschaftseinheiten, die direkt der Gewalt der hellenistischen Monarchen unterstanden. In der Mehrzahl der Belege ist lediglich von »Ländereien« (cho¯ra, lat. agri) bzw. von Besitzungen oder, noch genauer, von Gütern, Wäldern, Bergwerken, Salinen etc. die Rede, wobei erst der Kontext klar macht, dass es sich um Besitztümer der Herrscher handelt. In seltenen Fällen werden die genannten Gegenstände noch näher bestimmt durch Adjektive mit der Bedeutung »königlich« (basilikos bzw. basileios, lat. regius). In der modernen Forschung verwendet man üblicherweise den Begriff »Königsland« (engl. royal land, frz. terre royale, russ. zarskaya zeml’a), während wir den Terminus »Königliches Gebiet« für angemessener halten, denn die Besitztümer der Könige umfassten eben nicht nur Land, sondern auch Gemeinwesen, Wirtschaftseinrichtungen und Naturreichtümer. Vgl. Mileta 2008, S. 41–53, bes. S. 42f. 6 Scheidel 2007, S. 44.
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umkam, nach Hause zurückkehrte oder im Orient verblieb.7 In der Diadochenzeit und der frühen hellenistischen Zeit kam es dann zu einer gewissen Migration von Graeco-Makedonen in den Orient, die man sich jedoch vor dem Hintergrund neuerer Schätzungen des Bevölkerungsabflusses während der archaischen Kolonisation – er betrug demnach im Zeitraum 750–650 v. Chr. lediglich 2–3 % der Gesamtbevölkerung8 – nicht allzu umfangreich vorstellen sollte. Angesichts der angeführten Zahlen kann man für die hellenistische Zeit und bezogen auf die gesamte traditionell griechische Welt einen Bevölkerungsabfluss in den hellenistischen Osten von allenfalls 10 %, also ca. 400–500.000 Personen, annehmen, denen dort die oben genannte Bevölkerungszahl von 20–25 Millionen Indigenen gegenüberstand. Daraus ergibt sich Bevölkerungsverhältnis von 98 % Indigenen zu 2 % Graeco-Makedonen.9 Wegen der geographischen Nähe zu Griechenland und Makedonien sowie zu den griechisch besiedelten Küstenzonen Kleinasiens dürfte diese Relation im Bereich des anatolischen Binnenlandes für die Graeco-Makedonen zwar etwas günstiger ausgefallen sein als im Rest des hellenistischen Ostens. Das ändert aber nichts daran, dass auch in Kleinasien die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung aus Einheimischen bestand. Demnach bildeten diese – und in den meisten Fällen auch ihre Städte und Dörfer – den Grundstock, auf dem die Neuen Poleis beruhten. Die gleichfalls in die Polisgründungen involvierten graeco-makedonischen und anderweitig auswärtigen Siedler, wie etwa die Galater, Juden und Karduchen, wären womöglich gern unter sich geblieben, mussten sich letztlich aber den demographischen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten beugen. Von diesen ließen sich auch die hellenistischen Herrscher und ihre Verwaltungen leiten, welche die Urbanisierung des Binnenlandes zum Zweck der Herrschaftssicherung sowie zur Hebung der Steuerkraft des jeweiligen Reiches vorantrieben. Im Resultat kam es während der hellenistischen Zeit im kleinasiatischen Binnenland einerseits zu einem Urbanisierungsschub und damit auch zu Zentralisierungstendenzen in der Siedlungsstruktur. Zum anderen erhöhte sich wegen der zunehmenden Verstaatlichung aller hellenistischen Reiche auch die Durchschlagskraft der jeweiligen Reichs- und Territorialverwaltung. Diese Prozesse verliefen – wie schon der zeitliche Abstand der beiden Gründungswellen der Neuen Poleis zeigt – keineswegs spontan. Vielmehr wurden sie durch politisch-militärische und wirtschaftliche Entwicklungen und Entscheidungen hervorgerufen, die überregionalen Charakter hatten und, administrativ gese7 Reger 2007, S. 461. 8 Reger 2007, ebenda unter Hinweis auf Scheidel. 9 Bezugsgrößen: 22,5 Millionen (mittlere Bevölkerungszahl des ehemaligen Perserreichs) zu 450.000 (mittlere Quote der ursprünglichen in den hellenistischen Osten ausgewanderten Graeco-Makedonen).
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hen, von der seleukidischen bzw. der attalidischen Reichszentrale in Gang gesetzt worden waren. Wegen ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Implikationen muss man die in Rede stehenden Urbanisierungs- und Zentralisierungsprozesse als Teil der Hellenisierung, also der spezifisch hellenistischen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Formierung der gesamten Gesellschaft innerhalb eines gesetzten staatlich-territorialen Rahmens begreifen.10 Dieser umfasste im hier interessierenden Fall das kleinasiatische Binnenland als Teil verschiedener hellenistischer Reiche. Die wichtigsten Merkmale der Hellenisierung des kleinasiatischen Binnenlandes waren: 1.) Die Einordnung des Binnenlandes in Königreiche, deren wichtigste Merkmale die personale Monarchie von Herrschern makedonischer Herkunft und griechisch-urbaner kultureller Prägung sowie die Existenz geordneter, wenngleich zunächst noch ziemlich grobmaschig ausgelegter Reichs- und Territorialverwaltungen waren. 2.) Die zunehmende Verstaatlichung dieser Reiche, die sich an der zunehmenden Entfaltung der Funktionen und Institutionen des hellenistischen Staates sowie an der tendenziellen Versachlichung der Beziehungen zwischen den Herrschern und der Bevölkerung der einzelnen Reiche und Reichsteile ablesen lässt.11 3.) Die von den Poleis, der königlichen Verwaltung und dem Heer ausgehende 10 Unter Hellenisierung verstehen wir den dialektischen Prozess von Akkulturation und kultureller Selbstbehauptung, dem sowohl die Indigenen als auch die in Kleinasien lebenden Graeco-Makedonen unterworfen waren, seit sie gemeinsam in den politisch-territorialen Rahmen des Alexanderreiches und seiner Nachfolgestaaten gestellt waren. Das Resultat dieses Prozesses war die Herausbildung einer graeco-makedonischen Leitkultur, die sich in Sprache, Sitten und Institutionen am Beispiel Athens orientierte. Diese Kultur wurde von den Indigenen dort akzeptiert, wo es Vorteile versprach, jedoch nicht vollständig rezipiert. Die Indigenen verloren also, wenn sie die Koine¯ sprachen und sich griechischer Sitten befleißigten, nicht zwingend ihre Identität als Lyder, Phryger, Karer usw. Auch die in Kleinasien lebenden Graeco-Makedonen wurden von den Sprachen und Sitten der Indigenen beeinflusst, ohne ihre Identität zu verlieren. Infolge der partiellen Annäherung beider Bevölkerungsgruppen entfernte sich die Leitkultur um einiges vom athenischen Vorbild und wurde zu einer graeco-makedonische Kolonialkultur, die auch indigene Elemente beinhaltete; sie wird von der modernen Forschung als »hellenistische« Kultur bezeichnet. Neben der Annäherung von Indigenen und Graeco-Makedonen sowie der Herausbildung der Kolonialkultur beinhaltete die Hellenisierung auch den Aspekt des aktiven Vordringens der Kolonialkultur in bisher nichtgriechische bzw. nur oberflächlich gräzisierte Milieus, die in Kleinasien anfänglich fast das gesamte Binnenland umfassten. Agenten dieses kulturellen Wandels waren die alten und die Neuen Poleis, die makedonischen Militärkolonien und graeco-makedonisch geprägte Institutionen wie der Hof, die königliche Verwaltung und das Heer. Notwendige Bedingung fu¨ r den Erfolg der Hellenisierung war freilich der Umstand, dass die einheimischen Eliten und in der Folge auch größere Teile der indigenen Bevölkerung die neue Kultur ganz oder teilweise akzeptierten und übernahmen. 11 Vgl. Mileta 2008, S. 18 Anm. 33.
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Verbreitung einer graeco-makedonischen Leitkultur, wobei diese gerade im Prozess ihres Übergreifens auf das Binnenland auch indigene Einflüsse aufnahm und in der Folge allmählich zur hellenistischen Kultur wurde. 4.) Die verstärkte Arbeitsteilung zwischen den zunehmend als Poleis verfassten urbanen Zentren und dem jeweiligen agrarischen Umland. Die hellenistische Formierung der Gesellschaft des kleinasiatischen Binnenlandes, ja Kleinasiens überhaupt war bereits in der Alexanderzeit angelegt worden, die eine grundlegende Veränderung in der politisch-administrativen Makrostruktur Kleinasiens mit sich gebracht hatte. Dabei handelte es sich um eine neue, von Alexander selbst eingeführte Herrschaftsordnung, deren Grundlage die Dichotomie von poleis und cho¯ra bildete. Diese Dichotomie unterteilte Kleinasien in zwei unterschiedliche, doch miteinander verbundene Herrschaftsbereiche: die Gruppe der autonomen Griechenstädte (poleis), die zunächst sämtlich im Einzugsbereich der Mittel- bzw. Schwarzmeerküste lagen, sowie das untertänige und überwiegend indigen geprägte Binnenland (cho¯ra). Letzteres war noch weiter, und zwar in die teilsouveränen Stämme bzw. Stammesgruppen (ethne¯), die indigenen Städte und die Militärkolonien (verwaltungstechnische Bezeichnung: de¯moi12) sowie in das völlig untertänige königliche Gebiet (Bezeichnung: cho¯ra [im engeren Sinne], vereinzelt auch basilike¯ bzw. basileia cho¯ra), untergliedert.13 Innerhalb dieser Grundstruktur räumten Alexander und alle nachfolgenden Monarchen den Poleis sowie den ethne¯ und de¯moi, nicht aber den dörflichen Gemeinwesen des Binnenlandes, widerruflich bestimmte Souveränitätsrechte ein. Diese waren allerdings unterschiedlich ausgeprägt, womit sich aus der Grundstruktur auf politisch-administrativer Ebene eine hierarchisch gegliederte Herrschaftsordnung ergab. Innerhalb dieser Herrschaftsordnung standen die Poleis, und zwar sowohl die alten Griechenstädte als auch die Neuen Poleis, an der Spitze. Sie mussten zwar prinzipiell die Souveränität eines über ihnen 12 Siehe LSJ, S. 387 s.v. d/lor IV.: township, commune. Zumindest bei einem Teil der demoi handelte es sich um einheimische Städte. Anders Brandt 1992, S. 73: »Gemeinden mit ländlicher Siedlungsstruktur«. 13 Siehe die explizite Erwähnung der Unterteilung des ehemaligen Attalidenreiches poleis, ethne¯, demoi und königliches Gebiet im »§ 10«, Z. 26–7, des Zollgesetzes der Provinz Asia. Dieses Gesetz stammt aus den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr., enthält aber auch Bestimmungen aus der Zeit der Einrichtung der Provinz (133/29 v. Chr.), die ihrerseits Bezug auf die Verhältnisse der Attalidenzeit nehmen). Siehe Customs Law Asia, S. 36, Z. 26f.: j26 … b jat± c/m eRs\cym 1m to}toir t|poir pqosvyj27[me_ty ja· !pocqav]shy 1m oXr #m tek~miom 1m to?r fqoir t/r w~qa]r. pq¹ t_m basike_ar C 1keuh]qym p|keym C 1hm_m C d^lym rp\qw,, … – »Wer zu Land einführt, soll an den Orten (seine Ware) anmelden und deklarieren, an welchen eine Zollstation an den Grenzen des früheren königlichen Gebiet (oder (der) freien Städten oder (der) Stämme oder Demen besteht.«
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Christian Mileta
stehenden Monarchen anerkennen, was auch bedeutete, dass sie bestimmte Steuern und Zölle zahlen, gegebenenfalls Garnisonen aufnehmen oder gar die Unterstellung unter einen königlichen Kommissar akzeptieren mussten. Doch andererseits verfügten sie jeweils über zwar prekäre, doch recht weitgehende Souveränitätsrechte. Auf Grundlage dieser durften sie ihre inneren Verhältnisse selbst regeln und konnten auch eigenständige Beziehungen zu anderen Poleis unterhalten. Zwischen den Monarchen und den einzelnen Poleis ihrer Reiche bestanden quasi-völkerrechtliche Beziehungen, wodurch die Freiheit und Unabhängigkeit der Poleis formal anerkannt wurde. De facto waren die Poleis allerdings hochgradig von den Herrschern abhängig, was sich an teilweise gravierenden Eingriffen der Monarchen sowie der Reichs- und Territorialverwaltungen in die inneren Verhältnisse und die Wirtschaft sowie in den Territorialstand der Poleis ablesen lässt.14 Andererseits kamen die Poleis in den Genuss regelmäßiger finanzieller Beihilfen und Getreidespenden von Seiten der Herrscher. Die Souveränitätsrechte, welche die Monarchen neben den Stämmen auch den indigenen Städten sowie den großen Militärkolonien einräumten, waren weniger ausgeprägt als jene der Poleis und liefen lediglich auf eine stark beschränkte innere Selbstverwaltung hinaus. Es verwundert deshalb es in keiner Weise, dass viele indigene Städte und Militärkolonien danach strebten, den Status von Poleis zu erlangen. Diese Bemühungen waren in den meisten Fällen erfolgreich. Denn das Bemerkenswerte und Dynamische an der Dichotomie von poleis und cho¯ra sowie der daraus resultierenden Herrschaftsordnung war, dass keinerlei politische oder ethnische Vorbedingungen für Statusverbesserungen existierten. Demnach konnten große Militärkolonien und indigene Städte durchaus aus der cho¯ra, also dem untertänigen Binnenland, ausscheiden und durch die Umwandlung in Neue Poleis in den Kreis der poleis aufrücken. Grundbedingung hierfür war freilich, dass die offizielle Kultur sowie die Institutionen einer solchen Stadt griechischen Standards entsprach. Analoges galt, wie die unten noch näher zu behandelnde Vorgeschichte von Laodikeia am Lykos zeigt, auch für Dörfer des Binnenlands, wenn diese – auf Wunsch und mit Unterstützung einflussreicher Würdenträger – zu einem einzigen Gemeinwesen zusammengelegt und in eine Neue Polis umgewandelt wurden. 14 Dieser verfassungsrechtliche Schwebezustand der Poleis (vgl. Heuss 1963, S. 24, Anm. 1: die Stadtgemeinde war ihrer Rechtslage nach souverän) zeigt sich vor allem daran, dass die Städte bei den Herrschern zwar immer wieder ihre Autonomie und Freiheit einforderten, doch zugleich immer wieder die Autorität der sie dominierenden Herrscher anerkannten, indem sie von ihnen Steuervergünstigungen, Finanzbeihilfen und sonstige Schenkungen erbaten und auch zugestanden bekamen. Beiden Seiten waren die realen Machtverhältnisse innerhalb der einzelnen Reiche ebenso klar, wie sie unfähig waren, sich die Griechenstädte als de iure vollständig untertänige Gemeinwesen auch nur vorzustellen.
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Abhängig vom Charakter und der kulturellen Persistenz der Vorgängersiedlungen bzw. ihrer Einwohner können die Neuen Poleis in drei unterschiedliche Typen untergliedert werden. Dabei handelt es um die Indigenen-Polis, die Militärsiedler-Polis und die Retorten-Polis. Die Charakteristika der drei Typen sollen nachfolgend kurz skizziert werden: [a.] Indigenen-Polis Die Indigenen-Poleis entstanden, wenn indigene Städte, die wie etwa ApameiaKelainai in Phrygien oder Sardeis, Hierapolis und Thyateira in Lydien regionale bzw. überregionale Zentren waren, in Poleis umgegründet wurden. Dabei erhielt die jeweilige indigene Stadt auf eigenen Wunsch und Antrag an den König oder durch einseitige königliche Anweisung das Polisstatut. In diesem Zusammenhang wurden zum einen die politischen Einrichtungen der griechischen Polis, insbesondere der Demos, die Phylen, die Volksversammlung und der Rat, samt den entsprechenden Ämtern eingeführt. Zum anderen wurde über die Erhebung des Griechischen zur Amtssprache und die Einrichtung eines oder mehrerer Gymnasien die Kultur der Stadt grundlegend verändert. Die vormals indigene Stadt wurde also politisch und kulturell radikal »umformatiert« und zog nun bald auch Graeco-Makedonen und andere hellenisierte Zuwanderer an, die ihre Bürger wurden. Es ist freilich anzunehmen und im Fall von Sardeis und Thyateira sicher, dass zumindest ein Teil der graeco-makedonischen bzw. hellenisierten Neubürger bereits vor der Umgründung als Militärsiedler im Umfeld der Stadt gelebt hatten. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die meisten Bürger einer Indigenen-Polis einheimische Wurzeln hatten. Man kann demnach davon ausgehen, dass im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben dieser Neuen Poleis viele indigene Traditionen weiterlebten, was allerdings durch die griechischen und lateinischen Quellen, auf die wir uns stützen müssen, gern verdeckt wird. [b.] Militärsiedler-Polis Die Militärsiedler-Poleis entstanden dadurch, dass Militärkolonien wie Philadelphia und Apollonis in Lydien oder das in Südostphrygien gelegene Toriaion in Neue Poleis umgegründet wurden. Die Kolonien waren aus militärischen Gründen geschaffen worden und der Dienst- und Wohnort von Soldaten graecomakedonischer und anderweitig fremder, teilweise aber auch indigener Herkunft gewesen. Die Kolonien zählten formal zum Königlichen Gebiet, waren aber nicht der Territorial-, sondern der Militärverwaltung unterstellt. Wegen ihrer strategisch günstigen und damit oft auch zentralen Lage sowie aus wirtschaftlichen und allzu menschlichen Gründen hatten die Kolonien auch viele Zivilpersonen angezogen und sich oft rasch zu regionalen urbanen Zentren entwickelt. Sie lagen oft in der Nachbarschaft indigener Dörfer und Städte, wobei sie
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mit letzteren häufig zu Doppelstädten zusammenwuchsen. Beide Teile einer solchen Doppelstadt konnten, wie der unten noch näher zu behandelnde Fall von Toriaion zeigt, später in die Gründung einer Militärsiedler-Polis einbezogen werden, wobei diese dann den Platz, den Namen und die Zentralortfunktion der indigenen Stadt übernahm. Da die Militärkolonien auf Grund der graeco-makedonischen Herkunft vieler Militärsiedler sowie durch die Einbindung in die Kommandostrukturen der hellenistischen Heere einen graeco-makedonischen Charakter hatten, erreichten die aus ihnen hervorgehenden Militärsiedler-Poleis zügig die kulturellen und wirtschaftlichen Standards einer griechischen Polis. [c.] Retorten-Polis Die Retorten-Poleis waren als völlige Neugründungen entstanden, in welche Einwohner indigener Dörfer, Umsiedler aus zwangsweise aufgelassenen indigenen Städten sowie Zuwanderer graeco-makedonischer und sonstige Herkunft einbezogen wurden. Zu den Retorten-Poleis gehörten, um einige prominente Beispiele aus der gesamten hellenistischen Welt zu nennen, neue Hauptstädte wie Alexandreia und Antiocheia sowie die königliche Stadt Seleukeia am Tigris. Für Kleinasien kann man u. a. auf Laodikeia am Lykos, Antiocheia in Pisidien, Attaleia in Pampylien und Arsinoe in Kilikien verweisen. Da die Retorten-Poleis praktisch auf dem grünen Rasen gegründet wurden, entsprachen sie trotz einer zunächst überwiegend indigenen Bevölkerung nach Verfassung, Kultur und Stadtbild sofort weitgehend dem Modell der klassischen Polis. Wie oben bereits erwähnt wurde, hatte sich aus der dichotomischen Grundstruktur von poleis und cho¯ra eine hierarchisch gegliederte Herrschaftsordnung ergeben, innerhalb derer die Poleis eine privilegierte Stellung innehatten. Dabei machten die Reichszentralen sowie die jeweils zuständigen Territorialverwaltungen keinen Unterschied zwischen den alten Poleis im Einzugsbereich der Küsten und den Neuen Poleis im Binnenland. Denn alle Poleis spielten im Gefüge des hellenistischen Staates eine wichtige Rolle als regionale bis überregionale wirtschaftliche und kulturelle Zentren sowie als teils informelle, teils offizielle Stützpunkte der Reichs- und Territorialverwaltung. Es verwundert demnach nicht, dass die Monarchen sowie die königliche Verwaltung nicht allein die Neuen Poleis dominierten, sondern häufig auch in die Angelegenheiten der alten Poleis Kleinasiens eingriffen. Dies ist zum einen daran erkennbar, dass eine ganze Reihe dieser traditionsreichen Poleis umbenannt wurden und nun dynastische Ortsnamen trugen – wir nennen als prominentestes Beispiel hier nur Ephesos, dessen asty um 300 v. Chr. von Lysimachos an einen anderen Platz verlegt wurde; zugleich wurde die Stadt zeitweilig in Arsinoe umbenannt. Derart gravierende Eingriffe in die inneren Verhältnisse alter Poleis deuten an, dass es, jedenfalls aus Sicht der hellenistischen Herrscher und ihrer Verwaltungen, keine wesentlichen Statusunterschiede zwischen den
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alten und den Neuen Poleis gab. Das ergab sich schon aus der Dichotomie von poleis und cho¯ra und der daraus abgeleiteten Herrschaftsordnung, innerhalb derer alle Poleis zwar über beschränkte Souveränitätsrechte verfügten, doch gleichzeitig und in qualitativ gleicher Weise der militärischen und politischen Gewalt der Herrscher unterstanden. Abgesehen davon gerieten sie la longue immer stärker unter die Kontrolle der königlichen Verwaltung. Das betraf selbst die bedeutende Metropole Ephesos, die im 2. Jahrhundert die Hauptstadt einer attalidischen Reichsprovinz war und zugleich direkt dem Statthalter dieser Provinz unterstand.15 Die ungenierten Eingriffe der Herrscher in die Angelegenheiten der Poleis hatten bereits mit Alexander begonnen und bezweckten die möglichst weitgehende Integration der einzelnen Polis in das staatliche Gefüge des jeweiligen Reiches. Die entsprechenden Entscheidungen der Herrscher konnten den Status, die innere Verfassung und das Territorium, doch auch die wirtschaftlichen Verhältnisse einzelner Poleis betreffen. Sie wurden aus höherer Warte getroffen und dienten den Interessen des ganzen Reiches. Für die einzelne Polis hatten sie bald positive, bald negative Folgen. Man braucht hier nur an zwei besonders prägnante Beispielen, nämlich an Alexanders Anordnungen zum Status und Territorialstand von Priene16 sowie an das zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt zwischen 306 und 302 v. Chr. von Antigonos Monophtalmos verfolgte Projekt der Zusammenlegung von Teos und Lebedos17 zu erinnern. Sehr instruktiv ist auch der oben bereits erwähnte Fall der um 300 v. Chr. erfolgten Umgründung von Ephesos durch Lysimachos. Dieser ließ den urbanen Kern dieser alten Polis an einen anderen Ort verlegen, vermehrte die Stadt sodann durch Siedler aus Kolophon und Lebedos und benannte sie schließlich nach dem Namen seiner Gattin in Arsinoe um.18 Sofern sich aus derartigen Maßnahmen wie etwa bei Ilion und bei Ephesos ein größeres Territorium, eine höhere Einwohnerzahl sowie bessere wirtschaftliche Bedingungen ergaben, stieg zugleich auch die regionale bzw. überregionale Bedeutung der betreffenden Poleis. Dies müsste an sich eine gewisse Dezentralisierung der betreffenden hellenistischen Reiche bedeutet haben, wenn diese denn bereits regulär ausgeformte, zentralistisch geformte Staaten gewesen wären. Doch das waren sie gerade nicht. Es handelte sich vielmehr um locker zusammengefügte und von außen stets gefährdete Staatswesen, die – zumindest bis zum Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. – im Inneren mehr durch das Charisma
15 Das zeigt klar der Titel dieses Amtsträgers: »strategos von Ephesos sowie der topoi im Gebiet von Ephesos, der Kaystrosebene sowie der Kilbianis« (I. Ephesos 201). 16 I. Priene 1. Ausführlicher hierzu siehe Mileta 2008, S. 36–39. 17 Welles, RC 3–4. Siehe auch Cohen 1995, S. 188f. 18 Siehe Cohen 1995, S. 177f.
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des einzelnen Monarchen und durch blanke Gewalt als durch Verwaltungskunst zusammengehalten wurden.19 Unter diesen Bedingungen trugen die alten und neuen Poleis, die zugleich auch regionale oder überregionale Zentren waren, in nicht zu unterschätzendem Maße zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse bei: Während die Aufgaben der zunächst nur sehr schwach entwickelten Reichs- und Territorialadministrationen vor allem die Steuererhebung und -eintreibung sowie die Verwaltung des königlichen Gebietes umfassten, sorgten die Poleis innerhalb ihres jeweiligen Einzugsbereichs für politische Stabilität. Außerdem trugen sie entscheidend zur Hellenisierung ihres Umlandes bei. Ebenso wichtig war ihre wirtschaftliche Funktion: Sie waren im Grunde große »Geldautomaten«, mit deren Hilfe die Naturalerträge aus den königlichen Besitzungen des Binnenlands vermarktet und so in Geld umgewandelt wurden. Vor diesem Hintergrund war die Stärkung der Poleis, die wegen ihrer Zentrumsfunktion auch eine regionale bzw. überregionale Zentralisierung bedeuteten, für die Herrscher und den hellenistischen Staat durchaus sinnvoll, obwohl diese von den Poleis ausgehenden Zentralisierungsprozesse auf eine zeitweilige Dezentralisierung der Staatsfunktionen hinausliefen. Im Sinne der bisherigen Ausführungen vertreten wir in Bezug auf den Status und die Funktion der Neuen Poleis Kleinasiens im Gefüge des hellenistischen Staats die folgenden drei Thesen: 19 Unser Blick auf die Stellung der hellenistischen Monarchen sowie auf den Aufbau und die Funktionsweise des hellenistischen Staates wird geschärft durch einen Blick auf die luziden Bemerkungen von Münkler 1998, S. 1–30: Dieser weist darauf hin, dass gegenwärtig zwei unterschiedliche Staatsvorstellungen existieren: [1.] eine transhistorisch-universale und [2.] eine historische. Dabei sieht [1.] im Staat eine epocheu¨bergreifende, universale Ordnungskonzeption. Deren Geltungsbereich sei weder räumlich noch zeitlich begrenzt, die wesentlichen Leistungen und Attribute unabhängig von Zeit und Raum begrifflich-definitorisch zu fassen, während sich die Strukturmerkmale und Organisationselemente (Surplusabschöpfung, Verhaltenssteuerung, Macht- und Aufgabenverteilung, Institutionen) im Lauf der Geschichte durchaus veränderten. Dagegen fasst [2.] den Staat als die (spezifisch neuzeitliche) Ordnungskonzeption bzw. Machtfiguration des [Anstalts-]Staates auf, die im Europa des späten Mittelalters bzw. der fru¨ hen Neuzeit entstanden ist. Er habe sich insbesondere im 18./19. Jahrhundert als eine besonders effektive, im Inneren Frieden sichernde und nach außen expansionsfähige Form der politischen Organisation der Sozialverbände erwiesen. Der Gegensatz zwischen beiden Auffassungen schwächt sich nach Münkler ab, wenn man beachtet, dass »Staat« bei [1.] den Bedeutungskranz hat, den bei [2.] der Begriff »Politik« u¨bernimmt. Damit bezeichne der Begriff »Staat« bei [1.] die politische Ordnung, bei [2.] aber die Institution, welche diese Ordnung gewährleiste. Mu¨nklers Beobachtungen sind fu¨r das Verständnis des hellenistischen Staates außerordentlich hilfreich, der sich nur mit der transhistorisch-universalen Staatsvorstellung erklären lässt: Der hellenistische Staat war eindeutig keine Ordnung gewährleistende Anstalt, sondern bildete eine auf den Monarchen zentrierte politische Ordnung. Deren Hauptinteressen – Machterhalt und Surplusabschöpfung – wurden von einem relativ kleinen Erzwingungsstab als »die Angelegenheiten des Königs« (ta pragmata tou basileo¯s) begriffen und durchgesetzt.
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[1.] Die Gründung der Neuen Poleis im kleinasiatischen Binnenland war ein staatlich kontrollierter, also von den Monarchen und ihren Verwaltungen gewollter und beförderter Prozess, der die forcierte Urbanisierung des Binnenlandes sowie die Zentralisierung der Staatsfunktionen zum Ziel hatte. [2.] Jede Neue Polis war automatisch ein regionales, bei Vorliegen günstiger Umstände aber auch ein überregionales Zentrum. Als solche wirkten die Neuen Poleis kulturell wie wirtschaftlich, unter Umständen auch politischadministrativ weit in ihr jeweiliges Umland hinein. Sie trugen somit maßgeblich zur Hellenisierung des kleinasiatischen Binnenlandes bei. [3.] Als sich im Inneren selbst verwaltende politische Einheiten und regionale bzw. überregionale Zentren waren die Neuen Poleis Kleinasiens – ebenso wie dort weiterhin existierenden alten Poleis und indigenen Städte – im 3. Jahrhunderts v. Chr. nur ungenügend in das staatliche Gefüge des Seleukidenreichs integriert, was zu einer zeitweiligen Dezentralisierung der Staatsfunktionen führte. Diese Tendenz kehrte sich spätestens unter den Attaliden um, die zwischen 188–133 v. Chr. weite Teile Kleinasiens beherrschten. Die eben vorgetragenen Thesen sollen nachfolgend am Beispiel von fünf Neuen Poleis auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden. Dazu werden wir je eine oder zwei Poleis aus den drei Grundtypen der Neuen Polis vorstellen und sodann untersuchen, welche Stellung und Funktion sie innerhalb des seleukidischen bzw. des attalidischen Staatsgefüges hatten. [I.a.] Sardeis (Indigenen-Polis) war die alte Hauptstadt Lydiens gewesen und hatte sodann in achämenidischer wie seleukidischer Zeit die Funktion der Hauptstadt des jeweiligen cistaurischen Reichsteils erfüllt.20 Die Stadt war also das traditionelle überregionale Zentrum Lydiens und hat diese Funktion auch in hellenistischer Zeit behalten. So befanden sich hier in der Seleukidenzeit etwa das königliche Archiv (basilikai graphai) für das westliche Kleinasien sowie eine königliche Residenz, die von den durchreisenden Herrschern durchaus genutzt wurde. Allzu viel Luxus und Zerstreuung scheint die Stadt allerdings nicht geboten zu haben, da Antiochos II. während eines längeren Kleinasienaufenthalts, der in die 50er Jahre des 3. Jahrhunderts v. Chr. fiel, überwiegend in Ephesos residierte. Der Zeitpunkt, zu dem Sardeis das Polisstatut erhielt, ist nicht bekannt. Möglicherweise geschah dies erst unter dem Usurpator Achaios d. J., der von 220–215 v. Chr. weite Teile Kleinasiens beherrschte. Achaios wurde dann von 215–213 von Antiochos III. in Sardeis belagert und 213 gefangen genommen. Zu dieser Zeit war die Stadt freilich schon eine Polis mit einem de¯mos, einem Rat 20 Zu Sardeis siehe Bürchner 1920, Sp. 2475–2478, sowie Cohen 1995, S. 230f.
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(boule¯) und städtischen Amtsträgern. In attalidischer Zeit war die Stadt die Hauptstadt einer Reichsprovinz, unter der römischen Herrschaft dann der Vorort einer Diözese der Provinz Asia.21 Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfügte Sardeis über eine sehr große cho¯ra, die Zuwanderer von außen anzog. Das zeigt eine Inschrift aus dem Norden des städtischen Territoriums, die Vorgänge aus dem Jahre 165 v. Chr., also aus dem historischen Umfeld des erfolgreichen Galaterkrieges von Eumenes II. (167/ 66 v. Chr.), bezeugt.22 Die Inschrift dokumentiert verschiedene Privilegien, die Eumenes II. einer größeren Gruppe hellenisierter mysischer Militärsiedler gewährte. Für die hier interessierenden Zusammenhänge ist jene Bestimmung wichtig, durch die den Militärsiedlern zwei einheimische Dörfer im Norden von Sardeis als Wohnorte zugewiesen werden (B Z. 20–24). Demgegenüber sollten die als »Jagdleute« (kynhe¯goi) bezeichneten ursprünglichen Bewohner dieser Dörfer in noch zu bestimmende andere Ortschaften umgesiedelt werden. Interessanterweise war den Militärsiedlern zuvor ein Wohnort im abbatischen Mysien angeboten worden. Diesen hatten sie aber abgelehnt, da ihnen das Umfeld der Polis Sardeis offensichtlich mehr zusagte als die abgelegene Mysia Abbatis. Eumenes II. entschied zugunsten der Militärsiedler und zugleich gegen die Interessen der Indigenen, die ihre angestammten Dörfer verlassen mussten. Hier steht dem Sog, den das überregionale Zentrum Sardeis auf die Militärsiedler ausübte, die Exklusion und Abdrängung von indigenen Dorfbewohnern in einen entlegenen Teil des Binnenlandes gegenüber. Zudem wurden die Militärsiedler auf Grundlage der Befehlsgewalt des Königs in der cho¯ra der Polis Sardeis angesiedelt, wobei deren Amtsträger vermutlich erst post factum von der Aktion informiert wurden. Die ganze Angelegenheit datierte zwar in unruhige Zeitläufte, es ist aber doch auffällig, wie direkt und undiplomatisch Eumenes II. in die Angelegenheiten von Sardeis eingriff, bei dem es sich um das traditionsreiche Zentrum Lydiens und zugleich um eine Neue Polis handelte. [I.b.] Ergänzend zu Sardeis kann für den Typus der Indigenen-Polis auch das phrygische Kelainai Apameia-Kibotos angeführt werden.23 Diese Stadt war wegen ihrer Lage an einem Knotenpunkt der alten Königsstraße in hellenistischer Zeit ein überregional bedeutender Handelsplatz; in der römischen Zeit sollte sie dann nach Ephesos zum zweitgrößten und -wichtigsten Handelzentrum Kleinasiens werden. Auch hinsichtlich ihrer administrativen Funktionen war die Stadt, die ursprünglich nur Kelainai hieß, ein überregionales Zentrum. Sie war eine der Hauptstädte des Phrygerreiches und während der Achämeni21 Siehe Mileta 1990, S. 432, 442. 22 Hermann/Malay 2007, Nr. 32: Brief des Attalidenkönigs Eumenes II. an einen lokalen Beamten. 23 Zu Kelainai bzw. Apameia-Kibotos siehe Cohen 1995, S. 81–85, sowie Ruge 1921, Sp. 133f. und Hirschfeld 1894, Sp. 2664f.
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denzeit dann die Hauptstadt der Satrapie Phrygien gewesen. Hier befanden sich ein Satrapenpalast, ein befestigtes Schloss des Großkönigs sowie ein paradeisos. Nach der Eroberung Kleinasiens durch Alexander blieb Kelainai die Hauptstadt der Satrapie Phrygien; zeitweilig war es auch die Residenz des Diadochen Antigonos Monophthalmos. Der Seleukidenkönig Antiochos I. verlegte den urbanen Kern von Kelainai – ganz offensichtlich im Zuge der Umgründung der Stadt in eine Neue Polis – an einen nahegelegenen Ort und benannte die Stadt dann nach dem Namen seiner Mutter in Apameia um. Da Antiochos I. direkt in die Verlegung und Umgründung der Stadt involviert war, hat diese mit Sicherheit schon in seiner Herrschaftszeit, also zwischen 281–261 v. Chr., den Status einer Polis erhalten. In attalidischer Zeit war Apameia vermutlich die Hauptstadt einer Reichsprovinz, unter der römischen Herrschaft dann der Vorort einer Diözese der Provinz Asia.24 [II.a.] Toriaion (auch: Tyriaion) in Phrygien (Militärsiedler-Polis) wurde Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. in eine Neue Polis umgewandelt. Die bereits von Xenophon (anab. 1,2,14, Namensform dort: Tyriaeion) als polis oikoumene¯ bezeichnete Stadt war bereits in vorhellenistischer Zeit ein bedeutender regionaler Zentralort, was aus erkennbar guten agrarischen Voraussetzungen sowie aus seiner Lage an der südlichen Nebenroute der Königsstraße resultierte. Kyros d. J. lagerte 401 v. Chr., während seines Feldzuges gegen Artaxerxes II., dort für drei Tage und hielt während dieser Zeit auch ein Schaugefecht ab.25 Beides belegt die wirtschaftliche Stärke der Stadt und ihres Umlandes. Spätestens in seleukidischer Zeit wurde hier eine Militärkolonie gegründet. Da das Ethnikon der Siedler Toriaiton katoikountes lautete, lag die Kolonie vermutlich in unmittelbarer Nähe der indigenen Stadt. Zu Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. lebte in den offenbar eng miteinander verwobenen Gemeinwesen eine ethnisch gemischte Bevölkerung aus Graeco-Makedonen, teilweise hellenisierten Galatern und kleinasiatischen Indigenen. Bald nach 188 v. Chr. kamen Gesandte von Toriaion, das mittlerweile seinen Status als Militärkolonie verloren gehabt haben muss, zu dem Attalidenkönig Eumenes II. Sie trugen ihm die inschriftlich erhaltene Bitte vor, ihnen das Polisstatut (politeia), »(also) sowohl eigene Gesetze (idioi nomoi) als auch ein Gymnasion und was sonst noch dazugehört«, zu gewähren. In der ebenfalls erhaltenen Antwort gewährte ihnen der Herrscher diese Bitte, allerdings nur unter der Bedingung, dass auch die umwohnenden Indigenen (encho¯rioi) in die Umgründung einbezogen würden. Außerdem gab er ausdrückliche Hinweise zu den idioi nomoi, also zur Verfassungs- und Gesetzesordnung der zukünftigen Neuen Polis. Und schließlich sagte er der Stadt auch finanzielle Hilfen für den Betrieb des Gymnasions zu, das nach Ansicht beider 24 Siehe Mileta 1990, S. 432, 442. 25 Xen. anab. 1,2,14.
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Seiten zu den unabdingbaren Einrichtungen einer Polis gehörte. Mit der Regelung aller administrativen Einzelheiten beauftragte der Monarch nicht etwa den Provinzstrategen von Phrygien. Vielmehr schickte er den Reichskanzler und Finanzminister nach Toriaion, was die Bedeutung dieser Neuen Polis unterstrich.26 Wie sich zeigt, behielt Toriaion die schon für die vorhellenistische Zeit bezeugte Funktion eines regionalen Zentrums auch in der hellenistischen Zeit. Das lässt sich schon daran ablesen, dass in der Nachbarschaft der Stadt eine Militärkolonie eingerichtet wurde. Es fällt allerdings auf, dass Toriaion bis in die frühen 80er Jahre des 2. Jahrhunderts v. Chr., also bis in die Zeit der Attalidenherrschaft hinein, keine Polis war. Das Polisstatut scheint demnach in der seleukidischen Herrschaftsperiode nicht zu den Grundbedingungen für die Funktion einer Stadt als regionales Zentrum gehört zu haben. Entscheidend hierfür waren im konkreten Fall von Toriaion vielmehr die günstige geographische Lage, die wichtige strategische Bedeutung und das fruchtbare Umland sowie der traditionelle Status als indigene Stadt. Erst relativ spät, das heißt erst nach der Unterstellung unter die Herrschaft der Attaliden und der damit verbundenen Auflösung der Militärkolonie, wurden die Stadt und die frühere Militärkolonie gemeinsam in eine Neue Polis umgewandelt. Deren neue Strukturen und Einrichtungen, wie etwa die eigene Verfassungs- und Gesetzesordnung, die griechische Amtssprache, die ebenfalls griechischen Institutionen und Amtsträger sowie das Gymnasium, waren für die Zukunft insofern von großer Bedeutung, als es sich bei Toriaion nun um ein definitiv hellenistisch geprägtes regionales Zentrum handelte, das dementsprechend auf sein indigen geprägtes Hinterland einwirkte. [II.b.] Ergänzend zu Toriaion kann für den Typus der Militärsiedler-Polis auf Thyateira in Lydien hingewiesen werden.27 Auch hier handelte es sich ausweislich des Namens – teira ist ein lydischer Terminus für »Festung« oder »Stadt« –, um eine alte indigene Stadt, die aufgrund ihrer überaus verkehrsgünstige Lage im fruchtbaren mittleren Tal des lydischen Lykos ein traditionelles regionales Zentrum war. Vermutlich 281 v. Chr. wurden hier makedonische Militärsiedler angesetzt, die teils in, teils im Umfeld der Stadt lebten und in ihrer Selbstbezeichnung ganz selbstverständlich den indigenen Namen der Stadt benutzten.28 Bereits wenige Jahrzehnte später wurde die Stadt in einem Epigramm des Philosophen Arkesilaos, das in Athen und für das dortige Publikum verfasst wurde,
26 I. Sultan Dag˘i 1, 393, Z. 9–48. 27 Zu Thyateira siehe Keil 1936, Sp. 653–655 und Kaletsch 2002, Sp. 518. 28 TAM V 901: Basike? Seke}jy(i) j t_m 1m Huate_qoir Lajed|mym oR Bjcel|mer ja· oR stjqati_tai, TAM V 1166: oR peq· Hu\teiqa j Lajed|mer. Beide Inschriften stammen aus der Zeit um 281 v. Chr.
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als eine bekannte Größe, und zwar als »das heilige Thyateira« behandelt.29 Die Stadt, die über ein recht umfangreiches Territorium verfügte und das natürliche Zentrum des Tals des lydischen Lykos war, wurde erst in der Attalidenzeit als eine Neue Polis umgegründet. Möglicherweise hat hier, wie wohl auch im Fall von Toriaion, die Existenz einer benachbarten Militärkolonie die Umgründung der Stadt lange verhindert. Dabei hat sich der fehlende Polisstatus aber ganz offensichtlich nicht hemmend auf die Funktion der Stadt als regionales Zentrum ausgewirkt. [III.] Laodikeia am Lykos (Retorten-Polis) lag in Südphrygien, im Tal des Lykos, eines Nebenflusses des Mäander. Es war in den 60er Jahren des 3. Jahrhunderts v. Chr. unter Einbeziehung der beiden indigenen Dörfern Kiddioukome und Babakome sowie einer Neonteichos genannten Militärsiedlung entstanden.30 Die Gründung der Neuen Polis war vermutlich von Achaios d. Ä. initiiert worden, der ein hoher Würdenträger und enger Verwandter des seleukidischen Königshauses war. Als kyrios tou topou hatte er Gewalt über große Ländereien aus dem Bestand des königlichen Gebietes, die im Lykostal lagen. Zu diesem Landkomplex gehörten auch die beiden oben erwähnten indigenen Dörfer und – jedenfalls territorial gesehen – auch die Militärsiedlung Neonteichos. Die Umwandlung dieser indigenen Dörfer sowie der Militärsiedlung in die Neue Polis Laodikeia lag wegen der daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Vorteile gleichermaßen im Interesse der Bewohner, des Achaios und der seleukidischen Zentralgewalt. Achaios musste für die Polisgründung natürlich die Erlaubnis von Antiochos II. einholen, der das Vorhaben genehmigte und dabei vermutlich auch befahl, die Neugründung nach seiner Frau Laodike zu benennen. Als praktisch auf dem grünen Rasen entstandene Retorten-Polis entsprach die Neue Polis Laodikeia nach Verfassung, Kultur und Stadtbild wohl von Anfang an dem Modell der klassischen Polis.31 Die Stadt wurde rasch auch das regionale Zentrum des fruchtbaren und bevölkerungsreichen Lykostales,32 wobei es diese Funktion 29 Siehe Mileta 1999, S. 181–185, das Epigramm stammt aus der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. 30 Für die Vorgeschichte von Laodikeia, siehe I. Laodikeia am Lykos 1: Ehrendekret dreier Dörfer für Achaios und seine Angestellten Banabelos und Lachares (268/67 v. Chr.) sowie Cohen 1995, S. 308–11. Das Ehrendekret gehört in die Zeit kurz vor der Gründung der Stadt Laodikeia, wobei sich der epigraphische Befund nur schwer mit der schriftlichen Überlieferung (Plin. NH 5, 105) in Einklang bringen lässt. Dieser zufolge wurde Laodikeia an der Stelle einer dörflichen Vorgängersiedlung gegründet, die zunächst Diospolis und dann Rhoas geheißen hätte. Cohen 1995, S. 315, bezweifelt in vorsichtigen Worten, dass Neonteichos »despite its name« eine Militärsiedlung war. 31 Ausweislich der Inschrift I. Laodikeia am Lykos Nr. 2 verfügte die Stadt schon wenige Jahrzehnte nach ihrer Gründung über alle Attribute und Ämter einer Polis. 32 Das gilt auch in wirtschaftlicher Hinsicht, da Laodikeia rasch ein wichtiges Produktions- und Exportzentrum für Purpurstoffe sowie Wollstoffe und -textilien wurde.
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möglicherweise von dem nahe, doch etwas abseitig gelegene Hierapolis übernommen bzw. abgezogen hat.33 Laodikeia wurde auch nach seiner Gründung maßgeblich durch die Familie der Achaoi gefördert, die in der Umgebung der Stadt vermutlich weiterhin über erheblichen Grundbesitz verfügte.34 Die Bedeutung der Neuen Polis Laodikeia am Lykos als regionales und später auch überregionales Zentrum wird auch dadurch unterstrichen, dass sich der Usurpator Achaios d. J., der zwischen 220 und 215 über große Teile des seleukidischen Kleinasien herrschte, das Diadem in Laodikeia anlegte.35 In der römischen Zeit wurde Laodikeia dann der Vorort einer Diözese der Provinz Asia.36 Abschließend sollen die bei der Diskussion der Beispiele gewonnenen Erkenntnisse mit den Thesen konfrontiert werden, die sich aus den einführenden Beobachtungen und Überlegungen ergeben hatten: Wie sich zeigt, waren bis auf Laodikeia alle behandelten Neuen Poleis vor ihrer Umgründung ganz oder teilweise indigene Städte und schon damals, wie dann später auch als Neue Poleis, regionale bzw. überregionale Zentren gewesen. In Fall von Laodikeia scheint es so, dass diese Neue Polis die Funktion als regionales Zentrum von einer anderen Stadt übernommen hat, was nur auf Basis einer diesbezügliche Anordnung des Monarchen bzw. der königlichen Verwaltung möglich war. Die Gründung einer Neuen Poleis setzte in jedem Fall die Zustimmung des Herrschers und sodann die aktive Mitwirkung der königlichen Verwaltung, und zwar sowohl des Hofes als auch der jeweils zuständigen Territorialverwaltung voraus. Dabei hatten Hof und Verwaltung, wie das Beispiel von Toriaion zeigt, ganz klare Vorstellungen darüber, welche Verfassung und Funktion eine Neue Poleis haben musste. Diese Vorstellungen beinhalteten auch, dass die IndigenenPoleis sowie die Militärsiedler-Poleis schon vor ihrer Umgründung eine gewisse Größe erreicht sowie die Funktion regionaler oder gar überregionaler Zentren erfüllt haben mussten. Bei den Retorten-Poleis waren diese Voraussetzungen vor der Gründung natürlich nicht gegeben, doch sorgten der Monarch und die Verwaltung bzw. einflussreiche Würdenträger ganz offensichtlich dafür, dass die Neugründungen recht bald prosperierten und bald auch zu regionalen bzw. überregionalen Zentren wurde. Wie sich erwies, war die Gründung der Neuen Poleis im kleinasiatischen Binnenland in der Tat ein staatlich kontrollierter, also von den Monarchen und ihren Verwaltungen gewollter und beförderter Prozess der Zentralisierung und Intensivierung der Funktionen des hellenistischen Staates. Allerdings wurde – 33 34 35 36
Zu Hierapolis siehe Cohen 1995, S. 305–308. Siehe Corsten im Komm. zu I. Laodikeia am Lykos 1, S. 12. Pol. 5,57,5. Mileta 1990, S. 432, 442.
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jedenfalls während der Seleukidenzeit – eine indigene Stadt, die seit altersher ein regionales bzw. überregionales Zentrum gewesen war, nicht zwingend in eine Neue Polis umgewandelt. Die Neuen Poleis wirkten als griechisch formierte Gemeinwesen sowie in ihrer Funktion als regionale bzw. überregionale Zentren politisch, kulturell und wirtschaftlich tief in ihr indigen geprägtes Umland hinein. Ihr Beitrag zur Hellenisierung des kleinasiatischen Binnenlands kann demnach kaum überschätzt werden. Die mit der Gründung der Neuen Poleis auch angestrebte Zentralisierung der Staatsfunktionen auf regionaler bzw. überregionaler Ebene konnte durchaus mit der Dezentralisierung der Staatsfunktionen einhergehen. Dies war in seleukidischer Zeit der Fall, wo zwischen ca. 260–215 v. Chr. die primär aus der Schwäche des Gesamtreiches resultierende Dezentralisierung oft bis an die zeitweilige Einflusslosigkeit des Zentralstaates reichte. Unter diesem Umständen waren es gerade die weiterhin prosperierenden Städte, die, völlig unabhängig von ihrem Status, während der Galatereinfälle der 60er bis 40er Jahre sowie während der Kämpfe zwischen Seleukos II. und Antiochos Hierax und sodann zwischen Achaios d. J. und Antiochos III. den Schutz der Bevölkerung des kleinasiatischen Binnenlandes zumindest teilweise gewährleisteten. Die eher lockere Einfügung der regionalen und überregionalen Zentren in die Strukturen des hellenistischen Staats endete spätestens 188 v. Chr., also mit dem Beginn der Attalidenherrschaft über weite Teile Kleinasiens. Anders als im eher locker strukturierten Großreich der Seleukiden, gab es in dem straff zentralistisch organisierten Attalidenreich, das aus einem Kleinstaat hervorgegangen war, systemisch keinen Platz für eine eigenständige Rolle der alten und der Neuen Poleis, vor allem aber der indigenen Städte. Letztere wurde sämtlich in Neue Poleis umgewandelt, und alle Poleis wurden fest in das Gefüge des Pergamenischen Staates eingebaut. Dabei erhielten einige regionale bzw. überregionale Zentren die Stellung von Hauptstädten der attalidischen Reichsprovinzen. Und insgesamt gesehen standen alle Poleis des Attalidenreichs unter viel stärkerer Kontrolle der Monarchen und der königlichen Verwaltung, als es während der Seleukidenherrschaft der Fall gewesen war.
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Uwe Puschner
Sparta – »Lichtblick in der Menschheitsgeschichte«: Völkische Perspektiven
Bereits zu der Zeit, als der Stadtstaat eine Hegemonialmacht in Griechenland war, begannen »nichtspartanische Autoren seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr.« damit, ihn in »verklärten, teilweise erfundenen Bildern« zu zeichnen und den Mythos Sparta zu begründen. »Verklärungen, Idealisierung, aber auch Verdammungen« charakterisieren fortan bis in die Gegenwart »le mirage spartiate« (FranÅois Ollier). Und wer den weiteren Gang des Mythos, der Legenden, der Utopie Sparta in der Geschichte verfolg[t] […,] wird entdecken, daß jede Zeit, jede politische Richtung sich ihr eigenes Sparta formte, um jeweils die eigenen Ziele zu legitimieren.1
Das gilt insbesondere für den Totalitarismus im 20. Jahrhundert, zumal »Sparta […] der erste totalitäre Staat der Weltgeschichte« und Vorbild war.2 »Wenige Erscheinungen der antiken Welt begegnen heute so allgemeinem und lebendigem Interesse wie der spartanische Staat«, leitete Helmut Berve, damals Professor der Geschichte an der Münchner Universität, sein 1937 erschienenes Sparta-Buch mit der Begründung ein: Jugenderziehung, Gemeinschaftsgeist, soldatische Lebensform, Einordnung und heldische Bewährung des einzelnen, Aufgaben und Werte also, die uns selbst neu erstanden sind, scheinen hier in einer Klarheit gestaltet, mit einer Unbedingtheit verwirklicht, die geradezu aufruft, sich in diese einzigartige Staatsschöpfung zu vertiefen.3
Berve formuliert die zentralen Topoi des von ihm und weiteren Hochschullehrern und ihren Schülern maßgeblich mitbegründeten und ausgestalteten nationalsozialistischen »spartianisme« (Henri Lichtenberger).4 Davon zeugen zahllose Äußerungen der NS-Elite von Hitler über Goebbels und Göring bis
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Baltrusch 2011, S. 42 u. 59; Ollier 1933/43. Baltrusch 2010, S. 12. Berve 1937, S. 7. Zu Berve s. Rebenich 2001. Lichtenberger 1936, S. 153–175.
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Darr¦ und Rust ebenso wie die massenhaft publizierte nationalsozialistische Weltanschauungsliteratur.5 Die Begeisterung für Sparta im europäischen Denken erlebte im Nationalsozialismus ihren extremen Höhepunkt;6 die nationalsozialistischen Narrative waren gleichwohl nicht originär. Sie griffen vielmehr Denkmuster auf, die im 19. Jahrhundert entwickelt, im Übergang zum 20. Jahrhundert von völkischen Weltanschauungsagenten rassenideologisch überformt und – wie vieles von der völkischen Ideologieproduktion – anschließend vom Nationalsozialismus aufgegriffen wurden. Denn die Beobachtung von Elizabeth Rawson, daß Sparta »the most purely nordic state in Greece [was], and an exemplar of National-Socialist virtues«,7 gilt uneingeschränkt bereits für die Völkischen. Die nordische Herkunft der Griechen, insbesondere der Athener und Spartaner und vor allem ihrer Oberschichten und Eliten, stellte eine der wesentlichen Vorbedingungen für die Beschäftigung der völkischen Weltanschauungsarchitekten mit der griechischen Antike dar, wie auch bei den publizistisch hochaktiven Multiplikatoren völkischer Welt-, Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen Einigkeit darin bestand, abgesehen von vereinzelten, für die völkische Bewegung charakteristischen konträren Auffassungen, daß, wie es mit Max Robert Gerstenhauer einer der seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs führenden völkischen Akteure feststellte, [i]n der Bronzezeit (2000 bis 800 vor Chr.) […] die indogermanischen Völker (Inder, Perser, Griechen, Italiker, Illyrer, Kelten, Slawen) der Reihe nach von der nordischen Urheimat aus nach Süden und Osten [wanderten]. Überall betätigten sie sich als Staatengründer und Kulturträger, ihr Werk ist die hohe Kultur der vorderasiatischen Reiche und der sogenannten ›Antike‹ (Griechen und Römer). Das Schlagwort ›ex Oriente lux‹, daß aus dem Osten (Asien) das Licht (der Kultur) gekommen sei, gehört einer jetzt gründlich widerlegten, veralteten Geschichtsforschung an; in Wirklichkeit ist das Licht der Kultur aus dem Norden, von der kulturschöpferischen nordischen Rasse gekommen. Die letzte indogermanische Gruppe, die aus Skandinavien und Norddeutschland nach Süden vordrang, waren die Germanen.8
Der entschiedenen, von offensichtlichen antisemitischen Motiven unterlegten Ablehnung und mit kruden Argumenten geführten Widerlegung der seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten »ex oriente lux«-Theorie stellten ideologisch ge5 Chapoutot 2014, S. 227–240, Zit. S. 230; hier wie auch bei Losemann 2012, bes. S. 275–296, u. Baltrusch 2011, S. 62f. Hinweise auf grundlegende und aktuelle Forschungsliteratur zu Sparta und dem Nationalsozialismus des weiteren in den Fallstudien von Rebenich 2006, u. Roche 2013. 6 Rawson 1969, S. 1. S. auch Köck 2015, S. 208 mit dem kritischen Urteil von Ludwig Schemann. 7 Rawson ebd. 8 Gerstenhauer 1937, S. 3, u. drei Jahrzehnte früher mit ähnlichen Worten u. mit Ausfällen gegen »unsere altklassischen Philologen und hebraisierenden Theologen« Khull-Kholwald 1912. Für den Hintergrund s. Puschner 2004 u. bes. Wiwjorra 2006, S. 266–278.
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leitete völkische Laienforscher wie Karl Penka und Ludwig Wilser die »ex septentrione lux«-Lehre entgegen.9 Mit der Verlegung der indogermanischen, arischen und mitunter gesamtmenschheitlichen Urheimat in den europäischen Norden und mit den von dort ausgehenden, zeitlich versetzten Wanderungswellen begründeten die völkischen »Systembauer« das der Weltanschauung eingelagerte Prädestinations- und Suprematie-Dogma der arischen, indogermanischen bzw. germanisch-deutschen Rasse,10 die »zur geborene[n] Trägerin der Weltcivilisation« ausgerufen wurde.11 Damit ließen sich nach Belieben (nicht nur) die europäischen und vorderasiatischen Hochkulturen rassengeschichtlich erklären und rassenideologisch naturalisieren. Das völkische Interesse galt vor allem den antiken Griechen. Denn anders als »bei den Sumerern, Ägyptern, […] Semiten, […] Hetthitern, […] Indo-Iraniern […] sind die Griechen das erste nordische Volk, das seine Anlagen völlig zur Entfaltung bringt.«12 Wenngleich der Wiener Rassenkundler Otto Hauser selbst in völkischen Kreisen umstritten war, hätte der völkische mainstream dieser Auffassung zugestimmt. Die von den Völkischen aufgenommene Begeisterung für das antike Griechenland und besonders für – in den Worten eines produktiven völkischen Geschichtsapologeten – »Alt-Athen und Alt-Sparta« hat im deutschen Sprachraum eine ebenso lange, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende und mit dem preußisch-deutschen Nationalstaat seit 1871 neu akzentuierte Tradition wie das von dem englischen Romancier Edward Bulwer (seit 1866 Lord Lytton) und dem deutschen Juristen Hermann Müller 1842 bzw. 1844 formulierte Theorem vom ›nordischen Griechentum‹.13 Von akademischen, von nationaler Emphase getragenen Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen und unter namhafter Beteiligung von Laienforschern sowie von variierenden weltanschaulichen Interessen geleiteten Autoren wurde dieses Theorem im Kontext der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts forcierten Arier- und Germanenforschung in den folgenden Jahrzehnten kultur- und literaturgeschichtlich, sprachwissenschaftlich, archäologisch, anthropologisch und insbesondere rassengeschichtlich zu untermauern gesucht. Wie die Referenzen und Belege der völkischen Weltanschauungspublizistik veranschaulichen,14 wurde von den völkischen Protagonisten 9 Wiwjorra 2002; zu den antisemitischen Motiven s. Wiwjorra 2006, S. 278–280. 10 Mohler/Weissmann 2005, S. 399. 11 Woltmann 1903, S. 287. Zur Theorie der ›nordischen Urheimat‹ s. Wiwjorra 2007, S. 319–321. 12 Hauser 1924, S. 208. 13 Wolf 1935, S. 87. Zur Genese und Entwicklung des Theorems vom ›nordischen Griechentum‹ s. Wiwjorra 2006, S. 280–300, zu Bulwer u. Müller S. 283–287, u. zu Sparta s. Losemann 2012, S. 254–259, sowie in Hinblick auf die Geschichtswissenschaften Christ 1986, bes. S. 8–45. 14 S. beispielhaft hierfür Reibmayr 1910 u. Günther 1929a.
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die wissenschaftliche, aber auch höchst spekulative Literatur, »die einer Stützung der These vom ›nordischen Griechentum‹ dienlich sein könnten, mit Argusaugen durchleuchtet und dann dem eigenen Erkenntnisinteresse entsprechend aufbereitet« in den eigenen Weltanschauungskosmos eingefügt.15 Die völkischen Blicke richteten sich über das antike Griechenland hinaus in besonderer Weise auf Sparta. Dafür hatte der von den völkischen Weltanschauungsarchitekten zum »Rasse-Philosophen« gekürte Arthur de Gobineau mit seinem rassischen Ungleichheitsdogma und arischen Superioritätspostulat bereits an der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Erklärung geliefert,16 wenn er, wobei er von einer asiatischen Herkunft der Arier ausgeht, feststellt, daß in Sparta »das Volk arischer« war (»[l]e peuple […] ¦tait plus arian«) und vor allem die Dorier »den übrigen hellenischen Stämmen vom socialen Standpunkt weit überlegen […] waren« (»[…] bien sup¦rieurs aux autres tribus hell¦niques au point de vue social […]«).17 Das Beispiel Sparta lieferte den Völkischen vielfältiges Anschauungsmaterial, um daraus, wie grundsätzlich aus der Geschichte, »für die wichtigen Fragen unserer Zeit […] zu lernen, Folgerungen und Forderungen zu ziehen.«18 Attraktiv war Sparta für die Völkischen deswegen, weil sich an ihm zentrale völkische Staats- und Gesellschaftsauffassungen und -ziele nicht nur aufzeigen, sondern vor allem ihre Richtigkeit sich historisch legitimieren ließ. Der »ex septentrione lux«-Lehre und dem von dem Wiener Gymnasiallehrer Karl Penka und dem Berliner Schriftsteller Ernst Krause im »völkischen Geschichtsverständnis etablierte[n]« Theorem vom ›nordischen Griechentum‹ zufolge fand die arische/indogermanische/nordische Inbesitznahme Griechenlands in mehreren Eroberungswellen vornehmlich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend statt;19 nach den »nordischen Achaiern« kamen zuletzt und am Ende des Jahrtausends die Dorier,20 die ursprünglich »im heutigen Nord-Deutschland« ansässig gewesen sein sollen.21 Deren rassische Zuschreibung zur »nordeuropäischen Menschenart (Homo europaeus)« belegten der völkischen ›blaublonden‹ Rassenideologie gemäß äußerliche Körpermerkmale,22 die in überaus freizügiger Auslegung der antiken griechischen mythischen wie schriftlichen Überlieferungen, der Zeugnisse der bildenden Kunst (Plastiken, Vasen etc.) und archäologischen Befunde (Grabfunde) sowie mit Hilfe von akrobatischen ety15 16 17 18 19 20 21 22
Wiwjorra 2006, S. 296. Lange 1904, S. 141 FN. Gobineau 1900, S. 66f. u. Zit. S. 109; frz. Original Gobineau 1853, S. 482. Wolf 1913, S. IV. Wiwjorra 2006, S. 290. S. hierzu etwa Erbt 1925, S. 69 u. 72, Günther 1929b, S. 203, u. ders. 1929a, S. 14f. Hentschel 1924, S. 64. Wilser 1912, S. 59; von »Blaublonden« sprechen z. B. Hentschel 1925, S. 15, u. Schwaner 1914.
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mologischen Sprachvergleichen erklärt wurden. Danach waren »die alten Hellenen […] blond, blauäugig, weisshäutig, von hoher Statur und [von] dolichocephalem Schädelbau« und damit – quod erat demonstrandum – Angehörige des »nordischen Typus«.23 Im Fall der Spartaner kam hinzu, daß »sie die rassenhaften Eigenschaften der Griechen in ihrer Gipfelung und in Reinzucht darbieten.«24 Das bezog sich zunächst, wie der bis zum Ausgang der 1920er Jahre im völkischen Milieu beheimatete Hans F.K. Günther die dort etablierten Anschauungen resümiert, auf das »Staatswesen« und seine rassische Schichtung […]: drei Volksklassen setzen die Bevölkerung zusammen 1. die Spartiaten, die Klasse der Herren dorischen Stammes, welche sich selbst als die Gleichen (homoioi) bezeichneten, 2. die Klasse der zwar freien heerespflichtigen, doch zinspflichtigen Perioikoi, in der Hauptsache aus Nachkommen der nordischen Achaier bestehend, welche bei der Einwanderung dorischer Stämme schon stärker entnordet gewesen sein mußten, 3. die Heiloten, Nachkommen der vorhellenischen, schon von den Achaiern unterworfenen nicht-nordischen Bevölkerung.25
Sparta stellte vor diesem Hintergrund – anders als das aus »Klassenkämpfen« hervorgegangene Athen – einen seine Existenz »aus Rassenkämpfen« begründenden, von den Spartiaten als »Kriegeradel« beherrschten rassenaristokratischen Modellstaat dar.26 Sparta war den Völkischen das historische, aber auch ein mahnendes Vorbild, weil hier, wie sie nicht müde wurden zu betonen, die ihrer Weltanschauung zugrundeliegenden Gesetze der Rasse konsequent befolgt wurden. Es war in den Worten des völkischen Nacktkulturapologeten und antisemitischen Agitators Heinrich Pudor ein »Lichtblick in der Menschheitsgeschichte […], das gelobte Land der Kraft, […] welche Natur und Sittlichkeit vereinigte.«27 Pudors euphorischer Ausruf galt der körperorientierten, gemeinschaftsbildenden Erziehung der männlichen und weiblichen spartanischen Jugend, die er, religiös unterlegt, mit lebensreformerischen, in die völkische Rassenideologie 23 Penka 1886, S. 107, u. Kossinna 1914, S. 269. Beide wie auch Günther 1929b, S. 203, u. ders. 1929a, S. 18–35, ferner Hentschel 1924, S. 71–75, nehmen auf ihre antiken Referenzen Bezug; zum mythologischen und etymologischen Vergleich s. beispielsweise Krause 1891 u. 1893, sowie Stuhl 1911 u. 1921 u. 1932. 24 Schemann 1930, S. 81. 25 Günther 1929b, S. 203. 26 Woltmann 1903, S. 235; Hentschel 1924, S. 66. S. zum Hintergrund Gerstner 2006. 27 Myron/Pudor 1904, S. 604; der Beitrag erschien mit Verfassernamen unter demselben Titel wortgleich in: Festzeitung für das 12. Deutsche Turnfest in Leipzig 1913, Nr. 5, S. 118, sowie kurz zuvor und um zeitgenössische Photographien mit männlichen Sportwettkämpfen ergänzt, inhaltlich leicht verändert in: Kraft und Schönheit. Monatsschrift für moderne Kultur 13 (1912/13), S. 291–293, u. nochmals – ohne Illustrationen – in: Kraft und Schönheit 23 (1923), S. 104f.
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übernommenen Forderungen und mit den völkischen Zielen verband,28 nämlich disziplinierte, tatbereite, wehrtüchtige, furchtlose, todesmutige Männer heranzuziehen und die Reproduktionsfähigkeit der Frauen auszubilden. Die geschlechterspezifische völkische Aufgabenverteilung war auf den dominanten Mann und dessen heroische Männlichkeit ausgerichtet, weswegen, »um kraftvolle Söhne haben zu können, […] wir kraftvolle Mütter haben [müssen], die mit der Kraft selbst schwanger gehen, denen das Gebären eine Wollust und Sehnsucht ist, denen die Geburtsstunde eine Freudenstunde, nicht eine Schmerzensstunde ist.«29 Diese Mütter sollten »spartanische Jünglinge« erziehen, Jünglinge, die Mark in den Knochen und Saft im Hirn und Blut in den Hacken haben, Jünglinge, die noch Ikarus-Sehnsuchten und Prometheus-Gelüste haben, denen die Ehre mehr gilt als das Leben und die Tat mehr als das Streben, die ständig nach Gefahren ausschauen, die sich lieber die Hand im Feuer kohlen lassen, als ein Haar breit von ihrer Überzeugung abgehen, die Kraft nicht nur im Blute und in den Knochen, sondern auch im Hirn und im Herzen haben: spartanische Jünglinge – Bären an Kraft – junge ›alte Deutschen‹, die in der Johannisnacht mit nacktem Leibe Schwerttänze aufführen, die wie arabisches Vollblut Hunger und Durst vertragen können, denen Winters Schnee und Eis, denen Springflut, denen Sturm und Unwetter willkommene Mittel sind, sich auszuleben und auszutoben, die alle Arten der Naturkraft und der elementaren Kraft im eigenen Leibe tragen und denen Sieghaftigkeit auf der Stirne geschrieben steht.30
Diesen heroischen Erziehungsgrundsätzen war Willibald Hentschels rassenzüchterisches Mittgart-Projekt verpflichtet.31 Unter Verweis auf Sparta, wo »Körperentwicklung, Charakterbildung und Gehorsam als […] Grundlagen soldatischer Tugend« galten,32 sollte in den Mittgart-Siedlungen der männliche, in Hundertschaften zusammengefaßte Nachwuchs erzogen und ausgebildet werden, während die Mädchen »im Gehege ihrer Mütter« auf ihre zukünftige Mutterrolle vorbereitet werden sollten.33 Nach Hentschels in und außerhalb der völkischen Bewegung kontrovers diskutierten Züchtungsplan sollten in den ländlichen Siedlungen, die vorzugsweise auf ostelbischen Rittergütern eingerichtet werden sollten, von je hundert Männern und tausend Frauen »neue« »heroische« »nordische Menschen« gezeugt und das »Heldenvolk der Zukunft« 28 S. hierzu bes. Hentschel 1924, S. 68. 29 Myron/Pudor 1904, S. 606; s. auch Ungewitter 1909, S. 83. Hierzu Möhring 2004, S. 230–237, u. zum völkischen Geschlechterverhältnis Puschner 2005a. 30 Myron/Pudor 1904, S. 607. Vgl. hierzu und s. zu den völkischen Erziehungsidealen Puschner 2001, S. 136–138; Ulbricht 2007, bes. S. 34–38, u. Gerstner 2007, bes. S. 71–76. 31 Hentschel 1911; s. hierzu Puschner 2011, u. zu Hentschels weltgeschichtlichen Interpretationen und speziell Sparta s. Köck 2015, bes. S. 264–266. 32 Hentschel 1924, S. 68. 33 Hentschel 1911, S. 24.
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geschaffen werden.34 Sparta war ihm dabei Vorbild, wenn er etwa auf dessen »rassen-hygienische und züchterische Veranstaltungen« hinwies oder wenn er an die Zeitgenossen und vor allem an seine Gesinnungsgenossen appellierte, »uns in spartanische Bahnen [zu] drängen«, und von einem »Held[en] der Zukunft – ein[em] germanische[n] Lykurg« (als der er sich wohl selbst sah) zu träumen.35 Mit Etablierung der Eugenik (im Verbund mit dem Sozialdarwinismus) im Übergang zum 20. Jahrhundert avancierte Sparta, ihr Begründer Francis Galton äußerte sich kritisch dazu,36 zur wichtigsten historischen Referenz für eine erfolgreiche Anwendung eugenischer und rassenhygienischer Maßnahmen und gezielter Menschenzüchtung. Lykurg identifizierten völkische ›Experten‹ als einen »sehr bewusste[n] Rassenhygieniker«,37 die Gesetzgebung auf Grundlage »gemeinindogermanische[r] Anschauungen« als »bewußt[e]« Förderung von »Erbgesundheit« und »Volkskraft«, mit der »Sparta […] weit über dasjenige Maß hinaus[ging], welches unsere Rassenhygieniker für notwendig halten.«38 Für die völkische Klientel galt insofern die Mahnung des Theo- und Ariosophen Harald Grävell: Wir verabsäumen es durch strenge Gesetze im Sinne des Lykurg die Rasse zu erhalten und zu verbessern. Hier können wir von den Spartiaten noch viel lernen. Denn wir brauchen eine strenge Menschenzucht, wenn das Ariertum nicht verfaulen soll.39
Der innen- und außenpolitische Erfolg Spartas beruhte völkischer Lesart zufolge auf der konsequenten Befolgung der Gesetzgebung Lykurgs,40 die aus den »Gegensätze[n] der […] Spartiaten zu Periöken und Heloten« resultiere und auf einen »Prozeß der sozialen Differenzierung« verweise, der »auf rasseinstinktive Regungen zurückzuführen ist und [… dem] zuchtwählerische Tendenzen zugrunde liegen.«41 Die lykurgische Gesetzgebung verfolgte demnach das Ziel, mit den rassisch überlegenen Spartiaten ein Geschlecht heranzubilden und auf der Höhe zu halten, das es […] fertiggebracht hat, in der kleinen Anzahl von einigen Tausenden Jahrhunderte lang 120000 achäische Periöken und 200000 Heloten der Urbevölkerung als stolze, harte Herren im Schach zu
34 35 36 37 38 39 40
Hentschel 1907, S. 600, 601, 602 u. 593. Hentschel 1911, S. 16, ders. 1907, S. 593. Galton 1910, S. 374. Ploetz 1895, S. 5. Günther 1929b, S. 204; Hentschel 1924, S. 70. Graevel 1905, S. 108. Schemann 1930, S. 80: »Wir wissen ja, daß alle eugenischen und rassenhygienischen Vorschriften in Sparta ihre schärfste Zuspitzung, aber auch ihre wirksamste Anwendung gefunden haben.« 41 Driesmans 1907, S. 9f.
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halten und als willenlose Werkzeuge in der von ihnen betriebenen tonangebenden hellenischen Politik zu verwenden.42
Für den dauerhaften Machterhalt galt es daher, mit Hilfe von drei, der lykurgischen Gesetzgebung unterliegenden »Züchtungsprinzipien« »das politische und kriegerische Talent zu erhalten, ja, wenn möglich noch zu steigern«: 1. Durch die exklusive Inzucht des spartanischen Herrenstandes nach außen hin sollten bestimmte, für die Herrscher und Kriegskunst wichtige Charaktere erhalten und gesteigert werden; durch die Promiskuität innerhalb des Herrenstandes selbst sollte andererseits die möglichste Gleichheit dieser Charakterzucht angestrebt werden. 2. Diese im Herrenstand fixierte Charakterzucht und künstlerische Anlage sollte durch eine sehr strenge gleichmäßige Erziehung und ein entsprechendes Milieu in ihrer Entwicklung unterstützt und verstärkt werden. 3. Durch die Gleichheit des Besitzes und eine möglichst einfache naturgemäße Lebensführung durch Vermeidung alles verweichlichenden Reichtums und Luxus sollte die körperliche und gesitige Degeneration des Herrenstandes verhütet werden.43
Der Arzt und »Rassentheoretiker« Albert Reibmayr formuliert mit seinen detaillierten rassenbiologischen Ausführungen über den »spartanischen Nationalcharakter«,44 die 1910 in der Politisch-anthropologischen Revue, dem völkisch-rassenhygienischen Leitmedium, erschienen, die Grundannahmen der völkischen Anschauungen vom spartanischen Staat und von der Effizienz rassenhygienischer und -züchterischer Praxis.45 In den Bezugnahmen auf Sparta werden in diesem Zusammenhang die eigenen völkischen Vorstellungen von (heroischem) Individuum, von Familie (als »Zelle des Organismus«), von (antikapitalistischem, bodenreformerisch-agrarisch geprägtem) Wirtschaftssystem und (rassenhierarchischem) Gesellschafts- und Staatsaufbau (mit einer rassenaristokratischen Oberschicht) ebenso gespiegelt wie der völkische Wertekanon,46 wenn mit dem Gobineau-Übersetzer Ludwig Schemann ein überaus aktiver Multiplikator völkischen Denkens resümiert, daß alle die Züge, welche die Spartaner […] entfaltet haben, die Hochhaltung der Tradition als der heiligen Kette, die sich durch ihr gesamtes Dasein als Volk schlang, der Sinn der Ehrfurcht, der Instinkt für Zucht, der schwere Ernst und der heroische 42 43 44 45
Schemann 1930, S. 80. Reibmayr 1910, S. 223. Hertz 1915, Zit. S. 264 u. zu seiner Theorie 30f. Zur Bedeutung Reibmayrs als wesentliche Referenz s. z. B. Hauser 1924, S. 215, u. Schemann 1930, S. 81, u. Schemann 1938, S. 55 passim; Kuhlenbeck 1904, S. 94–97, der in Zusammenhang mit seinen Sparta-Ausführungen einen in der Politisch-anthropologischen Revue 1 (1902), S. 21ff., erschienenen Beitrag Reibmayrs »Ueber den Einfluss der Inzucht und Vermischung auf den politischen Charakter einer Bevölkerung« rezipiert. 46 Vgl. Woltmann 1903, S. 172 passim; Damaschke 1912, S. 271; Hentschel 1924, S. 66–69; Günther 1929b, S. 203f.; Schemann 1930, S. 79–81, Zit. S. 79.
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Grundton ihrer Gottesverehrung, ihrem Gesamtwesen und -tun einen Charakter von Großartigkeit, ja von Erhabenheit verleihen. […] Das so urlakonische Vermächtnis des Leonidas an seine Gattin: ›Heiratet Edle und gebärt Edles!‹ enthält so einen wahren Kanon aristokratisch-heroischer Rassenzucht.47
Sparta war den Völkischen nicht nur Vorbild zur Nachahmung, sondern auch mahnendes Beispiel für Fehlentwicklungen in der Moderne bzw. in Hinblick auf die zeitgenössischen Rassenreinzüchtungstheorien. Albert Reibmayr, der »im Wechsel von Inzucht und Vermischung das Gesetz des Kulturfortschritts« erkannt zu haben glaubte und seine Erkenntnis in seiner Deutung Spartas zu profilieren suchte,48 sah die Ursache für den Niedergang Spartas in der einseitigen Züchtung der für die Existenz und die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft wichtigsten Künste: die Herrscher- und Kriegskunst, wobei sie die Züchtung des Talents aller übrigen Künste vernachlässigten. Aber auch in ihren Spezialkünsten strebten sie nur die Züchtung des gleichmäßigen Talentes an und standen allen über die gewünschte Zuchthöhe hinausreichenden Anlagen feindlich entgegen. Die Züchtungsmittel, welche sie zur Erreichung dieses Zweckes anwendeten, waren naturgeschichtlich ganz richtige: enge Inzucht innerhalb der Kaste bei künstlicher Auslese der Untauglichen, ferner gleichmäßige strenge Erziehung und einheitliches Milieu.
Die langfristigen Folgen dieser einseitigen »Züchtungsmethode« führte jedoch in Verbindung mit dem »Mangel genialer Naturen« zu einem Rückschritt auf allen Gebieten, welche für den Kampf ums Dasein wichtig sind […]. Alles ringsum machte Fortschritte, nur Sparta war mit der bereits erreichten Talentund Zuchthöhe zufrieden. […] An diesen biologischen Nachteilen zu enger Inzucht, an der Erstarrung der Charaktere und der Abnahme der geschlechtlichen Reproduktionskraft ist der spartanische Herrenstand zugrunde gegangen.49
Hans F.K. Günther erklärte demgegenüber mit deutlicher kulturkritischer Bezugnahme auf die eigene Gegenwart und auf völkisches Denken Spartas Niedergang als Folge eines Spartanern (wie Deutschen) wesensfremden, der Volksgemeinschaft zuwiderlaufenden Individualismus: Aufklärerische Lehren, von außen in Sparta eindringend, Lehren, welche den Einzelmenschen und dessen Rechte gegenüber den Pflichten des Einzelnen zur Einordnung in Geschlecht und Staat betonen, mußten die sittlichen Anschauungen der lykurgischen Gesetze auflösen und damit Zucht, Familienleben und Fortpflanzung der Herrenschicht beeinträchtigen.50
47 Schemann 1930, S. 81. 48 Becker 1990, S. 363; s. auch von zur Mühlen 1977, S. 94f., 139f., u. Geulen 2004, S. 184f.; Reibmayr 1908. 49 Reibmayr 1910, S. 243. 50 Günther 1929b, S. 204.
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Deutlich kritischer urteilte der Düsseldorfer Gymnasiallehrer Heinrich Wolf, dessen auflagenstarke sechsbändige Angewandte Geschichte drei Jahrzehnte lang zum Kanon der völkischen Geschichtsschreibung gehörte,51 über Sparta. Für Wolf konnte Sparta schon deswegen kein völkisches Vorbild sein, weil sich dort eine »Art von Staatssozialismus, von kommunistischer Gemeinschaft« entwickelt habe.52 Entscheidend und weitaus wichtiger als der im völkischen Denken fest verankerte und auf Sparta projizierte antisozialistische und antibolschewistische Affekt war für Wolf, daß die Hegemonialmacht im 4. und 3. Jahrhundert erst – infolge von »Armut und Not, Unrecht und Zwietracht, Krieg und Verwüstungen« und in einer Situation, in der unter einer der »engherzigste [n] Oligarchie[n], häßlicher als irgendwo in Griechenland, […] die Ungleichheit aller Besitzverhältnisse und die Geldgier der ›Wenigen‹ hervor[traten]« – zum »Idealstaat« und Lykurg zum »Retter und Heiland« stilisiert wurde.53 Es entstand eine Entlastungsideologie, in dem »[m]an […] einen vorlykurgischen Zustand [erdichtete], der genau der traurigen Lage der eigenen Zeit […] entsprach«, und »die ›führenden, maßgebenden‹ Männer« ließen sich »in die Vorstellungswelt der Massen ziehen […] und unter ihren Händen wurde die Dichtung Geschichtsfälschung.« Wolf greift wiederum mit seiner Oligarchie- und Massenkritik in das völkische Ideologiearsenal und suggeriert mit der »sozialen Frage« weitere Gegenwartsbezüge und kommt – nach einer Suada über die »sozialistische[n] Volksbeglücker« und deren Deutung der »Geschichte des klassischen Altertums […] als die Verdrängung des Privateigentums durch den Kommunismus« – zu dem Ergebnis: »In alter und neuer Zeit hat die Lykurg-Legende wie eine Seuche gewirkt.«54 Wolf stand mit seinem vernichtenden Urteil über Sparta allein auf der völkischen Flur. Seine Auslassungen sind gleichwohl ein signifikantes Beispiel für die Interpretationsmöglichkeiten, die den Völkischen Sparta für ihre Zeitkritik ebenso bot wie für die mit Hilfe der arisch-indogermanisch-nordischen Rassengenealogie historisch begründete Rechtfertigung der völkischen Gesellschafts- und Staatsentwürfe. Die ideologische Indienstnahme Spartas durch die Völkischen war nicht originell, vor und nach ihnen bedienten sich »Republikaner, Monarchisten, Demokraten, Sozialisten, Nationalsozialisten […] bedenkenlos des Modells Sparta«,55 neu war hingegen die rassische Auslegung. Mit ihr
51 S. zu ihm, seinem Werk u. dessen Aufnahme in der völkischen Bewegung Puschner 2005b, hier S. 292, u. Köck 2015, S. 153–174. 52 Wolf 1913, S. 18; s. auch Köck 2015, S. 159. 53 Wolf 1935, S. 87f. 54 Wolf 1935, S. 88–90. Zum völkischen Masse-Ideologem s. Saal 2015. 55 Baltrusch 2010, S. 118.
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schufen die Völkischen die Grundlagen für die »dezidiert politische Verwendung des Modells Sparta […] im NS-Staat«.56
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Heinrich Schlange-Schöningen
Zur Funktion der Antikenbezüge bei Rousseau
Im 8. Buch seiner Confessiones schildert Augustinus, wie er nach langen Zweifeln und innerer Zerrissenheit endlich zum Glauben fand. Es ist die berühmte Szene in einem Garten in Mailand im Jahr 384 n. Chr. Aufgewühlt von der Erzählung über das Leben des heiligen Antonius hofft der dreißigjährige Augustinus auf göttlichen Beistand und erfährt ihn durch eine Kinderstimme, die aus dem Nachbargarten zu vernehmen ist: Tolle legge – »nimm und lies«, und Augustinus greift zur Bibel, öffnet sie und stößt auf die Worte des Paulus aus dem Römerbrief: »Lebet nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten.«1 Die 13 Bücher des Confessiones Augustins, geschrieben als eine Dankesrede an Gott, zeigen eine schonungslose Selbstentkleidung eines sich als sündhaft empfindenden Menschen der Antike, der sich von den weltlichen Werten nur schwer lösen kann, dann aber zur inneren Ruhe seines christlichen Glaubens findet, und diese Bekenntnisse sollen den Leser erreichen gerade durch die nachdrückliche Infragestellung der eigenen Person, die im christlichen Glauben neu entsteht. Der sich schonungslos zu seiner Sündhaftigkeit bekennende Augustinus gelangt zu Gott.2 Im 8. Buch seiner Confessions erzählt Jean-Jacques Rousseau von dem Wendepunkt seines Lebens. Auch er ist auf der Suche nach seiner Bestimmung, er hat als Komponist, als Erfinder eines neuen Notationssystems und als Dichter nur mäßigen Erfolg in Paris, er lebt in bescheidenen Verhältnissen und in wilder Ehe mit der Wäscherin Th¦rÀse Levasseur ; er verkehrt in den Häusern der Aristokratie und in den Kreisen der lumiÀres, aber er hat sich doch bereits damit abgefunden, als Randfigur der Gesellschaft sein Leben zu verbringen.3 Im Herbst 1 Conf. VIII, 12 (Übs. J. Bernhart); Röm. 13,13f. 2 Vgl. z. B. Brown 2000, S. 137ff. 3 Zur Biographie Rousseaus vgl. u. a. Green 1955; Trousson 1988–1989; Trousson 2011; Landgrebe 2004; Cottret/Cottret 2005; Taureck 2009.
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1749 begibt sich Rousseau – er ist damals 37 Jahre alt – häufiger zu Fuß nach Vincennes, damals von Paris aus ein Weg von etwa zwei Stunden. Dort, im Schloss von Vincennes, stand sein Freund Denis Diderot unter Arrest, weil er in seinem Brief über die Blinden die Existenz Gottes in Frage gestellt hatte. Rousseau berichtet, dass es in jenem Jahr sehr heiß gewesen sei, so dass er bei seinen Märschen nicht nur viele Pausen habe machen müssen, sondern sich auch angewöhnt habe, unterwegs zu lesen, um sich so zum langsamen Gehen zu zwingen. Eines Tages hatte ich den »Mercure de France« bei mir, und während ich ihn nun so im Gehen durchblätterte, fielen meine Augen auf die von der Akademie zu Dijon für das nächste Jahr aufgestellte Preisfrage: »Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Veredelung der Sitten beigetragen?« Sobald ich diese Zeile gelesen, sah ich rings um mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch. […] Ganz deutlich erinnere ich mich noch, daß ich in Vincennes in einer Erregung anlangte, die an Wahnsinn grenzte. Diderot bemerkte es, ich nannte ihm daraufhin den Grund und las ihm die Prosopopöie des Fabricius vor, die ich mit Bleistift unter einer Eiche entworfen hatte. Er spornte mich an, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen und mich um den Preis zu bewerben. Ich tat es, und von diesem Augenblick an war ich verloren. Der ganze Rest meines Lebens und all mein Leiden war die unvermeidliche Wirkung dieses Augenblicks der Verwirrung.4
Wie bei Augustinus handelt es sich auch bei Rousseau um ein Buchorakel, das ihm ein neues Leben eröffnet: Rousseau gelangt aber nicht zur Erkenntnis Gottes, sondern zur Erkenntnis der Natur, und er wird zum Prediger von Natur und natürlicher Religion und zum Missionar einer einfachen, konventionslosen Lebensform werden und dabei auch selbst die Übereinstimmung von Lehre und Leben, von Wissen und Tugend demonstrieren. So will Rousseau seine Seele auch nicht vor Gott, sondern vor den Menschen öffnen. Und im Gegensatz zu Augustinus, der den Garten in Mailand als Heilsgeschehen erlebt hat und sich als von Gott aus seiner Sündhaftigkeit gerettet betrachtet, stellt Rousseau den nun beginnenden zweiten Teil seines Lebens als einen Leidensweg dar, der zwar zum literarischem Erfolg, aber damit auch zur Feindschaft seiner bisherigen Freunde, zu Neid und Intrigen und schließlich zur politischen Verfolgung führen sollte, die ihn 1762, kurz nach dem Erscheinen 4 Rousseau, Bekenntnisse, S. 445f. Alle weiteren Zitate aus den Bekenntnissen sind dieser Ausgabe entnommen. Auf die Wiedergabe des jeweiligen französischen Originaltextes der Bekenntnisse sowie von Zitaten aus anderen Schriften Rousseaus wird hier aus Platzgründen verzichtet; verwiesen werden soll aber wenigstens auf die Stellen in den Œuvres complÀtes de Jean-Jacques Rousseau, im Folgenden OC. Der hier zitierte Passus: OC I, S. 351. – Vgl. zu Rousseaus Bekehrungsbericht Hartmann 1953, S. 15–18; Hartmann 1966, S. 111–125, hier S. 115; Galliani 1996, S. 63; Touchefeu 1999, S. 101f.; Trousson 2011, S. 110f.; Weissberg 2013, S. 34–43.
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des Êmile, überraschend und mit aller Wucht treffen und vollends in Verzweiflung stürzen sollte.5 Hatte Diderot 1749/1750 zunächst im Turm und dann im Schloss von Vincennes für seine materialistischen Zweifel an der Existenz Gottes büßen müssen,6 so war es im Fall von Rousseau ein Abschnitt aus dem 4. Buch des Êmile, in dem es ebenfalls um die Religion geht. Der von der Zensur inkriminierte Abschnitt, der sowohl zur öffentlichen Verbrennung des Buches als auch zur polizeilichen Verfolgung seines Autors führte, war die Profession de Foi du Vicaire Savoyard, das »Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars«, in dem sich Rousseau gegen eine materialistisch begründete Gottesleugnung im Stile von Diderot und Helv¦tius aussprach, sich zugleich aber auch deutlich von jeglicher Dogmenbindung einer Verkündigungs- und Auslegungsreligion wie dem Christentum distanzierte.7 Rousseau hat dieses Bekenntnis zur natürlichen Religion autobiographisch eingebettet, indem er es 30 Jahre vor der Abfassung des Êmile stattfinden lässt. Damals, 1728, fand der junge, aus Genf geflohene Rousseau Aufnahme im Hospiz San Spirito in Turin, weil er versprochen hatte, vom Calvinismus zum Katholizismus zu konvertieren. Auf diese Weise konnte er für einige Zeit seinen Lebensunterhalt sichern, doch verlor er wohl schon in diesen Wochen angesichts seiner Erlebnisse im Hospiz, angesichts des dort auf ihn ausgeübten Druckes und auch angesichts der intellektuellen Unredlichkeit der mit ihm über Glaubensfragen und Kirchengeschichte diskutierenden Kleriker jedes Vertrauen auf die Heilskraft der Kirche. Dass nun der Vikar im Êmile von seinem eigenen langen und von Zweifeln begleiteten Weg zur natürlichen Religion berichtet, kann man durchaus als erneute Bezugnahme auf die Bekenntnisse des Augustinus lesen, der nicht anders als der Vikar die philosophischen und religiösen Schulen seiner Zeit erprobt hatte, bevor es zur Bekehrung in Mailand kam. Man sieht wohl schon an diesen einleitenden Bemerkungen, wie eng Rousseau und sein Werk mit der Antike verbunden sind. Im ›Bekehrungserlebnis‹ von 1749 ist dieser Bezug zur Antike doppelt gegeben: die Schilderung des Erlebnisses ist von Augustinus inspiriert, und zum Erlebnis selbst gehört die Präsenz der Antike in Gestalt des Fabricius, dessen Appell an seine römischen Zeitgenossen den ersten von Rousseau auf dem Weg nach Vincennes niedergeschriebenen Abschnitt seines Discours sur les sciences et les arts darstellt, mit dem er 1750 den Preis der Akademie von Dijon gewann. Mit Fabricius ist der römische Politiker Gaius Fabricius Luscinus gemeint, der in den ersten Jahr5 Zur Differenz zwischen Augustinus und Rousseau vgl. Landgrebe 2004, S. 282; Fritz 2007, S. 170–172. 6 Vgl. Trousson 2005, S. 125ff. 7 Vgl. Porset 1996, S. 753–756.
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zehnten des 3. vorchristlichen Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der römischen Republik und in ihrem Kampf gegen die Samniten spielte. Berühmt wurde sein Name in der Überlieferung, weil er im Kampf der Römer gegen Pyrrhos auf Kriegslisten und Verrat verzichtete und später trotz all seiner Erfolge ein anspruchsloses Leben führte; so wurde er zum Exempel römischer virtus.8 Im Folgenden soll zunächst anhand einer etwas genaueren Betrachtung der Confessions die Bedeutung der antiken Exempla im Werk Rousseau verdeutlicht werden (I.). In einem zweiten Schritt wird für die kulturkritischen und politischen Schriften Rousseaus erläutert, welche Funktion der Rückgriff auf die Antike für Rousseau auch außerhalb seines autobiographischen Berichts hat (II.). Zum Schluss soll noch kurz auf die Antikenbezüge in Rousseaus Erziehungsprogramm – also im Êmile – hingewiesen werden (III.). Keiner dieser Aspekte kann hier auch nur annäherungsweise in seiner ganzen Vielfalt und in allen seinen Bedeutungsebenen behandelt werden, denn für Rousseau ist die Antike der zentrale und omnipräsente Bezugsrahmen seines persönlichen Erlebens ebenso wie seiner philosophischen Schriften.9 I. Rousseaus Bekenntnisse, mit ihren über achthundert Seiten, in denen der Autor sein Leben von frühester Kindheit erzählt, voller Details auch intimster Art, sind mit ihrer rückhaltlosen und umfassenden Darlegung des eigenen Lebens grundlegend geworden für die Innenschau des modernen Menschen, der sein Ich entdeckt, und zwar in Opposition zur Gesellschaft und ihrer Wertungen.10 Es entspricht dieser Haltung, dass Rousseau wiederholt betont, er wolle sein Leben schildern, es aber nicht verteidigen. Gleichwohl sind die Bekenntnisse auch eine Apologie, gerichtet gegen ein Ende 1764 erschienenes anonymes Pamphlet mit dem Titel Sentiment des citoyens. Rousseau vermutete als Verfasser dieser Schrift einen früheren Freund, Jacob Vernes, der sich im Jahr zuvor von Rousseau öffentlich abgewandt hatte, doch hat die jüngere Rousseau-Forschung zeigen können, dass nicht Vernes, sondern Voltaire den anonymen Angriff geschrieben hatte.11 In ihm wird Rousseau als gescheiterter Künstler und Sittenstrolch diffamiert, der das Christentum verraten und seine Kinder ausgesetzt habe. Der Autor kannte also einen der wundesten Punkte im Leben Rousseaus, über den dieser in seinen Bekenntnissen dann auch ausführlich berichtet. Rousseau, der 1762 in die Schweiz geflohen und hier im damals preußischen Mútiers untergekommen war, arbeitete von 1764 bis 1770 an den zwölf Büchern seiner Bekenntnisse, die seinen Namen gegen die Angriffe seiner zahlreichen 8 Vgl. Elvers 1998, Sp. 382. 9 Die grundlegenden Arbeiten zum Thema Rousseau und die Antike sind Hartmann 1953; Müller 1997 und Touchefeu 1999. 10 Vgl. Misch 1969, S. 831ff.; Niggl 1977, S. 51f.; Williams 1983; Weissberg 2013, S. 42f. 11 Vgl. Eigeldinger 1996, S. 856.
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Feinde verteidigen sollten. Dafür meinte er sein Leben lückenlos darstellen zu müssen, und so unternahm er es, wie er zu Beginn des 7. Buches schreibt, »genau mein Inneres in allen Umständen meines Lebens zu enthüllen«.12 Wie stark diese »Geschichte einer Seele« mit der Geschichte der Antike verbunden ist, wird an Dutzenden von Stellen deutlich. Häufig wird ein Name oder Motiv aus der Antike verwendet wird, um das Gefühlsleben oder die Ideen, Erlebnisse und Erfahrungen des Autors zu verdeutlichen. Wie wichtig für ihn zunächst die römische Geschichte und dabei vor allem die Viten Plutarchs gewesen sind, erzählt Rousseau auf einer der ersten Seiten seiner Bekenntnisse. Das große Glück des kleinen, gerade erst 7jährigen Rousseau ist das Lesen, gemeinsam mit dem Vater, dem Genfer Uhrmacher, bisweilen nachts bis zum Morgengrauen.13 Erst lasen Vater und Sohn die Bücher aus der Bibliothek von Rousseaus Mutter, die bei seiner Geburt 1712 verstorben war. Dann kamen die Bücher aus der Bibliothek des Vaters an die Reihe. Und nicht nur abends nach der Arbeit, sondern auch während der Arbeit des Vaters wurde gelesen: Die »Geschichte der Kirche und des Kaiserreichs« von Le Sueur, Bossuets »Vorlesungen über Weltgeschichte«, Plutarchs »Lebensbeschreibungen berühmter Männer«, die »Geschichte Venedigs« von Nani, Ovids »Metamorphosen«, La BruyÀre, die »Himmelskörper« Fontenelles, seine »Totengespräche« und einige Bände von MoliÀre wurden in das Zimmer meines Vaters gebracht, und ich las ihm tagtäglich während seiner Arbeit daraus vor. Ich fand ein seltenes und für mein Alter vielleicht einziges Gefallen daran. Vor allem der Plutarch wurde mein Lieblingsbuch. […] Aus diesen interessanten Lesestunden und den Gesprächen, die sie zwischen meinem Vater und mir hervorriefen, erwuchs jener freie, republikanische Geist, jener stolze, unbeugsame, gegen jedes Joch und alle Knechtschaft aufsässige Charakter, der mich mein ganzes Leben in allen seiner freien Entfaltung ungünstigen Umständen gepeinigt hat. Ohne Unterlaß mit Rom und Athen beschäftigt, mit ihren großen Männern gewissermaßen lebend, selbst als Bürger einer Republik geboren und Sohn eines Vaters, dessen Vaterlandsliebe seine stärkste Leidenschaft war, entflammte ich an seinem Beispiel, fühlte mich als Grieche oder Römer und wandelte mich innerlich gewissermaßen in den Menschen um, dessen Leben ich gerade las; der Bericht von Zügen von Standhaftigkeit und Unerschrockenheit, die mich ergriffen hatten, erfüllte meine Augen mit Feuer und meine Stimme mit Kraft. Als ich eines Tages bei Tisch die Geschichte des Mucius Scävola erzählte, sah man mit Schrecken, wie ich meine Hand ausstreckte und über ein Kohlenbecken hielt, um seine Handlungsweise zu veranschaulichen.14 12 S. 350 (OC I, S. 278). 13 Zu Rousseaus Vater und zu Rousseaus frühen Lebenslauf vgl. neben den in Anm. 4 genannten Biographien auch Kupisch 1972, S. 87–102, hier S. 88–90. 14 S. 11f. (OC I, S. 9). Zu »Rousseaus Enthusiasmus für antike Tugendgröße« Rang 1959, S. 201f.; Berchtold 2006, S. 141–160, hier S. 142f. Zur zentralen Stellung Plutarchs unter den von Rousseau rezipierten antiken Autoren vgl. Touchefeu 1996c, S. 729–731; 1999, S. 11f.; 55–65. Vgl. auch Touchefeu 1999, S. 493ff. zu Rousseaus Brutusbild.
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Diese unbeschwerten Kindheitsjahre gingen zu Ende, als der Vater 1722 im Streit mit einem Mitbürger den Degen zog und seinem Gegner eine Wunde zubrachte. Der Vater flieht aus Genf, der junge Rousseau kommt zunächst zu seinem Onkel Gabriel Bernard, wird von diesem nach Bossey zum Pfarrer Lambercier gegeben und beginnt dann 1724 mit einer Lehre bei einem Genfer Gerichtsschreiber, die er aber bald abbrechen muss. Ein Jahr später lebt er als Lehrling bei einem gewalttätigen Genfer Graviermeister, »der es in kurzer Zeit fertig brachte, allen Glanz meiner Kindheit zu trüben […]. Mein Latein, meine Altertumskunde, meine Geschichte, alles wurde auf lange Zeit begraben, ja ich erinnerte mich nicht einmal mehr, daß es einst Römer auf der Welt gegeben.«15 Rousseau hielt es gleichwohl einige Jahre in seiner Lehrstellung aus, bis er dann eines Abends zu spät von einem Ausflug auf das Land zurückkam und die Tore der Stadt verschlossen fand. Er beschließt, Genf zu verlassen, treibt sich einige Zeit in der Umgebung herum, gelangt zu Frau von Warens, die in Annecy Calvinisten aufnimmt, um sie zum katholischen Glauben zu führen, und wird von ihr nach Turin geschickt, um dort die Bekehrung zu vollziehen. Und beim Übergang über die Alpen hat der junge Rousseau die berühmteste Alpenüberquerung der Antike im Sinn: »So jung nach Italien zu reisen, schon so viele Länder gesehen zu haben, Hannibal quer über die Berge zu folgen dünkte mich ein Ruhm, der weit über mein Alter hinausging.«16 Die folgenden Jahre sind durch die Beziehung zu der 13 Jahre älteren FranÅoise-Louise de la Tour, Dame de Warens geprägt, bei der Rousseau nach seiner Rückkehr aus Turin wieder Aufnahme findet, und die er als seine maman bezeichnet. Sie ist die zentrale Figur in den ersten Büchern der Bekenntnisse. Rousseau fühlt sich ihr in tiefer Liebe verbunden; seit 1734 war sie auch seine Geliebte. Freimütig erzählt Madame de Warens von ihrem Leben, in dem es etliche Liebhaber gab, und so liegt für Rousseau der Vergleich mit der bekanntesten Hetäre der Antike nahe: »Ich wage zu behaupten, daß, wenn Sokrates Aspasia achten konnte, er Frau von Warens verehrt haben würde.«17 Man sieht, wie die antiken Namen als exempla verwendet werden, um die autobiographische Erzählung zu konturieren, und für dieses rhetorische Stilmittel könnten zahlreiche weitere Beispiele angeführt werden. Seine schwankende Gefühlslage verdeutlicht Rousseau mit der Gegenüberstellung von Achill und Thersites,18 die Intensität seiner Wünsche mit dem Kampf um Helena,19 und daneben gibt es in den Bekenntnissen auch etliche Zitate aus der antiken Lite15 S. 38f. (OC I, S. 30). 16 S. 74 (OC I, S. 58). 17 S. 252 (OC I, S. 199). Rousseaus Sokrates-Rezeption und Sokrates-Imitation ist von Trousson 1967, S. 67–103 ausführlich untersucht worden. Vgl. auch Trousson 1996, S. 862–864. 18 S. 115 (OC I, S. 91). 19 S. 277 (OC I, S. 219).
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ratur, so etwa die Verse, die Horaz über sein Landgut gedichtet hat; Rousseau beginnt mit ihnen die Schilderung seines glücklichen Lebens auf dem Landsitz Les Charmettes bei Chamb¦ry, wo er seit 1735 mit Madame de Warens zusammenlebte.20 Auskunft erteilt Rousseau auch über seine althistorische und altphilologische Bildung, indem er Bücher und Quellen nennt, die er gelesen, auswendig gelernt oder übersetzt hat. Dass er selbst wiederholt seine mangelhaften Lateinkenntnisse betont,21 steht dabei in deutlichem Kontrast zu seinem wiederholten Versuch, die Eklogen Vergils auswendig zu lernen,22 zu seiner Überlegung, 1742 in Paris seinen Lebensunterhalt vielleicht durch den Vortrag antiker Dichtung verdienen zu können,23 und zu seiner Bemerkung, dass er 1754 Teile des Tacitus übersetzt habe.24 Man wird, zumal nach den Untersuchungen von Reimar Müller und Yves Touchefeu, dem Urteil von Romain Rolland nicht zustimmen können, Rousseau habe »die Antike schlecht gekannt, abgesehen von Plutarch, Tacitus, Seneca, ein wenig Platon, vielleicht noch Virgil«.25 Horaz und Ovid wären in dieser Liste zu ergänzen, daneben auch Xenophon, Aristoteles, Lukrez, Diodor, Juvenal, Plinius d. J. und Sueton.26 Eine andere und stärkere Bedeutung erlangen die Antiken-Bezüge bei Rousseau dort, wo sie untergründig oder auch ausgesprochen seine Philosophie und Lebenseinstellung begründen. Um noch einmal auf die Bekenntnisse zurückzukommen, so erinnert Rousseaus hier mehrfach betonte Unempfindlichkeit gegenüber materiellen Dingen an die antike, stoische Lehre der Ataraxie,27 und noch interessanter ist vielleicht, dass er den Vorwurf, ein herzloser Vater gewesen zu sein, da er seine fünf Kinder – gegen den Willen der Mutter – ins Findelhaus gegeben habe, mit dem Argument zurückweist, die harte Erziehung im Findelhaus hätte den Kindern sicher besser getan als in der Umgebung einer höfischen Gesellschaft aufzuwachsen. Da er selbst nicht über ausreichende Mittel verfügt habe, hätte er seine Kinder der Frau von Êpinay oder der Frau von Luxembourg, Damen der hohen Gesellschaft, übergeben müssen; dann aber hätten die Kinder eines Tages gelernt, ihre natürlichen Eltern zu hassen. Immerhin bezeichnet es Rousseau als »Irrtum«, gemeint zu haben, 20 21 22 23 24
S. 285 (OC I, S. 225). S. 123f.; 148; 150 (OC I, S. 97; 117f.). S. 306 (OC I, S. 242). S. 363 (OC I, S. 288). S. 502 (OC I, S. 394). Vgl. die überlieferten Übersetzungsversuche zu Seneca und Tacitus: OC V, S. 1213ff. 25 Rolland o. J., S. 13. Vgl. dagegen Hartmann 1953, S. 1–6; 1966, S. 111; Touchefeu 1996, S. 272–275. 26 Vgl. z. B. Scanlan 1975, S. 60f. Zur Lukrez-Rezeption Rousseaus vgl. Hartmann 1966, S. 123f. und vor allem Müller 1997, S. 39ff.; 64ff.; 77f.; 145ff. 27 S. 132 (OC I, S. 103).
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die Tat eines Bürgers und eines Vaters dadurch zu tun, daß ich meine Kinder der öffentlichen Erziehung übergab, da ich sie nicht selbst zu erziehen vermochte, und sie dazu bestimmte, Arbeiter und Bauern zu werden; durch solche Grundsätze fühlte ich mich als Mitglied des platonischen Staates.28
II. Mit Rousseaus bitteren Bemerkungen über das Schicksal, das seinen Kindern bevorgestanden hätte, wären sie in der besseren Gesellschaft aufgewachsen, ist die Überleitung zur Kulturkritik gegeben, die das Fundament von Rousseaus Philosophie bildet. Schon das anfangs dargestellte ›Bekehrungserlebnis‹ im Jahr 1749 weist darauf hin, wie stark diese Philosophie in der Biographie Rousseaus begründet ist, und in seinen Bekenntnissen findet man zahlreiche Erinnerungen an eine oft erlittene soziale Minderwertigkeit. Im Rahmen der Genfer Republik gehörte Rousseau als Sohn eines Bürgers zum Kreis der politisch Privilegierten, aber im höfischen Frankreich des 18. Jahrhunderts galt er, der Mann ohne Adel, kaum etwas. Über Jahre und Jahrzehnte machte Rousseau immer wieder die Erfahrung, von den Launen der Aristokraten abhängig zu sein und auf ihre Gaben und Unterstützungen hoffen zu müssen; er hat die gesellschaftlich verfestigte Ungleichheit also in ganz anderem Ausmaß erlebt und erlitten als etwa Voltaire, von dessen Schriften sich der junge Rousseau begeistern ließ, dem er aber später vorwarf, die soziale Dimension der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit nie richtig verstanden zu haben.29 Sowohl die 1749 verfasste Abhandlung über die Wissenschaften und Künste als auch die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von 1755 gewinnen ihre Prägnanz aus der Konfrontation der dekadenten Gesellschaft der Gegenwart mit ursprünglichen und einfachen Formen sozialen Lebens, die in antiker oder in vorgeschichtlicher Zeit fassbar erscheinen. Dabei radikalisiert sich Rousseau von der ersten Abhandlung zur zweiten: Im Nachhinein kann man sich darüber wundern, dass die Akademie in Dijon mit Rousseau einen Autor auszeichnete, der an der Kultur und Gelehrsamkeit seiner Gegenwart viel auszusetzen hatte, doch werden sich die Akademie-Mitglieder wohl vor allem über Rousseaus Kritik an den Aufklärern gefreut haben. Die Wissenschaftler und Philosophen der Gegenwart, so heißt es am Beginn des 2. Teils der Abhandlung, untergraben die Grundlagen des Glaubens und machen die Tugend zunichte. Sie lächeln verächtlich bei den alten Worten »Vaterland« und »Religion« und widmen ihre Talente und ihre Philosophie der Zerstörung und Erniedrigung alles dessen, was es für die Menschen Heiliges gibt.30 28 S. 453 (OC I, S. 357); S. 529. 29 Vgl. z. B. Rousseau, Bekenntnisse, S. 547 (OC I, S. 429). Zum Konflikt zwischen Rousseau und Voltaire vgl. Taureck 2009, S. 60–97. 30 Rousseau, Frühe Schriften, S. 47 (OC III, S. 19).
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Eine Kritik an der französischen Monarchie oder gar ein Aufruf zum Umsturz findet sich in dieser Abhandlung nicht, aber Rousseau wird schnell zu schärferen Positionen vordringen und sich bereits 1755 keine Illusionen über die Resonanz solcher Ideen bei den französischen Akademien machen. Radikal ist aber die Kulturkritik bereits in der Abhandlung über die Wissenschaften, wird doch z. B. die Erfindung des Buchdrucks beklagt. Rousseau bezeichnet den Buchdruck als »die Kunst, die Ausschweifungen des menschlichen Geistes« zum Nachteil der Gesellschaft zu verewigen. In der Antike dagegen seien »die gottlosen Schriften des [Atomikers] Leukippos und des [Atheisten] Diagoras mit ihnen untergegangen«.31 Es gab also aus Rousseaus Sicht auch in der Antike Entwicklungen in der Geistesgeschichte, die die Einfachheit der Sitten gefährdeten, und zu diesen negativen Kräften gehörten zuallererst die Wissenschaften und die Künste. Zunächst war in Athen und Rom »in den so vielgerühmten Tagen ihrer Herrlichkeit und ihres Glanzes« jene »Art von Höflichkeit« zu finden, »die um so liebenswerter ist, je weniger sie sich zeigen will«.32 Aber dann entwickelten sich artifizielle Formen des Umgangs, Verstellung und Täuschung, und für die antiken Gesellschaften wie für die moderne gilt Rousseau zufolge das aus Horaz entnommene Motto: Decipimus specie recti: »durch den Anschein des Richtigen werden wir getäuscht.«33 Rousseau parallelisiert die Fortschritte in Wissenschaft und Kunst mit dem Sittenverfall, und er zeigt, wie diese Verfallsprozesse im alten Ägypten, in Griechenland und Rom zur Schwächung von Staat und Gesellschaft geführt hätten. Für Rom führt Rousseau aus: Rom, das von einem Hirten gegründet und durch Bauern berühmt wurde, beginnt zur Zeit des Ennius und Terenz zu entarten. Doch nach Ovid, Catull, Martial und jener Zahl obszöner Autoren, deren bloßer Name das Schamgefühl verletzt, wird Rom, das einst ein Tempel der Tugend war, der Schauplatz des Verbrechens, der Schandfleck der Nationen und der Spielball der Barbaren.34
Hier wird die Dekadenz-Lehre des Sallust über die römische Republik bis zur Spätantike ausgespannt, wobei Augustus und seine Nachfolger, die Urväter auch der modernen Monarchie, nicht genannt werden.35 Ein Hinweis auf die stabilisierende Wirkung des Prinzipats oder auf die Blüte augusteischer Kultur hätte in das einfache Schema nicht hineingepasst.36 Für den entsprechenden Verfallsprozess in Athen ist Sokrates der Kronzeuge, 31 32 33 34 35 36
Rousseau, Frühe Schriften, S. 58 (OC III, S. 27). Rousseau, Frühe Schriften, S. 33f. (OC III, S. 7). Rousseau, Frühe Schriften, S. 31 (OC III, S. 5). Rousseau, Frühe Schriften, S. 37 (OC III, S. 10). Vgl. Demandt 2014, S. 141f. Zur einmaligen Nennung des Augustus (in Rousseaus Êmile) vgl. Touchefeu 1999, S. 263.
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den Rousseau bemüht. Wie in Platons Apologie dargestellt, suchte Sokrates in der ganzen Stadt nach einem Menschen, der etwas Sicheres wüsste, fand aber weder bei den Handwerkern und Künstlern noch bei den Philosophen Wissen oder Tugend. Rousseau zitiert lange Absätze aus der Apologie, um dann mit Blick auf Sokrates und Cato d. Ä. zu erläutern, dass die Wissenschaften und Künste die Moral untergraben würden: Was Sokrates in Athen begonnen hatte, setzte der alte Cato in Rom fort: Er wandte sich entschieden gegen die gekünstelten und überfeinerten Griechen, welche die Tugend ihrer Mitbürger in Versuchung führten und ihren Mut schwächten. Aber die Wissenschaften, die Künste und die Dialektik behielten doch die Oberhand.37
Schutz vor dieser Dekadenz gibt es nur dort, wo die negativen Einflüsse von Wissenschaft und Kunst rechtzeitig blockiert werden, wo sie von außen nicht in die Gesellschaften hineingelassen und in ihrem Inneren verboten werden. Zum Ausdruck bringt Rousseau dies z. B. durch seine Anrufung des Fabricius, also in jenem Teil der Abhandlung, den er noch auf dem Weg nach Vincennes niedergeschrieben hatte: O Fabricius! Was hätte deine große Seele gedacht, wenn du […] die pomphafte Fassade dieses Rom gesehen hättest […]? »Götter«, hättest du gesagt, »was ist aus diesen mit Stroh gedeckten Hütten geworden, in denen einst Mäßigkeit und Tugend wohnten? Welch verhängnisvoller Glanz löste die römische Einfachheit ab? Was für eine fremde Sprache ist das, was für verweichlichte Sitten? […] Ihr Verblendeten, was habt ihr getan? […] Rhetoren sind es, die euch regieren! Um Architekten, Maler, Bildhauer und Komödianten reich zu machen, habt ihr in Griechenland und Asien euer Blut vergossen«.38
Und in Sparta, jener Stadt, »die ebenso berühmt war durch ihre glückliche Unwissenheit wie durch die Weisheit ihrer Gesetze«,39 findet Rousseau den Beweis dafür, wie stark eine Gesellschaft sein kann, die auf Kunst und Wissenschaft verzichtet, wurden doch aus Sparta »die Künste und die Künstler, die Wissenschaften und Gelehrten« vertrieben.40 Aus den antiken Beispielen folgt bei Rousseau, dass eine Gesellschaft nur dann tugendhaft und unverfälscht bestehen kann, wenn sie auf Kunst und Wissenschaft verzichtet. Es ist für ihn geradezu ein historisches Gesetz, dass Kunst und Wissenschaft zur Dekadenz führen,41 und die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung, die von Rousseau nicht näher erklärt wird, findet ihre rhetorische Rousseau, Frühe Schriften, S. 41f. (OC III, S. 14). Rousseau, Frühe Schriften, S. 42 (OC III, S. 14). Rousseau, Frühe Schriften, S. 39 (OC III, S. 12). Rousseau, Frühe Schriften, S. 40 (OC III, S. 12). Zu Rousseaus Spartabild vgl. Touchefeu 1996d, S. 867–869; 1999, S. 502ff. 41 Vgl. Rousseau, Frühe Schriften, S. 37 (OC III, S. 9f.).
37 38 39 40
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Begründung in der Konfrontation von Gesellschaft und Natur. Dieses Argument, das Rousseau dann 1755 als Leitidee seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen verwenden wird, wird 1749 nur emphatisch vorgetragen, etwa am Ende des 1. Teils mit den Worten: Ihr Völker, begreift doch endlich, daß die Natur euch vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter, die ihrem Kind eine gefährliche Waffe aus der Hand reißt.42
Auch die Idee, dass die Gesellschaft dadurch verdorben wird, dass sie ihre Kinder falsch erzieht, ist bereits in der Abhandlung von 1749 anzutreffen.43 Ein wichtiger Unterschied sei aber noch einmal herausgestellt: Während die Abhandlung von 1749 keine Kritik an der zeitgenössischen Monarchie beinhaltet, sondern nur die an Platons Philosophenstaat erinnernde Aufforderung formuliert, die Könige sollten in den Kreis ihrer Ratgeber auch die »Gelehrten ersten Ranges« aufnehmen, finden sich 1755, im Discours sur l’origine et les fondements de l’in¦galit¦ parmi les hommes, Forderungen und Feststellungen geradezu revolutionären Zuschnitts, wie z. B. der folgende Passus: Der barbarische Mensch beugt sein Haupt nicht unter das Joch, das der zivilisierte Menschen ohne Murren trägt, und er zieht die stürmischste Freiheit einer ruhigen Unterwerfung vor.44
In der Abhandlung über die Ungleichheit, mit der Rousseau übrigens wieder auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon reagierte,45 verwendet er neue Argumente für seine Kulturkritik, die den eher rhetorisch-appellativen Ausführungen von 1749 ein historisch-philosophisches Fundament geben. Überhaupt ist der Blick weiter und die Durchführung stringenter, und Rousseau hat im Rückblick seiner Bekenntnisse auch festgehalten, dass er hier, in der Abhandlung über die Ungleichheit, seine Prinzipien zum ersten Mal vollständig entwickelt habe.46 Die zentrale Aussage besteht in der Feststellung, dass gesellschaftliche Ungleichheit die Folge der Konstitution von Gesellschaft durch die Festlegung von Eigentumsverhältnissen sei. Alle drei Aspekte – Eigentum, Gesellschaft und Ungleichheit – sind untrennbar verbunden und grundsätzlich auch nicht überwindbar : Dadurch, dass Menschen zu Eigentümern werden, schaffen sie den gesellschaftlichen Raum, in dem Gewalt oder Recht die Eigentumsansprüche sichern. Damit ist die Voraussetzung für eine unweigerlich folgende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in reich und arm gegeben, die identisch mit der Ungleichheit ist. Das reine Gegenbild zur per se ungerechten Gesellschaft kann 42 43 44 45 46
Rousseau, Frühe Schriften, S. 43 (OC III, S. 15). Rousseau, Frühe Schriften, S. 53 (OC III, S. 24). Rousseau, Diskurs, S. 231 (OC III, S. 181). Vgl. Rousseau, Diskurs, S. 64, Anm. 74. Rousseau, Bekenntnisse, S. 494 (OC I, S. 388); vgl. Rousseau, Diskurs, S. XXIV; 490f.
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folglich nur außerhalb des historischen Raumes in der Natur gefunden werden, und es muss positive Züge tragen, womit sich Rousseau gegen die NaturrechtsPhilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts wie Grotius oder Hobbes wendet: Im vorstaatlichen Zustand lebt der Mensch nicht im Krieg aller gegen alle, sondern in einer selbstgenügsamen Naturnähe, die Kriege überflüssig bzw. vermeidbar macht. Indem Rousseau die Anfänge der Menschheit außerhalb der Gesellschaft nachzeichnet und damit versucht, zum eigentlichen, ursprünglichen Wesen des Menschen zu gelangen – eine Untersuchung, die er unter den Leitspruch des Orakels von Delphi: »Erkenne dich selbst« stellt47 –, beschreibt er Wesen, die nach Aristoteles noch keine Menschen wären, da sie den politischen Raum noch nicht kennen.48 Doch die glücklichste Zeit der Menschheit lag nicht in ihrer vorgesellschaftlichen Zeit; Rousseau verortet sie vielmehr in der frühesten, noch weitgehend unverdorbenen Phase gesellschaftlichen Lebens, in der aber mit dem ersten Eigentum – den Hütten, die einzelnen Menschen gehörten – bereits auch das Problem von Recht und Unrecht bestand. Es ist ein prekärer Zustand in der Frühzeit, in dem die Menschen Ideen und Gefühle wie Eitelkeit und Geringschätzung entwickeln und damit das anfängliche Glück zwangsläufig zerstören. Rousseau entwirft hier eine negative Anthropologie, denn kaum dass der Mensch als gemeinschaftliches Wesen lebt, zeigt er bereits alle Laster, die auch das Leben in der Gegenwart erschweren.49 Ungleichheit und Knechtschaft können aber nur entstehen, weil die Menschen in ihren Bedürfnissen aufeinander angewiesen sind. Dieser von Rousseau nicht anthropologisch sondern historisch begründete Aspekt wird durch die Revolutionen der Vorgeschichte wirksam, und diese Revolutionen sind der Bau der ersten Hütten,50 d. h. die Etablierung von Eigentum, sodann die Einführung des Ackerbaus und die Entdeckung der Metallverarbeitung,51 d. h. die Aufteilung von Land in Eigenbesitz und die Arbeitsteilung zwischen Bauern und Handwerkern. Zuvor, im Naturzustand, gab es keine erst durch die Gesellschaft konstituierten Bedürfnisse, so dass unter solchen Bedingungen auch das von den Naturrechts-Philosophen angeführte Recht des Stärkeren gegenstandslos erscheint.52 Was hier zunächst wie eine theoretische Fachdiskussion unter Philosophen erscheint, hatte im 18. Jahrhundert eine hohe politische Bedeutung, denn mit seinem Argument entzog Rousseau jeder Rechtfertigung von Autorität, die der 47 48 49 50 51 52
Rousseau, Diskurs, S. 43 (OC III, S. 122). Vgl. Fetscher 1989, S. 1–23, hier S. 2f.; Müller 1997, S. 43f.; 73f. Rousseau, Diskurs, S. 189ff. (OC III, S. 169ff.). Rousseau, Diskurs, S. 181 (OC III, S. 167). Rousseau, Diskurs, S. 197ff. (OC III, S. 171ff.). Vgl. Müller 1997, S. 180ff. Vgl. Rousseau, Diskurs, S. 165f. (OC III, S. 161f.).
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gängigen Naturrechtslehre zufolge – etwa bei Hobbes – den Kampf aller gegen aller beendet, den Boden. Und auf diese Weise verstärkt Rousseau den Angriff auf die Autoritäten seiner Gegenwart, d. h. auf die Monarchie, weit über das hinaus, was von Seiten anderer Aufklärer gegen sie vorgebracht wird. Beklagt etwa Voltaire die verderbliche Allianz von Thron und Altar und fordert er vom König die Garantie der Gewissensfreiheit, bewertet er also Teilaspekte der Gegenwart als Ergebnis einer historischen und deshalb korrigierbaren Fehlentwicklung, so entzieht Rousseau dem gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Gefüge die Legitimation. Da die Abhandlung über die Ungleichheit das Bild des naturhaften, vorgesellschaftlichen Menschen entwirft, könnte man vermuten, dass die Antike hier aus Rousseaus Blick gerät. Dies ist allerdings schon deshalb nicht der Fall, weil Rousseau den Urzustand der Menschen und ihr gesellschaftliches wie technisches Fortschreiten im beständigen Bezug auf Lukrez darlegt, der im 5. Buch seines großen Lehrgedichts de rerum natura nicht nur eine epikuräisch-atomistische Weltentstehungslehre vorträgt, sondern u. a. auch den naturnahen Zustand der ersten Menschen beschreibt.53 Und darüber hinaus bietet die Antike auch in der Abhandlung über die Ungleichheit an vielen wichtigen Stellen das Anschauungsmaterial für die philosophische Argumentation, etwa dann, wenn Rousseau die entscheidenden und verhängnisvollen Schritte in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit der Einführung des Eigentums, der Etablierung von Reichtum und dem Herrschaftsanspruch der Reichen vollzogen werden, mit einem Ovid entnommenen Vers über den sagenhaften Lyderkönig Midas zusammenfasst: Das Menschheitsgeschlecht, herabgewürdigt und niedergeschlagen, nicht mehr in der Lage, auf seinem Weg umzukehren oder auf die unglückseligen Errungenschaften, die es gemacht hatte, zu verzichten, und durch den Missbrauch der Fähigkeiten, die es ehren, nur an seiner Schande arbeitend, brachte sich selbst an den Rand des Ruins. Attonitus novitate mali, divesque miserque / Effugere optat opes, et quae modo voverat, odit: Entsetzt über die Neuheit des Übels, wünscht er, reich und arm zugleich, den Schätzen zu entfliehen und hasst, was er doch gerade noch begehrt.54
Die philosophische Bedeutung der Antiken-Bezüge liegt aber in dieser Schrift auf einer höheren Ebene. Rousseau bleibt nicht bei der Beschreibung einer zwangsläufigen Depravation des Menschen durch die Gesellschaft stehen, sondern formuliert auch positive Gegenentwürfe. Auf einer theoretischen Grundlage schreibt er der Philosophie die Fähigkeit zu, Verbesserungen zu benennen, wenn auch die negative Anthropologie der Reformierbarkeit der Gesellschaften 53 Lucr. V 931ff.; vgl. Rousseau, Diskurs, S. 79, Anm. 96. 54 Rousseau, Diskurs, S. 213 (OC III, S. 176). Vgl. Müller 1997, S. 211.
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Grenzen zieht.55 Und in einer historischen Argumentation belegt Rousseau die Möglichkeit eines naturhaften oder wenigstens naturnahen Lebens mit Gesellschaften der Antike, wobei er diesmal neben Sparta, das mit seiner harten Verfassung einer ebenfalls harten Natur entspricht,56 auch die Skythen als Gegenbild zur verdorbenen Zivilisation der Gegenwart bemüht. Die Skythen mit ihrer einfachen Lebensweise, die vor allem durch Bedürfnis- und Besitzlosigkeit gekennzeichnet ist, entsprechen dem von Rousseau entworfenen Typ des Wilden, und für beide, Skythen und Wilde gilt, dass nicht »Einsicht und Aufgeklärtheit«, sondern das »Ruhen der Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters sie daran hindern, Böses zu tun«.57 Die Funktion der Antiken-Bezüge besteht also darin, dass Rousseau mit ihnen das potentiell positive Potential aufdecken kann, das dem Menschen auch als gesellschaftliches Wesen gegeben ist. Das positive historische Argument korrigiert hier das negative philosophisch-anthropologische Konzept einer unrettbar in Dekadenz und Laster versunkenen Menschheit. Diese Interpretation wird dadurch bestätigt, dass die Antike in Rousseaus politischem Traktat von 1762 über den »Gesellschaftsvertrag« eine andere Rolle spielt als in den bislang behandelten kulturkritischen Texten. In den ersten drei Büchern finden sich zwar etliche Exempla aus der Antike, aber die umfassende theoretische Staatslehre, die Rousseau hier entwirft, bedarf kaum der historischen Unterfütterung. Viel bedeutsamer sind die Kapitel 4ff. im 4. Buch, in denen sich Rousseau mit den römischen tribus sowie mit dem Volkstribunat, der Diktatur und der Zensur beschäftigt, denn hier geht es um eine historische Begründung für die Möglichkeit, der volont¦ g¦n¦rale tatsächlich Ausdruck zu verleihen.58 Hatte Rousseau in seinen früheren Schriften die moderne Gesellschaft kritisch dekonstruiert und seine Gegenentwürfe der Vorgeschichte und der Antike entnommen, so stellt der Contrat Social eine positive Staatslehre dar, in der ausgehend von dem grundlegenden Gedanken der volont¦ g¦n¦rale alle Instanzen und Aspekte eines Staatswesen so beschrieben werden, dass sich der Text trotz seines hohen Theoriegehaltes durchaus als politische Handlungsanweisung lesen lässt. Er ist seiner politischen Radikalität wegen auch sofort verboten worden, was nicht überrascht, wenn man etwa die Kritik Rousseau an einer außerhalb der volont¦ g¦n¦rale stehenden monarchischen Herrschaft liest. Schon in der Abhandlung über die Ungleichheit hatte Rousseau betont, dass einer monarchischen Herrschaft, in der sich der König als Eigentümer des Staates und
55 Vgl. Rousseau, Diskurs, S. 224f., Anm. 271. 56 Rousseau, Diskurs, S. 80 (OC III, S. 135). Vgl. S. 227 (OC III, S. 180): Lykurg ist es durch politisches Handeln gelungen, die drohende Dekadenz Spartas abzuwenden. 57 Rousseau, Diskurs, S. 141 (OC III, 1964, S. 154). 58 Vgl. Touchefeu 1999, S. 311ff.
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die Mitbürger als Sklaven betrachtet,59 die politische Legitimation fehle und dass sie letztlich in einer Revolution untergehen werde.60 Im Contrat Social geht Rousseau noch einen Schritt weiter. Hier beschreibt er nicht mehr ein unerreichbares vorgesellschaftliches, naturhaftes Leben, sein Gegenentwurf besteht vielmehr in der theoretischen Einrichtung eines Staatswesens, das immer wieder neu vom gemeinschaftlichen Willen befestigt wird und deshalb in der Lage ist, unter den sozialen Bedingungen einer ungefähren Gleichheit seiner Bürger für Gerechtigkeit zu sorgen. Dabei steht zwar für Rousseau die Frage nach der Verfassung – ob als Monarchie, Aristokratie oder Demokratie – nicht im Mittelpunkt. Aber jeder zeitgenössische Leser dürfte erkannt haben, welche Kraft gegen die zeitgenössische Monarchie in Stellung gebracht wurde, wenn Rousseau etwa ausführt, dass »die Staatsgewalt, da sie in der Ausübung des Gemeinwillens besteht«, niemals dauerhaft übertragen werden könne.61 Aus diesem Postulat folgt für Rousseau, dass jede monarchische Gewaltherrschaft, die sich über den Gemeinwillen hinwegsetzt, einer Auflösung des Staatswesens gleich kommt. Und zu den Grundaussagen des Contrat Social gehört weiterhin auch der Satz, dass »ein Volk in jedem Fall berechtigt ist, seine Gesetze« – und damit auch seine Verfassung – zu ändern.62 III. Schnell nacheinander erschienen 1761/62 Rousseaus Julie ou La nouvelle H¦lose – sein größter Erfolg, der als Briefroman einer unglücklichen Liebe das Publikum faszinierte und die romantische Literatur stark beeinflusst hat –, der Contrat social, dessen erste in Amsterdam gedruckte Exemplare gleich an der Grenze konfisziert wurden, und der Erziehungsroman Êmile, der zum eigentlichen Stein des Anstoßes wurde.63 »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen der Menschen«, – so beginnt der Êmile, und gleich auf den ersten Seiten erklärt Rousseau, dass alle Erziehung von drei Quellen ausgehe, von der Natur, den Menschen und den Dingen.64 Da das Ziel jeder Erziehung in der Natur liegt, muss die Natur selbst die beste Erzieherin sein. Aber Rousseau vertritt auch im Êmile nicht mehr die dekonstruktivistische Argumentation seiner früheren kulturkritischen Schriften. Vielmehr verbindet er Natur und Gesellschaft. Wie
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Rousseau, Diskurs, S. 251 (OC III, S. 187). Vgl. Bonhúte 1996, S. 407–411, hier S. 408f. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 59 (OC III, S. 368). Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 88 (OC III, S. 394). Vgl. zu diesen Werken kurz Kupisch, S. 93–96; zum Contrat social ausführlich Vossler 1963, S. 208ff.; Touchefeu 1999, S. 223ff.; zur Antikenrezeption in Rousseaus Julie vgl. Touchefeu 1999, S. 175ff., im Êmile S. 263ff. 64 Rousseau, Emile, S. 109 (OC IV, S. 245). Zum Buch und seiner Wirkung vgl. zuletzt die Beiträge in Ritzi 2014.
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dies unter Verwendung von Antikenbezügen geschehen kann, zeigt eine aufschlussreiche Stelle gleich im ersten Buch: Der natürliche Mensch ist sich selbst alles. Er ist die ungebrochene Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder seinesgleichen eine Beziehung hat. Der bürgerliche Mensch ist nur eine Bruchzahl, die von ihrem Nenner abhängig ist und deren Wert in ihrer Beziehung zum Ganzen besteht, d. h. dem gesellschaftlichen Ganzen. Die guten gesellschaftlichen Einrichtungen sind diejenigen, die es am besten verstehen, dem Menschen seine Natur zu nehmen, ihm seine absolute Existenz zu entziehen und ihm dafür eine relative zu geben und das Ich auf die Einheit der Gemeinschaft zu übertragen, so daß jeder einzelne sich nicht mehr als Eines, sondern als Teil der Einheit fühlt, der nur noch im Ganzen empfindungsfähig ist. Ein Bürger von Rom war weder ein Cajus noch ein Lucius – er war Römer, sogar in seiner Vaterlandsliebe schloß er sich selbst aus. Regulus erklärte sich zum Karthager, da er zum Eigentum seiner Herren geworden war.65
In diesem Zitat liegt bereits die ganze Spannung der Wirkungsgeschichte Rousseaus, der nicht nur als Apostel der Freiheit gepriesen, sondern auch als Vorbereiter totalitärer Gesellschaftssysteme kritisiert wurde und wird.66 Das Zitat lässt bereits erahnen, dass man von Rousseau auch im Bereich der Pädagogik keine strenge Systematik erwarten kann, sondern eine Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft, ein prozesshaftes Denken, das theoretische Optionen beschreibt und mit historischen Exempeln argumentiert. Mehrfach wird Sparta als Vorbild für ein stark gemeinschaftlich ausgerichtetes Staatswesen angeführt, und die Philosophie Athens ist ebenfalls präsent, vor allem in der Bezugnahme auf Platon, in dessen Nachfolge sich Rousseau stellt.67 Nicht nur, dass er Platons Schrift über den ›Staat‹ als »die schönste Abhandlung« bezeichnet, »die je über die Erziehung geschrieben worden ist«.68 Auch der äußerst detaillierte und systematische Durchgang durch die zwanzig Lebensjahre des jungen Êmile erinnert stark an den platonischen Ansatz einer schrittweisen Abklärung aller für den guten Staat relevanten Aspekte. Ähnlich wie anfangs im Verhältnis zu Augustinus, hat sich Rousseau auch von Platon anregen lassen, ohne dabei in irgendeiner Weise in eine Abhängigkeit von den antiken Texten zu geraten. Rousseaus Bekannte und Freunde wie etwa Charles Duclot oder der Genfer Pfarrer Pierre Moultou warnten Rousseau vor der Veröffentlichung des Êmile, und tatsächlich wurde das Buch am 3. April 1762 beschlagnahmt, am 7. Juni von der Sorbonne verurteilt und am 9. Juni Anlass für das Pariser Parlament, einen 65 Rousseau, Emile, S. 112 (OC IV, S. 249). 66 Vgl. Chapman 1956, S. 74–88; Talmon 1960, bsd. S. 38ff.; Fetscher 1989, S. 23; Manin 1996, S. 1308–1329; Touchefeu 1999, S. 465ff.; Blom 2011, S. 259. 67 Vgl. Röhrs 1993, S. 146ff. 68 Rousseau, Emile, S. 114 (OC IV, S. 250). Vgl. Hartmann 1966, S. 116f.
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Haftbefehl gegen Rousseau zu verhängen.69 Das Buch, so lautete die Begründung für den Haftbefehl, verbreite das kriminelle System der Naturreligion und wage es, alle Religionen gutzuheißen; es behauptet, man könne gerettet werden, ohne an Gott zu glauben. Der Autor macht die Vernunft zur einzigen Richterin über religiöse Fragen, er leugnet die Wunder und die Offenbarung, die Autorität der Kirche und die Gottheit Jesu. […] Daher ordnet das Gericht an, dass das Buch verbrannt werde und der Autor gefangen genommen und in die Conciergerie gebracht wird.70
Rousseau war anfangs bereit, sich der Verfolgung zu stellen; seit Jahrzehnten krank und von den Ärzten schon oft aufgegeben, meinte er, sich so wie einst Sokrates der Auseinandersetzung mit den staatlichen Autoritäten stellen zu sollen. »Wenn das Prinzip, das ich mir ausgesucht habe«, so schrieb er und bezog sich dabei auf den Ausspruch Juvenals: vitam impedere vero: ›das Leben dem Wahren widmen!‹,71 – wenn das Prinzip, das ich mir ausgesucht habe, kein leeres Geschwätz ist, so ist die Gelegenheit gekommen, mich seiner würdig zu erweisen, und wofür könnte ich das bisschen Leben, das mir bleibt, besser nutzen. Sie können mir das Leben nehmen […], aber sie können mir nicht die Freiheit nehmen […]. Ich habe Gott Ehre erwiesen und zum Wohl der Menschen geredet.72
Erst auf das nachdrückliche Drängen seiner Freunde, die selbst in Gefahr zu geraten drohten, darunter auch der Herzog von Luxembourg und seine Frau, bei denen Rousseau seit einiger Zeit wohnte, hat er sich zur Flucht aus Frankreich entschlossen und ist der Verhaftung gerade noch entkommen.
Bibliographie Quellen Œuvres complÀtes de Jean-Jacques Rousseau, Bd. I: Les Confessions. Autres Textes Autobiographiques, Paris 1959; Bd. III: Du Contrat Social. Êcrits Politiques, Paris 1964; Bd. IV: Êmile. Êducation – Morale – Botanique, Paris 1969; Bd. V: Êcrits sur la Musique, la Langue et le Th¦tre, Paris 1995. Ders., Bekenntnisse. Übertragen von Ernst Hardt, Leipzig 1955.
69 70 71 72
Vgl. Touchefeu 1999, S. 331ff. Zitiert nach Landgrebe 2004, S. 224. Vgl. Villaverde 1996, S. 924f.; Berchtold 2006, S. 141–160. Zitiert nach Landgrebe 2004, S. 223f. Vgl. zur Sokrates-Imitation Trousson 1967, S. 74–80; außerdem Touchefeu 1999, S. 337ff. sowie 415ff.
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Fabian Schulz
Gerontokratie avant la lettre? Platon und Aristoteles über die Herrschaft der Alten
Gerontokratie? Demo-kratie bezeichnet die Herrschaft des Volks, Geronto-kratie die Herrschaft der Alten. Beide Lehnwörter, die sich aus dem Griechischen ableiten, scheinen auf die politische Theorie der Antike zurückzugehen. Aber während Demokratie seit dem 5. Jahrhundert vor Christus als terminus technicus firmiert, ist Gerontokratie eine moderne Prägung, die im Kontext der französischen Revolution entstand.1 Wenn der Begriff in der Folgezeit historisiert wurde, bezog man ihn freilich oft auf die Antike. Soziologen und Historiker sehen nämlich in Rom und Sparta Gerontokratien.2
Gerontokratie im archaischen und klassischen Griechenland Als Gerontokratien können wohl vor allem solche Stadtstaaten gelten, in denen die Ältesten das Leitungsgremium bildeten: Hier denkt man zuerst an die spartanische Gerusie und dann an den älteren Areopag. Die Geronten, die aus den über 60 Jährigen gewählt wurden und lebenslang amtierten, galten vielen antiken Autoren als die mächtigste Institution Spartas. Welche Macht der Gerusie faktisch zukam, ist in der Forschung allerdings umstritten; viele würden ihr wichtige politische und richterliche Kompetenzen zusprechen, die in archaischer und klassischer Zeit relativ konstant blieben.3 Der Areopag bestand aus den ehemaligen Archonten; da die Amtsdauer lebenslang war, waren die meisten Areopagiten alt.4 Im Laufe des 5. Jahrhunderts verlor der Areopag einen großen Teil seiner Macht: es blieb die Blutgerichtsbarkeit. Im 4. Jh. gab es 1 Eisele 1979. 2 Weber 1980 [1922], S. 160 und 547; Brandt 2002, S. 117f., 126; Schmitz 2003, S. 100 und 111ff.; Timmer 2008, S. 219. 3 Cartledge 1987, S. 121 und 154; Schulz 2011, S. 218. 4 Hansen/Pedersen 1990, S. 76.
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wiederum einen allmählichen Zuwachs seiner Rechte. Welche Kompetenzen er in archaischer und früher klassischer Zeit besessen hatte, ist strittig.5 Die Quellen sprechen ihm jedenfalls weiterreichende richterliche und politische Kompetenzen zu. Beide Gremien spiegeln unterschiedliche Tendenzen: Alter spielte in Sparta insgesamt eine größere Rolle als in Athen, wenn es um politische Partizipation ging.6 Schließlich sind zehn weitere Orte mit Ältestenräten bekannt: auf der Peloponnes, in Mittelgriechenland, auf Kreta, in Kleinasien, in Unteritalien und in Nordafrika.7 Grob gesagt ähneln die einen davon der Gerusie darin, dass der Name der Institution mit »alt« zusammenhängt und dass den direkt zu wählenden Mitgliedern ein Mindestalter gesetzt war ; die anderen dem Areopag darin, dass sich die Mitglieder aus den höchsten Amtsträgern rekrutierten und dass die lebenslange Mitgliedschaft zu einem gehobenen Altersdurchschnitt führte. Ob diese Ältestenräte eine Leitungsfunktion hatten, wäre im Einzelfall zu prüfen. Die altertumswissenschaftliche Forschung bescheinigt den griechischen Oligarchien jedenfalls eine Tendenz zur Gerontokratie.8 Dass es in griechischen Poleis so etwas wie Gerontokratie gab, ist also sicherlich richtig.
Antikes Nachdenken Deutet nun das Fehlen des Terminus auf eine Lücke in der antiken Theoriebildung? Es dürfte nicht überraschen: Über die Herrschaft der Alten wurde von den namhaften Philosophen durchaus nachgedacht – an konkreten Beispielen und abstrakt. Einschlägig sind da Platons Nomoi und Aristoteles’ Politika.9 In den Gesetzen entwirft Platon die Verfassung für eine fiktive kretische Kolonie, nachdem er kurz historische Fälle analysiert hat. In der Politik ist die Gewichtung umgekehrt: mehr Diskussion empirischer Fälle, weniger eigener Entwurf. Eine wichtige Referenz ist jeweils die spartanische Verfassung, die Aristoteles zweifellos und Platon wahrscheinlich studiert hat.10 Dieser Beitrag möchte den Konnex von Empirie und Theorie schärfer profilieren und beide Schriften stärker in Beziehung zueinander setzten. Hier besteht m. E. trotz der wachsenden Forschung noch Klärungsbedarf. Während die 5 6 7 8 9
Wallace 1989. Timmer 2008. Schulz (in Vorbereitung); vgl. zu den kretischen Ältestenräten jetzt Seelentag 2015. Glotz 1928, S. 113. Beide Werke wurden übersetzt und erläutert von Schöpsdau 1994–2014 und Schütrumpf 1991–2005. 10 Von der aristotelischen Lakedaimonion Politeia sind nur Fragmente erhalten; zu Platon vgl. Morrow 1960, S. 5.
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Politika ein Klassiker der politischen Theorie ist, wurden die Nomoi innerhalb des platonischen Œuvres lange Zeit vernachlässigt. Wenn beide Schriften verglichen wurden, dann oft aus der Perspektive der einen oder der anderen Schrift.11 Oder schwarz/weiß: Platon der Altersfreund, Aristoteles der Altersfeind.12 Die Forschung hat Platons Nomoi bereits einen gerontokratischen Einschlag attestiert, der teilweise auf Sparta zurückgeführt wird.13 Ich möchte diese These aufgreifen und modifizieren: Die Gesetzeswächter sind stärker an Sparta angelehnt als gedacht; gleichzeitig brechen sie mit ihrem Vorbild in einem entscheidenden Punkt. Aristoteles’ vehemente Kritik an Sparta und abfällige Bemerkungen über Alte erschweren die Beurteilung seines eigenen Entwurfs. Wichtige Themen können hier nicht ausgeführt werden: wie die Details der komplizierten Datierungsfrage.14 In jedem Fall sind die Gesetze ein Spätwerk, auf das die Politik reagiert. Platons Politeia soll hier außer Betracht bleiben. Denn während es in den Nomoi zweifellos um den Entwurf einer Musterverfassung geht, ist das in der Politeia nicht so klar.15 Außerdem ist der Staat dialogischer und dialektischer ; Aussagen sind stärker auf den Horizont der Gesprächspartner abgestimmt und lassen sich schwerer aus dem Argumentationszusammenhang lösen.16
Die Herrschaft der Alten in Platons Nomoi Die phrone¯sis der spartanischen Geronten und der Gesetzeswächter Bereits das Setting der Nomoi präfiguriert die Bedeutung, die das Alter in Platons längstem Dialog spielen wird. Das Gespräch zwischen einem Athener, Spartaner und Kreter ist auf Kreta situiert. An allen drei Orten gab es wie gesagt zu Zeiten Platons oder davor gerontokratische Gremien. Alle drei Gesprächspartner werden wiederholt als alte Männer (pqesbOtai) bezeichnet. Schöpsdau schließt aus diesen und anderen Andeutungen, dass man sie sich als Männer über 60 vorstellen sollte.17 Wenn der Athener ihre Gemeinschaft gegen Ende als »Gerusie« bezeichnet,18 ist das nicht nur ironisch gemeint, sondern auch als Z.B. Schütrumpf 1994, S. 325. Minois 1989, S. 57–62; Brandt 2002, S. 52f. Schofield 2003, S. 4–6; Powell 1994, S. 274–284; Minois 1989, S. 59. Schöpsdau 1994, S. 135–138. Brisson 2006. Blößner 1997; natürlich gelten diese Vorbehalte teilweise auch für die Nomoi, vgl. Miller 2012, S. 34 und Schofied 2003. 17 Schöpsdau 1994, S. 105. 18 Plat. Leg. 905c.
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Verbeugung vor der spartanischen Gerusie zu verstehen, die in den Nomoi explizit gelobt wird. Im dritten Buch untersucht Platon den Aufstieg und Niedergang von Stadtstaaten. Dabei vergleicht und kontrastiert er die drei dorischen Poleis Argos, Messene und Sparta:19 Während Argos und Messene durch die Unwissenheit und Maßlosigkeit der Könige zu Grunde gingen, sei Sparta durch seine Mischverfassung gerettet worden. In diesem Zusammenhang preist Platon die Gerusie als Institution, die das Königtum mäßige. Außerdem heißt es von den Geronten, sie verkörperten »die besonnene Kraft, die im Alter liegt« (tµm jat± c/qar s¾vqoma d¼malim).20 Diese Aussage überrascht. Denn bei der Diskussion grundlegender Herrschaftsansprüche im Vorfeld erscheint zwar als drittes: »dass die Älteren herrschen müssen, die Jüngeren sich der Herrschaft fügen«, gefolgt vom Herrschaftsanspruch über Sklaven und dem Recht des Stärkeren.21 Von dieser Reihe wird aber als wichtigster Anspruch abgehoben, dass der Unwissende Folge leiste und der Einsichtige (vqomoOmta) führe; und vorher wurde es wiederum als Glücksfall bezeichnet, wenn einem im Alter Einsicht (vq|mgsim) zuteilwerde.22 Der Primat der Älteren ist in Platons Augen also grundlegend, aber nicht per se richtig, da Alter kein Garant für Einsicht ist. Woher die Besonnenheit der Geronten stammt, bleibt auch insofern rätselhaft, als Platon die spartanische Erziehung als einseitig kritisiert23 und sich nicht über den Wahlmodus der Gerusie äußert. Diese Fragezeichen beantwortet Platon in seinem eigenen Entwurf. Die höchsten Beamten der Musterstadt, die zuerst eingesetzt werden, sollen die sogenannten Nomophylakes sein.24 Sie sind nicht nur Gesetzeswächter, sondern auch Gesetzgeber und bilden quasi einen Ältestenrat. Platon verbindet mit dem Alter der Gesetzeswächter explizit Einsicht. Das zeigt die Körpermetapher :25
19 Plat. Leg. 683ff. 20 Plat. Leg. 692a: AH.} … le¸cmusim tµm jat± c/qar s¾vqoma d¼malim t0 jat± c´mor aqh²dei N¾l,, tµm t_m ajt½ ja· eUjosi ceqºmtym Qsºxgvom eQr t± l´cista t0 t_m basik´ym poi¶sasa dum²lei. »Der spartanische Gesetzgeber mischte die besonnene Kraft des Alters mit der selbstherrlichen Stärke der Abstammung, indem er die Macht der 28 Geronten bei den Abstimmungen über die wichtigsten Fragen der Macht der Könige gleichstellte.« 21 Plat. Leg. 690a-c: AH… tq_tom 5ti to}toir sum]petai t¹ pqesbut]qour l³m %qweim de?m, meyt]qour d³ %qweshai. 22 Plat. Leg. 653a7–9: vq|mgsim d³ ja· !kghe?r d|nar beba_our eqtuw³r ft\ ja· pq¹r t¹ c/qar paqec]meto. Diese Feststellung wird noch einmal auf der Ebene der Rahmenhandlung aufgegriffen und bekräftigt; vgl. Rowe 2010, S. 32 und Schofield 2013, S. 4–6. 23 Morrow 1960, S. 47f. 24 Einführend: Perkams 2013, S. 233–238. 25 Plat. Leg. 965a to?r pqesbut]qoir d³ 1nacc]kour c_cmeshai p\mtym t_m jat± p|kim 965(a) to»r d³ m` !p,jasl]mour t` pokk± ja· %nia k|cou diaveq|mtyr vqome?m, to»r c]qomtar, bouke}-
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Greise, die beratschlagen, sind der einsichtige Verstand (m`… vqome?m). Woher die geistigen Kapazitäten der Gesetzeswächter kommt, beschreibt Platon im Anschluss: Es ist die philosophische Ausbildung.26 In dieser Forderung kulminieren Platons frühere Überlegungen, die einen elitären Einschlag haben.27 Allein auf die Einsicht der Alten scheint Platon aber nicht bauen zu wollen. Es heißt nämlich weiter, dass der Verstand scharfe Sinne braucht, um gute Entscheidungen treffen zu können. Hier kommen die Jüngeren ins Spiel. Die sogenannte Nächtliche Versammlung, deren Funktion Platon mit der Körpermetapher beschreibt, soll daher aus Jung und Alt bestehen.28 Diese Versammlung, die sich vor jedem Sonnenaufgang vereint, besteht folglich aus den zehn ältesten Gesetzeswächtern, dem ehemaligen und dem amtierenden Aufseher über die Erziehung (auch Gesetzeswächter) und weiteren Mitgliedern über 50 sowie einer gleichen Zahl von Jüngeren, die zwischen 30 und 40 Jahre alt sind. Die »Nächtliche Versammlung« befasst sich wissenschaftlich mit den Gesetzen und der Verwaltung der Stadt. Die so identifizierten Schwächen der Verfassung können dann von den Gesetzeswächtern angegangen werden. Ein solches Gremium würde man heute wohl als »think-tank« bezeichnen. Am Ende der Körpermetapher heißt es: die Greise (c]qomter), die beraten, sollen als Gehilfen bei ihrer Beratung die Jüngeren hinzuziehen, um so die Stadt gemeinsam vor dem Untergang zu bewahren (s. o.). »Mitberatung« (sulbouk_a) klingt nach Partizipation. Die Jüngeren sind aber nicht gleichberechtigt; denn vorher wurde deutlich, dass sie in der Rolle der Schüler, die Älteren in der der Lehrer sind.29 Es geht also eher um Initiation. Insofern schlägt das gerontokratische Element durch.
Die Gesetzeswächter und die spartanischen Geronten, ein Vergleich Viele Forscher sehen hinter den Gesetzeswächtern historische Vorbilder, gehen mit ihren Vermutungen aber in verschiedene Richtungen. Morrow sieht im älteren Areopag der solonischen Zeit die Hauptanregung für Platons Konzeption der Gesetzeswächter.30 Dagegen meint Pi¦rart, als Inspirationsquelle kämen eher die Archonten im zeitgenössischen Athen in Frage, die Morrow als Vorbild
26 27 28 29 30
eshai, ja· rpgq]tair wqyl]mour let± sulbouk_ar to?r m]oir, ovty dµ joim0 s]feim !lvot]qour emtyr tµm p|kim fkgm. Plat. Leg. 965a–968a. Bobonich 2002, S. 199; Weber 2015, S. 127f. Plat. Leg. 951d–952d, 961a. Plat. Leg. 952a. Pi¦rart 1974, S. 234 macht die pädagogische Dimension stark. Morrow 1960, S. 209–215; ähnlich Rawson 1969, S. 69f.
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ausgeschlossen hatte.31 Beide Theorien haben Für und Wider. Die Archonten haben ähnliche Zuständigkeiten – z. B. sind die Thesmotheten für Tempelraub zuständig und der Archon Basileus für Asebieprozesse etc. –, bilden aber im Gegensatz zum Areopag kein Gremium der kollektiven Beratung und Entscheidung. Im Folgenden möchte ich den Blick weg von Athen auf ein anderes Gremium lenken, das sowohl kollektiv agiert als auch kontemporär ist: die spartanische Gerusie. Ähnlichkeiten mit den platonischen Gesetzeswächtern sind bisher nur in wenigen Punkten festgestellt worden. Laut Morrow gibt es in Wesen und Funktion nur wenige Parallelen. Powell geht auf die Gesetzeswächter überraschenderweise nur knapp ein.32 Ich denke, dass es mehr Berührungspunkte gibt, als vermutet. Die Kompetenzen der Gerusie sind freilich nicht unumstritten, was mit der dürftigen und tendenziösen Quellenlage zusammenhängt (s. o.). Dieses Problem ist in unserem Kontext aber zu vernachlässigen, da wir die Gesetzeswächter nicht mit der Gerusie, »wie sie wirklich war«, vergleichen wollen, sondern mit dem Bild, das man von ihr hatte; und dieses Bild war, wie die Quellenlage zeigt, entscheidend von den intellektuellen Zirkeln geprägt, zu denen Platon und Aristoteles gehörten. Zuerst zu den Ähnlichkeiten: Wie die Geronten werden die Gesetzeswächter aus den Bürgern und durch die Bürger gewählt, was sich weder von den Archonten noch von den Areopagiten sagen lässt.33 Die Gesetzeswächter sollen sich vor den anderen Bürgern durch Exzellenz (arete¯) auszeichnen, die auch für die Geronten charakteristisch ist.34 Kurz gesagt, es handelt sich jeweils um aristokratische Gremien. Auch die Gerusie scheint in den Augen von Platon und Aristoteles eine Art Nomophylakia ausgeübt zu haben. Im achten Brief, der zu den authentischen Briefen gerechnet wird, schlägt Platon für die Lösung der Probleme in Syrakus jedenfalls die Einrichtung von Gesetzeswächtern vor, nachdem er an die stabilisierende Wirkung der Geronten in Sparta erinnert hatte.35 Um in Oligarchien die Bürger an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, ohne ihnen die Änderung der Verfassung zu ermöglichen, kann man nach Aristoteles eine Körperschaft einrichten (genannt Probouloi oder Nomophylakes), die über alle Angelegenheiten berät, bevor sie der Volksversammlung vorgelegt werden (1298b27). Laut Aristoteles war das Amt der Nomophylakes eine aristokratische Institution (1323a). Vielleicht denkt Aristoteles dabei an die Gerusie, der er wohl eine 31 Pi¦rart 1974, S. 158f., S. 194–199; Pi¦rart 2005. 32 Powell 1994, S. 280f. 33 Arist. Pol. 1272a10; Plat. Leg. 752e–753d. Der Wahlmodus unterschied sich aber : hier entschied die Lautstärke, dort mehrere Wahlgänge. 34 Plat. Leg. 964b; Arist. Pol. 1270b20. 35 Plat. Ep. VIII 354b und 356d.
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probouleutische Funktion zuspricht und die er als aristokratische Institution ansieht.36 Auch bei den richterlichen Kompetenzen gibt es viele Überschneidungen. Die Gesetzeswächter sind die wichtigsten Mitglieder des obersten Gerichtshofs, der für Kapitalverbrechen zuständig ist.37 Das Verfahren wird folgendermaßen beschrieben: Die Abgabe der Stimme soll öffentlich erfolgen… Nach den Reden von Kläger und Beklagtem soll der Älteste mit der Befragung beginnen, indem er in eine genaue Prüfung der gemachten Aussagen eintritt. Nach dem Ältesten sollen alle anderen der Reihe nach alles durchgehen… Tags darauf soll man sich an derselben Stelle erneut versammeln und auf dieselbe Weise den Fall wieder durch Befragungen erörtern… und wenn man das dreimal getan hat und genügend Beweisstücke und Zeugen herangezogen hat, soll jeder seine geheiligte Stimme abgeben… Auf diese Weise soll man solch einen Prozess beenden… Die Stimmmehrheit soll genügen, um die Todesstrafe zu verhängen.38
Alle diese Punkte sind auch für die Gerusie bezeugt, die ebenfalls die Blutgerichtsbarkeit innehatte: Die Prozesse dauerten mehrere Tage; man sprach in der Reihenfolge des Alters; die Abstimmung erfolgte offen.39 Vor athenischen Gerichten dauerte der Prozess hingegen nur einen Tag, was Sokrates in der Apologie beklagt: Gäbe es wie andernorts ein Gesetz, das mehrere Tage einräumt, würden sich die Richter überzeugen lassen.40 Als positives Gegenbeispiel könnte Platon hier bereits die Gerusie im Kopf gehabt haben. Auch die verhandelten Tatbestände überschneiden sich:41 Umsturz der Verfassung (856b–c), Hochverrat (856e–857a), Mord (871c–d). Wie die Geronten ahnden die Gesetzeswächter ferner Unregelmäßigkeiten bei der Amtsführung. Sie bilden nämlich die Gerichtsinstanz bei Klagen gegen die auserlesenen 36 Arist. Pol. 1272a10–12; Arist. Pol. 1270b20. 37 Plat. Leg. 855c: AH.} dijasta· d³ 5stysam ham²tou p´qi molov¼kaj´r te ja· t¹ t_m pequsim_m !qwºmtym !qist¸mdgm !poleqish³m dijast¶qiom· »Richter aber über die Todesstrafe sollen die Gesetzeswächter und das aus den vorjährigen Beamten durch Auswahl der Besten gebildete Gericht sein…« Die Auserlesenen Richter, mit denen die Gesetzeswächter zusammenarbeiten, sind ihnen zahlenmäßig weit unterlegen und werden von ihnen zur Rechenschaft gezogen (Plat. Leg. 767e). 38 Plat. Leg. 855d: 5sty dµ vameq± l³m B x/vor tihel´mg… let± d³ to»r kºcour to¼tour %qweshai l³m t¹m ceqa¸tatom !majq¸momta, Qºmta eQr tµm t_m kewh´mtym sj´xim Rjam¶m, let± d³ t¹m pqesb¼tatom 2n/r ûpamtar wqµ dienekhe?m… 856a ja· p²kim auqiom eQr taqt¹m sumekhºmtar, ¢sa¼tyr te !majq¸momtar dienekhe?m tµm d¸jgm… ja· tq·r dq²samtar toOto, tejl¶qi² te ja· l²qtuqar Rjam_r paqakabºmtar, x/vom Req±m 6jastom v´qomta… ovty t´kor 1pihe?mai t0 toia¼t, d¸j,. 856c ja· p÷sam tµm jq¸sim ¢sa¼tyr aqto?r c¸cmeshai jah²peq 1je¸moir, tµm x/vom h²matom v´qeim tµm pk¶hei mij_sam. 39 Xen. Lak. Pol. 10,2; Plut. Apophthegmata Laconica 217a13; Hom. Sch. Il. 18,506; Paus. 3,5,2. 40 Plat. Apol. 37a. 41 Schulz 2011, S. 179.
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Richter (767e) und gehören dem Gericht an, das über Klagen gegen die Euthynen (die Beamte, die die Rechenschaft abnehmen) entscheidet (948a). Eine weitere Aufgabe der Gesetzeswächter ist es, gegen »schändliche Gewinnsucht« vorzugehen.42 Denn privater Geldbesitz ist verboten (741e–742e). Dieser Aufgabe kommen die Gesetzeswächter nach, indem sie schwarzes Geld konfiszieren (754d–e) und Profit von vornherein zu unterbinden suchen (847c–d). Die Anregung zum Verbot von privatem Geldbesitz hat Platon wohl von Sparta bezogen, wie Schöpsdau zutreffend vermutet.43 Genauer gesagt, dürfte er dabei wohl an die Gerusie gedacht haben, die das Gesetz gegen das private Geld eingeführt und durchgesetzt zu haben scheint.44 Die Gesetzeswächter fungieren gleichzeitig als Gesetzgeber, indem sie die bestehenden Gesetze, die lückenhaft sind, ergänzen und die Gesetze, die mangelhaft sind, revidieren.45 In Sparta mussten Gesetze wahrscheinlich die Gerusie passieren.46 Die Gesetzeswächter scheinen von der Rechenschaftspflicht größtenteils ausgenommen zu sein. Jedenfalls heißt es: »Alle Richter und Beamte sind rechenschaftspflichtig mit Ausnahme derer, die wie Könige die endgültige Entscheidung treffen«,47 was die Gesetzeswächter einschließt. Denn in den meisten Fällen wird keine Revision zugelassen. Zu Recht weist Morrow aber darauf hin, dass die Urteile der Gesetzeswächter in manchen Bereichen nicht final sind.48 In diesen Fällen ist jedoch zu bedenken, dass die Ablegung der Rechenschaft wohl erst am Ende der Amtszeit erfolgt,49 so dass ein Gesetzeswächter für eine krumme Entscheidung im schlimmsten Fall erst nach 20 Jahren zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er nicht schon vorher gestorben ist. Dass die Rechenschaftspflicht bei den Gesetzeswächtern entweder verspätet oder gar nicht greift, erinnert an die spartanischen Geronten, die eine Immunität genossen.50 In Athen waren hingegen alle Beamten, selbst die Areopagiten, rechenschaftspflichtig. Von den zahlreichen Unterschieden (z. B. Zahl und Wahlmodus) sei ein wesentlicher hervorgehoben: Das Mindestalter beträgt für die Gesetzeswächter 50 Jahre; ihr Höchstalter liegt bei 70 Jahren, so dass die Dauer ihrer Amtsfüh42 43 44 45 46 47
Plat. Leg. 754e. Schöpsdau 2003, S. 323. Vgl. Schulz 2011, S. 163f. Plat. Leg. 769a–771a. Die Quellen sind aber spät; vgl. Schulz 2011, S. 196–201. Plat. Leg. 761e: AH.} dijastµm d³ ja· %qwomta !mupe¼humom oqd´ma dij²feim ja· %qweim de? pkµm t_m t¹ t´kor 1pitih´mtym oXom basik´ym. 48 Morrow 1960, S. 250; z. B. bei Prozessen über Waisenkinder Plat. Leg. 926d. 49 Wie Schöpsdau 2003, S. 360 und Morrow 1960, S. 215 vermuten. 50 Arist. Pol. 1272a36: peq· ¨m to»r aqto»r %m tir eUpeie kºcour ja· peq· t_m 1m Kajeda¸lomi cimol´mym (t¹ c±q !mupe¼humom ja· t¹ di± b¸ou le?fºm 1sti c´qar t/r !n¸ar aqto?r).
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rung maximal 20 Jahre beträgt.51 Das Mindestalter für die Aufnahme in die Gerusie lag hingegen bei 60 Jahren; des Weiteren gab es kein Höchstalter, so dass man das Amt bis zum Tod innehatte.52 Bei den Gesetzeswächtern liegt das Mindestalter also 10 Jahre niedriger. Interessanterweise setzt Platon ein Höchstalter für die politische Aktivität fest, was in Griechenland gänzlich unüblich war.53 Durch diese Maßnahmen will Platon wahrscheinlich die Gefahr der Altersdemenz mindern, die er in anderem Zusammenhang evoziert.54 Die Gesetzeswächter sind folglich ein Amalgam aus eigenen Ideen und Anleihen bei verschiedenen zeitgenössischen und vergangenen Gremien, die bewusst oder auch unbewusst rezipiert werden; zu diesem Mix gehört wahrscheinlich auch die Gerusie, deren Eigenschaften Platon aber nicht sklavisch kopiert, sondern adaptiert. Zwischen beiden Gremien zeigen sich einerseits Ähnlichkeiten im Charakter (arete¯) und in der Funktion: Nomophylakie, richterliche Kompetenzen und Ausnahme von Rechenschaftspflicht. Andererseits fällt das Durchschnittsalter der Gesetzeswächter wegen des Höchstalters niedriger als das der Geronten aus.
Die Herrschaft der Alten in Aristoteles’ Politik Empirie und Theorie Die umfangreichsten Überlegungen zu Ältestenräten finden sich in der Politik. Platons Lob der Gerusie teilt Aristoteles nicht, im Gegenteil. Kapitel II 9 enthält geballte Kritik: Die Geronten eigneten sich weder durch Charakter noch Erziehung. Bei lebenslanger Mitgliedschaft drohe Altersdemenz. Außerdem sei der Wahlmodus kindisch und selektiere nicht die Würdigsten, sondern die Ehrgeizigsten. Aristoteles kritisiert dabei genau die Punkte, in denen Platon seine Gesetzeswächter von den Geronten abhebt. Platon war zwar ein Bewunderer Spartas, aber nicht blind. In Büchern zwei und drei vergleicht Aristoteles verschiedene zeitgenössische und vergangene Räte: auf Kreta, in Sparta und Karthago sowie Elis, deren Mitglieder er durch die Bank Geronten nennt.55 Gerusie ist für Aristoteles ein Begriff, der die kretische boule¯ näher bestimmen und einen phönizischen Namen ersetzen kann, auch wenn dies nur in Sparta die offizielle Bezeichnung
51 52 53 54 55
Plat. Leg. 755a. Xen. Lak. Pol. 10; Plut. Lyk. 26,1. Roussel 1951, S. 165. Plat. Leg. 929d. Arist. Pol. 1272a–1273a; 1306a16ff.
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war.56 Aristoteles stellt folgende Gemeinsamkeiten heraus: Es handelt sich um aristokratische bzw. oligarchische Institutionen mit lebenslangen Mitgliedern (Sparta, Kreta, Elis), die nach dem dynastischen Prinzip gewählt werden (Elis, Sparta). Sie haben probouleutische Funktion und sind von der Rechenschaftspflicht ausgenommen (Kreta, Sparta). Der Vergleich der zeitgenössischen und historischen Ältestenräte in der Politik mündet aber nicht in eine theoretische Einordnung des Ältestenrats an sich. In den späteren Kapiteln, die nach Verfassungsformen getrennt die drei maßgeblichen Teile der Verfassung untersuchen (beratend, behördlich und richterlich, IV 14–16) und die demokratischen und oligarchischen Institutionen behandeln (VI 1–2), würde sich der Rückgriff zwar anbieten, einen Satz wie »lebenslange Probouloi, die für Oligarchien typisch sind, heißen in manchen Städten Geronten« sucht man aber vergeblich.57 Empirie und Theorie kommen also nicht recht zusammen.
Eigener Entwurf In seinem Modell des besten Staats, den die Bücher sieben und acht entwerfen, wird dem Alter große Bedeutung zugemessen. Weil die Jüngeren physische Kraft haben und die Älteren Einsicht, sollen jene kämpfen und diese über Maßnahmen beraten und über Rechtsansprüche urteilen. Diese hierarchische Aufgabenteilung entspreche der Natur, da sich Einsicht (vq|mgsir) erst mit fortschreitendem Alter einstellt, und sei gerecht, da die Jüngeren später in die Rolle der Älteren treten.58 Den intellektuellen Höhepunkt erreiche man ungefähr mit 50 Jahren.59 Wer in höherem Alter mental abbaut, soll aus den Beratern ausscheiden und Priester werden.60 56 Arist. Pol. 1272b37 und 1273a6. 57 Dabei heißt es in IV 14–16 und VI 1–2, Probouloi seien eine kleine beratende Behörde, die für die Oligarchie typisch sei (Arist. Pol. 1298b27; 1299b30–1300a4; 1322b12–17; 1323a8), und dass die Vergabe von Ämtern auf Lebenszeit Kennzeichen der Oligarchie sei (1299a8; 1317b41). Bei anderen Ämtern führt Aristoteles verschiedene lokale Termini an: z. B. beim Amt, das für öffentliche Opfer zuständig ist (1322b17ff.). 58 Arist. Pol. 1329a2–18: 1pe· d³ ja· t¹ pokelij¹m ja· t¹ boukeu|lemom peq· t_m sulveq|mtym ja· jq?mom peq· t_m dija_ym 1mup\qwei… 2t]qar !jl/r 2j\teqom t_m 5qcym, ja· t¹ l³m de?tai vqom^seyr t¹ d³ dum\leyr… p]vujem B l³m d}malir 1m meyt]qoir, B d³ vq|mgsir 1m pqesbut]qoir eWmai· und 1332b35–41 und 1334b24f. Zu den natürlichen Herrschaftsformen vgl. Weber 2015, S. 130–194. 59 Arist. Pol. 1335b32. 60 Arist. Pol. 1329a30–34: 1pe· d³ di-qgtai t¹ pokitij¹m eQr d}o l]qg, toOt’ 1st· t| te bpkitij¹m ja· t¹ boukeutij|m, pq]pei d³ t^m te heqape_am !podid|mai to?r heo?r ja· [tµm] !m\pausim 5weim [peq· aqto»r] to»r di± t¹m wq|mom !peiqgj|tar, to}toir #m eUg t±r Reqys}mar !podot]om. Die Übersetzung »die an Kraft verloren haben« (Schütrumpf) ist unglücklich, da den Älteren ja nicht Kraft, sondern Verstand eignet.
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In welcher Form die Älteren organisiert sind, bleibt offen, da sich Aristoteles auf die wichtigsten Funktionen und Regeln beschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Jüngeren und Älteren die ganze Polis bilden, scheint er eher an eine Volksversammlung als an einen Rat gedacht zu haben.61 Im Gegensatz zu Platon stellt sich Einsicht mit zunehmendem Alter automatisch ein, dafür setzt er den intellektuellen Höhepunkt dort an, wo die Gesetzeswächter ihr Amt beginnen, so dass der Ruhestand früher eintritt. Es herrschen also nicht wenige Greise, sondern alle Männer reiferen Alters.
Fazit Verschiedene antike Gemeinwesen werden von Wissenschaftlern als Gerontokratien angesehen, aber der Begriff ist modern. Trotzdem wurde in der Antike über die Herrschaft der Alten nachgedacht, wenn über historische Fälle oder über die beste Verfassung diskutiert wurde. Platons Gesetze und Aristoteles’ Politik sind hier einschlägig. Den Primat der Älteren kennen beide, aber sie bewerten ihn unterschiedlich: historisch und abstrakt. Platon lobt die Einrichtung der Gerusie in Sparta, weil sie die Mischverfassung durch Altersweisheit gestärkt habe, und scheint seine höchsten Beamten, die Gesetzeswächter nicht zuletzt nach ihrem Vorbild kreiert zu haben. Es lassen sich nämlich viele Ähnlichkeiten bei den richterlichen und nomothetischen Kompetenzen nachweisen. Wenn seine Gesetzeswächter aber eine philosophische Ausbildung durchlaufen müssen und mit 70 ausscheiden, ist das eine stillschweigende Abkehr von den Geronten, die eher der Krieg geformt hatte und die dem Gremium bis zum Lebensende angehörten. Für Platon führt Alter nämlich nicht automatisch, sondern nur in Kombination mit der richtigen Erziehung zu Einsicht. Wenn Aristoteles genau diese Punkte an der spartanischen Gerusie kritisiert, kritisiert er damit auch den Phillakonismus seines Lehrers. Obwohl Aristoteles Gemeinsamkeiten historischer Ältestenräte herausstellt, äußert er sich nirgends über den Ältestenrat an sich. Da wundert es nicht, dass in seiner Modellstadt kein Platz für einen Ältestenrat ist. Zwar spielt Alter eine wichtige Rolle, aber eher das reife als das hohe Alter. Zudem wird die Herrschaft von der ganzen Altersklasse und nicht von einer Untergruppe ausgeübt. Die Älteren, denen Einsicht von Natur aus zukommt, beraten und entscheiden; so herrschen sie über die Jüngeren, die ihre Kraft zum Kämpfen prädestiniert. Da sie kein exklusives Gremium bilden und der geistige Höhepunkt um 50 liegt, herrschen alle Männer reiferen Alters und nicht wenige Greise wie bei Platon. Die Gesetzes61 Schütrumpf 2005, S. 115.
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wächter sind hingegen ein elitäres Gremium, aber keines, das die Jüngeren grundsätzlich ausschließen würde: Die Begabtesten werden aus pädagogischen Gründen in den Beratungen hinzugezogen. Einsicht (vq|mgsir) hängt bei Platon höher. Dass beide Philosophen den Begriff Gerontokratie nicht prägen, hängt wohl damit zusammen, dass eine Herrschaft, in der die höchste Macht allein bei den Alten qua Alter liegt (sozusagen eine Gerontokratie in ihrer Reinform), für sie weder in historischen Fällen bezeugt ist, noch wünschenswert wäre. Beide sehen Sparta nämlich tendenziell als Mischverfassung an, in der die Gerusie das oligarchische bzw. aristokratische Element bildet.62 Für Platon ist Alter kein Kriterium, sondern ein möglicher Multiplikator von Exzellenz; in seinem Staat herrscht daher nicht das Alter, sondern die Einsicht.63 Bei Aristoteles herrschen wiederum nicht die Geronten, sondern die Presbyteroi.
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62 Schulz 2011, S. 234–246. 63 Miller 2012.
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Die Vegetius-Rezeption während des Spätmittelalters (14. bis frühes 16. Jahrhundert) vornehmlich im deutschsprachigen Raum
Der Kontrast zwischen der Abhandlung des Vegetius über das Kriegswesen der Antike aus dem späten 4. Jahrhundert1 und der lebhaften Rezeption dieser Schrift in der Zeit der Renaissance, also des Aufkommens und der massenhaften Verbreitung der Feuerwaffen im 15. Jahrhundert, ist unter militärischen Gesichtspunkten vielleicht ähnlich erstaunlich wie die in der Zeit der Atom-, Raketen- und Satellitentechnik kriegswissenschaftliche »Begeisterung« für die Aussagen des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg bei amerikanischen Militärschriftstellern der Gegenwart.2 Aber es gibt, wie man sogleich vermutet oder weiß, andere Faktoren und Gesichtspunkte, die dabei zum Tragen kamen oder ausschlaggebend sind, nämlich im ersten Fall, dem der Renaissance, die Bewunderung der Antike, und in dem anderen das Streben nach Größe und nach Sicherung eines »Imperiums«, die diese scheinbaren Widersprüchlichkeiten verständlich werden lassen. Mit Blick auf Renaissance und Feuerwaffen ist dies die Leitlinie, an der wir uns bei der z. T. recht verwirrenden Materie orientieren und auf die wir nach manchen »Abirrungen« zurückkommen wollen. Inwieweit Vegetius mit den Epitoma rei militaris Aufmerksamkeit oder gar Wirkung erzielt hat, ist umstritten.3 Immerhin hat er den ersten Teil seines Werkes einem namentlich nicht genannten Kaiser gewidmet.4 Darüber hinaus verweist er in der Vorrede zum 2. Buch darauf, dass er nunmehr den Auftrag erhalten habe »für Eure Hoheit« (»Maiestati Vestri«) »aliquid de usu ac disciplina bellorum« mitzuteilen, ja nur auf kaiserlichen Befehl die Abfassung seiner Schrift gewagt und ausgeführt habe.5 Denn als »Zivilist« verfüge er in militärischen Fragen über keine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen, stütze sich vielmehr auf die alten anerkannten Autoren wie Cato den Älteren, Sixtus Julius 1 Wichtige Editionen: Lang 1885; Wille 1986; Önnerfors 1995; Müller 1997; Reeve 2004. 2 Vgl. neuerdings Meister 2013, S. 225–239. 3 Allmand 2011, vgl. Part III, Kap. 11: »The development of Vegetian influence« (S. 251–348), »Conclusion« (S. 329–348). 4 Müller 1997, Libri primi prologus, Buch I (Vorrede), 3 und 6, S. 30/31. 5 Ebd., Buch II, Prologus/Vorrede, 1, 2, 3 und 7, S. 66/67 und 68/69.
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Frontinus, Cornelius Celsus und Tarrutenius Paternus sowie auf die Constitutiones Augusti, Traiani und Hadriani.6 Sein eigentliches Anliegen kommt in seinem ersten, noch spontan verfassten Buch zum Ausdruck, das im Bewusstsein der Größe und aus Sorge um das Römische Reich einen dringlichen Appell zu der Wiederbelebung der alten militärischen Tugenden der Römer enthält, nämlich zur Schulung der Körperkräfte, der Beherrschung der Waffen, Einhaltung der Disziplin und Vermittlung von Kampfmoral und Tapferkeit im militärischen Verband.7 Das Abfassungsdatum ist zwar nicht genau zu ermitteln bzw. umstritten,8 aber einige Anhaltspunkte legen es nahe, dass es sich bei dem ungenannten Imperator um Theodosius I. (379–395) gehandelt haben könnte und die Schrift gegen Ende des 4. Jahrhunderts entstanden sei.9 Zur Person des Vegetius erfahren wir mehr aus der anderen von ihm verfassten Abhandlung Mulomedicina, einer Heilkunde für Pferde.10 Demnach war er Grundbesitzer, betrieb eine Pferdezucht und ist im Römischen Reich weit herumgekommen. Aus diesem Text lassen sich auch die weiteren Bestandteile seines Namens ermitteln, nämlich Publius Flavius Vegetius Renatus; seine Rangbezeichnung vir illustris ordnet ihn dem senatorischen Adel zu.11 Eine der frühesten und besten Handschriften der Epitoma (der Cod. Vat. Lat. 902 aus dem späten 10. Jahrhundert) enthält darüber hinaus die wichtige Information, dass er comes sacrum, richtig comes sacrarum largitionum, also quasi Finanzminister (honoris causa?) an einem der Kaiserhöfe gewesen sei.12 Er verfügte demnach über eine sehr gute Ausbildung und umfangreiche Kenntnisse und war »Patriot« und Christ.13 Nun aber zu dem zuerst nur als opusculum, als »Büchlein«, eingestuften und später dann zu vier Büchern ausgeweiteten Werk und dessen Inhalt selbst, zumindest die erforderliche Kurzinformation. Als schließlich alle Teile vollendet waren, erhielt das Ganze folgendes »Kopfregest«, und zwar nach Friedhelm L. Müller gleich auf Deutsch: Das erste Buch lehrt die Auswahl der jungen Mannschaft: Aus welchen Gegenden oder mit welchen Eigenschaften man sie als Soldaten gutheißen oder mit welchen Waffenübungen man sie befassen soll. Das zweite Buch enthält die Art des alten Militärdienstes, nach der man ein Infanterieheer ausbilden kann. Das dritte Buch legt alle 6 Ebd., Buch I, Kap. 8, 7, 10–12, S. 40–41 und 42–43; außerdem Buch II, Kap. 3, 6–7, S. 72/73. 7 Ebd., Buch I, Kap. 1, 2, S. 30: Nulla enim alia re videmus populum Romanum orbem subegisse terrarum nisi armorum exercitio, disciplina castrorum usuque militiae. 8 Charles 2007 erörtert die Gründe für eine Spätdatierung, kommt aber letztlich zu dem Ergebnis, dass »the Epitoma was written between 383–450« (S. 184). 9 Fürbeth 2004, hier Sp. 1601 (plädiert für »Ende des 4. Jh.s«). 10 Lommatzsch 1903. 11 Müller 1997, Einleitung, S. 12, mit Quellen- und Literaturangabe. 12 Neumann 1965; Önnerfors 1993. 13 Müller 1997, Buch II, Kap. 5, 2–5, S. 74/75.
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Arten der (militärischen) Fähigkeiten dar, die für den Kampf auf dem Land (terrestri proelio) notwendig scheinen. Das vierte Buch zählt sämtliche Maschinen auf, mit denen man Städte entweder belagert oder verteidigt; es fügt auch noch Vorschriften über den Seekampf an.14
Das erste, vom Autor noch spontan niedergeschriebene Buch ragt – wie gesagt – durch das dort bekundete Engagement hervor: Die immer deutlicher werdende Gefährdung des Römischen Reiches aufgrund der schwindenden Kampfkraft lasse sich letztlich nur durch die Heranbildung von Elitetruppen überwinden, die auch einer großen Übermacht widerstehen und diese besiegen können.15 Die auf kaiserliche Bitte hin verfassten Bücher 2–4 bieten hingegen eher sachdienliche Informationen aus älteren Schriften, etwa im 2. Buch darüber, »In wie viele Waffengattungen sich das Militärwesen aufteilt« (1), »Wie die LegionsSchlachtreihen aufgestellt werden« (15) oder »Über das militärische Exerzieren« (23), wie die jeweiligen Kapitelüberschriften lauten.16 Dass diese Schrift überwiegend ältere Kriegslehren und tradierte Kampftechniken aufbereitet, sie allerdings in komprimierter und klarer Form zur Darstellung bringt, ist nicht zu übersehen und wird wiederholt vom Autor selbst betont, hat ihm aber später – im 19. Jahrhundert – den Vorwurf des »Dilettantismus« eingetragen.17 Allerdings überwiegen eindeutig Bewunderung und Verehrung.18 Die größte Bekanntheit und weiteste Verbreitung haben die Epitoma des Vegetius erst im Lauf des Mittelalters und letztlich im 15. Jahrhundert gefunden, jedenfalls soweit sich dies von der Überlieferung her abschätzen lässt. Es war der »nach Cicero, Ovid und Vergil meistgelesene antike Text im Mittelalter«.19 Charles R. Shrader20 und Michael D. Reeve21 haben genaue Überlieferungszahlen ermittelt. Der informative Artikel über Vegetius im Verfasserlexikon von 2004 spricht von »über 270 Handschriften vollständig oder als Exzerpt erhalten«.22 Hinzu kommen die volkssprachigen Übersetzungen oder Teilbearbeitungen; ihre Zahl wird inzwischen mit 17 angegeben,23 zuerst um 1300 in italienischer und französischer Sprache und seit 1400 solche aus dem englischen, kastilischen und nicht zuletzt aus dem deutschen Sprachraum. 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Ebd., S. 29. Ebd., Buch I, Kap. 7, 3, S. 38/39. Ebd., Buch II, Inhalt (»Incipiunt capitula libri secundi«), S. 66/67. Schenk 1930 (ND 1963) ist dieser Kritik von Brunecke 1875 und Förster 1879 überzeugend entgegengetreten. Vgl. die Urteile in den einschlägigen Nachschlagewerken (wie Anm. 9 und 12) sowie Günther 2010. Fürbeth 2000, S. 142. Shrader 1979, S. 282 und 284. Reeve 2004, Introduction, S. XIV–XV. Fürbeth 2004, Sp. 1602. Ebd., Sp. 1605ff., wo auch die hier folgenden Informationen zu finden sind.
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Die Masse der lateinischen Handschriften lässt aufgrund der Fundorte, Widmungen und inhaltlichen Einbettungen vier Ausrichtungen oder Anliegen erkennen. Nämlich erstens und vorrangig das Interesse am Kriegswesen allgemein und an dem der Römer speziell in der Überlieferungskombination mit den Strateg¦mata des Frontinus (33 Hss.), was besonders für die Frühzeit gilt, angefangen mit der von Hrabanus Maurus verfassten Lehrschrift De anima für Lothar II., bis zu Johannes von Salisbury mit seinem Policraticus (um 1159) und zu Heinrich II. von England und dessen Sohn Richard Löwenherz, die auf ihren Feldzügen den Vegetius mit sich geführt hätten. Einen neuen Akzent erhalten die Epitoma mit der Einordnung in den Fürstenspiegel des Aegidius Romanus (De regimine principum von etwa 1277) in den Bereich der politica24 und damit in den des Grundbestands fürstlichen Wissens, nun nicht mehr als erlernbare Technik (wie bei den artes mechanicae), sondern eher im Sinn der »höheren Einsicht«. Diesem Verständnis folgten um 1300 Engelbert von Admont, um 1400 Johannes Gerson und auch Enea Silvio Piccolomini in ihren Fürstenlehren. Als dritte Interessenorientierung ist diejenige als »Geschichtsbuch« der Antike zu benennen, wobei die Kombination mit der Historia Trojana und der Historia Romana des Eutrop am häufigsten begegnen. Schließlich ist auf die Überlieferung im Verbund mit anderen klassischen Autoren wie Cicero, Sallust, Palladius und Vitruv, dem verstärkten Interesse von Renaissance und Humanismus entsprechend, hinzuweisen. Von diesem – sehr knapp referierten – Spektrum der Ansätze her »erklärt sich auch die breite soziale Streuung der Besitzer ; Exemplare der Epitoma gehörten nicht nur dem kriegführenden Adel, sondern auch Bischöfen, Klöstern, Universitäten und Gelehrten«.25 Verwiesen sei schließlich auch auf die Verwendung von Vegetius in Exempel- und Spruchsammlungen, wie es etwa das berühmte Zitat: »Si vis pacem, para bellum«, vermittelt.26 Seit der Wende des 13. zum 14. und seit dem Ende des 14. Jahrhunderts traten die volkssprachigen Übertragungen hinzu,27 und zwar mit neuer Akzentuierung und Orientierung. Sie verfolgten zumindest seit der Zeit um 1400 in der Regel die Absicht, den Text einem weiteren und anderen Kreis von Lesern zugänglich zu machen, der nicht primär aus Begeisterung für die klassische Antike und deren große Autoren, also im humanistisch-philologischen Sinn und historiographischen Interesse, sich an dem Werk delektieren wollte, sondern auch aktuelle 24 Allmand 2011, Part II: The transmission, Cap. 6: Particular uses of the De re militari, S. 83–147, bes. S. 84–91, S. 105–112 und S. 121–127. 25 Fürbeth 2004, Sp. 1603. 26 Müller 1997, Libri III Prologus, Art. 8, S. 106: Igitur qui desiderat pacem, preparet bellum…, so das Originalzitat. 27 Allmand 2011, cap. 7: »The translations«, S. 148–196; Fürbeth 2000, S. 141–162.
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Fragen und Erwartungen an den Text herangetragen haben dürfte. Ein Großteil dieser Übersetzungen ist zwar von Angehörigen des Adels veranlasst oder diesen gewidmet bzw. in deren Büchersammlungen überliefert worden, und zwar mehr als Einzelschriften und nicht in Überlieferungsgemeinschaften mit den classici oder historici, aber öfter ergänzt um kriegsrelevante Texte und Hinweise.28 Wenn wir im Folgenden nur den deutschsprachigen Raum und die seit etwa 1400 überlieferten deutschsprachigen Texte ins Auge fassen, dann sind erst einmal drei literarische Zeugnisse zu nennen, nämlich die Dichtungen von Johann Seffner mit seiner Lehre vom Krieg,29 Johannes Rothes Ritterspiegel30 und Heinrich Wittenwilers Ring.31 Es handelt sich nicht um eine Übersetzung insgesamt, sondern um die Vermittlung und Interpretation bestimmter Aussagen daraus, primär kriegsrelevanter Fragestellung. Dabei werden die Epitoma zur Erklärung und Bewertung des Zeitgeschehens herangezogen. Hatte Volker Schmidtchen schon in den 1980er Jahren diesen Ansatz gewählt,32 so ist ihm um 2000 Frank Fürbeth darin gefolgt.33 Jüngst hat nun Pamela Kalning die »Kriegslehren in deutschsprachigen Texte um 1400. Seffner, Rothe [und] Wittenwiler« auf ihre militärischen Aussagen und die Verwertung der Vorlagen hin untersucht.34 Insgesamt sind diese drei Texte etwa zeitgleich mit dem noch berühmteren, auch stark Vegetius bemühenden Werk von Christine de Pizan, Le livre des faits d’armes et de chevalerie von 1408 entstanden.35 Eine zumindest lockere Gemeinsamkeit besteht nun darin, dass es jeweils um eine Einordnung in die bekannten Kriegstheorien der »bellum iustum-Lehre« geht,36 vor allem aber die Vorstellung von der Rolle und Bedeutung des Rittertums im Kampfgeschehen und im gesellschaftlichen Leben erörtert wird. Neben körperlicher Kraft und Ausdauer sowie persönlichem Mut kam es Vegetius in erster Linie auf die Einhaltung von Disziplin und Geschlossenheit im Truppenverband von Fußkämpfern an,37 ein Konzept, das sich mit dem Anspruch der Überlegenheit und der elitären Vorkämpferrolle mittelalterlicher Ritter kaum in Übereinstimmung bringen ließ. Dieser Kontrast war in den deutsch- wie französischsprachigen 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Fürbeth 2002a, S. 7–29. Schmidtchen 1992; Kalning 2006. Honemann 1992; Huber/Kalning 2009. Brunner 1999. Schmidtchen 1990, bes. Kap. II: »Aspekte des Kriegswesens im späten Mittelalter« (S. 39–128). Fürbeth 2000. Kalning 2006. Byles 1937. Russell 1975; Contamine 1980. Vgl. oben bei Anm. 7.
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Texten zwar nicht ganz unbemerkt geblieben, aber man hielt doch an dem grundlegenden Irrtum fest, die Welt des mittelalterlichen Rittertums und der ritterlichen Kampfesweise mit Vegetius kommentieren oder interpretieren zu können. Hier wie dort finden sich zwar die Begriffe miles/milites oder militia, weisen aber keine inhaltliche Gemeinsamkeit auf. Diese Frage ist m. E. so zentral, dass sie eines Kommentars bedarf, wofür einige einschlägige Quellenbelege aus Vegetius vorzustellen sind. Gleich das erste Buch spricht schon in der Überschrift das Thema an, »ex quibus locis vel quales milites probandi sint«,38 also woher der militärische Nachwuchs kommen soll. Bei der Auswahl der geeigneten Rekruten (»electio iuniorum«), die als »milites« bezeichnet werden, sei in jedem Fall Bauernsöhnen der Vorzug zu geben, da sie körperliche Belastungen und Strapazen aller Art ertragen können. Aber auch Handwerker seien durchaus qualifiziert, wenn sie körperliche Anstrengungen gewohnt sind, wie Zimmerleute, Schmiede, Stellmacher, Metzger, Jäger von Hirschen oder Wildschweinen, keinesfalls aber Fischhändler, Vogelfänger, Zuckerbäcker, Leineweber und alle, die irgendetwas mit Frauenarbeit Zusammenhängendes betrieben haben.39
»Milites« sind überhaupt alle »Soldaten« der spätrömischen Legionen. Damit »omnes milites« einen militärischen Schritt, also den Gleichschritt, beherrschen, aber auch über Gräben springen und strapaziöse Marschleistungen mit schwerem Gepäck absolvieren können, müssen diese Fähigkeiten ständig trainiert werden,40 zweifellos keine Übung für Ritter im späteren Verständnis, sondern für ein Heer von Fußsoldaten. Sie sind es auch, die nach Vegetius die Elitekämpfer in vorderster Front stellen.41 Umgekehrt findet sich bei Vegetius kein miles/militia-Beleg, der dem späteren, dem mittelalterlichen Verständnis vom Ritter entsprechen oder auch nur nahekommen würde. Vorerst bleibt festzuhalten, dass man sich um 1400 in der volkssprachigen Dichtung und Literatur zum Rittertum mehr und mehr darüber Gedanken machte – versteckt oder offen –, wie man in Zukunft militärisch agieren sollte, ohne schon das Modell mit dem Ritterheer im Zentrum des Geschehens grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Gegenteil, Johannes Rothe beschwört geradezu die ritterlichen Tugenden, auch wenn sie inzwischen vielfach verloren gegangen oder pervertiert seien und betont den Vorrang des Ritterstandes unter Berufung auf Vegetius.42 Die Forderung nach »Athletik und Askese« übernimmt 38 39 40 41 42
Müller 1997, »Kopfregest«, Satz 1, S. 28/29. Ebd., Buch I, Kap. 2–7, hier 7. Ebd., Buch I, Kap. 9, 1–6. Ebd., Buch I, Kap. 20, 23. Kalning 2006, 3. Kapitel, Teil B: Rothes Umgang mit Autoritäten am Beispiel der Vegetiusrezeption, S. 100–122.
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Rothe zwar, aber so, dass daraus nun ritterliche Tugenden werden. Bei Heinrich Wittenwilers Ring weiß man nicht so recht, ob man das Kampfgeschehen im bäuerlichen Milieu um »Bertschi Triefnase« und bei der Belagerung von »Bertschi auf dem Heuhaufen« als Burleske und versteckte Kritik an ritterlichem Gehabe oder aber angesichts der vielen gelehrten Zitate als lustige Posse mit tiefgründigem Gehalt verstehen soll.43 Christine de Pizan tadelt zwar eindeutig Ruhmsucht, Eitelkeit und Disziplinlosigkeit mancher Ritter und fordert die stärkere Heranziehung von Fußtruppen, zumal von Bogen- und Armbrustschützen, zweifelt jedoch nicht an der zentralen Bedeutung der »chevalerie« überhaupt.44 Allein Johannes Seffner, der in seiner Lehre vom krieg ein VegetiusExzerpt für den Wiener Hof angefertigt hat, tritt mit dem klar formulierten Anliegen hervor, die vernichtende Niederlage und den Tod Herzog Leopolds II. in der Schlacht von Sempach 1386 gegen die Eidgenossen zu einer Revision der unbedachten und unvernünftigen Kampfesweise von Ritterheeren zum Anlass zu nehmen. Die Rolle und Funktion des Fürsten sei keinesfalls die des ritterlichkampfstarken Anführers und Helden, sondern mit Vegetius die des überlegenen Lenkers des Geschehens.45 Der bald folgende nächste Schritt zu den Übersetzungen der Epitoma im vollen Umfang, die erst in den letzten Jahren genauer untersucht, aber noch nicht einmal als Text ediert wurden, eröffnet ein neues Umfeld mit inhaltlichen Auffälligkeiten und Zutaten. Die älteste bekannt gewordene Handschrift enthält den Widmungsvermerk, dass sie für Herzog Albrecht V. von Österreich angefertigt sei, der 1438 zum deutschen König gewählt wurde und 1439 verstarb; von daher wird sie auf 1437/38 datiert.46 Sie stammt aus der Artistenfakultät der Wiener Universität, wie es die Reste eines Besitzvermerks zu erkennen geben.47 Ihr Titel lautet Vegetius von Ritterlichen dingen. Wie es die Verteilung des Schriftkorpus auf die einzelnen Lagen sowie die Anbringung von Korrekturen, Erklärungen und Einschüben erschließen lässt, müssen mehrere Abschriften gleichzeitig angefertigt worden sein,48 was ein hohes und gezieltes Interesse an diesem deutschsprachigen Text zu erkennen gibt. Besonders interessant wie die Vorbemerkung sind die beiden Erweiterungen, von denen die eine in den fortlaufenden Text integriert, die andere in einen Freiraum und an den Rand des Schriftbilds hineingedrängt worden ist, so dass es sich übrigens bei dieser allein erhaltenen Handschrift um eine Abschrift han43 Ebd., 4. Kapitel: »Wisst, der streit ein chriege ist« – Kriegslehren in Heinrich Wittenwilers »Ring«, S. 140–197. 44 Allmand 2011, S. 121–127. 45 Kalning 2006, Anhang: Johann Seffner, »Ain Ler Von Dem Streitten«, S. 222–228. 46 Fürbeth 2002b. 47 Ebd., T. II, S. 306–308 zur Anlage, Überlieferung und zu dem Besitzvermerk der Hs. 48 Ebd., T. IV, S. 310–312.
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deln muss. Die erste Ergänzung gleich zum Kapitel der Rekrutenausbildung betrifft die Lehre und Kunst des Ringens (»ars luctandi«), die zwar auch zum ritterlichen Training gehört, aber in diesem Zusammenhang der Ausbildung von Fußtruppen dient und weniger auf die zu Pferd kämpfenden und schwer gewappneten Ritter bezogen ist.49 Große Bedeutung konnte eine solche Fähigkeit nämlich für den Nahkampf beim Aufeinanderprallen von großen Heeresverbänden zu Fuß erlangen, wie sie mit dem Übergang zum modernen Söldnerheer wieder zunehmend an Bedeutung gewann. Die zweite Veränderung der Textaussage wird an der Stelle vorgenommen, wo bei Vegetius der »scorpion«, d. h. die schwere Armbrust als Belagerungswaffe Erwähnung findet.50 Hier wird nun die »raysarmb(ru)st« eingefügt, die als zeitgenössisch wichtige Handwaffe beim Kampf auf Nahdistanz zum Einsatz kam.51 Die Erklärung ihrer Handhabung zielt sicherlich auf eine Aktualisierung des Vegetius-Textes. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang das Interesse des Übersetzers an der bei Vegetius bereits erwähnten »Wagenburg«. Im Buch III, 10–16 heißt es dazu: Alle Barbaren verbinden ihre Wagen zu einem Kreis und verbringen wie in einem Lager gegen Überfälle gesicherte Nächte. Fürchten wir, wir könnten nicht lernen, was andere von uns gelernt haben?52
Die Wagenburg hatte aktuell in den Hussitenkämpfen der 1420er und 1430er Jahre eine große Bedeutung erlangt.53 Die Gruppierung von schweren Transportwagen zu mobilen und abwehrstarken Verteidigungsanlagen, die mit moderner Artillerie bestückt waren, hatte der hussitische Heerführer Jan Zizka so effizient zum Einsatz gebracht, dass besonders die habsburgischen Herrscher sich daran die Zähne ausbissen und schwere Niederlagen erlitten. Diese drei für den uns interessierenden Zusammenhang wichtigen Ergänzungen, also die Akzentuierung und Erläuterung von Ringkampf, Armbrust und Wagenburg, lassen das Bemühen um Aktualisierung erkennen.54 Mit der Ausbreitung des Buchdrucks setzte um die Mitte der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts eine neuartige Vegetius-Rezeption ein, und zwar in Ausrich49 Ebd., S. 319–322. Angefügt an Vegetius, Buch II, Kap. 23: »Über das militärische Exerzieren« (Müller 1997, S. 98/99–100/101). 50 Ebd., Buch IV, Kap. 22, 6, S. 204/205 und Kap. 44, 5, S. 226/227. 51 Diese Einfügung umfasst allein vier Seiten mit »äußerst detaillierter Anweisung, wie die Armbrust anzusetzen und wie mit ihr zu zielen ist«; so Fürbeth 2002b, S. 319. 52 Ebd., Buch III, Kap. 10, 16, S. 140/141 mit Verweis auf Buch I, Kap. 22, 1, S. 58/59: »An welchen Plätzen das Lager aufzuschlagen ist«. 53 Schmidtchen 1990, S. 212–220: »Die hussitische Wagenburg als technisch-taktische Innovation«. 54 Wichtige Informationen zur Widmung, Herstellung und Überlieferung dieser interessanten Handschrift bietet Fürbeth 2002b, bes. S. 334–338.
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tung auf neue Käuferkreise, ohne deswegen die alten Ansprechpartner aus dem Auge zu verlieren. Grundvoraussetzung dafür war eine gut lesbare und verständliche Übertragung in die Volkssprache, mit der man neben den an Waffenund Kampftechnik aus naheliegenden Gründen interessierten Bürgern die inzwischen stark angewachsene Zahl von Technikern und Ingenieuren, wie sie nun genannt wurden, anzusprechen und zu gewinnen hoffte.55 Diese neuen Experten des Kriegswesens, die Büchsenmeister und Zeugmeister,56 von denen gefordert wurde, dass sie nicht nur im Umgang mit dem Kriegsgerät, sondern auch in der Theorie kundig seien, angefangen vom Transport schwerer Waffen (Geschütze etc.) im schwierigen Gelände, dem Einsatz von Belagerungsmaschinen, über die Zubereitung verschiedener Pulvermischungen und ihrer jeweiligen Wirkung, bis hin zu ballistischen Berechnungen, waren mittlerweile mit zahlreichen eigenen Traktaten und technischen Zeichnungen auf den Plan getreten und damit eine nicht zu unterschätzende Käuferschicht geworden.57 In welcher Hinsicht konnte für diese Personengruppe und ihre Zwecke eine Vegetius-Übersetzung dienlich sein? Die Beantwortung dieser Frage ist für mich selbst interessanter geworden, als ich es ursprünglich vermutet oder erwartet hatte. Erst einmal ist jedoch der älteste deutschsprachige Vegetius-Druck vorzustellen, der recht erfolgreich gewesen zu sein scheint, da sich die bisher bekannt gewordenen erhaltenen Exemplare, 23 an der Zahl, auf eine Auflage von 700 Stück hochrechnen lassen, wenn ein Multiplikator von 30 zugrunde gelegt wird.58 Der Übersetzer und Initiator des Druckes ist Ludwig Hohenwang gewesen, dessen Biographie und Produktion (um nicht »Werk« zu sagen) mittlerweile gut erforscht sind.59 Er stammte aus Elchingen bei Ulm, wie er selbst einleitend mitteilt, und wird erstmals 1461 in der Matrikel der neugegründeten Basler Universität aufgeführt.60 Von diesem Datum her ist auf eine Geburt kurz vor 1445 zu schließen. Die letzte Erwähnung für ihn findet sich 1508 in dem in Straßburg gedruckten Manuale Vergilianum.61 Bereits 1461 war er in Basel an der Abschrift des Büchleins Von der Liebhabung Gottes beteiligt. Die nächste und entscheidende Stätte seines Wirkens, die uns bekannt ist, war dann Augsburg. Hier wird er von 1475 bis 1477 als Steuerzahler, und zwar mit der »Habnit«-Steuer für Vermögenslose mit einem Betrag von 60 Pfennigen genannt.62 Immerhin betrieb er eine eigene Offizin, aus der unter seiner Leitung (»ex ductu 55 56 57 58 59 60 61 62
Schulz 2013, mit Literaturhinweisen. Schulz 2015. Leng 2000a; Leng 2000b. Fürbeth 2002a, S. 20. Ebd., S. 14–29, mit der älteren Literatur ; Weichardt 1930 (Druck 1933). Wackernagel 1951, S. 24 Nr. 113. Fechter 1977, S. 41. Butsch 1885, S. 14f.
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Ludovici Hohenwang de Elchingen«) nachweislich zwei Drucke hervorgingen, nämlich die Summa Hostiensis und der Asinus Aureus des Lukian.63 Zehn Jahre später, seit 1487, ist er dann wieder in Basel nachweisbar, wo er als »Meister Ludwig von Elchingen« (1490) Mitarbeiter in der zuvor so erfolgreichen, nun in der Auflösung befindlichen Offizin von Michael Wenssler war (Erwähnung in dem Bankrott-Verfahren von 1490).64 Noch 1506 ist Ludwig Hohenwang in Basel als Herausgeber mehrerer Schriften – etwa von Jakob Wimpfeling oder von Albertus Magnus – für andere Werkstätten bezeugt.65 Erweist er sich damit als erfahrener Editor und Korrektor, so ist er mit seinem bisher ausgesparten Hauptwerk, dem »Vegetius«, einerseits als Übersetzer und Sprachgestalter und andererseits als Unternehmer auf einem erst neu zu erschließenden Markt hervorgetreten. Nach der verwendeten Type zu urteilen, ist die Drucklegung 1475/76 in der Offizin von Johann Wiener in Augsburg erfolgt und unter dem Titel »Des Vegecii kurcze red von der Ritterschafft« erschienen.66 Gewidmet ist das Werk dem Grafen Johann von Lupfen-Stühlingen,67 der »in Reiterey, kriegßlouffen und andern sachen allen« bewährt und geübt sei; denn die bei Vegetius zu findenden und nun verdeutschten Aussagen dürften für seinen »gnedigen herren … wolgevellig und nuczpar sein«.68 Letztlich werde dank der Kriegskunst »die freihait behalten … das veld gebuwen, das land beschirmet und das reich gesterckt«,69 was nicht nur sprachlich sehr gelungen erscheint, sondern auch die hohe Bedeutung der Kriegskunst auf eine kurze Formel zu bringen versteht. Mit beiden Aussagen zur Nutzbarkeit und Funktion der »ars bellandi« wird der Gesichtspunkt der militärischen Praxis betont, Vegetius damit wieder in den Horizont konkreten Geschehens gerückt. Wenn in dem verdeutschten Text statt von der »res militaris« von der »Ritterschafft« gesprochen wird, könnte man geneigt sein, eine Zuordnung zu dem unzeitgemäßen mittelalterlichen Ritterkampf zu unterstellen. In diesem Punkt wird man schnell eines Besseren belehrt, wenn im Anschluss an die Widmung ausdrücklich von der »kriegkunst der Reitery« und nicht von der Ritterschaft die Rede ist: Darumb wa ir vindent in diesen biecher(n) Ritter oder ritterschaft solt ir verstan reitery und (reiter) die allweg der Ritterschaft in diensten als iren (herren) beiwonend und leib und hab mit in wagend.70 63 64 65 66 67 68 69 70
Schmidt 1997. Fechter 1977, S. 40. Ebd., S. 33, Anm. 22. Geldner 1968, S. 142f. Fürbeth 2002a, S. 21–23. Fürbeth/Leng 2002, Farbmikrofiche-Edition, Blatt 1r. Ebd. Ebd., Blatt 1v.
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Die Ritterschaft im Titel ist also, so werden wir belehrt, letztlich als »Reiterschaft« zu lesen und zu verstehen und damit – wie schon bei Vegetius – als nur eine neben den anderen Waffengattungen zu betrachten. Dennoch bleibt der ritterliche Adel als überwiegend lateinunkundige Käuferschicht von Interesse, wofür der irreführende Begriff der »Ritterschafft« im Titel als Lockmittel gedient haben mag. Interessant ist in dieser Hinsicht auch die Anfügung eines – wenn auch unvollständig gebliebenen – Glossars unvertrauter und kaum übersetzbarer lateinischer Begriffe, wie legio, centurio, triarius und anderer.71 Halten wir als Zwischenbilanz vorläufig fest, dass mit der Übertragung in die deutsche Sprache und den bereits erwähnten Auffälligkeiten der Vegetius-Text eine neue und zugleich aktuelle und breitere Aufmerksamkeit erlangen sollte und tatsächlich erlangt hat. Angesichts dieser Voraussetzungen ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ludwig Hohenwangs Vegetius als relativ bescheiden zu bezeichnen. Natürlich hat Max Jähns in seiner Geschichte der Kriegswissenschaft bereits 1889 die Bedeutung dieser Schrift erkannt und kurz gewürdigt.72 Erst 100 Jahre später (1990) ist Volker Schmidtchen erneut und vertiefend auf sie eingegangen.73 Die erste und einzige (mir bekannte) Veröffentlichung erfolgte schließlich 2002, und zwar in Form von vier Mikrofiches der HS 296. 3 Hist. 28 der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.74 Das dazu erschienene Begleitbändchen enthält zwei interessante Beiträge, nämlich einen von Frank Fürbeth zur Einordnung und Bewertung der Schrift, den anderen von Rainer Leng über Die Illustrationsfolge der deutschen Vegetius-Ausgabe von Ludwig Hohenwang. Die Abbildungen kriegstechnischer Geräte (S. 31–69). Die letztgenannte Studie ist mit ihren sachkundigen Beobachtungen in unserem thematischen Zusammenhang besonders aufschlussreich.75 Dem Druck von 1475/76 sind 61 Abbildungen unterschiedlicher Kriegsgeräte als 5. Buch angefügt, die in ihrer Zuordnung, Gestalt und Funktion in dem von Rainer Leng beigegebenen »Verzeichnis« erklärt werden.76 Hohenwang hatte in seiner Vorrede die Notwendigkeit für seinen Bildanhang damit begründet, dass »kain sach gancz klerlich durch bedeutnuß der wort als durch zaigen ains monsters« (Musters) richtig verstanden werden könne.77 Und in der Tat ist das Interesse an den Illustrationen offensichtlich viel größer gewesen als am Text; denn die »intensiven Benutzungsspuren, die sich im 71 72 73 74 75 76 77
Ebd. Jähns 1889 (ND 1966), S. 265–267. Schmidtchen 1990, S. 105–128. Fürbeth/Leng 2002. Vgl. Leng 2000a, 2000b und 2001. Leng 2002. Fürbeth/Leng 2002, Farbmikrofiche-Edition, Blatt 1r.
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Bildteil des Wolfenbütteler Drucks finden«,78 sprechen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache. Nun handelt es sich bei den Illustrationen nicht um eine adäquate Ausstattung zu den Epitoma des Vegetius. Als Vorlage hat vielmehr der nur drei Jahre zuvor, also 1472, erschienene Bildanhang bei Roberto Valturio zu seiner Schrift De re militari gedient, die in Verona gerade im Druck erschienen war.79 Bei diesem Abbildungsprogramm, wenn man es denn so nennen darf, handelt es sich um eine Kompilation, d. h. eine Übernahme von Skizzen echter technischer Innovationen aus älteren Handschriften, Phantasie-Entwürfen, alten oder veralteten Belagerungsgeräten, aber auch von Feuerwaffen unterschiedlicher Art; alles, wie gesagt, aus anderen Handschriften oder Drucken abgekupfert oder – besser – nachgeschnitzt.80 Nur wer diese Überlieferung aus Italien und Deutschland dieser Zeit (bis 1470/75) kennt, kann den Vermittlungsprozess und -weg der Bildvorlagen verfolgen. Das hat Rainer Leng in seinem Beitrag zwar nur skizzenhaft, aber in informativer Weise getan und damit ein neues Licht auf den Austausch von technischen Neuerungen und Ideen zwischen Deutschland und Italien aufgedeckt. Sein Fazit sei deshalb hier zitiert: Der durchaus merkwürdige Weg der Abbildungen führte dabei von frühen Büchsenmeisterbüchern (gemeint ist damit von Deutschland aus) über die gelehrte Welt des italienischen Humanismus wieder zurück über die Alpen und aus dem Druck erneut zurück an die Ursprünge, die Bilderhandschriften der Büchsenmeister.81
Dieser Weg der wechselseitigen Beeinflussung ist der beigefügten »Bildkonkordanz zu Handschriften und Drucken« im Anhang zu entnehmen.82 Der Vegetius-Text und der Bildteil stehen auf den ersten Blick beziehungslos nebeneinander, bestenfalls könnte man das eine oder andere mechanische Belagerungsgerät mit der Spätantike in Verbindung bringen. Aber wir werden schließlich sehen, dass gerade die Vermischung von Alt und Neu, von ferner Vergangenheit und kaum erreichter Gegenwart bzw. von konservativem Verharren und spürbarer Technik- und Fortschrittsbegeisterung, den Zeitgeist widerspiegelt. Entsprechend groß war die Wirkung, die dieser erste VegetiusDruck mit seinem Anhang erzielte, da fast alle Vorstellungen und Interessenrichtungen im Bildteil – etwa von feuerspeienden Drachen bis zum »modernen« Revolvergeschütz auf drehbarer Platte – enthalten sind.83 Dies gilt sowohl für die nun rasch nachfolgenden Drucke als auch für die zahlreichen um 1500 entste78 79 80 81 82 83
Leng 2002, S. 58. Ebd., S. 36/37. Ebd., S. 37/38: Benennung der Vorlagen, aus denen sich Valturio bedient hat. Ebd., S. 58. Ebd., S. 67–69. Ebd., beschreibendes Verzeichnis der Holzschnitte, Abb. 25, S. 4 (der große bewegliche Drache ist mit Geschützen bestückt) und Abb. 47, S. 50.
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henden Bilderhandschriften, die sich an Hohenwang und seinen Illustrationen orientierten. An Drucken sind die Erfurter Vegetius-Ausgabe von 1511,84 die hochgeschätzte Veröffentlichung von Heinrich Stainer in Augsburg von 1529 zusammen mit dem Erstdruck des Feuerwerksbuchs von 1420,85 aber auch der Pariser Vegetius-Druck von 1531 mit der Hohenwang’schen Bildausstattung zu nennen.86 Ebenso fand diese Eingang in die handschriftliche Überlieferung dieser Zeit, nämlich in zahlreiche Büchsenmeisterbücher, die vor allem an dem Feuerwerksbuch von 1420 und geeigneten Bildvorlagen interessiert waren, wie besonders die Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 734 und Cgm 356.87 So erneut Rainer Leng: In größerem Umfang rezipierten nochmals an der Wende zum 16. Jh. einige voluminöse Codices den Bildkatalog Hohenwangs, das ›Rüst- und Feuerwerksbuch‹ der Stadt Frankfurt, das ›Kriegsbuch‹ des Ludwig von Eyb und das Weimarer ›Ingenieur- und Wunderbuch‹. Die drei Handschriften spiegeln den Versuch wider, alles erreichbare Bildmaterial zur Kriegstechnik zu enzyklopädisch orientierten Sammlungen zu vereinen.88
In diesem Bestreben war man sich einig, Fürsten und Adlige genauso wie große Städte und Bürgergemeinden, nämlich in dem Wunsch, über das moderne kriegstechnische Wissen und zugleich über prachtvolle Handschriften zu verfügen, die in der Bildausstattung durchaus gemischt sein konnten, was die Aktualität anbelangt. Vegetius blieb also vorerst weiter Kernstück, nunmehr allerdings ergänzt um mehrere wichtige Texte zur Technik von Feuerwaffen und Schießpulver und um einen Modernität und Tradition verbindenden Bildteil. In diesem Kontext stellt das Kriegsbuch des Philipp von Seldeneck,89 des »Erzküchenmeisters des Heiligen Römischen Reiches« (seit 1465), in mancherlei Hinsicht einen Neuansatz dar, indem es konkrete Beobachtungen zum Wandel des Kriegswesens enthält und die Konsequenzen aus diesen Veränderungen zieht. Der Autor, ein um 1440 geborener ostfränkischer Adliger, war in kurpfälzische Dienste getreten und als Truppenführer an mehreren Feldzügen beteiligt, so dass sein Kriegsbuch sehr gut die Verbindung von Theorie und Praxis zu vermitteln vermochte.90 Als »Erzküchenmeister« trat er bei großen Ereignissen des Reiches in Erscheinung, so 1486 bei der Wahl Maximilians I., 1511 beim Krönungsmahl Karls V. und noch 1530 nach dessen Kaiserkrönung in Bologna. Seine bleibende Bekanntheit verdankt er jedoch seinen Ausführungen 84 85 86 87 88 89 90
Knapp 1511. Stainer 1529. Ricossa/Bassignana 1988, S. 113 und 119. Vgl. Leng 2002, S. 55 mit Anm. 130 und 133. Ebd., S. 56/57. Neubauer 1963. Ebd., S. 230–250; Schmidtchen 1989.
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zum Kriegswesen. Das »Kriegsbuch« gliedert sich in zwei Teile, nämlich einerseits in die von drei Schreibern angefertigten Kopien von drei älteren Texten und andererseits in vier von Philipp von Seldeneck selbständig verfasste Traktate. Der erste Teil besteht aus einer Abschrift des Vegetius-Drucks von Ludwig Hohenwang, übrigens mit einer sehr schönen aquarellierenden Nachgestaltung des Bildanhangs, außerdem von zwei »Wagenburgordnungen« und dem »Kriegseid der Eidgenossen«.91 Nun stellt sich die Frage, was das Motiv gewesen sein mag, von einem erreichbaren Druck eine Abschrift und Bildkopie anfertigen zu lassen. Kostengründe kommen gewiss nicht in Frage, eher die Vorliebe für eindrucksvolle Prachthandschriften. Allerdings ist bei Seldeneck noch ein weiterer Faktor in Rechnung zu stellen, wenn man nämlich die anderen Teile betrachtet, die die eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse enthalten. Zum Vergleich bieten sich in dieser Frage die Büchsenmeister- und Feuerwerksbücher an, die zwar im 15. und 16. Jahrhundert eine große Verbreitung fanden, aber in der Regel nur von Hand zu Hand weitergereicht, gelegentlich wohl auch an vertraute Personen ausgeliehen wurden, aber erst nach mehr als 100 Jahren zum Druck gelangten und dann ein voller Verkaufserfolg wurden.92 Noch aufschlussreicher ist in dieser Hinsicht wohl der Vergleich mit Franz Helm und seinem 1535 verfassten Buch von den probierten Künsten, das im 16. und 17. Jahrhundert zum maßgeblichen Handbuch der »modernen« Kriegstechnik geworden ist, übrigens auch über den deutschsprachigen Raum hinaus. Nach Rainer Leng sind bis 1618 nachweisbar 77 Abschriften von dieser Handschrift angefertigt worden, was auf eine Gesamtzahl von mindestens 300 hindeute, bevor es 1619 zum ersten Mal gedruckt erschien.93 Auch hier ein Abstand von fast 100 Jahren, in einer Zeit, in der fast alles, was neu und von Interesse war, sogleich in die Druckerpresse ging. Warum oder – besser – warum nicht auch Franz Helm? 1. Weil handschriftlich abgefasste Exemplare nach wie vor gefragt waren und durchaus ihren Preis hatten. 2. Vor allem aber wohl, weil so der Nimbus von geheimem Wissen oder elitären Kenntnissen gewahrt wurde. Damit kommen wir endlich zurück zum Inhaltlichen und zu der Frage, was sich an der Vegetius-Rezeption verändert hatte, ob sie an Bedeutung verlor oder – bei allem Wandel – weiterhin interessant und wichtig erschien. Der noch nicht vorgestellte zweite Teil des Kriegsbuchs von Philipp von Seldeneck bietet hier interessante Aufschlüsse. Er umfasst vier militärische Traktate, die auf eigener 91 Neubauer 1963, S. 14. 92 Leng 2000a. 93 Leng 2001.
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Erfahrung beruhen, nämlich über den Eid der Kriegsknechte, die Fußknechteordnung, die Feldbestellung der Reiterei und die Feldbestellung für große Heere, Texte, die in den 1480er Jahren und nach 1494 (so der letztgenannte) entstanden sein müssen.94 Darin ist viel von Kriegs- und Fußknechten sowie von der Reiterei die Rede, nicht jedoch von Rittern in ihrer Funktion und Kampfesweise.95 Darauf ist am Schluss noch einmal zurückzukommen. Viel Aufmerksamkeit finden hingegen die beiden übernommenen Ordnungen der Wagenburg, unter der Führung von »Wagenburghauptmann« und »Wagenburgmeister«, ausgestattet mit »Wagenbüchsen« und dem ganzen Zubehör und Können, das zur Errichtung dieser effizienten Verschanzung mit hoher Kampfkraft benötigt wurde.96 Die klar gegliederte Ordnung behandelt zuerst die Ausrüstung der einzelnen Wagen und deren Besetzung mit unterschiedlich bewaffneten Kämpfern, nämlich denen zur Bedienung von Geschützen, anderen versehen mit Hakenbüchsen, Armbrüsten, Stabschleudern, Dreschflegeln, Hellebarden und nicht zuletzt mit Spießen.97 Es folgt die gut sortierte Ausstattung mit vielerlei Geräten. In diesem Fall wird mit einem Heer von 12.000 Fußsoldaten mit 550 Wagen sowie 3.000 Reitern mit 300 Wagen, also insgesamt 15.000 Mann mit 850 Wagen, d. h. mit 17 bis 18 Kämpfern pro Wagen gerechnet. So wirkungsvoll diese neue Kampfformation sein konnte und war, so hoch waren auch die Anforderungen an die Einhaltung der Ordnung, von Disziplin und technischem Können. Sie war mit großem Erfolg erst in den Hussitenkriegen98 und anschließend von den Burgunderherzögen praktiziert worden. Jan Zizka hatte dafür einen neuen Typ von schweren Kampfwagen bauen lassen, mit Balken und massiver Holzverkleidung geschützt, ausgestattet mit Schießscharten und auf jedem fünften Wagen mit leichteren, schwenkbaren Geschützen bestückt, mit denen bei einem Angriff die Distanz von 100 Metern bestrichen werden konnte.99 Wenn wir das Kriegsbuch von Philipp von Seldeneck in seinem Kernbestand auf etwa 1485 und Jan Zizkas Wagenburg um 1420 datieren, dann waren mittlerweile 65 Jahre ins Land gezogen, während denen Kampftechnik und Kriegsführung merklich verändert worden waren nämlich durch die des geschlossenen Haufens von Fußknechten mit Langspießen.100 Diese sogenannten großen Ge94 Schmidtchen 1990, Kap. III, 1: »Das Kriegsbuch Philipps von Seldeneck« (S. 242–264). 95 Neubauer 1963, bes. Kap. IV, 6: »Philipp von Seldenecks ›Feldbestellung der Reiterei‹« (S. 49–54) und Blatt 101r–111r (S. 96–114). 96 Ebd., Kap. IV, 1 und 2, S. 33–39, Blatt 78r–87r. 97 Schmidtchen 1990, S. 212–220: »Die hussitische Wagenburg als technisch-taktische Innovation«. 98 Durdik 1961. 99 Heymann 1969. 100 Schmidtchen 1990, S. 231–238.
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walt- oder Gevierthaufen hatten die kampferfahrenen Eidgenossen im Laufe der Zeit immer perfekter ausgebildet und besonders in den Burgunderkriegen gegen Karl den Kühnen siegreich zum Einsatz gebracht.101 Ein solcher Gevierthaufen umfasste 10.000 bis 15.000 Mann, in vorderster Reihe die Spießer mit bis zu 5,60 m langen Stangen, die jegliche Reiterattacke mit den gegen die Pferde gerichteten Langspießen abwehrten. Sie wurden durch Schützen ergänzt, die nach Abgabe der Salven in die hinteren Reihen zurücktreten konnten und dann durch die »Stachelwand« gesichert waren. Nach der Abwehr folgte der Angriff, vorgetragen durch die nun aus dem »Igel« vorrückenden Halbartiere mit ihren gefürchteten Halmbarten oder Hellebarten, d. h. Stangen mit einem zugespitzten scharfen Beil an der Spitze zum Fällen gepanzerter Kämpfer bzw. zum Angriff mit der Stoßklinge und dem seitlich angebrachten Hakenmesser.102 Das Funktionieren des Ganzen setzte große Disziplin, hartes Training und das Einhalten einer strengen Ordnung voraus, zumal in der Regel drei solcher großen Gewalthaufen aufeinander abgestimmt agieren mussten oder sollten. Grandson, Murten und schließlich Nancy sind die Ortsnamen für die vernichtenden Niederlagen, die das stolze burgundische Heer auf diese Weise erlitt.103 Daran hatte auch nicht die bewegliche Feldartillerie, die Karl der Kühne gegen sie eingesetzt hatte, oder die neu formierten Ordonanzkompagnien von ritterlichen Elitekämpfern im Verbund mit »Berufssoldaten«, wie sie die Könige von Frankreich und die Herzöge von Burgund quasi als »stehendes Heer« zur Abhilfe aufgestellt hatten, etwas ändern können.104 Die Zeit der unwiderstehlichen Formationsund Frontalangriffe der Ritter – gleichsam als Panzerwaffe mit dem Ziel des Durchbruchs durch die feindlichen Linien – war endgültig vorbei. Den nachhaltigsten Einschnitt in der Kriegsführung hatten zweifellos das Aufkommen und die Verbreitung der Feuerwaffen bewirkt, worauf an dieser Stelle nur mit einigen knappen Bemerkungen hinzuweisen ist.105 Es handelte sich um einen Prozess, der sehr wirkungsvoll um 1370/80 mit den mächtigen Bombarden, den schweren mauerbrechenden Geschützen, einsetzte und als Reaktion zur Bestückung der Mauern mit Abwehrgeschützen und zur Verstärkung der Befestigungen führte. Peu peu wurden auf Lafetten montierte Feldgeschütze zum Einsatz gebracht, auch die Qualität des Pulvers, des Zündmechanismus sowie die Zielgenauigkeit und die Schussfrequenz verbessert, aber all dies brauchte seine Zeit und kam unterschiedlich schnell und wirkungsvoll zur Anwendung. Oft wurden die Feuerwaffen stillschweigend in die Kampftechnik integriert und dementsprechend in den Kriegsordnungen vorerst nur miter101 102 103 104 105
Schaufelberger 1966; Schaufelberger 1974. Schmidtchen 1990, S. 183–190. Kurz 1976. Schmidtchen 1990, S. 48–54. Vgl. die oben Anm. 60–62 genannte Literatur sowie Grassi 1996.
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wähnt. Lediglich in den zeitgenössischen Rechnungsbüchern sowie in den noch handschriftlich verbreiteten Büchsenmeisterbüchern treten diese Neuerungen ihrer Bedeutung entsprechend hervor. So etwas konnte man bei Vegetius nicht suchen oder vermissen. Auch sind in den Epitoma keine mittelalterlichen Ritter, wohl aber Reiter/equites, leichte und schwergepanzerte Berittene anzutreffen, die besonders zu Attacken an den Flügeln – unterstützt von schnellfüßigen Mitstreitern – eingesetzt werden konnten. »In der Nähe des Zentrums des Kampffeldes«, so betont Vegetius, »muß man Elitetruppen der wohlgerüsteten Fußtruppen haben, aus denen man einen Keil bilden und sofort die Schlachtenreihe der Feinde durchbrechen kann.106
Konnte man bei flüchtiger Lektüre des Vegetius angesichts der tief verwurzelten Vorstellung von der Überlegenheit des Ritterheeres und des ritterlichen Einzelkämpfers bis um 1300 über den Kontrast zu den klaren Aussagen der Epitoma noch hinwegsehen, so wurde dies seit Beginn des 14. Jahrhunderts immer problematischer. Man denke nur an die verheerenden Niederlagen der damals berühmtesten Ritterheere bei Kortrijk (Courtrai) in der Goldenen Sporenschlacht im Juli 1302 oder an die von Cr¦cy im August 1346, ebenso wie an die bei Morgarten im November 1315 oder bei Sempach im Juli 1386, sei es also gegen das Bürgeraufgebot der Metropole Flanderns oder gegen die Bogenschützen der englischen Truppen in Frankreich, sei es zweimal gegen das eidgenössische Fußvolk. Gerade in der Vegetius-Rezeption wird seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert erst vorsichtig, bald immer deutlicher die Erkenntnis ausgesprochen, dass die Zeit der Ritterheere vorbei sei, auch wenn man die römische »virtus« mit ritterlichen Tugenden verband, teilweise sogar gleichsetzte oder die »equites« bei Vegetius mit »chevalerie« bzw. mit »ritterschaft« übersetzte, und auch wenn das Turnierwesen, die Heraldik, die Ahnenprobe und das elitäre Bewusstsein erst im Lauf des 15. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung gelangten.107 Für jedermann sichtbar hatte dazu vor allem die neue Waffentechnik beigetragen, an der die meisten Ritter nicht teilhaben konnten oder wollten. Dennoch blieb Vegetius hochgeschätzt und verehrt, sogar mehr als zuvor. Warum? 1. Bevor das vielleicht Wichtigste vergessen wird, sei es gleich an erster Stelle rekapituliert. Zweifellos hatte Vegetius im Zuge von Renaissance und Humanismus als Autor und einer der Kronzeugen der Antike immer mehr an Bedeutung, ja Bewunderung gewonnen, jedenfalls bei Gelehrten und gebil-
106 Müller 1997, Buch III, Kap. 17, S. 154/155. 107 Vgl. Huizinga 1961, S. 370, und Paravicini 1999, S. 40–45, um die Unterschiedlichkeit in der Bewertung dieser Frage anzudeuten.
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deten Bürgern, wobei das Interesse am Militärischen zugunsten der Historie etwas in den Hintergrund gerückt sein dürfte. 2. Zum anderen verlieh Vegetius dem Fürsten und Adligen durch die Vermittlung der »Spiegel« und Fürstenlehren den Nimbus von höherer Einsicht und theoretischem Wissen im Unterschied zu bloß praktischen Kenntnissen. 3. Wie es besonders die Abbildungsanhänge und bildlichen Darstellungen in Verbindung mit den Aussagen der Epitoma zeigen, kam dem Siegeszug des Vegetius zweifellos der Übergangscharakter des 15. Jahrhunderts zustatten, als eine Vermischung von Alt und Neu stattfand, besonders auffällig beim Kriegsgerät, aber auch in der Darstellung des Ritters im Kampfgeschehen, teils noch bewundernd, zunehmend in einer problematischen Rolle. Oft wird auch gar nicht realisiert, wie weit Text und Bild auseinanderklaffen; vermutlich weil vieles Überholte und Antiquierte noch so vertraut war, dass es von der Erwartung her einfach zum Bild und Geschehen dazugehörte. 4. Die stärkste Wirkung und Nachhaltigkeit hat Vegetius aber wohl mit der genauen Beschreibung des vorbildlichen Kämpfers evoziert, wie es einleitend schon kurz angesprochen worden ist, aber am Schluss nochmals knapp vermittelt sei. Das erste Buch beginnt mit der Überschrift: »Romanos omnes gentes sola armorum exercitatione vicisse« (»Die Römer besiegten alle Völker allein aufgrund ihrer Waffenübungen«) und fährt erklärend fort: In jedem Kampf pflegen nicht so sehr die Menge und die ungestüme Tapferkeit als vielmehr die Waffenbeherrschung (›ars et exercitium‹) den Sieg zu gewährleisten.108
5. Ist bei der Auswahl der Rekruten große Sorgfalt zu üben. In jedem Fall ist Bauersöhnen und trainierten Handwerkern der Vorzug zu geben, da sie körperliche Belastungen und Strapazen aller Art ertragen können. Außerdem müssen sie sich von Charakter und Wesensart eignen sowie über Kampfesmut verfügen. Je weiter die militärische Entwicklung im 15. Jahrhundert voranschritt, umso mehr schien in diesem Punkt das von Vegetius dargebotene Modell der Aktualität und Realität zu entsprechen. Was er vor Augen führte, war im wesentlich ein Fußheer mit Berufssoldaten, wie es sich im 15. Jahrhundert wieder mehr und mehr durchzusetzen begann. Gewiss, hier wie dort ergänzt um eine berittene Truppe, die aber ein Bestandteil des Systems, also in dieses integriert war. Bei Vegetius bestanden die Heeresverbände idealerweise überwiegend aus Bauern und Handwerkern und nicht aus fremden Legionären, also aus Leuten, die wussten, wofür sie kämpften, nämlich für die »patria« sowie für Ehre und Ruhm ihrer Legion. Solche Faktoren machten sich auch in den großen militärischen Konflikten des 108 Müller 1997, S. 29/30.
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15. Jahrhundert bemerkbar, am stärksten vielleicht bei den Gewalthaufen der Eidgenossen im Kampf gegen Burgund, aber auch gegen Ende des Hundertjährigen Krieges zwischen französischen und englischen Truppen oder bei dem auch publizistisch geführten Kampf um Neuss 1475, wobei nun auch nationale Töne und die Entschlossenheit zum Abwehrkampf gegen die drohende burgundische Fremdherrschaft ins Spiel kamen.109 6. Was Leuten wie Philipp von Seldeneck, die militärische Praxis und Theorie miteinander verbanden, an Vegetius sicherlich am meisten imponiert haben dürfte, sind dessen präzise Vorstellungen von der Anlage des Feldlagers, sowohl für die Verteidigung als auch für den Angriff. Mindestens ebenso wichtig muss ihm die Forderung von Vegetius nach Durchsetzung einer strengen Ordnung und der Einhaltung von Disziplin erschienen sein, wie es beim Einüben der Bewegungsabläufe, sei es bei der Errichtung des Lagers, sei es bei der Aufstellung und Umgruppierung von großen Truppenverbänden und Schlachtenreihen auf Signal erforderlich war. Die Legion von 10.000 Kämpfern formierte sich bei einem Angriff rasch in die nach Bewaffnung und Kampftechnik gegliederten Reihen: In vorderster Front die Schwerbewaffneten, direkt dahinter die Schützen, die kurzfristig nach vorne traten und den gegnerischen Angriff mit Salven zu verwirren bemüht waren, um sich danach wieder hinter die vorderen Kampfreihen zurückzuziehen: Dann aber nahmen die Schwerbewaffneten den Kampf auf, und sie standen, um es so auszudrücken, wie eine eiserne Mauer und kämpften nicht nur mit Wurflanzen, sondern auch mit Schwertern im Nahkampf.110
Bei allen Unterschieden fühlt man sich hier doch an die sich im 15. Jahrhundert durchsetzende Formation und Kampfweise der Gewalthaufen erinnert, besonders wenn Vegetius von einer »eisernen Mauer« (»tamquam murus ut ita dicam ferreus …«) spricht. Um 1480, als Philipp von Seldeneck sein Kriegsbuch anlegte bzw. verfasste, war trotz aller gegenteiliger Bemühungen und Selbsteinschätzungen nicht mehr zu übersehen, dass die Zeit des mittelalterlichen Ritterheeres endgültig vorüber war. Am 7. August 1479 hatte der junge Herzog Maximilian, der spätere König und Kaiser, in der Schlacht von Guinegate (Enguinegatte) seine flämischen Fußtruppen und deutschen Söldner111 nach dem Vorbild der eidgenössischen Gevierthaufen ausgerüstet und formiert und persönlich in vorderster Reihe mit dem Langspieß dazu beigetragen, dass das französische Ritterheer erneut durch diese Kampftechnik vom Fußvolk besiegt wurde. Mit dem zweiten Erfolg dieser Art bei Oudenaarde 1485, wiederum mit dem Herzog 109 Wülcker 1877; Lange 1975. 110 Müller 1997, Buch II, Kap. 17, 3, S. 90/91. 111 Wohlfeil 1986.
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als Langspießkämpfer an der Spitze und der Absicherung durch die Wagenburg nach hussitischem Vorbild im Hintergrund, hatte Maximilian zu dem Attribut des »letzten Ritters« den Ehrentitel des »Vaters der Landsknechte« hinzugewonnen.112 Die berühmt-berüchtigten Landsknechte sollten von nun an für 150 Jahre das militärische Geschehen prägen, während der stolze Ritter des Mittelalters als Don Quichotte zum Gespött wurde.
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Der Selbstmord des Varus: Ein historisches exemplum für den »Opfertod« in Stalingrad?
Am 1. Februar 1943, nach der Einstellung der Kämpfe im Südkessel von Stalingrad und in Reaktion auf die russische Meldung, dass Generalfeldmarschall Friedrich Paulus gefangen genommen worden sei, echauffierte sich Hitler während der Lagebesprechung im Führerhauptquartier »Wolfsschanze«: Der Mann hat sich totzuschießen, so wie sich früher die Feldherrn in das Schwert stürzten, wenn sie sahen, daß die Sache verloren war. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Selbst ein Varus hat dem Sklaven befohlen: Töte mich jetzt! … So viele Menschen müssen sterben, dann geht ein solcher Mann her und besudelt in letzter Minute noch den Heroismus von so vielen anderen. …1
Hitler schreibt Varus die Eigenschaft eines historischen Exempels zu: Der Selbstmord des römischen Feldherrn nach der verheerenden Niederlage in Germanien 9 n. Chr. wird als Handlungsmodell vermittelt, an dem sich der Oberbefehlshaber der besiegten 6. Armee hätte orientieren sollen. Diese Äußerung Hitlers bietet den einzigen Beleg für Varus als Heldenexempel für Stalingrad; die größte Popularität als historisches Beispiel für aufopferndes Ausharren in militärisch aussichtsloser Lage und Kampf bis zum Untergang konnten, insbesondere durch die äußerst medienwirksame und schon im Augenblick ihrer Verbreitung höchst umstrittene Göring-Rede vom 30. 1. 1943,2 Leonidas und seine 300 Spartiaten für sich beanspruchen. Dementsprechend beschränkt sich die (alt-)historische Forschung in der Auswertung antiker Heldenexempel für Stalingrad auf den Waffengang am Thermopylen-Pass 480 v. Chr.3 Wie aussagekräftig Hitlers Tirade gegen Paulus dennoch ist – sowohl für die 1 Protokollfragment von der Mittagslage vom 1. 2. 1943, zitiert nach Heiber 1962, S. 127. 135. – Diedrich 2009, S. 295f. 2 Rede von Hermann Göring am 30. 1. 1943 zum 10. Jahrestag von Hitlers »Machtergreifung«, Printversion: Völkischer Beobachter vom 2.2.1943: »Stalingrad – der größte Heroenkampf unserer Geschichte«. 3 Rebenich 2002; Albertz 2006, S. 293–308; Rebenich 2006, S. 206f.; Chapoutot 2014, S. 227–233. 290–294. 383–385 u. ö.; Roche 2015.
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Konstruktion von Vergangenheit in der NS-Propaganda generell als auch ganz konkret für die Inszenierung des Varus als Exempel für die hohen Militärs im Kessel von Stalingrad –, werde ich im Folgenden aufzuzeigen versuchen. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine intensive Analyse der antiken Überlieferung zum Selbstmord des Varus (Punkt I). Der Blick auf Generalfeldmarschall Paulus, Hitlers Erwartungen an ihn und sein tatsächliches Handeln beleuchten den historischen Kontext von Hitlers Konstruktion des VarusExempels (Punkt II). Es schließen sich der Abgleich von Hitlers Varus-Bild mit den antiken Darstellungen des römischen Feldherrn und Hitlers Instrumentalisierung des Varus als historisches Exempel an, um abschließend Hitlers politisch-ideologisch-propagandistische Intentionen von Antikenrezeption nach dem Ende der Kämpfe in Stalingrad herauszustellen und den Missbrauch von Antike an diesem konkreten Beispiel aufzuzeigen (Punkt III).
I.
Varus im Spiegel der antiken Historiographie
1.
Die Varusschlacht
Die Nachricht von der Niederlage des Varus in Germanien im Jahr 9 n. Chr. rief in Rom allergrößtes Entsetzen hervor: Drei Legionen mitsamt ihren dem Kaiser persönlich nahestehenden Feldherren, den Offizieren und den Auxiliarverbänden waren vollständig vernichtet worden. So bezeichnet Velleius Paterculus (2, 119, 1), freilich ein tendenziöser, auf die Herausstellung von Tiberius und Germanicus zielender Autor, den Sieg des Arminius als »das schlimmste Unglück« (atrocissima calamitas), das die Römer nach der Niederlage des Crassus außerhalb Italiens erlitten hätten.4 Nach dem Eintreffen der Unglücksbotschaft in Rom habe der zutiefst erschütterte Augustus immer wieder gerufen: »Quintilius Varus, gib mir die Legionen wieder!«5 In die Trauer des princeps mischte sich die Furcht vor einer großräumigen germanischen Gegenoffensive und einer Destabilisierung der römischen Nordgrenze; Cassius Dio zufolge wertete Augustus die Niederlage in Germanien als existenzgefährdend für das Römische Reich:
4 Zu dem Bericht des Velleius Paterculus über die Varusschlacht vgl. Schmitzer 2007; Sommer 2009, S. 59–62. – Einen Überblick über die Quellen zur Varusschlacht bieten z. B. Wiegels 1999 u. 2010; Timpe 2012, S. 625–651. 5 Suet. Augustus 23, 2: … ›Quintili Vare, legiones redde!‹ … – Zum historischen Kontext, dem Verlauf und den Folgen der Varusschlacht vgl. Wolters 2008b, S. 78f.; Timpe 2012, S. 625–651; Wolters 2012.
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… Damals aber, als Augustus von dem Unglück des Varus unterrichtet wurde, zerriss er, wie einige behaupten, seine Kleider und fühlte tiefe Trauer – nicht nur wegen der gefallenen Soldaten, sondern auch aus Furcht für die germanischen und gallischen Provinzen, besonders aber deshalb, weil er mit einem feindlichen Angriff auf Italien und Rom selbst rechnete. Bürger im wehrfähigen Alter waren ja kaum in nennenswerter Zahl mehr übrig …6
Höchste Priorität beanspruchte die propagandistische Bewältigung der clades Variana, denn eine Niederlage von dieser Größenordnung ließ den Kaiser zweifellos unter enormen Legitimationsdruck geraten. Dessen ungeachtet (oder gerade deswegen!) blieb der römische Herrschaftsanspruch über germanisches Gebiet weiterhin Thema der augusteischen Propaganda und wurde in den Res Gestae zum Ausdruck gebracht: … Die Provinzen Galliens und Spaniens, ebenso Germanien habe ich befriedet, ein Gebiet, das der Ozean von Gades bis zur Mündung der Elbe umschließt. …7
Für derartig manipulierte kaiserliche Erfolgsbilanzen über Roms Kriege gegen die Germanen hat Tacitus (der hier freilich vor allem auf Domitian anspielt) nur Spott übrig: »Man hat noch in jüngster Zeit mehr Triumphe über sie gefeiert als sie wirklich besiegt.«8 Ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen Folgen war die Schockwirkung der Varusschlacht aber immens.9 Zudem galt sie, so Tacitus,10 ähnlich wie die römische Niederlage gegen die Parther bei Carrhae (53 v. Chr.) als »Schande« (infamia), die nach einer Revanche, also einem erneuten Waffengang, verlangte (Tac. ann. 1, 3, 6; vgl. auch Ov. trist. 4, 2, 39–48); dementsprechend blieb sie in der antiken Literatur präsent und wurde in verschiedenen Kontexten immer wieder aktualisiert.
6 Cass. Dio 56, 23, 1: … t|te d³ lah½m b Aucoustor t± t` Oq\q\ sulbebgj|ta t^m te 1sh/ta, ¦r tim]r vasi, peqieqq^nato, ja· p]mhor l]ca 1p_ te to?r !pokyk|si ja· 1p· t` peq_ te t_m Ceqlami_m ja· peq· t_m Cakati_m d]ei 1poi^sato, t| te l]cistom fti ja· 1p· tµm Ytak_am t^m te U~lgm aqtµm bql^seim sv÷r pqosed|jgse, ja· oute pokitij^ oR Bkij_a !ni|kocor rpek]keippo … – Zu Cassius Dios Bericht über die Varusschlacht vgl. Manuwald 2007; Wolters 2008a, S. 102–104. 107f. 7 R. Gest. div. Aug. 26: … Gallias et Hispanias provincias, item Germaniam, qua includit Oceanus a Gadibus ad ostium Albis fluminis pacavi. – Wolters 1989, S. 65; WickevoortCrommelin 1995, S. 17. 21. 41; Seelentag 2004, S. 138f. 8 Tac. Germ. 37, 5: … inde proximis temporibus triumphati magis quam victi sunt. – Wolters 1989, S. 65; Wickevoort-Crommelin 1995, S. 17. 21. 41; Seelentag 2004, S. 138f. 9 Zu den politischen Folgen der Varusschlacht für Rom vgl. Dreyer 2008, S. 63–85; 2009, S. 149–182; Moosbauer 2009, S. 99–108; Richardson 2012, S. 183–185; Wolters 2012, S. 13f. 10 Zu Tacitus’ Bericht über die Varusschlacht vgl. Lehmann 2007; Sommer 2009, S. 67–77; Brepohl 2011, S. 74–82.
214 2.
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Die Bewertung des Varus als Feldherr
Mit dem Ziel, Hitlers Inszenierung des Varus als historisches Exempel für die hohen Militärs in Stalingrad auf der Grundlage einer möglichst facettenreichen antiken Varus-Charakterisierung zu analysieren, sollen die antiken Berichte über Varus, die wichtigsten Stationen seiner politischen Karriere und die Varusschlacht selbst schlaglichtartig beleuchtet werden.
a)
Varus als Feldherr
Schon die sehr allgemein gehaltene Charakteristik des Varus aus der Feder des Velleius Paterculus, die freilich in direktem Zusammenhang mit der Niederlage gegen die Germanen steht, schildert den germanischen Provinzstatthalter als »etwas unbeweglich an Körper und Geist« (corpore et animo immobilior) und »mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt« (otio magis castrorum quam bellicae adsuetus militiae). Er diskreditiert ihn also als das Gegenteil eines idealen Feldherrn (Vell. 2, 117, 2). Das Urteil der antiken Historiographie über Varus’ Leistungen als Feldherr in der Schlacht am Teutoburger Wald und seine Unterfeldherrn fällt vernichtend aus.11 Aber selbst Velleius Paterculus liefert kein monokausales, allein auf die Diskreditierung des Varus abzielendes Erklärungsmodell für Roms Niederlage; vielmehr sieht er die clades Variana »durch die Unfähigkeit des Führers, aber auch durch die Treulosigkeit des Feindes und die Ungunst des Schicksals« (marcore ducis, perfidia hostis, iniquitate fortunae) verschuldet (Vell. 2, 119, 2; vgl. auch Vell. 2, 118, 4). Velleius gesteht dem Varus auch »guten Willen« (bona voluntas) und »Tapferkeit« (virtus) zu (Vell. 2, 120, 5). Tacitus zeigt sich bereit, die perfidia des Arminius als einen weiteren Faktor für Varus’ Scheitern in Germanien anzuerkennen (Tac. ann. 1, 55, 1). So spricht die antike Überlieferung zwar nicht allein Varus die Verantwortung für das Debakel zu; dennoch treffe Varus die Schuld, »durch fehlende Fähigkeiten als Feldherr« (imperatoris defectum consilio) die vernichtende Niederlage herbeigeführt zu haben (Vell. 2, 120, 5). Dass allein Varus in der Schlacht am saltus Teutoburgiensis völlig versagt habe, bekräftigt Velleius erzähltechnisch mit der Konstruktion eines scharfen Gegensatzes: Dem unfähigen Militär werden ein exercitus omnium fortissimus, disciplina, manu experientiaque bellorum inter Romanos milites princeps (Vell. 2, 119, 2) bzw. ein magnificentissimum exercitum (Vell. 2, 120, 5) gegenübergestellt. Das römische Heer wird als bestens auf den 11 Zur antiken Kritik an Varus vgl. zusammenfassend Baltrusch 2012, S. 119f.; Timpe 2012, 632f. mit Anm. 84. 639.
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Waffengang vorbereitet und als unbesiegbar gedacht, umso schwerer treffe daher den Feldherrn die Schuld am Untergang seiner Legionen.12 b)
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Ebenso wie die Person des Varus insgesamt beurteilt Velleius Paterculus auch dessen Selbstmord angesichts der nicht mehr abzuwendenden Niederlage negativ : »Der Feldherr selbst hatte mehr Mut zum Tod als zum Kampf«;13 er sei dem Beispiel seines Vaters und Großvaters gefolgt und habe sich selbst durchbohrt (se ipse transfixit). Eine andere, vergleichsweise neutrale Perspektive auf den Selbstmord des Varus macht sich Cassius Dio zu eigen, der den Freitod des Feldherrn nicht nur einfach mit Feigheit oder Unfähigkeit erklärt, sondern mit dessen Ethos begründet: … Varus und die übrigen hohen Offiziere erfasste darüber Angst, sie möchten entweder lebendig in Gefangenschaft geraten oder von ihren grimmigen Feinden getötet werden – sie waren ja schon vorher alle verwundet –, und das ließ sie eine zwar schreckliche, aber notwendige Tat wagen: Sie begingen Selbstmord. Als sich die Kunde davon verbreitete, leistete vom Rest der Leute, selbst wenn er noch bei Kräften war, auch nicht einer mehr Widerstand; vielmehr ahmten die einen das Beispiel ihres Feldherrn nach, während die anderen selbst ihre Waffen wegwarfen und sich vom nächstbesten, der da wollte, niedermachen ließen …14
Beide Äußerungen suggerieren fehlende Tapferkeit, Feigheit und Angst als Handlungsmotive des Varus und lassen seinen Selbstmord in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Derartigen Erklärungen ausgerechnet aus der Feder des äußerst Varus-kritischen Velleius Paterculus ist hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit freilich mit großer Skepsis zu begegnen. Cassius Dio lässt sein Lesepublikum über das tatsächliche Motiv von Varus und den anderen hohen Militärs für ihren Freitod im Unklaren: Sie seien in Angst verfallen (vobgh]mtar), weil sie auf Grund ihrer Verletzungen vom Feind leicht überwältigt werden könnten. Dennoch erscheint Dios Gedankengang nicht in sich logisch und zusammenhängend, so dass nicht nachvollziehbar ist, wie er zu der Folgerung gelangt, dass der Selbstmord eine »zwar schreckliche, aber notwendige Tat« (5qcom deim¹m l³m 12 Zu Velleius’ Schuldzuweisung an Varus vgl. Wickevoort-Crommelin 1995 u. 1999. 13 Vell. 2, 119, 3: … duci plus ad moriendum quam ad pugnandum animi fuit … 14 Cass. Dio 56, 21, 5–22, 1: ja· 1jujkoOmto Nøom ja· jatev|meuom, ¦ste ja· t¹m Oq÷qom ja· to»r %kkour to»r kocilyt\tour, vobgh]mtar lµ Etoi fycqgh_sim C ja· pq¹r t_m 1wh_stym !poh\mysi (ja· c±q tetqyl]moi Gsam), 5qcom deim¹m l³m !macja?om d³ tokl/sai7 aqto· c±q 2auto»r !p]jteimam. ªr d³ toOto digcc]khg, oqd³ t_m %kkym oqde·r 5ti, eQ ja· 5qqyt| tir, Al}mato, !kkû oR l³m t¹m %qwomt\ svym 1lil^samto, oR d³ ja· t± fpka paq]mter 1p]tqep|m svar t` boukol]m\ vome}eim …
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!macja?om) gewesen sei. Weiterführend ist hier meines Erachtens der Blick auf die antiken Wertvorstellungen gerade im Heerwesen, insbesondere auf das virtus-konforme Verhalten im Kampf: »Ehrenvoll« für die patria sterben, ist in den griechischen und römischen Wertvorstellungen fest verankert. Verwiesen sei hier stellvertretend für eine Vielzahl an Belegen zunächst auf Tyrtaios, der in Sparta höchste Leistungsfähigkeit und -bereitschaft im Kampf als die !qet¶ eines wahren !mµq !cah|r (Frg. 9, 20 [Gentili/Prato]) propagiert. Der Schlachtentod des tapferen Kriegers steht im Einklang mit den Normen der Polis und gilt daher als »schön« (jak|m) im Sinn von »ehrenvoll, vorbildlich«: »Tot daliegen, ist schön (jak|m) für den, der als tapferer Mann in der ersten Reihe gefallen ist im Kampf für sein Vaterland«15. Dem gefallenen Hopliten ist ewiger Nachruhm garantiert: »Niemals gehen sein Ruhm und sein Name unter, sondern auch unter der Erde ruhend wird er unsterblich.«16 Anschaulich ausgestaltet als Gegenbild zu dem auf Grund seiner Leistungen für die Polis im Gedächtnis der Mitbürger fortlebenden Mann wird das Schicksal des im Kampf versagenden Kriegers (pqaf|lemor), der Schande über seine Familie bringt: Als »Feind« (1whq|r) der Ehrlosigkeit (!til_a) verfallen und ausgestoßen aus der Polis-Gesellschaft (%pokir), erleidet er den »sozialen Tod«.17 Des Weiteren zu nennen wäre hier vor allem eine in der deutschen altertumswissenschaftlichen Forschung intensiv diskutierte Passage aus Horaz’ zweiter Römerode: »Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.«18 Gedanklich und sprachlich anknüpfend an das griechische Konzept des idealen Polis-Bürgers und den kriegerischen !qet¶-Begriff, wie es Kallinos von Ephesos oder Tyrtaios in ihren Kampfparainesen propagieren, will Horaz der römischen Nobilität die Verhaltensmaximen des mos maiorum ins Gedächtnis rufen: Er fordert die Wahrung militärischer Disziplin im Kampf, den persönlichen Einsatz für die Familie und die Freunde, sich dem Interesse der Gemeinschaft unterzuordnen und dafür auch den Tod auf sich zu nehmen, also konform mit den römischen Wertvorstellungen und der stoischen Ethik zu agieren.19 An anderer Stelle lobt Horaz (carm. 1, 12, 37f.) das Verhalten des L. Aemilius Paullus, der während der verheerenden römischen Niederlage bei Cannae (216 v. Chr.) nicht geflohen sei, sondern den Tod im Kampf gesucht habe, »indem er seine große 15 Tyrt. Frg. 6, 1f. (Gentili/Prato): teh\lemai c±q jak¹m 1m· pqol\woisi pes|mta / %mdqû !cah¹m peq· × patq_di laqm\lemom. – Dingel 1993, S. 390; Meier 1998, S. 292–300. 16 Tyrt. Frg. 9, 31f. (Gentili/Prato): oqd] pote jk]or 1shk¹m !p|kkutai oqdû emolû aqtoO / !kkû rp¹ c/r peq 1½m c_cmetai !h\mator. – Meier 1998, S. 283–286; 2006, S. 119f. 17 Tyrt. Frg. 6 (Gentili/Prato), 3–10. – Meier 1998, S. 295–300. 18 Hor. carm. 3, 2, 13: Dulce et decorum est pro patria mori. – Vgl. z. B. Müller 1989; Bees 2013 (auch zu den antiken Soldatentugenden). – Zur Tyrtaios-Rezeption in Hor. carm. 3, 2 vgl. Welwei/Meier 1997. – Zur Forschungsgeschichte vgl. Riedel 1996. 19 Vgl. z.B. auch Cic. fin. 63f.; off. 1, 57; Sen. epist. 82, 20f.
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Seele hingab« (animaeque magnae prodigum). Wer sich kampflos den Karthagern ergebe, habe sein Rückkehrrecht verwirkt und verfalle nach ehrloser Entlassung aus dem Heer (ignominiosa missio) der Ehrlosigkeit (infamia), denn er habe gegen militärische disciplina und virtus verstoßen (Liv. 22, 59, 1–61, 3).20 Insbesondere Cicero verwendet in seinen Werken zahlreiche SelbstmordExempel und macht deutlich, dass der Suizid sogar als ruhmvoll und nachahmenswert galt.21 Als Paradebeispiele für die virtus der Feldherren, die dem Tod entgegengehen, figurieren die Decier im 4.Jh. v. Chr.,22 die sich selbst opferten, um den Sieg des römischen Heeres zu sichern, und Cato Uticensis, der nach Caesars Sieg bei Thapsos (46 v. Chr.) in Utica Selbstmord beging, um sich nicht Caesars clementia ausliefern zu müssen.23 Im römischen Normen- und Wertesystem als konstitutives Element fest verankert und als vorbildhaftes Handeln in der antiken Geschichtskonstruktion präsent war der Selbstmord von Feldherren und Soldaten angesichts des drohenden Ehrverlusts durch Gefangennahme, Folter und Tötung durch den Feind: Im Vierkaiserjahr (68/69 n. Chr.) hätten, so berichtet Tacitus, die Soldaten des Vitellius trotz ihrer unabwendbaren Niederlage noch in verzweifelter, tapferer Gegenwehr gewissermaßen »bis zum letzten Mann« (Tac. hist. 3, 84, 3) gegen die Truppen der Flavianer gekämpft; selbst, als sie bereits in die Hände der Truppen Domitians gefallen waren, seien sie darauf bedacht gewesen, ihre virtus und dignitas nicht aufzugeben: »Nicht einer von ihnen ließ dabei ein würdeloses Wort fallen, so dass bei allem Unglück der Ruf ihrer Mannhaftigkeit gewahrt blieb.«24 Dem Truppenführer patrizischer Herkunft war also (ebenso wie auch seinem Heer) die Möglichkeit gegeben, ja sogar die Pflicht auferlegt, mit der Selbsttötung seinen sozialen Rang (dignitas) und die Tugendhaftigkeit (virtus) auch in einer Notsituation behaupten. In den Kontext dieser, durch den mos maiorum vorgegebenen Handlungsmaximen fügt sich der Selbstmord von Varus problemlos ein: Vor diesem Hintergrund verständlich wird die Aussage von Cassius Dio, dass sich Varus durch Suizid der Gefangennahme bzw. Hinrichtung durch die Germanen entziehen wollte und dasselbe Motiv auch die übrigen hohen Offiziere (to»r %kkour to»r kocilyt\tour) in den Selbstmord trieb (Cass. Dio 56, 21, 5). Das römische Soldatenethos erklärt, warum Cassius Dio das Handeln einiger Mitglieder der 20 Brand 1968, 91. 95; Phang 2008, S. 143. 145. 21 Vgl. z.B. Cic. Tusc. 1, 30. 39. 48; Cato 75; rep. 6, 16. 22 Liv. 8, 6. 9; 10, 26, 13–18; Sen. epist. 67, 9; vgl. auch Cic. nat. deor. 12, 10; Tusc. 1, 89; 2, 59. – Bees 2013, S. 247. 23 Vgl. z. B. Lucan. Phars. 2, 380–383; App. It. 98f.; civ. 2, 409f.; Val. Max. 3, 2, 14; Plut. Cato Minor 66, 2f.; App. civ. 2, 409f.; Cass. Dio 43, 11, 6. 24 Tac. hist. 4, 2, 3: … nihil quisquam locutus indignum, et quamquam inter adversa, salva virtutis fama. – Stegner 2004, S. 134 mit Anm. 355.
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militärischen Kommandoebene als »eine zwar schreckliche, aber notwendige Tat« (5qcom deim¹m l³m !macja?om) bezeichnen kann. Velleius Paterculus misst das Verhalten des Varus an den schändlichen und guten Beispielen der Lagerpräfekten (Vell. 2, 119, 4): Während L. Eggius ein clarum exemplum biete, habe Ceionius entgegen dem militärischen Ehrenkodex die Kapitulation empfohlen, denn er wollte lieber hingerichtet werden anstatt bis zum Tod zu kämpfen (supplicio quam proelio mori maluit); unrühmlich sei auch das Verhalten von Varus’ Legaten Numonius Vala gewesen, der mit der Reiterei vom Schlachtfeld geflohen sei und die Infanterie im Stich gelassen habe. Gerühmt wird hingegen die virtus des Lagerpräfekten bzw. primipilaris L. Caedicius: Er und seine Soldaten hätten sich, als die Germanen nach der Niederlage des Varus nahezu alle Kastelle in der Germania magna erobert und ihn in Alisio (Haltern?) eingekesselt hatten, kämpfend bis an den Rhein zurückgezogen (Vell. 2, 120, 4).25 Velleius’ Lob gilt auch einem jungen, bereits in Gefangenschaft geratenen Aristokraten, der sich »durch eine tapfere Tat« (praeclarum facinus) selbst tötete, bevor die Germanen seinem Leben ein Ende setzten (Vell. 2, 120, 6). Mit seiner Entscheidung, angesichts der drohenden Niederlage durch Selbstmord sein Leben zu beenden, handelte Varus gemäß den aristokratischen Verhaltensmaximen. Auch mit der Art und Weise der Selbsttötung orientierte er sich am altrömischen Tugendkatalog: Nur der durch das Schwert herbeigeführte Tod galt als ehrenhaft, konnte dem freiwillig aus dem Leben Geschiedenen einen Platz in der kollektiven Erinnerung verschaffen und die gloria der eigenen Familie mehren.26 c)
Varus als Militär und Provinzstatthalter vor der clades Variana
Ebenso wie Varus’ Aktivitäten als Legatus Augusti pro praetore provinciae Syriae (7/6–4 v. Chr.) gekennzeichnet waren durch Unkenntnis der innerdynastischen Verwicklungen, Grausamkeit und Ignoranz gegenüber den jüdischen Befindlichkeiten,27 agierte er offenbar auch als Statthalter in Germanien (6/7–9 n. Chr.) in völliger Fehleinschätzung der lokalen Verhältnisse und glaubte, dass von den Germanen keine militärische Gefahr ausginge.28 Eine äußerst negative Presse bescherten ihm seine Versuche, das militärisch noch ungesicherte Germanien29 Märtin 2009, S. 209f.; Wiegels 2010, S. 122. Scholz 2011, S. 242–245 (hier auch Beispiele). Vgl. zusammenfassend Wilker 2007, S. 383–387; Baltrusch 2012, S. 123–130. Vell. 2, 117, 3–118, 1; Cass. Dio 56, 18, 4; Flor. epit. 2, 30. – Dreyer 2008, S. 9–14. 45–47; 2009, S. 119f. 139–141; Brepohl 2011, S. 54–56. 29 Zum Status Germaniens während Varus’ Statthalterschaft vgl. Wolters 1999, S. 618–623; Johne 2006, S. 160–177 (der von einer geplanten Provinz Germania ausgeht und die Geschehnisse des Jahres 9 n. Chr. in diesem Kontext verortet); Eck 2009 (der die Existenz der
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mit der Abhaltung von Konventen unter die römische Rechtsordnung zu zwingen; diese Maßnahmen hätten eine weitere Eskalation der ohnehin schon aufgeheizten Stimmung unter den Germanen bewirkt und beste Voraussetzungen geschaffen für den erfolgreichen germanischen Überfall auf die römischen Legionen (Vell. 2, 117, 3–118, 1; Tac. ann. 1, 59; Flor. epit. 2, 30, 21–39). Auch mit seiner Arroganz (superbia), Grausamkeit (saevitia) und noch dazu einem ausschweifenden Lebensstil (libido) hätte sich Varus den Hass der Germanen zugezogen (Flor. epit. 2, 30, 30; vgl. auch Tac. ann. 2, 15, 1; Oros. 6, 21, 26). Im Kreuzfeuer der Kritik stand er offenbar auch wegen seiner Raffgier (avaritia); dementsprechend bedenkt Velleius Paterculus Varus’ Amtsführung in Syrien, die Sanierung der eigenen Finanzen durch rücksichtslose Provinzausbeutung, mit dem Bonmot: »Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, als reicher Mann hat er das arme Syrien verlassen.«30 Das Bild einer beeindruckenden Persönlichkeit, eines großartigen Feldherren und eines fähigen Statthalters sucht man vergebens in den antiken Äußerungen über Varus, wobei diese rückblickend formulierte Kritik zweifellos Topoi der Statthalterkritik aufgegriffen hat; immerhin hatte er langjährige militärische Erfahrung vorzuweisen, und auf seine Loyalität konnte sich Augustus verlassen, zumal Varus auch familiär mit dem princeps verbunden war.
II.
Generalfeldmarschall Friedrich Paulus im Spiegel der NS-Propaganda
Inwiefern ist nun Varus, »als schwächlicher, geldgieriger Antiheld«31 in der antiken Historiographie äußerst negativ beurteilt, als historisches Exempel für Stalingrad legitimiert? Worin sah Hitler die pragmatische Relevanz von Varus’ Suizid für die eigene Gegenwart? Wie ist ein gesteigertes Interesse an einer derartigen, durch das Varus-Exempel abgeleiteten Verhaltensnorm im Denkhorizont der NS-Ideologie zu verorten? Die Klärung dieser Fragen erfordert den Blick auf die soldatischen Tugenden und die Wertvorstellungen der Wehrmachtoffiziere, wie sie in der NS-Zeit propagiert und Anfang Februar 1943 in der propagandistischen Aufbereitung des militärischen Debakels von Stalingrad noch einmal der breiten Öffentlichkeit eingehämmert wurden.
Provinz Germania voraussetzt); Brepohl 2011, S. 10–16; Wolters 2012, S. 8. – Zum Status der Cherusker vgl. Welwei 1999, S. 680–683. 30 Vell. 2, 117, 2: Syria … quam pauper divitem ingressus, dives pauperem reliquit. 31 Kösters 2009, S. 25.
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Paulus: Verkörperung von nationaler Pflichterfüllung und soldatischem Opferethos?
Die Vorstellungen Hitlers und seiner Propagandisten von nationaler Pflichterfüllung und heldenhafter Selbstaufopferung der Soldaten und die Direktive vom opfervollen »Untergang« sind am deutlichsten greifbar in deren Verlautbarungen, die sie Anfang Februar 1943 nach dem Ende der Kämpfe in Stalingrad in den auflagenstarken Printmedien veröffentlichten: Für Göring gehört »zu den vornehmsten Grundtugenden des ganzen Soldatentums neben Kameradschaft und Pflichttreue vor allem Opferbereitschaft«; gegenüber den Soldaten der 6. Armee beschwört er »das Gesetz, für Deutschland zu sterben, wenn das Leben Deutschlands diese Forderung an euch stellt«.32 Ebenfalls in medialer Inszenierung der Heldentrauer und der Mythologisierung des Massensterbens von Stalingrad verkündet zeitgleich eine OKW-Sondermeldung aus dem Führerhauptquartier : »Sie starben, damit Deutschland lebe«;33 und Alfred Rosenberg preist die »Helden der 6. Armee«.34 Hitler propagiert den Tod auf dem Schlachtfeld als »das höchste Opfer, das auf dieser Welt der Mann seinem Volke zu bringen vermag« und lässt den Helden nach seinem Opfertod »die Stufen nach Walhall«35 heraufsteigen. In Todesnachrichten wird den Hinterbliebenen mitgeteilt, dass ihr Angehöriger »in Stalingrad den Heldentod für Führer, Volk und Vaterland gestorben ist.«36 Selbst die hohen Offiziere führten derartige Begrifflichkeiten im Mund, obwohl sie oftmals keine überzeugten Nationalsozialisten waren. So bediente sich auch Paulus der offiziellen Sprachregelung, mit der auf der politischen Führungsebene die Vorgänge in Stalingrad verhandelt wurden und übermittelte am 30. Januar 1943, zum Jahrestag der »Machtergreifung«, an Hitler einen Funkspruch im entsprechenden Duktus: An den Führer! Zum Jahrestag Ihrer Machtübernahme grüsst die 6. Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der hoffnungslosesten Lage nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen.37 32 Vgl. Anm. 2, zitiert nach Albertz 2006, S. 296. 33 Bekanntmachung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 3. 2. 1943, Printversion: Völkischer Beobachter vom 4. 2. 1943, 1: »Sie starben, damit Deutschland lebe«. – Ebert 2012, S. 55; Wette 2013, S. 54. 34 Printversion: Völkischer Beobachter vom 4. 2. 1943, 1f.: »Die Helden der 6. Armee«. – Ebert 2012, S. 55; Wette 2013, S. 54. 35 Hitler 1942, S. 583. 36 Vgl. die Nachricht vom Tod des Obergefreiten Erich Kirste an dessen Gattin, Brief des Kompaniechefs der 6. Kompanie des 274. Infanterie-Regimentes vom 24. 9.1942, zitiert nach Pieken 2012, S. 179 (hier auch vollständiger Text). 37 Zitiert nach Ueberschär 2013, S. 35f.
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In seiner Antwort am nächsten Tag greift Hitler die von Paulus formulierten Werte von nationaler Pflichterfüllung, Opfergeist und militärischer Ehre auf; mit dem Hinweis auf die gegenwärtige und zukünftige Erinnerung an die noch andauernden Kämpfe in Stalingrad schreibt er der Schlacht eine weltgeschichtliche Dimension zu und knüpft daran den als Forderung gemeinten Ansporn zum »heroischen Opfer«.38
2.
Kapitulation und Gefangenschaft als Zerstörung des Untergangsmythos
Paulus orientierte sich in seinem Handeln bis zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme am militärischen Pflichtenkodex: Er gehorchte den Befehlen von Hitler und Erich von Manstein, dass der »Nordkessel von Stalingrad sich bis zum Letzten« zu halten habe; in ungebrochenem »Glauben an das militärische Genie des ›Führers‹«,39 entgegen der eigenen Lagebeurteilung und voller Schuldgefühle gegenüber seinen Soldaten – gewissermaßen »in einem Konflikt der Pflichten«40 – ließ er weiterkämpfen, um bis zuletzt formell Hitlers Durchhaltebefehl zu entsprechen.41 Während seiner Vernehmung in sowjetischer Kriegsgefangenschaft begründete der Oberbefehlshaber der 6. Armee die Fortsetzung der Kämpfe Anfang Februar in aussichtsloser Lage damit, »daß wir den Befehl dazu hatten. Befehl ist Befehl. Wir sind Soldaten. Disziplin, Befehl und Gehorsam sind die Grundlagen einer Armee«.42 Mit der Beförderung des Paulus zum Generalfeldmarschall per Funkspruch am 31. 1. 1943, gewissermaßen »einem letzten Bestechungsversuch«,43 wollte Hitler sicherstellen, dass der Armeeoberbefehlshaber weiterhin in Stalingrad seinen Vorgaben Folge leistete, nämlich »sich bis zum äußersten zu wehren, sich unter keinen Umständen gefangen zu geben, sondern standzuhalten und zu siegen«,44 denn »eine Kapitulation der 6. Armee ist schon vom Standpunkt der 38 Funkspruch von Hitler an Paulus vom 30. 1. 1943: »… Schon heute blickt das ganze deutsche Volk in tiefer Ergriffenheit zu dieser Stadt. Wie immer in der Weltgeschichte wird auch dieses Opfer kein vergebliches sein … Die deutsche Nation begreift erst jetzt die ganze Schwere dieses Kampfes und wird so die größten Opfer bringen …« (zitiert nach Ueberschär 2013, S. 36). 39 Funkspruch von Hitler an Heeresgruppe »Don« an XI. Armeekorps vom 1.2.1943, zitiert nach Ueberschär 2013, S. 38. 40 Erinnerungen des Generals Karl Adolf Hollidt an Friedrich Paulus vom 18. 3.1959, zitiert nach Diedrich 2009, S. 209. 41 Zu den Ereignissen in Stalingrad in den letzten Tagen vor der Kapitulation vgl. Diedrich 2009, S. 283–293; Ueberschär 2013, S. 34–38. 42 Zitiert nach Reschin 1996, S. 31; vgl. dazu Diedrich 2012, S. 153. 43 Diedrich 2009, S. 290. 44 Armeebefehl von Paulus vom 22. 1.1943, zitiert nach Wette 2013, S. 49; vgl. auch Diedrich 2009, S. 285.
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Ehre aus nicht möglich …«.45 Diesen Schritt begründet Hitler damit, dass es in der Kriegsgeschichte kein Beispiel gäbe für die Gefangennahme eines deutschen Feldmarschalls46 und er »ihm die letzte Freude geben«47 wolle. Dieser Appell an seine Soldatenehre war für Paulus allzu offensichtlich, nämlich »daß man ihm damit den Schierlingsbecher gereicht hatte«.48 Entsprechende Erwartungen der NS-Führungsspitze, allerdings nicht in Form einer öffentlichen Verlautbarung, formuliert Goebbels: »Wir stellen uns die Frage, ob Generalfeldmarschall Paulus überhaupt noch lebt. Es bleibt für ihn ja nach Lage der Dinge nichts anderes als ein ehrlicher Soldatentod übrig …«.49 Ebenfalls am 1. 2. 1943 machte Hitler in der Lagebesprechung seinem Ärger darüber Luft, dass der Generalfeldmarschall kein Vorbild für seine Soldaten gewesen sei, denn er habe genau gewusst, »daß sein Tod die Voraussetzung für das Halten des Kessels ist. Denn wenn (er ein solches Beispiel) gibt, darf man nicht erwarten, daß die Männer weiterkämpfen«.50 Dabei hätte er, so der Gedankengang Hitlers, durch seinen Freitod in der Schlacht, den »Heldentod«, »in die Ewigkeit, in die nationale Unsterblichkeit eingehen«51 können. Der Opferheldentum-Vorstellung der NS-Propaganda zufolge wäre er als Vorbild für Selbstaufopferung zur zentralen Figur eines Heldenmythos von ruhmvoller Unsterblichkeit geworden; Paulus’ Stilisierung zum nationalen Kriegshelden knüpft Goebbels an die Bedingung, dass er »auf fünfzehn oder zwanzig Jahre seines Lebens verzichten muß, um seinen Namen auf Jahrtausende lebendig zu erhalten«.52 Dem geforderten Exempel des tapferen Feldherrn für den Kampf seiner Soldaten, die »mit Tapferkeit bis zum letzten sich selbst verteidigen«,53 stellt Hitler den »charakterlosen Schwächling«54 gegenüber, der »nicht den Mut hat, den Weg anzutreten, den jeder Mensch einmal antreten muß«.55 Paulus’ Gang in die russische Gefangenschaft (und ebenso von etwa 100.000 45 Hitler am 22. 1.1943. – Zum Kontext vgl. z.B. Kunz 2002, S. 15; Diedrich 2009, S. 285f.; 2012, S. 151; Ueberschär 2013, S. 33f. 46 Bullock 2000, S. 678. 47 Heiber 1962, S. 134f. 48 Beevor 1999, S. 434; zu den mit Paulus’ Beförderung verbundenen Erwartungen Hitlers vgl. Beevor 1999, S. 434–436; Ulrich 2005, S. 103–105; Diedrich 2009, S. 290. 295; 2012, S. 152f. – Zur Verweigerung des Suizid durch Paulus und die übrige Generalität der 6. Armee vgl. Diedrich 2009, S. 290. 305; mehrere höhere Offiziere hingegen hatten sich bereits einige Tage zuvor das Leben genommen, vgl. Steinkamp 2001, S. 76; Albertz 2006, S. 306; Wette 2014, S. 187f. 49 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag vom 1.2.1943, zitiert nach Diedrich 2009, S. 271. 50 Heiber 1962, S. 126f. 51 Heiber 1962, S. 135. 52 Goebbels, Tagebucheintrag vom 1.2.1943, vgl. Anm. 49. 53 Heiber 1962, S. 125. 54 Heiber 1962, S. 128. 55 Heiber 1962, S. 124.
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Soldaten der 6. Armee im Kessel) war unvereinbar mit der Mythologisierung des »opfervollen Untergangs« der »Helden von Stalingrad«: Im Augenblick des »Untergangs« der 6. Armee sollte nach Hitlers Willen propagandawirksam auch deren Oberbefehlshaber als Held fallen, denn »für die wirksame Inszenierung des Untergangsmythos hatten alle Beteiligten tot zu sein«.56
III.
Zusammenfassung
Wenn Hitler in der Lagebesprechung am 1. 2. 1943, deren Wortlaut freilich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, Varus als Exempel für Paulus bemüht, bewegt er sich jenseits der »offiziellen« Propaganda. So spricht noch am 3. Februar die Rundfunk-Sondermeldung des Oberkommandos der Wehrmacht »über den Fall von Stalingrad« von »der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus« und dem Kampf der militärischen Entscheidungsträger und ihrer Mannschaften »Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone«, »ihrem Fahneneid bis zum letzten Atemzug treu«.57 Mit Varus wird ein exemplum malum präsentiert, dessen Fehlverhalten Paulus – so offenbar der Gedankengang Hitlers – mit der unterlassenen Selbsttötung und dem Gang in die Gefangenschaft noch überboten habe; ebenso wie Varus habe Paulus jegliches soldatisch-männliches Opferethos auf dem Schlachtfeld in der Stunde des Untergangs vermissen lassen und auch noch die Leistungen der bestens ausgebildeten, disziplinierten, tapferen und heroisierten Soldaten zunichte gemacht. Selbst der Suizid des römischen Feldherrn galt als ein Akt der Feigheit und nicht etwa als virtus-konformes, handlungsleitende Normen produzierendes Verhalten. In dieser Diskreditierung von Varus’ Freitod in der antiken Historiographie besteht für Hitler die Relevanz von Varus’ Handeln für die eigene Gegenwart mit der militärischen Katastrophe von Stalingrad. Die drastische Abqualifizierung des Generalfeldmarschalls steigert Hitler – wissentlich oder unwissentlich? – noch einmal durch die verfälschende Wiedergabe der antiken Überlieferung: Er lässt »seinen« Varus zum Zeichen extremer Feigheit von einem Sklaven ermorden, konzediert ihm also noch nicht einmal den Tod von eigener Hand und schreibt damit dem römischen Feldherrn ein Lebensende zu, das kaum schmählicher sein konnte. Sogar für den Selbstmord la Varus in dieser vom Diktator kreierten Variante sei Paulus zu feige gewesen. Mit der Meldung von Paulus’ Gang in die russische Gefangenschaft haben Leonidas, in der NS-Propaganda »zur Allegorie der heldenhaften und totalen 56 Ebert 2012, S. 54. 57 Printversion: Völkischer Beobachter vom 4. 2. 1943, vgl. Anm. 33.
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Selbsthingabe«58 geworden, und die Thermopylen als Inbegriff für einen Ort der heldenhaften Niederlage, offenbar ihre Relevanz als Heldenexempel für Stalingrad verloren. In dieser »Stunde des Erklärungsnotstandes«,59 als die NS-Propaganda in ihre bislang tiefste Glaubwürdigkeitskrise geraten war und in den offiziellen Verlautbarungen die bisherige Heldenrhetorik der propagandistischen Verarbeitung einer desaströsen Niederlage weichen musste,60 war in Hitlers Augen nur noch Platz für einen, die antike Überlieferung verfälschenden und missbräuchlich überzeichneten Varus als Schreckensbild missachteter virtus – voraussetzend, dass seine ad hoc-Aktualisierung der Varusschlacht auf ein zumindest rudimentäres Faktenwissen des Adressatenkreises in der Wolfsschanze trifft, Varus als Vergleich für Paulus’ verweigertes »militärisches Opferheldentum« also überhaupt funktionieren und diese Vergangenheitskonstruktion die gewünschte Wirkung entfalten kann.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Textausgaben und Quellensammlungen
a)
Antike
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58 Chapoutot 2014, S. 385. 59 Albertz 2006, S. 303. 60 Ebert 2003, S. 347–350; Ulrich 2005, S. 105–108; Albertz 2006, S. 305–308; Ebert 2012, S. 53f.; Wette 2013, S. 58–60.
Der Selbstmord des Varus
225
P. Cornelius Tacitus, Historien. Historiae. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Joseph Borst unter Mitarbeit von Helmut Hross und Helmut Borst, Mannheim 7. Aufl. 2010. Velleius Paterculus, Historia Romana. Römische Geschichte. Lateinisch/deutsch. Hrsg. und übers. von Marion Giebel, Stuttgart 2. Aufl. 2014.
b)
NS-Zeit
Ebert, Jens, Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003. Heiber, Helmut (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen, Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942–1945, Stuttgart 1962. Hitler, Adolf, Mein Kampf, München 1942. Reschin, Leonid, Feldmarschall im Kreuzverhör. Friedrich Paulus in sowjetischer Gefangenschaft 1943–1953, Berlin 1996.
2.
Literatur
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Monika Schuol
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Der Selbstmord des Varus
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Monika Schuol
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Florian Sittig
Caesarenwahnsinn, Professorenwahnsinn, Volkswahnsinn – Gebrauchsanweisung für eine historische Analysekategorie
Caesarenwahnsinn hat Konjunktur! Während Franz Hampl eine Erörterung des Themas 1966 noch mit dem Zusatz »Eine Betrachtung über Herkunft, Inhalt und Bedeutung eines fast vergessenen Begriffes« versah1, sind in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Arbeiten erschienen, die die Möglichkeiten einer fruchtbaren Anwendung des Konzepts im Rahmen einer modernen Geschichtswissenschaft diskutieren und demonstrieren.2 Weniger differenziert, aber nicht weniger häufig hat in jüngerer Vergangenheit auch die tagesaktuelle journalistische Berichterstattung die Idee einer geistigen Deformation politischer Machthaber als Erklärung oder Diffamierung autokratischer Herrschaftsauffassungen und -praktiken aufgegriffen.3 Es scheint daher an der Zeit, ein Resümee zu ziehen und den aktuellen Umgang der Alten Geschichte mit der historischen Analysekategorie des Caesarenwahnsinns innerhalb der diesbezüglichen Traditionslinien der Disziplin zu verorten. Das Ziel dieses Beitrags ist jedoch nicht allein ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick, sondern eine Auseinandersetzung mit den impliziten Grundannahmen der gegenwärtigen Begriffsverwendung sowie die Genese von Fragestellungen, die es erlauben, das Konzept auch zukünftig gewinnbringend für die Altertumsforschung zu nutzen. Der Begriff Caesarenwahnsinn hatte seinen Weg erstmalig 1864 durch den 1 Hampl 1966. 2 Green 1993; Yavetz 1996; Grant 2000; Kloft 2000; Kloft 2001; Kissel 2006; Witschel 2006; Winterling 2008; Ronning 2011; Sommer 2012, S. 78–87. Eine ausführliche monographische Behandlung, die sich dem Thema diskursanalytisch und nicht im Kontext biographischer Lebensbeschreibungen nähert, steht allerdings noch aus. Der Verfasser wird einen solchen Versuch im Rahmen seiner von dem Jubilar betreuten Dissertation vorlegen. 3 Mit Hinweis auf die Antike Günther Nonnenmacher : Erdogans Cäsarenwahn, in: faz.net (16. 05. 2014) = http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei-erdogans-caesarenwahn-12943441 .html [zltzt abgrf. 06. 05. 2015]. Plakativ titelte die BILD-Zeitung über einen amtierenden Bundeskanzler Ist Schröder im ›Caesarenwahn‹?, ohne Autor, in: BILD-Zeitung (23. 09. 2005); vgl. dazu Ferrill 1991, S. 8; Edwards 1992, S. 115; Kloft 2000, S. 188–194; Witschel 2006, S. 95, Anm. 24. Die Liste ließe sich problemlos um Wladimir Putin, Muammar al-Gaddafi, Husni Mubarak, Kim Jong Un u. v. m. erweitern.
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Roman Die verlorene Handschrift von Gustav Freytag aus dem Französischen in die deutsche Sprache gefunden.4 Wenig später gehörte er bereits zum Repertoire der professionellen Erforschung des Altertums.5 Zunächst fungierte er allerdings im Rahmen »naturhistorische[r] Anschauung«6 vor allem als Sammelbegriff, unter dem sich plakativ voneinander unabhängige geistige Erkrankungen römischer Kaiser subsummieren ließen. Gerechtfertigt war er allein dadurch, dass die untersuchten Personen als principes in der Nachfolge des Augustus alle das ursprüngliche cognomen Caesar in ihrem Kaisernamen führten.7 Heute gilt der Mediävist Ludwig Quidde als derjenige, der in seiner 1894 erschienenen Schrift Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn8 die schon bei Freytag angelegte und heutzutage oft intuitiv vorausgesetzte Kausalverknüpfung zwischen dem Amt und der mentalen Konstitution des Monarchen als erster in einem wissenschaftlichen Kontext klar benannte und so den Caesarenwahnsinn systematisch als ein spezifisches Krankheitsbild definierte. Aufgrund von im Folgenden noch näher zu erörternden Umständen hat Quiddes Darstellung des Caesarenwahns eine besondere Resonanz gefunden und ist bis in die Gegenwart der zentrale Bezugspunkt für die wissenschaftliche Anwendung des Konzepts geblieben. Es soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, dass bereits Jahre zuvor Theodor Mommsen – wohlgemerkt eher beiläufig – eine Bemerkung gemacht hatte, die die Psychopathologie von Herrscherpersönlichkeiten nicht nur mit deren soziopolitischer Stellung, sondern auch mit der Art und Weise, wie diese ihr Amt erworben hatten, in Verbindung gebracht hatte: »Um den Fürstenwahnsinn zu entwickeln, bedarf es der Geburt im Purpur […]«.9 Auch wenn Mommsen an dieser Stelle nicht den Terminus Caesarenwahnsinn verwendet, gehört seine Äußerung über den Fürstenwahnsinn doch in den Kontext dieser Debatte. In dem eingangs zitierten Aufsatz von Franz Hampl sollten dann beide Aspekte zu einer strengen Begriffsbestimmung vereint werden. Hatte es vor Quidde – bei Friedrich Wiedemeister – noch geheißen: »Wären Tiberius, Caligula, Claudius und Nero nicht Kaiser der Welt geworden, der Geisteskrankheit 4 Freytag 1920, S. 34–40, der Begriff auf S. 38; dazu Hampl 1966, S. 128–131. Zum französischen manie imp¦riale s. Champagny 1841, S. 219–220; dazu Wiedemeister 1875, S. VII–XI, der dabei auch auf kritische Distanz zu der »speculativ-psychologische[n]« und »poetisch-dramatische[n]« Idee Freytags geht. 5 Die anschließende Darstellung der Begriffsentwicklung im 19. Jahrhundert folgt vor allem Winterling 2008, S. 118–122. 6 Wiedemeister 1875, S. IX. 7 Exemplarisch Wiedemeister 1875. Besonders nachdrückliche Kritik an dieser Art der Begriffsverwendung übt Hampl 1966, S. 127: »Es wäre von vornherein abwegig, den Terminus ›Caesarenwahnsinn‹ auf solche Personen anzuwenden, konkret gesagt auf Personen, deren abnormer Geisteszustand offenbar in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der hohen Stellung, in der sich die Betreffenden befanden, stand.« 8 Quidde 1926 mit explizitem Bezug auf Freytag (S. 7). 9 Mommsen 1887, S. 759.
Caesarenwahnsinn, Professorenwahnsinn, Volkswahnsinn
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wären sie dennoch zum Opfer gefallen«10, sollte ein knappes Jahrhundert später Hampl im gleichen Brustton der Überzeugung darauf bestehen, »daß sie ihre absolute Stellung als Kaiser […] in einen Wahnsinn trieb, der ihnen in irgendeinem biederen bürgerlichen Beruf wahrscheinlich erspart geblieben wäre und dem danach die Bezeichnung ›Caesarenwahnsinn‹ mit einer wirklichen inneren Berechtigung zukommt.«11 Zudem differenziert er zwischen Machthabern, die sich ihre Herrscherposition durch eigene Leistungen erarbeiteten und dann der »Dämonie der Macht« verfielen, und solchen, die durch ihre dynastische Abstammung auf den Thron gelangten, ohne die dafür notwendigen Qualitäten zu besitzen. Nur im Falle der Letzteren möchte er von Caesarenwahnsinn sprechen.12 Grundsätzlich schien also schon im ausgehenden 19. Jhd. durch diese Öffnung der sozialanthropologischen Dimension des Begriffs das Feld für eine althistorische Rezeption des Konzepts nach dem Ende der deutschen Monarchie im Jahr 1918 vorbereitet gewesen zu sein. Dass die Idee einer regelrecht berufsbedingten Psychose von Autokraten offensichtlich trotzdem bis nach der Mitte des letzten Jahrhunderts ein Schattendasein fristete, hat vor allem zwei Ursachen, die in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts zu suchen sind. Es handelt sich dabei um quellenkritische sowie methodische Vorbehalte von Seiten der Geschichtswissenschaft sowie ein gewisses Desinteresse von Seiten der Psychoanalyse, die sich zu dieser Zeit immer stärker als »einer der kulturellen Kerndiskurse des 20. Jahrhunderts« zu etablieren vermochte.13 Die große Skepsis, mit der Altertumswissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Glaubwürdigkeit der senatorischen Historiographie über die römischen Kaiser beurteilten, kommt prägnant in Matthias Gelzers Realenzyklopädie-Artikel über Caligula zum Ausdruck. Dort konstatiert er, dass »viele der angeblichen Beweise für seine [sc. Caligulas] Verrücktheit einer Betrachtung, welche die Dinge in ihren Zusammenhängen zu erkennen strebt, nicht standhalten.«14 Ausführlich sollte diese Auffassung John Balsdon vertreten, der Caligula vom Vorwurf des Wahnsinns freisprach und ihm stattdessen eine weitgehend vernünftige Regierungspraxis attestierte.15 Auch die 10 11 12 13 14
Wiedemeister 1875, S. X. Hampl 1966, S. 131. Hampl 1966, S. 130–131; S. 135–136; vgl. Winterling 2008, S. 139; Wiedemeister 1875, S. VIII. Krovoza 2001, S. 229. Gelzer 1917, Sp. 422. Da die Definition von Caesarenwahnsinn, die der heutigen Beschäftigung mit dem Thema zugrunde liegt, anhand des Kaisers Caligula entwickelt wurde, werden sich im Folgenden die zitierten Forschungsarbeiten vorrangig auf den dritten römischen princeps beziehen. Auch zu den übrigen als klassisch geltenden Beispielen Nero, Domitian, Commodus und Elagabal sind in jüngerer Zeit zahlreiche Arbeiten erschienen. Einen Einstieg in die Beschäftigung mit ihnen ermöglicht Witschel 2006. 15 Balsdon 1934. Bereits zuvor hatte Willrich 1903 in drei Aufsätzen dafür plädiert, von einem rationalen politischen Konzept Caligulas auszugehen.
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Psychowissenschaften blieben zurückhaltend, wenn es um den Caesarenwahnsinn ging: Zwar schaffte es der Begriff 1909 in die Untersuchung Psychische Grenzzustände des Psychiaters Carl Pelman16, doch blieb mit Sigmund Freud der Begründer der Psychoanalyse kritisch. Durch seine Methode, so Freud in einem Aufsatz über Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität, sei »nun gefunden worden, daß die unbewußten Phantasien der Hysteriker den bewußt durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen völlig entsprechen«.17 Als Beispiel hierfür will er gerade die römischen Kaiser verstanden wissen, da »der römischen Cäsaren […] Tollheit natürlich nur durch die uneingeschränkte Machtfülle der Phantasiebildner bedingt« sei.18 Was sich isoliert zunächst wie eine Wiederholung der Idee Quiddes verstehen ließe, bekommt im Kontext eine konträre Bedeutung: Das Amt des Herrschers ruft keine mentalen Phänomene hervor, die im Rahmen von psychischen Prozessen wie der Verdrängung nicht auch jedem anderen Menschen zuteil werden würden. Unterschiede im Verhalten werden hier also nicht auf abweichende mentale Konstitutionen und mithin gerade nicht auf ein spezifisches dem Monarchen eignendes Krankheitsbild, sondern auf unterschiedliche soziale Rahmenbedingungen und Realisierungsmöglichkeiten eines universellen menschlichen Triebverhaltens zurückgeführt. Die beiden kritischen Tendenzen konvergierten in einem 1958 von Gelzers Schüler Hermann Strasburger gehaltenen Vortrag, in dem dieser auf Grundlage methodischer Vorbehalte jedweder Hoffnung, mit Hilfe der Psychoanalyse zu gesicherten Ergebnissen hinsichtlich der mentalen Konstitution von Herrscherpersönlichkeiten des Altertums zu gelangen, eine radikale Absage erteilte.19 Auf dem Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis hatte sich damit auch der Caesarenwahnsinn als Sackgasse erwiesen – zumindest scheinbar, zumindest zunächst. Wenngleich Strasburgers Einwände bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben und noch immer den Kern der Problematik treffen20, sollte ein Richtungsstreit innerhalb der Geschichtswissenschaft dem Konzept zu neuer Aktualität verhelfen und innovative Formen seiner Anwendung hervorbringen, die von den bis dato gängigen Kritikpunkten weitgehend unberührt blieben. Vor allem in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts stritten Vertreter der 16 Pelman 1920, S. 93–117. 17 Freud 1972, S. 194. 18 Freud 1972, S. 194–195; vgl. Wiedemeister 1875, S. X: »Ihre Machtstellung lieh ihrer Krankheit nur das Kleid, nicht bedingte sie ihr Wesen.« Eine Psychoanalyse im Sinne Freuds versuchte Sachs 1930 an Caligula vorzunehmen. 19 Strasburger 1982. 20 Sidwell 2010, S. 200–204; Winterling 2008, S. 121–122. Generelle Kritik an einer retrospektiven Diagnostik, die sich zuvörderst auf die unterschiedlichen nosologischen Systeme von Antike und Moderne bezieht, äußert auch die Medizingeschichte; Leibbrand/Wettley 1961, S. 32–34; Kurz 2005; Potter 2005.
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Strukturgeschichte und der Psychohistorie ob der Möglichkeit und Notwendigkeit, psychische Faktoren und psychoanalytische Methoden fundiert in geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zu integrieren. Besonders in der frankophonen Forschung waren die Positionen scharf voneinander abgegrenzt. So formulierte Marc Bloch apodiktisch: »Les faits historiques sont, par essence, des faits psychologiques.«21 Deutlich widersprach dem Alain BesanÅon, der sich zunächst intensiv den Verfahren und Fragestellungen der Psychohistorie zugewandt, sich später aber wieder vehement distanziert hatte: »Je n’ai jamais pu faire entendre que le comportement, la ›vie‹, mue par son dynamisme interne, de Luther ou de Wilson, laissait l’historien parfaitement indiff¦rent et que’elle ne constituait pas un problÀme digne de l’int¦resser.«22 In Deutschland brachte Hans-Ulrich Wehler für zukünftige Generationen von Historikern gar die Notwendigkeit eines Doppelstudiums ins Spiel.23 Besonders im Bereich der wissenschaftlichen Biographik, die sich Fragen nach dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur ihrer Protagonisten kaum entziehen kann, reüssierte die Debatte: »[…] wenn schon Biographie, dann auch mit Hilfe der Psychoanalyse«, resümierte Wehler.24 Bald berührte der Kontroverse auch die Idee des Caesarenwahnsinns. Exemplarisch mahnte etwa Anthony A. Barrett in seiner Biographie über Caligula erneut zur Vorsicht bei der Beurteilung des geistigen Zustandes des dritten römischen princeps, konnte sich aber nicht enthalten, das abschließende Kapitel mit dem Titel »Fit to Rule?« zu überschreiben.25 Erneut ließ eine konträre Reaktion nicht lange auf sich warten. 1991 veröffentliche Arther Ferrill eine Biographie des Kaisers, in der dieser rundheraus als wahnsinnig bezeichnet und allen Versuchen einer Rationalisierung seines Verhaltens die Überzeugungskraft abgesprochen wird.26 Damit tangierten die zentralen Komponenten der Kontroverse – die Fragen nach Sinn und Unsinn einer psychohistorischen Geschichtsschreibung sowie nach Möglichkeit und Unmöglichkeit einer nicht psychologisierenden Biographik – auch die Alte Geschichte. Es war der Rekurs auf einen ›dritten Weg‹ zwischen den verhärteten Fronten, der neue Impulse versprach und zu der aktuell konsensfähigen Anwendung des Konzeptes von Caesarenwahnsinn führte. Immer wieder wird in den neueren Arbeiten zum Thema auf den französischen Soziologen Michel Foucault und
21 22 23 24
Bloch 1969, S. 101. BesanÅon 1978, S. 6; s. a. Levallois 1993, bes. S. 43–47. Wehler 1980, S. 86. Wehler 1980, S. 91; zu dieser Problematik s. a. George/George 1971; Schulze 1978; Winterling 2012 sowie die Beiträge in den Sammelbänden Röckelein 1993 und Winterling 2011b. 25 Barrett 1989, bes. S. XV–XX u. S. 213–241. 26 Ferrill 1991; ähnlich auch der bereits erwähnte Aufsatz von Yavetz 1996.
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sein Methode der Diskursanalyse verwiesen.27 In den umfangreichen Untersuchungen Psychologie und Geisteskrankheit, Wahnsinn und Gesellschaft, Die Geburt der Klinik sowie Die Macht der Psychiatrie28 hatte Foucault zunächst den Diskurs der Psychiatrie, später auch der Psychoanalyse als Instrumente der sozialen Kontrolle und Marginalisierung bezeichnet.29 Zwar konnte er so keineswegs den Gegensatz zwischen Strukturalisten und Psychohistorikern aufheben, doch bot der Rückgriff auf seinen Ansatz Möglichkeiten, sich mit den Nachrichten über den Wahnsinn einzelner Kaiser auseinanderzusetzen, ohne psychoanalytische Methoden zur Anwendung bringen zu müssen. Heutzutage ist auch der Umgang der Alten Geschichte mit dem Caesarenwahnsinn dadurch geprägt, dass er nicht mehr den psychischen Zustand einzelner Kaiser fokussiert, sondern vor allem durch die Untersuchung der narrativen und argumentativen Funktion des Vorwurfs versucht, Erkenntnisse über die zeitgenössische Wahrnehmung historischer Prozesse und deren Inanspruchnahme durch Herrschaftssysteme zu gewinnen.30 Eine konsequente Umsetzung eines solchen Vorgehens hat Aloys Winterling mit seiner vielbeachteten Caligula-Biographie vorgelegt, die zeigt, welche Aufschlüsse sich aus einer Analyse des Wahnsinnsnarrativs etwa über das Verhältnis des römischen Kaisers zur Senatsaristokratie gewinnen lassen.31 Für Studien dieser Art scheint allein noch die Frage, ob ein Kaiser gemessen an den Maßstäben seiner eigenen Zeit als wahnsinnig zu gelten hat, relevant und hinreichend sicher zu beantworten.32 In dieser Form hat sich der Caesarenwahnsinn als eine Analysekategorie zur Erforschung der römischen Kaiserzeit in den letzten 20 Jahren in der Disziplin etabliert und spielt als paradigmatisches Beispiel auch eine Rolle für die Aussöhnung von strukturalistischen und biographischen Ansätzen.33 27 Bspw. Ronning 2011, S. 255; Sommer 2012, S. 82. Die Methode der Diskursanalyse erläutert Foucault in Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974). 28 Foucault 1968; Foucault 1973; Foucault 1988; Foucault 2005. 29 Dazu s. die Beiträge in dem Sammelband Marques 1990. 30 Prüll 2005; Winterling 2008, S. 139: »›Cäsarenwahnsinn‹ im Alten Rom, so kann man zusammenfassen, war kein Wahnsinn im psychopathologischen Sinne, sondern das Zusammentreffen eines alten römischen Adelsideals mit einer paradoxen – unumschränkten und labilen – Monarchie.« Ähnlich nähern sich schon Schäfer 1980 u. Schrömbges 1988 der Thematik. Dagegen bleibt Jerome 1962 trotz des Titels The Historical Tradition about Gaius, 37–41 A. D. einer retrospektiven Diagnostik verhaftet. Weniger irreführend ist dagegen der ähnliche Titel der quellenkritischen Untersuchung von Charlesworth 1933, der Caligula letztlich vom Wahnsinn zwar nicht freisprechen möchte, eine retrospektive Diagnostik aber dennoch ablehnt; dazu s. a. u. S. mit Anm. 39. 31 Winterling 2003. 32 Winterling 2008, S. 139: »Caligula, Nero und Domitian waren nicht [Hervorhebung i. Orig.] ›wahnsinnig‹ im zeitgenössischen Sinne.« Bis auf Green 1993, Yavetz 1996 u. Grant 2000 folgen die in Anm. 2 genannten Arbeiten weitgehend diesem Ansatz. 33 Hierzu bes. Winterling 2011a sowie die übrigen Beiträge in dem bereits erwähnten Sammelband Winterling 2011b.
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Die besondere Spezialität der deutschen Althistorie ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Caesarenwahnsinns la Ludwig Quidde. Der postulierte Kausalnexus zwischen dem Amt des Monarchen und seiner mentalen Konstitution ist in der jüngeren Vergangenheit der zentrale Ausgangspunkt aller deutschsprachigen Forschung zu diesem Thema gewesen. In anglophonen Arbeiten steht dagegen weder die Person Quiddes noch der Zusammenhang von Herrscheramt und Geisteskrankheit gleichermaßen exklusiv im Fokus. Beide finden durchaus Berücksichtigung34, doch zugleich werden auch Fragen nach psychischen und physischen Prädispositionen gestellt, also nach Faktoren für den Ausbruch einer psychopathologischen Störung, die von der politischen Funktion einer Person unabhängig sind. Dass es sich bei der Methode der deutschen Altertumswissenschaften gewissermaßen um einen ›Sonderweg‹, zumindest aber einen sehr spezifischen Schwerpunkt handelt, macht auch ein Blick in die Schrift Quiddes deutlich. Dieser konstatierte zwar, dass es als Folge des Fehlens jeglichen kritischen Korrektivs im Umfeld des Herrschers »ja wirklich zu verwundern [ist], wenn ein absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt«; doch versäumt er es nicht, auch auf die erbliche Vorbelastung seines Paradebeispiels Caligula, dessen schwere Krankheit nach ca. sechs Monaten auf dem Thron sowie dessen Epilepsie zu verweisen.35 Ein gewisser Widerspruch zwischen den beiden Argumenten ist nicht zu leugnen und so erscheint letztlich auch bei Quidde die politische Allmacht des Autokraten nicht als alleiniger Ursprung der Krankheit, sondern eher als eine Art Katalysator. Schließlich finden sich laut Quidde »die Züge der Krankheit: Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Mißachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose brutale Grausamkeit, […] auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, daß die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen Entwicklung kommen läßt […].«36 Die Scheu vor retrospektiver Diagnostik, die viele mitteleuropäische Forschungsansätze der jüngeren Vergangenheit auszeichnet, war jedenfalls weder Quidde noch ist sie Wissenschaftlern außerhalb unserer Längengrade zu eigen.37 34 Yavetz 1996, S. 118–123; eine kurze Erwähnung Quiddes auch schon bei Charlesworth 1933, S. 105–106. 35 Quidde 1926, S. 8; S. 17–18. 36 Quidde 1926, S. 7; vgl. die diesbezügliche Übereinstimmung mit Wiedemeister 1875, S. X–XI, hier S. X: »[…] der den Imperatoren über Nacht gekommene Besitz einer Welt, oder die Eigenthümlichkeiten der damaligen sittlichen und politischen Zustände, wie sie von anderen Schriftstellern betont werden, sind nicht die Ursache ihres Gebahrens, sondern sie bilden nur den Boden, auf welchem der Cäsarenwahnsinn seine grotesken und grandiosen Blüten treiben konnte.« 37 Eine Übersicht über die im angloamerikanischen Raum weiterhin verbreiteten Versuche
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Auch aufgrund dieser Zurückhaltung – deswegen allerdings nicht weniger zu Recht – hat sich die im deutschsprachigen Raum geführte Debatte intensiv mit dem historischen Kontext auseinandergesetzt, in dem Quiddes Traktat entstanden ist.38 Bereits dessen Zeitgenossen hatten nämlich durchschaut, dass es sich nicht um eine rein historische Beschäftigung mit dem römischen princeps Caligula handelte, sondern dass der Autor in seinen Ausführungen allenthalben auf Wilhelm II., den seit 1888 amtierenden Kaiser des Deutschen Reiches aus der Dynastie der Hohenzollern, anspielte.39 In der Folge kam es zu einer hitzigen, öffentlichen Kontroverse, die vor allem durch einen Verriss des Aufsatzes in der konservativen Kreuzzeitung, deren Redakteure in Quiddes Worten über den Caesarenwahnsinn eine Majestätsbeleidigung von juristisch relevantem Ausmaß gefunden zu haben meinten, eine heftige Dynamik erhielt.40 Ein Dementi des Autors ließ nicht lange auf sich warten. In den folgenden Monaten wurde die Caligula-Broschüre – weniger hinsichtlich der wissenschaftlichen Relevanz ihrer Thesen und mehr in Bezug auf die politischen Intentionen ihres Verfassers respektive ihrer Kommentatoren – häufig erörtert und so einem immer größeren Leserkreis bekannt. Mit 150.000 bis 200.000 Exemplaren in 30 Auflagen wurde sie zum meistgedruckten politischen Pamphlet der gesamten Kaiserzeit.41 In dem Umstand, dass Quidde die Verbindung von Amt und seelischem Ungleichgewicht des Monarchen stärker betonte, als dies zuvor der Fall gewesen war, vermeint die moderne Forschung daher, vor allem das Bestreben des Mediävisten erkennen zu können, den Caesarenwahnsinn als einen politischen Kampfbegriff produktiv zu machen. Die neue Qualität einer solchen Vorstellung vom Caesarenwahnsinn lag ja gerade darin, dass sie sich dazu eignete, nicht nur einzelne Inhaber der monarchischen Gewalt individuell zu diffamieren, sondern einen Frontalangriff gegen das autokratische System als solches auf scheinbar
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einer retrospektiven Diagnostik Caligulas bietet Sidwell 2010, S. 183, weist diese im Folgenden allerdings detailliert und überzeugend zurück (S. 195–200). Bereits Charlesworth 1971, S. 665–666 beurteilt solche Bestrebungen als wenig erfolgversprechend. Dazu und dem Folgenden bes. Kloft 2000 u. Kloft 2001. Für Winterling 2008, S. 121 ist dies der entscheidende Grund dafür, »daß seiner [sc. Quiddes] Konzeption des ›Cäsarenwahnsinns‹ im Rahmen der althistorischen Forschung keine kritische Würdigung zuteil wurde.« Dagegen übernimmt Yavetz 1996, S. 118–123 Quiddes Konzept, wenn er festhält (S. 123): »Tyranny is a habit. It has a capacity for development, it develops finally into a disease. The human being and the citizen die within the tyrant for ever.« Dazu s. a. Sidwell 2010, S. 205–206. In enger Anlehnung an Quiddes Ausführungen hat Röhl 1989 die im 19. Jhd. lediglich implizit angesprochenen Verhaltensmuster Wilhelms II. explizit benannt und sich an einer retrospektiven Diagnose für den Hohenzollern versucht. Den Vergleich hat auch schon Quidde 1926, S. 54–63 nach dem Ende des Kaiserreiches explizit gemacht. Der Kommentar der Kreuzzeitung neuerlich abgedruckt bei Holl/Kloft/Fesser 2001, S. 164–168. Quidde 1926, S. 29; dazu jetzt a. Kohlrausch 2009, S. 122.
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wissenschaftlich fundierter Grundlage zu führen. Bei der Anwendung des Konzepts auf die Antike ist die heutige Forschung dementsprechend dazu übergangen, in den Quellen weniger nach Indizien für oder wider eine psychische Erkrankung der römischen Imperatoren zu suchen und mehr die Argumente pro und contra eine bewusste Diffamierung der entsprechenden Herrscher abzuwägen bzw. die Gründe für ein entsprechendes Vorgehen der antiken Autoren zu erläutern. Eine vorsichtige Relativierung der Vorwürfe und Rehabilitierung der Personen ist zumeist die Folge dieses Vorgehens.42 Für die Annahme einer grundsätzlichen Monarchie-Kritik als Hintergrund des Konzepts von Quidde, ist dessen Biographie von erheblicher Bedeutung. Niemals hatte Quidde, der selbst gegen eine Vereinnahmung der Geschichtswissenschaft für die politischen Interessen der Monarchie kämpfte und aus diesem Grunde einer der Organisatoren des ersten Deutschen Historikertages 1893 in München wurde, sein Selbstverständnis als Historiker ganz von seiner von ihm empfundenen politischen Berufung lösen können.43 Sein politisches Engagement als Demokrat, Republikaner und Pazifist brachte ihm im Jahr 1927 den Friedensnobelpreis ein, jedoch ebenso eine Reihe von Untersuchungen wegen Majestätsbeleidigung und schließlich aufgrund eines solchen Delikts drei Monate Gefängnishaft. Nachdem seine wissenschaftliche Karriere seit 1894 immer mehr ins Stocken gekommen war, sollte er sich anschließend vor allem seinem politischen Engagement als Abgeordneter des bayerischen Landtags und in der Deutschen Friedensgesellschaft widmen.44 Die politische Konstellation im Deutschen Kaiserreich in den letzten Jahren des 19. Jhd. stellt sich jedoch komplizierter als eine klare Frontstellung zwischen Republikanern und Monarchisten dar. So ist mit guten Gründen angezweifelt worden, dass die Empörung der Kreuzzeitung ohne jeden Hintergedanken als monarchische Treuebekundung in die Öffentlichkeit getragen wurde. Den Skandal, der den Caligula so erfolgreich werden ließ, habe die Redaktion auch deshalb provoziert, um der Unzufriedenheit, die auch konservative Kreise gegenüber Wilhelm II. empfanden, Ausdruck zu verleihen, ohne dabei selber Kritik üben zu müssen. Nach anderer Ansicht zielte das Vorgehen vor allem auf eine Entzweiung des Kaisers und des amtierenden Reichskanzlers Leo von Caprivi, dessen politisches Pro42 Der Einwand von Ferrill 1991, S. 128, dass, nur weil jedes Verhalten nachträglich rationalisiert werden kann, trotzdem nicht jedes Verhalten intentional rational ist und eine Rationalisierung somit nicht zwingend die richtige Erklärung darstellt, ist allerdings nicht gänzlich von der Hand zu weisen; vgl. Veyne 1992, bes. S. 36–38 über die Gefahr einer Verwechslung von Intentionen und Konsequenzen. 43 Vgl. Quidde 1893, S. 3–5; Quidde 1926, S. 38; dazu Schlange-Schöningen 2003, S. 312–313. 44 Zu Quiddes politischem Engagement und den daraus resultierenden akademischen, gesellschaftlichen und juristischen Konsequenzen s. Quidde 1926, S. 36–53; Holl 2001, bes. S. 26–35; Holl 2007, bes. S. 75–225, zur Caligula-Affäre S. 93–99.
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gramm von den Konservativen strikt abgelehnt wurde.45 Es lohnt sich daher diese Kontroverse noch einmal etwas intensiver zu betrachten, um jenseits der Funktion einer persönlichen Diffamierung weitere Charakteristika der Debatte herauszuarbeiten, deren Existenz sich dann auch für den antiken Diskurs gewinnbringend überprüfen ließe. Zu diesem Zweck sollen zwei Repliken auf Quiddes Pamphlet in den Blick genommen werden, die in ihrer Argumentation ebenfalls den Vorwurf des Wahnsinns verwenden. In seinem Dementi, das einer strafrechtlichen Verfolgung vorbeugen sollte, hatte Quidde behauptet, sein Caligula halte sich »streng an das historische Thema«.46 Diese Einlassungen Quiddes weist Gustav Dannehl in seiner Erwiderung, der er den Titel Caesarenwahn oder Professorenwahn? gab, dezidiert zurück – zu Recht, wie Quidde nach dem Ende des Deutschen Kaiserreiches 1918 freimütig eingestehen sollte.47 Aus durchsichtigen Gründen und mit fadenscheinigen Argumenten leugne der Professor für Mittelalterliche Geschichte die gegen ihn erhobenen Anwürfe, indem er den Verteidigern Wilhelms das Wort im Munde verdrehe.48 Sodann macht sich Dannehl daran, die gleiche Taktik gegen seinen Widersacher zum Einsatz zu bringen. In satirischer Manier, von beißendem Sarkasmus triefend, lehnt er sich eng an Quiddes eigene Ausführungen an, teilweise bis zur wörtlichen Übernahme bestimmter Formulierungen.49 Seine Argumentation besteht im Wesentlichen aus der Unterstellung, Quidde sei im akademischen Betrieb des Kaiserreiches gescheitert und habe seinen wissenschaftlichen Misserfolg dem monarchischen System und seinen Eliten angelastet. Über solche privaten Ressentiments sei er einem fanatischen Republikanismus verfallen, der es ihm unmöglich mache, der Monarchie und seinen Repräsentanten mit einem objektiven Urteilsvermögen gegenüberzutreten. Sein Caligula sei Ausdruck dieser Realitätsverzerrung, des Professorenwahns.50 Wenn man seiner Arbeit überhaupt ein wissenschaftliches Profil abgewinnen könne, dann handele es sich um eine unzulässige Vereinnahmung der Wissen-
45 Zu den politischen Zielen der konservativen Reaktion auf den Caligula stellte schon Quidde 1926, S. 28 Vermutungen an; dazu jetzt Fesser 2001; Kohlrausch 2009; Schlange-Schöningen 2003, S. 304–305 mit Anm. 25; vgl. Mommsens letztlich unpubliziert gebliebene Stellungnahme zum Caligula, abgedruckt bei Schlange-Schöningen 2003, S. 332–335, hier bes. S. 334–335. 46 Den Wortlaut des Dementis gibt Quidde 1926, S. 34–35 noch einmal in seinen Erinnerungen an die Caligula-Affäre wieder. 47 Quidde 1926, S. 23–27 u. S. 38: »Die Schrift Caligula ist natürlich nur formal, nicht sachlich, eine historische, wissenschaftliche Analyse, ihrem Wesen nach aber eine politische Satire […]«. 48 Dannehl 1894, S. 3–8. 49 Vgl. z. B. Dannehl 1894, S. 16 mit Quidde 1926, S. 8. 50 Vgl. den »Schriftstellerwahnsinn« aus dem Artikel der Kreuzzeitung; Holl/Kloft/Fesser 2001, S. 165; dazu Schlange-Schöningen 2003, S. 306.
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schaft für parteipolitische, ja persönliche Interessen.51 Den Vorwurf der Pseudowissenschaftlichkeit unterstreicht Dannehl, indem er seine eigene Studie mit einer Reihe von Anmerkungen versieht, die man getrost als vollkommen sinnentleert bezeichnen darf, und sich so darüber lustig machte, dass »schon die zahlreichen gelehrten Fußnoten« angeblich die Seriosität des Caligula belegen würden.52 Zunächst bestätigt das Vorgehen also den Charakter des Wahnsinnsvorwurfs als Herzstück von politischen Invektiven und die Auffassung, dieser sei nicht nur gegen den Regenten, sondern die Monarchie als System gerichtet. Eine Passage des Textes verdient allerdings genauere Aufmerksamkeit. Dannehl setzt sich mit dem Problem auseinander, inwieweit die Zuschreibung von Wahnsinn eine Frage der Perspektive ist. Was Quidde als überreizte Hektik bewerte, können man auch Tatendrang und Schaffenskraft nennen. Ehrgeizige Bauprojekte seien kein Ausdruck von Größenwahn, sondern sprächen für eine visionäre Vorstellungskraft. Die Gewaltanwendung eines Herrschers sei nicht durch Grausamkeit, sondern durch Notwehr zu erklären.53 Besonders eindringlich ist das Beispiel des von Caligula geplanten Durchstichs des Isthmos von Korinth54, der mit Wilhelms Plänen zum Bau des Nord-Ostsee-Kanals parallelisiert wird. In einer höchst ironischen Suada suggeriert Dannehl, dass ein Vorhaben, dessen Realisierung Jahrhunderte später aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft, ja Notwendigkeit dringend auf Vollendung warte, wohl kaum überzeugend für den Wahnsinn eines Monarchen bürgen könne.55 Die Frage, ob überhaupt und inwieweit Zweckrationalität als eine metahistorische und -kulturelle sowie intersubjektive Konstante zur Bewertung der einer Handlung oder einem Gedanken innewohnenden Vernunft taugt, ist damit gestellt; ebenso, welchen Einfluss der Faktor einer Kosten-Nutzen-Relation auf ein entsprechendes Urteil ausüben kann. In dieser Hinsicht stellen Dannehls Ausführungen tatsächlich eine quellenkritische Analyse dar, die von einiger wissenschaftlicher Relevanz ist. Die zweite Replik auf Quidde, die mit dem Wahnsinnsvorwurf spielt, ist nicht weniger politisch, nicht weniger monarchistisch als die Dannehls und argumentiert doch ganz anders. Der Autor, Hermann H. Rothe, der seine Ausführungen unter dem Pseudonym Quidam veröffentlichte und Contra Caligula. 51 Dannehl 1894, S. 8–23; vgl. Quidde 1926, S. 37–38; dazu s. a. Fesser 2001, S. 158. 52 Dannehl 1894, S. 4; s. a. S. 5. Theodor Mommsen nahm den ihm politisch nahestehenden Autor (Quidde 1926, S. 38) zwar gegen den Vorwurf der Majestätsbeleidigung in Schutz, bezeichnete die Studie über Caligula, den er selbst für geisteskrank hielt (Mommsen 1992, S. 174; s. a. o. S. mit Anm. 9), allerdings als wissenschaftlich nicht relevant; dazu SchlangeSchöningen 2003, bes. S. 318–332; s. a. o. Anm. 47. 53 Dannehl 1894, S. 23–30. 54 Suet. Cal. 21; vgl. Iul. 44,3; Nero 19,2; 37,3. 55 Dannehl 1894, S. 26.
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Eine Studie über Deutschen Volkswahnsinn betitelte, bezieht schon hinsichtlich der diffamierenden Absichten Quiddes eine andere Position. Zum Zwecke seiner eigenen Argumentation nimmt er das Dementi des Mediävisten hinsichtlich der diffamierenden Absichten der Schrift ernst und ist auch bereit, dessen Ausführungen, so sie denn allein auf Caligula bezogen sind, einen wissenschaftlichen Wert zuzuerkennen.56 Nicht der Verfasser der Caligula-Schrift ist nach Rothe irre, es sind seine Leser, deren »Unterscheidungsvermögen« nicht ausreiche, um zwischen einem Imperator des römischen Weltreiches ca. 2000 Jahre vor ihrer eigenen Zeit und ihrem leibhaftigen Regenten zu differenzieren.57 Nicht das Urteil des Professors ist getrübt, sondern das seiner Rezipienten; nicht Professorenwahnsinn, sondern Volkswahnsinn führt nach dieser Darstellung zur majestätsbeleidigenden Fehlinterpretation der antiken Zeugnisse über Caligula. Auch nach Rothes Vorstellung findet dieser Volkswahnsinn seinen Ausdruck aber oft in politisch relevanten Formen wie dem Nihilismus oder dem Größenwahn und zwar besonders in antimonarchischen, revolutionären Bewegungen.58 Der kollektive Wahnsinn größerer Bevölkerungsgruppen ist dabei aus der Sicht Rothes identisch mit der Erkrankung, die Quidde für Caligula identifiziert haben will. Ein Zusammenhang zwischen Monarchie bzw. Herrscheramt und dessen geistiger Zerrüttung wird damit ausgeschlossen.59 Stattdessen sind es andere gesellschaftliche Faktoren, die die Krankheit auslösen und die auch erklären sollen, wieso am Ende des 19. Jhd. diese Form des Irrsinns epidemische Ausmaße habe erreichen können. Es ist vor allem der Umbruch von sozialen Strukturen und Gewissheiten, der sich aus einem Prozess der beginnenden Globalisierung und Beschleunigung ergibt, der die Urteilsfähigkeit breiterer Bevölkerungskreise erschüttert.60 Als besondere Belastung wird die Gefahr eines heraufziehenden Weltkrieges genannt.61 Bei einer Vielzahl würden diese Phänomene und ihre Folgen zur nervlichen Überreizung und regelrechten Gehirnerkrankungen führen die sie für politische Fehlurteile anfällig machten.62 Damit reflektiert Rothe zugleich den psychiatrischen Dialog und ordnet den Volkswahnsinn zielsicher in den Neurasthenie-Diskurs seiner Zeit ein.63 Dieser 56 Quidam alias Rothe 1894, bes. S. 13–17. 57 Quidam alias Rothe 1894, S. 15–16; s. a. S. 10–12. Auch bei Dannehl 1894, S. 22 stellt sich der Wahnsinn als fehlendes »Unterscheidungsvermögen« dar. 58 Quidam alias Rothe 1894, S. 15; dazu Fesser 2001, S. 160. Dannehl 1894, S. 24 u. S. 29 spricht von »Anarchisten-, Sozialisten- und Demokratenkreisen«; vgl. den Artikel der Kreuzzeitung bei Holl/Kloft/Fesser 2001, S. 165. 59 Quidam alias Rothe 1894, S. 15 u. S. 17: »Im Altertume erkrankten die Kaiser am Größenwahn, in der Jetztzeit die Völker.« 60 Quidam alias Rothe 1894, S. 14–15. 61 Quidam alias Rothe 1894, S. 8; s. a. S. 3. 62 Quidam alias Rothe 1894, S. 15. 63 Zum Caesarenwahnsinn im Kontext eines dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ei-
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Rekurs auf den Kenntnisstand der zeitgenössischen Psychiatrie findet sich aber auch bei Quidde selbst, hatte dieser doch die Nachrichten über Caligulas Sprunghaftig- und Unberechenbarkeit als Nervosität bzw. nervöse Hast bezeichnet und zu einem essentiellen Symptom des Caesarenwahnsinns erklärt.64 Erneut speist sich die politische Argumentation also beiderseits aus spezifischen Vorstellungen und Problemen, die sich am Ende des 19. Jhd. mit dem Begriff des Wahnsinns verbanden. ***
Einsichten in den metahistorischen Wandel und die Multiperspektivität des Wahnsinnsbegriffs, wie sie Dannehl bietet, verweisen die moderne Forschung auf die antiken Maßstäbe, die für entsprechende Zuschreibungen relevant waren, mithin auf die sozialen Konventionen, die ›Normalität‹ konstituierten. Darüber hinaus kann der besonderen Bedeutung von Zweckrationalität dadurch Rechnung getragen werden, dass diese Normen hinsichtlich ihrer Funktion hinterfragt werden. Welche Erwartungen verbanden sich mit einem normenkonformen Verhalten und welche Konsequenzen wurden von einem devianten gefürchtet? Erst auf diese Weise wird es möglich, den eigentlichen Inhalt des Wahnsinnsvorwurfs in der Antike vollständig zu erfassen.65 Gleichermaßen geraten aber auch die Akteure in den Blick. Die Alte Geschichte hat bislang vor allem die senatorisch geprägte Historiographie als Urheberin des Wahnsinnsvorwurfs in den Blick genommen und auf eine mit Quiddes Intentionen vergleichbare Verwendung als politischen Kampfbegriff hin untersucht. Weniger Beachtung haben bislang allerdings solche Stellen gefunden, in denen in der Überlieferung auf andere Personen verwiesen wird, durch die der Vorwurf in die Welt und somit auch in die Quellen gekommen sei. So scheinen es teilweise die Mitglieder der domus Augusta gewesen zu sein, die sich gegenseitig der Geisteskrankheit bezichtigten.66 Caligula, Claudius und Nero sollen als amtierenden Regenten alle den Vorwurf gegen ihren jeweiligen Vorgänger erhoben haben.67 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Berichte in den Quellen – etwa bei Sueton – auch den Tratsch der Straße kolportieren. Und es stellt sich die Frage, ob es sich bei den senatorischen Autoren tatsächlich um überzeugte Republikaner wie Quidde handelte oder nicht vielmehr doch um Kollaborateure eines
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gentümlichen Neurasthenie-Diskurses und zu dessen politischen Bezügen s. Radkau 1998, bes. S. 275–295. Quidde 1926, S. 6; S. 17–18; S. 54; S. 59; vgl. Holl/Kloft/Fesser 2001, S. 167. Eigens geht auf diese »Rast- und Ruhelosigkeit« des Monarchen auch Dannehl 1894, S. 25 ein. Veyne 1992, S. 42: »Was wäre der Wahnsinn ›materialiter‹, außerhalb einer Praktik, die ihn Wahnsinn sein läßt?« So im Falle des Agrippa Postumus (Suet. Aug. 65,4) und Britannicus (Cass. Dio 60,33,10). Cass. Dio 59,1,1–2; Ios. ant. Iud. 19,5,2 (284–285); Suet. Nero 33,1.
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Regimes, in welchem sie Karriere gemacht und von dem sie profitiert hatten. Lässt sich also überhaupt ein antikes Konzept von Caesarenwahnsinn ausmachen, das eine ähnlich scharfe Kritik an dem monarchischen System des Prinzipats zuließ oder blieb die Beckmesserei auf individuelle Verfehlungen einzelner Herrscher beschränkt? Und schließlich: Welchen Einfluss hatten die unterschiedlichen Gegebenheiten des öffentlichen Raumes und die verschiedenartigen Möglichkeiten der medialen Verbreitung?68 Konnte es sich unter den Bedingungen der Antike eigentlich um einen Diskurs handeln, mit dem sich Werbung gegen das Regime, ja das System machen, eine Stärkung republikanischer Zielsetzungen anstreben ließ? Handelte es sich um einen internen Selbstbestätigungs- und Selbstbestärkungsdiskurs der Aristokratie?69 Oder ist der Adressat der Ausführungen eventuell gar auf dem Palatin selbst zu suchen? Auch die Berücksichtigung der Widerrede Rothes bereichert die Debatte. Seine Ausführungen machen deutlich, dass auch die politische Instrumentalisierung des Wahnsinnsstigmas keine metahistorische Konstante ist. Der Vorwurf diskreditiert – zu allen Zeiten. Doch auf welche Weise er das tut, welche Themen durch den Wahnsinn angesprochen werden können und welche Konsequenzen durch seine Erwähnung zugleich gefordert werden, all dies ist keineswegs in allen Zeiten und Kulturen identisch. Rothes Ausführungen sind klar durch die zeitgenössische Psychiatrie inspiriert und durch deren Kenntnisstand geprägt, wie die klare Verortung seines Volkswahnsinns innerhalb eines Diskurses, der die Neurasthenie als Nerven- und Gehirnerkrankung definiert, deutlich macht. Zudem macht er explizit, was wohl auch im Hintergrund von Quiddes Bemerkung über die Nervosität und Hast Caligulas gestanden haben dürfte: eine Wahrnehmung der eigenen Zeit als Epoche von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Prozessen der Entgrenzung und Beschleunigung. Damit nimmt der Wahnsinn seinen Platz in einer sehr spezifischen und keineswegs austauschbaren gesellschaftlichen Konstellation und Wahrnehmung derselben ein. Eine ebenso spezifische Deutung der eigenen Zeit dürfen wir auch der Antike zutrauen. Handelte es sich nicht gerade bei der Ära der julisch-claudischen Dynastie um eine Phase massiver Verschiebungen im soziopolitischen System des Imperiums – zumindest aus Sicht der schriftstellernden Eliten? Begünstigte ein solcher Umbruch, indem er die Anpassung gesellschaftlicher Normen provozierte, nicht auch das Auftreten von normendevianten Verhaltensweisen, die dann leicht als Wahnsinn zu klassifizieren waren? Und stellt bei den als verrückt bezeichneten Herrschern späterer Zeit das Fehlen eines Nachfolgers aus der eigenen Dynastie den einzigen Grund für die Applikation des Vorwurfs dar oder handelte es sich bei einem Dynastiewechsel selbst nicht 68 Vgl. Requate 2009. 69 Vgl. Rohmann 2006, S. 54–62.
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auch um eine Phase des Wandels, die für entsprechende Motive in der Darstellung prädestiniert war? Dies kann nur die Untersuchung der Perzeption, die im Altertum vom Wahnsinn existierten, und die Analyse des spezifischen Zusammenhanges solcher Vorstellungen mit der antiken Lebenswelt leisten. Nur auf diese Weise kann hinreichend erklärt werden, warum man die Geisteskrankheit Caligulas auch als Folge eines verunglückten Liebeszaubers deutete70, was die Verlängerung der Saturnalien71 mit dem Wahnsinn des Claudius zu tun hat oder wieso sich Neros seelische Zerrüttung darin niederschlug, dass er des Nachts in Angstträumen von den Furien heimgesucht worden sein soll.72 Und nicht zuletzt gilt es auf dieser Grundlage auch die Selektion der Beispiele zu hinterfragen. Der Wahnsinnsvorwurf wurde in der Antike nicht nur gegen die typischen Vertreter des Caesarenwahns erhoben, sondern auch gegen Kaiser, die wie Tiberius73, Claudius74 oder Hadrian75 nicht in das Schema Quiddes passen. Sie sind daher aus der Diskussion oft ausgeklammert worden und finden allenfalls in den naturhistorischen Versuchen einer retrospektiven Diagnostik Berücksichtigung. Es wäre also zu fragen, inwieweit die moderne Schematisierung dem antiken Diskurs gerecht wird und aus welchen Gründen in der Antike auch gegen diese Kaiser der Wahnsinnsvorwurf erhoben wurde. Worin unterscheidet sich die eine Gruppe von der anderen nach den modernen Maßstäben, worin gleichen sich beide nach den antiken? Letztlich macht es einen Unterschied, ob wir fragen: Warum warf man dem Kaiser Wahnsinn vor? Oder : Warum warf man dem Kaiser Wahnsinn vor? Der Blick in das 19. Jhd. wirft diese Fragen auf; er beantwortet sie jedoch nicht zugleich. So scheint die Beschäftigung mit der historischen Analysekategorie des Caesarenwahnsinns noch zahlreiche Erkenntnisse zuzulassen, und es lässt sich abschließend bekräftigen: Caesarenwahnsinn hat Konjunktur – zu Recht!
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Suet. Cal. 50,2; Iuv. 6,614–626; Ios. ant. Iud. 19,2,4 (= 19,190–200). Cass. Dio 60,25,8 u. 60,19,2–3. Suet. Nero 34,4 u. 46,1–3; vgl. Cass. Dio 61,14,4. Diesem hatte noch Mommsen »Fürstenwahnsinn« vorgeworfen. Die Passage aus einer Rede Mommsens anlässlich des Geburtstages Kaiser Wilhelms I. 1881 zitiert Schlange-Schöningen 2003, S. 327–328. 74 Berücksichtigt bei Ronning 2011, S. 262–269. 75 So wird dieser hinsichtlich seiner Grausamkeit mit Domitian verglichen; Hist. Aug. Hadr. 20,3; s. a. 24–25.
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Peter Spahn
Aristophanes und Boccaccio – Handel und Geldgeschäft in Athen und Florenz
Aristophanes’ Komödie Die Ritter (hippeis) spielt im Milieu der Agora. Hier befand sich zunächst das politische Zentrum der Stadt mit den Amtsgebäuden der obersten Magistrate, des Rates und der Gerichte. Seit Beginn des Peloponnesischen Krieges war die Agora vor allem auch der Marktplatz, auf dem sich die Athener mit Lebensmitteln und sonstigen Waren versorgten. Und sie war der gesellschaftliche Treffpunkt in der Mitte der Stadt. In dieser Komödie steht der attische Demos – verkörpert als alter Mann – zwischen dem Chor junger Ritter, die aus der Oberschicht stammen, und seinen drei Sklaven, die führende Politiker und Militärs dieser Zeit darstellen. Das sind zum einen die beiden Strategen Nikias und Demosthenes, zum anderen – in der Rolle des paphlagonischen Obersklaven – der damals populäre Demagoge Kleon. Dieser wohlhabende, aber banausisch auftretende Gerbereibesitzer hatte Nikias kurz zuvor im Kommando gegen die Spartaner abgelöst und daraufhin bei Pylos einen überraschenden Sieg errungen. Nikias wiederum gehörte zu den reichsten Athenern seiner Zeit; er soll für die Arbeit in den Silberminen von Laurion tausend Sklaven eingesetzt haben.1 Von diesem finanziellen Hintergrund der Hauptakteure, der den Zuschauern sicherlich bekannt war, ist im Stück aber nicht die Rede. Hier sind diese Volks- und Heerführer die Sklaven des alten Herrn Demos, und entsprechend der satirischen Umkehrung der sozialen Realität ist Kleon der barbarische Obersklave. Die gesellschaftliche und politische Kritik wird noch dadurch zugespitzt, dass dem Paphlagonier Kleon ein Konkurrenzdemagoge in Gestalt eines Wursthändlers entgegengestellt wird, mit dem er einen Agon um die Gunst des Demos auszutragen hat. Dementsprechend werden in dieser Komödie die typischen Kleinhändler und Gewerbetreibenden der Agora, die kape¯loi und banausoi, durchweg verächtlich dargestellt.2 Und das ist umso beachtlicher, als ein großer Teil der demokratischen Bürgerschaft und damit auch des Publikums 1 Xen. vect. 4,14. Diese Sklaven hatte er an den Thraker Sosias, der als sein freigelassener Sklave den Bergbau betrieb, für je eine Obole pro Tag vermietet. 2 Aristoph. equ. 180ff., 314ff., 739f., 852ff.
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aus besitzlosen Theten bestand, die teilweise auch solchen hier verspotteten Tätigkeiten nachgingen. Bei Boccaccio erhält man ein ganz anderes Bild von Kaufleuten, allerdings eher beiläufig. Die erste Novelle im Decameron handelt hauptsächlich von einem beispiellosen Schurken und Heuchler, dem Notar Ser Cepparello aus Prato, der nach einem ruchlosen Leben schließlich als Heiliger verehrt wurde, nachdem er in seiner Lebensbeichte auch noch seinen leichtgläubigen Beichtvater belogen und betrogen hatte. Eingangs wird berichtet, dass Cepparello von Musciatto Franzesi, einem »sehr reichen und großen Kaufmann, der in Frankreich Ritter geworden war«,3 engagiert wurde, um bei mehreren Burgundern Darlehen einzutreiben, worum er sich selbst nicht kümmern konnte. Die genannten Akteure gehen auf historisch bezeugte Personen zurück, die Boccaccio allerdings erheblich umgestaltet hat.4 Cepparello war in Wirklichkeit kein Notar, sondern betätigte sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts als Steuereinnehmer für den König von Frankreich in der Auvergne und Champagne. In dieser Figur wird wahrscheinlich exemplarisch der üble Ruf italienischer Geldverleiher im damaligen Frankreich und zudem der antike Typus des Parasiten parodiert. Der reiche Großkaufmann und Bankier Franzesi wird dagegen von Boccaccio in einem günstigeren Licht dargestellt, als er von manchen Zeitgenossen in Florenz gesehen wurde. Musciatto (er hieß eigentlich Ciampolo) war zusammen mit seinem Bruder Biche zum Financier und Berater des französischen Königs aufgestiegen, agierte für dessen Bruder Karl von Valois dann auch in Florenz, wo er 1305 zum Tode verurteilt wurde und 1307 oder 1308 starb. Boccaccio verschiebt also offenbar die negativen Seiten der Geldgeschäfte auf einen beauftragten bösartigen Notar, der ähnlich bösartigen säumigen Schuldnern beikommen soll.5 Die Kaufleute und Bankiers, die wie auch in diesem Fall bestrebt waren, sich gesellschaftlich mit dem Adel zu vermischen, werden dagegen als honorige Leute präsentiert. Diese Wertschätzung des neuen Geldadels und des reichen Florentiner Bürgertums, des popolo grasso, unterscheidet sich deutlich von einer traditionellen Kritik am Geldgeschäft als Wucherei, wie sie in der Generation zuvor etwa Dante ausgedrückt hatte.6 Man kann fragen, ob die hier angedeuteten sozial- und wirtschaftshistorischen Schlussfolgerungen aus den genannten Werken von Aristophanes und Boccaccio etwas einseitig und selektiv sind. Handel und Geldgeschäft bilden bei 3 Dec. I. 1,7: »ricchissimo e gran mercatante in Francia cavalier divenuto«. 4 Zu den folgenden Einzelheiten und weiterer Literatur s. den Kommentar von Peter Brockmeier 2005, S. 280–291. 5 Dec. I. 1,8: »weil er hörte, die Burgunder wären widerspenstig, bösartig und falsch, ihm indessen kein so bösartiger Mensch einfiel, dem er zutrauen konnte, es mit ihrer Bosheit aufzunehmen.« (Übers. v. P. Brockmeier) 6 Inf. XVII 46–75; dazu: Brockmeier 2005, S. 285f.
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beiden Autoren nicht das Hauptthema, sondern gehören mehr oder weniger zum Hintergrund des städtischen Lebens. So beginnt etwa auch die zweite Novelle des ersten Tages im Decameron mit einem positiv gezeichneten Großhändler, der einen umfangreichen Tuchhandel nach Paris betreibt.7 Die Hauptperson ist im Folgenden der mit diesem Italiener eng befreundete Jude Abraham, ebenfalls ein sehr wohlhabender und rechtschaffener Händler. Und die folgende dritte Novelle handelt ebenfalls von einem reichen Juden namens Melchisedech, der in Alexandrien Geld zu Wucherzinsen verlieh,8 dem Sultan Saladin und der – später von Lessing wieder verwendeten – Ringparabel. In dieser Geschichte geht es zunächst um eine wechselseitige Überlistung, die aber schließlich in beidseitigem finanziellen Gewinn und ehrenvoller Freundschaft glücklich endet. Ob und inwieweit man nach diesen ersten drei Novellen den Kommerz im Decameron als eine charakteristische Thematik oder eher als eine hintergründige Problematik ansehen kann, sei dahingestellt.9 Im Vergleich zur Antike und zu Aristophanes deuten sich jedenfalls Unterschiede an. Zumindest bei Boccaccio scheint sich eine Einstellung gegenüber Handel und Finanzgeschäft abzuzeichnen, die sich sowohl von früheren mittelalterlichen Sichtweisen als auch von antiken Positionen klar abhebt. Das klassische Athen und das mittelalterliche Florenz lassen sich in mehrfacher Hinsicht vergleichen. Beide Städte waren Stadtstaaten, die ein umliegendes Territorium und zeitweilig auch andere Städte beherrschten. Ihre Bürgerschaft und Bevölkerung waren von ähnlicher Größenordnung (zwischen fünfzig- und hunderttausend Einwohnern) und gehörten in ihrer Glanzzeit zu den volkreichsten Städten. Ihre politische Verfassung ist vergleichbar, vor allem solange sie republikanische Züge aufwies. Eine auffällige Parallele ergibt sich auch in kultureller Hinsicht, da beide Städte führende Zentren der Literatur, der Bildenden Kunst und Architektur waren. Athen und das antike Griechenland wurden erstaunlicherweise in Florenz bereits seit dem 14. Jahrhundert für Künstler und Literaten vorbildlich. Ein besonderes Interesse an der griechischen Literatur zeigte hier zuerst Boccaccio. Zusammen mit Petrarca veranlasste er die erste vollständige Übersetzung Homers ins Lateinische durch Leonzio Pilato. Für ihn wurde in Florenz auf Betreiben Boccaccios ein Lehrstuhl für die griechische Sprache eingerichtet – der erste in der nachantiken, westlichen Welt.10 Im Unterschied zu Politik und Kultur werden Wirtschaft und Gesellschaft der 7 Dec. I. 2,4: »in Parigi fu un gran mercatante e buono uomo Giannotto di Givign, lealissimo e diritto e di gran Traffico d’opera di drapperia«. 8 Dec. I. 3,7: »il quale presteva a usura in Alessandria«. 9 Vittore Banca hat das Decameron als »epopea dei mercanti« bezeichnet: s. Brockmeier 2005, S. 284 – diese Charakterisierung bezieht sich wohl nicht nur auf diejenigen Novellen, in denen explizit von Kaufleuten die Rede ist. 10 Bauer 1979, S. 874, Coppini 1991, Pertusi 1964.
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beiden Städte in der jüngeren Forschung seltener verglichen.11 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies noch anders, wie sich insbesondere bei Max Weber zeigt: in seinem Essay Die Stadt, das später als ein Teil von Wirtschaft und Gesellschaft bekannt wurde.12 Tatsächlich ergeben sich im sozioökonomischen Bereich trotz scheinbarer Ähnlichkeiten eher strukturelle Unterschiede. Zu denken ist dabei vor allem an die jeweils andere Bedeutung von Adel und Bürgertum, von Sklaverei und Lohnarbeit, von Gliederungen der antiken Bürgerschaft einerseits und mittelalterlichen Zünften und Gilden andererseits. Und entsprechend diesen spezifischen sozialen Strukturen und Institutionen ist auch mit jeweils unterschiedlichen Formen der gewerblichen Produktion, des Handels sowie der Geld- und Kreditmittel zu rechnen. Auf den ersten Blick scheinen Athen und Florenz allerdings hinsichtlich des Geldes eine ähnliche Bedeutung gehabt zu haben. Denn ihre Münzen, die silbernen attischen »Eulen« und die florentinischen Gulden wurden weithin und für lange Zeit eine Leitwährung. Aber vieles spricht wohl dafür, dass Florenz gerade im Bereich von Handel und Finanzen seit dem Hohen Mittelalter im Vergleich zur Antike grundlegend neue Wege beschritten hat. Für den realgeschichtlichen Vergleich zwischen Athen und Florenz ist es in bestimmten Bereichen methodisch zweckmäßig, von den besser dokumentierten mittelalterlichen Städten auszugehen, auch wenn aus dieser Perspektive die antiken ökonomischen Verhältnisse in vielem bloß defizitär erscheinen. Ein solches retrospektives Verfahren ist aber legitim, solange seine Problematik bewusst bleibt und daher überprüfbar ist. Die mittelalterlichen Verhältnisse lassen sich meist besser als die modernen mit denen der Antike vergleichen. Denn die Gegenstände eines Vergleichs sollten nach Möglichkeit nicht zu verschieden sein. Fremdes lässt sich generell kaum verstehen und beschreiben, ohne es mit bereits Bekanntem zu vergleichen und zunächst einmal mit den eigenen Worten und Kategorien zu erfassen.13 Meist ist daher der Vergleich mit etwas Ähnlichem ergiebiger und differenzierter als mit etwas sehr Fremdem, das nur grobe Entgegensetzungen ermöglicht. Als Vergleichsobjekt für die entwickelte antike Stadtwirtschaft sollte jedenfalls nicht in erster Linie der moderne Industriekapitalismus gewählt werden, wie das im 19. Jahrhundert häufig geschah, sondern die der Antike ähnlichere Wirtschaft in großen Städten des späten Mittelalters. Aus dieser Sicht lässt sich auch eher ausmachen, worauf in der Antike zu achten ist: was innerhalb einer vormodernen Wirtschaft jeweils ähnlich, typisch oder eigentümlich ist, was vielleicht zu erwarten ist und was 11 Diesem Trend entspricht auch der Sammelband Molho/Raaflaub/Emlen 1991. 12 Dazu, mit weiteren Literaturhinweisen, Nippel 1991. 13 Damit ist der notwendige Rückbezug auf die historischen, quelleneigenen Begriffe keineswegs ausgeschlossen; aber auch dieser beruht immer auf unserer eigenen, heutigen Sprache.
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nicht. So macht die quellenbedingt viel besser erfassbare Wirtschaft und Gesellschaft von Florenz nicht nur deutlich, was aus Athen und anderen antiken Großstädten nicht überliefert ist, sondern auch, was dort nie vorhanden war, weil die antiken Gesellschaften und ihre Wirtschaft dergleichen nicht hervorgebracht haben. Dazu gehören zum Beispiel vielfältige Zeugnisse des Handels und Gewerbes, des Zunft- und des Finanzwesens.14 Die meisten davon setzen soziale Strukturen, Produktionsweisen, Techniken und Verfahren voraus, die es in der Antike nicht gab. Allerdings kann man nach funktionalen Äquivalenten und nach sozioökonomischen Besonderheiten der antiken Stadt fragen. Aus zeitgenössischen Dichtungen wie den Rittern des Aristophanes oder den genannten Novellen in Boccaccios Decameron ergeben sich erste Indizien für eine unterschiedliche soziale Stellung und ökonomische Bedeutung von Händlern und Geldleuten sowie deren Ansehen und Bewertung. Beide Werke entstanden kurz nach einer wirtschaftlichen Blütezeit, die mit einer katastrophalen Seuche zunächst einmal endete: Die Ritter im Frühjahr 424, also nur wenige Jahre nach der verheerenden Epidemie zu Beginn des Peloponnesischen Krieges. Das Decameron wurde 1348 begonnen, also unmittelbar nach der großen Pest, deren Folgen Boccaccio in seinem Proömium detailliert und drastisch beschreibt.15 Die beiden Werke sind von unterschiedlichem Genre, aber sie ähneln sich in ihrem satirischen und gesellschaftskritischen Charakter. Sie bilden zweifellos nicht einfach die historische Realität des damaligen Athen bzw. Florenz ab, aber sie knüpfen an alltäglichen Erfahrungen an und können im Kontext weiterer Quellen konkrete Anhaltspunkte auch für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte geben. Demnach ergibt sich die Frage, unter welchen historischen Bedingungen jene unterschiedlichen Bewertungen von Handel und Geldgeschäft jeweils entstanden sind.
Gesellschaft und Verfassung Vor einem Vergleich der ökonomischen Verhältnisse in Athen und Florenz ist ein Blick auf die jeweilige Sozial- und Verfassungsgeschichte zu werfen. In beiden Städten ging es einerseits um Konflikte innerhalb des Adels und der weiteren städtischen Oberschicht, anderseits um Auseinandersetzungen zwischen der Elite und dem Volk, dem de¯mos bzw. popolo. In deren Verlauf entstand in Athen 14 Eine Vorstellung davon vermittelt die Quellensammlung von Davidsohn 1901, S. 1–259: Regesten zur Geschichte des Handels, Gewerbes und des Zunftwesens. 15 In mancher Hinsicht ähnlich wie Thukydides; zu möglichen antiken Vorbildern von Boccaccios Pestbeschreibung: Grimm 1965, S. 31ff., 111ff. – In beiden Städten wurde das Maximum der antiken bzw. mittelalterlichen Bevölkerungszahl, das vor Ausbruch der Seuche anzunehmen ist, erst im 19. Jahrhundert überschritten.
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die Demokratie, die im 5. und 4. Jahrhundert fast ununterbrochen Bestand hatte. Es war eine Verfassung, die auch für besitzlose Bürger eine politische Partizipation ermöglichte. Dagegen gab es in Florenz eine ähnlich radikale Demokratie, nämlich eine Herrschaft des popolo minuto, im 13. und 14. Jahrhundert jeweils nur für kurze Zeit.16 Ansonsten bestand meist, von unterschiedlichen Gruppen und Schichten getragen, eine aristokratische bzw. oligarchische Stadtregierung. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Entwicklung der Verfassung? In Athen war die Bürgerschaft seit der archaischen Zeit, wie in den meisten Poleis, durch die überwiegend bäuerliche Mittelschicht geprägt. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts kam es infolge massenhafter Verarmung und Verschuldung von Bauern zu heftigen sozialen und politischen Konflikten, die zu einem Schuldenerlass und weiteren Reformen Solons führten. Zur wirtschaftlichen Konsolidierung Athens trug dann auch die Tyrannis der Peisistratiden bei, die für zwei Generationen Stadt und Land beherrschten. Nach deren Sturz brachte gegen Ende des 6. Jahrhunderts die Phylenreform des Kleisthenes eine grundlegende Neuorganisation der Bürgerschaft auf der Basis kommunaler Einheiten, der Demen. Diese neue Struktur der Polis verknüpfte die Gemeinden des attischen Umlandes, in dem die Mehrheit der Bürger vor allem von der Landwirtschaft lebte, mit denen im städtischen Zentrum. Die Beteiligung an der kommunalen Selbstverwaltung der Demen stärkte den Bürgersinn der bäuerlichen Grundbesitzer und förderte ein Bewusstsein bürgerlicher Gleichheit gegenüber den Adligen. Dazu kam eine zunehmende Mitwirkung an politischen Gremien und Entscheidungen der Gesamtgemeinde, etwa in dem durch Kleisthenes neu geschaffenen Rat der Fünfhundert: einer jährlich neu gewählten Vertretung der gesamten Bürgerschaft, repräsentativ zusammengesetzt nach der unterschiedlichen Größe der 139 Demen. So entstand in kurzer Zeit eine frühe Form der Demokratie unter der Parole der Isonomie, das heißt der betonten bürgerlichen Gleichberechtigung. Diese band auch die Adligen mit ein, die weiterhin die politische und militärische Führung innehatten und sich der neuen Ordnung daher auch nicht widersetzten. Wichtig für den Erfolg und die Stabilität der demokratischen Verfassung war nicht zuletzt ihre militärische Seite: zunächst die Organisation des athenischen Hoplitenheeres, das sich zum größten Teil aus bäuerlichen Bürgern rekrutierte, bald darauf die im großen Stil betriebene Flottenpolitik. Mit dem Aufbau der athenischen Flotte durch Themistokles seit den 480er Jahren und ihrem überraschenden Erfolg in den Perserkriegen erhielten auch die Bürger der Thetenklasse mehr politisches Gewicht. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. wurde dadurch die Demokratie immer mehr als »Herrschaft 16 Nämlich 1293–1295, 1345 und während der wenigen Tage des Ciompiaufstandes 1378 (s. Bosl 1982, S. 228).
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der Armen« angesehen, nämlich der Bürger ohne Grundbesitz, die am meisten von der Stärkung der Flotte und der führenden Rolle Athens im Seebund sowie dem parallel verlaufenden Ausbau der demokratischen Institutionen profitierten. Durch die Einführung von Tagegeldern für die bis zu sechstausend Mitglieder des Volksgerichtes, die fünfhundert Ratsherren und zahlreiche andere Ämter wurde Jahr für Jahr ein beträchtlicher Teil der insgesamt etwa 40.000 Bürger von der Polis in ihrem Lebensunterhalt unterstützt. Dazu kam die Besoldung für den Ruderdienst auf den Trieren, ganz abgesehen von der Kriegsbeute, die vielfach in der Annexion von Land in Form von Kleruchien und daraus resultierenden Einnahmen bestand. Seit dem Peloponnesischen Krieg radikalisierte sich die Demokratie noch weiter durch den erzwungenen Umzug vieler Bürger aus den Landgemeinden in die zur Festung ausgebaute Stadt. Diese wurde immer mehr von der See aus mit Lebensmitteln und andern Gütern versorgt. Und zur Finanzierung der Rüstung, der politisch bedingten Zahlungen und der großzügigen Baupolitik trugen in starkem Umfang die jährlichen Beiträge (phoroi) der Mitglieder des Seebundes bei. So ergab sich eine im Vergleich zum übrigen Griechenland ungewöhnlich stabile demokratische Verfassung, die nur wegen kriegsbedingter Notlagen kurzzeitig (411 und 404/3) von Oligarchien unterbrochen wurde. Die Gesellschaftsgeschichte von Florenz und die Entwicklung seiner Verfassung im Mittelalter erscheinen wesentlich komplizierter und wechselvoller als die athenische. Es waren mehr Kräfte und Gruppen involviert, innere und äußere: Kaiser, Päpste und andere auswärtige Mächte, der Feudaladel des toskanischen Umlandes, die städtische Nobilität und der popolo, der sich aus den verschiedenen Zünften zusammensetzte und große wirtschaftliche und soziale Unterschiede aufwies.17 Städtischer Adel und popolo bildeten zunächst jeweils einen eigenen politischen Verband – ähnlich wie im Rom der frühen Republik, aber anders als im archaischen und klassischen Athen, wo das Volk gegenüber dem Adel keine eigene politische Organisation aufbaute. Hier standen sich auch nicht wie in Florenz die in der Stadt regierenden nobili und die Granden des Umlandes, des contado, lange Zeit feindlich gegenüber. Aber gegen Ende des 12. Jahrhunderts fand der ländliche Feudaladel Zugang zu den höchsten Ämtern der comune und übernahm militärische Aufgaben für Florenz. Im Laufe des 13. Jahrhunderts verminderten sich die Gegensätze zwischen Stadt- und Landadel, auch bedingt durch die Auseinandersetzungen mit der popolaren Bewegung. 1250 bildete das Volk in Florenz zum ersten Mal eine eigene militärische Organisation und eine politische Körperschaft unabhängig vom Adel, unter einem capitano del popolo. Der popolo hatte später auch in den beiden Großen
17 Dazu und zum folgenden Überblick s. Bosl 1982, S. 225–233.
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Räten der Stadt die Mehrheit; daneben gab es noch Ratsgremien, die allein aus popolani bestanden.18 Mit dieser Aufwertung und Machtsteigerung des popolo war aber noch keineswegs eine Herrschaft des gesamten Volkes, das heißt aller Bürger erreicht, wie es in Athen im 5. Jahrhundert – spätestens seit der Entmachtung des Areopag durch Ephialtes 461 – der Fall war. Die seit 1250 an der Regierung beteiligten Volksteile waren vor allem die oberen Zünfte (arti maggiori), aus denen eine neue Elite von reichen Kaufleuten und Bankiers hervorging, die sich dann bald mit dem städtischen Adel der guelfischen Partei verband. Dagegen kämpften 1282 ghibellinischer Adel und popolo minuto, also die niederen Zünfte (arti minori); die Prioren der Zünfte wurden in die Regierung aufgenommen. Durch die ordinamenti della giustizia von 1293 wurde der Adel kurzzeitig geschwächt und auch die unteren Zünfte des handwerklichen Mittelstandes an der Regierung beteiligt. Aber diese Regelung wurde bereits 1295 wieder zugunsten der Kaufmanns- und Bankiersfamilien geändert. Die Macht des Geldadels blieb danach im 14. Jahrhundert im Wesentlichen erhalten. Eine demokratische Bewegung, die vom popolo minuto getragen war, kam dann zum einzigen Mal im Ciompi-Aufstand von 1378 zum Zuge, bei dem die Masse der Lohnarbeiter in der Wollweberei mit Neureichen (gente nuova) ein Bündnis einging. Aber dieser Versuch scheiterte bereits nach wenigen Wochen.
Gewerbliche Wirtschaft In Florenz entwickelte das Zunftwesen wirtschaftlich, sozial, kulturell und nicht zuletzt politisch unter den mittelalterlichen Städten Italiens seine größte Bedeutung.19 Es wies eine deutliche Klassenbildung auf: Von den sieben oberen Zünften waren die Tuchhändler (arte di Calimala) mit die finanzkräftigsten, daneben die Wechsler, ferner die Wollzunft sowie die der Seidenweber und -händler. Zu den arti maggiori gehörten auch die drei Zünfte der Richter und Notare, der Ärzte und Apotheker sowie der Kürschner und Pelzhändler. Von den neun unteren war noch eine Gruppe von fünf mittleren Zünften abgesetzt. Weitere Gewerbe und Produzenten außerhalb dieser einundzwanzig Zünfte erhielten keinen Zunftstatus mehr. Je nach wirtschaftlicher Bedeutung, Produktivität und Arbeitsteilung gab es zwischen den und innerhalb der einzelnen Zünfte sehr unterschiedliche Grade sozialer Differenzierung und große Unter18 Bosl 1982, S. 229. 19 Grundlegend dazu: Doren 1934, S. 257ff., 497ff. (auf der Basis seiner speziellen Publikationen zu den Florentiner Zünften von 1897 und zur Florentiner Wollentuchindustrie von 1901).
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schiede in Einkommen und Vermögen. Im Holz- und Metallgewerbe ergab die starke Spezialisierung eine Vielzahl von Zünften, während Gewerbe wie etwa Bäcker und Müller, Schuster und Gerber jeweils in einer Zunft vereinigt waren und gleichberechtigt nebeneinander standen. Gegenüber diesen einfach strukturierten Gewerben, die nur oder überwiegend für den lokalen Markt produzierten, war in Florenz die Textilbranche bereits wesentlich stärker gegliedert, arbeitsteilig organisiert, auf Massenproduktion und Export hin ausgerichtet. Innerhalb dieser Betriebe gab es daher nicht mehr die traditionelle Rangordnung von Meister, Geselle und Lehrling, sondern eine komplexere funktionale Differenzierung, die auch stärkere Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse implizierte.20 Im Bereich des Textilgewerbes und vor allem der Tuchfabrikation bestanden in Florenz nebeneinander ganz verschiedene Produktionsweisen und »Betriebssysteme«.21 In begrenztem Umfang gab es – zumal in größeren Haushalten und ähnlich wie in der Antike – immer noch Formen von »Hauswerk«, also Produktion für den Eigenbedarf durch Familienangehörige und Bedienstete. Die vorherrschenden Betriebsformen aber waren das zunftmäßige Handwerk und in der florentinischen Tuchproduktion auch bereits ein weit verbreitetes Verlagssystem. In diesem Fall »beschäftigt ein Unternehmer regelmäßig eine größere Zahl von Arbeitern außerhalb seiner eigenen Betriebstätte in ihren Wohnungen«.22 Um 1300 sollen in Florenz etwa 300 Betriebe jährlich 100.000 Stück Tuch hergestellt haben. Diese Gesamtmenge ging zwar bis zum Jahr 1338 auf 70.000 bis 80.000 Stück zurück, aber deren Wert hatte sich infolge von Produktveredlung auf 1,2 Millionen Gulden verdoppelt.23 Nach den Angaben von Giovanni Villani war etwa ein Drittel der Bevölkerung von Florenz, nämlich 30.000 von 90.000 Einwohnern, in der Wolltuchfabrikation beschäftigt. Auch wenn seine Gesamtzahl der Einwohner vielleicht überhöht und auf gut 50.000 reduziert werden müsste,24 bliebe mit etwa 18.000 die Menge der allein in dieser Branche Beschäftigten für eine mittelalterliche Stadt enorm. Die Anzahl der Textilbetriebe war nach Villanis Angabe bis 1338 auf 200 zurückgegangen. Wahrscheinlich hatte also die durchschnittliche Betriebsgröße seit 1300 noch zugenommen. Für die größeren Firmen kann man im Schnitt etwa 50 Beschäftigte annehmen. Die Produktion war in der Regel auf mehrere Häuser und Werkstätten verteilt, zum Teil auch auf Heimarbeiter im Umland. Der Arbeitsprozess 20 21 22 23
Doren 1934, S. 273f. Zu deren Typologie grundlegend: Bücher 1909. So die Definition des Verlagssystems von Bücher 1909, S. 867. Diese Zahlen beruhen auf einer zeitgenössischen Statistik in der Chronik von Giovanni Villani, vgl. dazu: Doren 1934, S. 501f. und Raith 1979, S. 73f. 24 So die Schätzung von Raith 1979, S. 24 u. 74, v. a. aufgrund der demographischen Forschungen von Beloch.
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bestand aus unterschiedlichen Techniken, die auch in verschiedenen Betriebsformen ausgeführt wurden. Vom Einkauf der Rohwolle bis zur Auslieferung des verkaufsfertigen Tuches durchlief der Stoff etwa zwanzig Stationen, wobei dieser mehrfach zwischen der Zentralwerkstatt und anderen, speziellen Werkstätten in der Stadt und auf dem Land hin und her transportiert wurde.25 Der Unternehmer war in der Regel zugleich Kaufmann und Leiter des gesamten Produktionsprozesses; das Produkt wechselte vom Einkauf der Rohstoffe bis zum Verkauf der Ware niemals den Eigentümer. Die beteiligten Arbeitskräfte waren entsprechend ihrer jeweiligen Techniken und Fertigkeiten von sehr unterschiedlichem Status: die meisten gänzlich abhängig vom Unternehmer, einige betrieben aber auch selbständige Gewerbe. Zu jenen gehörten die Masse der ärmsten Wollarbeiter, nämlich die 9000 ciompi, die bis zu ihrem Aufstand 1379 nicht als Berufsvereinigung anerkannt waren. Weniger abhängig von den großen Fabrikanten und Kaufleuten blieben dagegen etwa die Woll- und Garnhändler, die selbst eine Zunft bildeten. Neben all den für eine mittelalterliche Stadt üblichen zunftmäßigen Gewerben bestand die Besonderheit in Florenz darin, dass hier die Textilproduktion aufs engste mit dem Fernhandel und darüber hinaus mit dem Banken- und Geldgeschäft verbunden war, worauf noch zurückzukommen ist. Zunächst ist ein Blick auf die gewerbliche Wirtschaft im klassischen Athen zu werfen. Im Vergleich zu Florenz und den meisten mittelalterlichen Städten zeigen sich hier vor allem strukturelle Unterschiede. Handwerker und Gewerbetreibende gab es in der Großstadt Athen und im attischen Umland wohl einige Zehntausend.26 Ihr politischer, sozialer und rechtlicher Status war sehr verschieden: Es konnten athenische Bürger, Metöken oder Sklaven sein. Der Status besagte nichts über ihre handwerklichen Fertigkeiten und ihre Entlohnung, bestimmte auch nicht die Fachrichtung, die ausgeübte techne¯. Der Terminus technite¯s bezeichnete generell den Fachmann, meist einen Handwerker. Für diesen gab es seit dem 5. Jahrhundert auch den abwertenden Ausdruck banausos. Der zielte besonders auf eine Tätigkeit, die den Körper schädigt – im Gegensatz zum hoch angesehenen Kriegertum, wie es mit Sparta assoziiert wurde. Herodot berichtet in diesem Zusammenhang, dass Handwerker bei fast allen Griechen und Barbaren »geringer geachtet werden als die übrigen Bürger«; am wenigsten verachte man sie in Korinth.27 Diese Polis war bekanntlich am 25 Dazu im Einzelnen: Doren 1934, S. 510f. 26 Thuk. 7,27,5 berichtet, dass während des Peloponnesischen Krieges auf dem Land »mehr als 20.000 Sklaven, zum größten Teil Handwerker (cheirotechnai), zum Feind übergelaufen waren«. Wahrscheinlich waren es überwiegend Bergwerkssklaven. Andere, halbwegs verlässliche Zahlenangaben für Sklaven gibt es für Athen kaum, denn offiziell wurde deren Gesamtmenge nirgends genau erfasst. 27 Hdt. 2,167.
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meisten von Handel und Gewerbe geprägt, ihre Verfassung war dementsprechend oligarchisch – auch in dieser Hinsicht also Florenz ähnlicher als Athen. In der athenischen Demokratie hingegen war die Geringschätzung der banausoi weit verbreitet, wie sich unter anderem in der Alten Komödie und besonders deutlich in Aristophanes’ Rittern zeigt.28 Zum geringen Ansehen handwerklicher Tätigkeit – zumal in geschlossenen Räumen – hat auch der große Anteil von Sklaven beigetragen, die häufig für Lohn arbeiteten, den sie dann an ihre Herren abzuführen hatten (sog. apophora-System). Und dem entsprach umgekehrt in der Demokratie die besondere Wertschätzung der Freiheit, die einem selbstbewussten Bürger nahe legte, Lohnarbeit mit Abhängigkeit gleichzusetzen, und Tätigkeiten, die vor allem Körperkraft erforderten, Sklaven zuzuordnen.29 Hinsichtlich des »Betriebsystems« bieten Handwerk und Gewerbe im klassischen Griechenland keine einheitliche und erkennbare Organisationsform. Max Weber hat zu Recht festgestellt, »dass im Vergleich zur mittelalterlichen Gliederung das antike freie Gewerbe ›amorph‹ war«.30 Es war in Athen – und so weit erkennbar auch in anderen Poleis der klassischen Zeit – nicht in Zünften oder ähnlichen Berufsverbänden organisiert. Dementsprechend hatte es auch keine politische Vertretung. Führende Politiker verdankten ihr Vermögen zwar zum Teil auch gewerblicher Arbeit. Aber der Demagoge Kleon, der eine Gerberei besaß, oder der Stratege Nikias, der Einkünfte aus der Arbeit von tausend Bergwerkssklaven bezog, machten nicht als Geschäftsleute Politik und auch nicht im Interesse bestimmter Wirtschaftszweige. Werkstätten (ergaste¯ria) werden in literarischen Quellen gelegentlich erwähnt als Teil des häuslichen Vermögens. Es sind nur sehr wenige, die auf diese Weise bekannt sind, wie die Werkstatt für Schilde mit 120 Sklaven, die Lysias’ Vater Kephalos, ein reicher Metöke, besaß; und die beiden ergaste¯ria, die zu Demosthenes’ väterlichem Erbe gehörten: eine Fabrikation für Messer mit 32 oder 33 Sklaven und eine für Liegen mit 20 Sklaven.31 Der Wert des ergaste¯rion ergab sich vor allem aus der Zahl und dem Kaufpreis der Sklaven. Demosthenes macht außerdem noch Wertangaben von Rohmaterialien und vor allem von den Jahreserträgen des Betriebes. Von Fabrikgebäuden und Werkzeugen erfährt man nichts; diese spielen anscheinend für die Wertermittlung keine wesentliche Rolle. Ein ergaste¯rion war Teil der häuslichen Wirtschaft, wo immer es lokalisiert war. Es warf einen bestimmten Ertrag ab, eine Rendite ähnlich wie die Zinserträge aus Gelddarlehen, die De-
28 Zum gesamten Quellenbefund und zum sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Banausenproblematik: Spahn 2008. 29 Arist. pol. 1,11,1258 b 25ff. – Xen. mem. 2,7 (Näheres dazu: s. u. Anm. 33). 30 Weber 1988, S. 142. 31 Lys. 12,19; Demosth. 27,1,9.
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mosthenes ebenfalls erwähnt.32 Ein solcher Betrieb stand oft nicht in einer familiären Handwerkertradition, sondern kam – wie andere Anlageformen auch – mehr oder weniger zufällig in den Familienbesitz. Demosthenes’ Vater etwa hatte die Liegenfabrikation irgendwann als Sicherheit für ein von ihm gegebenes Darlehen übernommen. Er war also kein Schreinermeister ; ein entsprechender Fachmann mit Leitungsfunktion gehörte wahrscheinlich zu den 20 Sklaven, die das ergaste¯rion bildeten. Sicherlich gab es daneben auch Gewerbe und Werkstätten, die von Familienangehörigen betrieben und in denen handwerkliche Fertigkeiten im Haus und in der Familie weitergegeben wurden. Merkwürdig ist jedoch, dass solche Verhältnisse in den literarischen Quellen selten vorkommen.33 Allerdings ist anzunehmen, dass ein großer Teil vor allem der Textilproduktion im Haus, insbesondere von den Frauen, geleistet wurde.34 Neben diesem »Hauswerk« gab es in der Polis fast nur »Lohnwerk«, von Freien oder Sklaven ausgeführt, kaum jedoch »Preiswerk«, wie es im mittelalterlichen Zunfthandwerk vorherrschte.35 Die wichtigsten Zweige der gewerblichen Wirtschaft hingen in Athen mehr oder weniger mit der Polis und politischen Entscheidungen zusammen: In erster Linie der Silberbergbau, der der Polis unterstand und an private Unternehmer verpachtet wurde; dann der große Bereich öffentlicher Bauten (Tempel, militärische Befestigungen, Hafenanlagen u. a.); ferner Neubau, Ausrüstung und Unterhaltung der Flotte sowie die übrige Rüstung, die von einzelnen Bürgern übernommen wurde. Neben diesen großen politisch bedingten Produktionsbereichen gab es die verschiedenen Gewerbe für die Artikel des täglichen Bedarfs, soweit sie nicht im Hause erzeugt wurden. Dafür ist, vor allem in der Literatur des 4. Jahrhunderts, eine Vielzahl von Handwerkerbezeichnungen überliefert,36 die auf eine beachtliche Spezialisierung hindeuten. Aber es gab in Athen nur sehr wenige Gewerbe, die auch oder gar überwiegend für den Export produzierten. Sieht man einmal von der Silberproduktion ab, kann man nur für attische Keramik in archaischer und klassischer Zeit einen weit reichenden 32 Demosthenes nennt ebd. den Betrag von 1 Talent, der mit dem (üblichen) monatlichen Zinssatz von 1 %, also 12 % p.a. verzinst wurde. 33 Die Geschichte in Xenophons Memorabilien (2,7) in der Sokrates einen notleidenden Hausvater mühsam überreden muss, seine vielen unbeschäftigten Familienangehörigen zu einträglichen Textilarbeiten anzuleiten, deutet auf die mentalen Hindernisse: Der Verweis auf Handwerkerfamilien, die sich leichter ernähren, überzeugt den Gesprächspartner nicht sofort. Denn diese hätten es mit Sklaven zu tun, seine Hausgenossen aber seien Freie und frei erzogene Menschen (2,7,4–6). – Die Argumentation nimmt manche Antworten von SyrizaPolitikern vorweg, wenn diese mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in Osteuropa konfrontiert werden. 34 Reuthner 2006. 35 Zu diesen für den Epochenvergleich immer noch nützlichen, aber kaum mehr benutzten Kategorien Karl Büchers: Spahn 2004. 36 Rössler 1981.
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Export annehmen und archäologisch nachweisen, ohne dass sich die Größenordnungen der Betriebe, der Beschäftigtenzahl, der Preise und Gewinne oder der Anteil an der Gesamtproduktion berechnen ließen. Sie reicht jedenfalls auch nicht entfernt an die Größe und Bedeutung der florentinischen Textilproduktion heran. Auch insofern unterschied sich Athen also grundlegend von Florenz: Es war eine typische »Konsumentenstadt«, die in großen Umfang von Importen abhing – im Gegensatz zur »Produzentenstadt« Florenz.37
Handel und Geldgeschäft Laut Herodot war der Handel auf der Agora eine Spezialität der Griechen, durch die sie sich von den Persern unterschieden hätten.38 Diese Feststellung könnte mit der gesteigerten wirtschaftlichen Bedeutung der Agora in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zusammenhängen, wie sie vor allem in Athen zu beobachten war. Das politische Zentrum und der Versammlungsplatz der Bürgerschaft wurden nun in erster Linie zum Marktplatz; für die Volksversammlung bestimmte man daher einen gesonderten Platz auf der Pnyx, etwa 300 Meter von der Agora entfernt. Demnach hat es den Anschein, als ob Handel und Ökonomie die Politik in gewissem Umfang verdrängt hätten. Aber wie war es tatsächlich um die ökonomische Funktion der Agora und um den Handel in der Polis bestellt? Die typischen Händler auf der Agora waren die kape¯loi, also Kleinhändler und Krämer, die vor allem Lebensmittel verkauften; diese wurden zum Teil auch auf dem Platz zubereitet und verzehrt. Der kape¯los war also häufig Koch und Imbißbetreiber, wie es in Aristophanes’ Rittern durch den Wursthändler vorgeführt wird. In Athen hatte sich seit der Zeit des Perikles eine neuartige Wirtschaftsweise ausgebildet, die man in der Antike »attische Ökonomie« nannte: der regelmäßige Kauf von Lebensmitteln auf dem Markt, der besonders für die kleineren Haushaltungen eine Vorratshaltung ersetzte.39 Dieser Trend war bedingt durch die stärkere Konzentration der Bevölkerung in der Stadt – zumal seit dem Peloponnesischen Krieg – und durch die beträchtliche Ausweitung des Geldumlaufs vor allem infolge politischer Zahlungen an die Bürgerschaft im 37 Zur Unterscheidung dieser Stadttypen: Weber 1964, S. 926 – und zum weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund: Bruhns 2014. 38 Hdt. 1,153: Der Perserkönig Kyros habe sich über alle Griechen verächtlich geäußert, »weil sie Märkte geschaffen haben, auf denen sie Handel treiben. Die Perser selbst pflegen nämlich keine Märkte zu errichten, und sie kennen auch überhaupt keinen Handel (hoti agoras ste¯samenoi o¯ne¯ te kai pre¯si chreo¯ntai; autoi gar hoi Persai agore¯si ouden eo¯thasi)« (Übers. J. Feix). Vgl. dagegen zur eleuthera agora bei den Persern: Xen. Kyr. 1,2,3 – eine agora, die von Marktleuten (agoraioi) frei ist. 39 (Ps.)-Arist. oik. 1344 b 33ff.
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Rahmen von Demokratie und Seebundtributen. Beim Handel auf der Agora ging es also primär und überwiegend um Konsumwaren, und zwar nicht nur um die Grundnahrungsmittel, sondern auch um Konsum, der in den Augen der Zeitgenossen ungewöhnlichem Luxus gleichkam. So hebt etwa gleichzeitig mit Aristophanes’ Schilderungen des Betriebs auf der Agora der sog. Alte Oligarch die Leckereien und Schlemmereien (exo¯chiai) hervor, die sich die Athener dank ihrer Seeherrschaft von überall her liefern lassen können: aus Sizilien, Italien, Zypern, Ägypten, Lydien, vom Pontos oder von der Peloponnes.40 Und in die gleiche Richtung weist seine Feststellung, dass Athen von allen Seiten, sowohl von Griechen wie Barbaren, den Reichtum und Überschuss an strategischen Rohstoffen importieren kann, etwa Schiffbauholz, Eisen, Kupfer, Flachs und Wachs.41 Nirgends in dieser Schrift oder in anderen literarischen Quellen der klassischen Zeit findet sich dagegen ein Hinweis auf athenische Exportinteressen und auf die Ausfuhr von agrarischen oder gewerblichen Erzeugnissen in den athenischen Herrschaftsbereich oder darüber hinaus. Der Import von Rohstoffen war Sache von emporoi, von Groß- und Fernhändlern, also der anderen Kategorie von Kaufleuten, die es im alten Griechenland generell außer den kape¯loi gab. Über die Organisation und Funktionsweise des Fernhandels ist im Einzelnen sehr wenig bekannt, am ehesten noch über den Getreidehandel; aber auch hierfür gibt es vor dem 4. Jahrhundert fast keine literarischen oder epigraphischen Zeugnisse. Möglicherweise bestanden in Athen zuvor noch keine gesetzlichen Regelungen für die Absicherung der Getreideeinfuhr, da diese durch die athenische Überlegenheit zur See in der Regel gegeben war bzw. durch die Flotte jederzeit erzwungen werden konnte.42 Nachdem Athen diese Macht verloren hatte, wurden besondere Bestimmungen und Anreize geschaffen, um eine ausreichende Getreidezufuhr zu gewährleisten: Erst aus dem 4. Jahrhundert sind spezielle Seedarlehen bekannt, die auf schriftlich fixierten Verträgen beruhten. Und ein besonderes Gesetz verbot sowohl Athenern wie in Athen ansässigen Metöken, solche Darlehen für Getreideschiffe zu geben, wenn sie nicht Athen als Bestimmungshafen hatten.43 Auch andere gesetzliche und politische Maßnahmen im Bereich von Handel und Ökonomie bezogen sich allein auf die Sicherstellung der Versorgung der Bürger, also der trophe¯, nicht etwa auf den Produktionssektor. So war die wichtigste Agenda der Hauptvolksversammlung in jedem Monat die Getreideversorgung und die Sicherheit des Landes.44 Für die Agora und den Hafen Piräus wurden 40 (Ps.)-Xen. Ath. Pol. 2,7. 41 Ebd. 2,11f. 42 So die Erklärung für das Fehlen solcher Gesetze im 5. Jahrhundert von: Austin/Vidal-Naquet 1984, S. 94f. 43 Ebd. S. 312ff. (Nr. 121) und S. 256f. (Nr. 82). 44 Arist. Ath. Pol. 43,4: peri sitou kai peri phylake¯s te¯s cho¯ras chre¯matizein.
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jährlich jeweils fünf Marktaufseher (agoranomoi) erlost, die dafür zu sorgen hatten, »dass alle Waren rein und unverfälscht verkauft werden«.45 Außerdem gab es je fünf Maßaufseher (metronomoi) und dazu noch spezielle Getreideaufseher bzw. -wächter (sitophylakes). Deren Zahl wurde von zunächst zehn auf fünfunddreißig erhöht, zwanzig für die Stadt und fünfzehn für Piräus. Anlass für die Erhöhung der Anzahl war ein Getreidemangel in den 320er Jahren, der den Preis verdreifachte.46 Die Aufgabe der sitophylakes war die umfassende und fortlaufende Kontrolle von Preis und Gewicht, nämlich beim Händler auf der Agora, beim Müller und beim Bäcker. In keinem anderen Bereich lässt sich eine derartige Überwachung ökonomischen Handelns von Seiten der Polis feststellen; in der Landwirtschaft, der gewerblichen Produktion, aber auch im Geldgeschäft gibt es dafür nichts Vergleichbares. Das Ziel politischer Eingriffe in die Wirtschaft war also der Schutz der Bürger als Verbraucher und nicht eine Interessenvertretung von Produzenten, Händlern oder Finanziers. Zu diesem Zusammenhang passt, dass Letztere meist keine athenischen Bürger waren. Das Getreide kam zum größten Teil aus Übersee, auch die Fern- und Großhändler waren wohl überwiegend Metöken oder Fremde. Bezeichnenderweise wissen wir über athenische Kaufleute fast nichts, weder von Individuen noch etwa von entsprechenden Verbänden. Und ebenso signifikant ist es, dass Xenophon in seiner Schrift über die Einkünfte durchweg von fremden Kaufleuten und Metöken spricht, wenn er seine verschiedenen Vorschläge für eine Förderung des Fernhandels und der dadurch steigerbaren Einnahmen der Polis entwickelt.47 Auch im 4. Jahrhundert wird somit an einer strikten Funktionsteilung festgehalten: Hier die Bürger als Krieger und Rentiers, dort Metöken als Überseehändler und außerdem Sklaven als Bergwerksarbeiter. Letztere fördern das wichtigste Ausfuhrprodukt Athens zu Tage, nämlich das Silber. Dieses wird von Xenophon zwar auch als Handelsware, insbesondere als Rückfracht im Seehandel erwähnt; sein Hauptinteresse gilt jedoch den regelmäßigen Einnahmen für die Bürgerschaft, die aus einer Vermietung von Sklaven im Silberbergbau zu erzielen wären.48 Die Großstadt Athen mit ihrer Agora und mit dem Hafen Piräus war zweifellos ein bedeutender Handelsplatz. Aber athenische Bürger machten wohl nur den kleineren Teil der Kaufleute aus, jedenfalls von den emporoi. Das Interesse der Bürgerschaft zielte neben der sicheren und preisgünstigen Versorgung nicht primär auf individuelle Gewinnchancen im Handel, sondern auf Zolleinnahmen und Metökenbesteuerung, die der Polis und damit den Bürgern zugute kamen. 45 Ebd. 51,1: hopús kathara kai akibdÞla púlÞsetai. 46 Zu den Quellen, v. a. in zeitgenössischen Reden, s. den Kommentar von M. Chambers zu Aristoteles, Chambers 1990, S. 372f. 47 Xen. vect. 2–3. 48 Ebd. 2,2: Silber als Rückfracht; 4, 1–51: Staatssklaven im Silberbergbau.
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Die kape¯loi auf der Agora besaßen ohnehin nur geringes Ansehen, aber auch reiche emporoi bildeten in der Bürgerschaft keine herausgehobene Statusgruppe, geschweige denn einen eigenen Stand. Die Händlertätigkeit überließ man offenbar gern den Metöken. Ihnen gegenüber ist in der Bürgerschaft nicht nur keine wirtschaftliche Konkurrenz zu beobachten. Vielmehr dachte man daran, wie Xenophon in den Poroi zeigt, diese individuell oder kollektiv zu privilegieren, wenn sie den Athenern Nahrung (trophe¯) und Einnahmen (poroi) bescherten. Ähnlich wie der Handel auf der Agora war das Geld in Form von Münzen eine typisch griechische Erscheinung. Und wie die Agora hatte das Münzgeld zunächst vor allem eine politische Bedeutung. Der Handel brauchte an sich weder eine Agora noch Münzen. Das beweisen nicht nur Handelsstädte wie Karthago, die lange Zeit ohne diese Geldform auskamen, sondern auch das frühe Griechenland. Hesiod etwa behandelt in den Erga ausführlich den Handel (emporie¯) – während mit agora in diesem Gedicht noch allein politische und gerichtliche Funktionen verbunden sind und Münzgeld damals unbekannt war. Zweifellos haben Handel auf dem Markt und Münzen seit dem 5. Jahrhundert auch das wirtschaftliche Leben in der Polis verändert. Aber es ist fraglich, wie weit und tief dieser Wandel reichte. Der vermehrte Geldumlauf im klassischen Athen war primär politisch (durch Demokratie und Seebund) ausgelöst, bewirkte dann über die Agora bei den Städtern auch ein neuartiges Konsumverhalten, aber keine anderen Produktionsweisen, weder in der Landwirtschaft noch im Gewerbe. Auch die Geldform veränderte sich im Vergleich zu den Münzen des 6. Jahrhunderts nicht mehr wesentlich. Es blieb durchweg Warengeld, dessen Wert sich aus dem Metallgewicht ergab. Irgendeine Art von Kreditgeld oder gar von Buchgeld ist nicht nachzuweisen. Dementsprechend umständlich und begrenzt war der Geldtransfer, da dieser nur durch den Transport des Edelmetalls zu bewerkstelligen war. Das Bankwesen, das sich im 4. Jahrhundert entwickelt hat, betrieb vor allem Münzwechsel und Pfandleihe. Nur ein sehr kleiner Teil der vorhandenen Geldmenge wurde bei solchen Banken deponiert. Und dieses Kapital wurde in der Regel nicht in wirtschaftliche Unternehmungen investiert, auch nicht in Seedarlehen.49 Die Bankiers waren offenbar überwiegend Metöken. Der bekannteste und reichste unter ihnen, Pasion, war ein freigelassener Sklave, der von seinen Herren die Bank erbte, eine Schildfabrikation dazu erwarb und schließlich wegen seiner Großzügigkeit gegenüber der Polis sogar das Bürgerrecht erhielt. Damit war es ihm möglich, einen Teil seines Vermögens in Grundbesitz anzulegen, was offenbar sozial am meisten Prestige und wirtschaftlich die größere Sicherheit bot. Auch Bankiers wie Pasion haben offen49 Vgl. Austin/Vidal-Naquet 1984, S. 123f.
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sichtlich die Ökonomie in Athen nicht wesentlich verändert. Und zu dem Bild, das sich aus der gewerblichen Produktion, dem Handel, der Geldform und dem bescheidenen Bankwesen ergibt, passt auch die vorherrschende Art des Kredits: Sieht man nämlich von der Sonderform des Seedarlehens ab, wurden die meisten Darlehen auf Grundbesitz durch mündliche Absprachen vor Zeugen vereinbart. Außerdem hat man sie durch beschriftete Hypothekensteine (horoi) auf dem belasteten Grundstück angezeigt, auf denen nur in seltenen Fällen auf einen schriftlichen Vertrag verwiesen wurde.50 Solche Darlehen waren in aller Regel nicht für wirtschaftliche Investitionen bestimmt, sondern für familiäre Zwecke wie Mitgiften und politische Aufgaben wie etwa Liturgien. Häufig wurden sie unter Freunden zinslos vergeben. Aber auch wenn man eine Zunahme von Zinsund Geldgeschäften im Sinne der aristotelischen Chrematistik annimmt, hat der verstärkte Geldgebrauch im 5. und 4. Jahrhundert die Ökonomie selbst dieser großen Polis nicht grundlegend verwandelt oder gar eine kapitalistische Wirtschaftsform hervorgebracht. Im Vergleich zu Athen stand allerdings die Wirtschaft von Florenz einem Kapitalismus in mancher Hinsicht näher. Dies kann hier in Bezug auf Handel und Bankgeschäfte nur ganz grob skizziert und zusammengefasst werden. Bereits im »langen 13. Jahrhundert« vollzog sich in Italien eine Revolution des Handels und des Pachtzinses.51 Bei den Händlern gab es eine Arbeitsteilung: Kaufleute mit festem Sitz in den italienischen Handelsstädten, die sich auf die Finanzierung und Organisation der Geschäfte spezialisierten, und daneben die Transportunternehmen zu Land und auf See sowie die Handelsagenten im Ausland. Neu war vor allem, dass Handelsunternehmen faktisch in Form von Aktiengesellschaften entstanden, die zumal in Florenz über langjährige Laufzeiten hin bestanden und deren Anteile übertragen werden konnten. Zusätzlich zum Grundkapital konnte später auch von Beschäftigten oder Außenstehenden weiteres Kapital zu festen Zinssätzen in die Firma eingebracht werden. Die großen florentinischen Handels- und Geldhäuser, wie etwa die Bardi, Peruzzi oder die Buonaccorsi waren so organisiert. Es waren nicht mehr reine Familienunternehmen; sogar die Geschäftsführer stammten zuweilen nicht mehr aus der Gründerfamilie. Die Kaufmannsfamilien selbst strebten nach Verbindung mit dem Adel und investierten ihre Gewinne teilweise auch in Landbesitz.52 In jedem Fall bildeten sie die Ober- und Regierungsschicht der Stadt und unterschieden sich damit auffällig von sozialen und politischen Außenseitern, die wie die Metöken in Athen größtenteils die Handels- und Geldgeschäfte betrieben,
50 Ein solcher Ausnahmefall ebd. S. 319, Text Nr. 123, A. 51 Vgl. dazu und zum Folgenden: Spufford 2004, S.14, zu Florenz bes. S.18ff. 52 Ebd. S.43 mit Verweis auf die Bardi, Medici und Fugger.
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ohne in der Regel überhaupt das Bürgerrecht zu besitzen und damit Grundbesitz erwerben zu können. Charakteristisch für die führenden Handelsgesellschaften in Florenz ist es, dass sie einerseits eng mit dem Produktionssektor verbunden waren, vor allem mit dem verlagsmäßig organisierten Textilgewerbe, und dass andererseits von denselben Firmen Fernhandel und Bankgeschäfte betrieben wurden.53 So entwickelten sich in allen drei Bereichen – in der Produktion, im Handel und im Geldgeschäft – gegenüber der Antike völlig neuartige Strukturen und Möglichkeiten: Im kaufmännischen Rechnungswesen entstand seit dem 13. Jahrhundert die doppelte Buchführung. Zur Abwicklung von Zahlungen vor allem im Handel mit den französischen Messen entwickelte man etwa in der gleichen Zeit den Wechsel und vergrößerte dadurch die für internationale Transaktionen verfügbare Geldmenge. Der Wechsel ersetzte zwar nicht völlig den Münz- und Geldtransport, schuf aber eine viel größere Flexibilität für Handel und Zahlungsverkehr. Im 14. Jahrhundert breitete sich, von den italienischen Handelszentren ausgehend, ein Netz internationaler Banken aus, und gleichzeitig entwickelte sich in diesen Städten ein regionales Bankwesen. So soll es in Florenz im frühen 14. Jahrhundert bereits 80 Banken gegeben haben.54 Geldüberweisungen wurden auch innerhalb einer Stadt zwischen Konten verschiedener Banken üblich. Aus Pisa und Florenz stammen die frühesten erhaltenen Schecks; selbst kleinere, alltägliche Ausgaben wurden damit bezahlt. Banken erlaubten Kontoüberziehungen (gelegentlich auch über die Gesamtsumme der Einlagen hinaus) und vermehrten auf diese Weise die Geldmenge. Große Bankrotte blieben danach nicht aus; am folgenreichsten war der Zusammenbruch der Bankhäuser Bardi und Peruzzi im Jahre 1345, nachdem die englische und neapolitanische Krone ihre Zahlungen eingestellt hatten.55 Die großen Banken waren mittlerweile auch stark in der Staatsfinanzierung engagiert. In den Stadtrepubliken benutzte man statt direkter Steuern zunehmend Zwangskredite, die wie Staatsanleihen gehandelt wurden. Daneben nahm auch der Umfang der Geschäftskredite von Banken zu, deren Zinssatz im frühen 14. Jahrhundert auf 7 Prozent gesunken war, nachdem dieser ein Jahrhundert zuvor noch bei 20 Prozent gelegen hatte.56 Auch dies eine Begleiterscheinung der neuen Formen von Kreditgeld, für die wiederum aus Athen keine Entsprechungen bekannt sind.
53 Zu diesen Zusammenhängen in Florenz, auch im Vergleich mit den anderen führenden Handelsstädten in Italien: Doren 1934, S. 457ff. 54 Auch zu den weiteren Details: Spufford 2004, S. 28ff. 55 Doren 1934, S. 391f. 56 Spufford 2004, S. 34f.
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Zwei Arten ökonomischer Modernisierung in der Vormoderne Aristophanes und Boccaccio wirken bis heute in vieler Hinsicht »modern«. Dafür spricht bereits, dass einerseits viele Stücke der Alten Komödie auch auf den modernen Bühnen noch präsent sind und dass andererseits das Decameron immer noch gern gelesen wird und Stoff für Verfilmungen bietet. Die Aktualität gerade dieser beiden Autoren mag auch darin ihren Grund haben, dass sie soziale Probleme zweier Städte behandeln, die das Maximum ökonomischer Modernisierung repräsentieren, das zu ihrer Zeit möglich war. Athen war im 5. Jahrhundert nicht nur politisch und kulturell führend, sondern besaß auch das größte ökonomische Potential und verfügte am meisten über Neuerungen in diesem Bereich: Die Geldwirtschaft war hier am weitesten entwickelt. Athen besaß selbst die ertragreichsten Silberminen in Griechenland. In dieser Stadt gewann die Agora zuerst eine zentrale wirtschaftliche Funktion als Markt. Und in diesem Umfeld entstand auch die erste und beinahe einzige ökonomische Literatur der Antike, nämlich ausgehend von der Sophistik bis hin zu Aristoteles. In Anbetracht dieser Erscheinungen ist es nicht erstaunlich, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Athen relativ »modern« wirken. Problematisch ist allerdings, dass diese vielfach auch heute noch – insofern nicht anders als vor einem Jahrhundert in der Bücher-Meyer Kontroverse57 – vor allem am modernen Kapitalismus gemessen werden, statt sie mit Wirtschaftsformen zu vergleichen, die den antiken Verhältnissen näher kommen. Florenz bietet einen passenderen Maßstab und zeigt andere Seiten wirtschaftlicher Modernisierung in der Vormoderne. Hier waren sowohl die Textilproduktion auf der Basis von Manufaktur und Verlag wie auch der internationale Handel und ein ausgedehntes Bankensystem bereits im frühen 14. Jahrhundert weit entwickelt und hatten neuartige ökonomische Strukturen und Institutionen hervorgebracht. Die drei Bereiche waren außerdem personell und finanziell eng miteinander verknüpft; die damit verbundenen Familien bildeten auch sozial und politisch die Führungsschicht. In all diesen Hinsichten zeigen sich also fundamentale Unterschiede gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft in Athen und wahrscheinlich – was hier nicht darzustellen war – in der Antike generell. Die in Florenz ausgebildeten Formen von Produktion, Handel und von Geld und Kredit lassen sich eher unter dem Begriff »Frühkapitalismus« zusammenfassen als im Falle Athens. Zum modernen Industriekapitalismus oder gar zum heutigen Finanzkapitalismus führt zwar von beiden Städten kein direkter und kontinuierlicher Weg. Aber die Stadt Boccaccios steht der modernen Wirtschaft zweifellos nicht nur zeitlich näher als die Heimatstadt von Aristophanes. 57 Dazu ein Überblick bei: Austin/Vidal-Naquet 1984, S. 3ff.
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Peter Spahn
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Sarah Walter
Florenz regieren, wie man Britannien verwaltet? Machiavellis Il Principe und Tacitus’ Agricola »We’re living in a Machiavellian world, whether we like it or we don’t.« Bob Dylan1
I Dass der »teacher of evil«, wie Leo Strauss Machiavelli 1958 bezeichnet hat,2 ein fleißiger Rezipient antiker Texte war und auch Tacitus zu den von ihm zitierten Autoren gehört, ist nicht neu und in der Forschung schon längst gut dokumentiert worden. Kenneth Schellhase etwa hat schon 1976 in seinem Standardwerk zur Rezeption des Tacitus in der Renaissance herausgearbeitet, wie Machiavelli Passagen aus den Historien und den Annalen in Il Principe verwendet. Giuseppe Toffanin attestierte den beiden Autoren so etwas wie geistige Verwandtschaft.3 Schellhase mahnte allerdings: »To deny the relationship [zwischen Tacitus und Machiavelli] would be rash; to admit it could be foolish«,4 und tatsächlich lag der Schwerpunkt der Rezeptionsforschung über Tacitus und Machiavelli nur auf einer als typisch humanistisch beurteilten Referenztätigkeit zwischen Autoren. Der »wirkliche« Zusammenhang zwischen Tacitus und Machiavelli aber sei nicht durch diese Rezeption erfolgt, sondern durch die gegen Ende des 16. Jahrhunderts hochschlagende Welle der »Tacitus-anstatt-Machiavelli-Nutzung« – von Giuseppe Toffanin 1921 als »Tacitismo«5 bezeichnet –, die durch das päpstliche Verbot des Il Principe von 1559 entstanden war. Stephan
1 Dylan 2001, S. 63. 2 Strauss 1958, S. 9, zur Diskussion, ob man Machiavelli wirklich so bezeichnen kann, siehe S. 9–11. 3 Toffanin 1921, S. 43, wobei die entsprechende Passage bei Toffanin mit Vorsicht betrachtet werden muss, schon Schellhase 1976, S. 83 hielt sie für »very unclear«. 4 Schellhase 1976, S. 68. 5 Dagegen etwa Momigliano 1962, S. 282 und von Stackelberg 1960.
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Schmal bezeichnet folgerichtig Tacitus als »Vehikel machiavellistischen Gedankengutes«.6 Doch wie stark ist die Verbindung zwischen Tacitus und Machiavelli und wie ist diese zu charakterisieren? In diesem Rahmen soll keine Analyse der gesamten Rezeption von Tacitus’ Werken bei Machiavelli versucht werden. Stattdessen soll allein der Agricola als »kleine« und erste Schrift des Tacitus auf Gemeinsamkeiten mit dem Fürsten des Machiavelli analysiert werden. Es erscheint jedoch nötig, schon von vornherein zuzugeben, dass die folgende Analyse des Agricola bezüglich der Anknüpfungspunkte zu Il Principe hochgradig spekulativ ist – aber auch nicht falsifizierbar, denn Machiavelli hatte theoretisch Zugang zu den ersten Drucklegungen des Agricola,7 er kannte Tacitus erwiesenermaßen und schätzte ihn auch. Hier soll also nicht der Frage nachgegangen werden, ob es weitere, von der Forschung noch unberücksichtigte oder indirekte Tacituszitate bei Machiavelli gibt, sondern es soll die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass zwei Autoren, die über 1000 Jahre (Ideen-)Geschichte voneinander trennen, für bestimmte Fragen doch zu gleichartigen Antworten gekommen sind, und welcher Nutzen für die Analyse beider Texte sich daraus ergeben kann.
II Betrachten wir also den Agricola und den machiavellischen Fürsten zusammen, springen mehrere Aspekte der Gemeinsamkeit ins Auge. In diesem Rahmen möchte ich drei Punkte betrachten, die auch für die Interpretation der beiden Autoren entscheidend sind: Erstens befinden sich Machiavelli und Tacitus bei der Abfassung ihrer hier untersuchten Werke in einer in vielen Aspekten vergleichbaren biographischen Situation (1). Zudem beschäftigt sie eine grundlegende Abwägung zwischen den politischen Systemen der Republik, die für beide in der Vergangenheit liegt, und der Monarchie bzw. des Principats, was die Gegenwart der beiden Autoren bestimmt (2). Darüber hinaus haben ihre beiden Schriften eine ähnliche Ausrichtung, da man beide als Handlungsanleitungen lesen kann – was im Fürsten bekannt und augenfällig ist und im Agricola einer Erklärung bedarf (3). 6 Schmal 2005, S. 178. 7 Die erste Drucklegung des Tacitus erfolgte 1472–1473 in Venedig durch Vindelin de Spira. Hier wurden allerdings nur Teile der Annalen und der Historien, die Germania und der Dialogus abgedruckt, die zweite Druckversion von 1476 oder 1477 aus Mailand von Francesco dal Pozzo (Puteolanus) ist die erste, in der auch der Agricola dazugekommen war. Zudem existierte auch ein zweiter Druck des Puteolanus von 1497 in Venedig. Siehe dazu auch Martin 2010.
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1.
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Die biographische Situation
Der Text des Tacitus »De vita et moribus Iulii Agricolae liber« wirft allein schon in seiner Form viele Fragen auf. Halb laudatio funebris, halb Biographie, manchmal als Enkomion verstanden, voller Exkurse und ohne den Regeln einer Literaturgattung zu entsprechen, brachte der Agricola eine lange Forschungsdebatte auf, die sich allerdings schon mit Ronald Syme beschließen ließe, der zur Gattungsfrage einwarf: »It is best left to be defined in its own terms«.8 Dazu besticht die Schrift aber auch durch eine subtile übergeordnete Botschaft an den Leser. In dem Bestreben, in seiner Schrift das Leben des Agricola, seines Schwiegervaters, zu schildern, bietet Tacitus verschiedene Interpretationen an. Tacitus, der selbst bereits unter Vespasian seine Ämterlaufbahn begann, die Herrschaft Domitians weitgehend unbehelligt überlebte und wohl unter Nerva oder unter Trajan die Abfassung des Agricola und der Germania begann, kannte Rom, die Provinzen und das politische System, das er schließlich auch in größeren Geschichtsentwürfen wie den Annalen und den Historien skizzierte, aus eigener Anschauung und sehr genau. Sprachlich war er in seinen Schriften in der Lage, sowohl präzise zu beschreiben als auch Zusammenhänge so zu verschleiern, dass seine Intentionen nur erahnt werden können. So wurde Agricola zunächst in der Alten Geschichte als Verteidigung des Agricola verstanden,9 später als eine Möglichkeit für Tacitus, sich von Domitian, den er in seiner Schrift sehr negativ darstellt, zu distanzieren und sich Trajan, dem neuen Kaiser, anzudienen.10 Vielleicht kann die Schrift aber auch mehr in den Gesamtkontext des taciteischen Werkes eingeordnet und als eine weitere pessimistische Kritik am römischen Kaiserreich (vielleicht auch an dessen Imperialismus) verstanden werden, die an der Folie des Agricola das Idealbild eines Römers diskutieren möchte. Wolfgang Kersting bezeichnet es in seiner Machiavelli-Biographie als ein Paradoxon, dass Machiavellis Schrift in ihrer Tendenz umstritten sei, obwohl der Fürst eine sowohl stilistische als auch inhaltliche Eindeutigkeit aufweise.11 Wie kann das sein? Machiavelli verfasste 1513 bereits nach seiner Karriere im Dienst der Republik Florenz und im unfreiwilligen Ruhestand eine Schrift mit guten Ratschlägen an einen neuen Fürsten, doch betrachtet er dabei nicht nur ethische Fragen dahingehend, wie ein Herrscher sich verhalten müsse. Bewusst und in direkter Ansprache an seinen Leser gibt Machiavelli zu, alles so beschreiben zu
8 9 10 11
Syme 1958, S. 125. Hoffmann 1870. Boissier 1903, Dorey 1969. Kersting 1988, S. 9.
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wollen, wie es sich tatsächlich verhalte12 – ein lange schon überfällig gewordener pragmatischer Ansatz aus der Sicht Machiavellis, die unmoralische Sichtweise des Antichristen aus der Sicht seiner Zeitgenossen.13 Abgesehen von der ideologischen Verwertung des Machiavelli von verschiedenen Seiten durch die Jahrhunderte und politischen Lager,14 ist er auch heute noch eine merklich umstrittene Figur, auf die Bezug zu nehmen Gefahren bergen kann. So wird eine Vorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, die der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hält, aktuell in einem Blog, der sich »Münkler-Watch« nennt und schon viel mediale Aufmerksamkeit erreicht hat, kommentiert und kritisiert. Einer der Kritikpunkte der anonymen Beobachter stellt Münklers Einschätzung und Nutzung der Texte Machiavellis dar. So taugt es als Vorwurf gegenüber dem Dozenten, ihm Sympathie gegenüber Machiavelli zuzutrauen, und als Kritik, dass Machiavelli großer Raum in der Einführung in die Ideengeschichte eingeräumt wurde.15 Auf der anderen Seite war es für Jonathan Powell, der unter Premierminister Tony Blair »Chief of Staff« in der Downing Street 10 war, kein Problem ein Buch mit dem Titel The New Machiavelli: How to wield Power in the Modern World über die Regierungszeit mit Blair zu verfassen,16 ohne dabei einen Skandal auszulösen. So sehr die Auseinandersetzung mit beiden Autoren und ihren Schriften sich also unterscheidet, so weisen sie doch auch große Gemeinsamkeiten auf: Tacitus schrieb seinen Agricola zwar nicht wie Machiavelli im politischen Exil, aber auch er wurde von der Erfahrung geprägt, wie es ist, wenn die politischen Verhältnisse das Denken und Handeln limitieren und bestimmen.17 Tacitus und Machiavelli teilen also eine Schreibsituation, in der sie sich in einer neuen Zeit wiederfinden, in der sie sich den neuen Machtverhältnissen anpassen müssen und sich, um die eigene Karriere zu erhalten bzw. neu voranzubringen, den neuen Mächtigen andienen müssen, wobei Tacitus nie einen »Karriereknick« erlitten hatte, wie ihn Machiavelli hinnehmen musste. Trotzdem möchte sich Tacitus offenbar auch den neuen Machthabern, nämlich zunächst Nerva und dann Trajan, empfehlen. Daraus entsteht die Frage nach den Adressaten, die beide für ihre Schriften vor 12 Machiavelli, Il Principe XV (S. 119). Im Folgenden nach der Ausgabe Niccolý Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, Italienisch/Deutsch, übers. und hrsg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986 zitiert. 13 Der erste Antimachiavellist war Kardinal Reginald Pole, der in seiner 1539 verfassten Apologia ad Carolum V Caesarum schrieb, Machiavelli sei ein »hostis humani generis« und seine Schrift sei »Satanae digito scriptum«, siehe dazu Auszüge des Textes von Pole als Abdruck bei Lutz 1961, S. 55 (15). 14 Siehe hierzu jüngst Kapust 2012. 15 Siehe dazu vor allem »Münkler-Watch Folge 2«: http://hu.blogsport.de/2015/04/22/muenk ler-watch-folge-2/, zuletzt abgerufen am 31. 05. 2015. 16 Powell 2010. 17 Tac. Agr. 2, 3–3, 2.
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Augen hatten. Tacitus stellt die Flavier in ein schlechtes Licht und skizziert ein kollektives Aufatmen beim Untergang dieser Dynastie. Nerva hingegen, der neue Kaiser, sei der, der die »unvereinbaren Dinge (res dissociabiles) – Alleinherrschaft und Freiheit (principatum ac libertatem) – zusammenbrachte (miscuerit)«.18 Zentral und schon in den Eingangspassagen des Agricola ersichtlich ist aber vor allem die Selbstvergewisserung als jemand, der auch unter den Repressalien des Domitians gelitten habe, auch um sein Leben gefürchtet habe, auch unterdrückt worden sei. Ganz anders Machiavelli. Auf den ersten Blick ist seine Schrift die opportunistischere, immerhin ist ihr eine Widmung vorangestellt, die sie dem »erlauchten Lorenzo de’ Medici« persönlich zueignet. Doch liest man die Widmung, bekommt man den Eindruck, dass Machiavelli hier nur einen wenig ambitionierten Versuch unternommen hat, tatsächlich als Opportunist zu wirken, denn weder ist die Widmung so devot verfasst, wie es Machiavellis Stellung aus Sicht Lorenzo de’ Medicis womöglich angemessen gewesen wäre – im Gegenteil, Machiavelli gibt sich belehrend und überlegen gegenüber dem Fürsten –, noch distanziert sie sich von früheren Machthabern oder preist etwa die Medici. Fasst man ihre Erfahrungen mit den politischen Systemen ihrer jeweiligen Zeit also zusammen, lässt sich sagen, dass keiner der Autoren politisch gesehen noch »naiv« war und beide zu viele negative Erlebnisse gemacht hatten, um das System, in dem sie lebten, zu loben oder dessen Vorzüge aufzählen zu wollen.
2.
Das ambivalente Verhältnis zu Republik und Monarchie/Principat
Was die beiden in dieser Situation ebenfalls verbindet, ist das Bedauern über den Verlust der Republik, den beide vor sich sehen. Für Machiavelli ist dies eine neue Entwicklung, die auch seine persönliche Stellung sehr stark zum Negativen verändert hat. Für Tacitus hingegen ist dies ein Zustand, der schon länger andauert als seine Lebensspanne, und eine Republik betrifft, die er selbst nie erlebt hat und die es vielleicht auch gar nicht gab. Das Konzept der Republik, das Machiavelli vor Augen zu haben scheint, beschreibt er ausführlich in den Discorsi zu Livius, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Das Spannungsfeld, in dem sich die Diskussionen über das tatsächliche machiavellische politische Ideal aber bewegen, wird durch zwei Pole bestimmt: Zum einen scheint es naheliegend anzunehmen, dass ein Autor, der eine »Anleitung zu einer Fürstenherrschaft« schreibt, genau dieser Art von Herrschaft, nämlich einer monarchischen, den Vorzug gibt. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise, die genau das Gegenteil vermuten lassen, etwa die Tatsache, dass viele der Rat18 Tac. Agr. 3, 1.
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schläge, die Machiavelli an einen Fürsten zu geben vermag, darauf hinauslaufen, dass dieser seine Untertanen wie Bürger behandeln solle. Es wird auch deutlich, wenn Machiavelli immer wieder die militärischen Anforderungen an »manpower« der Fürstenherrschaft anspricht. Dies ist ein Problem, das eine Republik nicht hat, weil sie ein Bürgerheer aufstellen kann. Der Fürst hingegen muss mit Söldnerheeren umgehen, die Machiavelli grundsätzlich für unzuverlässig und gefährlich hält.19 Schließlich hat Machiavelli die Erfahrungen, die er in Il Principe mit seinen Rezipienten teilt, in verschiedenen politischen Konstellationen gemacht, etwa in einer »echten« Republik, aber auch einer Republik, die eigentlich eine Ein-Mann-Herrschaft war ; zudem hatte er als Gesandter auch andere Gemeinwesen, etwa Monarchien, erlebt.20 Wenn die Essenz der machiavellischen Erfahrungen aber ist, dass Politik ein Geschäft ist, in dem sich ein jeder die Hände schmutzig macht, und in dem Ethik und politisches Handeln völlig entkoppelt zu sein scheinen, ist dies vermutlich eine systemunabhängige Beobachtung. Doch auch die Einstellung des Tacitus, die wir aus dem Agricola zur römischen Herrschaft ableiten können, ist Gegenstand differenzierter Diskussionen gewesen.21 Was teilt uns Tacitus also zu seiner Sichtweise auf das politische System, in dem er lebt und das er immer wieder auch in anderen Werken beschreibt, mit? Zum einen können wir im Agricola eine »Lobeshymne« auf die große Führungspersönlichkeit des historischen Agricola finden, von dem man vermuten könnte, dass er in Tacitus’ Augen der ideale Princeps hätte sein können. Er wird fast durchweg als positive Figur beschrieben, die, wie ich später noch zeigen möchte, alle wichtigen römischen Tugenden in sich vereinigt, wodurch er auch immer wieder in einen starken Kontrast zu Rom allgemein, aber auch zu Domitian als Princeps im Besonderen gesetzt wird.22 Weiterhin nutzt Tacitus aber auch jede andere Gelegenheit, um Domitian zu diskreditieren und seine Herrschaft zu kritisieren. So wirft er dem Princeps sogar vor, Agricola vergiftet zu haben.23 Doch damit nicht genug: Er hält Domitian auch vor, dass er 19 Siehe dazu auch Benner 2013, S. 313–314. Zum Söldnerheer siehe Machiavelli, Il Principe XII. 20 So war Machiavelli als Sonderbotschafter etwa am Hof des französischen Königs Ludwig XII. und am kaiserlichen Hof bei Maximilian I. 21 Die Forschungsmeinung, dass sich aus dem Agricola eine politische Intention ableiten ließe, ist weit verbreitet, siehe Syme 1958 Bd. I, der im Agricola eine Streitschrift für Trajan sieht (S. 125); Beck 1998, S. 69–71, der Agricola zudem als Abrechnung mit der Tyrannei des Domitians versteht und Sailor (2012), der beides, Abrechnung und Preisung im Agricola als »work of its moment« der Post-Domitian-Ära sieht (S. 26). 22 Typisch hierfür ist etwa die Situation nach der gewonnen Schlacht am Mons Graupius. Agricola meldet seinen überragenden Sieg laut Tacitus bescheiden und zurückhaltend nach Rom, doch trotzdem, so stellt es Tacitus dar, war Domitian der Situation, dass »eines Privatmanns Name über den des Fürsten gestellt würde (privati hominis nomen supra principem adtolli)«, nicht gewachsen (Tac. Agr. 39, 2). 23 Tac. Agr. 43, 2.
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gerade gegen Ende seiner Herrschaft »das Gemeinwesen zugrunderichtete (rem publicam exhausit)«.24 Sollte Tacitus also tatsächlich nur an der Personalie Domitian Anstoß nehmen, aber mit einer Figur wie Agricola oder Nerva, dem Tacitus ebenfalls gute, ja alles entscheidende Eigenschaften zugesteht,25 zufrieden sein, wäre dann seine Kritik am Römischen Reich im Agricola nicht als Kritik am System zu werten? Auf der anderen Seite geht Tacitus sehr wohl zur Kritik am politischen System an sich über : Indem er Domitian kritisiert, charakterisiert er auch das gesamte System des Principats. Dass der schlimmste Verbrecher an seiner Spitze stehen kann, ist nicht nur ein unglücklicher Zufall, sondern zeigt, dass ein System, das solche Fehler produziert, verfehlt sein muss. Zum anderen konstruiert er auch Agricola letztendlich als Systemfehler. Wenn Agricola der beste Mann ist, wieso ist er dann nicht der erste Mann? Wie kann es ein, dass so jemand in all seiner Bescheidenheit nicht Princeps wird? Tacitus stellt auch die noch viel fatalere Frage: Ist der beste Mann etwa derjenige, der gar nicht Princeps werden will? Tacitus beschreibt keine Ambitionen des Agricola, während offensichtlich von ihm gar nichts anderes erwartet wird, als dass er irgendwann wohl selbst danach streben werde, der erste Mann zu sein. Das befürchtet jedenfalls Domitian, etwa, wenn er selbst reflektiert, dass es eine »kaiserliche Eigenschaft« sei, ein »tüchtiger Feldherr zu sein« (ducis boni imperatoriam virtutem esse).26 Das sah man auch anderswo, wie Tacitus zu bedenken gibt: Doch Agricola benutze die Gunst der Umstände nicht zum Prahlen und nannte es nicht Feldzug oder Sieg, Besiegte gezügelt zu haben; nicht einmal mit lorbeergeschmücktem Briefe berichtete er seine Taten. Aber gerade durch Verhehlung des Ruhmes mehrte er den Ruhm, da man vermuten durfte, mit welcher Hoffnung auf die Zukunft er so Großes verschwieg (sed ipsa dissimulatione famae famam auxit, aestimantibus quanta futuri spe tam magna tacuisset).27
Die Beschäftigung mit der Republik hingegen kann schon aufgrund der thematischen Beschränkung des Agricola auf die Eroberung Britanniens und auf Agricolas Leben keine große Rolle spielen, doch hat Tacitus an anderer Stelle gezeigt, dass er nicht nur dem Principat, sondern auch der Republik gegenüber kritisch ist.28 Am Ende bleibt auch die taciteische Position zum Principat ambivalent, sowie auch die des Machiavelli zur Fürstenherrschaft und zur Republik. 24 25 26 27 28
Tac. Agr. 44, 5. Tac. Agr. 3, 1. Tac. Agr. 39, 2. Tac. Agr. 18, 6. Paradigmatisch etwa Tac. Hist. 2, 38.
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Ein Handbuch?
Machiavellis Il Principe, ein Handbuch für den Fürsten – ja, natürlich, was sonst? Quentin Skinner betonte, dass das Verfassen handbuchartiger Schriften gerade in der Renaissance sehr typisch war und geradezu paradigmatisch für die Auseinandersetzung der Humanisten mit ihrer politischen Umwelt. Aber mehr noch: Machiavelli habe das gesamte Genre des Handbuches revolutioniert.29 Erica Benner hat jüngst allerdings auch darauf hingewiesen, dass Machiavellis Werk ein untypisches Handbuch sei, da Machiavelli die schon seit der Antike geltende Tradition auflöse, einer individuellen Führungspersönlichkeit Ratschläge zu geben, wie diese in Abgrenzung zu einem Tyrannen herrschen solle, sondern den Erfolg der Herrschaft anders definiert.30 Aber ist auch Tacitus’ Agricola eine Art Handlungsanweisung für Statthalter oder für den idealen Römer? Zunächst liegt im Agricola offen zutage, wer der Protagonist des taciteischen Werkes ist und dass Tacitus wenigstens in seinem Schwiegervater Agricola eine Idealversion des Römers und besonders des römischen Feldherrn sieht. So verwendet Tacitus im Agricola das Wort virtus 25 mal, davon sieben mit Blick auf Agricola. Während sich die anderen Erwähnungen aber einmal auf die Tapferkeit der Römer,31 ein anderes Mal auf die Tapferkeit der Britannier32 und Gallier33 oder ganz allgemein auf positives Verhalten, Institutionen oder Eigenschaften beziehen, bildet die Figur des Agricola doch das eindeutigste Anschauungsmaterial für das, was Tacitus als tugendhaftes Verhalten im Sinne von virtus begreift.34 Zudem wird virtus allgemein als Bezeichnung für die »Vorzüge« und die »Verdienste« und »Leistungen« des Agricola verwendet.35 Eine zentrale Bedeutung kommt dem Begriff zu, wenn Tacitus ein Fazit zum Leben des Agricola fällt und zu dem Schluss kommt: Die wahren Güter (vera bona), die in den männlichen Tugenden (virtutibus) liegen, hatte er ja vollständig erlangt.36
Die Eigenschaften, die mit Agricola in Verbindung gebracht werden, sind zudem passgenau die Kardinaltugenden, die Cicero aus der griechischen Philosophie 29 30 31 32 33 34
Skinner 1978, S. 116–118 und Skinner 1981, S. 39. Benner 2013, S. XXX. Tac. Agr. 27, 1. Tac. Agr. 15, 4. Tac. Agr. 11, 4. Agricola handele etwa mit virtus, wenn er »durch männlichen Gehorsam (virtute) und durch Zurückhaltung im Selbstruhm dem Neide fern und doch nicht fern dem Ruhme« bleibt (Tac. Agr. 8, 3.). Siehe zur taciteischen virtus auch Feger 1948, Earl 1967 und Mittelstadt 1995. 35 Tac. Agr. 9, 4; 41, 4, 46, 1 und 40, 3. 36 Tac. Agr. 44, 3.
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abgeleitet hat und die für Cicero erst zusammengenommen virtus ergeben:37 Weisheit (prudentia/sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Selbstbeherrschung (modestia/temperantia).38 Und tatsächlich ist Agricola all das, was virtus in diesem Sinne ausmacht: In der Rechtsprechung agiert Agricola gerecht und weise.39 In der Ernennung von Centurionen oder der Beförderung von Soldaten,40 in seiner Verwaltung der Provinz41 und in seinem Umgang mit dem Kaiser42 kann er ebenfalls durch seine Weisheit glänzen, und in den Kämpfen, die die Römer unter seiner Führung bestreiten, sorgt er dafür, dass sich die Römer tapfer schlagen, so etwa in der finalen Schlacht am Mons Graupius.43 Agricola selbst verfügt zudem über die Gabe der Selbstbeherrschung, etwa in seiner Art und Weise zu trauern44 oder indem er den Ruhm, den er erwirbt und der ihm zusteht, nicht einfordert, sondern sich zurückhält, um den Kaiser nicht zu überstrahlen.45 Die kurze Übersicht zeigt, dass die Beschreibung des Agricola als virtusTräger also nicht nur über die eindeutige wortwörtliche Bezeichnung mit dem Terminus virtus erfolgt, sondern auch darüber, dass Agricola sogar das philosophische Konzept der Tugend auszufüllen scheint. Wenn also die Figur, die den Protagonisten eines Werkes darstellt, in so schillernden Farben dargestellt ist, kann vermutet werden, dass hier ein Vorbild für virtus und damit für eines der zentralen Attribute eines idealen Herrschers oder auch nur Statthalters oder Römers ganz allgemein vorgeführt wird. Haben wir es also auch bei Tacitus mit einem Handbuch zu tun? Erica Benner unterscheidet zwischen Handbüchern mit direkten Handlungsanweisungen und solchen mit indirekten. Senecas De clementia etwa sei ein Beispiel für ein direktes Handbuch, Xenophons Kyrupädie hingegen für ein indirektes.46 Wie kann 37 Dies wird zumeist darauf zurückgeführt, dass Cicero in De officiis direkt auf das eingeht, was er selbst gerade als politische Realität mit Caesar und Marcus Antonius erlebte. Die Tugend musste deshalb von ihm ganz eindeutig so definiert werden, dass sie an den oben genannten Wertekanon gebunden ist, dass also virtus immer an iustitia, sapientia und modestia gekoppelt sein musste. Daraus entsteht die Trennung von fortitudo und virtus, die bei Cicero in ihrer Bedeutung als »Tapferkeit« nicht synonym gebraucht werden. Siehe dazu auch LefÀvre 2001, S. 11. 38 Cic. off. 1, 19–26. 39 Tac. Agr. 9, 2. 40 Tac. Agr. 19, 2. 41 Tac. Agr. 22, 2. 42 Tac. Agr. 39, 1. 43 Tac. Agr. 35–38. 44 So nimmt er die Trauer über den Verlust seines einzigen Sohnes mit Beherrschung hin und trägt sie weder »in eitlem Stolz« (ambitiose) noch »wie ein Weib« (muliebriter) (Tac. Agr. 29, 1). 45 Tac. Agr. 40, 3. 46 Benner 2013, S. XXIX–XXX.
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der Agricola hier eingepasst werden und taugt er als Handbuch? Vielleicht, und dafür können vier Gründe ins Feld geführt werden: 1. Der Text formuliert Fragen bzw. schwierige Situationen und hält Antworten bzw. Lösungen dafür bereit, wie gleich noch zu zeigen sein wird. 2. Sein Publikum, auch wenn es schwer zu bestimmen ist, scheint die Senatselite, vielleicht sogar der Princeps selbst zu sein, mithin ein Publikum, für das ein Handbuch überhaupt sinnvoll wäre. 3. Als drittes Argument kann Tacitus’ Stil genannt werden. Wie schon oben bemerkt, ist er als subtil zu bezeichnen, doch gerade seine Hinweise auf das ideale Verhalten eines Staatsmannes sind häufig genug eindeutig formuliert. Die Bestimmung des Agricola als virtus-Träger etwa sollte jedem gebildeten Römer schon aufgrund seiner Wortwahl deutlich geworden sein und auf Cicero zurückweisen. 4. Das letzte Argument kann vielleicht die schon angesprochene Form des Agricola liefern. Am Anfang und am Ende seiner Schrift weist Tacitus nämlich noch einmal darauf hin, was er durch den Agricola eigentlich erreichen wollte: »Clarorum virorum facta moresque posteris tradere.«47 Im Speziellen: die Anregung dazu geben, dass man Agricola nachahme (»similitudine colamus«). Der Ruhm seiner Taten solle bestehen bleiben und unvergessen sein, vor allem aber solle er in diesemWerk weiterleben (»superstes erit«).48 Nichts anderes, als zur Nachahmung aufbereiten und ewig gleiche Zusammenhänge schildern, will aber ein Handbuch.49 Auffällig ist, dass Machiavelli einen ähnlichen Rezipientenkreis vor Augen hat, dass auch er rein stilistisch seinen Stoff handbuchartig aufbereitet und dass auch für ihn der Gedanke einer genuin männlich konnotierten Tugend im Sinne von Tatkraft, Tüchtigkeit und Tapferkeit zentral ist, um die Handlungsanweisungen, die in seiner Schrift gegeben werden, einzuordnen. Doch anders als etwa bei Cicero oder Tacitus kann die machiavellische virtffl mehr ausdrücken als nur die guten Eigenschaften einer Herrscherfigur. Bei Machiavelli kann der Begriff vielmehr von der »Tugend« als übergeordneter Wortbedeutung abgekoppelt werden und bezeichnet allgemeiner die persönlichen Qualitäten eines Herrschers. Dadurch kann ein extremer Unterschied zwischen dem bestehen, was Machiavelli unter virtffl versteht und was Cicero und Tacitus unter virtus verstanden. Doch ähnlich wie bei Tacitus ist auch bei Machiavelli das virtffl-Konzept zentral für die Kernaussage des Il Principe. Quentin Skinner konstatierte, dass 47 Tac. Agr. 1, 1. 48 Tac. Agr. 46, 4. 49 Zu Agricola als Werk, das »instructs the readers« und als ein »model of prudence that allows individuals to navigate the active life in imperial politics« siehe auch Kapust 2011, S. 134 und S. 26.
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der Grundkonflikt, den der machiavellische Fürst in sich trägt, in seinem völlig neuen Tugendbegriff läge.50 Harvey C. Mansfield brachte diese Veränderungen auf den Nenner : Machiavelli was […] present at the origin of a revolution in morality, which can be defined loosely in our terms as a change from virtue protected by religion to selfinterest justified by secularism.51
Wie zeigt sich also virtffl im Il Principe und wer ist virtffl-Träger? Tatsächlich gebraucht Machiavelli den virtffl-Begriff nicht exklusiv nur auf eine Person bezogen, sondern wendet ihn auf historische Beispiele wie etwa den biblischen David, Alexander den Großen, Lykurg oder Caesar ebenso an wie auf Zeitgenossen wie Gonzalo de Cûrdoba, Francesco Sforza oder Cesare Borgia. Antike Vorbilder sind hierbei deutlich häufiger anzutreffen als zeitgenössische,52 wobei es keine Beschränkungen darin gibt, welche politische Position die Akteure eingenommen haben. So sind unter den Genannten Tyrannen zu entdecken (etwa Oliverotto Euffreducci) wie religiöse Führer (beispielsweise Moses), Feldherren (unter anderem Coriolanus), Republikaner (etwa Cato der Jüngere und der Ältere) oder auch Könige (beispielsweise Philipp von Makedonien) und römische Kaiser (Septimius Severus). Dabei gilt Cesare Borgia jedoch als der ideale Fürst, wie sich etwa darin zeigt, dass Machiavelli angibt, »einem neuen Fürsten keine besseren Lehren« geben zu können »als das Beispiel seiner [Cesare Borgias] Taten«.53 Cesare Borgia sei es gewesen, der »all das tat, was ein kluger und tüchtiger Mann (uno prudente e virtuoso uomo) tun musste«.54 Zu diesem Lob kommt Machiavelli in Kapitel sieben »Von neuen Fürstenherrschaften, die man mit fremden Waffen und durch Glück erwirbt«. Hier stellt er den für ihn wichtigen Zusammenhang von virtffl und fortuna her.55 Cesare Borgia und Francesco Sforza hätten den Kampf mit fortuna aufgenommen. Dass etwa Borgia scheiterte, lag nicht an der Beschaffenheit seiner virtffl, sondern an »una estraordinaria estrema malignit di fortuna«.56 Hier ist die virtffl also nicht an ein bestimmtes moralisches Verhalten 50 Skinner 1981, S. 39. 51 Mansfield 1996, S. 7–8. 52 Wood 1966, S. 161 hat ein vollständiges Kompendium dazu aufgestellt und zählt 55 namentlich genannte Personen, wovon lediglich 6 Zeitgenossen Machiavellis sind. 53 Machiavelli, Il Principe VII (S. 51). 54 Machiavelli, Il Principe VII (S. 51). 55 Machiavelli, Il Principe VII (S. 49): »Sie alle stützen sich lediglich auf das Wohlwollen und das Glück derer, die ihnen zur Herrschaft verholfen haben, mithin auf zwei sehr wechselhafte und unbeständige Dinge; auch sie haben weder die Fähigkeit noch die Macht, ihren Rang zu behaupten. Sie haben nicht die Fähigkeit, denn es ist unvorstellbar, daß einer, der immer als Privatmann gelebt hat, zu herrschen verstünde, es sei denn, er wäre von großer Begabung und Tüchtigkeit (grande ingegno e virtffl) […]«. 56 Machiavelli, Il Principe VII (S. 51).
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geknüpft, sondern entspricht eher Tatkraft und einem Gespür für die richtige Gelegenheit. Machiavelli geht auf seine Vorstellung von Tugend auch in mehreren weiteren Kapiteln von Il Principe ein, so etwa im Kapitel 15 »Von den Eigenschaften, derentwegen die Menschen und besonders die Fürsten gelobt oder getadelt werden«. Dieses Kapitel enthält einen der zentralen Sätze für das Tugendverständnis Machiavellis und er gibt unumwunden zu, dass er nicht in einem utopischen Raum argumentiere, sondern bewusst die Realität, wie er sie kennengelernt habe, wiedergibt: Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut (non buono) zu sein, und diese anzuwenden oder nicht anzuwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit (secondo la necessit).57
Machiavelli begründet dies zunächst damit, dass ein Fürst, der nur tugendhaft handeln würde, seine Herrschaft nicht behaupten könne, da ja sein Umfeld trotzdem noch schlecht wäre und er diesem Umfeld nur zum Opfer fallen könne. Was macht Borgia also zum Vorbild und was tat er tatsächlich? Sein Verhalten, wie Machiavelli es selbst beschreibt, war vor allem durch Gewalt und Skrupellosigkeit geprägt.58 Doch er erfährt folgendes Urteil von Machiavelli: Wenn ich nun alle Taten des Herzogs zusammenfasse, so wüßte ich ihm keinen Tadel auszusprechen […]. Konnte er doch bei seiner hohen Gesinnung und seinen weitreichenden Absichten (l’animo grande e la sua intenzione) gar nicht anders handeln.59
Schließlich ist virtffl für Machiavelli etwas, das mit »Tugendhaftigkeit« nicht deckungsgleich sein muss. In der berühmten machiavellischen Frage, ob denn ein Fürst nun geliebt oder gefürchtet sein muss, gibt er ebenfalls zu bedenken, dass es nicht darauf ankäme, vermeintlich tugendhaftes Verhalten wie etwa Milde zum Selbstzweck einzusetzen, sondern darauf, die Vorstellung und die Erwartungen der Beherrschten zu modifizieren, denn wer etwa stets grausam behandelt wurde, empfände die Milde eines Herrschers schon bei wenigen Zeichen von Gnade.60 So schafft Machiavelli einen neuen Tugend-Begriff der Moderne, wie ihn Mansfield bezeichnete.61 Auf der Grundlage dieser zentralen, aber in beiden Werken auf den ersten 57 Machiavelli, Il Principe XV (S. 119). 58 Er mordet (etwa den Statthalter der Romagna), intrigiert (etwa gegen die Collona und Orsini) und plant Bestechungen (etwa der römischen Edelleute und des Kardinalskollegiums), was Machiavelli als »Vier-Punkte-Plan« des Cesare Borgia skizziert. 59 Machiavelli, Il Principe VII (S. 63). 60 Machiavelli, Il Principe XVII (S. 127–135). Ähnliches findet man auch in Machiavellis Erörterung der Frage, ob ein Fürst immer sein Wort halten müsse. Hier legt er den Schwerpunkt aber noch mehr auf die Empfehlung, unbedingt tugendhaft im allgemeingültigen Sinne zu erscheinen, es aber nicht tatsächlich unter allen Umständen zu sein. 61 Mansfield 1996, S. 8.
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Blick fundamental unterschiedlich wirkenden Bestimmungen von »Tugend« bei einem Staatsmann kommen Tacitus und Machiavelli jedoch zu ähnlichen Handlungsanweisungen hinsichtlich des im Agricola zentralen Feldes der Statthalterschaft, was nur erstaunen kann und die Frage aufwirft, ob sich die Tugendvorstellungen beider Autoren nicht doch ähnlicher sind, als das Ergebnis der Untersuchung der beiden Werke getrennt voneinander ergeben hätte. Ein Beispiel dafür ist, dass Machiavelli und Tacitus beide deutlich machen, dass ein Staatsmann, der eine »Fürstenherrschaft« neu in Besitz nimmt, in Agricolas Fall: eine Provinz zur Verwaltung übernimmt, zunächst einige Regeln befolgen sollte. So gilt zunächst die Maxime, dass »Waffen nicht viel erreiche[n], wenn ihnen Ungerechtigkeit folge«.62 Cesare Borgia dient erneut als gutes Beispiel, denn auch dieser habe erkannt, dass die Art und Weise, wie etwa das Herzogtum Romagna beherrscht werde, »eher Grund zur Uneinigkeit als zur Einigkeit« sei, deshalb habe Borgia es für nötig erachtet, ihm »eine gute Regierung zu geben, um es zu innerem Frieden […] zurückzuführen«.63 Beide Autoren geben den Hinweis, dass Besitzstandswahrung der Bevölkerung von enormer Wichtigkeit sei. Tacitus gibt das mit Blick auf Steuern zu bedenken, die seiner Meinung nach weder übermäßig hoch sein noch erhöht werden dürfen.64 Machiavelli begründet dies mit der aus seiner Sicht extrem hohen Bedeutung des Eigentumsrechts: »vor allem aber muß er das Eigentum anderer achten; denn die Menschen vergessen schneller den Tod des Vaters als den Verlust ihres Erbes«.65 Auch drängt er ebenfalls dazu, auf keinen Fall die Abgabenhöhe zu verändern, an die die Bevölkerung bereits gewöhnt ist.66 Zudem sei Geschick bei der Wahl der eigenen Magistrate von entscheidender Bedeutung, wie beide Autoren betonen.67 Die Talentierten und die Hervorragenden sollten etwa gefördert werden, wobei dieser Ratschlag auch pragmatisch zu verstehen ist, da Tacitus im gleichen Atemzug davor warnt, dass korrupte Beamte, die nicht talentiert und womöglich nicht handverlesen seien, die oben zitierte Ungerechtigkeit erzeugen könnten.68 Zu diesem Schluss kommt auch Machiavelli, denn auch er rät dazu, die Bevölkerung vor der Ausplünderung durch die eigenen Beamten zu schützen, um den Frieden zu bewahren, da auch er erkennt, dass die Korruption der Beamten einer stabilen Herrschaft abträglich ist.69 Doch werden auch an die Herrscherfigur bzw. den Statthalter persönlich hohe 62 63 64 65 66 67 68 69
Tac. Agr. 19, 1. Machiavelli, Il Principe VII (S. 56–57). Tac. Agr. 19, 4. Machiavelli, Il Principe XVII (S. 131). Machiavelli, Il Principe III (S. 15). Machiavelli, Il Principe XXI (S. 179) und XXII (S. 181), Tac. Agr. 19, 2. Tac. Agr. 19, 2. Machiavelli, Il Principe III (S.17) und VII (S. 56–57).
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Anforderungen gesetzt: Dieser soll etwa durch persönliche Präsenz auffallen. Am Beispiel eines Vorgängers des Agricola, Suetonius Paulinus, schildert Tacitus, wie wichtig es sei, stets im eigenen Herrschaftsbereich anwesend zu sein. Paulinus hingegen gab bei dem Versuch, die Insel Mona zu erobern, »damit seinen Rücken dem Feinde preis«.70 Laut Machiavelli sei die Anwesenheit eines Herrschers selbst besonders deshalb wichtig, da man in diesem Fall auf spontan auftretende Unruhen sofort reagieren könne.71 Vor allem aber könne man der Bevölkerung durch den Zugang zum Herrscher bei seiner Anwesenheit einen Grund geben »ihn zu lieben, wenn sie gutwillig sind, und ihn zu fürchten, wenn sie anderen Sinnes sind.«72 Die Furcht der Bevölkerung vor dem Herrscher stetig aufrechtzuerhalten, ist also für beide Autoren eine wichtige Handlungsanleitung. Auf die schon erwähnte machiavellische Frage, ob es denn besser sei, geliebt oder gehasst zu werden, weiß auch Tacitus eine Antwort. Wieder verdeutlicht er diese an einem der Vorgänger des Agricola, Vettius Bolanus. Bolanus habe, weil im Römischen Reich außerhalb Britanniens Krieg wütete, die Zügel in Britannien schleifen lassen und sei den Britanniern gegenüber durch Untätigkeit aufgefallen. Bolanus habe sich also, so fasst es Tacitus zusammen, »harmlos (innocens) und nicht durch Verbrechen verhaßt gemacht, Zuneigung an Stelle von Autorität errungen (caritatem paraverat loco auctoritatis)«,73 was Tacitus kritisiert. In engem Zusammenhang dazu empfehlen beide Autoren ein fein austariertes Maß an Strenge und Milde. Tacitus tut das gleich an mehreren Stellen in seinem Werk. So schreibt er Agricola dieses rechte Maß etwa in seiner Rechtsprechung zu, denn dieser sei »streng, freilich öfter auch barmherzig (severus et saepius misericors)«,74 auch in der Behandlung seiner Soldaten.75 Machiavelli versucht dies zunächst an Cesare Borgia zu beschreiben. Dieser habe es geschafft, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und doch gefürchtet zu sein, sich unter den Soldaten Gehorsam und Achtung (seguire e reverire) zu verschaffen […], zugleich streng und freundlich, edelmütig und freigebig zu sein (essere severo e grato, magnanimo e liberale).76 70 Tac. Agr. 14, 3–15, 1. Es kann kein Zufall sein, dass Tacitus betont, dass Agricola selbst die Insel Mona als seine erste Amtshandlung stürmen ließ, womit er deutlich macht, dass Agricola solche Fehler nicht beging (Tac. Agr. 18, 3–5). 71 Machiavelli, Il Principe III (S. 17). Vgl. auch die »Alternativen«, die Machiavelli für diese Verhaltensweise aufzeigt: Er könne entweder die Bevölkerung vollständig vernichten oder das Volk unter eigenen Gesetzen und unter Abgaben fortbestehen lassen, wobei die Regierung aus vom Fürsten ausgesuchten Bürgern bestehen müsse. 72 Machiavelli, Il Principe III (S. 17). 73 Tac. Agr. 16, 5. 74 Tac. Agr. 9, 3, ähnlich, auch auf die Rechtsprechung bezogen, in 19, 2. 75 Tac. Agr. 22, 4. 76 Machiavelli. Il Principe VII (S. 63).
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Gleichzeitig solle ein Fürst jedoch vorsichtig sein, nicht zu viel Gebrauch von der Milde zu machen, da erst Grausamkeit »Einigkeit und Ergebenheit (uniti e in fede)« schaffe.77 Er müsse also stets darauf bedacht sein, Furcht zu schüren, aber nie so viel, dass er gehasst werde.78 Deshalb fordert Machiavelli auch den strategischen Einsatz von Grausamkeit. Dabei gibt er der Gewalt den Vorzug, die exemplarisch oder kurzfristig wirkt, warnt aber vor der haltlosen und dauerhaften Gewalt, weil auch sie zu Hass führe.79 Auch hier lobt Tacitus an Agricola eine ähnliche strategische Überlegung. So habe Agricola damit angefangen, in allen Jahreszeiten Krieg zu führen, was die Britannier überrascht und daran gehindert habe, sich nach jeder Schlacht und jedem Scharmützel wieder zu erholen und neu aufzustellen. Agricolas »Nadelstichstrategie« ziele außerdem auf ein dauerhaftes Pendeln zwischen Krieg und Frieden und damit ebenso auf »Zuckerbrot und Peitsche«: unterdessen ließ er dem Feind keine Ruhe, sondern schädigte ihn durch plötzliche Überfälle; hatte er aber genug Schrecken verbreitet (satis terruerat), zeigte er auch wieder durch Schonung die Reize des Friedens (invitamenta pacis).80
Doch gehe es nicht allein um Furcht und Schrecken: Beide Autoren halten es für wichtig, dass sich der Staatsmann auch den Respekt der Bevölkerung sichern könne. Machiavelli drückt dies so aus: Nichts verhilft einem Fürsten zu so hohem Ansehen wie große Unternehmungen und außergewöhnliche Beweise seiner Tatkraft.81
Dass Agricola gleich zu Beginn seiner Statthalterschaft alle durch sein Vorgehen gegen die Bewohner der Insel Mona überraschte, wurde oben schon erwähnt. Doch zeigte er damit nicht nur seine Präsenz in Britannien, er zeigte auch, dass er »Mühen und Gefahren (labor et periculum)«82 nicht scheute, und unternahm etwas, dass vor ihm noch keiner geschafft hatte. Dafür wurde er dann auch folgerichtig als »berühmt und groß geachtet (clarus ac magnus)«.83 Worin beide Autoren allerdings die größte Übereinstimmung finden, ist der Stellenwert der militärischen Befähigung eines Staatsmannes. Während Machiavelli betont, dass »der Fürst […] persönlich auftreten und die Stelle des Heerführers einnehmen« müsse, erhebt Tacitus, durch den Mund Domitians, die Kriegskunst zur imperatoria virtus: »ein tüchtiger Feldherr zu sein […] sei eine 77 78 79 80
Machiavelli, Il Principe XVII (S. 127–129). Machiavelli, Il Principe XVII (S. 131). Machiavelli, Il Principe XVII (S. 73) und XVII (S. 129). Tac. Agr. 20, 2. Auch hier findet sich eine Gemeinsamkeit zu Machiavelli, der ausdrücklich dazu rät, niemals »in Friedenszeiten müßig« zu sein, XIV (S. 117). 81 Machiavelli, Il Principe XXI (S. 173). 82 Tac. Agr. 18, 5. 83 Tac. Agr. 18, 5.
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kaiserliche Eigenschaft«.84 Immer wieder betont Machiavelli, dass ein Herrscher sich vor allem für Kriegskunst interessieren sollte;85 Tacitus’ Agricola interessiert sich in seiner Jugend zwar auch für die Philosophie, wird von seiner Mutter jedoch dazu gedrängt, sich nur noch auf seine militärischen Fertigkeiten zu konzentrieren.86 Wer jedoch keine militärischen Fertigkeiten besäße, sei zur Schande verdammt, wie Machiavelli unumwunden zugibt.87 Auch Tacitus macht dies durch eine Anekdote deutlich: Als Domitian von dem Sieg des Agricola am Mons Graupius hörte, wurde er an seine eigene klägliche Leistung in seinem Germanienfeldzug erinnert, die nur zum Gespött getaugt habe (derisui fuisse).88 Doch auch andere militärische Eigenschaften fordern beide Autoren von einem Herrscher oder Staatsmann ein, so etwa Disziplin, Fitness und Ortskenntnis bzw. ein gutes Raumverständnis.89
III Tacitus und Machiavelli weisen also nicht nur Gemeinsamkeiten auf, die etwa ihre Ausgangslage bei der Abfassung ihrer hier diskutierten Werke betreffen, sondern kommen auch dann zu ähnlichen Schlüssen und Handlungsanweisungen, wenn sie von völlig verschieden wirkenden Grundlagen, besonders was ihr Verständnis von Tugend angeht, ausgehen. Doch welche neue Perspektive eröffnet sich dadurch für die Lektüre des Agricola und des Il Principe? Für den Fürsten wird vor allem die revolutionäre Ummünzung des Tugend-Begriffes deutlich, der sich, gerade in Abgrenzung zum antiken, durch Cicero vorgedachten virtus-Konzept, besonders deutlich herausstellt. Bei der Tacitus-Interpretation auf der Suche nach Gemeinsamkeiten mit Machiavelli wurde aber auch deutlich, dass Tacitus ein regelrecht pragmatisches Verständnis von Herrschaft hat, zumindest in den Provinzen, mit denen sich der Agricola ja im Kern beschäftigt, das mit dem des Machiavelli in Detailfragen, aber auch in wichtigen Grundzügen übereinstimmt. Wenn Machiavelli aber als der Begründer des pragmatischen Politikverständnisses gilt, kann das dann auch für Tacitus geltend gemacht werden? Peter Burke attestiert ihm einen »taste for realism«, den er ebenfalls bei Machiavelli entdeckte, bezog diese Erkenntnis allerdings nicht speziell auf den Agricola und reduzierte den taciteischen Realismus auf einen
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Tac. Agr. 39, 2. Zum Beispiel Machiavelli, Il Principe XIV (S. 113). Tac. Agr. 7. Machiavelli, Il Principe XIV (S. 113 und S. 115). Tac. Agr. 39, 1. Tac. Agr. 22, 1 und 20, 1; Machiavelli, Il Principe XIV (S. 115).
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»particular style« bzw. eine Methode.90 Die Analyse der Schrift verrät aber mehr : Es sind nicht nur eine biographische Situation, eine ähnliche politische Grundeinstellung und der pragmatische Stil der Analyse ihres Materials, die die beiden Autoren verbinden, es sind, auf das von ihnen im Agricola und im Fürsten untersuchte Problem von Herrschaft bezogen, auch ähnliche Antworten auf ähnliche Fragen. Die Erzählung über den eigenen Schwiegervater kommt zwar viel »harmloser« daher, als sie es wirklich ist, gerade deshalb, weil an den Agricola häufig nur die Frage nach dem Genre, der Authentizität der Britannienbeschreibungen und dem Verhältnis von Agricola zu Domitian gestellt wird. Tatsächlich sind die indirekten Handlungsanweisungen des Tacitus, die er durch das Lob an Agricola gibt, aber oft ähnlich, immer aber genauso pragmatisch wie die des umstrittenen Machiavelli. Vielleicht hat Machiavelli Tacitus gelesen, vielleicht auch nicht – wir können es nicht beweisen und auch nicht ausschließen –, deutlich ist am Ende dieses Experimentes aber geworden: Er hätte ihn lesen sollen, denn Tacitus hätte Machiavelli viel zu sagen gehabt. Und Tacitus lebte offensichtlich in einer machiavellischen Welt, ob er es wollte oder nicht.
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90 Burke 1969, S. 166. Mellor 1995, S. XXI bleibt vager und spricht nur davon, dass »Machiavelli’s basic link with Tacitus was his essential pragmatism«.
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Durch Stahlgewitter auf die Marmorklippen – Ernst Jüngers Aneignung des Thukydides
Ernst Jünger ist einer der eigenwilligsten Zeugen des 20. Jahrhunderts. Werk und Denken dieses Autors sind dem steten Wandel unterworfen, und doch reflektieren sie die Ereignisse der jeweiligen Epoche damit häufig aufs Genaueste. Insofern gehört er zu den Autoren, die man nicht unbedingt gerne lesen muß – und tatsächlich wird dieser Dienst teils schwer –, um sie dennoch als eine gewinnträchtige Lektüre zu betrachten. Hier sollen weder die manchmal unappetitlichen politischen Vorstellungen Jüngers noch seine schillernde Vita diskutiert,1 sondern ein bislang unterrepräsentiertes Kapitel innerhalb der längst erkannten Antikerezeption2 des Schriftstellers behandelt werden: sein Verhältnis zum athenischen Historiker Thukydides, der bis heute als der Begründer der politischen Geschichtsschreibung sowie der wissenschaftlichen historischen Methodik gilt. Dessen Werk über die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, der im mindesten die griechische Welt des ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr. in Unordnung und Verderben stürzte, ist zudem die erste explizite Kriegsgeschichte, die sich auf dieses Thema beschränkt, und darüber hinaus durch die Zeiten die ultimative antike Kriegserzählung geblieben. Insofern läge es nahe zu vermuten, daß Jünger in seinen literarischen Anfängen eine derartig wahrgenommene Instanz gekannt, verwendet oder auch nur deren Einfluß erfahren hat. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, daß Thukydides zumindest in Auszügen zum Lehrstoff am Gymnasium zählte und somit immerhin mittelbaren Einfluß auf den Schüler Jünger gehabt haben könnte.3 1 S. als biographische Annäherungen Kiesel 2007 oder Noack 1998, einleitend Amos 2011. 2 Am umfänglichsten in dem insgesamt mißglückten Buch von Rink 2001, dessen eigenartig bekenntnishafter Tonfall jeglicher subtileren Interpretation bereits im Ansatz abträglich ist, wie an vielen Beispielen zu zeigen ist, siehe dazu auch Ehling 2003 und Wilczek 2002. 3 Die Nachrichten über den schlechten und unglücklichen Schüler Jünger schließen nicht aus, daß bereits in seiner Schulzeit (in der er etwa früh auf eigene Initiative Flavius Josephus gelesen haben soll), insbesondere in seiner kurzen Gymnasialzeit, ein derartiger Kontakt stattgefunden hat, im Gegenteil sogar wahrscheinlich ist; s. Kiesel 2007, S. 41–43, zur Schulkarriere und der parallel verschlungenen Menge an Literatur auch antiker Autoren; innerhalb ihres eigenwilligen Ansatzes listet Rink 2001 im ersten Kapitel die Antikenbezüge
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Eine Notiz Jüngers in seinen Reisetagebüchern weist hingegen in eine andere Richtung: Hier erfahren wir von einer angeblichen Präferenz des Autors für Herodot, der näher am Mythos sei als der mit generalstabsmäßiger, modernerer Distanz auf die Sache blickende Thukydides.4 Auch manche andere Stelle weist auf eine grundsätzliche Hochschätzung des pater historiae, nicht zuletzt die selbst erzählte Episode, daß der Mobilmachungsbefehl im Jahr 1939 einen im Herodot lesenden Jünger erreicht haben soll.5 Aus derartigen Erklärungen Jüngers ist, deren inhaltliche Wahrheit voraussetzend, abgeleitet worden, wie sich der Autor zu Thukydides positioniert habe: Er habe sich aufgrund seiner eigenen Affinität zum Mythos, zum Transzendentalen, zum Elementaren mit Thukydides nicht eingehend beschäftigt.6 Hier soll ein Indizienbeweis angetreten werden, daß ein derartiges Bild nicht aufrechtzuerhalten ist. Insbesondere soll dabei die eigene Interpretation Jüngers im Mittelpunkt stehen, die er seinem Erstling In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers als nachträglich verfaßtes Vorwort voranstellte. Wie nachhaltig (oder immerhin selektiv intensiv) offenbar die Kenntnis des thukydideischen Werks bei Jünger war, erhellt an einem Beispiel aus der Erzählung Auf den Marmorklippen, die im Jahr 1939 veröffentlicht wurde und sich mit Auswirkungen totalitärer Regime auseinandersetzt, teils gar als Werk des Widerstands verstanden wird.7 Somit wird anhand zweier berühmter Bücher Jüngers, die den Zeitraum von 1920 bis 1939 einrahmen, die direkte Verarbeitung, ja Aneignung thukydideischer Gedanken und Konstruktionen gezeigt und reflektiert.
1.
In Stahlgewittern
1920 erscheint das Werk, das Ernst Jünger zu einer Berühmtheit machen sollte.8 Die in eine literarische Form gebrachten Kriegstagebücher eines Unteroffiziers treffen den Nerv einer Zeit, die sich wie trotzig mit der Verarbeitung des soeben Geschehenen auseinandersetzt, und dies in vielen verschiedenen Facetten. In Stahlgewittern präsentiert die ungeschminkte Froschperspektive des Krieges,
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und -kenntnisse Jüngers auf und bescheinigt ihm »ein sehr unmittelbares Verhältnis zur Antike« (16); zu Thukydides im gymnasialen Curriculum in Preußen Schelske 2015, S. 78f. Jünger, Reisetagebücher, S. 377: »Thukydides, der erste Historiker in unserem Sinne, hat Weg und Bewegung von Heeren mit einer Schärfe beschrieben, daß man sie wie auf Generalstabskarten liest. In solcher Sicht verlieren die mythischen Figuren ihre Kraft.« Jünger selbst berichtet davon: Strahlungen I, S. 68. Rink 2001, S. 213; Ehling 2003, S. 118. Noack 1998, S. 143f. Die Rezeption fand zunächst jedoch nicht in den literarischen Organen statt, sondern primär in militärisch orientierten Publikationen, s. Kiesel 2007, S. 207.
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den Graben, den Bombentrichter, den Gasangriff, den Blutrausch, den Kampf gegen Mensch und Maschine. In der rabiaten Lakonik und der schonungslosen (oder zumindest als schonungslos konstruierten) Wahrnehmung Jüngers liegt ein besonderer Gestaltungswillen, der die Unmittelbarkeit, die Bedrohung und die Ausweglosigkeit der Situation in eindringlicher und fast überrollender Weise evoziert. Hier finden sich wenige Reflexionen und Konstruktionen, die sich als Dialog mit der Antike oder gar als Transformation lesen ließen, hier erhält das Geschehnis einen Eigenwert, der nicht aus einer wie auch immer kanonisierten Tradition schöpfen muß, um zu existieren – fast verbietet sich eine solche Anknüpfung gar, ist doch das Ereignis von einer Unvergleichbarkeit, die das Ringen um und mit Vorbildern nahezu als Relativierung erscheinen ließe.9 Doch sind die Vorworte des Autors von einer anderen Textur, und sie sind es, die im Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen sollen. Insbesondere im Vorwort zur Erstauflage greift Jünger aus seiner Sicht entscheidende Faktoren seiner Erlebnisse und Erzählung auf, um sie zu ordnen, wie um sie zu erlösen aus dem Gewirr seiner situativen Kraftprosa.10 Seine Intention darzulegen wie auch den unanfechtbaren Wert seiner Arbeit sind die Motive dieses hochinteressanten Einblicks in die Jüngersche Nachkriegswelt mitsamt ihrem Bemühen, das Erlebte zu greifen, zu be- und verarbeiten, ihm einen Sinn zu geben, einen spezifischen Sinn, der sich aus dem Lesen des Werks allein nicht zwingend einstellen konnte. Dort überwiegt das Bild der »Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete«.11 Im Vorwort jedoch weht ein anderer Atem: Hier »wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns«, »der gewaltigste der Kriege« hatte einen »Geist«, den zu ergründen sich lohne. Und die Soldaten, die Frontkämpfer, waren »bewundernswert«, Helden, die »mit der ihnen Lebensform gewordenen Rücksichtslosigkeit in tollen Nächten die Becher schwangen, bis ihnen die Welt versank«.12 Wenn dann gar von einer eigentümlichen »Romantik« des Krieges und der Erinnerung an die »herrlichste Armee, die je Waffen trug« die Rede ist,13 ist die Frage nach thukydideischen Spuren in einem derartigen Kondensat nicht unbedingt einleuchtend. Denn der analytisch kühle, scheinbar teilnahmslose Blick, den Thukydides den Ereignissen seiner Zeit, also
9 Zu Homer-Anklängen Rink 2001, S. 63ff. (angebliche Stilisierung Jüngers als Achill); zur möglichen Orientierung an De bello Gallico Kiesel 2007, S. 174f. 10 Dempewolf 1992, S. 35: »Am deutlichsten läßt sich die Autorenintention sicherlich anhand der – allesamt Anfang/-Mitte der dreißiger Jahre gestrichenen – Vorworte belegen.« 11 Jünger, Stahlgewitter, S. 18; zu Jüngers ästhetischer Verarbeitung dieser Eindrücke s. Bohrer 1978, S. 138–159; zur psychologischen Lesart als Ausdruck einer borderline-Persönlichkeit Weilnböck 2004. 12 Jünger, Stahlgewitter, S.18f. 13 Ebd. und 21.
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dem 5. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland, schenkt,14 will sich nicht zu einer derart hitzigen Prosa mit Sendungsbewußtsein gesellen. Und doch existiert eine Parallelität, die im Ganzen gesehen erstaunlich ist. Dabei soll hier das besagte erste Vorwort zu In Stahlgewittern drei berühmten Passagen bei Thukydides gegenübergestellt werden, nämlich dem Prooimion im ersten Kapitel des ersten Buches, dem sog. Methodenkapitel (1,20–23) sowie der Gefallenenrede des Perikles in Buch 2 des Werks (2,35–46). Um nicht jede mögliche und verschlungene Anspielung vorzustellen, möchte ich mich dabei auf wenige größere Topoi beschränken, die in Jüngers Vorwort Niederschlag finden: – die Größe des Krieges – das Ziel des Werks und sein Nutzen – das methodische Vorgehen – den Zusammenhang von Krieg und Idee.
Die Größe des Kriegs Wiederholt betont Jünger die Größe des Krieges, den er überlebt hat. Er hebt bereits mit diesem Motiv an: Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn ganz überblicken…,
um dann drei Seiten später die Erinnerung zu beschwören an den gewaltigsten Kampf, der je gefochten wurde.15
Die Argumentation, das eigene kriegerische Sujet zum größten seiner Art zu erklären, folgt dabei einem Pfad, der zunächst von Thukydides beschritten worden war. Auch dessen Erzählung beginnt mit der eindeutigen Klassifizierung seines, des Peloponnesischen Krieges, als »bedeutend und denkwürdiger als alle früheren«. Dieser Konflikt wird gar als die »gewaltigste Erschütterung« (j_mgsir lec_stg) für die gesamte Menschheit bezeichnet.16 Thukydides bedeutet dieses Moment offenbar sehr viel, denn er geht zum Ende seiner als Einleitung dienenden ersten 23 Kapitel wiederum auf die nun dargelegte Größe des Krieges ein, der sich für ihn im übrigen vornehmlich durch die Dimension der Leiden und der Katastrophe als groß auszeichnete. Daß Jünger diese Vorstellung von Größe und Besonderheit teilte, ist hier noch nicht 14 Zur auch emotionalen Dimension des thukydideischen Werkes s. etwa Stahl 1966 oder Connor 1984. 15 Jünger, Stahlgewitter, S. 18 u. 21. 16 Thuk. 1,1.
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auszumachen, jedoch ist die Konstruktion seines Vorworts fast parallel zu der thukydideischen Einleitung zu nennen. Auch die Faktoren, die im einzelnen zur Bedeutung des Ereignisses beitragen, lesen sich bei beiden Schriftstellern ähnlich: Insbesondere die Betonung der Materie, der Machtmittel,17 die die Konfliktparteien in die Waagschale zu werfen hatten, ist ein Indikator für die Neuartigkeit und die Verdichtung beider Konflikte: Jünger (Stahlgewitter, S. 18): Eins hebt sich indeß immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht… Thuk. 1,1: Das erschloß er daraus, daß beide auf der vollen Höhe ihrer Machtmittel (aufs höchste gerüstet: !jl\fomt]r te ×sam 1r aqt¹m !lv|teqoi paqasjeu0 t0 p\s,) in den Kampf eintraten…
Das Ziel des Werks und sein Nutzen Doch wozu muß ein Krieg groß sein? Neben dem grundsätzlich nachvollziehbaren Bemühen eines Autors, seinen Gegenstand als möglichst bedeutsam herauszustreichen, scheint bei Jünger ein Motiv auf, das sehr ähnlich bereits von Thukydides als Erklärung seines eigenen Movens zur Verfassung seines Werks angeführt worden war. Das Bedürfnis nach Schilderung des Erlebten und vermeintlich Erkannten rührt aus der Vorstellung, damit etwas Bereicherndes, ja sogar Nützliches zu schaffen. Thuk. 1,22,4: Man mag das Werk »für nützlich (¡v]kila) halten, und das soll mir genug sein: zum dauernden Besitz (jt/l\ 1r aQe¸), nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören ist es aufgeschrieben.
Bei Jünger heißt es – nach Ausführungen über die aufgewandte Mühe, s. u. – knapper : (Stahlgewitter, S. 20): Es hat sich gelohnt.
Beiden Autoren eignet dabei die Vorstellung, die Wiedergabe des Krieges sei von einer wichtigen Bedeutung für diejenigen, die sich lesend erneut mit dem soeben Vergangenen beschäftigen wollen und daraus Erkenntnisse zu ziehen hoffen. Die Überzeugung oder Behauptung, der beschriebene Krieg sei der größte, den es bislang gegeben habe, trägt in besonderem Maße dazu bei, auch den Wert der aus der Lektüre zu gewinnenden Einsicht hoch zu veranschlagen. 17 Siehe nun Rusten 2015, zur besonderen Bedeutung der Rüstungen und des Materials bei Thukydides.
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Das methodische Vorgehen Ein weiterer Befund betrifft Jüngers Beharren auf der Art seines literarischen Vorgehens. Keinesfalls will er sich dabei der Verklärung, der Ästhetisierung, der Idealisierung hingeben. Statt dessen hebt er wiederholt die Sachlichkeit seiner Schilderung als Zweck wie auch Wert des Buches hervor.18 Jünger (Stahlgewitter, S. 20): Der Zweck des Buches ist, dem Leser sachlich zu schildern, was ein Infanterist als Schütze und Führer während des großen Krieges (…) erlebt, und was er sich dabei gedacht hat. (…) Der Grad der Sachlichkeit eines solchen Buches ist der Maßstab seines inneren Wertes.
Um dies zu erreichen, reflektiert er explizit über mögliche Entstellungen von Erinnerungen, die zu umgehen er sich durch die unmittelbare Anfertigung von Kriegstagebüchern instand gesetzt hatte. Wie parallel sich auch diese Einlassungen zu den Erläuterungen des Thukydides über die Verläßlichkeit von Erinnerungen und Zeugenaussagen und den Wert von in weiser Voraussicht von Beginn des großen Ereignisses an angefertigten Niederschriften lesen,19 ist erstaunlich – insbesondere, wenn bei beiden Autoren dieser methodische Exkurs in eine Formulierung mündet, in der aus meiner Sicht die gemeinsame Konstruktion kulminiert: Jünger (Stahlgewitter, S. 20): Es erforderte Energie, diesen Stapel von Notizbüchern zu füllen (…), indes es hat sich gelohnt.
Die gleiche Idee der lohnenden Mühe bei Thukydides: Thuk. 1,22,3f.: Mühsam (1pip|myr) war diese Forschung (…), wer aber das Gewesene klar erkennen will (…), der mag sie für nützlich halten, und das soll mir genug sein.
Natürlich bestehen auch beide Autoren darauf, durch den Anspruch auf Wahrheit und Klarheit zur Geltung zu kommen und nicht durch den Verlaß auf alles, »was die Hörlust lockt«, wie es bei Thukydides heißt (1,21,1): Jünger legt nach eigenen Worten »keine Helden-Kollektion vor«, sondern die Beschreibung, »wie es war.«20 Dies gilt umso mehr, als Jünger ganz wie Thukydides Augenzeuge und Teilnehmer des für ihn gewaltigen Ereignisses war, und ganz wie der Athener flicht Jünger in sein Vorwort ein eigenes knappes Methodenkapitel ein, 18 Es handelt sich dabei nur einerseits um ein typisches »Sachlichkeitspostulat der beginnenden zwanziger Jahre«, so Kiesel 2007, S. 228f. (ähnlich S. 177f.); dies gilt bei Verengung der Perspektive auf die direkte Umwelt Jüngers, nicht aber, wenn der kulturelle Bezugsrahmen auf die Antike mitgedacht ist, der ja im gleichen Vorwort explizit durch das HeraklitZitat (s. Anm. 27) oder die mögliche Anspielung auf Epikurs »Überwindung der Furcht« vorgeführt wird. 19 Thuk. 1,20–22. 20 Jünger, Stahlgewitter, S. 20.
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um auszudrücken, daß er sich der Gelegenheit wie auch der Risiken der Zeitzeugenschaft bewußt ist, und um – wie Thukydides – zu verdeutlichen, daß sein Bericht bei aller Reflexion eine besondere Authentizität genießt.
Krieg und Idee Zuletzt möchte ich zeigen, daß sogar die Vorstellung Jüngers von der Überwindung der Leiden und des Opfers als Ausdruck einer größeren Idee aus Thukydides entnommen sein kann. Der Referenzpunkt für diese Bezugnahme ist der Epitaphios, die berühmte Leichenrede des Perikles in Buch 2 der Geschichte des Peloponnesischen Krieges, in der der athenische Stratege die im Kriege Gefallenen als wertvolle Glieder eines größeren Ganzen, des idealisierten Athen, darstellt. Thuk. 2,43,2f.: Denn gemeinsam gaben sie ihre Leiber hin und empfingen dafür jeder den nicht alternden Lobpreis und ein weithin leuchtendes Grab, nicht das, worin sie liegen, meine ich, sondern daß ihr Ruhm bei jedem sich gebenden Anlaß zu Rede oder Tat unvergessen nachlebt. Denn hervorragender Männer Grab ist jedes Land: nicht nur die Aufschrift auf einer Tafel zeugt in der Heimat von ihnen, auch in der Fremde wohnt, geistig, nicht stofflich, in jedermann ungeschriebenes Gedächtnis.
Bei Jünger klingt das Enkomion wie folgt: (Stahlgewitter, S. 21): Ob ihr gefallen seid auf freiem Felde, das arme, vom Blut und Schmutz entstellte Gesicht dem Feinde zu, überrascht in dunklen Höhlen oder versunken im Schlamm endloser Ebenen, einsame, kreuzlose Schläfer : das ist mir Evangelium. Ihr seid nicht umsonst gefallen. (…) Kameraden, Euer Wert ist unvergänglich, Euer Denkmal tief in den Herzen eurer Brüder..
Es kann natürlich durchaus allgemein eingewurzelte Blut- und Bodenrhetorik sein, die uns hier vornehmlich begegnet, in der direkten textlichen Nachbarschaft zu den anderen gezeigten Parallelen jedoch ist die Ähnlichkeit der Ausdrücke und der Gedankenführung durchaus offensichtlich;21 was darüber hin21 Von Hagen 1915 als Beleg für die intensive Auseinandersetzung mit dem Epitaphios im 1. Weltkrieg und dessen »zeitgemäße Deutung« als Beschwörung des Opfers; auch eine von Otto Crusius herausgegebene Textsammlung in der »Feldpostbücherei« mit dem Titel »Mannhaftigkeit und Bürgersinn. Stimmen der Alten« von 1915 stellt den Epitaphios in eine ausgewählte Reihe von Zitaten, die Wert des Opfers und den Tod für Idee und Vaterland idealisieren (dort wird interessanterweise ebenfalls die Übersetzung »in jedermanns Herzen« [lebe das ungeschriebene Gedächtnis] verwendet, die der Jüngerschen Formulierung noch weit stärker ähnelt); Perikles’ Rede war selbst im Schulunterricht in dieser Deutung präsent, s. Wegener 2007, S. 150f. mit einem Beispiel für die NS-Zeit; Näf 1986 zeigt das Motiv der Hingabe an die Polis bis in den Tod als ein längst überkommenes Motiv in der Wahrnehmung des perikleischen Athen, etwa für Schlegel (20) oder Wilamowitz (57).
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aus für eine Verarbeitung spricht, ist der Umstand, daß Jünger den gleichen kompositorischen Mechanismus bemüht wie vor ihm Thukydides. Denn dem beschworenen Ideal steht das reale Versagen in der Drucksituation gegenüber : Da, wo ein Mensch die beinah göttliche Stufe der Vollkommenheit erreicht, die selbstlose Hingabe an ein Ideal bis zum Opfertode, findet sich ein anderer, der dem kaum Erkalteten gierig die Taschen durchwühlt. Von großen Worten Berauschte brechen im Moment der Gefahr elend zusammen.22
Diese Logik erinnert, wohl nicht von ungefähr, an die Seuchenbeschreibung des Thukydides (2,47–54), die direkt nach der idealisierenden Leichenrede exakt dieses zeigt: von großen Worten Berauschte, die im Moment der Gefahr elend zusammenbrechen.23 Anhand der deutlich gewordenen Befolgung gleicher Parameter24 wirkt Jüngers Bemühen geradezu wie ein Beleg des Übertreffenwollens einer großen Instanz, wie die Beweisführung zugunsten eines eigentlich noch größeren Gegenstands, also des grundsätzlich Vergleichbaren und dabei nun erst auf das Wesentliche Konzentrierten: Entscheidend wird die Perspektivumkehr, denn das Große, das Besondere, das Umwälzende ist eben nicht die politische Geschichte, die Betrachtung der Ereignisse vom Kartentisch aus o. ä.,25 nein, das Große des Krieges liegt in seiner spezifischen Schrecklichkeit, die dem involvierten Individuum Leistungen und märtyrerhafte Leiden auferlegt, die zu erbringen bzw. zu tragen allen auferlegt war – doch nur wenige vermochten aus Jüngers Sicht den wahren Wert, den echten Wesenskern der Probe zu erkennen, die er als Testfall menschlicher Größe versteht. Insofern stilisiert sich Ernst Jünger zum Anti-Thukydides, der sich an dessen Maßstäben regelrecht abarbeitet, um diese hinter sich zu lassen und eine neue, gültige Form der Kriegserzählung zu schaffen. Diese tritt mit einem ähnlichen Anspruch an wie die von Thukydides formulierte Maxime, einen Besitz für alle Zeit zu schaffen, der einem nützlichen Zwecke diene, da er künftigen Generationen klare Einblicke und somit die Chance zu lernen einräume. Jünger verwirft diesen Gedanken implizit, da es auf die systemisch-politischen Lehren des Atheners aus seiner Sicht nicht ankommt – vielmehr solle die Größe, das Besondere der Situation erkannt werden, um zu verstehen, worin sich menschliche Größe überhaupt äußere und wie sie sich im schärfsten Extrem auspräge. Dieses, hier repräsentiert durch den Krieg, ermögliche »eine Auslese der Tüchtigsten«, zumal sich in einer derartigen 22 Jünger, Stahlgewitter, S. 20f. (s. sehr ähnlich Thuk. 2,53,1). 23 Siehe zu dieser thukydideischen Konstruktion grundlegend Flashar 1969; in anderer Lesart Balot 2015. 24 Weitere, eher konzeptionelle Parallelen können in der Vorstellung gesehen werden, im Krieg enthülle sich die menschliche Natur (dazu Verboven 2003, etwa S. 146). 25 Siehe Anm. 4.
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Drucksituation die tatsächliche Wesensanlage von Menschen erkennen lasse, die Scheidung zwischen Gut und Böse. Darin liegt für Jünger das Wesentliche des Kriegs, das Erzählenswerte, das, was er in seinem Vorwort zu einer englischen Ausgabe (1929) der Stahlgewitter eine »Schule des Herzens«, »an incomparable schooling of the heart« nennt26 – sicher ein anderes Verständnis des Krieges als eines Lehrmeisters als das des Thukydides, der ihn berühmtermaßen als b_aior did\sjakor, als gewalttätigen Lehrer, bezeichnet (3,82,2). Als Ausdruck der »höheren Bewegung« deutet Jünger den Krieg in seinem Essay Der Kampf als inneres Erlebnis von 1922,27 und auch in diesem Zusammenhang wäre es reichlich eigenartig, sollte sich der Autor damit nicht auf die lec_stg j_mgsir beziehen, die Thukydides als die Konsequenz seines Kriegs wahrgenommen hatte (1,1,2). Nicht zuletzt läßt Jünger in seine Antwort auf Thukydides – so möchte ich dieses ursprüngliche Vorwort etwas zugespitzt verstehen – den berühmten Heraklit-Satz einfließen, der fast lapidar im Raum steht und in seiner Unvermitteltheit reichlich kontextlos wirkt: Der Krieg ist der Vater aller Dinge.28
Hier sollen Aussagen getroffen werden, die ebenfalls einen immerwährenden Besitz schaffen, eine gültige Interpretation des Themas Krieg, die den antiken kompetitiv an die Seite tritt. Das t¹ sav³r sjope?m, also das Erkennen des Klaren, das Thukydides seinen Lesern anempfiehlt (1,22,4), erweitert Jünger, indem er allein die Definition des Relevanten nicht vom Athener übernimmt, sondern seine eigenen Einsichten vorstellt, dies jedoch orientiert an den Vorgaben, die für die Behandlung des Themas seit Thukydides imperativ scheinen bzw. hier wie gültige Richtlinien behandelt werden. Insofern ist In Stahlgewittern im Sinne des Verfassers eine Reaktion, ein Dialog mit der und eine Antwort auf die Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Daß dies für einen selbstbewußten Autor nichts als folgerichtig ist, erhellt aus der besonderen Autorität, die das thukydideische Werk in gebildeten Kreisen genoß – welche große Kriegserzählung hätte Jünger sonst übertreffen sollen, um die Einmaligkeit seiner erlebten Wahrnehmung zu belegen? Interessanterweise verlieren sich die Spuren dieser Auseinandersetzung mit den antiken Vorlagen mit den Jahren und den neuen Auflagen neu eingeschriebenen Vorworten, wie in der aktuellen, 2013 erschienenen kritischen Neuausgabe von Helmuth Kiesel anschaulich zu verfolgen ist. 1922 folgt auf die 26 Stahlgewitter II, S. 531; die Idee des Kriegs als großer Schule auch in Jünger, Kampf als inneres Erlebnis, S. 73, dort auch S. 12: »Er hat uns erzogen…«. 27 Jünger, Kampf als inneres Erlebnis, S. 103. 28 Herakl. 22 DK 53: P|kelor p\mtym l³m pat^q 1sti; bei Jünger Stahlgewitter, S. 21.
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breite Einleitung und Interpretationshilfe der Erstauflage ein gedrängtes, fast bekenntnishaftes Stück, das die Diskrepanz von Frontrealität und der die Menschen beseelenden Idee zum bestimmenden Sujet des Jüngerschen Kriegserlebnisses stempelt, ein Aspekt, der im ersten Vorwort auftaucht, jedoch nicht derartige Prominenz genießt. Allerdings scheint hier erneut der Geist der perikleischen Leichenrede durch, zumindest in Jüngerscher, die Opferbereitschaft stilisierender Lesart.29 Im Folgenden aber, etwa im Vorwort zur 5. Auflage,30 erschließen sich weniger und weniger Parallelen, Einflüsse oder auch nur Spuren der bisher dargelegten Auseinandersetzung. Wie das zu erklären ist, bleibt sicher Spekulation; ich würde davon ausgehen, Jünger bemühte sich hier um Justierung, teils um milde gewandelte Interpretationen seines eigenen Werks, das im Urtext durch eine gewaltige Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Insbesondere die Umdeutung im Sinne einer Hoffnung auf eine neue, die gewandelten Zeiten beherrschende Kriegerkaste31 scheint so gar nicht zu dem zu passen, das Jünger zunächst in den Vordergrund seiner rückwärtsgewandten Erzählung gestellt hatte. So sind die sich inhaltlich ändernden Vorworte womöglich der interessanteste Schlüssel zur Erörterung, wie das Werk ursprünglich angelegt war und wie sich dagegen die Intention des Verfassers mit jeder Neuauflage um Nuancen verschiebt.32 In jedem Fall aber war Ernst Jünger ein Erfolgsautor. Angesichts der Verkaufszahlen des Werks und der wiederholten Auflagen (bis zum Jahr 1943 wurden 230.000 Bände in 25 Auflagen verlegt33) wie auch der öffentlichen Beachtung wäre es nicht verwunderlich, wenn sich Jünger selbst an die neuen Gegebenheiten angepaßt hätte. Sein besonderes Selbstbewußtsein, in Tagebüchern und Briefen gern zur Schau gestellt, dürfte dazu beigetragen haben, seinen erfolgreichen Erstling als Buch der Stunde zu nutzen, anstatt sich in intellektuellen Spielereien mit großen Vorbildern und Referenzen zu ergehen. Vielmehr kam es nun darauf an, daß der Prophet Jünger richtig verstanden würde, und diesem Ziel scheinen mir die späteren Vorworte zuzuarbeiten. Ob dies immer der politischen Opportunität oder auch dem Sendungsbewußtsein des Autors zuzuschreiben ist, mag hier dahinstehen. 29 Z.B. Jünger, Stahlgewitter, S. 22: »wie wir das Leben geringer achten konnten als unsere Idee« (nicht fern von der perikleischen Formulierung »das Gedächtnis mehr ihrer Gesinnung als ihrer Leistung«, so in der Deutung von 2,43,3 des in Anm. 21 erwähnten Bändchens für die Frontsoldaten). 30 Jünger, Stahlgewitter, S. 23f. 31 Ebd., bes. S. 24; zu ähnlichen Entwürfen Jüngers in parallelen Schriften (etwa Das Wäldchen) s. Kiesel 2007, S. 254. 32 Dazu etwa Kiesel 2007, S. 212–229. 33 S. Kiesels Aufschlüsselung in Stahlgewitter, Bd. II, S. 445–452, der allerdings zurecht auf die vergleichsweise geringen Absatzzahlen im Vergleich mit Remarques Im Westen nichts Neues hinweist.
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Nachdem also Ernst Jünger seine Positionierung im Dialog mit dem größten antiken Kriegsautor vorgenommen hatte und seinen Anti-Thukydides der gebildeten Welt vorgestellt hatte, ist der konkrete Antikebezug nicht mehr von sonderlichem Wert für den nach und nach zum Star aufgestiegenen Autor. Dennoch sollte ihn offenbar die Thukydides-Erfahrung oder -beschäftigung auch in den nächsten 20 Jahren nicht loslassen, und dies in diametralem Widerspruch zu dem, was in der spärlichen Literatur zu dem Thema als Gewißheit angenommen wird.34 Dies sei anhand einer Passage aus einem späteren Werk nun gezeigt.
2.
Auf den Marmorklippen
Innerhalb seiner Erzählung Auf den Marmorklippen von 1939 (ursprünglich: Auf den Marmor-Klippen) geriert sich Jünger als Chronist einer fiktiven Revolution gegen die Terrorherrschaft des »Oberförster« genannten Anführers einer brutalen Bande. In einer häufig bemüht wirkenden, den Untergang, den Kampf, die Gewalt, die grausame Vernichtung in beklemmendem Maße ästhetisierenden Sprache35 beschreibt Jünger den letzten Kampf einer sterbenden Zivilisation gegen das blutige Vordringen der Kräfte des Oberförsters. Bis heute ist hochumstritten, wie dieses Werk gemeint ist, welcher Natur die Auseinandersetzung mit dem totalitären Gewaltstaat letztlich ist, welche Konsequenz daraus gezogen wird.36 Die möglichen Parallelen zu Jüngers Leben, bis hin zur möglichst genauen Identifikation der literarisch stilisierten und im Buch als Schauplatz dienenden Orte,37 sind eine Beschäftigung für all jene geblieben, die der Person und dem Autor Ernst Jünger möglichst genau in die Karten schauen wollen und über diesen hermeneutischen Zugang einige Anhaltspunkte auf mögliche Deutungen chiffrierter Botschaften zu erhalten hoffen – übrigens eine Vorgehensweise, die der Thukydidesforschung nicht gänzlich fremd ist. Da ich an 34 S. Rink 2001, S. 213: »den von ihm als zu rational abgelehnten Geschichtsschreiber aus Athen«; Ehling 2003, S. 118, in gleicher Tendenz. 35 Dies schließt selbst die parabelhafte Darstellung der »Schinderhütte auf Köppelsbleek« im 19. Kapitel ein, die bis heute als schonungslose Zeichnung auch der Folterstätten und Mordlager des NS-Regimes gilt. 36 Jünger selbst bezeichnet das Werk brieflich (an Carl Schmitt) als »Geheim-Ansicht unserer Zeit« (Brief vom 13. 9. 1939), in: Briefe Jünger-Schmitt, 88. Gleichsam verwahrt er sich auch in der Rückschau gegen die Vereinnahmung des Werks als »Tendenzschrift«; zusammenfassend Noack 1998, S. 143f., mit dem entsprechenden Zitat; zu Interpretationsansätzen etwa einführend Amos 2011, S. 98f.; eingehend Segeberg 1995; zur Wahrnehmung von Zeitgenossen s. den FAZ-Artikel von Dolf Sternberger vom 4. 6. 1980 mit dem Titel »Eine Muse konnte nicht schweigen«. 37 Etwa der genauen Vorbilder für die »Marina« am Bodensee oder an griechischen Küsten, siehe Amos 2011, S. 97 u. 100 (zur »Decodierung realer Orte und Personen«).
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dieser Stelle glücklicherweise der Aufgabe enthoben bin, eine grundlegende Interpretation des Jüngerschen Werks vorzunehmen, können derlei Exkurse hier unterbleiben. Demgegenüber ist es erstaunlich, ausgerechnet in diesem Werk fündig zu werden, was eine deutliche, wenn auch implizite Bezugnahme auf Thukydides angeht – Anlehnungen an Herodot sind in der Forschung bereits diskutiert und plausibel gemacht worden.38 Im 10. Kapitel der Marmorklippen entwirft Jünger den Niedergang einer ehemals glücksbeglänzten Kultur, die sich an einem Ort, der mit »Marina« bezeichnet wird, entwickelt hatte. Statt der ehemals vorherrschenden Betonung von Kunst und Geist als primären Exponenten eines quasi philosophischen Lebensgefühls (Jünger evoziert an dieser Stelle kurzzeitig eine Form der Eunomie) halten Tendenzen Einzug in die Gesellschaft der Marina, die zur Destabilisierung, zum Niedergang, zur »Verwirrung« führen. Und just in der Beschreibung dieser die Idylle unterminierenden Phänomene (dem Einbruch der politischen Realität ins Utopia) greift Jünger in wenigen Seiten zurück auf die antike Vorlage: In diesen Kämpfen, die zu Menschenjagden, Hinterhalten und Mordbrand führten, verloren die Parteien jedes Maß. Bald hatte man den Eindruck, daß sie sich kaum noch als Menschen sahen, und ihre Sprache durchsetzte sich mit Wörtern, die sonst dem Ungeziefer galten, das ausgerottet, vertilgt und ausgeräuchert werden soll. Den Mord vermochten sie nur auf der Gegenseite zu erkennen, und dennoch war bei ihnen rühmlich, was dort als verächtlich galt. Während ein jeder die anderen Toten kaum für würdig hielt, bei Nacht und ohne Licht verscharrt zu werden, sollte um die seinen das Purpurtuch geschlungen werden…39
Das hier gezeichnete Bild ist die Fratze des Parteienzwists, der Stasis, die sich bis in die Lebensgewohnheiten der Menschen Bahn bricht und deren Fundamente unterspült. Dabei reicht die zersetzende Kraft bis in heilige, im Grunde unantastbare Selbstverständlichkeiten hinein, die erodieren und nichts mehr zählen. Es ist Thukydides’ berühmte Schilderung der Bürgerkriegswirren in Korkyra, die sogenannte »Pathologie des Krieges«, die hier als Referenztext dient. In den Kapiteln 82ff. des dritten Buches der Geschichte des Peloponnesischen Krieges zeigt der Athener plastisch die zerstörerische Kraft der Spaltung einer griechischen Gesellschaft und verweilt – auf den ersten Blick überraschend lange – auf der Behandlung dieser für seine Erzählung zunächst weniger bedeutsam scheinenden Entwicklung. Jedoch wird spätestens beim Wiederlesen deutlich, woher seine Darstellung die Relevanz für das Gesamtwerk bezieht: Die um38 Engel 1965; Rink 2001, S. 9f., zur angeblichen Herodot-imitatio Jüngers in seinen Tagebüchern zum 2. Weltkrieg; Henri Plard nennt Jünger 1961 den »H¦rodote de nos jours«, zitiert nach Dornheim 1987, A. 110 u. 152. 39 Jünger, Marmorklippen, S. 279.
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wälzende Kraft des Krieges hat zur Konsequenz, daß sich Niederschläge bis in die einzelnen Polisgemeinden hinein verfolgen lassen, mit zum Teil ganz außergewöhnlichen Folgen, die sich bis in den Sprachgebrauch der Menschen erstrecken, also das von Jünger ebenfalls verwandte Motiv aufweisen: So tobten also Parteikämpfe in allen Städten, und die etwa erst später dahin kamen, die spornte die Kunde vom bereits Geschehenen erst recht zum Wettlauf im Erfinden immer der neusten Art ausgeklügelter Anschläge und unerhörter Rachen. Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür : unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als aufgeschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes Art (…), Tücke gegen andere, wenn erfolgreich, war ein Zeichen der Klugheit (…) Und in ihrem Ringen, mit allen Mitteln einander zu überwältigen, vollbrachten sie ohne Scheu die furchtbarsten Dinge und überboten sich dann noch in der Rache; nicht, daß sie sich dafür eine Grenze gesteckt hätten beim Recht oder beim Staatswohl – da war freie Bahn, soweit jede Partei gerade ihre Laune trieb. (…) Frömmigkeit galt weder hüben noch drüben; man schaffte sich vielmehr einen guten Namen, wenn es gelang, grade durch den Schönklang eines Worts eine Tat des Hasses zu vollführen. Und die Mittelschicht der Bürger wurde, weil sie nicht mitkämpfte oder aus Neid, daß sie davonkäme, von beiden Seiten her ausgemordet.
Eingedenk des Umstands, daß Thukydides selbst in der Antike verarbeitet wurde und z. B. die Passagen über die »Pathologie des Kriegs« als Grundlage für Historiker wie Sallust dienten, um die Motivik wiederaufzugreifen und auch daran Dekadenzprozesse in Rom zu veranschaulichen,40 wäre es denkbar, daß sich Jünger aus diesem zweiten Fundus bedient hätte, um seine Marina-Geschichte zu erzählen, also eine gewissermaßen gefilterte Thukydides-Rezeption vorläge. Allerdings finden sich um die bereits zitierte Passage herum einige weitere Hinweise auf eine direkte Auseinandersetzung mit Thukydides: Wie eine Seuche, die noch unberührten Boden findet, schwoll auch hier der Haß gewaltig an.41
Es mag zufällig sein, und dennoch erstaunt der Vergleich der destabilisierenden Potenz des Hasses mit einer Seuche, scheint er doch eins zu eins aus der Geschichte des Peloponnesischen Krieges entlehnt: Die Parallele zwischen dem Bürgerkrieg in Korkyra und der Seuche in Athen gehört zum klassischen Repertoire der Thukydides-Interpretation.42 In beiden Fällen wird die Zivilisation
40 S. dazu Meister 2015. 41 Jünger, Marmorklippen, S. 279. 42 Jüngst Orwin 2015.
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in Frage gestellt, die öffentliche Ordnung außer Kraft gesetzt, der Blick in den Abgrund getan. Thuk. 2,53: Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf. Denn mancher wagte jetzt leichter seinem Gelüst zu folgen, das er bisher unterdrückte…
Eine weitere Ähnlichkeit liegt in der Rolle derer, die an den Konflikten von außen beteiligt sind. Während sich hier wie da, im Griechenland des 5. Jahrhunderts und in Jüngers Marina, die Gesellschaft gegenseitig zerfleischt und in Zwietracht befangen ist, ist es gerade dieser Umstand, der in einem größeren politischen Spiel wie selbstverständlich als ein bloßer strategischer Faktor zum Tragen kommt – Analogien zur derzeitigen politischen Situation in Osteuropa sind unabsichtlich, wenn auch nicht von der Hand zu weisen.43 Korkyra ist somit ein Beispiel für die Auswirkungen, die der größere Konflikt bis in den Kernbereich der jeweilig betroffenen Gemeinschaft haben kann – eine Art politischer Kollateralschaden, und die höhernorts Beteiligten werden eindeutig identifiziert: Thuk. 3,82: Später freilich ergriff das Fieber so ziemlich die ganze hellenische Welt (hier sehr eigen von Landmann übersetzt, im Original: »wurde so gut wie die ganze hellenische Welt in Bewegung versetzt«: p÷m ¢r eQpe?m t¹ :kkgmij¹m 1jim^hg), da in den zerrissenen Gemeinwesen allerorten die Volksführer sich um Athens Eingreifen bemühten und die Adligen um Spartas. Solang noch Friede war, mochte es wohl an Vorwänden fehlen, auch an Gelegenheit, sie zu Hilfe zu rufen; da aber der Krieg erklärt war und Bündnisse beiden Seiten wichtig wurden, die Schwächung der gegnerischen und dadurch zugleich Neugewinn eigener, war für jeden geplanten Umsturz fremde Hilfe leicht zu erhalten.
Ernst Jünger zeichnet sein Dekadenzpanorama der Marina unter ähnlichem Vorzeichen. Seiner Geschichte gemäß sind es hier nicht zwei große rivalisierende Machpotentiale, die ihren Niederschlag in spiegelbildlichen politischen Zwistigkeiten im innenpolitischen Kontext haben, sondern die so brutale wie intrigante Figur des »Oberförsters« (der häufig als ein Amalgam von Hermann Göring und Adolf Hitler interpretiert wird44), die hinter der zerstörerischen Dynamik in der Marina steckt, um selbst die Macht dort zu übernehmen.
43 Auf diesen Aspekt ging der Jubilar selbst in Eichstätt am 19. 5. 2014 anläßlich seines Vortrags »Thukydides und die moderne Politik« ein. 44 Mottel 2004, S. 316; Amos 2011, S. 100; Jünger selbst leugnet eine direkte Gleichsetzung, gibt aber zu erkennen, daß er grundsätzlich der vergleichenden Spielerei nicht abhold ist: Kiesel 1999, S. 90: »Die Version mit dem Fürsten Bismarck ist nicht übel, und auch nicht Version allein; wir sprachen schon einmal in Goslar anläßlich der ersten Conception des Oberförsters davon.«
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Die Rolle, die er in diesen Wirren spielte, die sehr fein in seinen Wäldern ausgesponnen wurden, war die der Ordnungsmacht, denn während seine niederen Agenten, die in den Hirtenbünden saßen, den Stoff der Anarchie vermehrten, drangen die Eingeweihten in die Ämter und Magistrate …45
Hier wie dort also machen die großen Akteure Politik auf Kosten des friedlichen oder geordneten Zusammenlebens, ja sie fördern dessen Niedergang geradezu, da sie sich von einer in Aufruhr und Unordnung gebrachten Gesellschaft mehr Möglichkeiten für den eigenen Machtzuwachs versprechen. Daß bei Jünger eine einzelne übermächtige Person diesen Prozeß zu steuern scheint, während bei Thukydides zwei Rivalen häufig einer Eigendynamik des »gewalttätigen Lehrers« Krieg zu gehorchen scheinen, tut für die parallele Konstruktion der Erzählung nichts zur Sache. Die Marina-Erzählung ist insgesamt Transformation und Aneignung46 der thukydideischen Stasisanalyse, was nicht ausschließt, daß auch zeitgenössische Diskurse mitverarbeitet sind.47 Die Entwicklungen des 10. Kapitels werden mit dem ersten Satz des 11. Kapitels prägnant resümiert: Es ließen sich noch viele Zeichen nennen, in denen der Niedergang sich äußerte. Sie glichen dem Ausschlag, der erscheint, verschwindet und wiederkehrt.48
Diese letzte Reverenz an Thukydides ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Das Beharren auf der Bedeutung von Zeichen, die für einen Befund sprechen wie die Symptome einer Krankheit, greift sowohl die historische Methodik des Thukydides (1,1,2: tejl^qia) im allgemeinen auf, wie es auch im besonderen auf die berühmte Seuchenbeschreibung im zweiten Buch rekurriert. Genau an dieser Stelle berichtet der Autor von einem wiederkehrenden Ausschlag, der quasi über den ganzen Körper wandert,49 und auch Thukydides verwendet die 45 Jünger, Marmorklippen, S. 280. 46 Hier wird nicht exakt der Typologie von Transformationen gefolgt, wie sie von Bergemann et al. 2011, S. 47–56 etabliert wird. Letztlich ist in der Etikettierung eines rezeptiven Vorgangs zumeist eine der Verdeutlichung geschuldete Verkürzung zu sehen, so daß eine Kategorisierung initial hilfreich ist, im konkreten Einzelfall aber häufig simplifizierend wirkt. 47 Dies ist im Gegenteil vor Jüngers persönlichem Hintergrund und seines vorwiegend in den 20er Jahren angesiedelten Engagements in der politischen Publizistik plausibel, womöglich gar Intention des Erzählstrangs (Motive: Dekadenz der Zivilisation, Mächte, die von außen den Niedergang einer Kultur fördern), ebenso lassen sich Verbindungen zu früheren Werken wie Der Arbeiter (Untergang der bürgerlichen Welt, allerdings in diametral entgegengesetzter, nämlich begrüßender Perspektive, s. dazu Morat 2007, S. 211) oder Lob der Vokale (Sprachveränderung und -verfall) herstellen, ebenfalls zu der Schrift Über die Linie (Verlust der Menschlichkeit im Bürgerkrieg). Auch wenn also eine gewisse thematische Kontinuität vorliegt, ist die konkrete Verwendung der Motive doch so nah an der thukydideischen Vorlage, daß mir eine direkte Verarbeitung mehr als deutlich erscheint. 48 Jünger, Marmorklippen, S. 280. 49 Thuk. 2,49.
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Krankheit als eine Chiffre für ein Leiden, das das Gemeinwesen befallen hatte, durchaus ein drohendes Vorzeichen, das verschwindet, wie es gekommen war, damit aber den Charakter der Bedrohung nicht verlor.50 Wofür steht nun diese neuerliche Thukydides-Adaption, und wie ordnet sie sich in den Jüngerschen Kontext ein? Es scheint bezeichnend, daß ein Autor Pate für die Jüngersche Arbeit stehen soll, den er weniger schätzt als Herodot oder aber von dem er sich in seinem ersten Werk noch hatte absetzen wollen. Womöglich läßt sich daher das schlichte Bild einer Jüngerschen Geringschätzung des Thukydides nicht aufrechterhalten. Daß auch andere Zeitgenossen Jüngers dies so sahen, erhellt aus dem Vergleich des Schriftstellers mit Thukydides durch den Bildhauer Serge Mangin.51 Höchst aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch der Eintrag Jüngers hinsichtlich einer wünschenswerten Erziehung junger Menschen: Wahrscheinlich wäre es gut, wenn der Primärunterricht nur von Frauen besorgt würde. Auch das Alter ist wichtig: im Anfang ein gütig Gereifter, am Schluß ein Junger – Thukydides war ein Jüngling unter Jünglingen.52
Keinesfalls erscheint Thukydides hier als eine eher zweitrangige Instanz, sondern geradezu als der für den Abschluß des Primärunterrichts geeignete, den Herangewachsenen gemäße Lehrer. Bei aller Varianz der möglichen Auslegung kann demnach kaum in Zweifel gezogen werden, wie intensiv sich Ernst Jünger mit Thukydides befaßt hatte. Es scheint, als habe er in seinem Werk zunächst eine Meßlatte für sein eigenes Schaffen gesehen, mit der Zeit (eventuell auch mit dem Erfolg) aber ein entspannteres Verhältnis zu dem athenischen Historiker gewonnen, so daß er dessen Werk als Anregung und Vorbild zu nutzen imstande war – eine Rezeption, die selbst der Transformation unterlag. In seiner Bewertung von Aktualität und Geschichte kam er stärker auf Thukydides zurück, als es direkt nach 1920 vorstellbar gewesen wäre. Daß dies in eine Zeit fiel, in der Jünger auch aufgrund persönlicher Erfahrungen immerhin auf Distanz zu den deutschen Machthabern 50 Siehe dazu etwa Flashar 1969, S. 36 u. 42: »Symptom für die allgemeine Erschütterung«. 51 Jünger, Siebzig verweht IV, S. 454, dort interessanterweise keinesfalls negativ kommentiert, sondern geradezu selbstverständlich hingenommen – fehlt doch auch der Hinweis auf Baudelaire nicht, dessen »sinnliche Beobachtungskraft« Jünger dem thukydideischen Blick noch hinzuzufügen vermöge; IV, 155: Thukydides als der »präzise Historiker«, der Herodot darin folgte, vom Mythos Abschied zu nehmen; über von ihm als »unsystematisch« bezeichnete Autoren findet sich folgende, die Systematiker keinesfalls abwertende Einschätzung (Autor und Autorschaft, Nachträge, S. 287): »Sie ersparen uns anstrengende Wanderungen durch Höhen und Tiefen mit Zirkel und Winkelmaß, auch durch lang ausgesponnene Handlungen. Wir können mit Genuß und Gewinn eine beliebige Seite aufschlagen. Für solche Stimmungen ist Herodot ergiebiger als Thukydides und Schopenhauer reicher als Kant.« 52 Jünger, Siebzig verweht III, S. 268.
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ging, mag als Ausweis eines intellektuellen wie persönlichen Reifeprozesses gelten – auch im Bezug auf seinen Blick auf Thukydides ist hier wohl ein Zuwachs an Weisheit zu diagnostizieren. Zum Abschluß noch einmal Jünger, der am 2. Weihnachtsfeiertag des Jahres 1934 an Carl Schmitt folgende Einschätzung der Weltlage abgibt: Was mögen vom Jahre 1935 (…) für Ueberraschungen zu erwarten sein? Wir stehen jetzt im 22. Jahre des Weltkrieges, der damit vielleicht zum Drittel hinter uns liegt.53
Thukydideisch gesprochen, ist die lec_stg j_mgsir des Weltkriegs nicht mit dem offiziellen Friedensschluß von 1918/421 beendet – »daß das nicht wohl Frieden heißen darf« (Thuk. 5,26,2), war eine für Jünger – mit anderen Hintergründen – feststehende Tatsache.
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53 Briefe Jünger-Schmitt, S. 44.
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Eine Königin in Rom – Berenike als Cleopatra rediviva?
Im Sommer 79 n. Chr. stand Rom vor massiven Veränderungen. Vespasian, der als Princeps das Imperium ein Jahrzehnt regiert hatte, war im Alter von 69 Jahren gestorben, und wie in jedem autokratischen System bedeutete der Tod des Herrschers eine entscheidende Schwächung der Machtzentrale. Der Tod Vespasians stürzte jedoch weder Rom noch das Reich in eine Krise. Wie vorgesehen ging die Herrschaft an den ältesten Sohn des verstorbenen Kaisers über, die Machtübernahme des Titus war damit der erste sichere und ruhige Wechsel an der Spitze des Römischen Reiches seit der Ermordung des Caligula im Jahre 41 n. Chr. – und das erste Mal im Prinzipat überhaupt, dass ein leiblicher Sohn seinem verstorbenen Vater als Kaiser folgte. Titus musste mit seinen 39 Jahren und politischen wie militärischen Erfahrungen als außerordentlich geeignet für das Amt des Princeps erscheinen. Erzogen gemeinsam mit Britannicus am Kaiserhof des Claudius hatte er seinen Vater Vespasian von 67 n. Chr. an als Kommandant der XV legio Apollinaris im Kampf gegen die Aufständischen in der Provinz Judaea unterstützt und schließlich den Jüdischen Krieg aus römischer Sicht erfolgreich zu Ende geführt. In Rom hatte er in den Folgejahren sieben Mal das Konsulat inne und diente zudem als praefectus praetorio.1 Dennoch gab es Bedenken. Sueton berichtet in seiner Titusbiographie, der Lebenswandel des ältesten Sohns Vespasians habe in Rom Anstoß erregt. Bereits in der Schlussphase des Bürgerkriegs und den ersten Monaten der Regentschaft Vespasians hatten Gerüchte kursiert, dass Titus die Herrschaft sofort an sich reißen wolle und zu diesem Zweck bereits Unterstützer im Osten des Reiches um sich gesammelt habe.2 Zwar hatte Titus diesem Gerede mit seiner Rückkehr nach Rom ein Ende gesetzt, doch erregte sein Lebensstil weiterhin Ärgernis. Sueton fasst in seiner Titusbiographie die Vorwürfe zusammen: 1 Zur Jugend und frühen Karriere des Titus s. v. a. Suet. Tit. 1,2–4,1. Für eine Zusammenfassung der Biographie s. Jones 1984; Levick 1999, v. a. S. 184–195. 2 Suet. Tit. 5,3.
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Außer seiner Grausamkeit beargwöhnte man an ihm auch seinen Hang zur Verschwendung, weil er doch bis Mitternacht gerade mit den Extravagantesten seiner Vertrauten die Trinkgelage ausdehnte. Nicht weniger wurde sein Hang zur Ausschweifung wegen seiner Scharen von Lustknaben und Eunuchen und seiner beispiellosen Liebe zu Königin Berenike beargwöhnt, der er sogar die Heirat versprochen haben soll. Argwohn erregte auch seine Raffgier, weil er bekanntlich bei Gerichtsverhandlungen unter seinem Vater Handel (mit Freisprüchen) trieb und sich Belohnungen ausbedingte. Ferner glaubten die Leute, er sei ein zweiter Nero, und das sagten sie auch frei heraus.3
Es war somit der opulente Lebensstil des Titus, insbesondere aber seine Liebesbeziehung zu der herodianischen Königin Berenike, die das Missfallen der Bevölkerung hervorrief, und neben Sueton berichtet auch Cassius Dio von einer wachsenden Opposition gegen die Anwesenheit Berenikes in Rom. Nach seiner Machtübernahme als Princeps aber entkräftete Titus alle Besorgnis und bewies seine Wandlung insbesondere dadurch, dass er auch die viel kritisierte Liebesbeziehung beendete.4 Die unkonventionelle Beziehung zwischen dem römischen Thronfolger und der jüdischen Königin, dem Zerstörer des Jüdischen Tempels in Jerusalem und der Urenkelin seines Erbauers, Herodes’ des Großen, war nicht nur für die Zeitgenossen von Belang, sondern hat über die Jahrhunderte hinweg die künstlerische Phantasie ebenso wie das historische Interesse geweckt.5 In der althistorischen Forschung standen und stehen dabei mit gutem Grund weniger romantische Fragen als vielmehr die potentiellen politischen Implikationen der Beziehung im Zentrum der Diskussion. In seiner kurzen Erwähnung der Beziehung im fünften Band der Römischen Geschichte hat kein geringerer als Theodor Mommsen das wohl prägnanteste, auf jeden Fall aber ein die weitere Forschungsgeschichte prägendes Urteil gefällt, indem er Berenike als »Kleopatra im Kleinen« betitelte.6 Mommsens Vergleich Berenikes mit Kleopatra wurde mannigfach aufgegriffen. So entwickelte Ulrich Wilcken die Parallelisierung in seinem 1897 erschienenen RE-Artikel weiter, indem er ausführte: »Sie hatte nur das Unglück, dass Titus kein Antonius war«.7 In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde der Berenike-Kleopatra-Vergleich, den Änderungen des wissenschaftli3 Suet. Tit. 7,1: Praeter saevitiam suspecta in eo etiam luxuria erat, quod ad mediam noctem comisationes cum profusissimo quoque familiarium extenderet; nec minus libido propter exoletorum et spadonum greges propterque insignem reginae Berenices amorem, cui etiam nuptias pollicitus ferebatur ; suspecta rapacitas, quod constabat in cognitionibus patris nundinari praemiarique solitum; denique propalam alium Neronem et opinabantur et praedicabant. Übersetzung nach Hans Martinet. 4 Suet. Tit. 7,2. Cass. Dio 65,15,4–5. 5 Vgl. Akerman 1978. 6 Mommsen 1885, S. 540. 7 Wilcken 1897, col. 289.
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chen Stils angemessen, nicht mehr so plakativ angestellt, blieb jedoch stets präsent. Mehr noch, insbesondere durch Mommsens prominentes Diktum hat sich die Annahme, die Opposition gegen Berenikes Anwesenheit in Rom sei auf die Gleichsetzung mit der ägyptischen Geliebten Julius Caesars und Mark Antons zurückzuführen, zunehmend verselbständigt, und so wird in der modernen Forschung verbreitet angenommen, die Proteste im Rom der siebziger Jahre seien explizit gegen eine »neue Kleopatra« gerichtet gewesen.8 Im Folgenden soll diese Parallelisierung daher erneut einer Begutachtung unterzogen werden, um die zeitgenössische Bewertung Berenikes zu beurteilen.
Titus und Berenike, Herodianer und Flavier Der genaue Beginn der Liebesbeziehung zwischen Titus und Berenike liegt im Dunkeln, ist aber im Zusammenhang mit dem Jüdischen Krieg zu verorten. Als die Revolte im Jahr 66 n. Chr. in Jerusalem ausbrach, war Berenike etwa 38 Jahre alt. Ihr Vater, Agrippa I, war nach einer wechselvollen Karriere 37 n. Chr. von seinem nun zum Princeps aufgestiegenen, engen Freund Gaius Caligula zum König über ein Reich im Norden Judaeas ernannt worden, 41 n. Chr. erweiterte Claudius sein Herrschaftsgebiet auf ganz Judaea einschließlich Jerusalem und Caesaraea Maritima.9 Mit etwa 13 Jahren wurde Berenike mit Marcus Iulius Alexander aus einer der wichtigsten Familien der jüdischen Gemeinde in Alexandria verheiratet, die Ehe währte jedoch nicht lang, starb Alexander doch bereits 44 n. Chr.10 Kurz darauf heiratete Berenike ihren Onkel väterlicherseits, Herodes II, der als König über das kleine Reich Chalkis (ad Libanum) herrschte.11 Aus der Ehe zwischen Berenike und Herodes gingen zwei Söhne, Berenicianus und Hyrcanus, hervor, doch als Herodes II 48 n. Chr. starb, war Berenike mit 20 Jahren bereits zum zweiten Mal verwitwet.12 Das Reich des Herodes ging an ihren Bruder, Agrippa II, mit dem Berenike fortan lebte, und sie folgte ihm auch, als Claudius ihn 53 n. Chr. zum König über ein Reich im Norden Judaeas ernannte. Zwar heiratete sie erneut, diesmal mit Polemon II von Pontus und Kilikien einen befreundeten Dynasten, jedoch hielt die Verbindung nicht 8 Vgl. u. a. Weber 1921, S. 57; Balsdon 1974, S. 132; Smallwood 1976, S. 387; Martinet 1981, S. 74; Jones 1984, S. 91; Barclay 1996, S. 309; Kokkinos 1998, S. 329; Levick 1999, S. 185, 194; D. Schwartz 2005, S. 66; Anagnostou-Laoutides/Charles 2015, passim; dagegen explizit Keaveney/Madden 2003, S. 41. Zur Rezeption der Liebesbeziehung insbesondere in der älteren Forschung s. Wesch-Klein 2005, v. a. S. 168–170. 9 Zur Biographie Agrippas I siehe insbesondere D. Schwartz 1990; Kokkinos 1998, S. 271–304. 10 Ios. bell. Iud. 2,217; ant. Iud. 19,277. 354, Kokkinos 1998, S. 194f., 302. 11 Ios. bell. Iud. 2,221; ant. Iud. 20,104. Kokkinos 1998, S. 308. 12 Kokkinos 1998, S. 313f.
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lange, und Berenike kehrte an den Hof ihres Bruders zurück.13 Entgegen allen Erwartungen und Normen hatte Agrippa nie geheiratet, doch scheint Berenike in der Folgezeit die Rolle der weiblichen Begleiterin und Königin ausgefüllt zu haben.14 Wohl seit ihren Ehen mit Herodes und Polemon führte Berenike den Titel einer basilissa, doch ist es erst in der Zeit an der Seite ihres Bruders, dass sie uns in den Quellen in repräsentativer Funktion entgegentritt.15 Gemeinsam mit Agrippa trat sie bei offiziellen Anlässen auf und galt auch ohne ihn selbst außerhalb seines Reiches als Respektsperson.16 Das erste Zusammentreffen zwischen Titus und Berenike ist wahrscheinlich auf die erste Phase des Krieges zu datieren. Agrippa stellte dem von Nero mit der Niederschlagung des Aufstandes betrauten Vespasian nicht nur seine Truppen zur Verfügung, sondern scheint selbst am Feldzug in Galiläa teilgenommen zu haben.17 Auf Einladung Agrippas schlugen die römischen Truppen und ihre Generäle zudem 67 n. Chr. ihr Winterlager in Caesarea Philippi, der Hauptstadt des Königs, auf. In der Folgezeit halfen Vespasian und Titus nun zunächst, den Aufstand in Agrippas Reich niederzuwerfen, um sich dann wieder dem judäischen Kernland zuzuwenden.18 Wie häufig sich Berenike und Titus während der Kriegshandlungen sahen, ist unklar. Die Freundschaft zwischen der herodianischen Dynastie und den Flaviern aber war nicht nur geknüpft, sondern hatte sich inzwischen vielmehr zu einem tiefen Vertrauensverhältnis entwickelt, und so zeigten sich Agrippa und Berenike auch im Bürgerkrieg als wichtige und loyale Unterstützer der flavischen Sache.19 Nachdem Vespasian sich 69 n. Chr. in Rom als neuer Princeps fest installiert hatte, rückte auch der andauernde Aufstand in der Provinz Judaea wieder ins Zentrum der imperialen Aufmerksamkeit. Nach der Einnahme Jerusalems und den entsprechenden Siegesfeiern in Caesarea Maritima reiste Titus auch zu 13 Ios. ant. Iud. 20,145–146. Kokkinos 1998, S. 314, 322. 14 Vgl. u. a. Ios. bell. Iud. 2,344. 402. 405. 426. 595; vita 48–50. 126. 180–181. Apg 25,13. 23 sowie AE 1928, 82 (mit überzeugender Neulesung durch Haensch 2006), SEG 49, 2011 (mit falscher Identifizierung von Agrippa I statt Agrippa II, vgl. die Richtigstellung SEG 50, 1398). 15 Die Inschriften AE 1928, 82 (mit Neulesung durch Haensch 2006) aus Berytus, SEG 49, 2011 aus Qalaat Fakra und OGIS 428 aus Athen sind nicht eindeutig zu datieren. Als basilissa/ basilis bzw. regina wird Berenike auch in Ios. vita 119 (vgl. gemeinsam mit Agrippa II in Ios. vita 48–49. 180–181; bell. Iud. 2,595–596), Suet. Tit. 7,1 und Tac. Hist. 2,2,1. 81,2 genannt, vgl. auch Iuv. 6,159. 16 Apg 25,13. 23; Ios. bell. Iud. 2,310–312. 333. 17 Ios. bell. Iud. 2,481. 500. 502. 3,68. Vgl. Crook 1951, S. 163; Jones 1984, S. 61f. Es ist freilich gut möglich, dass Titus Berenike und/oder ihren Bruder Agrippa II bereits Jahre zuvor in Rom am Hof des Claudius kennengelernt hatte, vgl. Curran 2014, S. 520. 18 Ios. bell. Iud. 3,443–445. 19 Zur herodianischen Unterstützung der flavischen Erhebung s. Tac. hist. 2,81,1–2; Jones 1984, S. 60f. Es ist anzunehmen, dass Agrippa und Berenike auch bei dem entscheidenden strategischen Treffen der flavischen Partei in Berytus anwesend waren, vgl. Tac. hist. 2,81,3.
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ähnlichen Feierlichkeiten in Agrippas Hauptstadt Caesarea Philippi.20 Auch wenn keine gemeinsamen Auftritte des Paares überliefert sind, lässt sich ohne die enge Verbindung zu den Herodianern insgesamt, insbesondere aber ohne die Liebesbeziehung zu Berenike eine solche Reise in das unbedeutende und abseits gelegene Reich Agrippas kaum erklären.
Berenike in Rom Wird die Liebesbeziehung zwischen Titus und Berenike insbesondere von Tacitus, implizit aber auch von Cassius Dio und Sueton für die Spätphase des Jüdischen Krieges als existent und bekannt vorausgesetzt, erreichte die Verbindung eine neue Qualität mit dem ersten Aufenthalt der Berenike in Rom als Geliebte des Titus. 75 n. Chr. ist ihr Besuch gemeinsam mit ihrem Bruder Agrippa II belegt. Warum mehrere Jahre zwischen der Rückkehr des Titus nach Italien und Berenikes Romreise lagen, ist unbekannt; Überlegungen über Spannungen innerhalb des flavischen Unterstützerkreises müssen aufgrund der Quellenlage jedoch spekulativ bleiben.21 Um 75 n. Chr. aber hielten sich Berenike und Agrippa offiziell und der Öffentlichkeit bekannt in Rom auf, der König wurde zu diesem Anlass für seine Verdienste im Jüdischen Krieg (und, unausgesprochen, wohl auch seine Unterstützung der flavischen Erhebung) mit den ornamenta praetoria ausgezeichnet.22 Es ist unklar, wie lange Agrippa in Rom verweilte; Berenike freilich scheint sich für eine längere Zeit in der Hauptstadt eingerichtet zu haben. Laut Sueton und Cassius Dio wohnte sie gemeinsam mit Titus auf dem Palatin, und angeblich hatte der Sohn Vespasians ihr bereits die Hochzeit versprochen.23 Keine der vorliegenden Quellen erlaubt es, konkrete Ereignisse und gemeinsame Auftritte des Paares zu rekonstruieren, doch waren Berenike und ihre Beziehung zu Titus allgemein bekannt, und sie nahm am öffentlichen Leben in der Hauptstadt teil. Dafür spricht zum einen ihre allgemeine Prominenz. In keiner der uns vorliegenden Quellen über Berenike wird die Königin jemals vorgestellt; im Gegenteil scheinen alle Autoren davon auszugehen, dass ihr Publikum mit ihrer Person 20 Ios. bell. Iud. 7,23–24; 37–38 sowie 7,97–99, vgl. S. Schwartz 1990, S. 132f.; Wilker 2007, S. 445f.; Wilker 2011, S. 283. 21 Vgl. Crook 1951; Rogers 1980, v. a. S. 91–94; Keaveney/Madden 2003, S. 41f.; AnagnostouLaoutides/Charles 2015, S. 18f., kritisch dagegen Jones 1984, S. 91; Levick 1999, S. 194. Braund 1984, S. 122f. geht davon aus, dass die Opposition gegen Berenike in Rom von flavischer Seite antizipiert wurde und daher die Königin erst in Hauptstadt kam, als die Dynastie ihre Herrschaft etabliert hatte. 22 Cass. Dio 66,15,4; die Datierung ergibt sich aus zuvor erwähnten Einweihung des Templum Pacis. 23 Suet. Tit. 7,1; Cass. Dio 65,15,4.
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und ihrem Hintergrund so gut vertraut war, dass sie auf eine Einführung verzichten konnten. Zudem spiegelt eine kurze Passage im vierten Buch der Institutio Oratoria des Quintilian ihre herausgehobene Stellung am Hof und eventuell auch ihren politischen Einfluss wider.24 Hier heißt es: Es hat auch manchmal Richter in eigener Sache gegeben. Denn in den Büchern der Beobachtungen, die Septimius veröffentlicht hat, finde ich, dass Cicero an einem solchen Fall teilgenommen hat, und auch ich habe für die Königin Berenike vor ihr selbst gesprochen. Auch hier gilt eine ähnliche Überlegung wie in dem vorigen Fall: der Gegner nämlich streicht die Zuversicht zu der gerechten Sache seiner Partei heraus, der Anwalt des Richters dagegen hat dessen Befangenheit aus der Zurückhaltung in eigener Sache zu fürchten.25
Leider gibt Quintilian weder über den Gegenstand noch die Form des hier genannten Verfahrens näher Auskunft, doch kann wohl ausgeschlossen werden, dass Berenike in offizieller Funktion an Prozessen teilnahm.26 Andererseits gibt es jedoch keinen Grund, an Quintilians Ausführungen zu zweifeln, zumal er hier auf ein allenfalls einige Jahre zurückliegendes Ereignis anspielt. Trotz der gerichtlichen Terminologie ist es daher wahrscheinlich, dass der Rhetor hier im Rahmen von Beratungen, etwa des kaiserlichen consilium, auftrat, bei denen Berenike zugegen war.27 Über den Inhalt lässt sich dabei nur spekulieren, aber die Königin konnte aufgrund ihrer Erfahrungen und guten Kenntnis der politischen, kulturellen und geographischen Verhältnisse im Nahen Osten und insbesondere in Judaea in entsprechenden Fragen sehr wohl als Sachverständige gelten und hatte auch eigene Interessen in der Region zu vertreten. Aufgrund der schlechten Quellenlage lassen sich freilich kaum weitere Vermutungen anstellen. Jedoch ist es gerade die lakonische Art, mit der Quintilian über seinen Auftritt vor Berenike berichtet, die weitere Aufschlüsse über die Stellung der Königin am römischen Hof erlaubt. Nicht nur geht er wie alle anderen antiken Autoren davon aus, dass sein Publikum mit der Person der Berenike wohlvertraut war ; vielmehr impliziert er auch, dass ihre Anwesenheit bei (semi-)offiziellen Beratungen keineswegs als spektakulär genug empfunden wurde, um näher erklärt zu werden. Vielmehr noch setzt Quintilian zudem einen gehörigen Einfluss der Bere24 Vgl. auch Cass. Dio 65,15,4: Beqem_jg d³ Qswuq_r te Emhei. 25 Quint. Inst. 4,1,18–19: Fuerunt etiam quidam rerum suarum iudices. Nam et in libris Observationum a Septimio editis adfuisse Ciceronem tali causae invenio, et ego pro regina Berenice apud ipsam eam causam dixi. Similis hic quoque superioribus ratio est. adversarius enim fiduciam partis suae iactat, patronus timet cognoscentis verecundiam. Übersetzung nach Helmut Rahn. 26 Vgl. Jones 1984, S. 93. 27 Vgl. Jones 1984, S. 93; Young-Widmaier 2002. Crook 1959, S. 169f. und ähnlich Smallwood 1976, S. 387 haben zudem einen Vergleich mit Agrippinas berühmt-berüchtigten öffentlichen Auftritten herstellen wollen, doch ist dies kaum glaubhaft, vgl. auch die Kritik von Rogers 1980, S. 91 Anm. 28.
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nike auf die politischen Entscheidungen in Rom als gegeben voraus. Da der Rhetor selbst als intimer Kenner der Verhältnisse am flavischen Hof gelten kann, ist damit von einer bedeutenden Machtstellung Berenikes auszugehen, die zudem gemeinhin als bekannt und gegeben anerkannt wurde. Schließlich ist auch die wachsende Opposition gegen Berenikes Anwesenheit in Rom Ausweis ihres Bekanntheitsgrads und, so scheint impliziert, des öffentlichen und selbstbewussten Auftretens der Königin. Cassius Dio zufolge hatten sich die Kyniker Diogenes und Heras gegen die Anordnung Vespasians in die Stadt geschlichen und in öffentlichen Reden die Bevölkerung gegen das Paar aufgehetzt. Mehr Details sind nicht bekannt, doch die harsche Reaktion von offizieller Seite – Diogenes wurde ausgepeitscht, Heras sogar hingerichtet – zeigt, dass Befürchtungen bestanden, die Brandreden könnten auf fruchtbaren Boden fallen. Nicht zuletzt die offenbar bald darauf folgende Fortsendung Berenikes aus Rom bestätigt, dass die Liebesbeziehung als nicht mehr tragbar galt.28 Diese erzwungene Abreise ist nicht genau zu datieren, fand aber offenbar erst statt, nachdem Berenike bereits einige Jahre in Rom an der Seite des Titus verbracht hatte.29 Zudem berichtet Cassius Dio von einem weiteren Besuch der Königin in Rom. Demnach musste Berenike noch während der Herrschaft Vespasians die Stadt zum ersten Mal verlassen, kehrte aber nach der Erhebung des Titus zum Princeps nach Rom zurück, nur um erneut von Titus fortgesandt zu werden.30 Die Historizität dieses Berichts und die Datierung der Aufenthalte Berenikes sind in der Forschung kontrovers diskutiert worden,31 doch spricht einiges dafür, der Darstellung des Cassius Dio zu folgen. So erscheint eine Rückkehr Berenikes nach dem Amtsantritt des Titus als Princeps durchaus plausibel, konnte sie doch hoffen, dass ihr Geliebter nun über die notwendige Autorität verfügte, Proteste gegen ihre Anwesenheit zum Schweigen zu bringen. Für Sueton, der nur von einer Fortsendung Berenikes berichtet, spielt dagegen die Wandlung des Titus nach seinem Amtsantritt die entscheidende Rolle; er 28 Cass. Dio 65,15,4–5. 29 Cassius Dio ordnet die erste Trennung von Titus und Berenike chronologisch vor der Verschwörung des Caecina Alienus und Marcellus ein; Crook 1951, S. 167f. geht daher von 78/79 n. Chr. als Zeitpunkt für die erste Abreise aus; ähnlich Jones 1984, S. 91. Die Epitome de Caesaribus (10.4) stellt noch einen direkteren Zusammenhang zwischen Berenike und der Ermordung Caecinas her ; demnach habe Titus die Ermordung Caecinas befohlen, nachdem dieser Berenike vergewaltigt hatte. Dies ist freilich kaum glaubhaft, zumal die Königin hier fehlerhaft als uxor des Titus bezeichnet wird, vgl. Keaveney/Madden 2003, S. 39f. 30 Cass. Dio 65,15,4–5. 66,18,1. 31 U.a. Crook 1951; Smallwood 1976, S. 388; Rogers 1980 und Kokkinos 1998, S. 329f. gehen von zwei Besuchen (und zwei Abreisen) Berenikes aus; dagegen sprechen sich u. a. Keaveney/ Madden 2003, S. 41 dafür aus, dass es nur einen Besuch Berenikes in Rom gegeben habe. Braund 1984, v. a. S. 121 geht dagegen davon aus, dass Titus Berenike zum ersten Mal direkt nach seiner Machtübernahme fortschickte, die Königin jedoch später in seiner Amtszeit noch einmal zurückkehrte. Titus habe die Beziehung dann aber nicht mehr aufgenommen.
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mag daher aus narrativen Gründen zwei Aufenthalte der Königin zusammengezogen haben,32 während Cassius Dio chronologisch korrekt von zwei Besuchen (und zwei Abreisen) berichtet. Leider geht keine der antiken Quellen explizit auf die Vorwürfe ein, die Berenike von Seiten der Opposition gemacht wurden. Cassius Dio jedoch nennt explizit Diogenes und Heras als diejenigen, die das Paar mit Schmähreden in der Öffentlichkeit verächtlich machten,33 und die Identifizierung der beiden Unruhestifter als Kyniker legt nahe, dass es in dem Konflikt wohl um mehr ging als »nur« die Anwesenheit Berenikes. Nicht zuletzt in der oben zitierten Beschreibung Suetons erscheint Berenike denn auch eher als Anlass für die generelle Kritik an Titus als Thronfolger, nicht aber als Hauptkritikpunkt.34 Eine Sorge in der Bevölkerung vor einer »neuen Kleopatra«, eine explizite Gleichsetzung Berenikes mit der ptolemäischen Königin in der wachsenden Opposition gegen ihre Anwesenheit in Rom wird jedoch nicht konstatiert.
Cleopatra rediviva? Berenike in der zeitgenössischen Wahrnehmung Lässt sich der genaue Inhalt der Protestbekundungen gegen Berenikes Anwesenheit nicht mehr rekonstruieren, so kann doch eine Untersuchung der zeitgenössischen Quellen weiteren Aufschluss über das Bild der Königin in Rom geben. Zeitlich, thematisch und persönlich ist es insbesondere Flavius Josephus, der über Berenike und ihre Beziehung zu Titus berichten könnte. Spätestens seit seinem Wechsel in das Lager der Römer während des jüdischen Aufstandes war Josephus mit den Herodianern wohl vertraut und nennt in seiner Vita Agrippa II als Gewährsmann und eine seiner Quellen für seine Geschichte des Jüdischen Krieges.35 Als der König und seine Schwester 75 n. Chr. in Rom eintrafen, lebte Josephus bereits seit Jahren als Günstling des flavischen Hauses in der Hauptstadt, und es ist trotz des Standesunterschiedes anzunehmen, dass in den folgenden Jahren zumindest kursorischer Kontakt zwischen ihm und Berenike bestand. Josephus’ Werke bilden die Hauptquelle für die moderne Rekonstruktion der Biographie Berenikes, und es ist daher um so bezeichnender, dass die Beziehung zwischen der Königin und Titus an keiner Stelle erwähnt wird. Argumente e silentio gelten zu Recht insbesondere in den Altertumswissen32 Vgl. ähnlich MacRae 2015, S. 417f. 33 Cass. Dio 65,15,5. 34 Vgl. die Aufzählungen in Suet. Tit. 7,1–2. Zu einem möglichen, wenn auch allein spekulativen Zusammenhang mit der Verschwörung von Eprius Marcellus und Caecina Alienus s. Jones 1984, S. 92f. 35 Ios. vita 366; vgl. auch c. Ap. 1,51.
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schaften als schwach, doch ist es in diesem Falle gerade das auffällige Schweigen des Josephus, das einen Einblick in die zeitgenössische Rezeption der Berenike gibt. Dabei unterlässt er nicht nur jede Anspielung auf das Verhältnis, sondern Berenike verschwindet sogar vollständig aus der Handlung lange bevor von Titus’ Eintreffen in Judaea berichtet wird. Die Königin taucht im Bellum Iudaicum zum letzten Mal zu Beginn des Aufstandes in Jerusalem auf; ihre Darstellung hier ist ausgesprochen positiv und sie wird als fromme Jüdin, die besorgt um die Bevölkerung und den Frieden eine Eskalation der Gewalt zu vermeiden sucht, beschrieben.36 Dennoch ist die Szene während des sich anschließenden Friedensappells des herbeigeeilten Agrippa II an das Volk ihr letzter Auftritt im gesamten Werk;37 selbst im Zusammenhang mit den Siegesfeierlichkeiten in Caesarea Philippi, bei denen wir die Anwesenheit Berenikes wohl als gesichert voraussetzen können, wird sie nicht erwähnt.38 Zu einer Zeit, in der die Beziehung zwischen Berenike und Titus auf ihrem Höhepunkt war, die Königin gemeinsam mit dem Thronfolger auf dem Palatin wohnte und offenbar gemeinsam mit ihm als Paar in der Öffentlichkeit auftrat, hielt Josephus es demnach für angebracht, das Verhältnis zwischen beiden nicht zu thematisieren.39 Ja mehr noch, er tat alles, um sein Publikum auch sonst in keiner Weise an die Liebe zwischen der Königin und dem Helden des Jüdischen Krieges zu erinnern. Dieses Unbehagen lässt sich kaum allein mit einem möglichen Missfallen des Josephus über die Beziehung begründen, vielmehr fürchtete er offenbar, das so positive, alles andere überstrahlende Bild des Titus im Bellum Iudaicum zu beschädigen. Neben den kurzen Beschreibungen der Opposition gegen Berenike durch Sueton und Cassius Dio ist es daher gerade das Schweigen
36 Ios. bell. Iud. 2,310–311. 333. Krieger 1997, S. 2–4; S. Schwartz 1990, S. 136f. Wilker 2011, S. 276–279. 37 Ios. bell. Iud. 2,344. 402; Berenike tritt hier lediglich als Begleitung Agrippas auf. 38 Ios. bell. Iud. 7,23–24. 37–28; Smallwood 1976, S. 386; D. Schwartz 2005, S. 64; Wilker 2011, S. 283; vgl. Jones 1984, S. 61; Ilan 1996, S. 231 Anm. 33; Krieger 1997, S. 5. Der Name Berenikes wird noch in bell. Iud. 2,426 und 595 erwähnt, steht hier aber nur zur Bezeichnung des Palastes in Jerusalem bzw. eines königlichen Verwalters. 39 In bell. Iud. 7,160–161 erwähnt Josephus die Errichtung (und Fertigstellung) des Templum Pacis. Selbst wenn, wie u. a. von Seth Schwartz vorgeschlagen (S. Schwartz 1986), das siebte Buch erst nachträglich abgefasst und publiziert wurde, bleibt die überraschende Auslassung der Beziehung von Titus und Berenike und das Verschwinden der Königin aus dem Bericht nach dem Ausbruch des Aufstandes in Jerusalem bestehen. In vita 361 erwähnt Josephus, er habe das Werk an die Kaiser (to?r aqtojq²toqsi), d. h. Vespasian und Titus, übergeben und impliziert damit zumindest eine Erstpublikation vor dem Tod Vespasians 79 n. Chr. Dagegen hat Christopher Jones erneut darauf hingewiesen, dass die negative Bewertung des Caecina in bell. Iud. 4,634–644 wahrscheinlich erst nach dessen Hinrichtung 79 n. Chr. eingefügt wurde, und eine Nachbearbeitung möglich erscheint. Jones schlägt daher eine Datierung eines signifikanten Teil des Werkes auf die Zeit vor 79 n. Chr. vor, die endgültige Fertigstellung sei dann vor 81 n. Chr. erfolgt (Jones 2002, v. a. S. 113–114, 120).
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des Josephus, das die negative Rezeption Berenikes in der römischen Öffentlichkeit der siebziger Jahre unterstreicht. Das Unbehagen, das Josephus angesichts der Beziehung zwischen Berenike und Titus empfand, hielt auch noch nach der endgültigen Trennung, ja Jahre nach dem Tod des Titus an. So fällt das Porträt der Königin in seinen in den neunziger Jahren verfassten Antiquitates Iudaicae wesentlich negativer aus. Josephus erwähnt hier nicht nur das Gerücht ihrer angeblichen inzestuösen Beziehung zu Agrippa II, sondern schreibt es zudem Berenikes Lüsternheit zu, dass ihre dritte Ehe mit Polemon II nach nur kurzer Zeit wieder beendet wurde.40 Eine so offene Kritik wäre in den siebziger Jahren wohl kaum möglich gewesen und zeigt so das veränderte Klima, vor allem aber den Bedeutungsverlust der Herodianer unter Domitian; das Liebesverhältnis zwischen dessen verstorbenem Bruder Titus und Berenike wird jedoch auch in den Antiquitates Iudaicae in keiner Weise erwähnt. Gibt das Schweigen des Josephus beredtes Zeugnis von der negativen Rezeption der Beziehung von Titus und Berenike in Rom und erscheint damit im Einklang mit den Nachrichten über die umso lautere Opposition, so steht die Aussage des Quintilian in krassem Gegensatz zu dem bisher rekonstruierten Bild. Es ist allein in der bereits kurz behandelten Passage in der Institutio Oratoria, dass der Rhetor Berenike erwähnt.41 Konnte oben gezeigt werden, dass die Aussage Quintilians trotz, ja gerade wegen ihrer Kürze als Ausweis des politischen Einflusses der Königin in Rom zu sehen ist, so erlaubt die Art der Darstellung noch weitere Rückschlüsse. Quintilian nennt das Beispiel Berenike hier allein, um auf die Schwierigkeiten eines Redners, der vor einflussreichen Personen in einer sie selbst betreffenden Angelegenheit Stellung nehmen muss, zu illustrieren. Der Einfluss Berenikes wird hier einfach als Fakt angenommen und in keiner Weise negativ konnotiert, geschweige denn offen kritisiert. Die genaue Abfassungszeit der Institutio Oratoria ist nicht bekannt, doch konnte von Quintilian als engem und loyalem Gefolgsmann zu keinem Zeitpunkt eine Kritik am Herrscherhaus erwartet werden. Die unaufgeregte und sachliche Referenz zu Berenike aber zeigt gerade, dass auch ein klarer Anhänger der Flavier Berenike und die herausgehobene Stellung, die sie eine Zeitlang genoss, ohne Angst vor Fehlinterpretationen erwähnen konnte. Quintilian hätte seine eigenen Erfahrungen mit Berenike ohne Weiteres unterschlagen können; dass er es nicht tat,
40 Vgl. Krieger 1997, S. 6f. Es ist daher gemutmaßt worden, dass Berenike und eventuell auch ihr gleichfalls kritisierter Bruder Agrippa II zur Abfassungszeit der letzten Bücher der Antiquitates Iudaicae bereits verstorben waren. An anderer Stelle jedoch, in der später publizierten Vita und Contra Apionem, werden die Herodianer wieder ausgesprochen positiv dargestellt (vgl. z. B. Ios. vita 366; c. Ap. 1,1. 51). 41 Quint. Inst. 4,1,19.
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demonstriert, dass die Königin in Rom keinesfalls so durchgängig negativ wahrgenommen wurde, wie zumeist angenommen. Flavius Josephus und Quintilian, die beide die Beziehung zwischen Titus und Berenike und ihre politischen Implikationen aus nächster Nähe miterlebten, spiegeln damit ganz unterschiedliche Perspektiven und Einschätzungen wider. Für das Bild, das sich die römische Öffentlichkeit aber von der Königin machte, und insbesondere ihre durch die verbreitete Ablehnung zurückgehende Trennung von Titus aber müssen wir auf etwas spätere Quellen zurückgreifen, die aufgrund ihrer zeitlichen Nähe aber dennoch einzubeziehen sind. Der bereits kurz behandelte Sueton begann seine Ausbildung und Karriere in Rom erst Jahre nach dem Ende der Beziehung zwischen Titus und Berenike, doch ist davon auszugehen, dass er genug Kontakt mit Zeitzeugen hatte, um die Stimmung in Rom unter der Herrschaft des Vespasian und Titus und Details über die Opposition gegen Berenike zu erfragen. In seiner Titusbiographie gibt Sueton durchaus ein kritisches Bild von der Beziehung, in dem er die Liebe zu Berenike, wie eingangs zitiert, eindeutig und unwidersprochen als einen der Kritikpunkte, die gegen Titus erhoben wurden, präsentiert. Im Mittelpunkt von Suetons Darstellung steht jedoch die Wandlung, die Titus mit seinem Amtsantritt als Princeps vollzog: Er veranstaltete Gelage, die eher angenehm als ausschweifend waren. (…) Berenike schickte er sofort aus Rom fort, unfreiwillig und auch gegen ihren Willen (invitus invitam). Obwohl einige von seinen allerliebsten Bübchen so kunstfertige Tänzer waren, dass sie bald anerkannte Stars auf der Bühne waren, unterließ er es nicht nur, sie freizügiger zu fördern, sondern sie bei einem öffentlichen Auftritt überhaupt anzuschauen.42
Der Trennung von Berenike wird damit in einer Reihe mit anderen Verhaltensänderungen genannt, doch wird in diesem Fall das persönliche Opfer, das der neue Princeps für das Wohl Roms auf sich nahm, durch das invitus invitam besonders unterstrichen. Die Prominenz, die Sueton der Beziehung von Titus und Berenike, insbesondere aber ihrer Trennung zumisst, zeigt dabei, wie viel Aufmerksamkeit der Königin und schließlich auch ihrer Abreise in der römischen Öffentlichkeit entgegengebracht wurde. Nach einem Vergleich mit Kleopatra aber sucht man bei Sueton vergeblich; und dieses Fehlen ist um so deutlicher, da der Biograph nicht davor zurückschreckt, die Sorge, Titus könne sich als alius Nero entpuppen, explizit zu benennen.43 Der Vergleich mit Kleopatra 42 Suet. Tit. 7,1: Convivia instituit iucunda magis quam profusa. (…) Berenicen statim ab urbe dimisit invitus invitam. Quosdam e gratissimis delicatorum quanquam tam artifices saltationis, ut mox scaenam tenuerint, non modo fovere prolixius, sed spectare omnino in publico coetu supersedit. Übersetzung nach Hans Martinet. 43 Suet. Tit. 7,1.
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VII aber kam Sueton offenkundig nicht in den Sinn, obwohl die Trennung von einer alia Cleopatra den Charakterwandel des neuen Princeps doch noch deutlicher herausgestellt hätte. Es ist einzig die Wendung invitus invitam, die sich eventuell als Referenz zu Kleopatra lesen ließe. Wie zuletzt erneut von Duncan MacRae gezeigt, spielt das berühmte Polyptoton auf den Abschied des Aeneas von Dido und seiner Rechtfertigung bei der späteren Wiederbegegnung im Hades im sechsten Buch von Vergils Aeneis an (invitus, regina, tuo de litore cessi).44 Dido wiederum ist, als nicht-römische Königin und wegen ihres Suizids am Ende der Szene, verbreitet als Parallelfigur zu Kleopatra gesehen worden.45 Doch selbst wenn wir diese Identifizierung akzeptieren, lässt sich daraus kaum eine entsprechende und von Sueton intendierte Gleichsetzung von Berenike mit Kleopatra erschließen.46 Im Gegensatz zu dem Porträt Kleopatras in der Schildbeschreibung im achten Buch der Aeneis47 gibt Vergil Dido durchaus positive Züge; das zentrale Thema der Abschiedsszene und ihr sich anschließender Suizid ist nicht die machtgierige, manipulierende Königin, sondern die gescheiterte Liebe. Wie Titus Berenike, so verlässt auch Aeneas Dido zum Wohle »Roms«. Ein weiterer intertextueller Bezug unterstreicht dies. In seiner Rechtfertigung greift Vergils Aeneas bekanntermaßen einen Vers aus Catulls Übersetzung der Coma Berenices des Kallimachos auf (invita, o regina, tuo de vertice cessi, invita),48 und nicht zuletzt aufgrund der Namensgleichheit der herodianischen Königin mit der von Kallimachos/Catull gefeierten Berenike II ist anzunehmen, dass Sueton diesen doppelten Bezug auch intendierte. Damit wird deutlich, dass auch Sueton also keinen Vergleich, geschweige denn eine Gleichsetzung Berenikes mit Kleopatra anstrebte, obwohl sich diese nicht nur gut in das Erzählschema eingefügt hätte, sondern stilistisch und inhaltlich geradezu aufdrängte. Doch war es nicht die Abwehr einer für Rom bedrohlichen fremden Königin, die Sueton mit Titus’ Trennung von Berenike assoziierte; vielmehr wollte er den schweren Abschied zwischen den beiden Liebenden verdeutlichen und den Verzicht des Titus für das Wohl des Staates herausstellen. Sueton zeigt somit in dieser Passage literarische Qualitäten, doch ist die Betonung von Titus’ Wandel kaum allein seine Interpretation. 44 Verg. Aen. 6, 450–476, Zitat 460. MacRae 2015; vgl. auch Smallwood 1976, S. 388; WeschKlein 2005, S. 164. 45 Vgl. u. a. Bertman 2000; James 2012; Weeda 2015, 135–137 (jeweils mit Überblick über die bisherige Forschung). 46 Dagegen Agnanostou-Laoutides/Charles 2015, S. 18. 47 Verg. Aen. 8,688. 696–697. 707–713. Vgl. Weeda 2015, 115–119 mit Überblick über die Forschung. 48 Catull. 66,39–40. Vgl. u. a. Skulsky 1985; Johnston 1987; Griffith 1995; Wills 1998; MacRae 2015, S. 416f.
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Der überraschende Charakterwandel des neuen Princeps steht auch bei Cassius Dio im Zentrum seines Berichtes über den Herrschaftsantritt des neuen Kaisers, wenngleich Dio dieses Bild durchaus hinterfragt.49 Doch auch bei Tacitus findet sich das Bild der radikalen Verhaltensänderung. Als junger Mann hatte Tacitus seine politische Karriere in Rom noch unter Vespasian und Titus begonnen und war so wahrscheinlich Zeuge der Auseinandersetzungen um Berenike. Leider sind die entsprechenden Bücher der Historien verloren,50 jedoch wird die Königin bereits zweimal im zweiten Buch erwähnt. Zum einen wird ihre Unterstützung der flavischen Erhebung erwähnt, und Tacitus hebt ironisch hervor, dass Berenike in Jugend und Schönheit blühte, Vespasian aber insbesondere von ihren reichen Geschenken angetan gewesen sei.51 Auf die Liebesbeziehung zu Titus geht Tacitus allein zu Beginn des zweiten Buches ein. Titus war Ende des Jahres 68 n. Chr. von seinem Vater nach Italien gesandt worden, um Galba die Treue zu erklären, doch in Korinth erfuhr er von dessen Sturz und Ermordung. Statt die Reise unabhängig davon, wer sich nun in Rom als neuer Princeps durchsetzen sollte, fortzusetzen, entschloss Titus sich zur Umkehr.52 Zu Recht gilt diese überraschende Rückkehr nach Judaea als wichtiger Meilenstein in der flavischen Erhebung.53 Tacitus ist sich der Relevanz dieser Entscheidung deutlich bewusst, fügt jedoch hinzu: Manche glaubten, er [Titus] sei aus Sehnsucht nach Königin Berenike umgekehrt. Und wirklich, in jugendlicher Schwärmerei war er Berenike gegenüber nicht unempfindlich, aber für tatkräftiges Handeln war das kein Hindernis.54
In der Wiedergabe des Gerüchtes schwingt durchaus eine Kritik an Titus mit, dem für eine so weitreichende Entscheidung rein persönliche und irrationale Motive unterstellt werden, doch stellt Tacitus anschließend umgehend fest, dass dies nicht der Fall war.55 In dem folgenden Satz fasst der Historiker denn auch zusammen:
49 Cass. Dio 66,18,1–5. Leider lässt sich nicht nachweisen, welche Quellen Cassius Dio für die Passagen über Titus und Berenike zur Verfügung hatte, so dass seine Darstellung nicht für das zeitgenössische Bild Berenikes herangezogen werden kann. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für die Epitome de Caeasaribus. 50 Vgl. die fiktionale »Rekonstruktion« von Ronald Syme (Syme 1991). 51 Tac. hist. 2,81,2. 52 Tac. hist. 1,10,3. 2,1,1–2,2; Suet. Tit. 5,1; Ios. bell. Iud. 4,498–502. 53 Die Bedeutung der Entscheidung zeigt auch Tacitus, der sie gleich zweimal erwähnt und programmatisch an den Anfang des zweiten Buches stellt, Tac. hist. 1,10,3. 2,1,1–2,2; vgl. u. a. Nicols 1980, S. 62, 94; Jones 1984, S. 45f. Levick 1999, S. 44f. 54 Tac. hist. 2,2,1: fuerunt qui accensum desiderio Berenices reginae vertisse iter crederent; neque abhorrebat a Berenice iuvenilis animus, sed gerendis rebus nullum ex eo impedimentum. Übersetzung nach Helmuth Vretska. 55 Zudem entkräftet Tacitus das Gerücht erneut implizit, indem er vom anschließenden Auf-
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In üppigem Sinnengenuss durchlebte er seine Jugend, während seiner eigenen Herrschaft maßvoller als in der seines Vaters.56
Zwar fehlt hier der wörtliche Bezug zu Berenike, doch wird der Zusammenhang durch die Satzfolge deutlich. Ähnlich wie Sueton und schließlich auch Cassius Dio zählt Tacitus damit das Verhältnis zu Berenike zu den »Jugendausschweifungen« des Titus; unausgesprochen schwingt für das mit der Liebesgeschichte vertraute Publikum mit, dass Titus mit der Trennung von Berenike auch seinen vor dem Herrschaftsantritt lockeren Lebenswandel beendet hatte. Der Verlust der späteren Bücher der Historien erlaubt nur eine eingeschränkte Interpretation von Tacitus’ Blick auf Berenike, doch ist angesichts seiner Gesamtausrichtung anzunehmen, dass er der Königin im Allgemeinen und ihrer Beziehung zu Titus im Besonderen kritisch gegenüberstand. Von einer »jüdischen Kleopatra« aber findet sich auch hier kein Anklang. Mit Sueton, Cassius Dio und Tacitus betonen also drei der Hauptquellen zur flavischen Dynastie nicht nur den wundersamen Wandel, den Titus zu Beginn seiner Herrschaft vollzog, sondern verbinden ihn auch mit der Trennung von Berenike. Angesichts dieser Häufung liegt es daher nahe, in dieser Interpretation mehr als nur persönliche Reflektionen zu sehen, sondern vielmehr eine verbreitete Wahrnehmung, ja sogar den Nachhall der offiziellen flavischen Darstellung. Es war damit nicht die Trennung von einer zu einflussreichen Königin aus dem Osten, für die der neue Princeps gefeiert wurde, sondern im Gegenteil sein Verzicht auf das private Glück zum Wohle Roms. Hätte der Vergleich mit Kleopatra in der Opposition gegen Berenike in Rom einen ausschlaggebenden Charakter gehabt, wäre eine solche Interpretation und Präsentation der Liebesbeziehung und ihres Endes wohl kaum möglich gewesen. Da dieser Vergleich jedoch in der öffentlichen Meinung offenbar nicht präsent war, konnte Titus als zum Besseren bekehrter Thronfolger dargestellt werden, der aus Staatsraison die Liebe seines Lebens entließ.
Titus und Berenike: Zwischen Macht und Machtlosigkeit Findet sich damit kein einziger Hinweis in den antiken Quellen, der auf eine Gleichsetzung Berenikes mit Kleopatra VII hindeutet, stellt sich die Frage, was denn dann die offenbar massive Ablehnung der Königin in der öffentlichen Meinung hervorrief. Die neben der entsprechenden Stelle in Flavius Josephus’ enthalt des Titus im Heiligtum (und Orakel) der Venus von Paphos berichtet; von liebeskranker Hast zurück nach Judaea kann damit keine Rede sein, Tac. hist. 2,2,2. 56 Tac. hist. 2,2,1: laetam voluptatibus adulescentiam egit, suo quam patris imperio moderatior. Übersetzung nach Helmuth Vretska.
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Antiquitates Iudaicae negativste Passage zu Berenike in einer nur gering späteren Quelle findet sich in der sechsten Satire des Juvenal: … weiter ein hochberühmter Diamant, der noch wertvoller wurde, weil Berenike ihn am Finger trug. Ihn schenkte ihr einst der Barbar Agrippa, dass seine blutschänderische Schwester ihn trage, dort, wo die Könige mit nackten Füßen das Sabbatfest ehren und althergebrachte Milde den Schweinen das Altern gestattet.57
Das übergreifende Thema der 6. Satire sind Frauen, und Juvenal schöpft hier aus dem gesamten Arsenal misogyner Stereotypen. Die Sektion, in der Berenike auftaucht, behandelt dabei Luxus- und Prunksucht, doch greift Juvenal noch auf weitere Vorurteile zurück, die sich verbreitet für Dynasten aus dem östlichen Mittelmeerraum finden. Der bereits bei Josephus belegte Inzestvorwurf findet dabei ebenso Verwendung wie die verächtliche Anspielung auf »fremde« Kulte, die durch die sowohl auf Agrippa als auch Berenike zielende Bezeichnung als »Barbaren« noch unterstrichen wird.58 Angesichts der Häufigkeit, mit der Juvenal den vermeintlich zu großen Einfluss aus dem Osten des Reiches auf die Politik und Kultur Roms kritisiert, können diese Ausfälle kaum überraschen.59 Umso interessanter ist daher, dass Juvenal auf Berenike als Beispiel zurückgriff. Wohlweislich unterließ er jede Anspielung auf ihre Beziehung mit Titus, doch war der Dichter sich des Wiedererkennungseffekts und der allgemeinen Vertrautheit des Publikums mit Berenike selbst Jahre nach ihrer Abreise aus Rom sicher. Die Schmähungen und insbesondere der Verweis auf Berenikes Prunk und Luxus lassen damit weite Rückschlüsse auf ihr öffentliches Auftreten in Rom zu und bestätigen das oben rekonstruierte Bild. Die wenigen zur Verfügung stehenden Quellen lassen nur eine eingeschränkte Rekonstruktion von Berenikes Aufenthalt in Rom und der sich gegen ihre Anwesenheit artikulierenden Opposition zu. Es kann jedoch kein Zweifel daran 57 Iuv. Sat. 6,156–160: deinde adamas notissimus et Beronices j in digito factus pretiosor. hunc dedit olim j barbarus incestae gestare Agrippa sorori, j observant ubi festa mero pede sabbata reges,j et vetus indulget senibus clementia porcis. Übersetzung nach Joachim Adamietz. 58 Der Inzestvorwurf war allgemein ein beliebtes Mittel der Diskreditierung (vgl. etwa Caligula mit seinen Schwestern, Suet. Cal. 24,1–3. 36.1; Ios. ant. Iud. 19,204; Cass. Dio 59,3,6. 11,1. 22,6. 26.5; Aur. Vict. Caes. 3,10; Ps.-Aur. Vict. epit. Caes. 3,4; Eutr. 7,12,3; Oros. 7,5,9; Suda [ed. Adler] s.v. C\ior. Agrippina und Nero, Suet. Nero 28.2; Tac. ann. 14,2,1–2. Auch die Verbindung von Agrippina und Claudius musste nach traditionellem römischen Verständnis als Inzest gelten, Suet. Claud. 39,2; Tac. ann. 11,25,8. 12,3,1. 5,1. 6,3. 7,2, vgl. Ginsburg 2006, S. 12 sowie 119–121). Bei Juvenal freilich überwiegt die Konnotierung als barbarisch und als verbreitetes Stereotyp für östliche Dynastien im Besonderen (vgl. Tac. ann. 2,3,2). Properz (3,11,39) tituliert Kleopatra VII so berühmt als incesti meretrix regina Canopi; der Vorwurf in Juvenal ist jedoch nicht als Anspielung auf Kleopatra zu verstehen. 59 Vgl. insbesondere Iuv. 3,62–65: iam pridem Syrus in Tiberim defluxit Orontes, et linguam et mores et cum tibicine chordas obliquas nec non gentilia tympana secum vexit et ad circum iussas prostare puellas; sowie u. a. Iuv. 1.129–131. 3,13–18. 6,542–556. 8,158–162. 14,96–106.
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bestehen, dass die Königin in der Hauptstadt des Reiches in der Öffentlichkeit präsent war, sich ausgesprochen selbstbewusst präsentierte, und auch ihre Liebesbeziehung zu Titus in keiner Weise versteckt wurde. Im Gegenteil scheinen die beiden zumindest bei manchen Gelegenheiten offen als Paar aufgetreten zu sein, so dass Gerüchte, Titus habe seiner Geliebten die Hochzeit versprochen, sich schnell verbreiten konnten. Insbesondere die Passage in den Satiren Juvenals deutet darauf hin, dass es insbesondere das selbstbewusste, luxuriöse, den eigenen Reichtum und den royalen Status zur Schau stellende Auftreten Berenikes war, das der stadtrömischen Bevölkerung von ihr in Erinnerung blieb und wohl auch zu ihrer Ablehnung führte. Als regina aus dem östlichen Teil des Reiches war Berenike damit ein geeignetes Ziel für die im ausgehenden ersten Jahrhundert n. Chr. noch so weitläufig bestehenden Vorurteile gegenüber den Eliten und insbesondere den Dynastien aus dem Osten, wie es auch die Einreihung ihrer Beziehung zu Titus in die weiteren Vorwürfe eines zu ausschweifenden und dekadenten Lebensstils bei Sueton zeigt. Die gleichen Stereotypen waren auch in der Propaganda Octavians im Bürgerkrieg und in der augusteischen Rezeption der Kleopatra gebraucht worden und hatten in diesem Kontext eine zusätzliche Dynamik erhalten. Der verbreitet angenommen direkte Vergleich zwischen Berenike und Kleopatra aber wurde nicht angestellt und war auch nicht notwendig. Dies wird um so deutlicher, macht man sich bewusst, welche Elemente bei einer solchen Gleichsetzung zu erwarten gewesen wären. Tatsächlich findet sich in keiner der vorliegenden Quellen auch nur die Andeutung des Vorwurfs, Berenike habe ihr Verhältnis zu Titus und ihre erotische Anziehungskraft missbraucht, um illegitime Macht auszuüben, ja sich sogar zur Herrscherin Roms aufzuschwingen. Die einzige Quelle, die den politischen Einfluss Berenikes andeutet, ist Quintilian, der jedoch, wie gezeigt, weder negativ noch in irgendeiner Weise aufgeregt darüber berichtet. In der Kritik an der Liebesbeziehung zwischen Titus und Berenike fehlt damit eine Diffamierung als meretrix regina oder fatale monstrum, wie Properz und Horaz Kleopatra VII wirkmächtig charakterisierten, vollständig.60 In den mehr als einhundert Jahren zwischen dem Tod Kleopatras VII und des Antonius und dem Ende der Liebesbeziehung zwischen Titus und Berenike hatten sich die Verhältnisse in Rom ebenso wie im Osten des Reiches massiv verändert. Obwohl beide Frauen als basilissai in ihrer Zeit bedeutenden Dynastien angehörten, lassen sich Berenike und Kleopatra in Status und Stellung, Macht, Einfluss und den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen in keiner Weise vergleichen. Somit verband die beiden eigentlich nur eine Gemeinsam60 Properz 3,11,39. Hor. carm. 1,37,21. Zur Darstellung Kleopatras in der augusteischen und nach-augusteischen Literatur s. u.a. Becher 1966; Wyke 2009.
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keit: die Beziehung zu (mindestens) einem der mächtigsten Römer ihrer Zeit. Nichts anderes hatte Theodor Mommsen mit seinem ironischen Diktum von den »Kleopatra im Kleinen« impliziert, und auch die zeitgenössischen Römer waren sich der Unterschiede zu sehr bewusst, als dass sie auf diese Gleichsetzung zurückgegriffen hätten; sie war für die Ablehnung Berenikes auch gar nicht nötig. Dementsprechend fürchtete man sich in Rom auch nicht vor einem neuen Antonius, sondern vielmehr wurde Titus als zweiter Nero kritisiert. Seine Wandlung zum hochgelobten Princeps, nach Sueton als amor ac deliciae generis humani betitelt, aber wurde insbesondere durch die Trennung von Berenike vollzogen.61 Folgen wir der Darstellung Suetons weiter, so war für Titus und Berenike persönlich das Ende ihrer Liebesbeziehung ebenso tragisch wie für Antonius und Kleopatra, fiel freilich weit weniger dramatisch aus. Mit ihrer letzten Abreise aus Rom verschwindet Berenike aus den historischen Quellen.
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