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German Pages 1732 [510] Year 2020
Raphael Hülsbömer
Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939
Raphael Hülsbömer
Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 Teil 3
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Inhalt II.2 Bayern...........................................................................................................................................11 II.2.1 Die Besetzung der Bischofsstühle in den bayerischen Konkordatsverhandlungen 1918–1925...............................................................................................................11 Die Pfarrbesetzungen als Auftakt der Frage nach der Fortgeltung des Bayernkonkordats von 1817...........................................................................................11 Das Gutachten von Joseph Hollweck............................................................................13 Die Ansicht Pacellis zur Fortgeltung des bayerischen Konkordats...........................15 Konsequenzen aus der Weimarer Reichsverfassung?.................................................17 Das Gutachten Benedetto Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern.............19 Der bayerische Episkopat und die Besetzung der bischöflichen Stühle...................23 Pacelli bei Hoffmann.......................................................................................................25 Verhandlungsauftakt um ein neues bayerisches Konkordat......................................29 Die Konkordatsverhandlungen bis zum Sommer 1921.............................................31 Die bayerischen Domkapitel und der Modus der Bischofseinsetzung.....................35 Die Interessengemeinschaft von Regierung und Domherren sowie der Widerspruch des Episkopats..........................................................................................39 Pacelli zum Modus der Bischofseinsetzung und über „würdige“ Bischöfe..............43 Zwei Sitzungen der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten und der römische Konkordatsentwurf...........................................48 Die Klärung der politischen Klausel.............................................................................51 Die Debatte über den ersten römischen Konkordatsentwurf: Kritik an der politischen Klausel....................................................................................................56 Die Forderung des Kapitelswahlrechts durch die staatlichen Verhandlungsführer........................................................................................................59 Der Auftakt der mündlichen Konkordatsverhandlungen 1923 und die fruchtlose Kontroverse um die Bischofswahl........................................................62 Pacelli empfiehlt erneut Zugeständnisse......................................................................67 Die staatliche nota explicativa und eine neue innerkuriale Debatte........................71 Der neue staatliche Konkordatsentwurf und Pacellis ‚Gegenmaßnahmen‘.............77 Die letzte Konzession des Heiligen Stuhls: Einlenken der Regierung oder Scheitern der Verhandlungen?.............................................................................83 Die ‚Meistbegünstigungsklausel‘ und ein nicht gegebenes Versprechen.................90 5
Neue Modifikation durch den Heiligen Stuhl: keine Listenbindung und Gasparri contra Pacelli............................................................................................96 Der endgültige Modus der bayerischen Bischofseinsetzungen.................................99 Widerstand und Annahme des neuen Konkordats..................................................102 Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens........................................................104 Ergebnis.................................................................................................................................109 II.2.2 Im Sog des Bayernkonkordats – Koinzidenz von Opportunität und Ideal: Würzburg 1920–1924 (Matthias Ehrenfried)......................................................125 Die Absetzung Ferdinand von Schlörs und die Einsetzung Johann von Haucks zum Apostolischen Administrator...........................................125 Alternativlösung Koadjutor?........................................................................................130 Ein zweiter Anlauf: Weihbischof Hierl als Koadjutor für Schlör?..........................131 Der Tod Schlörs und Nachfolgeüberlegungen durch Pacelli und Hauck..............136 Pacellis Plan: eine römische Ernennung von Ehrenfried oder Landersdorfer.................................................................................................................141 Mergels Gutachten über Ehrenfried...........................................................................146 Die Ernennung Ehrenfrieds zum Bischof von Würzburg........................................147 Bischofsweihe, Besitzergreifung der Diözese und Inthronisation..........................149 Ergebnis.................................................................................................................................150 II.2.3 Eine relevante Stimme in einer Flut von Kandidatenvoten: Regensburg 1927/28 (Michael Buchberger)...........................................................................158 Der Tod von Bischof Anton von Henle, die Spaltung des Domkapitels und die Einmischung des bayerischen Ministerpräsidenten....................158 Die Kandidatentrias Michael Hofmanns und die Empfehlung Bischof Ludwig Hugos..................................................................................................162 Ein weiteres Votum für Hierl: Stadtpfarrer Braun und Priorin Reichert...............165 Noch einmal die Spaltung des Regensburger Domkapitels.....................................167 Die Sedisvakanzliste des Domkapitels........................................................................169 Hierl, der Favorit...........................................................................................................170 Die Voten der Patres Schmoll und Fritz.....................................................................172 Buchberger, der „Wachtposten“: Vassallos Kandidatenquintett..............................177 Faulhabers Intervention in Rom und Buchbergers Ernennung zum Bischof von Regensburg...............................................................................................181 Das Nihil obstat der bayerischen Regierung und Buchbergers Amtsantritt.........183 Ergebnis.................................................................................................................................185 6
II.2.4 Gegen das Votum der Ortskirche: Augsburg 1930 (Joseph Kumpfmüller)............186 Der Tod von Bischof Maximilian von Lingg.............................................................186 Zwei Voten für Eberle aus Augsburg...........................................................................187 Die Sedisvakanzliste der Augsburger Domherren....................................................190 Vassallo über Eberle und die Diözese Augsburg.......................................................191 Die Sondierungen des Kardinalstaatssekretärs: Zweifel an Eberles moralischer Integrität...................................................................................................193 Das Ende der Kandidatur Eberles und die Alternativen Höcht und Kumpfmüller..................................................................................................................196 Vassallos Informationsbeschaffung.............................................................................198 Die Ernennung Kumpfmüllers zum Bischof von Augsburg....................................200 Ernennungsbullen, Bischofsweihe und Inthronisation............................................201 Ergebnis.................................................................................................................................202 II.2.5 Von römischer „Voreingenommenheit“: Eichstätt 1932 (Konrad Graf von Preysing).....................................................................................................213 Der Tod von Bischof Leo von Mergel und die Bischofskandidaten des Domkapitels.............................................................................................................213 Helds Fürsprache für Bruggaier..................................................................................215 Drei mögliche Geistliche für den Bischofsstuhl des heiligen Willibald.................216 Pacellis Kandidatentrias auf den Triennallisten........................................................217 Vassallo über Pacellis Kandidaten...............................................................................220 Die Ernennung Preysings zum Bischof von Eichstätt, staatliche Indiskretion und die Rüge des Nuntius......................................................................222 Preysings Amtsantritt und Dank an Pacelli...............................................................227 Ergebnis.................................................................................................................................228 II.2.6 Ein einheimischer „candidatus dignissimus“ und der scheidende Oberhirte als Promotor: Eichstätt 1935 (Michael Rackl).....................................................237 Kirchenpolitische Voraussetzungen............................................................................237 Preysings Abschied und die Nachfolgekandidaten des Domkapitels.....................238 Die römische Entscheidung für Rackl und seine Resultate auf den bischöflichen Triennallisten.........................................................................................241 Rackl in der Berliner Nuntiatur und Preysings Unterstützung...............................243 Politische Bedenken? Rackl und die Wehrpflicht.....................................................245 Vassallos Informationen und die Verzögerung der staatlichen Entscheidung......... 249 Faulhaber contra Rackl und das Nihil obstat des bayerischen Reichsstatthalters...........................................................................................................252 7
Notifikation und Formalia...........................................................................................255 Eidesleistung und Amtsantritt des neuen Diözesanbischofs...................................257 Ergebnis.................................................................................................................................260 II.2.7 Eine letzte Gelegenheit für einen langjährigen Bischofsanwärter: Passau 1936 (Simon Konrad Landersdorfer OSB)................................................................269 Der Tod von Bischof Felix von Ow-Felldorf und die Kandidaten der Passauer Domherren.....................................................................................................................269 Die Entscheidung des Heiligen Stuhls für Landersdorfer und dessen Status auf den Triennallisten........................................................................................272 Unproblematisch: das staatliche Nihil obstat.............................................................275 Problematisch: das zögerliche Einverständnis Landersdorfers und seine Ernennung zum Bischof von Passau.................................................................277 Treueid und Amtsantritt...............................................................................................281 Ergebnis.................................................................................................................................283 II.3 Oberrheinische Kirchenprovinz.............................................................................................291 II.3.1 Eine freie Bischofswahl: Freiburg 1920 (Karl Fritz)....................................................291 Die badische Verfassung von 1919: neue Freiheit für die Kirche...........................291 Der Tod von Erzbischof Thomas Nörber und die Frage der Nachfolgeregelung.........................................................................................................294 Die päpstliche Wahlerlaubnis und Freiheit von staatlicher Ingerenz.....................297 Die Wahl des neuen Erzbischofs.................................................................................298 Informationsbeschaffung des Nuntius über Fritz.....................................................300 Die päpstliche Approbation des neuen Erzbischofs..................................................303 Ernennungsbullen, Bischofsweihe und Inthronisation............................................305 Zum Abschluss: zwei Fragen der Forschung.............................................................307 Ergebnis.................................................................................................................................309 II.3.2 Nationale Interessen und Gräben in der Bistumsleitung: Mainz 1920/21 (Ludwig Maria Hugo)....................................................................................313 Die Besetzung des Domdekanats als Auftakt............................................................313 Pacellis Kandidatensondierungen für den Posten eines Koadjutors......................315 Brentano gegen Bendix et vice versa und die prekäre Lage des Mainzer Bistums............................................................................................................323 Ein unerwarteter Kandidatenwechsel.........................................................................328 Gutachten über Ludwig Maria Hugo und die Klärung der Finanzfragen..................................................................................................................331 Pacellis Berichterstattung an Gasparri und die Ernennung Hugos zum Koadjutor...............................................................................................................334 8
Die verspätete Reaktion des Mainzer Domkapitels und der Wunschkandidat Ludwig Kaas....................................................................................337 Die Bekanntmachung der Ernennung Hugos, der Informativprozess und die Sorge vor dem künftigen Einfluss des Domdekans....................................342 Die Kontroverse um die Eidesleistung.......................................................................348 Bischofsweihe, Eidverzicht und Inthronisation Hugos............................................353 Ergebnis.................................................................................................................................359 II.3.3 Eine Bischofswahl zum Preis von Konkordatsverhandlungen: Rottenburg 1926/27 (Joannes Baptista Sproll).......................................................................366 Der staatskirchenrechtliche Vorlauf............................................................................366 Der Tod von Bischof Paul Wilhelm von Keppler......................................................373 Wahl oder Ernennung? Das Punctum saliens der Frage nach der Wiederbesetzung...........................................................................................................374 Die Suche nach passenden Bischofskandidaten........................................................376 Kein Wahlrecht für das Domkapitel: das Bittschreiben an den Papst und Pacellis Ablehnung......................................................................................384 Sproll oder Baur? Pacellis letzte Sondierungen.........................................................386 Die römische Entscheidung für Sproll........................................................................390 Der Disput zwischen Pacelli und Bolz........................................................................391 Quid pro quo: der Tausch von Kapitelswahlrecht gegen staatliche Verhandlungsbereitschaft.............................................................................................398 Verhandlungen um die Spezifika des Wahlmodus...................................................401 Die Wahl Sprolls zum Bischof von Rottenburg.........................................................405 Die päpstliche Bestätigung und die Ernennungsbullen...........................................407 Eine unvorhergesehene Verzögerung: der Beleidigungsprozess.............................410 Die Inthronisation Sprolls............................................................................................412 Ergebnis.................................................................................................................................413 II.3.4 Im Angesicht des badischen Konkordats: Freiburg 1931/32 (Conrad Gröber)........................................................................................................................420 ‚Vorgeschichte‘: Pacellis Ringen um ein Konkordat mit Baden...............................420 Der Tod von Erzbischof Fritz.......................................................................................426 Die Wiederbesetzung des erzbischöflichen Stuhls als Katalysator für die Konkordatsverhandlungen..............................................................................428 Die Beurteilung der Position Baumgartners durch Kapitelsvikar Sester...............433 Wahl oder Ernennung? Die Auffassung von Josef Sester.........................................435 Pacellis Direktive: Konkordat oder päpstliche Ernennung des neuen Erzbischofs.....................................................................................................................439 Widerstand und Einlenken im Freiburger Metropolitankapitel.............................440 9
Pacellis Kandidat für Freiburg: Conrad Gröber........................................................443 Pacelli und Baumgartner: eine fruchtlose Grundsatzdebatte..................................445 Verzögerungen: ein unzureichender Konkordatsentwurf und Sesters Intrige......448 Gröbers Ernennung zum Erzbischof von Freiburg...................................................451 Die Resonanz auf die Translation................................................................................457 Gröbers Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und seine Einsetzung in Freiburg......................................................................................................................462 Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen...............................................................................................................465 Ergebnis.................................................................................................................................476 II.3.5 Ein beinahe konfliktfreies und ‚minimalistisches‘ Verfahren: Mainz 1935 (Albert Stohr)........................................................................................................485 Der Tod von Ludwig Maria Hugo und eine vergessene Konkordatsbestimmung....................................................................................................................485 Die Vorschläge des Mainzer Domkapitels: sechs Kandidaten für den Bischofsthron..........................................................................................................487 Der Favorit Orsenigos: Wendelin Rauch....................................................................489 Die römische Terna.......................................................................................................490 Reibungslos: die Wahl Stohrs und das hessische Plazet...........................................492 Stohrs Einsetzung zum Bischof von Mainz und Disharmonien über den Treueid............................................................................................................496 Ergebnis.................................................................................................................................500
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II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925 II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
II.2 Bayern II.2.1 Die Besetzung der Bischofsstühle in den bayerischen Konkordatsverhandlungen 1918–19251 Die Pfarrbesetzungen als Auftakt der Frage nach der Fortgeltung des Bayernkonkordats von 1817 Der Sturz Ludwigs III. von Bayern in Folge der Novemberrevolution 1918, mit dem das Wittelsbacher Königtum endete, veränderte nicht nur die politische, sondern auch die kirchenpolitische Situation im Freistaat grundlegend. Konnte das zwischen Papst Pius VII. und König Maximilian I. Joseph am 5. Juni 1817 geschlossene Konkordat nach dem Untergang der Monarchie noch Geltung beanspruchen?2 Schon im Revolutionsmonat wurde diese zentrale Frage brisant, nämlich angesichts anstehender Pfarrbesetzungen, die das Konkordat zum Teil der Präsentation des Königs vorbehalten hatte.3 Der bayerische Episkopat unter der Führung des Erzbischofs von München und Freising, Michael von Faulhaber, plädierte dafür – wie Letztgenannter am 27. November 1918 an den Auditor der Münchener Nuntiatur, Lorenzo Schioppa, schrieb –, „die Patronatsrechte der königlichen Zeit für die jetzige neue Regierung zu tolerieren“4. Die demokratische Staatsregie1
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Vgl. zum bayerischen Konkordat von 1924 und den Verhandlungen die Dokumente sowie den Konkordatstext bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 293–315 sowie bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I; außerdem Chenaux, Pie XII, S. 135–142; Deuerlein, Reichskonkordat, S. 40–52; Feldkamp, Pius XII., S. 56–58; Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 181–227; Groll, Domkapitel, S. 381–397; Heinritzi, Neuordnung; Ders., Staat-Kirche-Verhältnis; Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 912–918; Listl, Entwicklung; May, Kaas 2, S. 382–393; Scheuermann, Konkordat; Schmidt, Kultusminister, bes. S. 192–220; Scholder, Kirchen 1, bes. S. 86f.; Stehlin, Weimar, S. 402–411; Zedler, Bayern, S. 374– 454. Vgl. gesondert zur Frage der Besetzung der Bischofsstühle Haag, Recht, S. 12–31; Forstner, Nominierungen; Hartmann, Bischof, S. 62–67; Link, Besetzung, S. 231–239; Listl, Besetzung, S. 35–40; Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 108–118; Ders., Stand, S. 721–723; Petroncelli, provvista, S. 80–82; Zedler, Bayern, S. 409–419. Vgl. bayerisches Konkordat vom 5. Juni 1817, abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 170–177 (Nr. 73). Vgl. dazu Ammerich (Hg.), Konkordat; Groll, Domkapitel, S. 13–51; Hausberger, Staat; Müller, Säkularisation (1991). Vgl. Art. XI des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 175. Faulhaber an Schioppa vom 27. November 1918, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 2rv, hier 2r. 11
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
rung sollte die bisher vom König geübten Pfarrpräsentationen also stillschweigend übernehmen. Andernfalls werde – so Faulhaber – die gegenwärtige Regierung sofort die Trennung von Kirche und Staat durchführen, was den Klerus angesichts der durch den Ersten Weltkrieg gezeichneten schwierigen Lage zu Hunger und völliger Armut verdammen würde. Schioppa, der den vor den revolutionären Unruhen ins Schweizerische Rorschach geflohenen Nuntius Pacelli vertrat, trug das Anliegen wunschgemäß an Papst Benedikt XV. und Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri weiter.5 Dessen Antwort zu Jahresende fiel unbestimmt aus: Faulhaber möge in den anvisierten Verhandlungen mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und Kultusminister, Johannes Hoffmann, sicherstellen, den Heiligen Stuhl in keiner Weise durch irgendwelche negativen Präjudizien zu kompromittieren, weil dieser die Angelegenheit dann verhandeln wolle, sobald eine stabile neue Regierung vorhanden sei.6 In der Zwischenzeit sollten die einzelnen Bischöfe bei den entsprechenden Besetzungsfällen selbst entscheiden, wie vorzugehen sei – freilich nur via facti, ohne einer definitiven Regelung Roms vorzugreifen. Mit folgendem Wortlaut gab Schioppa diese Weisung an Faulhaber weiter: „Der H[eilige] Stuhl ist bereit, die Bedürfnisse der neuen Lage zu prüfen, sobald eine festbleibende Regierung mit dem H[eiligen] Stuhl wird verhandeln wollen. Inzwischen sollen die Bischöfe selbständig in den einzelnen Fällen sich zurechtfinden, lediglich auf dem Weg des Vollzugs ohne Preisgabe der kanonischen Grundsätze und ohne dem H[eiligen] Stuhl etwas zu vergeben, indem sie nach Möglichkeit pfarramtliche Verwalter aufstellen.“7
Die Verwirrung folgte auf dem Fuße: Der eine Teil des bayerischen Episkopats interpretierte diese Aussage als positive, der andere Teil als negative Antwort auf das Gesuch vom 27. November. Da es aber nicht angehen könne – wie Faulhaber gegenüber Schioppa anmerkte –, dass „ein Teil der Ordinariate um Präsentation [sc. mittels der vorgesehenen Kandidatenliste bei der Regierung, R.H.] eingibt, der andere sie verweigert“ und er selbst keine einheitliche Praxis durchsetzen kön-
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Vgl. Schioppa an Gasparri vom 28. November 1918, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 59, Fasz. 39, Fol. 2r–3r. Diesem Schreiben fügte der Auditor den entsprechenden offiziellen Antrag Faulhabers vom 27. November 1918 an Benedikt XV. bei. Vgl. ebd., Fol. 4r–5v. Eine andere Auffassung als Faulhaber und die übrigen Oberhirten vertrat der Regensburger Bischof Anton von Henle. Da es ihm ausgeschlossen schien, dass der Heilige Stuhl die dem Staat im Konkordat von 1817 gewährten Privilegien angesichts der neuen politischen Situation sofort zurückziehen konnte, votierte er dafür, „einstweilen die definitive Besetzung der Pfarreien bez[iehungsweise] Pfründen jeder Art auszusetzen“ und damit der Regierung eben nicht das provisorische Präsentationsrecht zu überlassen. Vgl. Auszug aus einem Schreiben Henles an Faulhaber ohne Datum [17. November 1918], ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 6r–7r, hier 7r; vollständig abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 42–44 (Nr. 21). Obwohl Faulhaber diese Ansicht nicht teilte, sandte er dieses Skriptum an die Münchener Nuntiatur und Schioppa reichte es als weitere Meinung ebenfalls nach Rom weiter. Vgl. Gasparri an Schioppa vom 31. Dezember 1918, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 10r. Schioppa an Faulhaber vom 4. Januar 1919 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 11r. 12
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
ne, bat er um eine authentische Interpretation, ob diese Antwort „ein tolerari potest oder ein tolerari non potest enthält“8. Wie in Preußen war es wiederum die Frage der Ämterbesetzung, an der sich die nach der bleibenden Gültigkeit der bisherigen Rechtsgrundlage entzündete.9 Von der Antwort hing auch der Besetzungsmodus der bischöflichen Stühle ab: Ebenso wie die Pfarrpräsentation gestand das Konkordat von 1817 dem König das Nominationsrecht der Bischöfe zu.10 Wenn das königliche Recht in der Pfarrbesetzung stillschweigend auf die neue Regierung übergehen konnte, galt dasselbe dann auch für die Bischofseinsetzungen? Die schwebende rechtliche Situation bedurfte einer grundlegenden Klärung. Deshalb nahm Anfang April 1919 der inzwischen nach München zurückgekehrte Nuntius den Faden der ungeklärten Pfarrbesetzung auf und schilderte seinem römischen Vorgesetzten, dass die Problematik weiterhin bestand: Der bayerische Episkopat sei sich nicht einig, ob es noch gestattet sei, der Regierung die Kandidatenterna vorzulegen und ihre Präsentation des neuen Amtsinhabers hinzunehmen.11 Während Faulhaber eher dazu tendiere, die Notwendigkeit eines neuen Privilegs von Seiten des Heiligen Stuhls anzunehmen, spreche sich der Erzbischof von Bamberg, Johann Jakob von Hauck, dafür aus, die bisherige Praxis schlicht beizubehalten, solange das Konkordat noch bestehe. Damit war die entscheidende Frage nach dem Bestand des Konkordats ausdrücklich angesprochen. Hauck beantwortete sie positiv und untermauerte diese Auffassung mit einem Gutachten des Eichstätter Kanonisten Joseph Hollweck.12 Pacelli trug dessen Ausführungen dem Kardinalstaatssekretär ausführlich vor.
Das Gutachten von Joseph Hollweck Als Vertreter der Auffassung von Konkordaten als bilateralen Verträgen war für Hollweck die Fortgeltung des bayerischen Kirchenvertrags von 1817 unstrittig: „Konkordate werden immer zwischen dem h[eiligen] Stuhle, als dem höchsten und universellen Vertreter der Kirchenmacht, und den Staatsregierungen geschlossen, gleichgültig, wer 8 9 10
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Faulhaber an Schioppa vom 7. Januar 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 12rv, hier 12r-v. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.1 (Der Auftakt der Frage nach der Geltung der alten Rechtsgrundlagen). Vgl. Art. IX des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 174. Vgl. dazu Busley, Nominationsrecht; Scharnagl, Nominationsrecht. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 3. April 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 59, Fasz. 39, Fol. 13r–19r. Vgl. auch den Auszug aus dem Brief Haucks an Faulhaber vom 20. März 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 14rv; vollständig abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 65–67 (Nr. 33). 13
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
eben als deren Inhaber und Vertreter erscheint, sei es ein Monarch, sei es eine Oligarchie, welche sie vertritt, oder ein Parlament, das seine Rechte und seine ihm zustehende Regierungsgewalt durch irgend eine bestimmte bevollmächtigte Person ausübt. Die Staatsregierung gilt in jedem Staatsgebiete als eine tatsächlich vorhandene unwandelbare Macht, welche mit der Existenz des Staates von selbst gegeben ist, und in der der Staat konkret existiert; wer pro tempore Inhaber der Staatsgewalt ist, und wie sie geübt wird, ist an sich irrelevant. Darum bleiben Konkordate zweifellos aufrecht, so lange der Staat, mit dem sie geschlossen wurden, existiert oder wenigstens mit der Substanz des Gebietes existiert, sollten auch daran Änderungen vor sich gehen.“13
Hollweck stimmte mit Felice Kardinal Cavagnis überein: Die vertraglichen Vereinbarungen hingen an der Gesellschaft, der die Rechte und Pflichten wiederum durch die Staatsoberhäupter auferlegt würden, weil sie eine persona perfecta, nämlich ein Staat sei. Da es genuin an diesem liege, die Verträge zu erfüllen, blieben sie auch beim Wechsel des Oberhauptes oder der Regierungsform in Kraft.14 Im napoleonischen Konkordat von 1801 sah Hollweck diese Ansicht in die Praxis umgesetzt.15 Das Konkordat habe mehrere Wechsel nicht nur von Regierungen, sondern auch von monarchischen und republikanischen Regierungsformen bis 1905 überstanden. Daher war es für den Kanonisten offenkundig, dass auch Rom diese Ansicht teilte. Eine spezifische Ausnahme im Bayernkonkordat gab es für ihn jedoch: „Nur die eine Bestimmung über die Ernennung zu den Bischofssitzen, die ganz exzeptionell ein persönliches Privileg den Königen von Bayern und zwar für ihre Person einräumt, so lange sie katholisch sind, ist mit Beseitigung der Monarchie hinweggefallen, weil es keinen Träger des Privilegs mehr gibt.“16 Für die Besetzung der dem König vorbehaltenen Pfarreien gelte dies nicht, sodass die faktisch geübte Präsentation durch die jetzige Regierung bestehen bleiben könne.
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Gutachten Hollwecks ohne Datum (Abschrift), ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 15r–16v, hier 15r. Vgl. dazu auch Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Fortgeltung der Verträge und das Wahlrecht der Domkapitel: die Debatte der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten). Vgl. dazu Cavagnisʼ Ausführungen: „Respondemus conventiones afficere ipsam societatem, etsi contrahantur eius nomine ab auctoritate nunc praesidente societati; hinc iura et onera acquiruntur societati mediantibus rectoribus; et quoniam societas est persona perfecta, semper de se perdurant etsi mutentur rectores et regiminis formae. Et proinde est duplex persona consideranda; ea cuius administratio geritur, et ea quae eamdem gerit; illa est societas et permanet; haec est persona gubernans sive physica sive moralis; et quoad formam mutatur in Statu. Igitur sicut ex hac mutatione non corruunt tractatus internationales, ita nec concordata, quae his aequiparantur; imo neque corruunt per se ceterae conventiones …“ Cavagnis, Institutiones I, S. 442. Vgl. zur Einordnung Cavagnisʼ in die Entwicklung des Ius Publicum Ecclesiasticum Listl, Kirche, S. 32–34. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 276. Gutachten Hollwecks ohne Datum (Abschrift), ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 15v–16r. Hervorhebung im Original. 14
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Die Ansicht Pacellis zur Fortgeltung des bayerischen Konkordats Bis auf die letzte Schlussfolgerung bekundete Pacelli in seiner Berichterstattung im April dem Kanonisten seine Zustimmung: „Es besteht kein Zweifel, dass das bayerische Konkordat … in seiner Gesamtheit in Kraft geblieben ist auch nach dem kürzlichen Umsturz in der Regierungsform; aber es scheint, erlaubt zu sein, sich zu fragen, ob die von Herrn Hollweck ausdrücklich zugegebene Ausnahme für das Recht der Ernennung der vakanten Bischofsstühle nicht ebenfalls für die Präsentation der Pfarreien und der Nichtkonsistorialbenefizien gilt. Tatsächlich müssen die Privilegien contra ius streng ausgelegt werden und sind daher vor allem als persönliche denn als dingliche zu betrachten; diese Regel gilt offensichtlich vor allem im Recht der Ernennung oder der Präsentation, das hassenswert ist, weil es die Freiheit der Kirche in der Übertragung der Benefizien schmälert.“17
Wenngleich das Bayernkonkordat als ganzes noch Bestand habe, sei das Recht der königlichen respektive staatlichen Bischofsernennung ebenso verfallen wie das der Präsentation von Pfarrern. Da diese bisherigen Privilegien dem kirchlichen Recht – wie es der neue CIC festschrieb – widersprächen, müssten sie streng ausgelegt werden. Wenn Pacelli diese daher persönlich und nicht dinglich interpretierte, dann folgte daraus, dass mit dem Untergang des Privilegienempfängers, nämlich des bayerischen Königs, auch das Privileg selbst gegenstandslos wurde. Das staatliche Ämterbesetzungsrecht, sei es der Bischöfe oder der Pfarrer, hielt Pacelli für ein großes Übel, weil es die libertas ecclesiae beeinträchtige. Außerdem – so Pacelli weiter – könne die neue bayerische Regierung dem Heiligen Stuhl nicht die gleichen Sicherungen bieten wie ein katholischer König. Mit Rekurs auf Cavagnis stellte der Nuntius fest, dass die Kirche das königliche Patronatsrecht stets nur sorgfältig ausgesuchten Königsdynastien konzediert habe. Auch das Argument, dass die Regierung die Pfarrer und anderen Benefizien weiterhin bezahlte, hielt Pacelli nicht für ausreichend, um den Fortbestand dieser Rechte zu fordern, denn bei diesen Leistungen handle es sich um eine partielle Restitution der in der Säkularisation der Kirche weggenommenen Güter. Wenn also das Präsentationsrecht nach Pacelli nicht automatisch auf die neue Regierung überging, hielt er es dennoch für möglich, dass der Papst eine neue Genehmigung ausstellte, die nicht notwen-
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„Non vi è dubbio che il Concordato bavarese … nel suo complesso sia rimasto in vigore anche dopo il recente cambiamento nella forma di Governo; ma sembra che sarebbe lecito di domandarsi se lʼeccezione ammessa espressamente da Monsignor Hollweck per il diritto di nomina alle sedi vescovili vacanti non valga altresì per la presentazione alle parrocchie ed ai benefici non concistoriali. Infatti, i privilegi contra ius debbono interpretarsi strettamente, e perciò sono da ritenersi piuttosto come personali che come reali; regola questa, la quale vale evidentemente sopratutto nel diritto di nomina o presentazione, che è odioso, perchè diminuisce la libertà della Chiesa nel conferimento benefici …“ Pacelli an Gasparri vom 3. April 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 59, Fasz. 39, Fol. 15v–16r. Hervorhebungen im Original. 15
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
digerweise ausdrücklich sein musste, sondern auch in einer impliziten oder stillschweigenden Anerkennung seitens des Heiligen Stuhls bestehen konnte. Im Folgenden kam Pacelli auf die konkrete Situation der Pfarrbesetzungen in Bayern und die kontroverse Auffassung im bayerischen Episkopat zu sprechen, die daraus resultierte, dass aus Rom bislang keine klärende Interpretation auf die Anfrage Faulhabers gekommen war.18 Gasparri hatte versichert, dass man mit dem Staat in Verhandlungen eintreten werde, sobald eine stabile Regierung an der Macht sei. Pacelli plädierte nunmehr dafür, die gegenwärtige Regierung unter dem mehrheitssozialistischen Ministerpräsidenten Hoffmann als legitime Staatsführung anzuerkennen.19 Doch schien Pacelli die Einleitung von Verhandlungen wegen der unsicheren politischen Lage und der Person Hoffmanns schwierig.20 Wenn allerdings, wie zu erwarten stehe, in Deutschland eine Trennung von Kirche und Staat durch eine neue Verfassung – auf nichtfeindliche Weise – durchgesetzt werde, würde das staatliche Präsentationsrecht der Benefizien von selbst fallen. Auf Basis dieser Überlegungen stellte er es Gasparri anheim, zu entscheiden, ob er dennoch über die Pfarrbesetzungen verhandeln sollte oder ob es besser sei, das Ende der politischen und sozialen Krise abzuwarten und bis dahin das jeweilige provisorische Vorgehen der Bischöfe zu tolerieren.
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Die unterschiedliche Rechtspraxis – auf der einen Seite Bischöfe wie Faulhaber, die es nicht wagen würden, der Regierung eine Kandidatenterna vorzulegen, in der Angst, ein rechtliches Präjudizium zu schaffen; auf der anderen Seite Bischöfe wie Hauck, die die bisherige Praxis fortführen würden – erzeuge Spaltungen und Missmut, sowohl innerkirchlich wie auch im Verhältnis zum Staat. Verstärkt würde dies durch die wirtschaftliche Lage: Wenn nämlich die erste Seite ersatzweise Pfarrverweser einsetze, um das Problem der Pfarrpräsentation zu umschiffen, so würden diese doch erheblich schlechter bezahlt, was angesichts zunehmender Inflation und materieller Not Unzufriedenheit hervorrufe. Angesichts dessen, sei es – so Pacelli – nicht verwunderlich, dass viele Oberhirten wünschten, der Heilige Stuhl möge die staatliche Präsentation tolerieren. Der Landtag hatte Hoffmann kurz zuvor, am 17. März 1919, zum Ministerpräsidenten gewählt und dessen Kabinett gebilligt. Vgl. dazu Hennig, Hoffmann, S. 217–252; Menges, Freistaat, S. 173f.; Schwarz, Zeit von 1918 bis 1933. Erster Teil, bes. S. 428f. Niemand könne vorhersehen, was am nächsten Tag passieren und ob das Kabinett Hoffmann sich halten werde. Außerdem hegte er Bedenken gegen die Person Hoffmanns: Zwar sei er gemäßigter als der kürzlich erschossene Kurt Eisner, aber dennoch stehe er der Religion grundsätzlich ablehnend gegenüber, „tanto che può dirsi che la lotta contra di essa, massime nella scuola, sia stato lʼideale supremo della sua vita“. Pacelli an Gasparri vom 3. April 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 59, Fasz. 39, Fol. 18r. Derzeit seien feindliche Übergriffe von ihm nicht zu erwarten, da er der Unterstützung durch die Bayerische Volkspartei (BVP) bedürfe. Dennoch sei es schwer, von einer solchen Person auf zufriedenstellende Weise Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl über die kirchliche Lage in Bayern zu erwarten. Seine Versuche – so Pacelli –, auf „klugem“ Wege über den Vorsitzenden der BVP, einem „guten Katholiken“, Karl Friedrich Speck, eine Verbindung zu Hoffmann aufzubauen, seien bislang gescheitert. 16
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In der Kurie entschied man sich für die zweitgenannte Alternative, sodass die Angelegenheit weiter in der Schwebe blieb. Im Mai floh Pacelli ein weiteres Mal vor den revolutionären Unruhen, die bis ins Nuntiaturgebäude vorgedrungen waren, nach Rorschach.21 Am 8. August kehrte er schließlich in die bayerische Hauptstadt zurück.
Konsequenzen aus der Weimarer Reichsverfassung? Bereits am nächsten Tag, kurz bevor die WRV mit dem für die Kirche wichtigen Artikel 137 über die Autonomie der kirchlichen Ämterbesetzung in Kraft trat,22 legte Pacelli dem Münchener Erzbischof die Frage vor, ob durch die neue Verfassung die Angelegenheit der staatlichen Mitwirkung – wie er selbst in seinem Bericht im April gefolgert hatte – erledigt sei.23 Faulhaber verneinte diese Auffassung: „Da durch das Konkordat für Bayern eine besondere, vom Reich unabhängige Grundlage des Verhältnisses von Kirche und Staat geschaffen wurde, kann durch die reichsgesetzliche Bestimmung von Weimar die kirchenpolitische Rechtslage in Bayern nicht ohne Weiteres geändert werden.“24 Weil der Zustand der vielen vakanten Pfarreien ohne gravierenden Schaden für Seelsorge und kle-
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Am 29. April war Pacelli mit vorgehaltener Waffe von Spartakisten im Nuntiaturgebäude bedroht worden. Vgl. die Schilderung Pacellis für Gasparri vom 30. April 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918– 1920, Pos. 62, Fasz. 40, Fol. 42r–45v. Vgl. dazu auch Besier, Heilige Stuhl, S. 44f.; Fattorini, Germania, S. 116; Feldkamp, Pius XII., S. 33–35; Lehnert, Ich durfte ihm dienen, S. 15f.; Wolf, Papst, S. 90; Zedler, Bayern, S. 384f. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 163. Vgl. Pacelli an Faulhaber vom 9. August 1919 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 31rv. Faulhaber an Pacelli vom 11. August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 34r–35r, hier 34r. Die gleiche Auffassung, dass die am 11. August verabschiedete WRV und die praktisch zeitgleich eingeführte Bayerische Verfassung das Konkordat von 1817 nicht beseitigt hatte, vertrat der Bamberger Generalvikar und Weihbischof, Adam Senger. Dieser wandte sich an den Nuntius mit der missmutigen Analyse, dass die freie kirchliche Ämterbesetzung, die Artikel 137 WRV – ebenso wie die württembergische Verfassung in § 19, Absatz 1 und die badische Verfassung in § 18, Absatz 3 – festgelegt habe, wegen des bestehenden Konkordats nicht greifen könne. Von verschiedenen Seiten seien Befürchtungen geäußert worden, dass die „sozialistische“ Regierung „auf die wichtigsten Stellen nur Geistliche befördern [würde], die weder in sozialer noch in seelsorglicher Beziehung besonders eifrig gewesen waren; es könnte infolge dessen die Rückwirkung auf schwache Charaktere nicht ausbleiben, die sich bei der sozialistischen Regierung einschmeicheln wollen.“ Dem Heiligen Stuhl obliege nun die Pflicht, diese Befürchtungen ungeachtet der Fortgeltung des Konkordats auszuräumen. Vgl. Senger an Pacelli vom 16. August 1919, ebd., Fol. 43r–44v, hier 43v. Die Kirchenartikel der bayerischen beziehungsweise badischen Verfassung sind abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 138–140 (Nr. 101) (Bayern) und 142f. (Nr. 103) (Baden). Bei der angesprochenen württembergischen Verfassung handelte es sich um die erste Version, die am 20. Mai 1919 in Kraft trat, jedoch nach Promulgation der WRV grundlegend revidiert wurde. 17
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rikale Disziplin nicht mehr länger bestehen könne, bat der Erzbischof um die römische Vollmacht, mit der Regierung die Angelegenheit endlich klären zu können. Pacelli kommunizierte diesen Hilferuf an Gasparri weiter und fügte hinzu, dass Hoffmann – wie Faulhaber dem Nuntius mitgeteilt hatte – nicht ohne Weiteres bereit sei, die neuen Kirchenbestimmungen der WRV in Bayern umzusetzen, weil er vom Fortbestand des kompletten Konkordats ausgehe.25 Der Kardinalstaatssekretär stellte sich jedoch quer: Die Bischöfe sollten provisorisch Pfarrverweser einstellen, weil die Präsentation von Pfarrern durch den Staat einem künftigen Konkordat vorgreife.26 Neue Verhandlungen über die Staat und Kirche betreffende Materie wurden also immer dringlicher. Ministerpräsident Hoffmann hingegen war an einer grundlegenden Neuerung nicht interessiert.27 Dieser sei – wie Pacelli noch im August dem Kardinalstaatssekretär berichtete – über die am 11. des Monats verabschiedete Reichsverfassung sehr unzufrieden, weil sie der Kirche gegenüber eine zu wohlwollende Haltung einnehme.28 Demgegenüber wolle Hoffmann den staatlichen Einfluss auf die kirchliche Ämterbesetzung konservieren und plane, sobald als möglich mit ihm in Verbindung zu treten, um Konkordatsverhandlungen einzuleiten. Wie sollte Pacelli sich ihm gegenüber verhalten? „Es wäre leicht, ihm zu antworten, jede Frage sei von der genannten Verfassung schon gelöst, die der Kirche die freie Ernennung [sc. der Ämter, R.H.] überlässt und den Staat zur Zahlung verpflichtet; aber es scheint heikel, von Seiten des Heiligen Stuhls zuerst das Konkordat zu brechen.“29 Allerdings könne man anmerken, dass die staatliche Seite den Vertrag schon verletzt habe30 und dass wenigstens
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Vgl. Verfassungsurkunde des freien Volksstaats Württemberg vom 20. Mai 1919, in: Regierungsblatt für Württemberg Nr. 14 vom 23. Mai 1919, S. 85–102. Die in Artikel 19 verbürgte Selbstverwaltungsautonomie entfiel in der revidierten Fassung. Vgl. Verfassung Württembergs vom 25. September 1919, in: ebd. Nr. 30 vom 25. September 1919, S. 281–292. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 14. August 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 59, Fasz. 39, Fol. 25r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 16. August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 45r. Der Nuntius gab diese Anweisung an den Münchener Erzbischof weiter. Vgl. Pacelli an Faulhaber vom 17. August 1919 (Entwurf), ebd., Fol. 46rv. Vgl. Zedler, Bayern, S. 385–388. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 19. August 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 4r, 5r. Erfahren habe Pacelli diese Informationen von einem „Membro Centro Bavaria“. Vermutlich meinte er damit den oben bereits genannten Vorsitzenden Speck. „Sarebbe facile rispondergli ogni questione già risolta da detta Costituzione, che lascia Chiesa libera nomina ed obbliga Stato pagamento; ma sembra delicato da parte Santa Sede rompere per prima Concordato.“ Pacelli an Gasparri vom 19. August 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 4r. Pacelli dachte hier an die geistliche Schulaufsicht, die es der Kirche ermöglichte, die Schulen hinsichtlich der Glaubens- und Sittenlehre zu überwachen. Sie wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der bayerischen Gesetzgebung verankert und im bayerischen Konkordat von 1817 bestätigt. Vgl. Art. V des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 173f. Ihre Abschaffung gehörte lange Zeit zum kulturpolitischen Programm sozialdemokratischer und liberaler Parteien, wur18
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das Recht der Bischofsnomination ein eigentliches Recht des bayerischen Königs und seiner katholischen Nachfolger gewesen sei und daher nicht auf die neue Staatsregierung übergehe. Gasparri gab dem Nuntius am 23. August grünes Licht, mit Hoffmann über die kirchliche Materie zu konferieren, sollte letzterer ausdrücklich darum bitten.31 Zur Vorbereitung Pacellis auf das Gespräch übersandte Gasparri ein Gutachten über die Fortgeltungsfrage des Konkordats, das ein Konsultor der AES, Benedetto Ojetti SJ, auf Geheiß Gasparris angefertigt hatte.32 Den Namen des Autors freilich hielt der Kardinalstaatssekretär vor dem Nuntius geheim.
Das Gutachten Benedetto Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern Ausgangspunkt war für Ojetti die aktuelle Frage der Pfarrbesetzung und die damit verbundene Problematik, ob das staatliche Präsentationsrecht wie bisher akzeptiert werden sollte oder nicht. Für außerordentlich klug hielt er den Vorbehalt Gasparris, die Frage zu prüfen, sobald Bayern eine neue stabile Regierung besitzen würde, die mit dem Heilige Stuhl verhandeln wolle. Ebenso angemessen schien dem Jesuiten die Interimslösung, dass die Bischöfe ohne Schaden für die kanonischen Bestimmungen und ohne den Heiligen Stuhl zu kompromittieren agieren sollten, indem sie möglichst Pfarrverweser einstellten. Dagegen sei das Argument einiger Bischöfe dafür, der neuen Regierung in gewohnter Weise eine Kandidatenterna für die Pfarrerpräsentation vorzulegen, lediglich ein ökonomisches: Der Klerus sei unzufrieden, weil ein Pfarrverweser weniger verdiene als ein ordentlicher Pfarrer. Dabei dürfe jedoch die rechtliche Frage nicht vergessen werden und in dieser Hinsicht war Ojetti mit der Überlegung nicht einverstanden. Die bisherige Praxis beizubehalten, fuße letztlich auf der Auffassung, das bayerische Konkordat von 1817 sei noch in Geltung, weil – wie Hollweck und Pacelli mit Rekurs auf Cavagnis vertraten – ein Konkordat ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und einem bestimmten Volk beziehungsweise einer bestimmten Nation sei. Solange diese existiere, bestehe auch der Vertrag,
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de aber erst durch eine Verordnung Hoffmanns im Dezember 1918 realisiert. Durch diese Verordnung wurde die bischöfliche Schulaufsicht am 1. Januar 1919 aufgehoben. Vgl. Verordnung der Regierung des Volksstaats Bayern, betreffend Beaufsichtigung und Leitung der Volksschulen vom 16. Dezember 1918, abgedruckt bei Ders./Ders. (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 86f. (Nr. 72). Ebenso wie der bayerische Episkopat sah auch Pacelli – wie hier deutlich wird – in dieser einseitigen staatlichen Maßnahme eine Konkordatsverletzung. Vgl. auch ausführlicher Pacelli an Gasparri vom 6. Oktober 1919, S.RR.SS., A A.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 62, Fasz. 40, Fol. 78r–92v, hier 90r–91v. Vgl. generell zur Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht in Bayern Hennig, Hoffmann, bes. S. 130–146; Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 890; Kern, Kirche; Scharnagl, Schulpolitik, bes. S. 6–8; Schmidt, Kultusminister, S. 109–118. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 23. August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 50r. Vgl. Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 52r–55v. 19
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unabhängig davon, welche Veränderungen in der Regierungsform eintreten würden. Diese Konkordatstheorie hatte sich seit Leo XIII. weitgehend in der Kanonistik durchgesetzt, doch Ojetti teilte sie keineswegs.33 Wenn – so konstatierte er – ein Konkordat ein Vertrag sei, erhalte dieser seine innere Kraft einzig aus dem Willen der Vertragspartner: „Mit wem beabsichtigt der eine und der andere der Kontrahenten den Vertrag abzuschließen, und wem beabsichtigt der eine und der andere sich zu verpflichten?“34 Die Antwort darauf gehe aus dem jeweiligen Vertragstext hervor und dort stehe normalerweise der Papst und der König oder das Staatsoberhaupt, wie konkret in Bayern Papst Pius VII. und König Maximilian Joseph.35 Für Ojetti folgte daraus klar: Wenn die staatliche Autorität sich wandelte – nicht die Person selbst, sondern die Natur und Gestalt der Autorität –, war das Konkordat ipso facto aufgehoben. In der Kirche könne sich so etwas nicht ereignen, weil die kirchliche Verfassung unveränderliches göttliches Recht sei. Dieser Theorie könne auch nicht mit der Behauptung widersprochen werden, Konkordate zählten zu den internationalen Verträgen. Im spezifischen Sinne seien solche nämlich zwischen zwei gleichberechtigten Nationen oder societates geschlossen, was für Konkordate aber nicht gelte, da die Kirche eine dem Staat übergeordnete Größe sei.36 Wenn sich also eine Republik in eine Monarchie oder eine Monarchie in eine Republik veränderte, fiel damit seiner Ansicht nach automatisch auch das Konkordat.37 Die Konsequenz für Bayern schien evident: Durch den Umsturz der Monarchie hatte das Konkordat von 1817 seine Gültigkeit verloren, sodass Ojetti sich gezwungen sah, sowohl Hollwecks als auch Pacellis Ansicht zu widersprechen, es sei in seiner Gesamtheit noch in Kraft. 33 34
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Vgl. zu Pacellis und Ojettis Auffassungen sowie den Konkordatstheorien Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 269. „Con chi lʼuno e lʼaltro dei contraenti intende di celebrare il contratto, e a chi lʼuno e lʼaltro intende obbligarsi?“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 53r. Vgl. die Präambel des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 170f. Vgl.: „I Concordati infatti non possono dirsi Trattati internazionali, se non al più prendendo questo nome nel suo senso generico; ma non possono affatto dirsi tali, se il nome si prenda nel suo senso specifico. E difatto in questo senso specifico essi dicono un patto fra due società pubbliche o fra due Stati, i quali per conseguenza si trovino in parità di condizione o di giurisdizione tra loro. Ora la Chiesa è società superiore, anzi suprema; quindi i patti da lei conclusi con gli Stati civili non sono, specificamente parlando, Trattati internazionali.“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 53ar. Hervorhebungen im Original. Dies verifizierte sich für Ojetti auch dadurch, dass jene Staatsrechtler, die eine Superiorität des Staates über die Kirche vertraten, Konkordate ebenfalls nicht unter die Kategorie internationaler Verträge subsumieren würden. Das Argument Hollwecks, der Heilige Stuhl habe die Fortgeltung des napoleonischen Konkordats von 1801 trotz essentieller Änderungen der Regierungsverfassung in Frankreich vertreten, ließ Ojetti nicht gelten. Denn gemäß seiner Theorie sei es bei Ausrufung der Republik tatsächlich verfallen. Doch habe sofort eine faktische und stillschweigende Erneuerung des Konkordats stattgefunden, sodass die Verletzung desselben durch Frankreich 1905 zu Recht vom Heiligen Stuhl angeprangert worden sei. 20
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„Aber“ – so der Konsultor weiter – „ich sehe mit Wohlgefallen, dass der Herr Nuntius, auch wenn er in seinem Bericht [sc. vom 3. April 1919, R.H.] oben skizzierte Beurteilung formuliert hat, allgemein gesprochen, sie dann nicht aufrecht zu erhalten scheint, wenn es um die Details geht.“38 Damit bezog er sich auf dessen Nichtigerklärung des staatlichen Nominationsrechtes der Bischöfe und – wie Pacelli über Hollweck hinausging – des Präsentationsrechts der Pfarrer. Um diese Position zu untermauern, habe Pacelli in dem genannten Bericht „drei sehr wertvolle Argumente“39 geliefert: die strenge Auslegung von Privilegien, die dem kanonischen Recht widersprachen (wie das der staatlichen Bischofsernennung und Pfarrpräsentation); die Tatsache, dass die neue Republik dem Heiligen Stuhl nicht die gleichen Garantien leisten könne, wie der bayerische König; und schließlich der Hinweis, dass der Heilige Stuhl das Patronatsrecht nur ausgewählten Herrschern gewährt habe. Ojetti vermochte diese für ihn gewichtigen Punkte nicht mit der von Pacelli vertretenen grundsätzlichen Fortgeltung des Konkordats zu harmonisieren. Seiner Ansicht nach „wurden sie im subtilen Verstand und in der großen Rechtschaffenheit des Nuntius zerrissen, der, vielleicht auch unbewusst, die schwere Verlegenheit erahnte, in der sich der Heilige Stuhl befände, wenn er entweder zugunsten der neuen Regierung die fortwährende Geltung des Konkordats zugeben müsste oder gezwungen wäre, es aufzugeben und damit den Hass auf die Katholiken Bayerns zu ziehen sowie den Groll einer gewiss nicht gottesfürchtigen Regierung, vielleicht auch offene Feindschaft auf die Kirche.“40
Dagegen wiege aber gerade der Hinweis auf die mangelnde Sicherheit, die eine demokratische Regierung im Gegensatz zu einem katholischen König bieten könne, zu schwer. Der Konsultor führte hier das Prinzip ins Feld, dass jedwede Konzession sich so weit erstreckte und nicht über die Grenzen hinaus, die vom ausdrücklichen oder angenommenen Willen des Privilegiengebers bestimmt wurden. Dieses Prinzip dürfe aber nicht nur auf den einzelnen Gegenstand, die einzelne Konzession angewandt werden, sondern ebenso auf die Vertragschließenden selbst:
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„Però veggo con piacere che Mons. Nunzio, quantunque nel suo Rapporto abbia formulato il giudizio su riferito, parlando genericamente, non sembra poi mantenerlo quando si scende ai particolari.“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 53v–54r. „… tre argomenti validissimi …“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 54r. „… furono strappati al sottile ingegno e alla grande rettitudine di Nunzio dellʼavere, forse anche inconscientemente, intuito il grave imbarazzo in cui si troverebbe la S. Sede se o dovesse riconoscere in favore del nuovo Governo il permanente valore del Concordato, o fosse costretta a denunziarlo tirando con ciò su i cattolici della Baviera lʼodio e il risentimento di un Governo certo non devoto, forse anche apertamente ostile, alla Chiesa.“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 54r. 21
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„Wie könnte man den Heiligen Stuhl, der Verträge abschließt oder Genehmigungen erteilt, deren Gegenstand so heikel ist wie die Ernennung von Pfarrern und die Präsentation von Bischöfen, nicht für verschwenderisch halten, wenn der Vertrag oder die Genehmigung sich auch auf ein eventuelles Vertragssubjekt erstrecken müsste, das entweder nicht katholisch ist oder sogar ein Feind …?“41
Nur ein katholischer Vertragspartner liege also im Willen des Heiligen Stuhls. Daher glaubte Ojetti, dass ein mit einem katholischen König geschlossenes Konkordat oder ein ihm gewährtes Privileg per se ungültig wurde, wenn ein anti- oder auch nur nichtkatholischer Nachfolger das Erbe des katholischen Monarchen antrat. Zwar sei deshalb das bayerische Konkordat eindeutig verfallen, doch könne es zweifellos entweder durch eine ausdrückliche oder durch eine schweigende Anerkennung von Seiten des Heiligen Stuhls und der neuen Regierung erneuert werden. Damit stellte sich die abschließende Frage nach der Opportunität einer solchen Erneuerung des Konkordats. Zur Beantwortung müsse man zuallererst die gegenwärtige Lage Bayerns berücksichtigen und diese habe der Nuntius bereits skizziert: Es existiere keine stabile Regierung, die darüber hinaus mit der Kirche feindlich gesinnten Personen gespickt sei. Außerdem beschreite man den Weg hin zu einer offiziellen Trennung von Kirche und Staat. Damit legte sich für Ojetti eine negative Antwort auf die Frage der renovatio concordati von selbst nahe: „Daher denke ich, und mir scheint, darin auch mit dem Herrn Nuntius übereinzustimmen, dass es für den Heiligen Stuhl würdiger ist und ein praktikablerer Ausweg, die weitere Entwicklung der Tatsachen abzuwarten, sich in der Zwischenzeit weder mit theoretischen noch mit praktischen Aufklärungen zugunsten der neuen Regierung zu kompromittieren; vielmehr ist als das Leitprinzip in der Praxis festzuhalten, dass ähnliche Veränderungen der Regierung den Verfall jedes Konkordats und jeder Bewilligung nach sich ziehen, die vom Heiligen Stuhl den alten Regierungen gewährt wurden. Dieses Prinzip scheint mir auf der einen Seite die Freiheit der Kirche zu schützen und sie vor beinahe sicherem Schaden zu bewahren; und auf der anderen Seite behindert sie keinen Vorteil für die Kirche.“42 41
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„Come potrebbesi non ritenere prodiga la S. Sede, che stringesse dei patti o facesse delle concessioni, il cui oggetto fosse così delicato come la nomina dei parroci e la praesentazione dei vescovi, quando questo patto o questa concessione dovesse intendersi estesa anche ad un eventuale soggetto o non cattolico o anche persecutore …?“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 54v. „Quindi io penso, e mi sembra convenire in ciò anche Mons. Nunzio, che sia più decoroso per la S. Sede e praticamente più espediente lʼattendere lʼulteriore svolgersi dei fatti, non compromettendosi intanto né con teoretiche né con pratiche ricognizioni in favore del nuovo Governo; ritenendo anzi come principio regolatore nella pratica che simili mutazioni di Governo importano la decadenza di qualunque Concordato e di qualunque concessione fatta dalla S. Sede agli antichi Governi. Questo principio a me sembra tutelare da una parte la libertà della Chiesa e preservarla da danni pressochè certi; e dallʼaltra non impedire nessun vantaggio alla Chiesa.“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 55r. 22
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Wie sollte diese Strategie praktisch aussehen? Für die schwelende Frage der Pfarrbesetzungen – was auch als Testfall für weitere Ämterbesetzungen dienen konnte – schlug Ojetti vor, dass die bayerischen Bischöfe „versuchen“43 sollten, Pfarrer einzusetzen. Falls die Regierung nicht protestiere und weiter zahle, „umso besser“44. Im gegenteiligen Fall müsse man sich arrangieren, indem die Bischöfe ihr dann einige Kandidaten für die Pfarrpräsentation vorschlagen sollten. Freilich dürften das nicht wie bisher drei sein, sondern eine andere Anzahl von Namen, um eine dezidiert neue Praxis anzuwenden, die nicht als Zustimmung zur Fortgeltung des Konkordats interpretiert werden könne. Bevor das beabsichtigte Gespräch Pacellis mit Hoffmann stattfand, zu dessen Vorbereitung Ojettis Gutachten von Gasparri gedacht war, und der Nuntius sich gegenüber den Ausführungen des Konsultors positionierte, nahm der bayerische Episkopat zu den brennenden kirchenpolitischen Fragen Stellung.
Der bayerische Episkopat und die Besetzung der bischöflichen Stühle Bei der allgemeinen Frage nach der Geltung des Konkordats und der spezifischen nach dem staatlichen Einfluss auf die Besetzung der Pfarreien spielte immer auch – teils ausdrücklich, teils latent – die Frage nach der Bestellung der Bischöfe, also des unfraglich wichtigsten kirchlichen Amtes, eine Rolle. Obwohl aktuell kein bayerisches Bistum vakant war, trat dieses Thema gerade nach der Promulgation der WRV und seines Artikels 137 zunehmend in den Vordergrund. Nicht nur der Fall der Monarchie und damit der Instanz, die bislang die entscheidende Komponente in der Besetzung der bischöflichen Stühle gewesen war, sondern eben auch die verfassungsmäßig verbürgte Autonomie der Kirche wurde nun ungeachtet der Konkordatsfrage herangezogen, um jeden weitergehenden staatlichen Einfluss auszuschließen. Diese Auffassung fand auch Rückhalt im bayerischen Episkopat. So äußerte sich beispielsweise der Eichstätter Oberhirte, Johannes Leo von Mergel, am 31. August in einem Schreiben an Pacelli: „Am allerwenigsten aber soll der Regierung irgendein Einfluss auf die Besetzung der bischöfl[ichen] Stühle gewährt werden. Einem ungläubigen Fanatiker, der gegen Religion giftigste Galle in sich trägt, wie es der Minister Hoffmann ist, eine Mitwirkung bei der Ernennung von Bischöfen zu gewähren, ist ja ganz und gar unmöglich.“45 43
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Vgl.: „… potrebbero forse i Vescovi tentare di nominare senzʼaltro i parroci …“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 55v. „… tanto meglio.“ Gutachten Ojettis zum Kirche-Staat-Verhältnis in Bayern vom August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 55v. Mergel an Pacelli vom 31. August 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 59rv, hier 59v. 23
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Weniger scharf, aber in der Sache ähnlich, lautete das Urteil, zu dem die Freisinger Bischofskonferenz in ihrer Zusammenkunft im September fand.46 Im Nachgang dieser Versammlung legte der Bamberger Erzbischof Hauck dem Nuntius am 12. September ein Gutachten über die Lage der Kirche in Bayern vor.47 Neben einer grundsätzlichen Kritik an der Reichs- und bayerischen Verfassung48 und dem sorgenvollen Blick auf eine mögliche einseitige Kündigung des Konkordats durch den Staat, der sich so seiner finanziellen Verpflichtungen entziehen könnte, formulierte Hauck im Namen des bayerischen Episkopats die Bitte, Pacelli möge bei den bevorstehenden Verhandlungen dahingehend wirken, dass „die Freiheit und Selbständigkeit der Kirche nicht wieder allzu sehr eingeschränkt werde“49. Das gelte insbesondere für die Ämterbesetzung, die in staatlicher Hand wenig kirchlich gesinnte Geistliche nach sich ziehen würde. Die Besetzung der Bischofsstühle stand bei Hauck an erster Stelle: „Wir halten es für gänzlich ausgeschlossen, dass das Recht der Nomination von Bischöfen, die im Konkordat dem König Max Joseph und seinen katholischen Nachfolgern durch besonderes Indult übertragen war, von der bayer[ischen] Staatsregierung wieder in Anspruch genommen werden könnte.“50 Eine mögliche Variante sei freilich, dass der Papst vor der Ernennung mit dem Staat über die Kandidaten verhandle. Wie Faulhaber später in einem Nachtrag erläuterte, sei dies jedoch angesichts der eindeutigen Diktion des Artikels 137 WRV nur für den Fall denkbar, dass im Zuge der Konkordatsverhandlungen Konzessionen nötig sein sollten.51 Den Bischöfen schwebte eine päpstliche Nomination als Besetzungsmodus vor. Sie hofften dabei jedoch, der Papst werde jeweils ihre Meinung einholen, allerdings „ohne dass hiedurch die 46
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Im Protokoll hieß es: „Die Konferenz ist der Auffassung, … daß das Konkordat in der alten Fassung nicht weiterbestehen kann, schon deshalb nicht, weil … Art. 137 der Reichsverfassung auch für Bayern die freihändige Besetzung der Kirchenämter verbürgt. Eine so weitgehende Mitwirkung der Staatsregierung bei der Besetzung der Kirchenstellen, wie sie in Artikel IX-XI des Konkordats [sc. von 1817, R.H.] zugestanden war, wäre unter der jetzigen Regierung eine Gefahr für die Disziplin des Klerus, ein Unheil für die Seelsorge und eine unerträgliche Fessel der kirchlichen Freiheit.“ Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats vom 3.–4. September 1919, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 88–96 (Nr. 46), hier 89. Vgl. Hauck an Pacelli vom 12. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 2, Fol. 2r–12r (nur r). Vgl. dazu auch Stasiewski (Bearb.), Akten I, S. 85 Anm. 2. Die Kritik bestand in dem fehlenden Gottesbezug in der Präambel der WRV, dem Ende der privilegierten Stellung der katholischen Kirche gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften, wie in Artikel I des Bayernkonkordats von 1817 festgelegt, dem Fall der bischöflichen Schulaufsicht und der Bestimmung der bayerischen Verfassung, Jugendliche könnten mit der Absolvierung des 16. Lebensjahres über ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft entscheiden, was einen Eingriff in die kirchliche Freiheit und in den Gewissensbereich bedeute. Hauck an Pacelli vom 12. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 2, Fol. 4r. Hauck an Pacelli vom 12. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 2, Fol. 5r. Vgl. Faulhaber an Pacelli vom 21. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 2, Fol. 17r–18v, hier 17r. 24
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freie Entschließung des H[eiligen] Stuhles irgendwie beeinträchtigt würde“52. Eine Mitwirkung der Domkapitel war nicht vorgesehen. In einer persönlichen Ergänzung schlug der Eichstätter Oberhirte dem Nuntius vor, „im Interesse eines guten Verhältnisses zwischen Bischof und Klerus“53 zumindest dem Domkapitel des jeweils vakanten Bistums zu erlauben, dem Heiligen Stuhl drei taugliche Kandidaten zu unterbreiten, wiederum allerdings ohne verpflichtenden Charakter für die päpstliche Entscheidung.54
Pacelli bei Hoffmann Die Aussicht, die völlige Freiheit in der kirchlichen Ämterbesetzung zu erhalten, wie sie der Artikel 137 WRV zu ermöglichen schien, ließ Pacelli keine Ruhe. Wie er Gasparri am 6. Oktober berichtete, habe er mehrfach versucht, über Mitglieder der Bayerischen Volkspartei (BVP) den Ministerpräsidenten in diese Richtung zu beeinflussen, wobei es auch darum gegangen sei, die fortwährende Zahlung der staatlichen finanziellen Leistungen an die Kirche nicht zu gefährden.55 Von diesen Mittelsmännern habe er auch erfahren, dass sich der bayerische Gesandte beim Heiligen Stuhl, Otto Freiherr Ritter zu Groenesteyn, kürzlich in Rom bemüht habe, von der Kurie die Zusage oder zumindest die Aussicht auf irgendeine staatliche Partizipation – beispielsweise in Form einer vertraulichen Anfrage vor der Ernennung – bei der Ämterbesetzung zu erzielen.56 In seinen Berichten an die bayerische Regierung habe dieser darüber hinaus erklärt, dass es dazu durchaus die Möglichkeit und Gelegenheit gebe, indem man im Gegenzug die freiwilligen Staatsleistungen
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Hauck an Pacelli vom 12. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 2, Fol. 5r. Mergel an Pacelli vom 22. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 1, Fol. 67r–68r, hier 67r. Mergel sorgte sich insbesondere um das „ganz innige Verhältnis“, das zwischen dem Eichstätter Priesterseminar und dem Bischof bestehe, weil Außenstehende häufig nicht das rechte Verständnis „für die eigenartige Verfassung“ dieser Einrichtung, die gänzlich kirchlich eingestellt sei, mitbrächten. Mergel an Pacelli vom 22. September 1919, ASV, ANM 402, Fasz. 1, Fol. 67r beziehungsweise 67v. Er glaubte, durch die Vorschlagstrias der Domherren würden Geistliche ins Spiel gebracht, die diesem Kriterium entsprächen. Relativierend fügte er jedoch hinzu: Sollte der Heilige Stuhl aber jemand ganz anderen nominieren, „so wird er sicher einen Mann senden, der noch kirchlichere Gesinnung hat als die vom Domkapitel bezeichneten Kandidaten …“. Ebd., Fol. 67v. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 6. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 62, Fasz. 40, Fol. 78r–92v. Pacelli unterrichtete den Kardinalstaatssekretär in diesem Bericht umfassend über die neue bayerische Verfassung vom 14. August 1919 und listete anschließend minutiös die Punkte des Konkordats von 1817 auf, denen die bayerische Verfassung und Gesetzgebung sowie die Reichsverfassung seiner Ansicht nach widersprachen. Pacellis Kritik deckte sich im Wesentlichen mit den monita der Bischöfe. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 48. Vgl. zu diesen Bemühungen Ritters Zedler, Bayern, S. 409–419. 25
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weiterhin an die Kirche zahle.57 Pacelli monierte einen fehlenden Rückhalt aus Rom, als er Gasparri warnte: Wenn „der feindliche und antiklerikale“58 Hoffmann so etwas zu lesen bekäme, werde es praktisch unmöglich, bei ihm den Verzicht auf eine staatliche Einflussnahme zu erreichen.59 Dieses Ziel konnte Pacelli endlich persönlich verfolgen, als Hoffmann ihn für den Morgen des 30. Oktober zu einer Besprechung einlud, die nicht nur einen Kompromiss in der Pfarrbesetzung einbrachte – die Regierung nahm die Pfarrpräsentationen provisorisch und ohne Präjudiz bis zu einer neuen Regelung weiterhin wahr60 –, sondern vor allem über die künftigen Beziehungen von Staat und Kirche in Bayern handelte.61 Wie der Nuntius noch am selben Tag seinem kurialen Vorgesetzten berichtete, habe ihm Hoffmann umgehend seine Auffassung über die Geltung der WRV eröffnet, die er in der vorangegangenen Woche noch mit den übrigen Kultusministern Deutschlands bei einer Zusammenkunft im Berliner Reichsinnenministerium abgestimmt hatte.62 Dabei sei herausgekommen, dass die internationalen Verträge mit den deutschen Teilstaaten, unter welche die Kultusminister auch die Konkordate zählten, noch in Geltung seien, insoweit ihre Bestimmungen nicht im Widerspruch zur neuen Verfassung stünden. Mit dieser Einschränkung bestand also nach staatlicher Ansicht auch das bayerische Konkordat noch. Außerdem hätten sie festgestellt, dass der wichtige Absatz 3 des Artikels 137, der die Verwaltungs- und Ämterbesetzungsautonomie der Kirche festschrieb, noch der Umsetzung durch die Ländergesetzgebungen bedürfe und bis dahin keine legislative Kraft besitze.63 Die staatliche Einmischung in diesem Bereich war ihrer Ansicht nach also noch immer legitim.
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Während die „verpflichtenden Staatsleistungen“ in den Zahlungen zum Unterhalt der Bischöfe und Domkapitel bestanden, bezogen sich die „freiwilligen Staatsleistungen“ auf die Aufwendungen für den kirchlichen Gottesdienst. Während erstere rechtlich im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 gründeten, war es zwischen Staat und Kirche durchaus umstritten, inwieweit dies auch für letztere galt. Vgl. dazu Näheres bei Müller, Staatsleistungen. „… lʼostinato ed anticlericale …“ Pacelli an Gasparri vom 6. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 62, Fasz. 40, Fol. 79v. Vgl. zur Wirkung dieser Warnung in Rom Zedler, Bayern, S. 413. Vgl. dazu Pacelli an Gasparri vom 30. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 20v–21v; Gasparri an Pacelli vom 3. November 1919, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 72r; Pacelli an Hoffmann vom 5. und 8. November 1919 (Entwürfe), ebd., Fol. 75rv und 79r sowie die Antworten Hoffmanns an Pacelli vom 7. und 9. November 1919, ebd., Fol. 76r–77v und 82r. Vgl. auch Zedler, Bayern, S. 387f. Vgl. dazu auch Hennig, Hoffmann, S. 419f. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 30. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 8r–23r. Vgl. dazu schon Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Position der staatlichen Autorität und die Wahl Joseph Vogts zum Kapitularvikar sowie Die Fortgeltung der Verträge und das Wahlrecht der Domkapitel: die Debatte der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten). Die Minister beriefen sich für diese Argumentation auf den Absatz 8 desselben Artikels: „Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.“ Art. 137, Abs. 8 der WRV, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 130. 26
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Hoffmann habe daraufhin – so Pacelli weiter – die Haltung des Heiligen Stuhls zu dieser Frage wissen wollen: Betrachtete dieser das Konkordat für gültig oder für aufgehoben oder wollte er vielleicht neue Verhandlungen? Natürlich erinnerte sich der päpstliche Gesandte bei dieser Frage an das Gutachten des Jesuitenkonsultors, das ihm Gasparri als Vorbereitung auf das Treffen mit Hoffmann vorgelegt und das sich eindeutig für den Fall des Kirchenvertrags ausgesprochen hatte. Doch fiel es dem geschulten Diplomaten nicht ein, dies als offiziellen Standpunkt des Heiligen Stuhls auszugeben, im Gegenteil: „Ich habe geantwortet, dass ich noch keine Gelegenheit gehabt habe, diesbezüglich Instruktionen zu bekommen und dass ich daher ausschließlich in meinem Namen sprach und mir – pflichtgemäß – vorbehielt, den Heiligen Stuhl zu unterrichten. Ich habe es nicht für opportun gehalten, den Fall des genannten Konkordats aus folgenden Gründen zu bestätigen: 1) weil Eure Eminenz, als Sie mir mit der Weisung [sc. vom 23. August, R.H.] die Kopie des Gutachtens eines Konsultors der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten übersandten, nicht auftrugen, dessen Schlussfolgerungen zu übernehmen. 2) weil eine ähnlich ausdrückliche Behauptung praktisch den schwersten Schaden für die Kirche in Bayern bewirken könnte. Mir steht es zwar gewiss nicht zu, eine theoretisch-kritische Prüfung der vom ehrwürdigen Kanonisten angeführten Argumente vorzunehmen; es ist nichtsdestoweniger meine Pflicht, Eure Eminenz darauf hinzuweisen, dass man vielleicht die einzige, sicher die festeste und sicherste Basis verlieren könnte, um das zu retten, was man noch von den Rechten der Kirche in Bayern retten kann, wenn man das Konkordat für gefallen erklären würde. Tatsächlich liegt es in der Kraft des Konkordats, dass es möglich ist, die verschiedenen Staatsleistungen zu bewahren, das Recht der Kirche zu bestätigen, eigene Philosophen- und Theologenschulen in den Seminaren zu haben, und so weiter. Auf der anderen Seite, um die Kirche von dem größtmöglichen Übel des staatlichen Rechts auf Ernennung oder Präsentation der kirchlichen Ämter zu befreien, hat man schon ein sehr wirksames Argument in der Reichsverfassung. 3) weil ich mir bewusst bin, dass faktisch die genannte Behauptung (obwohl zweifellos zu Unrecht) von der Regierung wie ein feindliches Verhalten des Heiligen Stuhls gegen die neue republikanische Form der Regierung interpretiert würde.“64
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„Ho risposto dichiarando che non avevo avuto ancora occasione di ricevere istruzioni in proposito e che quindi parlavo esclusivamente a mio nome, riservandomi di riferire, come di dovere, alla Santa Sede. Non ho creduto opportuno di affermare la cessazione del Concordato suddetto per le seguenti ragioni: 1) perché lʼEminenza Vostra, nel trasmettermi col sullodato dispaccio … copia del dotto Voto di un Consultore della S. Congregazione degli Affari EE. SS., in cui si sostiene tale cessazione, non diceva di farne sue le conclusioni. 2) perché una simile esplicita asserzione porterebbe in pratica gravissimi danni alla Chiesa in Baviera. A me invero non spetta certamente di fare un esame teorico critico degli argomenti addotti dallʼeminente Canonista …; è nondimeno mio dovere di segnalare allʼEminenza Vostra come, dichiarandosi decaduto il Concordato, si verrebbe a perdere forse lʼunica, certo la più solida e sicura base per salvare quello che ancora si può dei diritti della Chiesa in Baviera. Infatti è in forza del Concordato che è possibile di conservare le varie prestazioni dello Stato …, di affermare il diritto della Chiesa ad avere scuole proprie di filosofia e di teologia nei Seminari, e così di seguito. Dʼaltra parte, per svincolare la Chiesa nella maggior misura possibile dal diritto di nomina o presentazione dello Stato agli uffici 27
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Um also eine direkte Antwort auf die Frage Hoffmanns zu vermeiden, erklärte er, dass seiner Ansicht nach eine neue Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und dem bayerischen Staat angemessen war und kam sofort auf die möglichen Inhalte einer solchen zu sprechen. Dafür hatte Pacelli extra einen 10 Punkte umfassenden Katalog – in der Forschung „Pacelli-Punktation I“ genannt65 – vorbereitet, für den er auf die Zusammenstellung zurückgriff, die Erzbischof Hauck ihm im September im Namen des bayerischen Episkopats vorgelegt hatte.66 Bevor er konkret wurde, versuchte er nach eigener Darstellung, dem bayerischen Staatsvertreter seine Schuldnerposition gegenüber der Kirche bewusst zu machen, indem er darauf hinwies, dass durch Reichs- und bayerische Verfassung die Kirche ihre privilegierte Stellung, die ihr nach Artikel I des alten Konkordats zustehe,67 verloren habe. Daher habe sie grundsätzlich das Recht, nun eine größere Freiheit in ihrem ureigensten Feld zu fordern. Diese Grundprämisse fungierte für Pacelli gewissermaßen als Basis der neuen Verhandlungen. Im ersten konkret inhaltlich-materialen Punkt versuchte er diese dann sofort gegenüber Hoffmann in Anschlag zu bringen: „I. – Die Kirche ernennt alle kirchlichen Ämter frei ohne Mitwirkung des Staates und der bürgerlichen Gemeinden“68, während der Staat weiterhin für den finanziellen Unterhalt sorge. In der ersten Aussprache der kirchlichen Position zur staatskirchlichen Materie in Bayern formulierte Pacelli also die Maximalforderung in der Besetzung der Ämter und insbesondere der bischöflichen Stühle.
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ecclesiastici, si ha già un argomento efficacissimo nella Costituzione dellʼImpero. 3) perché mi consta che di fatto la suddetta asserzione sarebbe (quantunque senza dubbio a torto) interpretata dal Governo come un atteggiamento ostile della Santa Sede verso la nuova forma repubblicana di Governo.“ Pacelli an Gasparri vom 30. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 9r–10r. Vgl. Pacelli-Punktation I ohne Datum (Entwurf), ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 103rv. Später legte er den Katalog mit der Bitte um Anmerkungen dem Münchener Erzbischof vor. Vgl. Pacelli an Faulhaber mit Pacelli-Punktation I vom 28. November 1919, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 116f. (Nr. 54). Vgl. dazu auch die Hinweise in Pacelli an Faulhaber vom 10. Februar 1920 (Entwurf), ASV, ANM 399, Fasz. 1, Fol. 105rv. Pacelli, der Gasparri dieses Skriptum zusandte, berichtete aber auch, dass – wie ihm Faulhaber mitgeteilt habe – faktisch nicht alle bayerischen Bischöfe völlig mit den von Hauck notierten Vorstellungen einverstanden seien, insbesondere hinsichtlich des staatlichen Einflusses auf die kirchliche Ämterbesetzung. Ein solcher war vom Bamberger Oberhirten als immerhin möglich deklariert worden, was neben anderen auch Faulhaber ablehnte. Vgl: „Die Römisch-katholische apostolische Religion wird in dem ganzen Umfange des Königreichs Baiern und in den dazu gehörigen Gebieten unversehrt mit jenen Rechten und Prärogativen erhalten werden, welche sie nach göttlicher Anordnung und den canonischen Satzungen zu genießen hat.“ Art. I des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 171. „I. – La Chiesa nomina liberamente a tutti gli uffici ecclesiastici senza cooperazione dello Stato o dei Comuni.“ Pacelli an Gasparri vom 30. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 10v. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Pacelli-Punktation I (Entwurf), ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 103r. 28
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Wie reagierte Hoffmann darauf? „Hinsichtlich der freien Besetzung der bischöflichen Stühle von Seiten des Heiligen Stuhls machte er irgendeinen vagen und dunklen Vorbehalt, ohne aber klar seine Ansicht diesbezüglich auszudrücken.“69 Nicht nur aufgrund dieser Reaktion konnte der Nuntius am Ende der Besprechung sicher sein, dass der Staat nicht bereit war, auf seine bisherige tragende Rolle bei diesem Thema einfach zu verzichten. Gasparri hingegen war mit dem von Pacelli ausgearbeiteten 10-Punkte-Programm und natürlich auch mit dem Ziel der freien päpstlichen Ernennung der Bischöfe vollauf zufrieden.70
Verhandlungsauftakt um ein neues bayerisches Konkordat Die Besprechung mit Hoffmann trug nur vorläufigen Charakter. Bevor Pacelli allerdings Ende Dezember 1919 im Kontext des Auftaktes der Reichs- und Preußenkonkordatsverhandlungen und der Sedisvakanz des Kölner Erzbistums zu seiner Reise nach Berlin aufbrach,71 übersandte er der bayerischen Staatsregierung eine offizielle Stellungnahme des Heiligen Stuhls zum bayerischen Konkordat von 1817: „Die neue Reichsverfassung und die bayerische Verfassung haben einseitig den Umfang der Beziehungen zwischen Kirche und Staat umgeformt und die Rechtslage der katholischen Kirche in Bayern verändert, so zwar, dass selbst das Konkordat von 1817 in verschiedenen wichtigen Punkten verletzt wurde. Der h[eilige] Stuhl macht bezüglich dieser Verletzungen der Rechte der Kirche ausdrücklich Vorbehalt, erklärt sich aber gleichwohl bereit, sich mit der bayerischen Regierung in Verbindung zu setzen, um von Neuem den ganzen Inhalt der erwähnten Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu regeln und hat mich bevollmächtigt, Verhandlungen für ein neues Abkommen anzubahnen.“72
Mit dieser Wortwahl vermied der Nuntius bewusst jeden Anklang, als würde der Heilige Stuhl das alte Konkordat nicht mehr als gültig ansehen, um der Gefahr vorzubeugen, dass der Staat sich auf diese Weise von seinen Zuwendungen an die Kirche befreien konnte.73 Wie aus seiner Berichterstattung vom 4. Januar 1920 hervorgeht, handelte Pacelli mit dieser offiziellen Verhandlungs-
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„Circa la libera provvista delle Sedi vescovili da parte della Santa Sede egli ha fatto qualche vaga ed oscura riserva, senza però esprimere chiaramente il suo pensiero al riguardo.“ Pacelli an Gasparri vom 30. Oktober 1919, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 21v. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 12. November 1919, ASV, ANM 396, Fasz. 8, Fol. 22r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Reise Pacellis nach Berlin und Köln) und Exkurs I (Erste Standpunkte zum Modus der Bischofsbestellung und die schwierige Ausgangslage für ein Reichskonkordat). Pacelli an Hoffmann vom 27. Dezember 1919 (Entwurf), ASV, ANM 399, Fasz. 1, Fol. 84r. Hervorhebung im Original. Vgl. zum selben Vorgehen im Kontext des Preußenkonkordats Bd. 1, Kap. II.1.1 (Modifikationen in der Vorgehensweise des Heiligen Stuhls). 29
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anfrage selbständig auf Basis von Gasparris allgemeiner Beauftragung und damit ohne konkrete Anweisung des Kardinalstaatssekretärs.74 Hoffmann anerkannte die veränderte kirchenpolitische Situation und erklärte sich im Namen der Regierung bereit, in Verhandlungen über eine Neuregelung einzutreten.75 Allerdings möge der Heilige Stuhl zuvor seine formalen wie inhaltlichen Wünsche hinsichtlich der Verhandlungen bekannt geben. Bezüglich der materialen Seite konnte Pacelli auf seine von Gasparri gebilligte Punktation zurückgreifen, die er jedoch in der Zwischenzeit – vor allem auf Basis von Anmerkungen des bayerischen Episkopats – zu einer „Punktation II“ ausgearbeitet hatte und nunmehr 19 Posten umfasste.76 Die Nummer eins verlangte weiterhin die uneingeschränkte Autonomie in der kirchlichen Ämtervergabe: „1. Die Kirche hat das volle und freie Besetzungsrecht für alle
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 4. Januar 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1922, Pos. 1718, Fasz. 898, Fol. 41rv. Vgl. Hoffmann an Pacelli vom 20. Januar 1920, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 131rv. Vgl. den italienischen Text der Pacelli-Punktation II, den Pacelli nach Rom übermittelte, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 42r–43v; deutscher Text ebd., Fol. 48r–49v; abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 129–131 (Nr. 63a) und Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 294–296 (Nr. 172). Wie bereits gesagt, hatte Pacelli die erste Fassung dem Münchener Erzbischof schon am 28. November 1919 vorgelegt. Faulhaber setzte seinerseits eine Beratungskommission zur Vorbereitung der Verhandlungen ein. Vgl. Faulhaber an Pacelli vom 28. November 1919, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 108r. Zu der genannten Kommission gehörten nach Faulhabers Angaben sein Generalvikar, Michael Buchberger, der Eichstätter Domkapitular Georg Wohlmuth, der Passauer Kirchenrechtsprofessor, Franz Xaver Eggersdorfer, der Domdekan von Regensburg, Franz Xaver Kiefl, und der Münchener Kanonist, Eduard Eichmann. Vgl. Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 27. November 1919, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 110–115 (Nr. 52), hier 113. Bei den Beratungen, die am 7. Januar 1920 im Münchener Ordinariat begannen, waren dann aber noch einige Personen mehr vertreten. Vgl. Anton Scharnagls Niederschrift der Beratung über die künftige Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Bayern vom 7. Januar 1920, ASV, ANM 399, Fasz. 1, Fol. 40r–47v. Zunächst stellte Buchberger unumwunden fest, dass der wichtige Artikel 137, Absatz 3 entgegen der staatlichen Auffassung nicht nur Norm für die Landesgesetzgebung, sondern bereits jetzt bindendes Recht sei. Damit ergab sich für ihn das Ziel einer vertraglich zugesicherten Besetzungsautonomie der kirchlichen Ämter von selbst. Allerdings hielt er bei der Besetzung der Bistümer Zugeständnisse – freilich in einer Art, die nicht als dem Verfassungsartikel entgegenstehende „Mitwirkung“ des Staates verstanden werden konnte – für möglich, um auf der Gegenseite ein akzeptables Ergebnis bei der Ablösung der staatlichen Leistungen zu finden. Innerhalb der Diskussion über die Frage, ob der Artikel 137, Absatz 3 zwingendes Recht konstituierte, ergab sich aber ein anderes Bild: Hier lautete der Tenor, dass die einseitige staatliche Rechtssetzung nicht das Konkordat verändern könne und die Verfassungsnorm deshalb kein unmittelbar geltendes Recht schaffe. Freilich ergebe sich aus der Reichsverfassung die staatliche Verpflichtung, das Konkordat in ihrem Sinne zu ändern. Pacelli – der diese Aufzeichnung später erhielt – markierte sich die entsprechenden Passagen. Eine weitere Zusammenkunft der Kommission erfolgte wenige Tage später. Vgl. Anton Scharnagls Niederschrift der 2. Sitzung zur Beratung über die künftige Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Bayern vom 10. Januar 1920, ebd., Fol. 56r–62r (nur r). 30
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Kirchenämter ohne Mitwirkung des Staates oder der Gemeinden.“77 Obwohl Pacelli klar war, dass „es ziemlich schwierig sein wird, zu erreichen, dass die bayerische Regierung insgesamt die besagten Punkte akzeptiert“, schien es ihm dennoch angemessen, „dass der Heilige Stuhl im ersten Entwurf alles das fordert, was für ihn billiges und vernünftiges Recht wäre“78, wie er am 22. Januar an Gasparri schrieb. Tatsächlich enthielt die Pacelli-Punktation II „bereits die wesentlichen Bestimmungen des am 29. März 1924 abgeschlossenen Konkordats“79.
Die Konkordatsverhandlungen bis zum Sommer 1921 Der Nuntius legte diesen ersten Konkordatsentwurf Ministerpräsident Hoffmann unter dem Datum des 4. Februar 1920 vor.80 Hoffmann bedung sich Zeit zur Prüfung der Vorschläge aus,81 die ihm allerdings nicht blieb, da ihn am 16. März Gustav Ritter von Kahr als Ministerpräsident ablöste. Dieser blieb auch nach den Landtagswahlen im Juni im Amt, aus denen die BVP als Siegerin hervorging.82 Pacelli begab sich am Tag nach der Kabinettsbildung vom 16. Juli zwecks der unterbrochenen Konkordatsverhandlungen unverzüglich zum neuen Kultusminister, Franz Matt, der ihm versicherte, dass staatlicherseits weiter an der Punktation gearbeitet würde.83 Ende August übermittelte Matt dem Nuntius schließlich seine Bemerkungen zu dem ersten Teil des Entwurfspapiers, freilich referierte er seine „zunächst nur persönliche und unverbindliche Auffassung“, um auf diese Weise alle Vertragspunkte insoweit zu überarbeiten, dass „wenigstens unüberwindlich 77
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Pacelli-Punktation II, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 48r. Italienischer Text: „I. Alla Chiesa spetta il diritto di piena e libera provvista di tutti gli uffici ecclesiastici senza cooperazione dello Stato e dei Comuni. Il patronato privato rimane nei limiti delle prescrizioni del diritto canonico.“ Ebd., Fol. 42r. Vgl.: „Naturalmente sarà assai difficile di ottenere che il Governo bavarese accetti integralmente i punti anzidetti e converrà quindi molto probabilmente nel corso delle trattative rinunziare almeno in parte ad alcuni di essi o consentire ad altre concessioni; parmi ciò nondimeno opportuno che la Santa Sede chieda nel primo progetto tutto ciò a cui avrebbe equamente e ragionevolmente diritto.“ Pacelli an Gasparri vom 22. Januar 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 39r–40v, hier 40r-v. Gasparri beurteilte die vorgeschlagenen Artikel als sehr gut, wenngleich noch einige Modifikationen und Ergänzungen zu machen seien. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 2. Februar 920, ASV, ANM 396, Fasz. 8, Fol. 28r. Listl, Entwicklung, S. 449. Vgl. Pacelli an Hoffmann vom 4. Februar 1920 (Entwurf), ASV, ANM 399, Fasz. 1, Fol. 97r. Vgl. Hoffmann an Pacelli vom Februar 1920 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 55r. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 782–784; Schwarz, Zeit von 1918 bis 1933. Zweiter Teil, S. 454–465. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 19. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 59r–62v. 31
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scheinende Schwierigkeiten beseitigt [sind] und somit Grundlagen gegeben erscheinen, gegen die nicht von vorneherein ein Widerstand der weiter beteiligten Faktoren mit Sicherheit zu erwarten ist“84. Zur ersten Nummer der Punktation – das freie Besetzungsrecht der Kirche für alle Kirchenämter – war die Ansicht Matts zwiespältig: Zwar könne man per se daran keinen Anstoß nehmen, weil diese Nummer eine wörtlich etwas veränderte Wiedergabe des Artikels 137, Absatz 3 der WRV darstelle, die nun einmal auch für Bayern grundlegende Bedeutung habe. Dennoch betonte er die Sorge davor, dass in die höheren Kirchenämter, insbesondere auf die Bischofsstühle, Personen gelangen könnten, „von denen eine Beeinträchtigung der staatlichen Interessen zu befürchten wäre, z[um] B[eispiel] Ausländer oder politisch nicht einwandfreie Personen“85. Daher stellte sich der Kultusminister als Sicherheiten für den Staat eine eventuelle Mitwirkung der Domkapitel bei der Bischofseinsetzung oder ein etwaiges Erinnerungsrecht der Regierung gegen die vom Heiligen Stuhl in Aussicht genommenen Kandidaten vor. Pacelli hielt auf diesem wichtigen Feld Konzessionen an den Staat für durchaus vorstellbar, wie er am 11. September in seinem Bericht an Gasparri überlegte.86 Dabei dachte er als Vergleichsfolie an den Artikel 4 des 1914 (von ihm) mit Serbien ausgehandelten Konkordats, der dem Staat ein Erinnerungsrecht gegen den Kandidaten vor der Nomination einräumte.87 Über ein politisches Bedenkenrecht war Pacelli demnach bereit zu verhandeln, eine eventuelle Mitwirkung der Domkapitel kam für ihn offensichtlich nicht infrage. Der Schwerpunkt lag freilich auf dem Terminus „verhandeln“, denn ohne eine staatliche Gegenleistung, die über das der Kirche bereits in der WRV Zugestandene hinausging, gedachte Pacelli keineswegs, die von derselben Verfassung gerade nicht gedeckte staatliche Einflussnahme auf die Bischofseinsetzungen hinzunehmen: „Es wäre tatsächlich absurd, dass der Heilige Stuhl irgendeine Begrenzung seiner Freiheit durch die 84
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Matt an Pacelli vom 26. August 1920 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 83r–89v, hier 83r. Matt an Pacelli vom 26. August 1920 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 85r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 71r–82r. Grundsätzliche Kritik übte Pacelli an der von Matt vertretenen Auffassung, dass ein neues Konkordat „sich also in den Grenzen halten [muss], die dem Freistaate Bayern durch die Verfassung und die Gesetzgebung des Deutschen Reiches gezogen sind“. Matt an Pacelli vom 26. August 1920 (Abschrift), ebd., Fol. 83v. Demgegenüber hatte die Kirche nach Pacelli das volle Recht, mehr zu fordern, als die Reichsverfassung bereits enthielt. Diese weitergehenden Bestimmungen stünden dann auch nicht entgegen (contra) der Reichsverfassung, sondern außerhalb (praeter) ihrer Reglementierung. Falls der Staat dieses Prinzip nicht anerkenne – so Pacelli – „non vedo in verità quale profitto ritrarrebbe la S. Sede dalla conclusione di un nuovo Concordato“. Pacelli an Gasparri vom 11. September 1920, ebd., Fol. 73r. Vgl.: „Sua Santità, prima di nominare definitivamente lʼArcivescovo di Belgrado ed il Vescovo di Scopia, notificherà al Regio Governo la persona del rispettivo candidato, per conoscere se vi siano fatti o ragioni di ordine politico o civile in contrario.“ Art. 4 des Serbischen Konkordats vom 24. Juni 1914, Mercati (Hg.), Concordati I, S. 1100. 32
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Regierung in einer so wichtigen Materie akzeptierte, ohne einen angemessenen Nutzen davon zu haben.“88 Was er sich als quid für das quo vorstellen konnte, erläuterte Pacelli jedoch nicht. Von Matts Überlegungen unterrichtete der Nuntius auch den bayerischen Episkopat, der am 8. September 1920 auf der Freisinger Bischofskonferenz über die Konkordatsverhandlungen beriet.89 Hinsichtlich der Ernennung der Bischöfe bekräftigten die Oberhirten ihren früheren Entschluss, dass der Besetzungsmodus dem Can. 329 § 2 des CIC entsprechen sollte. Doch gänzlich ohne Beteiligung wollten sie nicht bleiben und kamen daher überein, vom Papst das Privileg auditis episcopis provinciae zu erbitten, also ein Vorschlags- beziehungsweise zumindest ein Auditionsrecht der Bischöfe aus der Kirchenprovinz des vakanten Bistums. Da die Darlegungen des Kultusministers nur die ersten fünf der 19 Artikel der Pacelli-Punktation betrafen und man auf kirchlicher Seite noch auf die restlichen Bemerkungen wartete, gab es zunächst keine offizielle Replik. Zwischenzeitlich erreichte Pacelli von der Reichsregierung die schriftliche Erklärung, dass das Reich keine Bedenken gegen die Verhandlungen über ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Bayern hege.90 Damit glaubte er, der bayerischen Regierung ein Hindernis für die schleunige Fortführung der Verhandlungen und den zügigen Konkordatsabschluss genommen zu haben.91 Allerdings täuschte sich der päpstliche Diplomat darin. Bis Jahresende traf kein zweiter Teil der staatlichen Stellungnahme zu Pacellis Punktation in der Nuntiatur ein. Schließlich nahm er den Jahrestag des 4. Februar 1921, an dem er ein Jahr zuvor seinen Konkordatsentwurf an den damaligen Kultusminister Hoffmann übersandt hatte, zum Anlass, um sich brieflich an Ministerpräsident Kahr zu wenden und eine klärende Stellungnahme zu den stockenden Verhandlungen zu erbitten.92 Dieser versicherte ihm, dass Minister Matt von nun an
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„Sarebbe infatti assurdo che la S. Sede accettasse una limitazione qualsiasi della sua libertà in materia così importante per lo stesso Governo, senza averne una proporzionata utilità.“ Pacelli an Gasparri vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 74r. Vgl. Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats vom 8.–10. September 1920, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 150–157 (Nr. 76). Anfang Oktober übersandte Faulhaber dem Nuntius das Protokoll. Vgl. Faulhaber an Pacelli vom 5. Oktober 1920, ASV, ANM 399, Fasz. 1, Fol. 196r. Vgl. Erklärung der Reichsregierung vom 13. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 123r. Vgl. dazu Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 183f. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 14. November 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 121r–122v. Vgl. Pacelli an Kahr vom 6. Februar 1921 (Entwurf), ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 197rv. Als Gründe für die Verzögerungen seien ihm – so der Nuntius – die Komplexität der Verhandlungsmaterie und die Arbeitslast des Kultusministeriums genannt worden. Pacelli vermutete freilich auch prinzipielle Sorgen auf Seiten des bayerischen Kultusministers, was die Schulfrage im Zusammenhang mit reichsrechtlichen Bestimmungen anbelangte und die Pacelli eigentlich mit der Erklärung der Reichsregierung vom 13. September ausgeräumt zu haben glaubte. Vgl. dazu Schmidt, Kultusminister, S. 200–202. 33
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
nach Kräften die bayerische Konkordatsfrage vorantreiben werde, nachdem jetzt „in den wichtigsten einschlägigen Fragen des öffentlichen Schulwesens soweit Klarheit geschaffen ist, dass die Stellungnahme des Reichs und die demnächst zu erwartende reichsgesetzliche Regelung mit einiger Sicherheit beurteilt werden kann“93. Dadurch könne die Situation vermieden werden, dass die Reichsgesetzgebung eine angebahnte konkordatäre Regelung der Schulfrage durchkreuze. Gemäß diesem Versprechen kam für einen Augenblick wieder Bewegung in die Sache. Am 28. Mai ließ Matt dem Nuntius endlich den ersehnten zweiten Teil der staatlichen Erwiderung auf die Pacelli-Punktation zukommen, der sich mit den wichtigen und umstrittenen Schulartikeln befasste. Pacelli übersandte ihn Gasparri am 8. Juni und fügte eine ausführliche Bewertung bei.94 Trotz dieser Vorlage Matts kamen die Verhandlungen nicht recht in Gang, insbesondere weil sich die vieldiskutierte Problematik des Verhältnisses von Bayern- und Reichskonkordat hemmend auswirkte.95 Pacelli, der schon im Vorjahr, am 30. Juni 1920, als Nuntius beim Deutschen Reich akkreditiert worden war,96 sah viele Widerstände gegen ein an und für sich von ihm gewünschtes Reichskonkordat und optierte zunehmend dafür, mit dem „katholischen“ Bayern zunächst ein Musterkonkordat auszuhandeln, von dessen Basis aus dann auch gegenüber Preußen und dem Reich argumentiert werden konnte.97 Aus diesem Grund siedelte Pacelli trotz seiner neuen Rolle als Gesandter des Papstes für das gesamte Reich zunächst nicht in die Reichshauptstadt über, sondern blieb in München, um die Verhandlungen mit Bayern voranzutreiben.98
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Kahr an Pacelli vom 26. März 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 212r–213r, hier 213r. Vgl. Matt an Pacelli vom 28. Mai 1921 (dt. Text ohne Anschreiben), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918– 1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 90r–94v; ital. Übersetzung mit Anschreiben, ASV, ANM 400, Fasz. 1, Fol. 2r–11r; Pacelli an Gasparri vom 8. Juni 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 143r–151v. Vgl. dazu auch die Verhandlungen zwischen Vertretern der Reichs- und der bayerischen Regierung in Berlin vom 11. Juli 1921, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 230r–235v. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.2 Anm. 580. Vgl. dazu schon Bd. 1, Exkurs I (Erste Standpunkte zum Modus der Bischofsbestellung und die schwierige Ausgangslage für ein Reichskonkordat). Auch der bayerische Episkopat, allen voran Faulhaber, setzte sich vehement dafür ein, dass Pacelli bis zum bayerischen Konkordatsabschluss in München verblieb. Vgl. eindrücklich Faulhaber an Benedikt XV. vom 20. August 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 155r–156v; abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 199f. (Nr. 99). Unterstützung kam vom preußischen Episkopat, vor allem von Kardinal Schulte, der Gasparri auf die Vorteilhaftigkeit dieses Anliegens auch für Preußen hinwies: „So sehr vielleicht aus diplomatischen Gründen diese eilige Übersiedlung [sc. Pacellis nach Berlin, R.H.] gewünscht werden muß, ebensosehr ist aber dieselbe verhängnisvoll für das Zustandekommen kirchlich günstiger Konkordate. … Nur aber, wenn Monsignor Pacelli ein kirchlich günstiges 34
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Die bayerischen Domkapitel und der Modus der Bischofseinsetzung Während die Konkordatsverhandlungen nur schleppend vorangingen, wuchs auf Seiten der bayerischen Domkapitel der Wunsch, künftig an der Besetzung der bischöflichen Stühle beteiligt zu werden, wie es in Preußen und der Oberrheinischen Kirchenprovinz bislang Brauch gewesen war.99 Ohne Wissen des bayerischen Episkopats, der die Bischofswahl durch die Kanoniker strikt ablehnte, wartete Anfang Juni 1921 als erstes das Metropolitankapitel von München mit einer dahingehenden Supplik auf, die Pacelli auf Bitten des Dekans, Martin Hartl, an Benedikt XV. weiterleiten sollte.100 Die Münchener Kanoniker erinnerten in ihrer Bittschrift daran, dass das Wahlrecht ein uraltes Recht sei, das sie vor langer Zeit verloren hätten. Sie führten es als Privileg des Freisinger Domkapitels auf die Zeit des heiligen Korbinian, des ersten Freisinger Bischofs, also in das beginnende 8. Jahrhundert zurück. Unter König Ludwig III. von Alemannien und Bischof Waldo von Freising an der Wende zum 10. Jahrhundert sei das Recht dann erneuert und bestätigt worden. Nach 900-jährigem Besitz sei es schließlich durch die Säkularisation verlorengegangen, da die Befugnis zur Bischofsernennung durch das Konkordat von 1817 auf den bayerischen König transferiert worden sei. Auf Basis dieser langen Tradition bat das Münchener Kapitel, „dass in einer neuen Vereinbarung dem Metropolitankapitel von München wenigstens das Recht zugestanden werde, für den vakanten Bischofsstuhl drei Kandidaten zur Verleihung vorschlagen zu dürfen“101. Warum die Münchener Domherren nicht um ein eigentliches Bischofswahlrecht baten, wird deutlich, wenn man sich folgenden Zusammenhang vergegenwärtigt: Ein Propositionsrecht des Domkapitels von drei Kandidaten war genau der Modus, den Gasparri am 20. Mai 1921 – also erst wenige Tage zuvor – als großes Zugeständnis Roms an die deutschen (außerbayerischen)
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Konkordat bald in Bayern zustandebringt, … wird er in Berlin für Preußen und das Reich erfolgreich auf Konkordate hinarbeiten können …“ Schulte an Gasparri vom 26. August 1921 (dt. Entwurf), abgedruckt bei Hürten (Bearb.), Akten 1, S. 356f. (Nr. 170), hier 356; ital. Ausfertigung abgelegt in S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 159rv. Bereits im März 1921 trugen mehrere Domkapitel Bayerns dem Nuntius die an den Papst gerichtete Bitte vor, dass sie künftig – entgegen Can. 403 CIC 1917, aber in Anlehnung an die bisherige Praxis des Artikels X des Bayernkonkordats von 1817 – alternierend mit dem jeweiligen Diözesanbischof vakante Kanonikate besetzen durften. Vgl. unter anderem die entsprechenden Bittschreiben in ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 230r–238r beziehungsweise S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 138r–146v. Nun sahen sie die Gelegenheit, sich ein neues Einflussrecht auf die Besetzung des höchsten Teilkirchenamtes zu erwerben. Vgl. Hartl an Pacelli vom 6. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 243r sowie Denkschrift des Münchener Metropolitankapitels vom 6. Juni 1921, ebd., Fol. 244r–245v. „…, ut in nova Conventione id saltem Juris Capitulo Metropolitano Monacensi concedatur, ut Sede Episcopali vacante ternos candidatos ad conferendum proponat.“ Denkschrift des Münchener Metropolitankapitels vom 6. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 245v. Hervorhebung im Original. 35
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Domherren dem Nuntius als Verhandlungsdirektive mit auf den Weg gegeben hatte.102 Offenbar hatten die Münchener Kanoniker davon erfahren und versuchten nun auf den Zug insbesondere der preußischen Domkapitel aufzuspringen. Dabei dachte das Metropolitankapitel erst einmal nur an sich, wohlwissentlich, dass eine etwaige Genehmigung des Heiligen Stuhls leichter nur für eins als für alle bayerischen Kapitel erreicht werden konnte. Doch logischerweise wollten auch die anderen Bischofskirchen diese sich scheinbar bietende Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Noch im Juni trafen in der Münchener Nuntiatur die Eingaben der Domkapitel von Speyer und Eichstätt ein. Während der Speyerer Dompropst, August Brehm, die gleiche Besetzungsvariante vorschlug wie das Metropolitankapitel der bayerischen Hauptstadt,103 plädierte der Eichstätter Domdekan, Georg Triller, für eine einheitliche Besetzungspraxis in ganz Deutschland und damit für ein Wahl- beziehungsweise Ternavorschlagsrecht auch für Bayern, sofern dieses den Domkapiteln in Preußen oder der Oberrheinischen Kirchenprovinz zuerkannt werden sollte.104 Wie bereits deutlich wurde, war die Mitwirkung der Domkapitel bei den Bischofseinsetzungen in Bayern für Pacelli keine optimale Lösung. Allerdings verlief die Frontlinie im Streit um diese Frage nicht geradlinig zwischen Pacelli beziehungsweise der Kurie sowie den bayerischen Bischöfen einerseits und den bayerischen Domkapiteln andererseits. Zum Beispiel hatte sich Bischof Mergel für ein Vorschlagsrecht der Domherren ausgesprochen und plädierte damit zumindest für eine herabgestufte Kapitelsbeteiligung. Auf Kapitelsseite gab es wiederum Stimmen, die sich gänzlich gegen eine Beteiligung der Kanoniker aussprachen und so auf die römisch-episkopale Sicht einschwenkten. Konkret galt das für den Regensburger Domdekan, Franz Kiefl, und den dortigen Generalvikar, Alphons Scheglmann, der ebenfalls Mitglied des Kapitels war. Am 27. Juni reichten sie bei Pacelli eine Denkschrift für den Papst ein, in der sie die getreue Umsetzung des Can. 329 § 2 des CIC in Bayern wünschten und mehrere Punkte auflisteten, warum sie den diversen Bitten der Domkapitel nicht zustimmen könnten, ihnen „vielmehr widersprechen“ wollten, „weil wir davon Schlechtes befürchten“105. Zunächst einmal hielten sie die Domkapitel schlichtweg nicht für fähig, eine Bischofswahl aus rechter Motivation vorzunehmen: 102
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Vgl. Bd. 1, Exkurs I (Die „endgültige“ Entscheidung aus Rom zum künftigen Modus der Bischofseinsetzung). Vgl.: „Maxime e re et utilitate dioecesis esse videretur, si Capitulo Ecclesiae Cathedralis liceret, in singulis casibus ternos candidatos eligere eosque Sedi Apostolicae nominare. Quare Sanctitatem Vestram supplices rogamus, ut in nova Conventione hunc electionis episcopi modum concedere dignetur.“ Brehm an Benedikt XV. vom 9. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 248r. Vgl. auch das Anschreiben von Brehm an Pacelli vom 9. Juni 1921, ebd., Fol. 246r. Vgl. Triller an Pacelli vom 24. Juni 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 125r. Vgl.: „Cui postulationi nos infrascripti in tantum non consentimus, ut potius contradicamus, mala exinde timentes.“ Kiefl und Scheglmann an Benedikt XV. vom 27. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 250r–251r, hier 250r. Vgl. auch das Anschreiben von Scheglmann an Pacelli vom 27. Juni 1921, ebd., Fol. 249rv. 36
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
„Gewiss finden sich 1. unter den Kapiteln Parteiungen, Rivalitäten, Feindschaften, dreiste und Unruhe stiftende Personen, die mit jeder Anstrengung die einfachen und schüchternen Kapitulare hinter ihren Willen ziehen, woraus die Gefahr entsteht, dass oftmals etwas in leidenschaftlichem Geist entschieden wird, was eine heilige Pflicht wäre, in der Eingebung des Heiligen Geistes fromm und friedlich zu tun.“106
Wenn sich aber solche Übel einschlichen, würden die Parteiungen und die Zwietracht keine Interna der Kapitel bleiben, sondern auch nach außen hervorbrechen und dort Flächenbrände nach sich ziehen. Ein weiteres Argument war der Gedanke, dass sich vom Domkapitel gewählte Oberhirten häufig dem Wahlgremium verpflichtet fühlten. Das Kapitel tendiere dann sogar dazu, „im Bischof eher sein Geschöpf als seinen Herrn zu sehen“107. Die daraus resultierende Konsequenz einer lascheren Handhabung der kirchlichen Disziplin sei leicht vorhersehbar. Wenn hingegen der Heilige Stuhl exklusiv die Bischofseinsetzung vornehme, gebe es keinerlei Einmischung von menschlichen Leidenschaften, „sondern das Heilige wird heilig behandelt“108. Außerdem glaubten die beiden Domherren einschätzen zu können, dass viele sehr fromme Menschen sich eher den Bischöfen unterwerfen würden, die ihnen von der höchsten kirchlichen Autorität gegeben, als solchen, die durch das jeweilige Domkapitel mit offenen Streitereien gewählt worden seien. Damit sahen Kiefl und Scheglmann keinen zwingenden Grund, den Can. 329 § 2 für Bayern zu lockern. Nichts dränge dazu, „nicht das Präjudiz der Kapitel in Preußen, weil dort besondere geschichtliche Gründe gelten; noch irgendein Verlangen der bayerischen Herde, denn im ganzen Volk findet sich gerade keine Spur eines solchen Willens“109. Schließlich seien die Drohungen zu vernachlässigen, dass das Konkordat bei der Abstimmung abgelehnt werde, wenn das Kapitelswahlrecht darin nicht verankert sei, da sich kaum ein Politiker darum schere. Es ist klar, dass dieses Votum aus den Reihen der Domkapitulare Pacelli entgegenkam, was man auch daraus ersehen kann, dass er auf die Eingaben des Münchener, Speyerer und Eichstätter Kapitels kein Antwortschreiben verfasste, sich aber bei Kiefl und Scheglmann ausdrücklich bedankte.110 106
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„Sane 1° in Capitulis facile inveniuntur factiones, aemulationes, simultates, viri audaciores et turbulentiores, post suam voluntatem simpliciores ac timidiores omni conatu trahentes, unde exoritur periculum, ne saepius spiritu passionum decidatur, quod debebat esse opus sanctum, instinctu Spiritus Sancti religiose ac pacifice perficiendum.“ Kiefl und Scheglmann an Benedikt XV. vom 27. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 250r. „… videre in Episcopo potius creaturam quam Dominum.“ Kiefl und Scheglmann an Benedikt XV. vom 27. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 250v. „… sed sanctum sancte tractabitur.“ Kiefl und Scheglmann an Benedikt XV. vom 27. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 250v. „… non praejudicium Capitulorum in Borussia, cum singulares ibidem viguerint historiae rationes; non aliquod gregis Bavaricae desiderium, nam in toto populo ne vestigium quidem talis voluntatis invenitur.“ Kiefl und Scheglmann an Benedikt XV. vom 27. Juni 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 250v. Vgl. Pacelli an Scheglmann vom 1. Juli 1921 (Entwurf), ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 252r. 37
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Bei ihrem Widerspruch gegen eine Beteiligung der Domkapitel am Prozess der Bischofseinsetzung bezogen sich die beiden Regensburger Kanoniker offensichtlich auf die – nach den anfänglichen partikularen Bestrebungen – nun von allen Kapiteln Bayerns gemeinsam vorgetragene Supplik, die der Münchener Domdekan Mitte Oktober an die Nuntiatur zum Weitertransfer an den Papst übermittelte.111 Die Kanoniker suchten dabei dezidiert Anschluss an die Bittschrift der preußischen Domherren vom 1. Februar des gleichen Jahres, in der diese neben einer Beteiligung an der Besetzung der Domkapitelstellen das freie Wahlrecht für die bischöflichen Stühle forderten:112 „Was die Domkapitel Preußens glauben, für sich von Eurer Heiligkeit begehren zu dürfen, das halten auch die Domkapitel Bayerns als ihr Recht und ihre Pflicht, für sich zu begehren …“113, ungeachtet der unterschiedlichen Besetzungspraxis der Bistümer in Preußen und Bayern in der jüngeren Vergangenheit. Wie schon Hartl in der Münchener Denkschrift vom 6. Juni pointiert herausgestellt hatte, vergaß das gemeinsame Bittschreiben nicht darauf hinzuweisen, dass vor dem Konkordat von 1817 das Bischofswahlrecht auch in Bayern bewährte und immer wieder bestätigte Praxis gewesen sei. Das im Konkordat gewährte königliche Nominationsrecht sei letztlich nicht mehr als eine wohlwollende Privilegierung seitens der Kirche für die Wittelsbacher Krone gewesen. Man habe aber in Bayern insbesondere in den letzten 50 Jahren die Erfahrung gemacht, dass die Kirche wegen dieses Privilegs dem mehr oder weniger wohlwollenden Geist derer ausgeliefert sei, die im Staat über die kirchlichen Angelegenheiten entschieden. Wenn nun durch die neuen rechtlichen Entwicklungen das Nominationsrecht und andere königliche Rechte abgeschafft worden seien, „glauben die bayerischen Domkapitel mit vollem Recht, sich die Stimmen und Bitten der preußischen Domkapitel aneignen zu können“114. Es wäre doch auch – so die Kanoniker weiter – ein schwieriger Gedanke, wenn in einem Gebiet Deutschlands, in dem die Katholiken in der Minorität seien, die Domkapitel das freie Bischofswahlrecht erhielten, während ebendieses in Bayern, wo die Katholiken den größeren Teil der Bevölkerung
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Vgl. Hartl an Pacelli vom 16. Oktober 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 255r und Supplik der bayerischen Domkapitel an Benedikt XV. vom 10. Oktober 1921, ebd., Fol. 253r–254v. Die Domdekane und Dompröpste aller sieben Bistümer Bayerns unterzeichneten das Dokument, ausgenommen natürlich Regensburg, wo anstatt des Dekans Kiefl der Kapitelssenior Karl Loibl seine Unterschrift unter das Papier setzte. Vgl. dazu Bd. 1, Exkurs I (Episkopat und Domkapitel gemeinsam für das Bischofswahlrecht und Pacellis Verhandlungsfokus). „Quod capitula cathedralia Borussiae sibi a Sanctitae Vestra expetere licere existimant, Capitula quoque cathedralia Bavariae sibi expetere juris atque officii sui habent …“ Supplik der bayerischen Domkapitel an Benedikt XV. vom 10. Oktober 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 253r. „… Capitula cathedralia Bavariae pleno jure vota et petitiones Capitulorum cathedralium Borussiae sibi adsciscere posse arbitrantur.“ Supplik der bayerischen Domkapitel an Benedikt XV. vom 10. Oktober 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 253v. 38
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ausmachen würden, „weggenommen“115 werde. Daher baten die Kapitel den Papst – unanimiter, wie sie sagten –, ihnen das freie Bischofswahlrecht zu gewähren. Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die anfänglichen zaghaften Bitten einzelner Kapitel um ein Vorschlagsrecht nun in doppelter Hinsicht verschärft wurden: formal, weil die bayerischen Domkapitulare jetzt mit einer Stimme sprachen – die inoffiziell durch die Eingabe Kiefls und Scheglmanns unterlaufen wurde – und materiell, weil sie jetzt mit dem freien Wahlrecht die Maximalforderung formulierten. Wie schon deutlich wurde, fand diese Auffassung keineswegs den Segen der bayerischen Oberhirten. Auf ihrer jährlichen Konferenz am 6. und 7. September 1921 erneuerten sie den Wunsch, dass der Can. 329 § 2 mit dem Zusatz auditis provinciae Ordinariis in der künftigen Regelung umgesetzt werden möge.116 Im Vergleich zum Vorjahr ergänzten sie ihren Entschluss um eine mögliche Beteiligung der Staatsregierung, die vor der Nomination gehört werden sollte, falls der für den vakanten Bischofsstuhl in Aussicht genommene Kandidat ein Ausländer sei.
Die Interessengemeinschaft von Regierung und Domherren sowie der Widerspruch des Episkopats Pacelli hatte also eine ganze Reihe von Eingaben nach Rom zu senden. Bevor der Nuntius jedoch all diese Petitionen weiterleitete, wollte er zunächst die Replik der Regierung zu den verbliebenen Punkten seines Konkordatsentwurfs abwarten. Den ersten Teil hatte Kultusminister Matt am 26. August 1920 vorgelegt, den zweiten am 28. Mai 1921. Seitdem wartete Pacelli wieder auf die nächsten Ausführungen. Neben einem weiteren Regierungswechsel117 und einer Verwirrung durch die Konsistorialallokution Benedikts XV. vom 21. November 1921,118 führten auch die
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Die Kanoniker sprachen wohl bewusst von „wegnehmen“ oder „rauben“, um zu betonen, dass ihnen das Bischofswahlrecht von der Geschichte her rechtmäßig zustand: „… haec jura adempta essent.“ Supplik der bayerischen Domkapitel an Benedikt XV. vom 10. Oktober 1921, ASV, ANM 399, Fasz. 2, Fol. 253v. Hervorhebung R.H. Vgl. Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats vom 6.–7. September 1921, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 202–213 (Nr. 101). Am 21. September 1921 wurde Hugo Graf von Lerchenfeld (BVP) zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, den Pacelli wiederum umgehend aufsuchte, um über die Konkordatsverhandlungen sprechen. Matt behielt das Amt des Ministers für Unterricht und Kultus. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 3. Oktober 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 273r–278r. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 784. Vgl. dazu Bd. 1, Exkurs I (Wieder die leidige Fortgeltungsfrage: die Konsistorialallokution Benedikts XV.). 39
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Rücksichtnahmen Matts auf die Reichsgesetzgebung119 zu neuen Verzögerungen, sodass die letzte von weiteren drei Teilerklärungen zur Pacelli-Punktation II erst im April 1922 in der Nuntiatur eintraf.120 Wenige Wochen vorher, am 30. März, hatte der Kultusminister Pacelli außerdem ein fünf Punkte umfassendes Skriptum vorgelegt, das – wie Faulhaber sich ausdrückte – „die [ersten] staatlichen Forderungen an ein Konkordat in fester Fassung“121 und insbesondere auch einen konkreten Antrag zum Modus der Bischofseinsetzung enthielt.122 Hatte Matt im August 1920 noch die kirchliche Freiheit der Ämterbesetzung prinzipiell bejaht und nur eine Problematik gesehen, wenn der Heilige Stuhl einen Kandidaten ernennen wollte, der das grundsätzliche Staatsinteresse und dabei vordringlich die Landeseinheit gefährden konnte, wie beispielsweise ausländische Staatsbürger, so formulierte er nun unter der Nummer drei eine weitergehende Forderung: „Die Besetzung der erzbischöflichen und bischöflichen Stühle erfolgt durch Wahl der Domkapitel vorbehaltlich der Bestätigung (Institution) durch den H[eiligen] Stuhl. Der H[eilige] Stuhl wird sich vor der Bestätigung davon überzeugen, ob bei der Bayerischen Staatsregierung gegen den Gewählten keine Bedenken bestehen.“123 Matt war sich durchaus bewusst, dass er hiermit vom Heiligen Stuhl ein Entgegenkommen verlangte, doch entsprächen die formulierten Anträge den Ansichten der bayerischen Katholiken und seien „auf ein reibungsloses, erfolg- und segensreiches Wirken der katholischen Geistlichen“124 ausgerichtet, wie er im Anschreiben an Pacelli begründete. Das erwartete Entgegenkommen rechtfertigte der Kultusminister mit den Bestimmungen des bisherigen Konkordats und den vom Land Bayern zu übernehmenden Verpflichtungen – insbesondere dachte er wohl an die finanziellen – gegenüber der Kirche. Mit anderen Worten: Trotz der Kirchenartikel der WRV musste die Kirche für ein reziprok förderndes und rücksichtnehmendes Verhältnis zum Staat auch Zugeständnisse machen, ohne die eine gute Beziehung beider Seiten nicht möglich war. Die eigentliche Grundlage, ein Bischofswahlrecht der Domkapitel zu fordern, verlegte Matt – anders als Kiefl und 119
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Vgl. Matt an Pacelli vom 9. Dezember 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 51rv. Vgl. Pacellis Berichte an Gasparri vom 28. Dezember 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 288r–295, vom 10. Februar 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 11r–15v und vom 5. April 1922, ebd., Fol. 53r–66r. Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 278r–279v, hier 278r; abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 237–240 (Nr. 110). Vgl. „Vorschläge des Bayerischen Kultusministeriums zum neuen Konkordat mit dem H[eiligen] Stuhle“ vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 264rv; abgedruckt bei Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 221f. „Vorschläge des Bayerischen Kultusministeriums zum neuen Konkordat mit dem H[eiligen] Stuhle“ vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 264r. Matt an Pacelli vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 260r–262v, hier 260r; abgedruckt bei Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 219–221. 40
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Scheglmann geurteilt hatten, aber in Übereinstimmung mit der Argumentation der übrigen Domherren – in den Wunsch der bayerischen Katholiken. Auch wenn das königliche Nominationsrecht weggefallen sei, sei das Interesse des bayerischen Volkes noch vorhanden, dass bei der Bischofseinsetzung „auch sein eigenes völkisches Fühlen und Denken eine Vertretung finden möge“125. Matt prophezeite dem Nuntius, dass der bayerische Landtag sich dieses Anliegens annehmen werde. Außerdem erklärte er seine Überzeugung, mit der Ziffer drei seines Entwurfpapiers „die eigenen Ansichten des H[eiligen] Stuhles zu treffen“126, dem es doch gelegen sein müsse, die Besonderheiten der jeweiligen Länder zu berücksichtigen, um dem neuen Oberhirten auf diese Weise die günstigste Ausgangslage für sein Amtswirken zu verschaffen. Für den Minister legte sich nahe, bei der Neuordnung des Besetzungsprozederes auf den – seiner Ansicht nach – „gemeinrechtlichen Modus der Wahl der Bischöfe durch die Domkapitel“127 in Bayern von vor 1817 zurückzugreifen, da die königliche Nomination keine Option mehr sei. Übrigens entspreche dieser Modus auch den Wünschen der Domherren und des „übrigen Klerus“128. Hier zeigte sich, dass die Kampagne der bayerischen Kanoniker für das Bischofswahlrecht zunächst einmal über die Regierung Einfluss auf die Konkordatsverhandlungen ausübte und den Kurs des Kultusministers in dieser Frage offensichtlich entscheidend mitbestimmte. Die ablehnende Haltung des Episkopats zur Bischofswahl überging Matt stillschweigend, obschon dieser doch auch zu dem von ihm herangezogenen „übrigen Klerus“ gehörte. Die römischen Interessen indes seien – so Matt – schon dadurch ausreichend gesichert, dass dem Papst das Bestätigungsrecht vorbehalten bleibe. Bevor Pacelli seinem kurialen Vorgesetzten über das staatliche Papier berichtete, besprach er sich am 3. April mit dem Münchener Erzbischof darüber und erbat sich eine Prüfung der einzelnen Punkte. Faulhaber legte es daraufhin streng vertraulich seinen bayerischen Mitbischöfen vor, um ihre Ansichten einzuholen, wobei er selbst bereits die Marschroute vorgab.129 Wie er ihnen erläuterte, sollte Maßgabe sein, dass „wir einerseits die kirchlichen Grundsätze für das neue Konkordat wahren und andererseits einige Konzessionen machen müssen, damit das Konkordat als Ganzes zustandekommen kann“130. Zu den Artikeln, bei denen Zugeständnisse möglich sein könnten, zählte für den Münchener Erzbischof die Nummer drei mit der Forderung nach dem Kapitelswahlrecht jedoch nicht: „Wenn die höchste kirchliche Stelle nicht einmal für Preußen, wo doch bisher dieses Wahl-
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Matt an Pacelli vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 261r. Matt an Pacelli vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 261v. Matt an Pacelli vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 261v. Matt an Pacelli vom 30. März 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 261v. Vgl. Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 278r–279v. Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 278v. 41
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
recht bestand, es weiter gelten lässt, dann kann man in Bayern wahrhaftig nicht eine solche Dispens von can. 329 verlangen.“131 Diese Behauptung zur römischen Politik in Preußen war vor dem Hintergrund von Gasparris „definitivem“ Besetzungsmodus vom 20. Mai 1921 korrekt,132 traf jedoch nicht die Sicht Pacellis, die spätestens im Frühjahr 1922 davon ausging, ein zumindest beschränktes Kapitelswahlrecht in Preußen beizubehalten.133 Den Vorstoß der Domkapitel hielt Faulhaber angesichts der Konkordatsverhandlungen für unglücklich. Die Begründung Matts für das Wahlverfahren, nämlich die Rücksichtnahme auf „das völkische Empfinden“, machte nach Faulhaber „ihrem Erfinder – gleichviel ob er ein weltliches oder geistliches Kleid trägt – keine Ehre“134. Daher stand für ihn eine Revision der bisherigen Haltung des Episkopats in dieser Sache nicht zur Debatte. Was schließlich die politische Klausel anbelangte, so habe Pacelli ihm gegenüber bemerkt, dass er sie als „äußerste Konzession“135 akzeptieren könne. Diese Klausel, welche die Freisinger Bischofskonferenz ehedem für jene Fälle als optional eingestuft hatte, in denen ein Ausländer auf den bischöflichen Stuhl berufen werden sollte, wurde damit zu einer grundsätzlichen Komponente im Besetzungsverfahren ausgeweitet.136 Wie Faulhaber dem Nuntius am 9. April mitteilte, hätten die bayerischen Bischöfe ihm in diesen beiden Punkten zugestimmt.137
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Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 279r. Vgl. Bd. 1, Exkurs I (Die „endgültige“ Entscheidung aus Rom zum künftigen Modus der Bischofseinsetzung). Vgl. Bd. 1, Exkurs II (Priesterausbildung versus Kapitelswahl: Pacellis Ansicht zum Modus der Bischofseinsetzung). Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 279r. Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 3. April 1922 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 279r. Auch zur Frage der Nationalität und der Vorbildung des Klerus hatte sich Matt in seinem Konkordatsentwurf geäußert: In der Nummer zwei erwartete er von der Kirche die Zusage, dass in der Diözesanleitung (ebenso wie in der Verwaltung und Pfarrseelsorge) nur Geistliche eingesetzt würden, welche die bayerische oder zumindest deutsche Staatsbürgerschaft besäßen, das Reifezeugnis an einem staatlich anerkannten Gymnasium erworben und ihr mindestens dreijähriges Theologiestudium an deutschen Hochschulen, bayerischen Lyzeen oder den kirchlichen Priesterausbildungsstätten in Rom absolviert hätten. In seinem Anschreiben begründete er diese Forderungen damit, dass von ihnen die Anerkennung des Geistlichen durch das Volk abhänge. Außerdem sei nur mit diesen Voraussetzungen eine adäquate gesellschaftliche und soziale Stellung des Klerus zu erreichen, die sich in der Mitwirkung bei staatlichen Einrichtungen wie dem Schul- oder Armenverband konkretisieren könne. Da Matt also keine ausländischen Bürger als Oberhirten deutscher Bistümer akzeptierte, war der auf der Freisinger Konferenz von 1921 beschlossene Anwendungsfall der politischen Klausel ohnehin hinfällig geworden. Wenngleich widerwillig konnte sich Faulhaber eine Zustimmung zu den Forderungen Matts im zweiten Punkt hinsichtlich der Nationalität des Klerus und der Ausbildungsvoraussetzungen unter der Bedingung, dass ein „gutes“ Konkordat dabei herauskäme, vorstellen. Jedoch galt ihm diese Zustimmung nur als gewichtige Konzession, die eine ebensolche auf staatlicher Seite verlangte. Die übrigen Oberhirten Bayerns stimmten mit Faulhabers Auffassung überein. Erzbischof Hauck von Bamberg bekräftigte freilich erneut, dass er sich zumindest ein Vorschlagsrecht der Domkapitel vorstellen konnte, „damit nicht Unverantwortliche (z[um] B[eispiel] Ordensleute oder 42
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Pacelli zum Modus der Bischofseinsetzung und über „würdige“ Bischöfe Nachdem nunmehr alle staatlichen Anmerkungen zur Pacelli-Punktation II sowie am 30. März der erste Teil eines konkret ausformulierten Konkordatsentwurfs des Kultusministeriums bei Pacelli eingegangen waren, hielt dieser die Zeit für reif, Gasparri seit langem wieder in der Frage der Bischofseinsetzung und der damit zusammenhängenden Frage der Vorbildung des Klerus auf den neuesten Stand zu bringen.138 Der Besetzungsmodus war zu einem Zankapfel sowohl zwischen Kirche und Staat als auch innerkirchlicher Parteien geworden. Es standen in der zentralen Frage des Wahlrechts mittlerweile Kurie, Nuntius und Episkopat den Domkapiteln und der Regierung gegenüber. Um diese Situation dem Kardinalstaatssekretär zu verdeutlichen, skizzierte Pacelli ausführlich die verschiedenen Positionen und übersandte erst jetzt – im April 1922 – zusammen mit dem Gegenschreiben der Regensburger Kapitulare Kiefl und Scheglmann die Bittschreiben der Domkapitel aus dem Frühsommer 1921, die noch an Benedikt XV. gerichtet waren, dem mittlerweile Pius XI. auf den Stuhl Petri gefolgt war. Pacelli stellte die Frage nach der Beteiligung der Domkapitel an der Bestellung der Diözesanbischöfe zunächst einmal in den Gesamtkontext der Konkordatsverhandlungen. Diesbezüglich
138
katholische Adelige) Vorschläge zu machen versuchen“. Hinsichtlich der politischen Klausel forderten zwei Oberhirten eine veränderte Formel, welche das Bedenkenrecht der Regierung präzisieren und damit weniger Spielraum gewähren sollte. Vgl. Faulhaber an Pacelli vom 9. April 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 277rv, 280rv, hier 280r; abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 248–250 (Nr. 115). Vgl. Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 95r–110v. Die Forderungen des Kultusministers hinsichtlich der Staatsangehörigkeit und Vorbildung der Geistlichen beäugte Pacelli schon allein deshalb ähnlich kritisch wie der Episkopat, weil es sich für ihn um eine „delicatissima materia“ handelte. Ebd., Fol. 102r. Er merkte an, dass sich im Konkordat von 1817 solche Einschränkungen nicht fänden, sondern im Gegenteil die Beurteilung der Kandidatenprofile einzig den Bischöfen unterstellt worden sei. Es sei von den vom König zu ernennenden Diözesanbischöfen lediglich verlangt worden, würdig und tauglich sowie mit den von den kirchlichen Satzungen bestimmten Eigenschaften begabt zu sein. Vgl. den Art. IX des Konkordats, auf den sich Pacelli hier berief, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 174. Der Nuntius fügte allerdings hinzu, dass diese kirchlichen Freiheiten in der Priesterausbildung angesichts des bayerischen Religionsedikts von 1818 nicht in dieser Form umgesetzt worden seien. Daher schienen ihm Zugeständnisse in diesem Punkt im Rahmen des neuen Konkordats unvermeidlich zu sein. Die Frage, die Pacelli daraufhin für Gasparri diskutierte, war, wie weit diese gehen durften. Zum Beispiel hielt er es für grundsätzlich gefährlich, wenn die künftigen Bischöfe und Pfarrer dazu verpflichtet würden, ein staatliches Gymnasium zu besuchen: „Che cosa accadrebbe, se questi divenissero un giorno, colle attuali tendenze di scristianizzazione della scuola, completamente antireligiosi?“ Ebd., Fol. 103v. Die Eingrenzung der Studienorte für die Alumnen bewertete Pacelli zusammen mit den bayerischen Bischöfen als nicht kompatibel mit Artikel 137 WRV, hielt es jedoch für einen Fortschritt, dass die römischen Bildungsanstalten ausdrücklich mit eingeschlossen waren. Vgl. Pacellis ausführliche Diskussion der Nummer zwei des staatlichen Entwurfs, ebd., Fol. 101v–104v. 43
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
hätten ihm gegenüber einige einflussreiche Abgeordnete der BVP auf der Bedeutung des Kapitelswahlrechts für den erfolgreichen Abschluss des Konkordats insistiert, wie insbesondere der Eichstätter Domkapitular Georg Wohlmuth, oder zumindest ein Terna-Vorschlagsrecht als minimales Zugeständnis herausgehoben, wie der Vorsitzende der Landtagsfraktion, Heinrich Held. Dagegen habe Ministerpräsident Hugo Graf von Lerchenfeld klar gemacht, dass ihm persönlich an solchen Konzessionen kein bisschen gelegen sei. Die kürzliche Besetzung des bischöflichen Stuhls in Mainz habe Lerchenfeld „die Unstimmigkeiten und inneren Kämpfe der Kapitel“139 aufgezeigt, sodass er eine direkte Ernennung der Oberhirten durch den Heiligen Stuhl vorziehe. Die opportune Lösung angesichts dieser divergenten Meinungen zu finden, verwies Pacelli einem Demutsgestus folgend in das Urteil Gasparris. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, einige Punkte zu bedenken zu geben, die letztlich schon eine Klärung aller strittigen Bereiche enthielten: 1) Zunächst sei die Annahme gerechtfertigt, dass die nähere Spezifikation des bischöflichen Einsetzungsmodus gar nicht in das Konkordat gehöre, da die WRV jede staatliche Einmischung in diesen Bereich ausschließe.140 Und da Matt sich schließlich ständig auf die Reichsverfassung berufe, anerkenne er damit – gewissermaßen performativ – auch die Autonomie der kirchlichen Ämtervergabe. Übrigens seien die staatlichen Interessen völlig ausreichend berücksichtigt, sollte der Heilige Stuhl den staatlichen Forderungen hinsichtlich der bayerischen beziehungsweise deutschen Staatsbürgerschaft und des Ausbildungswegs über ein deutsches Abitur sowie eine deutsche Hochschule als Prämissen für das Bischofsamt nachkommen.141 Seiner Ansicht nach konnte höchstens ergänzt werden, dass der Heilige Stuhl sich vor der Ernennung bei der Regierung zu informieren hatte, ob gegen den fraglichen Kandidaten Einwände „vom politischen oder bürgerlichen Standpunkt“142 bestanden. Aber ob „dieser dann vom Kapitel oder vom Heiligen
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„… i dissensi e le lotte interne dei Capitoli …“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 105v. Die Spannungen im Domkapitel durchzogen und bestimmten den gesamten Besetzungsfall. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.2. Pacelli rekurrierte hier auf die Meinung des Augsburger Bischofs Maximilian von Lingg, die bei Kardinal Faulhaber Anfang April eingegangen war. Lingg schrieb: „In der Reichsverfassung und in der bayerischen Verfassung ist ausdrücklich gesagt, die Kirche verwalte ihre Angelegenheiten selbständig ohne Mitwirkung des Staates. Konkordate ordnen jene Angelegenheiten, an denen Kirche und Staat ein Interesse haben. Wenn nun der Staat in der Verfassung selber sagt, er habe keine Interesse an der Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten (‚ohne Mitwirkung des Staates‘), dann kann er die Aufnahme von Bestimmungen über Besetzung der Bischofsstühle und Kanonikate nicht verlangen. Diese zwei Artikel gehören also überhaupt nicht mehr in das Konkordat.“ Faulhaber an Pacelli vom 9. April 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 277r. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu oben Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 136 und 138. „… dal punto di vista politico o civile …“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106r. 44
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Stuhl direkt gewählt wird, ist eine innere Angelegenheit, in welche der Staat an sich kein Recht noch ein Motiv hat, einzugreifen“143. 2) In Anlehnung an Faulhabers Bemerkung vom 3. April hielt Pacelli den von Matt angeführten Grund des „Volksempfindens“ zugunsten des Kapitelswahlrechts nicht für schlüssig: „Das katholische Volk nimmt mit nicht geringerer Verehrung und Anhänglichkeit einen vom Heiligen Vater ernannten Bischof auf; ihm ist wichtig, dass es ein würdiger und heiliger Hirte ist.“144 Das weitere Argument des Kultusministers, dass bis zum Konkordat von 1817 die Kapitelswahl „allgemeines Recht“ gewesen sei, zu dem man nach dem Wegfall der königlichen Nomination nun zurückkehren könne, war in den Augen des Nuntius ein „offenkundiger historischer und rechtlicher Irrtum, der nicht der Widerlegung bedarf.“145 Damit widersprach der Nuntius nicht nur dem Kultusminister, sondern auch der Argumentation der Domkapitel selbst. 3) Pacelli gestand den Domkapiteln zu, unfraglich immer „würdige und geeignete Geistliche nach den Vorgaben der heiligen Canones“146 zu wählen. In diesem Geist seien zweifellos alle Bischöfe in Deutschland gewählt worden. Doch auf der anderen Seite gebe es auch nicht selten äußere Einflussnahmen auf die Kanoniker, außerdem Gegensätze, Eifersucht und Gruppeninteressen innerhalb des Domkollegiums.147 Diese destruktiven Erscheinungen könnten wiederum – so Pacelli – „leicht die Wahl des Würdigsten verhindern, wie ich schon in kürzlichen Fällen feststellen konnte.“148 Welche er damit konkret meinte, sagte er nicht, doch darf davon ausgegangen
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„… poi questo vengo scelto dal Capitolo o direttamente dalla S. Sede, è un affare interno, in cui lo Stato non ha per sé alcun diritto né motivo dʼintervenire.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106r. „La popolazione cattolica accoglie con non minor venerazione ed attaccamento un Vescovo nominato dal S. Padre; lʼimportante è che esso sia degno e santo Pastore.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106r. Vgl.: „Che poi fino al Concordato del 1817 la provvista delle Sedi vescovili per mezzo della elezione capitolare fosse diritto comune, al quale, caduto il particolare privilegio della nomina regia, dovrebbesi ora tornare, è manifesto errore storico e giuridico, che non abbisogna di confutazione.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106r-v. Hervorhebung im Original. „… ecclesiastici degni ed idonei a norma dei sacri Canoni …“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106v. Hervorhebung im Original. Pacelli verwies hier nicht nur auf die entsprechenden Anschuldigungen Kiefls und Scheglmanns, sondern auch auf das Gutachten Joseph Hollwecks vom 7. August 1919, das dieser auf Bitten Pacellis im Kontext der Diskussion um die Besetzung der bischöflichen Stühle in Preußen angefertigt und worin er den Kapiteln die nötige Freiheit für eine Wahl im rein kirchlichen Sinne abgesprochen hatte. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 (Das Gutachten von Joseph Hollweck und die Vorstellungen des Nuntius). „… facilmente impedire lʼelezione del più degno, come ho potuto constatare anche in casi recenti.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106v. Hervorhebung im Original. 45
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werden, dass er insbesondere die Besetzung des Bistums Trier im Auge hatte: Erst sechs Wochen zuvor hatten die dortigen Domherren Bornewasser zum Bischof gewählt, während hingegen Pacelli den Seminarregens Bares präferiert hatte.149 Was verstand er unter dem „Würdigsten“? Das deutlich zu machen, bezeichnete Pacelli als seine „Gewissenspflicht“150: „Es ist unzweifelhaft, dass die Ausbildung des Klerus in Deutschland … Verbesserungen und Reformen bedarf, und zu diesem Ziel hat die Heilige Kongregation für die Seminare und die Studieneinrichtungen an den Episkopat am 9. Oktober 1921 eine nützliche Instruktion gesandt. Nun sind aber (wie die Erfahrung lehrt) alle Instruktionen des Heiligen Stuhls diesbezüglich mehr oder weniger toter Buchstabe, wenn es keine Bischöfe gibt, die vollkommen ihre Notwendigkeit und Bedeutung erfasst haben und daher mit aller Energie ihre treue und vollständige Umsetzung fördern.“151
Der zentrale Kristallisationspunkt, wo sich gute von sehr guten Bischöfen nach Pacelli unterschieden, war deren Vorstellung zur Priesterausbildung. Mit diesem Thema hatte sich Pacelli seit Anbeginn seiner Amtszeit in Deutschland beschäftigt. Seine Kritik wurzelte in dem Faktum, dass die Alumnen an theologischen Fakultäten innerhalb staatlicher Universitäten oder an philosophisch-theologischen Lyzeen studierten und seiner Auffassung nach dort nicht oder viel zu wenig eine römisch-scholastisch-spekulative Theologie lernten. Daher arbeitete Pacelli für eine Anpassung der deutschen Priesterausbildung an die römische Praxis. Dieses Ziel verfolgte auch das Rundschreiben der Studienkongregation vom 9. Oktober 1921, auf das Pacelli hier verwies.152 Allerdings bedurfte dieser Erlass der Umsetzung, wofür willige Bischöfe gefordert waren. Der Nuntius analysierte, dass es ziemlich schwierig sei, derart willige Kandidaten auf die bischöflichen Stühle zu bringen, wenn die Wahl der Oberhirten in der Kompetenz der Domkapitel liege und dem Heiligen Stuhl nichts anderes als das Bestätigungsrecht bleibe. Die päpstliche Zustimmung zu einem auf diese Weise Gewählten könne schließlich nicht verweigert werden, wenn dieser die von den Canones geforderten Qualitäten besitze.153 4) Aus den vorgebrachten Argumenten zog Pacelli abschließend seine Konklusion: Falls es nicht möglich sein sollte, diesen Punkt gänzlich zu beseitigen ohne den Konkordatsabschluss zu gefähr149 150
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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.3 (Die Wahl Franz Rudolf Bornewassers zum Bischof von Trier). „… dovere di coscienza …“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922– 1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106v. „È indubitato che la formazione del Clero in Germania … esige miglioramenti e riforme, ed a tal fine la S. Congregazione dei Seminari e delle Università degli Studi ha indirizzato allʼEpiscopato in data del 9 Ottobre 1921 una opportuna Istruzione. Ora però (come dimostra lʼesperienza) tutte le Istruzioni della S. Sede al riguardo resteranno più o meno lettera morta, se non si avranno Vescovi, i quali siano pienamente compresi della loro necessità ed importanza e ne promuovano quindi con ogni energia la fedele e completa esecuzione.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 106v–107r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.3 Anm. 728. Vgl. zu den vom CIC 1917 geforderten Eigenschaften eines Bischofs Bd. 1, Kap. I.6. 46
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
den, könne man – in Anlehnung an die oben bereits erwähnte Weisung Gasparris vom 20. Mai 1921 – den Domkapiteln erlauben, eine Vorschlagsliste von wenigstens drei Namen aufzustellen. Diese sei dann an den Metropoliten des vakanten Bistums respektive an den ältesten Suffraganbischof zu übersenden, der wiederum die Meinungen der übrigen Provinzordinarien einholen sollte. Auf dieser Basis habe der Metropolit oder der älteste Suffragan die Vorschlagsliste zu akzeptieren oder zu modifizieren und dann über die Nuntiatur an den Heiligen Stuhl zu senden. Dieser behalte sich die Freiheit vor, gegebenenfalls einen anderen Geistlichen zu nominieren, der nicht auf der Liste stehe, „sooft er es aus besonderen Gründen für angemessen hält“154. Wichtig war für Pacelli bei diesem Prozess besonders die Verschwiegenheit aller Beteiligten, ein Umstand auf den er immer wieder insistierte, weil er wusste, dass die geforderte römische Entscheidungsfreiheit ohne Diskretion kaum umgesetzt werden konnte. Schlussendlich kam Pacelli noch auf die Frage der politischen Klausel zu sprechen. Die Bischöfe hatten diesen Punkt als äußerstes Zugeständnis eingestuft und zum Teil eine Verbesserung der staatlichen Formulierung, die unpräzise von „Bedenken“ sprach und Anlass zu Missbräuchen geben konnte, gefordert. Der Nuntius teilte diese kritische Sicht durchaus, doch zeigte er Sinn für die Realität: „So sehr auch die absolute Freiheit der Kirche in der Wahl der Bischöfe wünschenswert sein kann, scheint es gleichwohl schwierig – unbeschadet der angemessenen Verbesserungen in der Redaktion –, diesen Antrag der Regierung zurückweisen zu können, währenddessen eine gleiche Genehmigung vom Heiligen Stuhl bereits im Konkordat mit Serbien (Art. 4) und im Konkordatsprojekt mit Lettland (Art. 4) gewährt wurde.“155
Damit bekräftigte Pacelli seine Position, die er bereits am 11. September 1920 vertreten hatte und zog als Präzedenzfälle für die politische Klausel die Verträge mit Serbien (1914) und Lettland (1922) heran, in denen dem Staat jeweils ein politisches Bedenkenrecht vor der Einsetzung der Bischöfe zugestanden worden war.156 Außerdem war eine solche Klausel auch bereits in der zentralen römischen Weisung zur kurialen Position der Besetzung der deutschen Bistümer – jene vom 20. Mai 1921 – vorgesehen und deckte sich ebenfalls mit dem vom Kölner Erzbischof Schulte im Februar des laufenden Jahres für die Besetzung des Bistums Trier entworfenen modus proce154
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„… ogniqualvolta per speciali ragioni lo giudichi più opportuno.“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 107v. „Per quanto desiderabile possa essere lʼassoluta libertà della Chiesa, nella scelta dei Vescovi, sembra tuttavia difficile di poter rifiutare, salvo gli opportuni miglioramenti nella redazione, questa richiesta del Governo, mentre che un eguale concessione è stata già fatta dalla S. Sede nel Concordato colla Serbia (art. 4) e nel progetto di Concordato colla Lettonia (art. 4).“ Pacelli an Gasparri vom 15. April 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 107v. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 175. 47
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dendi.157 Damit schien die Frage der Regierungsbeteiligung für Pacelli zumindest grundsätzlich entschieden zu sein, während sich jene nach der Rolle der Domkapitel für ihn erheblich offener gestaltete.
Zwei Sitzungen der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten und der römische Konkordatsentwurf Matts erster Teilentwurf der Konkordatsmaterie wurde mitsamt der Berichterstattung des Nuntius am 28. Mai in einer Sessio particularis der AES diskutiert.158 Als Sitzungsgrundlage fungierte eine Relation, die das Staatssekretariat unter der Federführung Gasparris für die Teilnehmer angefertigt hatte und der neben der Denkschrift des Kultusministers sämtliche Eingaben der bayerischen Bischöfe und Domkapitel beigefügt waren.159 Wie dem Protokoll der Sitzung zu entnehmen ist, gab es über den dritten Artikel keinen größeren Diskussionsbedarf. Die Kardinäle waren bereit, im Äußersten die Meinung der bayerischen Bischöfe zu akzeptieren und billigten nach „kurzer Diskussion“160 folgende Fassung des dritten Artikels: „Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe ist dem Heiligen Stuhl vorbehalten, welcher, vor der Veröffentlichung der Ernennungsbulle, sich versichern wird, dass Bedenken politischer Art gegen den Kandidaten nicht bestehen.“161 Man rückte also von der reinen päpstlichen Nominationsvollmacht nicht ab, das von Matt verlangte Kapitelswahlrecht kam nicht infrage und nicht einmal das von Pacelli angedachte Vorschlagsrecht sollte für die Domkapitel herausspringen. Auch ein Auditionsrecht des Episkopats verankerte man nicht. Dagegen griffen die Kardinäle, wie es der Konkordatspraxis der Kurie entsprach, die politische Klausel auf. Allerdings war der Umfang derselben keineswegs geklärt. De Lai übte Kritik an der Klausel, weil er 157 158
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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.3 (Der modus procedendi der Bischofswahl). Anwesend waren die Kardinäle Gaetano De Lai, Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Raffaele Scapinelli di Léguigno, Gaetano Bisleti, Andreas Frühwirth und Pietro Gasparri. Von den Eingeladenen fehlten Basilio Pompilj und Raffaele Merry del Val. Vgl. Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 28. Mai 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1250, ohne Foliierung [6 Seiten]. Vgl. Relation „Progetto di Concordato“ der AES vom Mai 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922– 1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 170 [35 Seiten]. „… poco discussione …“ Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 28. Mai 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1250, [5]. „La nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi è riservata alla Santa Sede, la quale, prima della pubblicazione della Bolla, si assicurerà che contro il candidato non vi siano difficoltà di ordine politico.“ Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 28. Mai 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1250, [5]. 48
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fürchtete, dass die bayerischen Regierungen künftig jeden von Rom ausgewählten Kandidaten torpedieren könnten, nur weil dieser eventuell eine parteipolitisch andere Richtung vertrete. Hier waren also noch Klärungen nötig. Nachdem auch der Papst die Beschlüsse bestätigt hatte, teilte Gasparri dem Nuntius die Entscheidung der Kardinäle mit.162 Keinerlei Erklärung oder weiterführende Anmerkung fügte er der neuen Fassung des dritten Entwurfsartikels hinzu. Der Artikel berücksichtigte nur die zweite Forderung des Kultusministers hinsichtlich der politischen Klausel, nicht jedoch die erste zur Beteiligung der Domkapitel. Der Nuntius war der Meinung, dass dies womöglich nicht ausreichte, denn als er sich am 11. Juni von Gasparri noch weitergehende Instruktionen erbat, merkte er an, dass weitere Konzessionen im Besetzungsmodus nötig sein könnten und fragte: „Falls die Regierung auf größeren Zugeständnissen hinsichtlich der Besetzung der erzbischöflichen und bischöflichen Stühle beharren sollte, wäre die schon von den Bischöfen vorgeschlagene Ergänzung: ‚auditis provinciae Ordinariis‘ annehmbar?“163 Im Vergleich mit einer Beteiligung der Domherren war es für ihn das weitaus kleinere Übel, die Provinzbischöfe in dieser Frage anzuhören. Weil Pacelli ebenfalls betonte, dass er nun einen konkreten Gegenvorschlag zum staatlichen Konkordatsentwurf vorweisen müsse, berief der Kardinalstaatssekretär für den 6. August erneut eine Congregatio particularis der AES ein, um auf Basis einer weiteren, umfangreichen Relation einen römischen Gegenentwurf zu erarbeiten.164 Die Diskussion um die von Pacelli vorgebrachte Ergänzung war nur kurz, wobei sich vor allem De Lai kritisch zu diesem Punkt äußerte, wie der Protokollant, Untersekretär Pietro Ciriaci, notierte: „Er [sc. De Lai, R.H.] bemerkt, dass der Heilige Stuhl die Ordinarien anhören wird, wie er sie faktisch anhört, aber er legt das nicht im 162
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 1. Juni 1922, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 427r–428v. Hinsichtlich der Vorbildung des Klerus erklärte der Kardinalstaatssekretär die staatlichen Forderungen für prinzipiell unvereinbar mit der WRV. Während die bayerische oder zumindest deutsche Staatsbürgerschaft als Prämisse zur Übernahme eines geistlichen Amtes akzeptabel sei, dürfe sich die Regierung nicht in die genuin kirchliche Kompetenz einmischen. Abgesehen davon könne sie sich sicher sein, „che la Santa Sede usa sempre la massima cura perchè i Vescovi e i parroci siano, per doti morali e per coltura intellettuale, idonei allʼalto e delicato ministero loro affidato“. Ebd., Fol. 427v. „Qualora il Governo insistesse per maggiori concessioni circa la provvista della Sedi arcivescovili e vescovili, sarebbe ammissibile lʼaggiunta proposta già dai Revmi Vescovi: ,auditis provinciae Ordinariis‘?“ Pacelli an Gasparri vom 11. Juni 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 178r–180r, hier 178v. Vgl. Protokoll Ciriacis der Congregatio particularis der AES vom 6. August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1256, ohne Foliierung [10 Seiten]; Relation „Baviera, progetto di Concordato“ der AES vom Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 182 [154 Seiten]. Die Relation umfasste neben den Promemorien des bayerischen Kultusministeriums alle relevanten Berichte Pacellis. Anwesend waren diesmal die Kardinäle Gaetano De Lai, Raffaele Merry del Val, Donato Sbarretti, Giovanni Tacci, Gaetano Bisleti und Pietro Gasparri. 49
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Konkordat fest und bindet sich so endgültig, während es bisweilen Gründe geben könnte, die Bischöfe nicht anzuhören.“165 Laut Protokoll schlug Gasparri daraufhin vor, auf die Anfrage folgendermaßen zu antworten: „Solange es möglich ist, ablehnend.“166 Die Kardinäle gaben dieser Haltung anschließend ihre Zustimmung. Aus der Arbeit der Kongregation ging ein 15 Artikel umfassender Konkordatsentwurf hervor.167 Unter dem Artikel 14 § 1 fand sich der Modus der Bischofseinsetzung, der im Vergleich zur Mai-Sessio nur eine geringe Veränderung erfahren hatte: Der Heilige Stuhl verpflichtete sich, vor Promulgation der Ernennungsbulle nunmehr auf offiziösem Wege bei der Regierung nach politischen Einwänden zu fragen.168 Wie gesehen hatte das fragliche Auditionsrecht der Provinzbischöfe des vakanten Bistums bei den Kurienkardinälen keinen zustimmenden Widerhall gefunden. So lange wie möglich – so kommentierte Gasparri den Artikel im Anschluss an De Lai – müsse man sich diesem Zusatz widersetzen: „Obwohl der Heilige Stuhl es tatsächlich gewöhnt ist, in der Besetzung der Diözesen die Ordinarien zu hören, ist es wünschenswert, diese Fessel gegenüber der Regierung zu vermeiden.“169 Letztlich müsse man die Entscheidung darüber jedoch der Klugheit des Nuntius überlassen, dem der Kardinalstaatssekretär am 19. August den römischen Entwurf zur weiteren Redaktion gemäß den beigefügten Instruktionen und zur anschließenden Vorlage bei der Regierung übersandte.170
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„Egli nota che la S. Sede sentirà gli Ordinari, come di fatto li sente, ma che non è il caso di metterlo nel Concordato, vincolandosi così definitivamente, mentre talvolta si potrebbero essere ragioni per non sentire i Vescovi.“ Protokoll Ciriacis der Congregatio particularis der AES vom 6. August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1256, [8]. „Finchè è possibile, negativamente.“ Protokoll Ciriacis der Congregatio particularis der AES vom 6. August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1256, [8]. Vgl. römischer Konkordatsentwurf vom August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 193r–205r (nur r). Vgl.: „La nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi è riservata alla S. Sede, la quale, prima della pubblicazione della Bolla, si assicurerà, in via officiosa che contro il candidato non vi siano difficoltà di ordine politico.“ Römischer Konkordatsentwurf vom August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 204r. Hervorhebung R.H. „Benché, infatti, nella provvista delle Diocesi la Santa Sede usi sentire gli Ordinari, è preferibile evitare questo vincolo di fronte al Governo.“ Römischer Konkordatsentwurf vom August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 204r. Beim Hauptsatz handelte es sich um eine korrigierte Fassung. Was jetzt als wünschenswert deklariert wurde, war in der ersten Version absolut ausgeschlossen: „… gli Ordinari, non conviene [sc. la Santa Sede, R.H.], però, che Essa si vincoli al ciò di fronte al Governo.“ Von der Klugheit und dem diplomatischen Geschick des Nuntius war man in der Kurie überzeugt und mit der bisherigen Arbeit Pacellis hochzufrieden, wie Gasparri diesem mitteilte: „In pari tempo mi è grato parteciparLe che gli Eminentissimi hanno concordamente tributato alla S. V. i più vivi elogi per lʼintelligente attività da Lei esplicata in sì importante affare. Anche lʼAugusto Pontefice si è degnato 50
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Die Klärung der politischen Klausel An dieser Stelle ist noch auf eine weitere Sitzung – diesmal eine Vollversammlung – der AES zurückzukommen, die am 30. Juli des Jahres tagte, das heißt also zwischen den beiden skizzierten Congregationes particulares. Sie beschäftigte sich mit dem noch klärungsbedürftigen Thema der „politischen Klausel“171, die im römischen Konkordatsentwurf dem bayerischen Staat konzediert wurde. Es wurde deutlich, dass es keineswegs eindeutig war, was unter diese Bestimmung fiel und welche Gründe dazu fähig sein sollten, vom Heiligen Stuhl als legitime Einwände der Regierung gegen einen auserkorenen Bischofsaspiranten angesehen zu werden. Weil in dieser Sitzung die Natur der Klausel und die römische Sicht auf ihre Bedeutung eingehend und endgültig besprochen wurde, lohnt ein Blick auf die vorbereitende Ponenza und die auf ihrer Basis geführte Diskussion.172 Die Relation für die an der Sitzung teilnehmenden Kardinäle konstatierte zur Einführung in das Thema, dass der Heilige Stuhl in den vergangenen zwei Jahrzehnten anders als früher keinem Staat mehr das Nominationsrecht der Bischöfe zugestanden habe. Dabei habe die Abschaffung dieses Privilegs, „das grundsätzlich nur aufgrund der Ansprüche des Regalismus173 eingeführt wurde, als dieser in voller Blüte stand“, die Kirche von „einer ihrer schwersten Fesseln“174 befreit. Doch sei die staatliche Beteiligung an der Besetzung der kirchlichen Ämter – insbesondere der Diözesanbischöfe – nicht ersatzlos gestrichen worden. Vielmehr habe sich „eine neue Art von Zugeständnis“ eingebürgert: „… der Heilige Stuhl hat sich nämlich verpflichtet, den Regierungen, vor der endgültigen Ernennung, die Person des Kandidaten, der von Ihm frei ausgewählt wurde,
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esprimere tutta la sua soddisfazione per lʼopera da Lei compiuta.“ Gasparri an Pacelli vom 19. August 1922, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 437rv, hier 437rv. Vgl. auch die lobende Hervorhebung Pacellis durch Gasparri innerhalb der Sitzung der Kongregation, Protokoll Ciriacis der Congregatio particularis der AES vom 6. August 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1256, [7]. Vgl. zur Geschichte und Rechtsnatur der politischen Klausel in den Konkordaten die entsprechenden Passagen in der kanonistischen Literatur in Bd. 1, Kap. I.1 Anm. 49. Vgl. Relation „Circa il ‚nulla ostaʻ governativo nella nomina dei Vescovi“ der AES vom Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, ohne Foliierung [5 Seiten]; Protokoll Ciriacis der Congregatio plenaria der AES vom 30. Juli 1922, ebd., ohne Foliierung [8 Seiten]. An der Congregatio plenaria nahmen teil: Antonio Vico, Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Raffaele Merry del Val, Andreas Frühwirth, Raffaele Scapinelli di Léguigno, Tommaso Pio Boggiani, Giovanni Tacci, Gaetano Bisleti, Oreste Giorgi, Pietro Gasparri. Vgl. zum dramatischen Ausbau des Regalien-Wesens insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Staatskirchentums Feldhaus, Regalismus. Vgl.: „Lʼabbandono di tale privilegio – che, in fondo, non era stato introdotte se non per le esigenze del regalismo, quando questo era in fiore, – tolse alla Chiesa uno dei più gravi vincoli alla sua libertà.“ Relation „Circa il ‚nulla ostaʻ governativo nella nomina dei Vescovi“ der AES vom Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [3]. 51
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bekannt zu geben, um zu erfahren, ob sie irgendwelche Gründe politischer Natur einwenden“175. Weil die Staaten jeweils versuchen würden, den größtmöglichen Einfluss auf die Besetzung der Bischofsstühle zu erzielen und die politische Klausel daher „im weit möglichsten Sinne“176 interpretieren würden, sei eine authentische Erklärung des Heiligen Stuhls über ihre Reichweite vonnöten. Zu diesem Zweck stellte der Relator fünf dubia für die Diskussion in der Kongregation auf: 1) Sollten zu den gültigen Gründen politischer Natur, die eine römische Nomination verhindern konnten, Ansichten über die Regierungsform gehören? Wenn beispielsweise die ins Auge gefasste Person ein monarchisches Staatsprinzip vertrat, der Staat jedoch republikanisch strukturiert war oder vice versa. Dieser Punkt wurde unter den Kardinälen in der Sitzung vom 30. Juli sehr kontrovers diskutiert. Wollte ihn eine Gruppe der Mitglieder, zu der die Kardinäle Antonio Vico, Gennaro Granito del Belmonte, Tommaso Pio Boggiani177 und Oreste Giorgi gehörten, im Wesentlichen als wirkkräftigen Grund gelten lassen, so waren andere wie Raffaele Merry del Val, Andreas Frühwirth, Raffaele Scapinelli di Léguigno und Gaetano Bisleti eher dagegen. Dabei stellte sich bereits die Frage, die erst in der Nummer fünf ausdrücklich thematisiert werden sollte: Genügte die persönliche Ansicht des Kandidaten oder musste sie nach außen hin vertreten werden, um von der Regierung als Argument benutzt werden zu können? Kardinal Giovanni Tacci beispielsweise machte seine Auffassung genau davon abhängig: Wenn ein Kandidat seine abweichende Meinung nach außen hin 175
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„… un nuovo genere di concessione … la S. Sede si è, cioè, impegnata a partecipare ai Governi, prima della nomina definitiva, la person adel candidato da Essa liberamente scelto, per conoscere se si opponga qualche ragione di ordine politico.“ Relation „Circa il ‚nulla ostaʻ governativo nella nomina dei Vescovi“ der AES vom Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [3]. Hervorhebung im Original. Bei Untersuchung der politischen Klauseln, die der Heilige Stuhl in den Staatskirchenverträgen der jüngsten Vergangenheit bereits vereinbart hatte – so im Konkordat mit Montenegro 1886, mit Kolumbien 1887 und Serbien 1914 –, stellte der Relator fest, dass hier jeweils noch von „ragioni di ordine politico e civile“ die Rede sei. Ebd., [3]. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Art. 2 des Konkordats mit Montenegro, Mercati (Hg.), Concordati I, S. 1048; Art. 15 des Konkordats mit Kolumbien, ebd., S. 1055f. und Art. 4 des Konkordats mit Serbien, ebd., S. 1100. Im zuletzt abgeschlossenen Konkordat mit Lettland von 1922 jedoch sei es – so der Relator weiter – das Anliegen des Heiligen Stuhls gewesen, das Adjektiv „bürgerlich“ aus der Formel zu streichen, sodass dort nur noch von „politischen“ Gründen die Rede sei. Vgl. Art. IV des Konkordats mit Lettland, ders. (Hg.), Concordati II, S. 6. Die dadurch erfolgte Einschränkung des staatlichen Bedenkenrechts war in ihrem Umfang in der Kurie bislang noch nicht abschließend reflektiert worden. „… nel senso più ampio possibile …“ Relation „Circa il ‚nulla ostaʻ governativo nella nomina dei Vescovi“ der AES vom Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [4]. Kardinal Boggiani hatte sein Votum zu der Thematik zuvor schriftlich fixiert und zur Sitzung mitgebracht. Vgl. „Circa il ‚nulla osta‘ governativo nella nomina dei Vescovi“ Boggianis vom 30. Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, ohne Foliierung [3 Seiten]. 52
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propagiere, könne die Regierung dies rechtmäßig als Einwand gegen dessen Amtserhebung vorbringen. Handle es sich aber nur um die private Auffassung des Kandidaten, ohne dass er sie der Öffentlichkeit kommuniziere, dann müsse die Zweifelsfrage negativ beantwortet werden. Dieser abgewogenen Meinung schloss sich auch Gasparri an, sodass die Diskussion schlussendlich mit sechs zu vier Stimmen für die Geltung des Arguments der Staatsform ausging. 2) Waren auch Ansichten zur nationalen Einheit unter die politischen Bedenken zu subsumieren? Zum Beispiel, wenn der Kandidat die Teilung des Staatsgebietes befürwortete oder die Hinzufügung eines Teils des Territoriums zu einem anderen Staat, während die Regierung hingegen diese Bestrebungen ablehnte. Anders als die Nummer eins wurde diese Frage von den Kardinälen einmütig beantwortet: Alle stimmten für Ja. Einhellig wurde ebenfalls angenommen, dass es zur Erfüllung des Tatbestandes notwendig sei, dass der Kandidat in dieser Sache agitieren und sie vor der Öffentlichkeit vertreten müsse. Was die inhaltliche Reichweite der Separationsbestrebungen anbelangte, war es unter anderem Gasparri, der die Meinung vertrat, „dass es sich wirklich darum handeln muss, die nationale Einheit zu zerbrechen und nicht einfach nur, die Autonomie im Rahmen des bestehenden Staates zu verfechten“178. Beispielhaft dachte er dabei an eine flämische Autonomie innerhalb Belgiens. 3) Der nächste Punkt betraf Parteipräferenzen: Wenn beispielsweise die Regierung der einen politischen Partei angehörte, der Kandidat aber einer anderen. Auf diese Überlegung folgte ein kategorischer Widerspruch aller Kardinäle. Parteipolitische Gründe könnten niemals eine legitime Basis sein, um die Nomination eines Geistlichen zu verhindern. Hinsichtlich des praktischen Vorgehens, sollte eine Regierung solche Argumente gegen einen von Rom ins Auge gefassten Kandidaten anmelden, hielt Gasparri es für möglich, dass der Heilige Stuhl nicht auf der Ernennung des Beanstandeten insistierte, sondern stattdessen eine Veränderung in der Regierungskonstellation abwartete. Im Vergleich zu den ersten beiden Nummern folgerte er: „Wenn der Kandidat Propaganda gemacht hat entweder gegen die Regierungsform oder gegen die nationale Einheit, schließt ihn der Heilige Stuhl endgültig aus; wenn gegen ihn hingegen einzig parteipolitische Gründe bestehen, berücksichtigt ihn der Heilige Stuhl für den Augenblick nicht, aber schließt ihn nicht für immer aus.“179
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„… che si debba trattare proprio di rompere lʼunità nazionale e non semplicemente di propugnare unʼautonomia nellʼorbita dello Stato esisstente.“ Protokoll Ciriacis der Congregatio plenaria der AES vom 30. Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [5]. „Se il candidato abbia fatto propaganda o contro la forma di governo o contro lʼunità nazionale, la S. Sede lo esclude definitivamente; se invece vi sono contro di lui solo ragioni di partito, la S. Sede per momento non insiste, ma non lo esclude per sempre.“ Protokoll Ciriacis der Congregatio plenaria der AES vom 30. Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [6f.]. 53
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4) Gab es neben den genannten noch andere Kriterien, die einen staatlichen Widerstand gegen einen Amtsanwärter legitimierten? Die Kardinäle glaubten nicht, dass es noch weitere Gründe geben könnte, die zur Gruppe der politischen Bedenken zu rechnen waren. Einzig Kardinal Tacci konnte sich vorstellen, dass bei Ernennung eines Ausländers oder wenn der Ernannte der örtlichen Sprache nicht mächtig war, politische Einwände griffen. Dieser Auffassung wurde entgegengehalten, dass es sich hierbei nicht um politische Gründe im strengen Sinne handle und der Heilige Stuhl diese Umstände bei seiner Kandidatenauswahl ohnehin berücksichtige. Merry del Val konstruierte ein Beispiel: „… wenn nämlich die Zahl der Kandidaten für eine Diözese sehr knapp ist und jene, welche die Ortssprache beherrschen, all die kirchlichen Qualitäten, die für das Bischofsamt gefordert sind, nicht besitzen. In diesem Fall muss die Wahl des Heiligen Stuhls zwischen jenen getroffen werden, welche die örtliche Sprache nicht kennen, ungeachtet des gegenteiligen Drängens der Regierung.“180
Anzumerken ist an dieser Stelle, dass das bayerische Konkordat – auch bereits der römische Konkordatsentwurf vom August 1922 – in Artikel 13 § 1 festsetzte, dass der zu ernennende Kandidat die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen musste. Wenn also nicht die politische Klausel, so verhinderte jedenfalls dieser Artikel, dass ein Nicht-Deutscher, der die deutsche Sprache nicht verstand, einen bayerischen Bischofsstuhl bestieg. 5) Der letzte Punkt bestand in der schon relevant gewordenen Frage, ob die einfache Meinung des Kandidaten ausreichte, damit die genannten Gründe den staatlichen Widerstand rechtfertigen konnten oder ob es nötig war, dass jener seine Meinung in Zeitungsartikeln, politischen Versammlungen etc. kundgetan, also in der Öffentlichkeit eindeutig propagiert hatte und daher publik war. Diese grundsätzliche Zweifelsfrage war als wichtiges Kriterium mit in die Beantwortung der vorherigen eingegangen und wurde daher nicht mehr gesondert besprochen. Pius XI. stimmte noch am selben Tag den Beschlüssen der Kongregation zu, sodass sie damit zum offiziellen Standpunkt des Heiligen Stuhls wurden. Über die Ergebnisse der Sitzung unterrichtete der Kardinalstaatssekretär den Münchener Nuntius am 26. August.181 Die Darstellung zur politischen Klausel, wie sie Pacelli schließlich vorlag, 180
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„… che, cioè, per una dioecesi sia molto scarso il numero dei candidati e quelli che conoscono la lingua del luogo non abbiano tutte le qualità ecclesiastiche richieste dallʼufficio di Vescovo. In tal caso la scelta della S. Sede deve cadere tra quelli che non conoscono la lingua locale, nonostante le insistenze in contrario del Governo.“ Protokoll Ciriacis der Congregatio plenaria der AES vom 30. Juli 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1922, Sessio 1255, [7f.]. Außerdem – so bemerkte Merry del Val laut Protokoll abschließend – könne der Ernannte die Sprache ja auch lernen oder einen Generalvikar berufen, der ihr mächtig sei. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 26. August 1922, ASV, ANB 83, Fasz. 4, Fol. 2r–3v. 54
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fasst die Entscheidung der Kongregation übersichtlich zusammen und wird daher knapp skizziert. Gasparri begann mit dem Hinweis aus der Sitzungsrelation, dass der Heilige Stuhl in den Konkordaten der letzten Jahre den jeweiligen Regierungen das Ernennungs- oder Präsentationsrecht für kirchliche Ämter nicht mehr gewährt und sich stattdessen lediglich verpflichtet habe, vor der Publikation des erwählten Kandidaten bei der Regierung nachzufragen, ob sie auf Basis von „Gründen politischer Natur“ Einwände habe. Auch mit Regierungen, gegenüber denen er diese Pflicht rechtlich nicht habe, wende der Heilige Stuhl dieses Prinzip an, „einfach als Frage der Höflichkeit“182. Aber weil die genannte Formel unbestimmt sei und Anlass zu Verwirrungen gebe, sei es notwendig, eine Richtschnur für ihre Interpretation zu entwerfen. Damit kam Gasparri zu den fünf Zweifelsfragen, die in der Kongregationssitzung disputiert worden waren: 1) Regierungsform: Entsprechend der abgewogenen Haltung Kardinal Taccis erklärte Gasparri dem Nuntius, dass solch eine abweichende Auffassung des Kandidaten in dieser Frage die Regierung zu einem gültigen Einwand berechtige – daher die grundsätzliche Antwort affermativamente –, insofern jener seine Auffassung in der Öffentlichkeit vertrete (gemäß der Nummer fünf). 2) Separatistische Ansichten im Gegensatz zur nationalen Einheit: Hier laute die Antwort wiederum affermativamente (freilich erneut unter Berücksichtigung des fünften Punktes). Dazu ergänzte Gasparri, dass eine solche Ansicht des Kandidaten nur dann als wirkungsvolles Argument der Regierung gelte, wenn die entsprechende Person definitiv darauf hinwirke, die nationale Einheit zu zerstören, und es nicht genüge, wenn er nur die Autonomie im Rahmen des bestehenden Staates verfechte. Diese Auslegung, die Gasparri selbst in die römische Diskussion eingebracht hatte, deklarierte er gegenüber Pacelli als allgemeinen Wunsch der Kardinäle. 3) Parteipräferenzen: Zu diesem Punkt vermeldete Gasparri die rigorose Ablehnung durch die Kardinäle – negativamente –, nie könnten parteipolitische Erwägungen bei der Kandidatenwahl berücksichtigt werden. 4) Weitere legitime Kriterien: Auch in dieser Zweifelsfrage hätten – so Gasparri – die Kardinäle negativ geantwortet. Aspekte wie Sprache, Nationalität oder Ähnliches könnten nicht als gültige Gründe für einen Kandidatenausschluss anerkannt werden. 5) Genügte die einfache Meinung des Kandidaten, damit diese Gründe den staatlichen Widerstand rechtfertigen konnten oder musste er seine Meinung in der Öffentlichkeit eindeutig propagieren? Gasparri resümierte den Beschluss der Sessio dahingehend, dass der erste Teil negativ, der zweite positiv zu beantworten sei. Es lässt sich also festhalten, dass das „politische Bedenkenrecht“ einer Regierung im Sinne Roms nur dann griff, wenn ein auserkorener Kandidat entweder eine andere Staatsform als die herrschende befürwortete oder separatistischem Gedankengut anhing. Dazu musste der Kandidat 182
„… a semplice titolo di cortesia …“ Gasparri an Pacelli vom 26. August 1922, ASV, ANB 83, Fasz. 4, Fol. 2r. 55
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beides nach außen, in die Öffentlichkeit hinein, vertreten. Alle anderen Gründe, die eine Regierung anführen mochte, waren nach dieser Interpretation unberechtigt. Diese authentische Position des Heiligen Stuhls galt logischerweise nicht nur für Bayern – trotz der unmittelbaren Einbettung in die bayerischen Konkordatsverhandlungen –, sondern ebenfalls für Preußen, die Oberrheinische Kirchenprovinz, überhaupt für alle Fälle, in denen der Heilige Stuhl irgendeiner Staatsregierung diese Klausel konkordatär zugestand.183 Es war schließlich eine rein innerkuriale Klärung, wie man vermeintliche staatliche Einwände gegen nominierte Bischöfe gewichten wollte. In der Praxis musste sich erst bewähren, inwieweit sich dieser eigene Katalog durchsetzen ließ.184 Der Charakter eines internen Dokuments bedeutete auch, dass Pacelli vermutlich weder die Regierung noch – zumindest zunächst – den Episkopat darüber informierte.185 So erklärt sich auch, dass die bayerischen Bischöfe im weiteren Verhandlungsverlauf nicht wussten, was unter der Formel „Bedenken politischer Art“ zu verstehen war.
Die Debatte über den ersten römischen Konkordatsentwurf: Kritik an der politischen Klausel Zurück zu den unmittelbaren Konkordatsverhandlungen: Bevor Pacelli dem Kultusminister den römischen Konkordatsentwurf vorlegte, den ihm Gasparri am 19. August zugesandt hatte, und den Pacelli zunächst redigierte und ins Deutsche übersetzte, ließ er die Freisinger Bischofskonferenz am 6. September darüber debattieren.186 Diese äußerte sich nicht dazu, dass ihrem Wunsch, 183
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Die universale Geltung zeigt sich auch daran, dass Pacelli dies Dokument 1925 mit in die Berliner Nuntiatur nahm und nicht etwa in der bayerischen Nuntiatur archivierte. Im dortigen Archiv konnte dieses Dokument nicht gefunden werden. Innerhalb der Besetzungsfälle des hier behandelten Zeitraums ergab sich für Pacelli nicht die Situation, mit der staatlichen Seite über die Reichweite und den Inhalt der politischen Klausel zu debattieren. Vgl. Bd. 4, Kap. III.3. Zwar gestand Gasparri dem Nuntius zu, gegebenenfalls die bayerische Regierung über die von Rom aufgestellte Kriteriologie in Kenntnis zu setzen, wenn die Verhandlungen dies erfordern sollten. Allerdings lässt es sich auf Basis der Quellen nicht belegen, ob Pacelli dies tat. Wahrscheinlicher ist wohl eher das Gegenteil, wenn man nämlich davon ausgeht, dass er die ohnehin komplexen Verhandlungen nicht mit noch weiterem Konfliktpotential belasten wollte. Was den Episkopat anbelangte, so ist zu sehen, dass Pacelli die Verhandlungsvollmacht mit den Staaten ausschließlich dem Heiligen Stuhl und nicht den Ortskirchen zuerkannte und es außerdem – auch nach gegenwärtigem Verhandlungsstand – dem Papst oblag, die etwaigen politischen Einwände der Regierung in einem konkreten Besetzungsfall entgegenzunehmen und zu bewerten. Von daher war eine Mitteilung an die Bischöfe nicht zwingend gefordert und womöglich eher Anlass zu weiteren unliebsamen Diskussionen. Vgl. Beobachtungen der Freisinger Bischofskonferenz zum Konkordatsentwurf vom 6. September 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 399r–400v. 56
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ein Anhörungsrecht der Provinzbischöfe des vakanten Bistums im Konkordat zu verankern, nicht entsprochen worden war. Die Oberhirten monierten jedoch die Wendung „Bedenken politischer Art“, die einen „missliebigen Klang“187 habe, wenngleich zumindest erheblich einschränkender sei als die bisherige Formel „irgendwelche Bedenken“. Als Alternative schlugen sie „Bedenken in staatsbürgerlicher Hinsicht“188 vor. Angesichts der vorangegangenen Instruktion Gasparris zu diesem Thema, änderte Pacelli natürlich nichts an der alten und für ihn geklärten Wortwahl.189 Damit lautete Pacellis Übersetzung des Artikels 14 § 1 des römischen Konkordatsentwurfs: „Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem Heiligen Stuhle zu. Er wird sich vor der Veröffentlichung der Bulle in offiziöser Weise versichern, ob gegen den Kandidaten etwa Bedenken politischer Art bestehen.“190 Am 27. September unterbreitete Pacelli sowohl Kultusminister Matt als auch Ministerpräsident Lerchenfeld die gedruckte Schrift.191 Vier Wochen später begab sich der Nuntius ins Kultusministerium, um mit Matt über den römischen Entwurf zu debattieren, den dieser in der Zwischenzeit studiert hatte. Laut Pacellis Berichterstattung erfuhren insbesondere die finanziellen Verpflichtungen des Staates gegenüber der Kirche Widerspruch, wobei der Kultusminister auch eine grundsätzliche Kritik vorbrachte, nämlich „dass, während der Staat eine lange Liste von vielfältigen Verpflichtungen übernehmen muss, die Zugeständnisse des Heiligen Stuhls hingegen ziemlich begrenzt erscheinen; mit anderen Worten, dass, während die Lasten des alten Konkordats fortdauernd auf dem Staat 187
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Beobachtungen der Freisinger Bischofskonferenz zum Konkordatsentwurf vom 6. September 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 400v. Beobachtungen der Freisinger Bischofskonferenz zum Konkordatsentwurf vom 6. September 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 400v. Auf Basis der Anmerkungen und Kritikpunkte der bayerischen Bischöfe holte sich Pacelli bei Gasparri noch einmal klärende Auskunft zu fraglichen Punkten oder solchen, die Widerspruch von Seiten der Bischöfe erfahren hatten. Zu Artikel 14 § 1 benötigte Pacelli jedoch keine weiteren Instruktionen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 11. September 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 208r–211v. Pacellis Übersetzung des römischen Konkordatsentwurfs vom September 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 217r–221r, hier 221r. Was die Vorbildung eines episkopablen Kandidaten anbelangte, verlangte der Entwurf in Artikel 13 § 1 nur die bayerische respektive deutsche Staatsbürgerschaft, was bereits Gasparris Weisung vom 1. Juni des Jahres erwarten ließ. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 162. Im Anschreiben an Matt zeigte sich Pacelli bemüht, die römische Konkordatsvorlage gegenüber den vorgängig eingereichten Auffassungen der Regierung zu rechtfertigen: „Obwohl der Heilige Stuhl nicht wenige der Ausführungen Euerer Exzellenz nur mit Vorbehalt aufnehmen konnte, war Er doch bestrebt, im genannten Entwurf möglichst entgegenzukommen und Euerer Exzellenz Darlegungen weitgehend Rechnung zu tragen in dem redlichen Bemühen, ohne weitere Verzögerungen zu einem Abschluss zu gelangen. Dabei muss sich der Heilige Stuhl natürlich im Laufe der weiteren Verhandlungen etwa notwendig werdende Abänderungen und Ergänzungen vorbehalten.“ Pacelli an Matt vom 27. September 1922 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 406rv, hier 406r-v. Vgl. auch Pacelli an Lerchenfeld vom 27. September 1922 (Entwurf), ebd., Fol. 434r sowie Pacelli an Gasparri vom 27. September 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 215r–216r. 57
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liegen, ihm dennoch fast alle entsprechenden Rechte entzogen werden, die vormals dem bayerischen König zuerkannt wurden.“192
Für ein solches Konkordatsprojekt die Zustimmung des Landtags zu erreichen, werde sich – so Matt – als äußerst schwierig erweisen. Pacelli führte gegenüber Gasparri an, dass die Erzbischöfe Faulhaber und Hauck dieselbe Auffassung ihm gegenüber geäußert hätten, trotz aller Genugtuung über die im Entwurf der Kirche verbürgten Freiheiten. Auch sie würden weitergehende Konzessionen für nötig halten, wenn die Verhandlungen nicht „Schiffbruch erleiden“193 sollten. Einer der Punkte, bei denen Matt Veränderungen – beziehungsweise aus staatlicher Sicht „Verbesserungen“ – wünschte, betraf den Artikel über die Bestellung der Bischöfe, hatte aber überraschender Weise nicht den grundsätzlichen Modus zum Gegenstand: Vielmehr ging es dem Kultusminister um die politische Klausel, da die Wendung „vor der Veröffentlichung der Bulle“ bei ihm die Befürchtung nährte, die Mitteilung des vom Heiligen Stuhl designierten Bischofskandidaten werde erst im letzten Moment an die Regierung ergehen, sodass dieser vielleicht keine Zeit mehr blieb, eventuelle Einwände geltend zu machen. Daher schlug Pacelli dem Kardinalstaatssekretär vor, die genannte Formel mit der Wendung „vor der Ernennung“194 zu substituieren, die er offensichtlich für geeignet hielt, die Bedenken des Kultusministers zu zerstreuen. Mit seiner eher geringfügigen Anmerkung schien Matt das Wahlrecht der Domkapitel relativ kampflos aufzugeben. Das wird auch deutlich, wenn man sich einen zweiten Änderungswunsch anschaut, den Pacelli an Gasparri weitergab: „[Dr. Matt bemerkte,] dass es ziemlich wünschenswert wäre, wenn wenigstens hinsichtlich der Präsentation der Benefizien irgendein Zugeständnis an die Regierung gemacht würde.“195 Laut römischem Entwurf sollte die Besetzung der Benefizien gemäß CIC erfolgen und damit gänzlich ohne staatliche Einmischung, anders als im Konkordat von 1817, das ein umfassendes Präsentationsrecht des Königs kannte.196 Wenn also schon nicht bei der Bischofs-
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„… che, mentre lo Stato deve assumere una lunga serie di molteplice obblighi, assai limitate invece appariscono le concessioni della S. Sede; in altri termini, che, mentre sullo Stato continuano a gravare i pesi dellʼantico Concordato, gli vengono invece tolti quasi tutti i corrispondenti diritti in esso riconosciuti già al Re di Baviera …“ Pacelli an Gasparri vom 27. Oktober 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 239r–242v, hier 240v. Vgl.: „… se non si vuole che naufraghi lʼintiero Concordato.“ Pacelli an Gasparri vom 27. Oktober 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 241r. „… prima della nomina.“ Pacelli an Gasparri vom 27. Oktober 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922– 1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 241r. „[Dr. Matt ha notato] che sarebbe assai desiderabile, se almeno circa la presentazione ai benefici venisse fatta qualche concessione al Governo.“ Pacelli an Gasparri vom 27. Oktober 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 241r. Hervorhebung R.H. Vgl. Art. 14 § 2 von Pacellis Übersetzung des römischen Konkordatsentwurfs vom September 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 221r sowie Art. XI des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 175. 58
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einsetzung, dann sollte zumindest bei der Besetzung der übrigen Kirchenämter für die staatliche Seite ein Verhandlungserfolg zu verbuchen sein. Hier war nach Pacellis Ansicht durchaus die Möglichkeit gegeben, auf die Regierung zuzugehen.197 Gasparri diskutierte die Änderung der politischen Klausel mit Pius XI. Über die Formulierung, die aus dieser Beratung hervorging, informierte er Pacelli Mitte November: „Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem Heiligen Stuhle zu. Derselbe wird vor der Publikation der Bulle in offiziöser Weise mit der Bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Schwierigkeiten politischer Natur nicht obwalten.“198 Die Wendung „vor der Publikation (Veröffentlichung) der Bulle“ war geblieben, dafür aber die „Bayerische Regierung“ als Adressat eingefügt worden, bei dem sich der Heilige Stuhl über das politische Nihil obstat vergewissern musste. War jedoch damit das eigentliche Problem, das Matt mit der bisherigen Formel hatte und letztlich in der schlichten Sorge um eine ausreichende Zeit für Einwendungen bestand, behoben? Gasparri hielt es nicht für notwendig, diese Angelegenheit im Konkordatstext genauer zu verankern: Es verstehe sich doch von selbst – erklärte er gegenüber Pacelli –, dass der Regierung genügend Zeit gelassen werde, um Informationen über den von Rom ins Auge gefassten Kandidaten einzuholen und sich dann über diesen zu äußern.
Die Forderung des Kapitelswahlrechts durch die staatlichen Verhandlungsführer Als der Nuntius die neue Formulierung des Artikels 14 § 1 dem Kultusminister am 21. November präsentierte,199 musste er feststellen, dass damit noch keineswegs der endgültige Besetzungsmodus der bischöflichen Stühle gefunden war. Im Gegenteil: Der römische Konkordatsentwurf, den Pacelli Ende September der bayerischen Regierung offiziell unterbreitetet hatte, wurde im Dezember in drei Konferenzen von mehreren Staatsministern, Ministerialbeamten,
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Vgl. Näheres dazu Pacelli an Gasparri vom 27. Oktober 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 241r–242r. „La nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi è riservata alla Santa Sede. Prima della pubblicazione della Bolla, la Santa Sede interpellerà in via officiosa il Governo per assicurarsi che contro il candidato non vi siano difficoltà di ordine politico.“ Gasparri an Pacelli vom 10. November 1922, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 466rv, hier 466v. Die zitierte Übersetzung ist jene, die Pacelli wenig später für Kultusminister Matt anfertigte. Vgl. Neufassung der Artikel X und XIV, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 333r. Vgl. Pacelli an Matt vom 21. November 1922 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 332r und Neufassung der Artikel X und XIV, ebd., Fol. 333r. 59
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Abgeordneten der BVP sowie dem bayerischen Vatikangesandten diskutiert.200 Heraus kam eine Gegenüberstellung von römischem Entwurf und staatlichem Gegenvorschlag, wobei letzterer hinsichtlich der Bischofsbestellung weit hinter das zurückfiel, was Pacelli Ende Oktober mündlich von Matt erreicht hatte: „Die Besetzung der erzbischöflichen und bischöflichen Stühle erfolgt durch Wahl der Domkapitel, vorbehaltlich der Bestätigung (Institution) durch den Heiligen Stuhl. Der Heilige Stuhl wird sich vor dieser Bestätigung davon überzeugen, ob bei der bayerischen Staatsregierung gegen den Gewählten keine Bedenken bestehen.“201
Dies war dieselbe Formel, die Matt dem Nuntius am 30. März des Jahres vorgelegt hatte, das gerade skizzierte Gespräch war also reine Makulatur und nur eine Momentaufnahme gewesen. Das staatliche Verhandlungsgremium stellte dem römischen Entwurf zum Verhandlungsauftakt nun seinerseits die Maximalforderung entgegen: das Bischofswahlrecht der Domkapitel und eine politische Klausel, die allgemeine Bedenken gegen den römischen Designierten implizierte, das heißt nicht etwa auf „politische“ Einwände eingeschränkt sein sollte. Für Pacelli, dem diese Gegenüberstellung am 28. Dezember zuging, wurde vor allem die erneute Wahlforderung zum Problem.202 Er suchte ein Zugeständnis, das er anbieten konnte, um die Wahlforderung abzuwenden. Da kam ihm eine neue Petition der bayerischen Domkapitel recht, welche der Münchener Domdekan Hartl vier Wochen zuvor verfasst hatte.203 Hartl bat den Papst darin im Namen der Domkapitel nicht erneut um das Bischofswahlrecht, sondern darum, an der Kanonikereinsetzung beteiligt zu werden. Nicht zuletzt weil sich auch Matt für dieses Recht stark gemacht hatte, kommentierte Pacelli in seiner Berichterstattung diese Bitte wohlwollend.204 Er empfahl dem Kardinalstaatssekretär, der Supplik nachzugeben, um die Erfolgschancen der
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Zu den Teilnehmern gehörten nach Pacellis Angaben der neue, erst wenige Wochen zuvor gewählte Ministerpräsident und Außenminister Eugen Ritter von Knilling, Kultusminister Franz Matt, Finanzminister Wilhelm Krausneck, die BVP-Abgeordneten Heinrich Held, Karl Friedrich Speck und Georg Wohlmuth, schließlich der Ministerialrat im Außenministerium, Hans Schmelzle, der Ministerialbeamte Paul Freiherr von Stengel sowie der Vatikangesandte Otto Freiherr Ritter zu Groenesteyn. Bayerischer Gegenentwurf zum römischen Konkordatstext vom Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 252r–262v, hier 262r. Vgl. Matt an Pacelli vom 28. Dezember 1922, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 442r. Die im Nachgang zur Unterredung zwischen Pacelli und Matt im Oktober von kurialer Seite geänderte Fassung des Artikels 14 § 1, die Pacelli dem Kultusminister im November präsentiert hatte, war von dem staatlichen Beratungsgremium noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Der bayerische Gegenentwurf bot noch den originalen Text des römischen Entwurfs vom 27. September. Vgl. Hartl an Pius XI. vom 30. November 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 246r–247v. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 8. Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 248rv. 60
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Konkordatsverhandlungen zu erhöhen. Außerdem könne die Erlaubnis, alternierend mit den Bischöfen die Domherren zu bestimmen, die Kapitel dafür entschädigen, nicht den eigenen Bischof wählen zu dürfen. Dem Nuntius schwebte also nichts anderes als eine Kompensation vor: „Außerdem, obwohl der Heilige Stuhl soweit ich weiß noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Domkapitel von Preußen und den anderen Ländern Deutschlands das sehr wichtige Bischofswahlrecht bewahren werden, während hingegen ein so außerordentliches Privileg den bayerischen Domkapiteln nicht genehmigt zu werden scheint; es könnte daher gerecht erscheinen, dass diese eine Entschädigung haben.“205
Pacelli leitete den staatlichen Konkordatsgegenentwurf noch am gleichen Tag, an dem er ihn erhalten hatte, an das römische Staatssekretariat weiter.206 Da der Nuntius bereits auf dem Sprung in die Reichshauptstadt war, um seinen diplomatischen Pflichten zum Jahreswechsel nachzukommen, habe er – wie er Gasparri mitteilte – nur einen flüchtigen Blick auf das staatliche Skriptum werfen können. Doch dieser genügte ihm zu der Erkenntnis, dass es zwar in einigen Punkten Veränderungen der staatlichen Position im Vergleich zu früher gegeben habe, aber andererseits „alle alten Forderungen der bayerischen Regierung … über die Nationalität und die Studien der Geistlichen,207 über die Bischofswahl der Domkapitel und die Verpflichtung des Heiligen Stuhls, sich vor der Bestätigung zu vergewissern, ob keine Einwände von Seiten der Regierung gegen den Gewählten bestehen“208, überdauert hätten. In dem Bewusstsein, dass noch sehr großer Gesprächsbedarf bestand, regte Matt mündliche Verhandlungen an und lud Pacelli deshalb ein, an 205
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„Inoltre, sebbene la S. Sede non abbia ancora preso, a quanto io sappia, una decisione definitiva, pare tuttavia probabile che i Capitoli cattedrali della Prussia e di altri Paesi della Germania conserveranno lʼimportantissimo diritto di elezione del Vescovo, mentre che invece un così insigne privilegio non sembra verrà concesso ai Capitoli della Baviera; potrebbe quindi apparire equo che questi abbiano un qualche compenso.“ Pacelli an Gasparri vom 8. Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 248v. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 28. Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 250r–251v. Während der römische Konkordatsentwurf in Artikel 13 § 1 nur die deutsche respektive bayerische Nationalität als Bedingung für die Amtsübernahme eines Geistlichen vorschrieb, hielt der bayerische Gegenentwurf darüber hinaus auch an den Kriterien eins Abiturs an einem deutschen Gymnasium und eines dreijährigen theologischen Studiums an einer deutschen Universität, einem staatlichen Lyzeum oder den römischen Ausbildungsstätten fest. Vgl. bayerischer Gegenentwurf zum römischen Konkordatstext vom Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 261r. „… tutte le antiche domande del Governo bavarese … sulla nazionalità e gli studi degli ecclesiastici, sulla elezione capitolare dei Vescovi e lʼobbligo della S. Sede di accertarsi prima della conferma se nulla osti da parte del Governo contro lʼeletto …“ Pacelli an Gasparri vom 28. Dezember 1922, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. II, Fol. 251r. 61
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der Ministerkonferenz teilzunehmen. Für diese erbat sich Pacelli von Gasparri neue Instruktionen angesichts der neuen – „alten“ – bayerischen Konkordatsforderungen.
Der Auftakt der mündlichen Konkordatsverhandlungen 1923 und die fruchtlose Kontroverse um die Bischofswahl Ohne dass Pacelli die erbetenen Verhandlungsinstruktionen aus Rom schon erhalten hätte, begannen im Januar 1923 die Gespräche zwischen dem Nuntius und den Vertretern der bayerischen Regierung im Außenministerium, worüber Pacelli ausführlich Bericht erstattete.209 Damit traten die Konkordatsverhandlungen in die entscheidende Phase ein. Beim ersten Treffen am 9. Januar lag dem Nuntius der Vorwurf Matts von Ende Oktober noch im Ohr: Der römische Konkordatsentwurf verteile die Lasten beim Staat und die Rechte bei der Kirche oder – wie laut Pacellis Bericht Lerchenfelds Nachfolger als Ministerpräsident, Eugen Knilling, sagte – der Entwurf habe sich „aus dem alten Konkordate die Rosinen herausgenommen, ohne dem Staat etwas zurückzugeben“210. Für diese Anschuldigung hätten sich die Minister auf den IX. Artikel des alten Konkordats berufen, „wo das Privileg der Ernennung der erzbischöflichen und bischöflichen Stühle ausdrücklich [dem König, R.H.] gewährt wurde ‚unter Rücksicht auf den Nutzen, der aus der gegenwärtigen Übereinkunft für die Angelegenheiten der Kirche und der Religion entsteht‘, nämlich (fügte man hinzu) als Belohnung für die wirtschaftlichen Leistungen des Staates.“211
Wenn der Staat für letztere weiterhin aufkomme – so die Folgerung der bayerischen Unterhändler –, dann habe er nach wie vor das Recht auf solcherart „Belohnungen“. Um dieses Denken sofort zu unterbinden, habe er es – so Pacelli – für notwendig gehalten, das Verhandlungsgespräch mit einigen korrigierenden Hinweisen zu beginnen. Zu diesen gehörte die Bemerkung, dass die vom Heiligen Stuhl dem bayerischen König im alten Konkordat gewährten Rechte eine Kompensation keineswegs für die finanziellen Leistungen darstellen würden, sondern vielmehr für die in Artikel XVI vereinbarte Derogation der alten Gesetze
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 4r–48v. „… aus dem alten Konkordate die Rosinen herausgenommen, senza concedere quasi nulla allo Stato.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 4v. „… ove lʼindulto di nomina alle Sedi arcivescovili e vescovili veniva espressamente concesso ‚attenta utilitate, quae ex hac Conventione manet in ea, quae ad res Ecclesiae et religionis pertinent‘, vale a dire (si aggiungeva) come corrispettivo alle prestazioni economiche dello Stato.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 4v. 62
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des Staatskirchentums.212 Damit versuchte Pacelli den von seinen Verhandlungspartnern vertretenen Konnex von Staatsleistungen und Einflussrechten des Staates auf die Ämter- und insbesondere Bistumsbesetzung aufzubrechen. Wie er Gasparri berichtete, habe er außerdem auf dem Gedanken insistiert, dass es an der neuen politischen Situation liege, wenn das königliche Nominationsrecht jetzt wegfalle. Auch nach Ansicht vieler Juristen und sogar Staatsmännern sei dieses ein genuines Recht des Königs gewesen, das mit der Änderung der Regierungsform ipso facto ende.213 Die Vorbemerkungen erbrachten aber nicht den erhofften Erfolg, wie Pacelli sichtlich genervt in seinem Bericht referierte. Gerade der – wie Pacelli bemerkte „junge“ – Finanzminister, Wilhelm Krausneck, habe bekräftigt, dass im römischen Entwurf abgesehen vom Bedenkenrecht bei der Bischofsnomination keinerlei Zugeständnisse gemacht worden seien. Dem habe Knilling direkt hinzugefügt, dass es sich außerdem nur um politische Bedenken handle. Die Grundsatzdiskussion führte Pacelli schließlich zu weit. Er hielt sie für unnütz, weil kein theoretischer Konsens in Sicht schien. Vielmehr sah er enttäuscht bei seinen Opponenten die liberalistischen Prinzipien des früheren josephinistischen Staatskirchentums am Werk: „So war der Beginn dieser Konferenzen wahrlich nicht gänzlich erbaulich, wenn man bedenkt, dass die fraglichen Minister katholisch sind und zur bayerischen Volkspartei gehören. Aber es zeigt, wieweit die alten liberalen und josephinistischen Ideen über die Beziehun-
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Pacelli stützte sich dabei auf eine Studie des Münchener Rechtsprofessors Hermann von Sicherer, der die oben zitierte Klausel über den Nutzen des Konkordats für die Kirche in Artikel IX ausdrücklich mit der Abschaffung der früheren Gesetzgebung in Verbindung brachte. Vgl. Sicherer, Staat, S. 136. Vgl. auch Art. XVI des bayerischen Konkordats von 1817, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 177. Pacelli konnte Ministerpräsident Knilling an dessen eigene Zustimmung zu dieser Auffassung erinnern, die dieser in einem Artikel der „Allgemeinen Rundschau“ vom 6. März 1920 geäußert hatte. Der Nuntius übersetzte den entsprechenden Auszug für Gasparri: „Sarebbe da considerarsi se il Governo dello Stato libero bavarese, anche se non vi si opponesse la Costituzione del Reich, potrebbe pretendere agli ampi diritti concessi nel Concordato al Re di Baviera relativamente alla provvista degli offici ecclesiastici. Ciò dovrebbe in ogni caso negarsi per ciò che concerne il diritto di nomina alle Sedi arcivescovili e vescovili, essendo esso stato espressamente accordato come indulto al Re di Baviera ed ai suoi successori cattolici. Ma potrebbe pure ben affermarsi che anche i diritti fissati negli articoli X e XI del Concordato circa la provvista dei Canonicati, delle parrocchie e degli altri benefi ci erano riservati alla Persona del Re pro tempore ed in nessun modo sono trasmissibili ai nuovi reggitori della Baviera. Lo Stato libero bavarese non può in alcuna guisa stendere la mano a diritti strettamente personali (höchstpersönliche Rechte), la cui concessione alla Casa reale di Baviera non ebbe certamente come ultimo motivo il secolare e provato attaccamento della stirpe principesca dei Wittelsbach verso la Chiesa cattolica. Sarebbe un assurdo giuridico il voler far derivare a favore dellʼattuale Governo dello Stato libero di Baviera una successione legale di fronte al Re spodestato.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 6r-v. Hervorhebung R.H. 63
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gen von Staat und Kirche und die Einflussnahmen der bürgerlichen Gewalt auf die Kirche (Staatskirchentum) noch in den Staatsmännern und in der Bürokratie verwurzelt sind.“214
Daher habe er – wie der Nuntius seinem Vorgesetzten den Verhandlungsgang beschrieb – vorgeschlagen, sich lieber konkret mit den einzelnen Konkordatsartikeln auseinanderzusetzen, als die erfolglosen Versuche fortzusetzen, unüberbrückbare Gegensätze zu überwinden. Zu diesem Zweck wurden für den 15., 17. und 22. Januar weitere Treffen anberaumt. Ebenso umstritten wie die übrigen Themen, insbesondere auch die Frage nach den Voraussetzungen zur Übernahme eines geistlichen Amtes (Artikel 13),215 blieb also die nach dem Besetzungsmodus der bischöflichen Stühle (Artikel 14). Pacelli berichtete Gasparri, dass dieser Paragraph „mit höchster Energie verteidigt wurde“216, insbesondere vom Abgeordneten Georg Wohlmuth,217 der als Domkapitu214
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„Tale fu lʼinizio di queste Conferenze, in verità non del tutto edificante, se si pensi che i Ministri in questione sono cattolici ed appartenenti al partito popolare bavarese, ma che dimostra quanto radicate siano qui ancora negli uomini di Stato e nella burocrazia le vecchie idee liberali e giuseppiniste circa i rapporti fra Stato e Chiesa e le ingerenze della potestà civile sulla ecclesiastica (Staatskirchentum).“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 9r. Hervorhebung im Original. Der staatliche Forderungskatalog umfasste nach wie vor die Prämissen der bayerischen beziehungsweise deutschen Staatsbürgerschaft, das Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums sowie den Abschluss eines dreijährigen philosophisch-theologischen Studiums an einer deutschen oder römisch-päpstlichen Hochschule. Wie Pacelli berichtete, habe er sich in der Diskussion gegen diese Eingrenzungen verwahrt. Mit Rekurs auf Gasparris Weisung vom 1. Juni 1922 erklärte er den Staatsvertretern, dass die Kirche stets größte Sorgfalt bei der intellektuellen und moralischen Ausbildung des Klerus walten lasse, sodass diejenigen, die schließlich in die entsprechenden Ämter eingesetzt würden, auch dafür geeignet seien. Die Minister könnten sich selbst überzeugen, welche Anforderungen das kirchliche Gesetzbuch und die Dekrete der Studienkongregation an die Ausbildung der Geistlichen stelle. Beispielsweise sei die kirchlich vorgeschriebene Studiendauer doppelt so hoch wie die bayerische Regierung in ihrem Gegenentwurf verlange – nämlich sechs Jahre (philosophisches Biennium und theologisches Quadriennium) gemäß Can. 1365 CIC 1917. Das eigentliche Problem lag für Pacelli daher nicht an zu hohen materialen Anforderungen, sondern an ihrer formalen Festsetzung im Konkordat: „Ma la S. Sede medesima giudica che tale materia non riguarda lo Stato, sebbene unicamente le competenti Autorità ecclesiastiche, cui spetta di assicurare e tutelare il prestigio del Clero.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 28v. Ein weiteres Argument des Nuntius bestand darin, dass dieserart Verpflichtungen nicht einmal im Konkordat von 1817 existiert hatten, in dem lediglich auf die Vorschriften des CIC verwiesen war: „Così, ad esempio, allʼarticolo IX si stabilisce che per le vacanti Sedi arcivescovili e vescovili del Regno di Baviera la nomina debba cadere sopra ‚dignos et idoneos ecclesiasticos viros, iis dotibus praeditos, quas sacri canones requirunt‘.“ Ebd., Fol. 28v. Im neuen Konkordat aber der Kirche die genannten weiteren Beschränkungen aufzuerlegen, obwohl die Reichsverfassung klar die Autonomie ihrer Angelegenheiten verbürgte, war für Pacelli nicht einzusehen. Vgl. ausführlich zur Diskussion über Artikel 13 ebd., Fol. 27r–30v. „… fu difeso colla massima energia …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 30v. Bei den der Eingangskonferenz sich anschließenden Sitzungen nahmen neben den drei Ministern die BVP-Abgeordneten Karl Speck, Heinrich Held und Georg Wohlmuth teil. 64
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lar natürlich höchstes persönliches Interesse an der Sache hatte. Pacelli machte zwei tatsächliche Gründe aus, warum die Regierung und einige Geistliche so eifrig an der Wahl der Bischöfe durch die Domkapitel festhielten: „1.) einen von innerer Ordnung, insoweit sie fürchten, dass der Heilige Stuhl zur Ernennung der Bischöfe schreitet, ohne gut informiert zu sein oder unredlichen Einflüssen von Fürsten, Religiosen etc. nachgibt oder aber jene Geistlichen bevorzugt, die ihre Studien in Rom, vor allem im Collegium Germanicum, absolviert haben; und 2.) einen von äußerer Ordnung, um leichter die Zustimmung des Konkordatsprojekts im Landtag zu erreichen. Man fügt außerdem hinzu, dass verschiedene Mitglieder der Kapitel starken Druck auf die Minister und ihre Abgeordneten ausgeübt haben, um durch sie ein so außerordentliches Privileg zu erlangen.“218
In der Diskussion über die Bischofseinsetzungen habe schließlich der Kultusminister das Wort ergriffen und eine historische Begründung für die „Wiedereinführung“ des Wahlrechts gesucht. Denn – und dieses Argument hatte Pacelli schon öfter gehört – bereits vor dem Vertrag von 1817 sei die Kapitelswahl als ius commune in Bayern Praxis gewesen. Und so sei es nur natürlich, dass man nach dem Fall des königlichen Ernennungsrechts wieder zu ihr zurückkehren wolle. Matt habe – so Pacelli – weiterhin erklärt, dass dieser Modus am ehesten garantiere, dass die geeignetste Persönlichkeit für das Amt ausgewählt werde. Den Interessen des Heiligen Stuhls werde durch das Bestätigungsrecht genügend entsprochen. Über diese historische Argumentation hatte Pacelli schon knapp ein Jahr zuvor gesagt, sie sei ein „offenkundiger historischer und rechtlicher Irrtum, der nicht der Widerlegung bedarf “. Im Angesicht seiner Verhandlungspartner widerlegte er das Argument nun doch und dozierte, dass die Kapitelswahl zwar im 12. und 13. Jahrhundert das ius commune gebildet habe, aber seit dem 14. Jahrhundert die Päpste begonnen hätten, sich die Besetzung der bischöflichen Stühle zu reservieren.219 Deshalb sei zu der Zeit, als das Konkordat geschlossen worden sei, das Wahl-
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„1.) uno di ordine interno, in quanto temono che la Santa Sede proceda alla nomina dei Vescovi senza essere bene informata, o cedendo a non rette influenze di Principi, di religiosi, ecc., o preferendo gli ecclesiastici che hanno fatto i loro studi in Roma, massime al Collegio Germanico; e 2.) uno di ordine esterno, per rendere più agevole lʼapprovazione del progetto di Concordato nel Landtag. Si aggiunga altresì che vari membri dei Capitoli hanno fatto forti pressioni sui Ministri e sui deputati affine di ottenere per loro mezzo un così insigne privilegio.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 30v–31r. Für Ersteres verwies Pacelli auf die Dekretalensammlungen der Päpste Gregor IX. und Bonifaz VIII. Durch die päpstlichen Reservationen im 14. Jahrhundert habe sich dann auch das Dekretalenrecht hinsichtlich der Ernennung der Bischöfe durch den Papst geändert und zwar sanktioniert durch die Zweite Kanzleiregel. Diese reservierte dem Papst unter anderem die Besetzung von Bistümern und Männerklöstern. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Kanzleiregeln Hommens, Kanzleiregeln; Jackowski, Kanzleiregeln, hier bes. S. 205–213 sowie die Edition von Ottenthal (Hg.), Regulae. Vgl. insgesamt zu den päpstlichen Reservationen im Hochmittelalter Ganzer, Papsttum, hier S. 95–136, 367–415. 65
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recht der Domkapitel eben nicht allgemeines Recht gewesen, sondern lediglich ein Partikularrecht, das lediglich für einige Gebiete – nämlich vor allem das Reichsgebiet – gegolten habe. Der bayerische Staat hingegen – so schilderte Pacelli dem Kardinalstaatssekretär seine Erläuterungen weiter – habe das freie Wahlrecht der Domkapitel, das ihm von der Kurie im Kontext der Konkordatsverhandlungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts angeboten worden sei, nicht annehmen wollen.220 Damals sei also das königliche Nominationsrecht – insbesondere zur Ausschaltung des kurialen Einflusses221 – wichtiger als die Beteiligung der Domkapitel gewesen. Wenn jenes aber nun durch das Ende der Monarchie hinfällig werde, sei es doch selbstverständlich, dass das ius commune, also der Can. 329 § 2 des CIC, in Kraft trete. Nach dieser geschichtlichen Lehrstunde versuchte Pacelli, den Staatsvertretern ihre Sorge vor der Bischofsernennung durch den Papst zu nehmen: „Danach versicherte ich den Herren Ministern, dass der Heilige Stuhl auf die Wahl der Bischöfe die peinlichste Sorge und Unvoreingenommenheit legt, alle möglichen Informationen einholt und sich in keiner Weise von unrechtmäßigen Einflüssen leiten lässt; ich bemerkte, dass das System der Ernennung direkt von Seiten des Papstes im größten Teil der Nationen mit voller und allgemeiner Zufriedenheit gilt und sich nur in Deutschland Hindernissen ausgesetzt sieht …“222
Außerdem – so der Nuntius weiter – seien der Klerus und auch die Domkapitulare weit davon entfernt, einmütig das Bischofswahlrecht zu befürworten. Einige würden dieses sogar ausdrücklich ablehnen, wobei Pacelli sicherlich an den Episkopat und die Kanoniker Kiefl und Scheglmann
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Pacelli rekurrierte hier auf den Artikel 9 des römischen Konkordatsentwurfs, den der in München residierende Nuntius Annibale della Genga – der spätere Papst Leo XII. – am 8. August 1806 dem bayerischen Bevollmächtigten Aloys Freiherr von Rechberg vorlegte. Vgl. Sicherer, Staat, Urk. Nr. 9, S. 25–30, hier 27. Anschließend ergänzte Pacelli nach eigenen Angaben, dass ein späterer römischer Konkordatsentwurf von 1816 den jeweiligen bayerischen Domkapiteln immerhin noch konzediert habe, bei Eintritt der Sedisvakanz, „quatuor habiles et dignos ecclesiasticos viros, partim de gremio capituli, partim ex reliquo clero sive saeculari sive regulari“ zu bezeichnen, aus denen der König denjenigen auswählen sollte, der den bischöflichen Stuhl besteigen durfte. Vgl. ebd., Urk. Nr. 17, S. 54–62, hier 59. Das freie Kronrecht der Nomination der Bischöfe sei damals verlangt worden – wie Pacelli dem Kardinalstaatssekretär durch Rückgriff auf eine Aussage des damaligen bayerischen Finanzministers, Maximilian Graf von Lerchenfeld, verdeutlichte –, „da nur hiedurch der Einfluss der römischen Curie bei der Besetzung erledigter Episcopate vermieden und so sehr als möglich ein gutes Einverständniss der Bischöfe mit den Landesstellen verbürgt werden kann“. Sicherer, Staat, S. 238. „Dopo di ciò, assicurai i Signori Ministri che la S. Sede pone nella scelta dei Vescovi la più scrupolosa cura ed imparzialità, prende tutte le possibili informazioni, né si lascia in alcun modo guidare da indebite influenze; notai che il sistema della nomina diretta da parte del Sommo Pontefice vige nella massima parte delle Nazioni con piena e comune soddisfazione, né si vede perchè soltanto in Germania essa incontri ostacoli …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 32r. 66
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
dachte. Hatten die staatlichen Verhandlungspartner behauptet, dem Heiligen Stuhl würde durch das Recht der Bestätigung des vom Domkapitel gewählten Kandidaten genügend Mitsprache zugestanden, so drehte Pacelli den Spieß jetzt um und erklärte, dem Staat sei eine hinreichende Beteiligung garantiert, wenn er von römischer Seite vor der Einsetzung eines neuen Bischofs im Rahmen eines politischen Bedenkenrechts konsultiert werde: „… die Methode der Wahl desselben jedoch ist eine innerkirchliche Angelegenheit, die den Staat nichts angeht.“223 Mit seinen Ausführungen konnte Pacelli die Verhandlungspartner jedoch nicht überzeugen. Sie hielten an ihren Forderungen fest und gaben laut Pacellis Bericht zwei Gründe dafür an: Zum einen bleibe die Notwendigkeit bestehen, dem Landtag eine Kompensation für den Wegfall des königlichen Nominationsrechts zu bieten, um dessen Zustimmung zum Konkordatsprojekt zu erlangen. Zum anderen sei es „unerträglich“, wenn – wozu der Heilige Stuhl „angeblich bereit sei“224 – dem protestantischen Preußen das Wahlprivileg zugestanden, dem katholischen Bayern selbiges jedoch verwehrt würde. So endete die Diskussion letztlich mit demselben Antagonismus in der Besetzungsfrage, mit dem sie begonnen hatte.225
Pacelli empfiehlt erneut Zugeständnisse Im Anschluss an die mündliche Verhandlungsreihe wurde von staatlicher Seite noch einmal ein neuer Konkordatsgegenentwurf angefertigt, der aber in dem hier fraglichen Artikel 14 § 1 keinerlei Veränderungen enthielt.226 Das Heft des Handelns lag nun wieder auf Seiten der Kurie. Um vom Heiligen Stuhl Zugeständnisse zu erreichen, griff Heinrich Held, Fraktionsvorsitzender der BVP im bayerischen Landtag und Mitglied des staatlichen Verhandlungsgremiums, ein wichtiges 223
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„… essendo invece il metodo della scelta del medesimo un affare ecclesiastico interno, che non riguarda lo Stato.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 32r-v. Vgl.: „… che riuscirebbe insopportabile, se la S. Sede, la quale dicesi sia disposta a mantenere nella Prussia protestante il privilegio in discorso, lo neghi invece alla cattolica Baviera.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 32v. Pacelli legte der Konferenz dennoch abschließend die letzte Version des ersten Paragraphen des 14. Artikels vor, die Gasparri ihm im November des Vorjahres zugesandt hatte und die von Regierungsseite noch nicht zur Kenntnis genommen worden war. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 202. Sie traf logischerweise auf die alten Einwände hinsichtlich der Formulierungen „vor der Publikation der Bulle“ und „Bedenken politischer Ordnung“. Dasselbe galt für den Artikel 13 § 1 über die Vorbildung des Klerus. Vgl. bayerischer Gegenentwurf zum römischen Konkordatstext vom Januar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 50r–61r. Eine weitere Version des staatlichen Entwurfs vom März brachte noch einmal dieselbe Textfassung. Vgl. bayerischer Gegenentwurf zum römischen Konkordatstext vom Januar 1923 mit Korrekturen vom 2. März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 212r–223r. 67
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Argument der staatlichen Verhandlungsbasis wieder auf und führte dem Nuntius die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Parlaments vor Augen. In einem ausführlichen Brief vom 30. Januar 1923 rechnete er vor, wie man auf die nötigen 80 Stimmen der einfachen Mehrheit für die Annahme des Konkordats kommen könne.227 Dafür bedürfe es unbedingt weitgehender Konzessionen, um die notwendigen Stimmen der Bayerischen Mittelpartei (BMP), des bayerischen Ablegers der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), zu gewinnen: „Die Bayerische Mittelpartei wird meines Erachtens aber nur dann gewonnen werden, wenn in dem Konkordat auch Bestimmungen enthalten sind, die als Gegenleistungen der Kirche an den Staat für die neu festgesetzten Leistungen des Staates bedeutungsvoll ins Auge springen. Als solche kommen meines Erachtens in Frage: Die Bestimmungen über die Staatsangehörigkeit und Vorbildung der katholischen Geistlichen und der Obern der in Bayern ansässigen Orden und religiösen Genossenschaften, ferner die Mitwirkung der Domkapitel bei der Wahl der Bischöfe und Domkapitulare mit wesentlichen Rechten und nicht zuletzt eine gewisse Ingerenz des Staates bei der Besetzung der Seelsorgestellen.“228
Dabei dachte Held freilich nicht an irgendwelche Kompromisse, sondern bat Pacelli vielmehr – „wie ich das auch mündlich schon so oft getan“229 –, die Bestimmungen zu diesen Themen genau so zu akzeptieren, wie sie der bayerische Gegenentwurf vorsah. Die Frage, ob und wie der Staatskirchenvertrag die politische Hürde im Landtag nehmen konnte, entwickelte sich zunehmend zum zentralen Druckmittel der Regierung, zumal auch Pacelli anerkannte, dass die entsprechende Darlegung Helds „ernste Erwägung verdient“230, wie er an Gasparri schrieb. Was würde nämlich passieren, wenn das Konkordatsprojekt scheitern sollte? Der alte Vertrag könne unmöglich einfach fortgelten.231 Stattdessen wäre der Heilige Stuhl gezwungen, viele der früher dem Staat gewährten Privilegien zu widerrufen, was wahrscheinlich dazu führen
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Vgl. Held an Pacelli vom 30. Januar 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 180r–186r (nur r). Held an Pacelli vom 30. Januar 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 184r. Hervorhebung im Original. Held an Pacelli vom 30. Januar 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 185r. „… merita … seria considerazione.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 43v. Ein weiteres Treffen mit Knilling und Krausneck bestärkte Pacelli in dieser Ansicht: „È mio dovere altresì di aggiungere avermi il Sig. Ministro Presidente ed il Sig. Ministro delle Finanze, coi quali ho avuto nuovamente occasione di intrattenermi, dichiarato che la loro opposizione durante le anzidette conferenze era ispirata non da sentimenti ostili verso la Chiesa, ma principalmente dalle preoccupazioni che ispira la composizione del Landtag.“ Ebd., Fol. 43v. Pacelli bekräftigte noch einmal seinen früheren Gedanken, warum ein Übergang des könglichen Ernennungsrechts auf die neue republikanische Regierung unmöglich sei: „Non apparisce invero probabile che la Santa Sede consenta ad estendere al Governo repubblicano, a capo del quale possono trovarsi e si sono di fatto già trovati uomini non solo acattolici, ma anche positivamente ostili alla Chiesa, come lʼHoffmann, lʼinsigne privilegio di nomina alle Sedi arcivescovili e vescovili, concesso in altri tempi e dopo lunghi negoziati ‚Majestati Regis Maximiliani Josephi eiusque Successoribus catholicis‘ (art. IX).“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 44v–45r. 68
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würde, dass der Staat das Konkordat als aufgelöst betrachte. Rhetorisch fragte Pacelli den Kardinalstaatssekretär, was das für die Kirche in Bayern bedeute. Natürlich sei der Heilige Stuhl dann in der Lage, seine Freiheit in der Ämterbesetzung einzufordern. Doch könne dieser der Regierung, „aus Höflichkeit“232, trotzdem nicht verweigern, ein politisches Bedenkenrecht innerhalb des Prozesses der Bischofseinsetzung auszuüben. Pacelli erinnerte Gasparri daran, dass zwar das Ziel der WRV eine – wenn auch nicht totale – Trennung von Kirche und Staat gewesen sei, sodass sie einerseits die künftige Kooperation beider Gewalten in der kirchlichen Ämterbesetzung ausschließe und andererseits die finanziellen Verpflichtungen des Staates gegenüber der Kirche bis zur Ablösung aufrecht erhalte. Doch wie die kürzlichen Diskussionen gezeigt hätten, werde diese Auffassung von den bayerischen Ministern nicht geteilt. Diese verlangten stattdessen konkrete Gegenleistungen für die finanziellen Zuwendungen. Natürlich könne sich die Kirche – theoretisierte Pacelli weiter – auf die Verpflichtungen aus der Säkularisation berufen, infolgedessen die aktuelle bayerische Regierung gewiss die Zahlungen an die Kirche fortsetzen würde, selbst wenn die Kirche alle Rechte einfordere. Aber diese Zahlungen wären dann „freie Leistungen und losgelöst von einem rechtlichen Fundament“233, sodass sie von einer künftigen, eventuell der Kirche nicht wohlgesonnenen Regierung, leicht verringert oder gar eingestellt werden könnten. Dadurch aber wäre die Lage der Kirche „äußerst prekär und ungewiss“234. Mit diesen Überlegungen verfolgte Pacelli offensichtlich den Zweck, dem Kardinalstaatssekretär die Bedeutung und Wichtigkeit ad oculos zu führen, die Verhandlungen erfolgreich abzuschließen. Dieses Ziel baute der Nuntius weiter aus, indem er resümierte, dass der bayerische Konkordatsentwurf insgesamt betrachtet doch gar nicht so schlecht sei. Im Gegenteil sei zu konstatieren, „dass er, da er in vielen Punkten wenigstens substantiell die entsprechenden Artikel der Vorschläge des Heiligen Stuhls unberührt lässt, diesbezüglich für die Kirche so wohlwollende Bestimmungen enthält, welche schwerlich, in den modernen Zeiten, besser konzipiert werden könnten“235. Aus dieser Kombination von strikter Notwendigkeit des Konkordats einerseits und den bereits vorhandenen Errungenschaften – nur eben nicht in der Frage der Besetzung der bi-
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„… a titolo di cortesia …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918– 1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 45v. „… prestazioni liberi e prive di fondamento giuridico …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 46r. „… oltremodo precaria ed incerta.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 46r. „… che esso, avendo in molti punti lasciato almeno sostanzialmente intatti i corrispondenti articoli delle proposte della Santa Sede, contiene al riguardo disposizioni così favorevoli alla Chiesa, quali difficilmente, nei tempi moderni, potrebbero concepirsi migliori.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 46r-v. Konkret dachte Pacelli dabei an die Bestimmungen zu Schule, staatliche finanzielle Leistungen, Seminare und theologische Fakultäten sowie Orden. 69
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schöflichen Stühle – im bayerischen Vertragsentwurf andererseits leitete Pacelli für den Heiligen Stuhl die Möglichkeit ab, dem Staat Konzessionen zu machen und zwar „bis an die äußersten Grenzen, die mit Seiner Würde und mit den Interessen der Kirche vereinbar“236 seien. Nicht unbedingt wegen der finanziellen Leistungen, für die keine Gegenleistungen gefordert werden dürften, aber wegen der parlamentarischen Situation und der öffentlichen Meinung sei es absolut erforderlich, dass die Regierung handfeste Verhandlungserfolge vorweisen könne, die äquivalent seien zu denen, welche der Staat der Kirche in der neuen Vereinbarung zugestehe und zu den staatlichen Privilegien des alten Konkordats, die nunmehr entfielen. Pacelli machte seinem Vorgesetzten hier mehr als deutlich, dass das Konkordat nicht geschlossen werden konnte, wenn es auf Seiten des Staates ein reiner „Verlustvertrag“ war, der lediglich frühere Rechte preisgab. Ein – wenn nicht gar der – Bereich, in dem Zugeständnisse für Pacelli unumgänglich schienen, war die Frage der Bischofsbestellung: „… der Punkt, der mir die größte Schwierigkeit darzustellen scheint, ist jener hinsichtlich der Kapitelswahl der Bischöfe. Es ist tatsächlich zu befürchten, dass ein solches Prozedere Hirten hervorbringen würde, die gemäß den heiligen Canones ohne Zweifel für sich würdig und geeignet sind und denen der Heilige Stuhl daher die Bestätigung nicht verweigern könnte, die aber im Allgemeinen nur mittelmäßig sind, während hingegen die meisten derjenigen ausgeschlossen blieben, die ihre philosophischen und theologischen Studien in Rom absolviert haben, besonders am Collegium Germanicum, und die daher, weniger fanatisch hinsichtlich der hier gebräuchlichen [theologischen, R.H.] Methoden (auch ohne ihre Verdienste zu verkennen), besser in der Lage wären, die nötigen Reformen in die Hand zu nehmen. Wenn jedoch – ich muss es glauben, insoweit es mir Herr Held gesagt hat, auch wenn er ein energischer Verteidiger der Kapitelswahl ist – die Regierung in letzter Konsequenz sich auch damit zufrieden geben würde, wenn die Domkapitel eine Liste von mehreren Kandidaten präsentieren könnten, dann wäre es vielleicht angemessen hinzuzufügen – wie schon im Entwurf des Heiligen Stuhls für das alte Konkordat237 –, dass die Kandidaten ‚zum Teil aus dem Schoß des Kapitels, zum Teil aus dem übrigen Säkular- oder Regularklerus‘ entnommen sein müssen, oder eine ähnliche Wendung, damit die Kanoniker nicht fordern, dass der neue Bischof immer aus ihren Reihen gewählt wird.“238
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„… sino agli estremi limiti compatibili colla Sua dignità e coglʼinteressi della Chiesa.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 47r. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 220. „… il punto, che a me sembra presentare la maggiore difficoltà, è quello relativo alla elezione capitolare dei Vescovi. Vi è infatti da temere che un tale procedimento darebbe Pastori, senza dubbio per se degni ed idonei a norma dei sacri canoni ed ai quali quindi la Santa Sede non potrebbe negare la conferma, ma in generale mediocri, mentre invece rimarrebbero il più delle volte esclusi coloro, i quali hanno compiuto in Roma gli studi filosofici e teologici, specialmente al Collegio germanico, e che quindi, meno idolatri dei metodi qui in uso (pur senza disconoscerne i pregi), sarebbero meglio in grado di por mano alle necessarie riforme. Se, tuttavia, debbo credere a quanto mi ha detto il Sig. Held, che è pure energico difensore dellʼelezione anzidetta, il Governo in ultima analisi finirebbe col contentarsi anche se i Capitoli potessero presentare una lista di più candidati; nel qual caso sarebbe forse opportuno di aggiungere, 70
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Wenngleich die bischöflichen Kandidatenlisten noch fehlten, wies der Vorschlag bereits in die Richtung, die später im Konkordat fixiert werden sollte: In der so wichtigen Frage der Bistumsbesetzung konnte sich Pacelli sogar – weil ihm weitreichende Zugeständnisse unumgänglich schienen – ein den Papst offensichtlich bindendes Präsentationsrecht der Domkapitel vorstellen.239
Die staatliche nota explicativa und eine neue innerkuriale Debatte An dieser Stelle muss noch ein Dokument der bayerischen Regierungsvertreter in den Blick genommen werden, eine nota explicativa zu mehreren Konkordatsartikeln, unter anderem auch zum 14., welche der Kultusminister Anfang März 1923 in die Hände des Nuntius gelangen ließ.240 Die Note
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come già nel progetto della Santa Sede per lʼantico Concordato, che essi debbono essere presi ‚partim de gremio capituli, partim ex reliquo clero sive saeculari sive regulari‘, od altra simile frase, affinchè i Canonici non pretendano che il nuovo Vescovo sia sempre scelto fra di loro.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 47v–48r. Zwar geht die Listenbindung des Papstes aus Pacellis Beschreibung dieses Modus nicht ausdrücklich hervor. Allerdings schrieb er, dass die Domkapitel eine Liste präsentieren (presentare) könnten, was nach kirchenrechtlicher Terminologie einen rechtsverbindlichen Vorschlag meint. Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 283f. Zweitens war die angesprochene Kapitelsliste aus dem römischen Konkordatsentwurf von 1816 eine für den bayerischen König ebenfalls verbindliche Liste. Drittens wäre die Bestimmung, dass nur die Hälfte der Kapitelsliste aus Kanonikern bestehen durfte, letztlich überflüssig, wenn der Papst in seiner Bischofswahl ohnehin gänzlich frei sein sollte. Viertens schließlich implizierte die römische Version des Artikels 14 § 1, die auf Basis dieser Berichterstattung Pacellis entstehen sollte (vgl. das Folgende), gleichermaßen die verpflichtende Geltung der Vorschlagslisten für den Heiligen Stuhl. Zuletzt hatte noch der Freisinger Kirchenrechtler Anton Scharnagl ein Vorschlagsrecht der Domkapitel befürwortet. Anfang Januar fertigte er detaillierte Bemerkungen zum bayerischen Gegenentwurf an und ließ sie dem Nuntius zukommen. Seine Überlegungen zur Bestellung der Bischöfe basierten auf der durch die WRV der Kirche zugestandenen Freiheit der Ämterbesetzung. Auch wenn es sich beim Artikel 137 Absatz 3 nur um eine allgemeine Norm handle, könne doch keine konkordatäre Regelung verabschiedet werden, die dieser Norm nicht entspreche. Damit sah er das Recht in der kontroversen Frage der Bischofswahl bei der Kurie, sodass „allenfalls, wenn dazu Aussicht besteht, ein Vermittlungsvorschlag in der Richtung gemacht werden [könnte], dass das Domkapitel drei Namen vorschlägt, die Provinzbischöfe weitere drei vorschlagen können, der Papst aber die Möglichkeit haben soll, auch eine nicht vorgeschlagene Person zu ernennen“. Des Weiteren hielt er den Ausdruck „Bestätigung durch den Heiligen Stuhl“ in der staatlichen Formel für falsch, der durch den schon im alten Konkordat verwendeten Terminus „Einsetzung durch den Heiligen Stuhl“ ausgetauscht werden sollte. Hinsichtlich des staatlichen Bedenkenrechts propagierte Scharnagl klar die römische Formel „Bedenken politischer Art“ gegen die allgemeinere staatliche Fassung. Vgl. Anmerkungen Scharnagls zum Gegenentwurf der bayerischen Regierung vom 4. Januar 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 2, Fol. 448r–451v, hier 451r. Vgl. Matt an Pacelli vom 6. März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 4r und nota explicativa der bayerischen Regierung zu Artikel 14 vom März 1923, ebd., Fol. 207r–211v. Die Note diskutierte außerdem die Frage der Vorbildung des Klerus und argumentierte nachdrücklich dafür, dass eine „vertragsmäßige 71
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entfaltete ausführlich die staatlichen Argumente für das Bischofswahlrecht der Domkapitel und das allgemeine Bedenkenrecht der Regierung. Im Wesentlichen hatte sie Pacelli in seiner Berichterstattung bereits referiert: Nach dem Fall der Monarchie sei es folgerichtig, zum Besetzungsmodus vor 1817 zurückzukehren; die Bischofswahl entspreche den „Wünschen und Erwartungen“ des bayerischen Klerus und des katholischen Volkes, das sich „eine andere Regelung der Besetzung der bischöflichen Stühle gar nicht vorstellen“241 könne; die Domkapitel seien bestrebt, in ihrer Kandidatenwahl neben den kirchlichen Belangen auch die der Diözese und des Landes zu berücksichtigen; in anderen deutschen Teilstaaten sei der Wahlmodus in Kraft und werde dort ebenfalls als künftige Regelung angestrebt. Nach diesen bekannten Punkten baute die Note ein weiteres Druckmittel auf: Den staatlichen Verhandlungsführern schien klar, dass „die Staatsregierung gewisser Zugeständnisse seitens des Heiligen Stuhles schlechterdings nicht entbehren kann, wenn sie die wichtigen Ziele einer christlichen Schulpolitik im neuen Konkordate beim Landtag durchsetzen soll.“242 Im Hinterkopf waren noch die Angriffe, denen sich Matt hinsichtlich seiner christlichen Schulpolitik bei der Verhandlung des Haushaltes seines Ministeriums im Landtag ausgesetzt sah.243 Von dorther war der nun konstruierte Zusammenhang zu verstehen: eine weitreichende Übernahme der kurialen Forderungen zur katholischen Schule – genau das nämlich sah der staatliche Konkordatsentwurf vor244 – für im Gegenzug das Bischofswahlrecht der Domkapitel und das staatliche Erinnerungsrecht.245 Diese beiden Aspekte seien nur ein kleiner Preis für die kulturpolitischen Zugeständnisse Bayerns. Außerdem handle es sich bei den Domkapiteln nicht etwa um staatliche, sondern um kirchliche Organe, die für die Bischofsfindung verantwortlich wären. Bezüglich des politischen Bedenkenrechts insistierte das Papier auf einem allgemeinen, also nicht etwa genuin politischem Bedenkenrecht. Weil es um eine innerdeutsche Angelegenheit gehe, sei die Frage der Vereinbar-
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öffentliche Sicherung“ der Ausbildung der Geistlichen durch Gymnasium und Hochschulstudium beziehungsweise römischer Priesterausbildungsanstalt im genuin kirchlichen Sinne sei. Auch die bayerische oder zumindest deutsche Staatsbürgerschaft als Vorbedingung für die Übernahme eines geistlichen Amtes hielt das Dokument fest. Vgl. nota explicativa der bayerischen Regierung zu Artikel 13 vom März 1923 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 117r–119v, hier 118v. Nota explicativa der bayerischen Regierung zu Artikel 14 vom März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 207r und 207v. Nota explicativa der bayerischen Regierung zu Artikel 14 vom März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 207v. Vgl. zur Schulpolitik Matts Scharnagl, Schulpolitik, S. 20–30; Schmidt, Kultusminister. Vgl. dazu die Gegenüberstellung der Artikel 4 § 3 bis Artikel 8 des bayerischen Gegenentwurfs zum römischen Konkordatstext vom Januar 1923 mit Korrekturen vom 2. März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 213v–216r. Allerdings waren die Forderungen des Bischofswahlrechts und der Erinnerungsklausel nicht die einzigen, welche die Regierung für die Konzessionen in der Schulfrage verlangte. Sie erwartete außerdem ein Entgegenkommen bei der Besetzung der Kanonikate und die Aufrechterhaltung der bisherigen staatlichen Patronats- und Präsentationsrechte. 72
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keit einer solchen Forderung mit Artikel 137 WRV zwischen Bayern und dem Reich zu klären. Darüber, wann diese Klärung stattfinden sollte und wie ein Rechtsgegenstand im Konkordat verankert werden konnte, der gegebenenfalls im Widerspruch zur Reichsverfassung stand, schwieg sich die Note aus. Pacelli unterzog dieses Dokument, das er am 10. März an Gasparri übersandte, keiner eingehenden Kritik mehr.246 In seinen früheren Berichten glaubte er, das Wichtigste bereits dargelegt zu haben. Er widersprach lediglich noch einmal nachdrücklich der staatlichen Behauptung, die Bischofswahl durch die Kapitel habe einen weiten Rückhalt im bayerischen Klerus und Volk.247 Nachdem nun der neue bayerische Konkordatsentwurf plus nota explicativa und Pacellis ausführliche Darstellung der mündlichen Verhandlungen in der Kurie vorlagen, war diese am Zug, das Material zu verwerten. Zu diesem Zweck trat am 6. Mai 1923 die Congregatio particularis der AES zusammen. Wie üblich wurde vorher in der Behörde – höchstwahrscheinlich von Gasparri selbst – eine umfassende Relation auf Basis der genannten Dokumente erstellt.248 In ihr findet sich auch eine vertrauliche Mitteilung des bayerischen Vatikangesandten, die im Namen der Regierung das Bischofswahlrecht der bayerischen Domkapitel noch einmal als recht und billig einforderte.249 Sollte der Heilige Stuhl aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage sein, dieses Wahlrecht zu gewähren, dann müsste er zur Beruhigung des Parlaments erklären, dass es auch den anderen, insbesondere deutschen, Ländern in neuen Abkommen nicht zugestanden werde.
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 10. März 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 99r–104r. In dieser Kritik unterstützte ihn der Münchener Weihbischof, Michael Buchberger, der dem Nuntius zur selben Zeit Anmerkungen zum Konkordatsentwurf zukommen ließ: „Es geht zu weit, wenn gesagt wird, dass die Bischofswahl von Kapiteln, Klerus u[nd] Volk erwartet wird. Kapitel, Klerus u[nd] Volk dürften auch zufrieden sein mit einem Ternavorschlag oder der Einreichung einer Liste.“ Erläuterungen Buchbergers zum Konkordatsentwurf vom 10. März 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 258r–259v, hier 259v. Vgl. Relation „Baviera, progetto di concordato“ der AES vom Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 553r–590r. Vgl. zum Artikel 14, ebd., Fol. 577v–579v. Die Mitteilung konstatierte, dass der Heilige Stuhl in Anbetracht der vielen Vorteile des Konkordats von 1817 für die Kirche dem bayerischen König das Nominationsrecht der bischöflichen Stühle konzediert habe. Da dieses nun durch den Sturz der Monarchie gefallen und der Staat darüber hinaus bereit sei, seine Verpflichtungen gegenüber der Kirche weiter auszubauen, sei es angemessen, wenn zumindest das alte Bischofswahlrecht der Domkapitel wieder eingeführt würde. Außerdem sei die Stellung des katholischen Bayern im Verhältnis zu anderen Staaten zu berücksichtigen: „Autrement la Bavière qui pour ses traditions catholique et pour ses mérites séculaires de lʼEglise catholique jouissait jusquʼà présent de précieux priviléges, se trouveraient pour lʼavenir dans une situation moins favorable que dʼautres Etats, où les Chapitres ont gardé le droit dʼélection et espèrent le conserver encore en vertu du nouveau Code du droit canon (Can. 329 § 3).“ Bayern könne verlangen, ebenso wie andere Staaten 73
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In der Gesamtschau aller verfügbaren Informationen zum Streitpunkt der Bischofseinsetzung kam Gasparri in der vorbereitenden Relation zu dem Schluss: „… es ist gewiss, dass die bayerische Regierung auf die ein oder andere Weise will, dass im Konkordat diesbezüglich eine gewisse Bestimmung enthalten ist, welche den Anschein eines besonderen Zugeständnisses des Heiligen Stuhls hat und diese für die Regierung sehr nützlich wäre, um das Konkordat im Landtag zu verteidigen.“250
Damit übernahm der Kardinalstaatssekretär letztlich Pacellis Sichtweise und signalisierte den übrigen Kardinälen der Kongregation, dass nunmehr ein Abrücken von der reinen Umsetzung des Can. 329 § 2 gefordert war. Wie stellte er sich das konkret vor? „Es scheint aber, dass die Regierung sich damit zufrieden erklären würde, wenn man 1. den Domkapiteln Bayerns das Privileg zubilligen würde, dass auch sie dem Heiligen Stuhl jährlich eine Liste von möglichen Kandidaten für das Bischofsamt präsentieren können. Diese Namen würden zu denen, die von den Bischöfen vorgeschlagen wurden, hinzugefügt und dem Heiligen Stuhl bliebe natürlich die freie Auswahl; wenn man 2. Bayern die Versicherung gäbe, dass das Privileg, Bischöfe zu ernennen, vom Heiligen Stuhl nicht den Domkapiteln der anderen Staaten (und besonders von Deutschland) gewährt werden würde.“251
Gasparri schwebte also ebenso wie Pacelli eine Kombination von päpstlicher Nomination und Präsentationsrechten für das Domkapitel beziehungsweise jetzt auch für die Bischöfe vor. Mit dem zweiten Punkt widersprach Gasparri nicht nur den bayerischen Verhandlungspartnern, die davon ausgingen, dass der Heilige Stuhl bereits entschieden habe, den preußischen Domkapiteln das Bischofswahlrecht künftig weiterhin zuzugestehen.252 Sondern auch Pacelli hatte schon im
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behandelt zu werden. Zudem werde ein Konkordat ohne Kapitelswahlrecht nicht die Zustimmung des Landtags finden. Vgl. Sommario VII „Communicazione confidenziale rimessa alla Segreteria di Stato dal Sig. Ministro di Bavaria“, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1923, Sessio 1261, Vol. 77, Stampa 1104, S. 123f., hier 123. „… è certo che il Governo Bavarese, in un modo o in un altro, vuole che nel Concordato sia contenuta, a questo riguardo, una qualche disposizione che abbia lʼaria di una speciale concessione della S. Sede e sarebbe molto utile al Governo stesso per difendere il Concordato dinanzi al Landtag.“ Relation „Baviera, progetto di concordato“ der AES vom Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 579v. „Sembra, però, che il Governo si dichiarerebbe contento se 1° si accordasse ai Capitoli di Baviera il privilegio di presentare anchʼessi, annualmente, alla S. Sede un elenco di possibili candidati allʼepiscopato. Tali nomi andrebbero aggiunti a quelli proposti dai Vescovi e la S. Sede, naturalmente, resterebbe libera nella scelta; 2° se si desse alla Baviera se lʼassicurazione che il privilegio di nominare i Vescovi non sarà accordato dalla S. Sede ai Capitoli di altri Stati (e specialmente della Germania).“ Relation „Baviera, progetto di concordato“ der AES vom Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 579v. Diese staatliche Annahme traf beim Kardinalstaatssekretär auf völliges Unverständnis. Daher versah er den entsprechenden Textpassus aus Pacellis Bericht vom 14. Februar, der in der vorbereitenden Relation zitiert wurde, am Blattrand mit einem „Ma che???“. Vgl. Relation „Baviera, progetto di concordato“ der AES vom Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 579r. 74
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Dezember 1922 von der „Wahrscheinlichkeit“ gesprochen, dass den preußischen Domkapiteln das Bischofswahlrecht erhalten blieb. Jedenfalls glaubte Gasparri mit den genannten Konzessionen den beiden gewichtigsten Regierungsforderungen zu entsprechen: das bayerische Parlament mit einem Listenverfahren zufrieden zu stellen und das protestantische Preußen nicht zu priorisieren. Freilich musste dieser Vorschlag noch die Diskussion der Kardinäle überstehen und die päpstliche Zustimmung finden. Wie erwähnt konferierte die Congregatio particularis am 6. Mai 1923.253 Während De Lai sofort klarstellte, die staatliche Textversion für „inakzeptabel“254 zu halten, lenkte Gasparri umgehend die Aufmerksamkeit auf seinen Vorschlag in der Relation. Auf dieser Grundlage „zeigten sich die Eminenzen nicht abgeneigt“255, den bayerischen Domkapiteln das Privileg zu gewähren, dem Heiligen Stuhl Kandidatenlisten zu übersenden. Jedoch sollte dies nicht jährlich – wie der Kardinalstaatssekretär überlegt hatte –, sondern nur alle drei Jahre erfolgen. Für Diskussionsstoff sorgte eher die Frage, auf welche Weise die Listen nach Rom übersandt werden sollten: entweder über den eigenen Diözesanbischof oder über den Apostolischen Nuntius. Argumente für und wider notierte der Protokollant, Francesco Borgongini Duca, nicht. Man einigte sich schließlich darauf, das Listenverfahren im Konkordatstext lediglich in allgemeiner Form festzuhalten und für die konkrete Umsetzung auf ein gesondert zu erlassendes Gesetz hinzuweisen. Hinsichtlich der Bitte des bayerischen Gesandten sahen die Kardinäle keine Schwierigkeit, dass Pacelli offiziell erklärte, in künftigen Konkordaten mit deutschen Staaten den Domkapiteln das Bischofswahlrecht nicht zu gewähren. Wie das Protokoll der Sitzung festhielt, wurde nicht über die politische Klausel und die Streitfrage des Umfangs des Bedenkenrechts diskutiert, vielleicht deshalb, weil es aus Sicht der Kurialen hier nichts mehr zu diskutieren gab. Mitte Mai informierte Gasparri den Nuntius über den Entscheid der Kardinäle, der auch die päpstliche Approbation gefunden hatte: Der Heilige Stuhl sei bereit, „den bayerischen Domkapiteln zu gewähren, dass sie alle drei Jahre direkt an den Heiligen Stuhl eine Liste von Kandidaten einreichen, die sie für das bischöfliche Amt als würdig und 253
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Vgl. Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 6. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 545r–550r. Zu den Diskutanten zählten in dieser Sitzung die Kardinäle Gaetano De Lai, Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Raffaele Merry del Val, Andreas Frühwirth, Gaetano Bisleti, Giovanni Tacci, Franz Ehrle und Pietro Gasparri. Donato Sbarretti, der auch eingeladen wurde, war nicht erschienen. Der deutsche Kurienkardinal Ehrle war auf Drängen des bayerischen Gesandten Ritter hinzugezogen worden. Vgl. Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 198; Zedler, Bayern, S. 402f. „… inaccettabile …“ Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 6. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 547v. „… gli Emi non si mostrarono alieni …“ Protokoll Borgongini Ducas der Congregatio particularis der AES vom 6. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 547v–548r. 75
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geeignet erachten; unter diesen – und den von den Hochwürdigsten Herren Bischöfen bezeichneten – behält sich der Heilige Stuhl freie Auswahl vor.“256
Die verbindlichen Vorschlagslisten der Domkapitel sollten also auf direktem Wege nach Rom gesandt werden, nicht über den Ortsbischof, sondern die Nuntiatur. Wahrscheinlich hatte Gasparri diese Frage nach Rücksprache mit Pius XI. entschieden. Außerdem versicherte er Pacelli, dass „der Heilige Stuhl außer den Zugeständnissen, die in den alten noch geltenden Konkordaten enthalten sind, keinem anderen Staat ein Privileg hinsichtlich der Ernennung der Bischöfe geben wird“257. Bei dem neuen Modus handle es sich jedoch um das „höchste Zugeständnis“258 an die bayerischen Domkapitel und einen besonderen Erweis des Wohlwollens gegenüber dem Freistaat. Der Heilige Stuhl sehe nämlich nicht ein, „in irgendeiner Weise seine Freiheit in der Ernennung der Bischöfe einzuengen, in keinem Land der Welt“259. Das Vertrauen, dass man mit dem Listenverfahren endlich eine Einigung mit der Regierung in dieser Streitfrage finden werde, zog Gasparri aus einem Gespräch mit Ritter, das vermutlich stattfand, als dieser die oben erwähnte vertrauliche Mitteilung vorlegte. Der Gesandte habe nämlich gestanden, dass es für eine Zustimmung von staatlicher Seite wichtig wäre, wenn „der Heilige Stuhl den Anschein erwecken würde, der Regierung etwas zuzugestehen“260. Ritter war „die Aussichtslosigkeit eines dauerhaften Kapitelwahlrechts endgültig bewusst“261 geworden, sodass er offensichtlich für die Regierung zu retten suchte, was zu retten war. Wenn man schon kein Kapitelswahlrecht erreichen konnte, dann wenigstens ein Vorschlagsrecht. Pacelli, der nun in „in streng vertraulicher Weise“262 von dieser Einschätzung des bayerischen Diplomaten erfuhr, erhielt von Gasparri schließlich noch die An-
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„… ad accordare … ai Capitoli Bavaresi che, ogni tre anni, inviino direttamente alla Santa Sede una lista di candidati, che essi giudichino atti allʼEpiscopato, tra i quali – come pure tra quelli suggeriti dai Vescovi – la S. Sede si riserva libera scelta.“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 532r–541r (nur r), hier 538r. Die Übersetzung richtet sich nach jener, die Pacelli anschließend anfertigte. Vgl. Pacelli an Matt vom 26. Mai 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 46rv, hier 46v. „… la Santa Sede allʼinfuori delle concessioni contenute negli antichi concordati tuttora in vigore, non darà a nessun altro stato alcun privilegio circa la nomina dei Vescovi.“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 538r. „… massima concessione …“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 538r. Hervorhebung im Original. „… in alcun modo vincolare la sua libertà nella nomina dei Vescovi, in nessun paese del mondo …“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 538r. „… la S. Sede avesse lʼaria di concedere qualche cosa al Governo …“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 538r. Hervorhebung im Original. Zedler, Bayern, S. 416. „… in via assolutamente confidenziale …“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 538r. 76
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weisung, der Regierung zu vermitteln, dass für Rom ausschließlich ein Bedenkenrecht politischer und nicht allgemeiner Natur gegen die neu ernannten Oberhirten infrage komme. Daher möge er verlangen, „dass ein derartiger Einschub [sc. Bedenken politischer Ordnung, R.H.] im endgültigen Text des Konkordats erfolgt, indem er der Regierung klar macht, dass der Heilige Stuhl bei diesem Thema von höchster Wichtigkeit, in der er die ausschließliche Kompetenz besitzt, wegen der pflichtschuldigen Sicherung seiner Freiheit, auf die von ihm selbst vorgeschlagene Fassung nicht verzichten kann.“263
Der neue staatliche Konkordatsentwurf und Pacellis ‚Gegenmaßnahmenʻ Damit stand die neue Verhandlungsposition des Heiligen Stuhls fest. Im Wesentlichen wortgetreu gab sie der Nuntius am 26. Mai an Matt und Knilling weiter.264 Doch einen Teil der Weisung ließ er weg, nämlich die Versicherung, dass der Heilige Stuhl keinem anderen deutschen Teilstaat das Bischofswahlrecht konzedieren werde. Offenbar war Pacelli anders als die Kurienkardinäle nach wie vor überzeugt, dass es unüberwindliche Schwierigkeiten geben würde, beispielsweise in Preußen das Bischofswahlrecht in einem neuen Konkordat abzuschaffen. Insofern musste ihm ein derartiges Versprechen letztlich unverantwortlich erscheinen und den Reichs- beziehungsweise Preußenkonkordatsverhandlungen gleichzeitig eine schwere Hypothek auferlegen. Alle Beteiligten hielten den fraglichen Artikel 14 – zusammen mit dem 13. Artikel über die Vorbildung des Klerus – für die entscheidende Hürde, die dem erfolgreichen Vertragsabschluss noch im Wege stand. Daher legte Pacelli den bayerischen Unterhändlern zunächst nur zu diesen beiden Artikeln die römische Auffassung vor. Doch von staatlicher Seite wollte man sich zum neuen Modus der Bischofseinsetzung erst äußern, wenn die Anmerkungen zu den übrigen Konkordatsartikeln ebenfalls vorhanden waren.265 Man verlangte also eine Gesamtschau, was bedeutete, dass die Forderungen des Heiligen Stuhls gespalten aufgenommen wurden: Einerseits anerkannte man das römische Zugehen – gerade hinsichtlich der Vorbildung der Geistlichen ließ sich die Kurie nun prinzipiell darauf ein, die Prämissen Gymnasialabschluss und
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„… che simile inciso sia conservato nel testo definitivo del Concordato, facendo presente a codesto Governo che la S. Sede, per doverosa tutela sua libertà, in argomento di si alta importanza e di esclusiva sua competenza, non può rinunziare alla dicitura da essa stessa proposta.“ Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 539r. Vgl. Pacelli an Matt vom 26. Mai 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 46rv; Pacelli an Knilling vom 26. Mai 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 47r. Vgl. Matt an Pacelli vom 8. Juni 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 48rv. 77
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philosophisch-theologisches Studium im Text zu verankern266 –, andererseits war das Entgegenkommen nicht so weitgehend, wie man es sich eigentlich wünschte. Der Nuntius entsprach der Bitte und ließ Matt und Knilling am 16. Juni ebenfalls die kuriale Stellungnahme zu den übrigen Konkordatsartikeln zukommen.267 Es dauerte über einen Monat bis der Kultusminister seinerseits einen neuen staatlichen Gegenentwurf präsentierte.268 Es zeigte sich, dass die Verhandlungsführer nach wie vor die Kapitelswahl nur höchst ungern aufgeben wollten und auf die Übereinstimmung dieser Institution mit dem kirchlichen Recht – nämlich dem Can. 329 § 3 CIC – pochten.269 Dennoch wolle man – so hieß es in den Anmerkungen zu Artikel 14 § 1 – den kirchlichen Wünschen so weit als möglich entgegenkommen, auch auf die Gefahr hin, dass das Projekt im Parlament scheitern könnte. Auch dem zweiten Kritikpunkt der Kurie hinsichtlich der politischen Klausel erklärte sich die Regierungsseite bereit, Rechnung zu tragen, freilich „unter Zurückstellung erheblichster Gründe der Staatsräson“270. Konkret folgte für sie daraus, in die bisherige kuriale Fassung des Artikels 14 § 1 einen weiteren, folgenreichen Satz einzuschalten. Die neue Version lautete daher folgendermaßen: „Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem H[eiligen] Stuhle zu. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhles überreicht das Domkapitel eine Vorschlagsliste mit den Namen von mindestens zwei in der Reihenfolge ihrer Würdigkeit, Tüchtigkeit und Geeignetheit anzuführenden Kandidaten dem H[eiligen] Stuhle, der einen der Vorgeschlagenen ernennt. Der H[eilige] Stuhl wird sich vor Veröffentlichung der Bulle in offiziöser Weise bei
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 16. Mai 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 536r–537r (nur r) und Pacelli an Matt vom 26. Mai 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 46rv. Vgl. Pacelli an Matt vom 16. Juni 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 51r–54v; Pacelli an Knilling vom 16. Juni 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 55r. Vgl. auch Pacelli an Gasparri vom 16. Juni 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 161r–162v. Vgl. Matt an Pacelli vom 21. Juli 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 64r; Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 192r–197v. Vgl.: „Bei den Verhandlungen über das Konkordat von 1817 war es der H[eilige] Stuhl selbst, der die Aufrechterhaltung des damals gemeinrechtlichen Wahlrechtes der Domkapitel zu den bischöflichen Stühlen forderte. Wahl der Bischöfe durch Kapitel ist übrigens eine Einrichtung, die auch dem heutigen Kirchenrechte nicht grundsätzlich fremd ist, wie sich aus dem cod. jur. can. c. 329 § 2 [sic, R.H.] ergibt. Der Vorschlag des bayerischen Gegenentwurfes [sc. vom Januar 1923, R.H.] bewegt sich also durchaus im Rahmen auch des heutigen kanonischen Rechtes und kann demnach dem Geiste der Kirche nicht zuwider sein.“ Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196r. Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196v. 78
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der bayerischen Staatsregierung versichern, ob gegen den Kandidaten etwa Bedenken politischer Art bestehen.“271
Ein Bischofswahlrecht der Domkapitel im engeren Sinne verlangte die Regierung also nicht mehr. Doch sollte nur das Kapitel des jeweils vakanten Bistums eine Liste mit womöglich lediglich zwei Kandidaten einreichen. Von einer Freiheit der päpstlichen Nomination konnte praktisch kaum die Rede sein. Im Gegenteil nahmen die Domherren – auch ohne Bischofswahl – im Besetzungsverfahren den maßgeblichen Part ein. Das staatliche Papier verlegte es in die Zuständigkeit des Heiligen Stuhls, die Kapitel unter Eid zu verpflichten, nur Kandidaten vorzuschlagen, welche die genannte Trias von Eigenschaften – „Würdigkeit, Tüchtigkeit und Geeignetheit“ – vorwiesen. Es hielt aber auch Ausnahmen für denkbar, in denen „der H[eilige] Stuhl sogar unter Zurückweisung der eingereichten Liste vom Domkapitel die Vorlage einer neuen fordern“272 könne. Mit dieser neuen Regelung war für die bayerischen Verhandlungsführer aber die äußerste Grenze des Akzeptablen erreicht, es sei ein „Mindestvorschlag“273. Wenn der Heilige Stuhl diesem nicht zustimme – so die Anmerkungen zum neuen Artikel weiter –, müsse die Regierung folgern, dass jener einen vertragslosen Zustand in Bayern einem Konkordat vorziehe. Sie wisse jedenfalls im Falle einer negativen Antwort der Kurie nicht, „mit welchen Argumenten wir auch nur einigermaßen noch vor der Öffentlichkeit und im Landtage den Abschluss eines Konkordates mit so großen Opfern des Staates zu rechtfertigen imstande wären“274. Wie reagierte der Nuntius auf diesen Modus? Weil er mit dem „Mindestvorschlag“ der Regierung nicht im Mindesten einverstanden war, übte er bei einem Treffen am 24. Juli Druck auf den Kultusminister aus. Wie er Gasparri informierte, habe er Matt gegenüber bekundet, „dass ich gemäß den mir erteilten Instruktionen angehalten worden sei, ihm ohne Weiteres den Verhandlungsabbruch zu erklären“275. Bevor er jedoch einen solch schwerwiegenden Schritt gehen wolle – so Pacelli –, habe er sich entschlossen, die Antwort der Regierung zunächst dem Heiligen Stuhl zu referieren. In dem entsprechenden Bericht vom 4. August äußerte sich Pacelli
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Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196v. Hervorhebung R.H. Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196v. Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196v. Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 197. „… che, a norma delle istruzioni impartitemi, sarei stato tenuto a dichiarargli senzʼaltro rotti i negoziati …“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 184r–191v, hier 188r. 79
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nur knapp zur Argumentation des staatlichen Memorandums – das auch hier wieder bemühte Argument, dass die Kurie selbst das Kapitelswahlrecht während der Konkordatsverhandlungen Anfang des 19. Jahrhunderts verteidigt habe, glaubte er früher schon hinreichend entkräftet zu haben.276 Doch die zunehmende Ratlosigkeit, die ihm diese Sache bereitete, konnte er nicht mehr verbergen. Die Regierung habe doch alle Zugeständnisse, die sie sich nur wünschen könne: „Ich bekenne, dass ich nicht begreifen kann, warum der Landtag große Schwierigkeiten haben müsste, den Vorschlag des Heiligen Stuhls anzunehmen. Die Geistlichen, die auf die bischöflichen Stühle gesetzt werden, müssen deutsche Staatsbürger sein (Art. XIII § 1, a); sie müssen eine deutsche wissenschaftliche Ausbildung absolviert haben (deutsches Gymnasium; philosophisch-theologische Studien in einem deutschen Institut oder in Rom – Art. XIII § 1, b und c); die Kandidatenlisten werden von den Domkapiteln und Bischöfen aufgestellt, beide deutsch-bayerisch; der Heilige Stuhl fragt die Regierung bevor er zur endgültigen Ernennung schreitet, ob sie Einwände politischer Natur hat. All diese Bedingungen stellen für die Regierung und den Landtag vom politischen Standpunkt oder der ‚Staatsräson‘ her eine Reihe von Garantien dar, die nichts zu wünschen übrig lassen.“277
Das Profil des neuen Bischofs war Pacellis Ansicht nach durch die genannten Prämissen bereits so umfassend reglementiert, dass es dem Staat gleichgültig sein musste, wenn der Oberhirte vom Papst mit größerer Freiheit ernannt wurde. Ebenfalls monierte er eine Tendenz auf staatlicher Seite, den Episkopat soweit als möglich von der Beteiligung am Besetzungsverfahren auszuschließen, obgleich dieser doch bayerisch war. Pacelli verstand nicht, womit die Bischöfe eine solch miss-
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Für Gasparri fasste er die wesentlichen Punkte gegen die staatliche Argumentation kurz zusammen: „Mi limiterò quindi a rilevare 1.°) che al tempo della conclusione dellʼantico Concordato lʼelezione capitolare dei Vescovi non era diritto comune, sebbene vigesse in Baviera; 2.°) che, avendo in quella occasione la Stato bavarese rifiutato lʼofferta della S. Sede, non ha adesso più diritto di reclamarla; 3.°) che in dette trattative la situazione era del tutto diversa, giacchè non era allora questione della libera provvista da parte della S. Sede, ma la controversia volgeva fra il diritto di elezione, di cui i Capitoli erano in possesso, ed il privilegio di nomina reclamato dal Sovrano; era quindi naturale che la S. Sede preferisse quello a questo.“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 188r-v. „Confesso poi che non riesco a comprendere perchè il Landtag dovrebbe avere tanta difficoltà ad accogliere la proposta della S. Sede. Gli ecclesiastici invero da preporsi alle Sedi vescovili debbono essere cittadini tedeschi (art. XIII § 1, lett. a); debbono aver avuto una formazione scientifica tedesca (Ginnasio tedesco; studi filosofico-teologici in un Istituto tedesco, oltre che in Roma – art. XIII § 1 lett. b e c); le liste dei candidati vengono formate dai Capitoli e dallʼepiscopato, ambedue tedesco-bavaresi; la S. Sede, prima di procedere alla nomina definitiva, chiede al Governo se ha obbiezioni di natura politica. Tutte queste condizioni rappresentano per il Governo ed il Landtag dal punto di vista politico o della ‚ragione di Stato‘ una serie di garanzie, che nulla lasciano a desiderare.“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 188v–189r. 80
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trauische Behandlung verdient hätten. Außerdem würde doch die doppelte Liste – von Domkapitel und Episkopat – eine „nützliche Kontrolle“278 bieten. Wenn ein Name auf beiden Listen stehe, zeuge dies von einer allgemeinen Achtung der betreffenden Person. Angesichts dessen konnte für Pacelli der beharrliche Widerstand der Regierung durchaus ein Hindernis sein, an dem das gesamte Konkordatsprojekt scheiterte: „Die eventuelle Opposition des Landtags wäre daher im ganzen unvernünftig und der Heilige Stuhl könnte gut die im Memorandum gegen ihn vorgebrachte ungerechte Unterstellung umkehren und mit allem Grund behaupten, dass, wenn Regierung und Landtag sich weigern sollten, den genannten Vorschlag zu akzeptieren, dies ihren geringen Willen demonstriere, das neue Konkordat abzuschließen, insbesondere nachdem der Heilige Stuhl sich in anderen Punkten so versöhnlich gezeigt hat.“279
Der Nuntius entschloss sich, das Hauptargument der Regierung genauer unter die Lupe zu nehmen. Da sich seine Verhandlungspartner, insbesondere Kanoniker Wohlmuth, ständig auf den Widerstand des Parlaments gegen eine Regelung berufen würden, welche die Kapitelswahl nicht berücksichtigte, habe er versucht – wie Pacelli dem Kardinalstaatssekretär berichtete –, die Ansicht der BMP zu ergründen, deren Zustimmung zum Staatskirchenvertrag zusammen mit jener der BVP ausschlaggebend sei. Über die Vermittlung des Münchener Dompredigers, Konrad Graf von Preysing, habe er Freiherr Carl-Oskar von Soden zum bayerischen Justizminister, Franz Gürtner, geschickt – dieser gehörte der Mittelpartei an. Laut Pacellis Bericht wurde Soden, zu dem Preysing engen Kontakt pflegte,280 bewusst darüber im Dunkeln gelassen, woher der Auftrag eigentlich kam. Was schließlich bei dieser informellen Befragung des Justizministers herauskam, war nicht geeignet, den Standpunkt von Pacellis Verhandlungspartnern zu stärken. Der Nuntius referierte seinem Vorgesetzten: „Er [sc. Gürtner, R.H.] hat geantwortet, dass er noch nichts von der Sache wusste; dass ihm die Kapitelswahl völlig gleichgültig war, da es sich um eine interne Angelegenheit der Kirche handelt und dass er auch glaubte, dass seine Partei keine Hindernisse in dieser Sache voran-
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„… utile controllo …“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 189r. „Lʼeventuale opposizione del Landtag sarebbe quindi del tutto irragionevole, e la S. Sede ben potrebbe ritorcere lʼingiusta insinuazione mossa contro di Essa nel Memorandum ed affermare con ogni fondamento che, se il Governo ed il Landtag si rifiutassero di accettare lʼanzidetta proposta, ciò manifesterebbe la loro scarsa volontà di concludere il nuovo Concordato, massime dopochè la S. Sede stessa la mostrato sugli altri punti tanto spirito di conciliazione.“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 189r. Vgl. die Hinweise bei Trenner, Soden (1986), S. 57 und 91. 81
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treiben würde; im Gegenteil fügte er hinzu, dass er an Stelle des Heiligen Stuhls die Bischofswahl nicht allein den Domkapiteln überlassen würde.“281
Wenn diese Aussage wahr sei – folgerte Pacelli –, dann sei dem ständigen Argument, ein Konkordat ohne Kapitelswahlrecht werde im Landtag scheitern, nicht die Bedeutung beizumessen, welche ihm die staatlichen Verhandlungsführer stets zuschrieben. Laut seiner Berichterstattung legte Pacelli dem Kultusminister schließlich die Frage vor, aus welchem Grund die Domkapitel nach staatlicher Auffassung befugt sein sollten, eine „Liste“ mit sogar lediglich zwei Namen zu präsentieren. Matt habe erwidert, dass es häufig schwierig sei, mehr als zwei taugliche Kandidaten zu finden. Dem habe er – so Pacelli – entgegengehalten, dass es nicht nötig sei, die episcopabili einzig unter den Domkapitularen zu suchen, geschweige denn im Klerus einer einzigen Diözese. Es sei nicht glaubhaft, dass es in ganz Bayern nur zwei geeignete Bischofsanwärter gebe. Wenn er diese Kontroverse für Gasparri auch nicht weiter kommentierte, so sah er offensichtlich auf Regierungsseite die Motivation am Werk, den Domkapiteln auf Kosten der Freiheit des Heiligen Stuhls einen Einfluss auf das Besetzungsverfahren zu beschaffen, der einem Wahlrecht praktisch ebenbürtig war. Um eine Lösung hierfür zu finden, holte sich der Nuntius Rat vom Freisinger Kirchenrechtler, Anton Scharnagl. Dieser habe die Überzeugung geäußert, dass der staatliche Widerstand sich mit höherer Wahrscheinlichkeit brechen ließe, wenn „der Heilige Stuhl bewilligen könnte, dass die beiden Listen (der Domkapitel und der Bischöfe), anstatt alle drei Jahre, gelegentlich der Vakanz des Bistums präsentiert werden könnten“282. Vermutlich hielt Scharnagl diesen Modus für den Staat akzeptabler, weil er dem Heiligen Stuhl keinen so umfassenden Kandidatenfundus zur Verfügung stellte und darüber hinaus ermöglichte, die Personenvorschläge präziser auf die Situation der vakanten Diözese zuzuschneiden. Pacelli fand die Idee durchaus erwägenswert, überließ aber dem Kardinalstaatssekretär das Urteil, ob der Heilige Stuhl so weit entgegenkommen wolle. Ein Abbruch der Konkordatsverhandlungen, wie er dem Kultusminister angedroht hatte, kam für ihn also ernsthaft nicht infrage. Ansonsten hätte er seine Ausführungen wohl kaum mit einer Option beendet, wie noch weiter auf den Staat zugegangen werden konnte.
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„Egli ha risposto che non sapeva ancora nulla della cosa; che lʼelezione capitolare gli era completamente indifferente, trattandosi di affare interno della Chiesa, e che riteneva che anche il suo partito non muoverebbe ostacoli in questa materia; ha anzi aggiunto che, al posto della S. Sede, agli non lascerebbe la scelta dei Vescovi ai soli Capitoli.“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 189v–190r. „… che le due liste (dei Capitoli e dei Vescovi), anziché ogni tre anni, venissero presentate in occasione della vacanza della diocesi.“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 190r. 82
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Die letzte Konzession des Heiligen Stuhls: Einlenken der Regierung oder Scheitern der Verhandlungen? Nachdem er Pacellis „genaue und klare Darstellung“283 eingehend geprüft hatte, zeigte sich Gasparri enttäuscht, dass Bayern im letzten Entwurf der Konkordatsmaterie nicht auf die römische Fassung des Artikels 14 § 1 eingegangen war. Ende August erteilte er dem Nuntius die Instruktionen für die offizielle Antwort des Heiligen Stuhls, nahm die prinzipielle Bejahung von päpstlicher Nomination und politischer Klausel durch die Regierung zur Kenntnis und widersprach ebenso wie Pacelli vehement der staatlicherseits propagierten Idee, dass das Kapitel wenigstens zwei Kandidaten auf eine Vorschlagsliste setzen durfte, aus welcher der Papst die Ernennung vorzunehmen hatte. Mit „der größten Anstrengung“ sollte Pacelli diesen Vorschlag abwehren, denn man müsse konstatieren, dass dieser „außer in der Form, nicht von dem anderen abweicht, der bereits für inakzeptabel erklärt wurde, nämlich der Bischofswahl des Domkapitels“284. Auch die Exklusion der bayerischen Bischöfe hielt Gasparri für unvernünftig, zumal man doch annehmen könne, dass diese eine viel weitere Sicht auf die religiösen Desiderate des Landes hätten als die Kapitulare. Aber am wichtigsten war dem Kardinalstaatssekretär vermutlich, dass diese Besetzungsvariante „die Kompetenz des Heiligen Stuhls auf fast nichts verringern würde und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem dieser – wenn auch nur in Worten [sc. im CIC, R.H.] – wiedererkennt, dass ihm die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe zusteht“285. Die Erkenntnis, dass ein katholischer Staat wie Bayern dermaßen beharrlich das päpstliche Ernennungsrecht der Bischöfe auszuschalten suche, habe Pius XI. nicht geringen Schmerz zugefügt, „als ob der Heilige Stuhl nicht immer die väterlichste Zuvorkommenheit gegenüber Bayern gezeigt hat und als ob die von Rom erwählten Bischöfe sich nicht um Religion und Vaterland verdient gemacht haben“286. Dann wies Gasparri auf die globale Bedeutung der gegenwärtigen Entscheidung hin: Wenn die Kirche jetzt in Bayern in einer für sie so bedeutenden Angelegenheit nachgebe,
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„… lʼaccurata e chiara esposizione …“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 616r–620v, hier 616r. „… la massima energia … non differisce, se non nella forma, dallʼaltra dichiarata inaccettabile, dellʼelezione capitolare del Vescovo.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 618r-v. „… ridurrebbe quasi a nulla il compito della Sede Apostolica nello stesso tempo che viene a riconoscere – sia pure a parole – spettare a lei la nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 618v. „… come se la medesima Santa Sede non abbia sempre mostrato la più paterna sollecitudine verso la Baveria e come se i Vescovi, scelti da Roma, non abbiano ben meritato dalla religione e dalla patria.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 618v. 83
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
wie sollte sie anschließend den anderen katholischen Nationen dasselbe Privileg ausschlagen? Neben leicht vorherzusehenden Verwirrungen im Verhältnis zu diesen Ländern, würde dies „zweifellos eine beträchtliche Lockerung der Bande bewirken, die alle Kirchen mit dem Stuhl Petri vereinen“287. Trotz des Risikos, das Konkordat als Ganzes zu gefährden, waren Papst und Kardinalstaatssekretär daher nicht bereit, von ihrer bisherigen Position abzurücken: „Wegen dieser Erwägungen und vieler anderer, die man um der Kürze willen übergeht, hat Seine Heiligkeit nach reiflicher Überlegung und langem Gebet entschieden, bei dem zu bleiben, was auf Seine Anordnung hin Ihnen in der Weisung vom 16. Mai geschrieben und mehrmals ins Gedächtnis gerufen wurde, nämlich dass den bayerischen Domkapiteln erlaubt wird, direkt dem Heiligen Stuhl alle drei Jahre ihre Kandidatenlisten zu präsentieren, aus denen, wie auch aus den von den bayerischen Bischöfen vorgeschlagenen Kandidaten, sich der Heilige Stuhl die freie Wahl vorbehält.“288
Hier schien also der Punkt erreicht, wo die Verantwortlichen in der Kurie keinen weiteren Schritt mehr auf die staatliche Seite zugehen wollten. Doch so ganz stimmte das nicht, denn damit – so Gasparri – nicht der Eindruck erweckt werde, dass das Anliegen der Regierung den Papst völlig unberührt lasse, sei dieser bereit, Folgendes in die Konkordatsbestimmung einzufügen: „… dass bei Erledigung eines Bischofsstuhles ausschließlich das interessierte Kapitel – auch wenn es erst vor kurzem gleich den übrigen bayerischen Kapiteln die erwähnte Triennalliste eingesandt hat – in durch eigene Satzung festzulegender Frist und Weise zusammenberufen werde, um neuerdings eine Liste von für das bischöfliche Amt würdigen und geeigneten Kandidaten aufzustellen und an den Heiligen Stuhl einzureichen …“289
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„… produrrebbe senza dubbio un notevole affievolimento dei vincoli che uniscono tutte le Chiese alla Sede di Pietro.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 618v. „Per queste considerazioni ed altre molte che per brevità si tralasciano, Sua Santità, dopo matura riflessione e lunga preghiera, ha deciso di rimanere a quanto per Suo ordine Le fu scritto nel Dispaccio del 16 maggio, più volte ricordato, concedendo ai capitoli bavaresi di presentare direttamente alla Santa Sede ogni triennio la loro lista di candidati, tra i quali, come pure tra quelli suggeriti dai Vescovi bavaresi, la Santa Sede si riserva libera scelta.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 619r. „… che verificandosi la vacanza di una sede, il solo capitolo cattedrale interessato – anche se di recente abbia inviato come gli altri capitoli bavaresi la lista triennale sopra citata – venga convocato nel tempo e nei modi da stabilirsi con apposito regolamento, allo scopo di redigere nuovamente una lista di episcopabili da inviare alla Santa Sede …“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 619r. Hervorhebungen im Original. Die Übersetzung richtet sich nach jener, die Pacelli selbst anfertigte. Vgl. Pacelli an Matt vom 11. September 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 104r-v. 84
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Der Papst werde sich dann diese Liste zusammen mit den Triennallisten aller Domkapitel und Bischöfe „gegenwärtig halten“, aber sich für die Ernennung des neuen Bischofs die „volle Freiheit“290, das heißt die freie Auswahl, vorbehalten. Mit dieser Modifikation, die sichtbar auf die vom Nuntius empfohlene Überlegung Scharnagls zurückgriff, sei Pius XI. aber bis zur äußersten Grenze dessen gegangen, was sein Gewissen als Zugeständnis an den bayerischen Staat zulasse. Deshalb wies Gasparri den Nuntius an, der Regierung zu verdeutlichen, dass jede weitere Beharrlichkeit in dieser Materie völlig nutzlos sei. Eine neuerliche Zurückweisung der römischen Besetzungsvariante würde die Konkordatsverhandlungen endgültig kompromittieren und das, obwohl der Heilige Stuhl in allen Bereichen entgegenkommend gewesen sei. Gasparri fuhr fort, die Verantwortung für den etwaigen Verhandlungsabbruch allein beim bayerischen Staat zu suchen, denn „keine gescheite Person der Welt“291 könne begreifen, wieso dieser seine Interessen durch den römischen Vorschlag zur Besetzung der bischöflichen Stühle nicht ausreichend gewahrt sehe. Damit stimmte der Kardinalstaatssekretär in Pacellis Klage ein, dass die Konditionen zur Vorbildung des Klerus dem Staat ebenso suffiziente Garantien gäben wie die beiden Tatsachen, dass zwei verschiedene lokalkirchliche Instanzen Kandidatenvorschläge unterbreiten durften und die Regierung politische Bedenken vorbringen konnte. Die Variante einer Kapitelsliste von mindestens zwei Personen, an die der Heilige Stuhl bei seiner Ernennung gebunden sein sollte, kam für Rom dem Wahlrecht der Domkapitel gleich und war daher undenkbar. Auch die Domkapitulare mussten das zunehmend erkennen, wenngleich sie von ihrem Wunsch nicht abrückten.292 Nun hing alles davon ab, ob das staatliche Verhandlungsgremium um 290
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„… tenendo presenti … piena libertà.“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 619r. „… nessuna persona savia al mondo …“ Gasparri an Pacelli vom 28. August 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 619v. Am 20. Juli machte Kardinal Faulhaber das Münchener Metropolitankapitel darauf aufmerksam, dass die Einforderung des Kapitelswahlrechts durch die staatlichen Verhandlungsführer das zentrale Hindernis für den erfolgreichen Konkordatsabschluss war. Der Erzbischof ergänzte, dass jene sich – um ihren Standpunkt zu untermauern – auf die Stellungnahmen der bayerischen Domkapitel beriefen, „welche diese Forderung gestellt haben u[nd] so darauf beharren, dass sie lieber das Konkordat scheitern lassen als davon absehen wollen“. Dies referierte Domdekan Hartl einen Tag später dem Nuntius. Vgl. Hartl an Pacelli vom 21. Juli 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 160rv, hier 160r. Hervorhebung im Original. Hartl verteidigte allerdings die Münchener Kapitulare bei Pacelli und erklärte, dass man zur Regierungsauffassung keinerlei Anlass gegeben habe. Im Gegenteil sei man weder vom Heiligen Stuhl noch von der Regierung im Verlauf der Verhandlungen zu irgendeiner Stellungnahme aufgefordert worden. Man habe lediglich mit den übrigen Domkapiteln eine Petition an den Heiligen Stuhl gerichtet, „es möge mit Rücksicht auf die Verhältnisse in Bayern das uralte Bischofswahlrecht der Domkapitel wiederhergestellt werden“. Ebd., Fol. 160r. Dieses Bittschreiben – mehr sei es nicht gewesen – habe das Münchener Kapitel niemals der Regierung übergeben, geschweige denn habe man letztere gebeten, das eigene Anliegen zu unterstützen. Freilich hielt Hartl im 85
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den Kultusminister einlenken würde. In seinem Schreiben an Matt vom 11. September nahm Pacelli – wie Gasparri – zunächst mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die Regierung mit dem päpstlichen Namen der Domkapitel am Inhalt der Petition fest, weil er das Wahlrecht zum Wohl der Kirche und zum erfolgreichen Konkordatsabschluss für zweckmäßig hielt. Jedoch liege es den Kapiteln „fern, die Annahme unserer Petition beim H[eiligen] Stuhle erzwingen zu wollen“. Ebd., Fol. 160r. Faulhaber hatte das Münchener Kapitel angeregt, sich vom Nuntius eine päpstliche Antwort auf die damalige Supplik geben zu lassen und dieser Anregung kam Hartl nun nach. Tatsächlich hatten die bayerischen Kanoniker seit ihrer Eingabe im Oktober 1921 keine Replik aus Rom erhalten – auch keine negative. Genau diese Tatsache war nach Faulhaber häufig von Regierungskreisen als Argument vorgebracht worden, das Bischofswahlrecht weiterhin zu verlangen. Das zumindest faktische Bündnis von Regierung und Domkapiteln zu brechen, war die eigentliche Intention des Erzbischofs gewesen, als er die Münchener Kanoniker dazu anhielt, eine authentische Entscheidung der Kurie zu dieser Angelegenheit einzuholen. Darüber informierte der Kardinal im Juli den übrigen bayerischen Episkopat kurz vor der alljährlichen Bischofskonferenz: „Da es sich darum handelt, der Wahrheit und Klarheit die Ehre zu geben, und für die künftigen Verhandlungen die Idee auszuräumen, es müssten ‚die Rechte des Klerus in Bayern gewahrt werden‘, habe ich das hiesige Domkapitel veranlasst, von der Apostolischen Nuntiatur die Antwort des Heiligen Vaters auf die Eingabe der Domkapitel zur vertraulichen Weitergabe an die übrigen Kapitel zu erbitten und rundschriftlich ihren Standpunkt in dieser Frage den übrigen Kapiteln mitzuteilen und ihnen anheimzustellen, dem dunklen Gerüchte entgegenzutreten und der kirchlichen Seite für den zweiseitigen Vertrag die Verhandlungen nicht zu erschweren.“ Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 24. Juli 1923 (Abschrift), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 161r. Sollten – so Faulhaber – die Verhandlungen tatsächlich an dieser Frage scheitern, dann wiege die Verantwortung der Abgeordneten, die, obgleich vom katholischen Volk gewählt, sich mehr als Hüter der Staatsrechte gebärden würden, „schwer wie ein Mühlstein“. Ebd., Fol. 161r. Dabei hatte der Erzbischof vermutlich vor allem den Eichstätter Kanoniker Wohlmuth im Blick. Gleiches galt wohl auch für die Feststellung des bayerischen Episkopats auf ihrer Tagung Anfang September, dass „einige Domkapitulare (nicht die Domkapitel im Ganzen) für die Freiheit der Kirche in Ernennung der Bischöfe nach Can. 329 so wenig Verständnis zeigen“. Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats vom 4.–5. September 1923, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 303–310 (Nr. 143), hier 306. Nachdem die Freisinger Bischofskonferenz den beharrlichen Einsatz einiger Domkapitulare für das Bischofswahlrecht moniert hatte, stellten einige Diözesanbischöfe ihre Domkapitel zur Rede. So berichtete der Eichstätter Bischof Mergel, dass die hiesigen Kanoniker – Wohlmuth, für dessen Verhalten sich Mergel bei Pacelli entschuldigte, war bei der Unterredung nicht anwesend – zwar keinesfalls den erfolgreichen Konkordatsabschluss gefährden wollten, aber befürchten würden, gegenüber den übrigen Domkapiteln Deutschlands hinsichtlich des Bischofswahlrechts benachteiligt zu werden. Man sei jedoch damit zufrieden, dem Heiligen Stuhl bei Eintritt der Sedisvakanz einen Ternavorschlag unterbreiten zu dürfen, aus dem der Papst den neuen Bischof erwählen könnte. Vgl. Mergel an Pacelli vom 12. September 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 165r. Pacelli machte demgegenüber klar, dass Pius XI. sich bereits entschieden habe und ein solcher Ternavorschlag der Domkapitel nicht infrage komme. Vgl. Pacelli an Mergel vom 14. September 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 166r. Ähnlich wie sein Eichstätter Amtskollege äußerte sich Erzbischof Hauck nach einem Gespräch mit seinem Weihbischof, Dompropst Adam Senger, über die Anliegen des dortigen Metropolitankapitels. Vgl. Hauck an Pacelli vom 26. September 1923, ebd., Fol. 167rv. Auch ihm erteilte Pacelli hinsichtlich des Ternavorschlags eine Absage und hielt angesichts der Entscheidung des Heiligen Vaters eine Fühlungnahme mit den Domkapiteln in dieser Angelegenheit für sinnlos. Vgl. Pacelli an Hauck vom 29. September 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 168rv. Auf eine offizielle Antwort aus Rom zu ihrer Petition warteten die Domkapitel daher vergeblich. 86
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Nominationsrecht und der politischen Klausel zwei wesentliche Aspekte des römischen Textes akzeptiert habe.293 Dennoch könne von kurialer Seite der Regierungsvorschlag, wonach das Domkapitel des jeweils vakanten Bistums eine Liste von wenigstens zwei Kandidaten aufstellen und der Papst aus diesen den neuen Bischof ernennen sollte, nicht angenommen werden. Dem schloss Pacelli fast wörtlich die Begründung an, die Gasparri ihm an die Hand gegeben hatte, inklusive der Schmerzbekundung Piusʼ XI., der feststellen müsse, „dass die Regierung eines überwiegend katholischen Landes sosehr darauf besteht, bei der Bischofswahl den Heiligen Stuhl auszuschalten, als hätte derselbe nicht stets Bayern gegenüber die angelegentlichste Sorge gezeigt, und als hätten sich die von Rom ausgewählten Bischöfe nicht wohl verdient gemacht um die Religion und um ihr Vaterland“294.
Auf Grund dessen bleibe – so Pacelli – all das bestehen, was er bereits am 26. Mai als Position des Heiligen Stuhls dargelegt habe, nämlich das päpstliche Ernennungsrecht auf Basis der Triennallisten der Domkapitel und der Bischöfe. Pflichtgemäß offerierte der Nuntius anschließend die neue Konzession des Heiligen Stuhls: Weil der Papst entgegenkommen wolle, soweit es ihm im Gewissen möglich sei, erlaube er den jeweiligen Domkapiteln, dem Heiligen Stuhl zusätzlich zu den dreijährigen Vorschlagslisten bei Erledigung ihres Bistums eine weitere Kandidatenliste zu unterbreiten. Rom werde die eingereichten Listen „im Auge behalten, aber seine volle Freiheit wahren“295. Der Wortlaut „volle Freiheit“, den Pacelli aus Gasparris Weisung übernahm, ist gemäß dem Kontext eindeutig als Auswahlfreiheit aus den Listen zu verstehen und nicht etwa als Aufhebung der Listenbindung.296 Vielmehr ging es wohl darum, zu betonen, dass sich der Heilige Stuhl nicht zwingend an diese zusätzliche Kapitelsliste zu halten brauchte, sondern gegebenenfalls auf Geistliche zurückgreifen konnte, die lediglich auf den Triennallisten standen. Jedes weitere Drängen seitens der Regierung in dieser Angelegenheit sei – wie Pacelli dem Kultusminister auseinandersetzte – zwecklos und eine erneute ablehnende Haltung würde die Konkordatsverhandlungen endgültig scheitern lassen. Gemäß Gasparris Darstellung schob Pacelli für diesen Fall dem bayerischen Staat die Verantwortung zu, da dessen Interessen durch den von Rom propagierten Besetzungsmodus sowie die zugestandenen Voraussetzungen zur Übernahme eines geistlichen Amtes ausreichend gewährleistet seien.
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Vgl. Pacelli an Matt vom 11. September 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 102r–105v. Pacelli an Matt vom 11. September 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 103v. Pacelli an Matt vom 11. September 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 104v. Dieses Thema sollte erst wenige Wochen später angesichts des neuen Gegenvorschlags Bayerns virulent werden. Vgl. das Folgende. 87
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Um den schriftlichen Ausführungen Nachdruck zu verleihen, suchte der Nuntius den Kultusminister am 12. September persönlich auf. Wie Pacelli anschließend seinem Vorgesetzten berichtete, sei Matt von diesem Gespräch, in dem er noch einmal das umfassende Entgegenkommen Roms betont und im zentralen Punkt der Bischofseinsetzung das neue Zugeständnis als gewichtig herausgestellt habe, sehr zufrieden gewesen.297 Um konkrete Aussagen zur römischen Erwiderung machen zu können, wolle Matt allerdings erst mit den beteiligten Ministern und Abgeordneten sprechen. Mitte Oktober kamen sie zu einer Entscheidung, die einer zähneknirschenden Kapitulation gleichkam.298 Zwar erklärte Matt dem Nuntius im Namen der Regierung erneut, dass die Mitwirkung der Domkapitel in Form der Bischofswahl zum erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen vor Landtag und Öffentlichkeit notwendig sei. Das Zugeständnis an die bayerischen Kapitel, alle drei Jahre eine Kandidatenliste nach Rom senden zu dürfen, genügte ihrer Meinung nach nicht, um den zu erwartenden Widerstand gegen den Vertrag zu zerstreuen. Daran änderte für sie auch die neueste Ergänzung der „Spezialliste“ bei Eintritt der Sedisvakanz nichts.299 Dennoch sah man angesichts der klaren Grenzziehung auf kurialer Seite keine Möglichkeit mehr, die bisherigen Forderungen aufrecht zu erhalten: „Da im Übrigen der H[eilige] Stuhl bestimmt erklärt hat, sich seine volle Freiheit bei Besetzung der bischöflichen Stühle wahren zu müssen und die bayerische Staatsregierung das Zustandekommen eines neuen Konkordates mit dem H[eiligen] Stuhle, wie in den bisherigen Verhandlungen zum Ausdruck gekommen, sehnlichst wünscht, so glauben die beteiligten Staatsminister von einer weiteren Vertretung ihrer bisher gestellten Forderungen absehen zu müssen.“300
Für die sich daraus ergebende Gefährdung der Konkordatsverhandlungen übernehme die Staatsregierung aber keine Verantwortung. Um nun endlich zu einem erfolgreichen Abschluss zu gelangen, waren die Minister bereit, folgende Textversion des Artikels 14 § 1 vertraglich festzulegen: „Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem H[eiligen] Stuhl zu. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhles hat das beteiligte Kapitel eine Liste von für das bischöfliche Amt würdigen und für die erledigte Stelle geeigneten Kan-
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 12. September 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 243rv. Vgl. Matt an Pacelli vom 15. Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 131rv und Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ebd., Fol. 109r–112v. Immerhin glaubten die staatlichen Unterhändler in dieser speziellen Kapitelsliste einen Beleg dafür zu finden, dass der Heilige Stuhl den Vorschlägen der betreffenden Domkapitel ein besonderes Gewicht beimaß. Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 109v. 88
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didaten dem H[eiligen] Stuhle direkt zu unterbreiten. Dieser wird vor der Publikation der Bulle in offiziöser Weise mit der bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Schwierigkeiten politischer Natur nicht obwalten.“301
Aus diesem Wortlaut wurde allerdings nicht deutlich, welche Verbindlichkeit die Kapitelsliste für den Heiligen Stuhl besitzen sollte. Ebenfalls fehlte ein Hinweis auf die Triennallisten, die – wie Matt behauptete – nicht erwähnt zu werden bräuchten, da es sich bei ihnen um eine innerkirchliche Angelegenheit handle. Gleiches galt seiner Ansicht nach für die genauere Umschreibung der „Frist und Weise“, gemäß derer die Domkapitel des vakanten Bistums ihre „Spezialliste“ aufzustellen hätten. Mit der endgültigen Aufgabe des Kapitelswahlrechts beziehungsweise des analogen Modus der verbindlichen Zweierliste waren die staatlichen Verhandlungsführer sehr unzufrieden, wie Matt klarstellte. Sie befürchteten, dass in anderen deutschen Ländern und insbesondere in Preußen, „vielleicht nicht grundsätzlich, aber doch in einzelnen Fällen, auch künftighin die Kapitelswahl zur Besetzung eines erledigten Bischofsstuhles zugestanden“302 werde, wie es kürzlich noch in Köln und Trier geschehen sei. Damit stehe Bayern schlechter da als jene Länder, die mit dem Heiligen Stuhl kein Konkordat geschlossen hätten und daher seien Anschuldigungen, die Regierung habe die bayerischen Interessen zu wenig verteidigt, leicht vorhersehbar. Deshalb bat der Kultusminister ausdrücklich darum, dass dem Freistaat Bayern, „insolange die Möglichkeit besteht, dass einem anderen deutschen Lande das Wahlrecht der Kapitel zur Besetzung eines Bischofsstuhles zugestanden würde, die gleiche Begünstigung unter den nämlichen Bedingungen wie anderen Ländern zuteil würde“303. Er verlangte also eine Klausel im Konkordatstext, die eine grundsätzliche Änderung der Vereinbarung für den Fall zusicherte, dass in etwaigen künftigen Verträgen zwischen dem Heiligen Stuhl und einem deutschen Staat die Wahlkonzession vereinbart werden sollte.304 Diese ergänzende Klausel in Artikel 14 § 1 sollte folgende Form haben: „Insoweit und insolange anderen Ländern des Deutschen Reiches für die Besetzung von erzbischöflichen und
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Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 109v. Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 110r. Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 110r. Diese Klausel war eine Erfindung des bayerischen Gesandten Ritter, der sie dem Ministerpräsidenten in einem privaten Schreiben vorschlug. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 264v; Zedler, Bayern, S. 418. 89
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bischöflichen Stühlen Privilegien vom H[eiligen] Stuhle zugestanden werden können, wird Bayern das Recht der Meistbegünstigung gewährt.“305
Die ‚Meistbegünstigungsklausel‘ und ein nicht gegebenes Versprechen Dass Pacelli diesem Vorschlag, der eine klare Rechtsunsicherheit erzeugte, nichts abgewinnen konnte, überrascht nicht. Doch bevor er sich dazu äußerte, erwartete er den vollständigen Konkordatsgegenentwurf der Regierung, der ihn schließlich unter dem Datum des 6. November erreichte.306 Der erste Paragraph des 14. Artikels war – inklusive der ergänzenden Klausel – noch einmal geringfügig gegenüber dem Skript von Mitte Oktober geändert worden.307 Der Nuntius, der seinem Vorgesetzten am 7. November die Unterlagen übersandte, ging ausführlich auf die staatliche Replik zur Besetzungsfrage der bischöflichen Stühle ein und stellte zufrieden fest, dass die bayerische Regierung angesichts der „entschiedenen Haltung“308 des Heiligen Stuhls bereit sei, im Wesentlichen einzulenken. Zwar könne die staatliche Formel auf dem ersten Blick ungünstig erscheinen, weil die Triennallisten nicht erwähnt seien. Aber vor allem sei anzumerken, dass von keiner Verpflichtung
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Erklärung Matts zum römischen Konkordatsentwurf vom Oktober 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 110r. Vgl. Matt an Pacelli vom 6. November 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 108rv und bayerischer Konkordatsgegenentwurf vom November 1923 (ital./dt.), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 286r–293r. „§ 1. Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem H[eiligen] Stuhle zu. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhles hat das beteiligte Kapitel eine Liste von für das bischöfliche Amt würdigen und für die Leitung der erledigten Diözese geeigneten Kandidaten dem H[eiligen] Stuhle unmittelbar zu unterbreiten. Dieser wird vor der Publikation der Bulle in offiziöser Weise mit der Bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten. Insoweit und insolang in anderen Ländern des Deutschen Reiches vom H[eiligen] Stuhle Privilegien in Bezug auf die Besetzung der Erzbischöflichen und Bischöflichen Stühle zugestanden werden können, wird dem Staate Bayern das Recht der Meistbegünstigung gewährt.“ Bayerischer Konkordatsgegenentwurf vom November 1923 (ital./dt.), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 292v. In italienischer Übersetzung lautete der Text: „§ 1. La nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi spetta alla S. Sede. Verificandosi la vacanza di una Chiesa ard vescovile o vescovile il rispettive Capitolo deve sottoporre direttamente alla S. Sede una lista di candidati degni dellʼufficio episcopale ed idonei a reggere la vacante diocesi. Prima della pubblicazione della Bolla la S. Sede si assicurerà in via ufficiose presso il Governo Bavarese, che contro il candidato non vi sono obbiezioni di ordine politico. Se e fintantoché in altri Paesi del Reich germanico posano essere concessi dalla S. Sede privilegi riguardo alla provvista di Sedi arcivescovili o vescovili, viene accordato alla Baviera il diritto di trattamento del Paese pia favorite.“ Ebd., Fol. 292v. „… fermo atteggiamento …“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 263r–276v, hier 263r. 90
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des Heiligen Stuhls gesprochen werde, den neuen Bischof aus der eingereichten „Sedisvakanzliste“309 des Domkapitels zu ernennen. Diese Freiheit hielt Pacelli verständlicherweise für so wichtig, dass er sie mit aller Klarheit festhielt. Doch das war noch nicht das Entscheidende: Überhaupt könne der Papst nach dieser neuen Formel einen Geistlichen jenseits jeder Vorschlagsliste ernennen, sodass ihm faktisch eine größere Freiheit zuerkannt werde, als er sich mit seinem eigenen Entwurf des Artikels eigentlich vorbehalten habe. Für den Nuntius war die staatliche Aufgabe der päpstlichen Listenbindung eine ziemliche Überraschung. Pacelli machte Gasparri anschließend auf eine Verschiebung des Wortlauts in der politischen Klausel im Vergleich zum vorherigen bayerischen Entwurf vom Juli aufmerksam. Hieß es damals noch: „Dieser [sc. der Heilige Stuhl, R.H.] wird … sich versichern, ob gegen den Kandidaten etwa Bedenken politischer Art bestehen“310, so lautete die neue Fassung: „Dieser [sc. der Heilige Stuhl, R.H.] wird … sich versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten.“311 Diese Modifikation habe der Ministerialrat im bayerischen Kultusministerium, Franz Goldenberger, damit begründet, dass die erste Fassung den Heiligen Stuhl nicht verpflichte, den etwaigen Einwänden der Regierung gegen den ins Auge gefassten Kandidaten Rechnung zu tragen.312 Durch die neue Version sollte das korrigiert werden. Gasparri möge beurteilen – so Pacelli –, ob dieser Änderung stattgegeben werden könne. Wie bereits angesprochen ging der Nuntius auch auf den gänzlich neuen Passus des fraglichen Artikels ein, nämlich den Vorbehalt der Regierung, hinsichtlich des Wahlrechts nicht schlechter gestellt zu werden als die übrigen deutschen Länder. Pacelli brachte für dieses Anliegen durchaus Verständnis auf: Es wäre eine schwierige Situation für die Regierung und insbesondere den Kultusminister, wenn anderen deutschen Ländern das Bischofswahlrecht der Domkapitel zugestanden würde, während man selbst vergebens darum gebeten hätte, obwohl man als erstes nach
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Im Folgenden wird die bei Eintritt der Sedisvakanz vom entsprechenden Domkapitel anzufertigende Vorschlagsliste vom Verfasser „Sedisvakanzliste“ genannt. Konkordatsgegenentwurf und Bemerkungen der bayerischen Regierung vom Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 196v. Hervorhebungen R.H. Bayerischer Konkordatsgegenentwurf vom November 1923 (ital./dt.), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 292v. Hervorhebungen R.H. Wohl deshalb gefiel auch dem Münchener Erzbischof Faulhaber die erste Fassung vom Juli besser. Vgl. Faulhaber an Pacelli vom 8. November 1923, ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 136rv. Anzumerken ist freilich, dass die Verbindlichkeit der politischen Klausel des bayerischen Konkordats für den Heiligen Stuhl, obwohl der von staatlicher Seite verlangten Änderung stattgegeben werden sollte (vgl. das Folgende), in der nachfolgenden Kanonistik überwiegend negativ beantwortet wurde. Vgl. Kaiser, Klausel, S. 194–196; Link, Besetzung, S. 237–239; Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 115f. Jedoch zeigt Pacellis Berichterstattung eindeutig, dass man von Regierungsseite eine rechtliche Verbindlichkeit der eventuell gegen einen Kandidaten vorgebrachten politischen Bedenken anstrebte und offensichtlich davon ausging, dieselbe mit der zitierten Formulierung auch erreicht zu haben. 91
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
der Revolution bereit war, mit dem Heiligen Stuhl einen Vertrag zu schließen, der darüber hinaus für diesen noch offensichtliche Vorteile enthalte. Dennoch kam für den Nuntius eine solche Parenthese in den Konkordatstext nicht infrage und zwar aus mehreren Gründen: 1) Er begann damit, die grundsätzliche Linie, die der Heilige Stuhl nach der Revolution in Deutschland in Bezug auf die Besetzung der kirchlichen Ämter verfolgt habe, zu skizzieren: Anstatt sich zur theoretischen Frage nach der Fortgeltung der alten Konkordate zu äußern, habe Rom neue Verhandlungen initiiert. Da diese zwangsläufig einige Zeit in Anspruch nähmen, habe der Heilige Stuhl erlaubt, dass die Ämter zwischenzeitlich nach dem bisherigen jeweiligen Besetzungsmodus bestellt würden – sei es in einer generellen Anweisung, wie zum Beispiel hinsichtlich der Pfarreien in Bayern313 oder der Kanonikate in Preußen,314 sei es in einer Fall für Fall Entscheidung, wie bei den Kanonikaten in Bayern315 oder den Bischofswahlen durch die Domkapitel dort, wo sie bislang geltendes Recht gewesen seien.316 Letzteres sei der Unterschied zu Bayern, wo man sich vor über einem Jahrhundert konkordatär – also mit Einwilligung beider Seiten – vom Kapitelswahlrecht verabschiedet habe. Deshalb sei die Klage der Regierung – wie sie Matt in seinen Anmerkungen im Oktober formuliert hatte –, dass in der Übergangszeit bis zu einem neuen Konkordat manche preußische Diözesen via Kapitelswahl besetzt würden und Bayern dieses Recht gleichzeitig verwehrt werde, nicht gerechtfertigt. Abgesehen von der sachlichen Irregularität sei der – bereits genannte – hypothetische Charakter der Klausel in keiner Weise mit der Natur eines Konkordats, eine stabile Ordnung der Kirche und Staat betreffenden Materie zu schaffen, vereinbar.317 2) Das nächste Argument zielte darauf ab, dass die Vorbehaltsklausel gar nicht opportun war. Zwar habe Gasparri am 16. Mai versichert, dass der Heilige Stuhl künftig keinem deutschen Staat das Bischofswahlrecht mehr zugestehen werde.318 Doch prognostizierte Pacelli für den Fall, die in Rede stehende Klausel würde jetzt in das Konkordat aufgenommen, dass die Regierungen des 313 314 315 316
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Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Pacelli bei Hoffmann). Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.1 (Kuriales Taktieren). Vgl. Gasparri an Pacelli vom 19. Mai 1920, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 119r. Als konkrete Beispiele nannte Pacelli die Besetzungen der (erz-) bischöflichen Stühle von Köln 1919/20, Paderborn 1920, Trier 1921/22 und Freiburg 1920. Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel in dieser Studie. Vgl.: „Voler introdurre in questo punto così importante un nuovo sistema in linea ipotetica e provvisoria (Se e fintantoché) sembra veramente non convenire collo scopo che si propone la nuova solenne Convenzione fra la S. Sede e la Baviera, vale a dire di regolare i rapporti fra Chiesa e Stato in modo stabile e corrispondente alle mutate condizioni dei tempi.“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 265v. Es wurde bereits deutlich, dass Pacelli selbst sehr wohl davon ausging, dass das Kapitelswahlrecht in Preußen bestehen bleiben würde. An dieser Stelle ging es ihm aber nicht darum, diese Frage zu diskutieren, sondern lediglich darum, gegenüber Gasparri die „Meistbegünstigungsklausel“ als inopportun auszuweisen. 92
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Reichs und Preußens daraus eine mögliche Verhandlungsbereitschaft des Heiligen Stuhls in dieser Sache erschlössen: „Das würde naturgemäß den Widerstand – von dem vorherzusehen ist, dass er tatkräftig vorgetragen wird, besonders in Preußen – gegen die Unterdrückung der Kapitelswahl vermehren und fast ermutigen; umso mehr als diese starke Unterstützer im dortigen Episkopat, in den Domkapiteln und der Zentrumspartei hat.“319
Wenn Gasparri – wie sich Pacellis Argumentation auf den Punkt bringen lässt – die Klausel im Konkordatstext akzeptierte, war seine Absicht in Gefahr, das Bischofswahlrecht in ganz Deutschland auszuschalten. 3) Schließlich weitete Pacelli den Horizont noch mehr und konstatierte, dass ein Zugeständnis zu diesem Vorbehalt, und sei er auch nur hypothetisch, es für den Heiligen Stuhl erheblich erschweren könnte, ihn anderen katholischen Nationen zu verweigern.320 Auf diese universalkirchliche Relevanz des Bayernkonkordats hatte auch der Kardinalstaatssekretär im August schon aufmerksam gemacht. Inhaltlich unsachgemäß, einem Konkordat inkompatibel und ein negatives Präjudiz – das waren also die Einwände Pacellis gegen die „Meistbegünstigungsklausel“. Die leichteste Variante – so fuhr er fort –, das Ansinnen der Regierung zurückzuweisen, sei, wenn der Heilige Stuhl die genannte Erklärung abgebe, er werde keinem deutschen Staat das Kapitelswahlrecht mehr konzedieren, weder im Einzelfall noch als dauerhafte Regelung. Doch dann werde es dem Heiligen Stuhl
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„Ciò naturalmente aumenterebbe e quasi incoraggerebbe la resistenza, che è da prevedere verrà opposta con energia, massime nella Prussia, contro la soppressione dellʼelezione capitolare, tanto più che questa ha forti sostenitori nello stesso Episcopato, nei Capitoli e nel partito del Centro.“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 266r. Pacelli erinnerte an dieser Stelle an die (Erz-) Bischofsstühle von Gnesen-Posen und Kulm, die bis vor kurzem noch gemäß der preußischen Zirkumskriptionsbulle De salute animarum mittels Kapitelswahl besetzt worden waren. Dem machte dann aber das Dekret der Konsistorialkongregation Circa proponendos ad episcopale ministerium pro dioecesibus ritus latini in Polonia vom 20. August 1921 ein Ende. Vgl. AAS 13 (1921), S. 430–432 sowie dazu Gutiérrez, La interdicasterialidad; Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 80–86 und das seinerzeit von mir verfasste Schlagwort Nr. 17089 (Pacelli-Edition). Das Dekret etablierte für die Besetzung der Bischofsstühle des lateinischen Ritus im katholischen Polen ein auf den Episkopat beschränktes Triennallistenverfahren. Aus den dreijährigen Vorschlagslisten wählte der Heilige Stuhl künftig die neuen Diözesanbischöfe aus. Durch dieses Verfahren hatten die Domherren der beiden genannten (Erz-) Bistümer ihr Bischofswahlrecht also verloren. Was würde man dort wohl dazu sagen – so lassen sich Pacellis Überlegungen reproduzieren –, wenn in einem Konkordat mit dem katholischen Bayern eine Vorbehaltsklausel zugunsten eines etwaigen künftigen Bischofswahlrechts verankert würde? Eine analoge Forderung von polnischer Seite wäre vorprogrammiert. Dass diese Befürchtung nicht abwegig war, bezeugt auch der bayerische Gesandte Ritter, der sich bewusst war, dass „gerade jetzt verschiedene Länder, wie z. B. Polen, darauf lauern, was für Zugeständnisse der Heilige Stuhl Bayern macht, um dann das gleiche für ihre Konkordate zu verlangen“. Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 191. 93
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kaum noch möglich sein – angesichts der „Empfindlichkeit Bayerns“321 – mit der bislang praktizierten provisorischen Besetzungspolitik fortzufahren. Eine solche Erklärung seitens des Heiligen Stuhls hatte nach Pacelli also weitreichende Folgen für das Verhältnis zu den übrigen deutschen Ländern, vor allem natürlich zu Preußen: „In der gegenwärtigen ungewissen und unruhigen politischen Situation, die, sozusagen jeden Tag, die größten Überraschungen und die radikalsten Umstürze schaffen kann, ist es unmöglich, eine sichere Antwort zu geben. Jedoch kann man gleichwohl aus der Vergangenheit beurteilen, das heißt auf Basis der bisher von der preußischen Regierung eingenommenen Position, dass zu erwarten ist, dass sie bei dieser Sache reagieren würde wie gegen eine Verletzung der Bestimmungen der vereinbarten Bulle. Die Regierung könnte auch so weit gehen, zu behaupten, dass, wie der Heilige Stuhl zuerst die fraglichen Bestimmungen verletzt hat, sich entsprechend auch der Staat von seinen damit verbundenen Verpflichtungen für befreit hält, nämlich von den finanziellen Leistungen an die Kirche …“322
Das Dilemma war also Folgendes: Bei Abgabe der Erklärung an die bayerische Regierung durfte man in Preußen keine provisorische Bischofswahl mehr durchführen, während man diese gleichzeitig durchführen musste, um nicht Gefahr zu laufen, von preußischer Seite des Vertragsbruchs bezichtigt zu werden und dadurch die Finanzleistungen einzubüßen.323 Pacelli konzedierte zwar, dass die Kirche mit vollem Recht die Argumentation Preußens widerlegen könne, da die staatlichen Zahlungen nicht den Gegenwert für das Bischofswahlrecht der Domkapitel bilden würden, sondern als Entschädigung für den kirchlichen Güterverlust in der Säkularisation zu verstehen 321
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„… suscettibilità della Baviera …“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 266v. „Nella presente incertissima ed agitata situazione politica, la quale può produrre, ai può dire ogni giorno, le più gravi sorprese ed i più radicali cambiamenti, è impossibile di dare una sicura risposta. Per quanto tuttavia può giudicarsi dal passato, ossia in base alla posizione presa sinora dal Governo prussiano, è da attendersi che esso reagirebbe in tale argomento contro una inosservanza delle disposizioni delle Bolle concordate. Il Governo potrebbe anche giungere ad affermare che, come la S. Sede ha per prima violato le disposizioni in discorso, così lo Stato si ritiene anchʼesso svincolato dagli obblighi correlativi, vale a dire dalle prestazioni finanziarie alla Chiesa …“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 266v. Um die Realität der Gefahr zu untermauen, dass die preußische Regierung ihre finanziellen Leistungen grundsätzlich oder zumindest die fakultativen Beträge einstellen könnte, verwies Pacelli zum einen auf eine entsprechende Androhung, die der preußische Kultusminister, Otto von Boelitz, am 28. April 1922 der Nuntiatur zugehen ließ. Vgl. dazu die Darstellung im Rahmen der Preußenkonkordatsverhandlungen Bd. 1, Exkurs II (Die preußischen Vorstellungen zur Besetzung der Bischofsstühle und Bertrams Stellungnahme). Zum anderen führte Pacelli eine Bemerkung des Staatssekretärs im preußischen Kultusministerium, Carl Heinrich Becker, vom 18. Oktober desselben Jahres an. Dieser hatte in aller Deutlichkeit klargestellt: „Wenn die abzuändernden Bestimmungen der vor rund 100 Jahren vereinbarten Bullen im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl abgeändert werden, so wird auch darüber Einvernehmen herrschen müssen, dass die nicht abgeänderten Bestimmungen in Geltung sind. Eine solche Klarstellung liegt im Interesse der katholischen Kirche, die in Preußen Angriffen und Erschwerungen – besonders fi94
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seien. Doch sei der Widerstand der deutschen Staatsregierungen – auch der bayerischen wie die Verhandlungen bisher gezeigt hätten – gegen diese Auffassung hinlänglich bekannt. Gewiss wage die preußische Regierung momentan nicht, dem Klerus feindlich zu begegnen, weil sie fürchte, das katholische Rheinland zu verlieren.324 Aber wer könne schon sagen, wie die Situation morgen aussehe? Abgesehen davon würden die preußischen Oberhirten – „wenngleich sie nicht immer die eigenen Rechte gegenüber dem Staat vertreten haben“325 – die Zirkumskriptionsbulle De salute animarum als soliden Rückhalt betrachten, sodass es ihrer Ansicht nach inopportun sei, die Fortgeltung nach der WRV anzuzweifeln. Die leichteste Variante, um die staatliche Vorbehaltsklausel abzuwehren, war für Pacelli aufgrund der dadurch in Preußen zu erwartenden Probleme also keine reale Option. Dass er hier so ausführlich gegen die Zusicherung an den bayerischen Staat, man werde das Kapitelswahlrecht keinem anderen deutschen Land mehr erlauben, argumentierte, hatte seinen offensichtlichen Grund darin, dass es sich bei diesem Versprechen um die Absicht Gasparris und der AES handelte. Er musste davon ausgehen, dass die römische Reaktion auf die „Meistbegünstigungsklausel“ in genau dieser Zusicherung bestehen würde, da er schon früher den Auftrag erhalten hatte, sie offiziell abzugeben, wobei er jetzt implizit notgedrungen gestehen musste, diese Anweisung bislang nicht ausgeführt zu haben. Als Alternative präsentierte er eine andere Lösung, die ein klares „Nein“ und nur eine unbestimmte Zusicherung beinhaltete: „In Abwägung von all dem scheint es, unbeschadet besseren Urteils, angemessen, die fragliche Ergänzung in der Antwort an die bayerische Regierung nicht zu akzeptieren, wobei man die Gründe darlegt, die es dem Heiligen Stuhl verbieten, solch einem Wunsch zuzustimmen und vielleicht im Allgemeinen hinzufügt, zum Beispiel, dass er es dennoch nicht versäumen wird, in dieser Angelegenheit provisorisch die heikle Lage auf größtmögliche Weise zu berücksichtigen, in der sich Bayern im Gegensatz zu den anderen deutschen Ländern befinden könnte.“326
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nanzieller Natur – ausgesetzt sein würde, wenn diese von Preußen als fortbestehend behandelten Vereinbarungen nicht mehr als fortgeltend anerkannt würden.“ Mündlich geäußerte Gesichtspunkte Beckers ohne Datum [18. Oktober 1922] (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1921–1925, Pos. 507 P.O., Fasz. 17, Fol. 53r–56r (nur r), hier 53r. Pacelli spielte hier auf die separatistischen Bestrebungen in Westdeutschland an. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in den Fällen Mainz 1920/21 und Trier 1921/22. „… sebbene non abbiano sempre fatto valere pienamente di fronte allo Stato i propri diritti …“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 267v. „In considerazione di tutto ciò, sembrerebbe, salvo meliori iudicio, conveniente di non accettare nella risposta da darsi al Governo bavarese lʼaggiunta in discorso, esponendo le ragioni che impediscono alla S. Sede di accedere a tale desiderio, e soggiungendo forse, ad esempio, in generale che Essa non mancherà tuttavia in questa materia di tenere provvisoriamente nel maggior conto possibile la deli95
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Neue Modifikation durch den Heiligen Stuhl: keine Listenbindung und Gasparri contra Pacelli Der Kardinalstaatssekretär erörterte den staatlichen Gegenentwurf im Lichte von Pacellis Berichterstattung mit Papst Pius XI., bevor er Mitte Dezember dem Nuntius die Antwort des Heiligen Stuhls als neue Verhandlungsposition zukommen ließ.327 Artikel 14 § 1 erhielt folgende Gestalt: „In der Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe hat der Heilige Stuhl volle Freiheit. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Sitzes wird das beteiligte Kapitel dem Heiligen Stuhl unmittelbar eine Liste von Kandidaten unterbreiten, die für das bischöfliche Amt würdig und für die Leitung der erledigten Diözese geeignet sind. Diese Liste zusammen mit den vom bayerischen Episkopat eingereichten wird sich der Heilige Stuhl bei der Auswahl der Person gegenwärtig halten. Vor der Publikation der Bulle wird Er in offiziöser Weise mit der bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten.“328
Zwei Änderungen am staatlichen Entwurf329 betrafen nur Nuancen, die Gasparri für nicht bedeutend hielt und daher nicht kommentierte: Zur offensichtlichen Betonung der Vollmacht des Heiligen Stuhls wurde die Wendung „volle Freiheit“ neu eingefügt. Außerdem wurde die Freiheit der Kurie auf indirektem Wege gestärkt durch die Substitution des Terminus: „das beteiligte Kapitel hat
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cata posizione, in cui potrebbe venirsi a trovare la Baviera di fronte agli altri Paesi germanici.“ Pacelli an Gasparri vom 7. November 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 267v–268r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 16. Dezember 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 664r–674r (nur r). „La nomina degli Arcivescovi e dei Vescovi spetta in tutta libertà alla Santa Sede. Verificandosi la vacanza di una chiesa arcivescovile o vescovile, il rispettivo capitolo sottoporrà direttamente alla Santa Sede una lista di candidati degni dellʼufficio episcopale e idonei a reggere la vacante diocesi. Nel procedere alla scelta della persona, la Santa Sede non mancherà di tener presente tale lista insieme a quelle inviate dallʼepiscopato bavarese. Prima della pubblicazione della Bolla la Santa Sede si assicurerà in via ufficiosa presso il governo bavarese che contro il candidato non vi sono obbiezioni di ordine politico.“ Gasparri an Pacelli vom 16. Dezember 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 668r–669r. Hervorhebungen im Original. Die zitierte deutsche Übersetzung ist die Fassung, die Pacelli anfertigte und zur Approbation Piusʼ XI. noch einmal nach Rom sandte, bevor er sie der bayerischen Regierung vorlegte. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 23. Dezember 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 341rv und Gasparri an Pacelli vom 28. Dezember 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 342r. Zur Erinnerung, die letzte Fassung der bayerischen Regierung hieß: „§ 1. Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht dem H[eiligen] Stuhle zu. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhles hat das beteiligte Kapitel eine Liste von für das bischöfliche Amt würdigen und für die Leitung der erledigten Diözese geeigneten Kandidaten dem H[eiligen] Stuhle unmittelbar zu unterbreiten. Dieser wird vor der Publikation der Bulle in offiziöser Weise mit der Bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politi96
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[im Italienischen „deve“, R.H.] dem Heiligen Stuhl … eine Liste von Kandidaten zu unterbreiten“ mit „wird das beteiligte Kapitel … unterbreiten“, insofern damit der Verpflichtungscharakter der Beteiligung des Domkapitels abgeschwächt wurde. Wichtiger war dem Kardinalstaatssekretär der Rekurs auf die übrigen Vorschlagslisten, die im staatlichen Entwurf nicht genannt waren. Für ihn war einleuchtend, dass man im Konkordat nicht die Beteiligung der Domkapitel erwähnen konnte, wenn man die Rolle der Bischöfe gleichzeitig aussparte: „Die Öffentlichkeit, welche die Verhandlungen nicht kennt, könnte – gemäß der Strenge der im Regierungsartikel enthaltenen Rahmenbedingungen und gemäß den geheimen Erklärungen, die man eventuell erzielen könnte – aus der Nichterwähnung der bischöflichen Listen leicht den Schluss ziehen, dass der Heilige Stuhl bei der Auswahl der Person des Bischofs an die Liste des Kapitels gebunden sei, und dies könnte für das Verhältnis gegenüber anderen Staaten einen gefährlichen Präzedenzfall bilden.“330
Im Gegenteil erklärte Gasparri, dass die von der Regierungsseite angeführte Begründung, die Triennallisten der Bischöfe müssten im Konkordat nicht erwähnt werden, weil es sich dabei um eine interne kirchliche Angelegenheit handle, genauso auf die Vorschlagslisten der Domkapitel zutreffe und damit überhaupt keinen Sinn ergebe. Auch könne sich die Regierung nicht auf politische Gründe oder parlamentarische Taktiken berufen, weil man doch nicht von der Hand weisen könne, dass die Kirche höhere Beweggründe habe, die es ihr nicht erlauben würden, bei der Wahl der Bischöfe die Stimme der Domkapitel im Konkordatstext zu verankern und jene der bayerischen Bischöfe zu verschweigen. Überhaupt sei es völlig unverständlich, warum die Regierung Letzteres so hartnäckig intendiere, zumal das Konkordat bei der Ernennung der Bischöfe dem Staat die weitgehendsten Garantien biete. Hinsichtlich der Kandidatenlisten sind noch zwei Beobachtungen anzumerken, die Gasparri selbst nicht thematisierte. Zum einen kannte die aktuelle Formel anders als der vorangegangene römische Konkordatsentwurf keine Triennallisten der bayerischen Domkapitel, sondern ledig-
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scher Natur nicht obwalten. Insoweit und insolang in anderen Ländern des Deutschen Reiches vom H[eiligen] Stuhle Privilegien in Bezug auf die Besetzung der Erzbischöflichen und Bischöflichen Stühle zugestanden werden können, wird dem Staate Bayern das Recht der Meistbegünstigung gewährt.“ Bayerischer Konkordatsgegenentwurf vom November 1923 (ital./dt.), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 292v. „Tanto più che, per quanto, secondo il rigore dei termini contenuti nellʼarticolo governativo e secondo le dichiarazioni segrete che potrebbero eventualmente ottenersi, non vengano escluse le liste vescovili, tuttavia, al pubblico che ignora le trattative corse, questo articolo sembrerebbe vincolare la Santa Sede a scegliere il vescovo dalla lista del capitolo, e ciò potrebbe costituire un precedente molto pericoloso per altri Stati.“ Gasparri an Pacelli vom 16. Dezember 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 669r. Die deutsche Übersetzung lehnt sich an die Pacellis für den bayerischen Kultusminister an. Vgl. Pacelli an Matt vom 29. Dezember 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 127r–128v, hier 128r. 97
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lich die Sedisvakanzliste des einen Domkapitels plus die dreijährigen Listen des Episkopats. Diese Regelung lag auf einer Linie mit der eben skizzierten Absicht, die Rolle der Bischöfe gegenüber jener der Domkapitulare zu stärken. Da der staatliche Entwurf außerdem überhaupt keine Triennalliste erwähnte, war es streng genommen kein Herausstreichen der Kapitelslisten, sondern lediglich keine Ergänzung derselben. Als entscheidend muss der zweite Punkt eingestuft werden, der die Verbindlichkeit der Vorschlagslisten betrifft: Die Formulierung, der Heilige Stuhl werde sich diese „bei der Auswahl der Person gegenwärtig halten“, implizierte klar, dass die päpstliche Nomination nicht an die eingereichten Vorschläge gebunden war. Die von Gasparri diagnostizierte Absicht der Regierung, das Thema der Verbindlichkeit der „Spezialliste“ des Domkapitels bewusst offen zu lassen, um dadurch den Anschein zu erwecken, der Heilige Stuhl sei an diese eine Liste gebunden, erwies sich als Fehler. Entsprechend Pacellis vorhergehender Textanalyse hatten ihn Papst und Staatssekretär umgehend ausgenutzt, um eine generelle Unverbindlichkeit aller Vorschlagslisten festzuschreiben und die römische Freiheit dadurch entscheidend zu stärken. Was beim neuen Entwurf des Artikels außerdem völlig fehlte, war die „Meistbegünstigungsklausel“ und zwar – wie der Kardinalstaatssekretär darlegte – aus denselben Gründen, die Pacelli bereits ausführlich analysiert hatte. Mit Gasparris Anordnung indes, wie man auf diese staatliche Forderung reagieren sollte, konnte der Nuntius nicht zufrieden sein: Zwar habe der Heilige Stuhl nach der Promulgation der WRV bisweilen die vorherige Praxis und damit die Bischofswahl durch die Domkapitel in Gebrauch gelassen, aber stets mit dem Ausschluss eines Präjudizʼ für die Neuregelung. Tatsächlich beabsichtige der Heilige Stuhl, in keinem neuen Konkordat ein Bischofswahlrecht mehr zuzulassen. Diese Versicherung sollte Pacelli den staatlichen Verhandlungsführern offiziell und schriftlich geben. Doch erlaubte Gasparri – falls Pacelli es für nötig erachte, „um besser jeden Widerstand zu entwaffnen“ –, folgende Formel zu ergänzen, die Pacellis Vorschlag aufgriff: „… dass der Heilige Stuhl in eventuellen künftigen Vereinbarungen nicht verfehlen wird, in dieser Sache die Lage, in der sich Bayern im Vergleich zu den anderen Ländern des deutschen Reiches befindet, zu berücksichtigen.“331 Gasparri glaubte nicht, dass die bayerische Regierung eine solche Erklärung als ungenügend einstufen werde, welcher der Heilige Stuhl immerhin denselben Wert wie einem vereinbarten Artikel beimesse. Der Nuntius hatte es also nicht geschafft, seinen Vorgesetzten von der Inopportunität dieses Versprechens zu überzeugen.
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„… per meglio disarmare ogni opposizione … ‚che la Santa Sede negli lʼeventuali futuri accordi non mancherà di tener conto, in questa materia, della posizione in cui verrebbe a trovarsi la Baviera in confronto di altri Stato germanici.‘“ Gasparri an Pacelli vom 16. Dezember 1923, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 671r. 98
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Der endgültige Modus der bayerischen Bischofseinsetzungen Die Konkordatsverhandlungen gingen nun in das fünfte Jahr. Kurz vor Jahresende 1923 präsentierte Pacelli sowohl dem Kultusminister als auch dem Ministerpräsidenten die neue Fassung des 14. Artikels und fügte weisungsgetreu Gasparris Ausführungen zur Listenproblematik und zur Frage nach der Vorbehaltsklausel praktisch wörtlich bei.332 Über Letztgenannte schrieb er: „Hat Er [sc. der Heilige Stuhl, R.H.] auch in einzelnen Fällen gestattet, dass die Besetzung der Bischofsstühle mehr oder weniger nach der bisherigen Praxis erfolge, so hat Er doch jedesmal ausdrücklich erklärt, dass diese vereinzelten Konzessionen keinen Präzedenzfall für die Zukunft bilden dürften. Er erklärt auch nochmals, dass Er in neuen Vereinbarungen keinem Staate das Privileg der Bischofswahl durch die Kapitel in irgendeiner Form zugestehen werde.333 Beim Abschluss künftiger Vereinbarungen wird der Heilige Stuhl nicht verfehlen, in diesem Punkte die Lage, in der sich Bayern im Vergleich zu anderen Ländern des deutschen Reiches befindet, zu berücksichtigen.“334
Damit gab Pacelli also nach und leistete die Zusicherung, der er inhaltlich nicht zustimmte und die er auch formal für inopportun hielt. Die angehängte Formel, die der Nuntius der Regierung ursprünglich anstatt des konkreten Versprechens selbst vorlegen wollte, war in dieser Kombination eigentlich überflüssig. Beide Sätze stehen unverbunden nebeneinander und sind damit gewissermaßen Sinnbild für das Verhältnis von Gasparri und Pacelli in dieser Sache. Allerdings erreichte die Zusicherung ihren Zweck: Die „Meistbegünstigungsklausel“ war in den letzten Verhandlungen kein Thema mehr. Nachdem er die Schreiben an Matt und Knilling auf den Weg gebracht hatte, reiste Pacelli in die Reichshauptstadt, um seinen diplomatischen Verpflichtungen bei den politischen Neujahrsfeierlichkeiten nachzukommen. Als er am Morgen des 11. Januar 1924 nach München zurückkehrte, suchte er umgehend den Kultusminister auf, um dessen Einschätzung zum neuen römischen
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Vgl. Pacelli an Matt vom 29. Dezember 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 127r–128v und Pacelli an Knilling vom 29. Dezember 1923 (Entwurf), ebd., Fol. 126r. Da Pacelli diese Zusicherung schriftlich noch nicht gegeben hatte, wie seine Kontroverse mit Gasparri klar belegt, konnte sich das Adverb „nochmals“ entweder nur auf die mündlichen Verhandlungen beziehen oder aber es sollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass es sich hier nicht etwa um eine neue und strapazierfähige Meinung des Heiligen Stuhls handeln würde. Im Gegenteil sorgte das Adverb dafür, dass der Wert der jetzt getätigten Zusage eher gemindert wurde und sein – vom Kardinalstaatssekretär gewünschter – offizieller Charakter weniger sichtbar war. Sollte Pacelli Letzteres bei dieser Formel beabsichtigt haben, war es ein letzter und sprachlich sehr geschickter Versuch, dem von ihm als falsch angesehenen Versprechen die Kraft zu nehmen. Pacelli an Matt vom 29. Dezember 1923 (Entwurf), ASV, ANM 400, Fasz. 3, Fol. 128r-v. Hervorhebung R.H. 99
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Modus der Bischofseinsetzung zu hören.335 Matt bekundete, dass nunmehr nur noch eine einzige Schwierigkeit in Artikel 14 § 1 verblieben sei, die es zu überwinden gelte. Er glaubte, in der neuen Textfassung einen Rückschritt auszumachen im Vergleich zur vorherigen römischen Formel vom 16. Mai 1923. Konkret ging es ihm um Folgendes: Im letztgenannten Entwurf sei – wie Pacelli nach Rom berichtete – bestimmt worden, dass „der Heilige Stuhl, um Bayern einen besonderen Beweis seines Wohlwollens zu geben, bereit ist als höchstes Zugeständnis, den bayerischen Domkapiteln zu erlauben, dass sie alle drei Jahre dem Heiligen Stuhl direkt eine Liste von Kandidaten übersenden, die sie für das Bischofsamt geeignet halten, unter denen – wie auch unter jenen, welche die Bischöfe vorgeschlagen haben – der Heilige Stuhl sich freie Auswahl vorbehält.“336
Die hier ausgesprochene Verbindlichkeit der Vorschlagslisten für den Heiligen Stuhl sah man auf staatlicher Seite in der neuesten Textvariante vom Dezember nicht mehr gegeben, die davon spreche, „dass ‚der Heilige Stuhl diese Liste zusammen mit den vom bayerischen Episkopat eingereichten gegenwärtig halten wird‘, in der Weise, dass die Ernennung, welche gemäß der neuen Hinzufügung zum ersten Abschnitt ‚in voller Freiheit‘ dem Heiligen Stuhl zusteht, entgegen dem oben genannten ursprünglichen Vorschlag auch auf eine Person fallen könnte, die nicht in irgendeiner Liste enthalten ist.“337
Ob Nuntius und Kultusminister auch darüber diskutierten, dass die Wurzel für diese neu reklamierte Freiheit des Heiligen Stuhls im Entwurf der Regierung begründet lag, geht aus Pacellis Berichterstattung nicht hervor. Matt verlangte jedenfalls die Rückkehr zur alten Formel. Außerdem habe der Kultusminister festgestellt, dass die Regierung nicht kontrollieren könne, ob der von Rom ernannte Bischof tatsächlich auf einer der eingereichten Vorschlagslisten stand. Deshalb sollte der Heilige Stuhl diesbezüglich eine Zusicherung geben.
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 11. Januar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 4r–5r. „… la S. Sede, per dare una nuova prova di benevolenza alla Baviera, è disposta ad accordare come massima concessione ai Capitoli Bavaresi che ogni tre anni inviino direttamente alla S Sede una lista di candidati, che essi giudichino atti allʼEpiscopato, tra i quali – come pure tra quelli suggeriti dai Vescovi – la S. Sede si riserva libera scelta.“ Pacelli an Gasparri vom 11. Januar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 4v. Hervorhebung im Original. „… che ‚la S. Sede non mancherà di tener presente tale lista insieme a quelle inviate dallʼEpiscopato bavarese‘, di guisa che la nomina, la quale, secondo la nuova aggiunta al primo periodo, spetterebbe ‚in tutta libertà‘ alla S. Sede medesima, potrebbe cadere, contrariamente alla surriferita primitiva proposta, anche su di un soggetto non compreso in alcuna lista.“ Pacelli an Gasparri vom 11. Januar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 4v. Hervorhebungen im Original. 100
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Weil Matt angesichts bevorstehender Landtagswahlen möglichst schnell zur parlamentarischen Abstimmung über den Kirchenvertrag schreiten wollte,338 erbat Pacelli von Gasparri abschließend eine telegraphische Antwort, ob die monierte Textänderung wieder rückgängig gemacht werden sollte. Pius XI., dem Gasparri dieses Anliegen in einer Audienz am 17. Januar vortrug, war einverstanden.339 Die neue Fassung, die der Kardinalstaatssekretär noch am selben Tag via Telegramm nach München sandte, sah vor, dem zweiten Satz der Fassung vom Dezember 1923: „Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Sitzes wird das beteiligte Kapitel dem Heiligen Stuhl unmittelbar eine Liste von Kandidaten unterbreiten, die für das bischöfliche Amt würdig und für die Leitung der erledigten Diözese geeignet sind“, eine Wendung anzufügen, die sich deutlich der Maiversion von 1923 anlehnte: „… unter diesen, wie auch unter den von den bayerischen Bischöfen und Domkapiteln in den entsprechenden Triennallisten vorgeschlagenen, sich der Heilige Stuhl die Wahl vorbehält.“340 Dem folgte schließlich der Satz über die politische Klausel.341 Damit war zum einen die Listenbindung der päpstlichen Ernennung sichergestellt. Zum anderen wurden wie schon in der Version vom August 1923 alle drei Formen der Kandidatenlisten, die im Besetzungsprozess eine Rolle spielen sollten, genannt. Dennoch war die Regierung mit der neuen Version, über die Pacelli sie am 19. Januar in Kenntnis setzte, nicht völlig zufrieden, weil sie laut Matt „den Absichten der Bayerischen Staatsregierung weniger entspricht als die vorher vom H[eiligen] Stuhle selbst vorgeschlagene Fassung, da deren Vertretung im Landtage für die Staatsregierung günstiger gewesen wäre“342. Hier 338
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Für den 6. April 1924 waren die nächsten bayerischen Landtagswahlen angesetzt. Damit die Verhandlungen nicht durch mögliche politische Kräfteverschiebungen gefährdet werden konnten, drängte es alle Beteiligten, die an einem erfolgreichen Abschluss interessiert waren, zur Eile. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 785f. Dies geht aus einer handschriftlichen Notiz auf dem ersten Blatt von Pacellis Nuntiaturbericht hervor. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 11. Januar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 4r. „… tra i quali, come pure tra quelli suggerite dai Vescovi e dai Capitoli bavaresi, nelle rispettive liste triennali, la Santa Sede si riserva scelta.“ Gasparri an Pacelli vom 17. Januar 1924, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 709r. Zur Sicherheit übersandte der Kardinalstaatssekretär dem Nuntius am gleichen Tag ein ausführlicheres zweites Schreiben, in dem er den kompletten ersten Paragraphen des 14. Artikels in seiner bis dahin letzten Form abdruckte: „La nomina degli arcivescovi e dei vescovi spetta in tutta libertà alla Santa Sede. Verificandosi la vacanza di una chiesa arcivescovile o vescovile il rispettivo Capitolo sottoporrà direttamente alla Santa Sede una lista di candidati degni dellʼufficio episcopale e idonei a reggere la vacante diocesi, tra i quali, come pure tra quelli suggeriti dai vescovi e dai capitoli bavaresi, nelle rispettive liste triennali, la Santa Sede si riserva libera scelta. Prima della pubblicazione della bolla, la Santa Sede si assicurerà in via ufficiosa presso il Governo bavarese che contro il candidato non vi sono obbiezioni di ordine politico.“ Gasparri an Pacelli vom 17. Januar 1924, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 710r. Matt an Pacelli vom 31. Januar 1924 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 18r–21r, hier 19v. 101
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
spielte der Kultusminister offensichtlich auf die römische Textergänzung vom August 1923 an, welche die Sedisvakanzliste des Domkapitels in ihrer Relevanz deutlicher hervorgehoben hatte als die neuen Versionen. Aber wohl weil die Unterschiede der beiden Textversionen eher Kosmetik als inhaltlich bedeutsam waren, akzeptierte die Regierung die neue Fassung, was Gasparri „mit Genugtuung“343 zur Kenntnis nahm. In dem Entwurf der bis hierhin noch strittigen Konkordatsartikel, den der Kultusminister dem Nuntius am 31. Januar 1924 vorlegte, war endlich die definitive Formel gefunden, die am 29. März des Jahres von beiden Seiten unterzeichnet wurde: „In der Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe hat der H[eilige] Stuhl volle Freiheit. Bei Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Sitzes wird das beteiligte Kapitel dem H[eiligen] Stuhle unmittelbar eine Liste von Kandidaten unterbreiten, die für das bischöfliche Amt würdig und für die Leitung der erledigten Diözese geeignet sind; unter diesen wie auch unter den von den bayerischen Bischöfen und Kapiteln je in ihren entsprechenden Triennallisten Bezeichneten behält sich der H[eilige] Stuhl freie Auswahl vor. Vor der Publikation der Bulle wird dieser in offiziöser Weise mit der Bayerischen Regierung in Verbindung treten, um sich zu versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten.“344
Widerstand und Annahme des neuen Konkordats Wie erwartet schlug dem Kirchenvertrag in der Öffentlichkeit und bei den Oppositionsparteien im bayerischen Parlament heftiger Widerstand entgegen.345 Die Kritik letzterer konnte Pacelli gut verstehen – wie er am Jahresende an Gasparri schrieb –, denn für die SPD, KPD, die völkischen Parteien und so weiter stürze mit dem Konkordat ihr komplettes liberales und sozialistisches Schulkonzept ein.346 Schlimmer sei aber, dass die Fraktion der DNVP, die ursprünglich ihre – notwendige – Zustimmung zum Konkordatsprojekt versprochen habe, anfange zu zaudern und restriktive Änderungen am Text zu verlangen, die für Pacelli völlig außer Frage standen. Die parlamentarische Hürde des Vertrags musste erst noch genommen werden und schien keinesfalls 343
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Vgl.: „Allʼart. XIV la Santa Sede vede con piacere che il Governo accetta la nuova redazione del paragrafo I° …“ Gasparri an Pacelli vom 7. Februar 1924, ASV, ANM 398, Fasz. unico, Fol. 716r–717r, hier 716v. Hervorhebung im Original. Matt an Pacelli vom 31. Januar 1924 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 19v–20r. Vgl. Art. 14 § 1 des bayerischen Konkordats von 1924, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 304f. Vgl. Deuerlein, Reichskonkordat, S. 48–52; Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 913f. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 29. Dezember 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 98r–109v. 102
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
ein Selbstläufer zu werden. Die Reihe der Gegner war sogar noch größer. Aus Pacellis Charakterisierung dieser Gruppe lässt sich deutlich seine Sorge heraushören, dass der Kirchenvertrag kurz vor dem Ziel noch scheitern könnte: „Für die fanatischen Protestanten, die zum ‚Evangelischen Bund‘ gehören, ist der Hass gegen die katholische Kirche und vor allem gegen Rom derart, dass sie es vorziehen, lieber ihre eigenen Interessen zu opfern, als Ihr Vorteile zuzugestehen.347 Einer der ‚Hohen Tiere‘ der sogenannten evangelischen Kirche, der Herr [Wilhelm, R.H.] Baron von Pechmann, der auch als moderater Mann gilt, hat dem Herrn Kultusminister bezüglich des Konkordats gesagt (wie dieser mir wiederholt hat), dass die Macht Roms wieder so groß sei wie zu den Zeiten Innozenzʼ III. und Bonifazʼ VIII.; das schürt natürlich Schatten und Misstrauen bei den Protestanten. Mit der akribischen Pedanterie, die den Deutschen eigentümlich ist, zugespitzt mit einer antikatholischen Leidenschaft, ist der Text des Konkordats seziert, analysiert, in jedem seiner Glieder und jeder seiner Fasern untersucht worden, um Material zum Widerstand zu finden; die vorgebrachten ausgeklügelten Interpretationen sind übertrieben oder unfundiert … Die liberalen Meister des Bayerischen Lehrervereins haben mit polternden Versammlungen und heftigen Tagesordnungen die öffentliche Meinung aufgepeitscht; die Professoren der Universitäten haben dem Kampf das Gewicht ihrer angeblichen Wissenschaft beigefügt. Die Situation ist allmählich extrem kritisch geworden …“348
Bestätigt fühlen konnte sich der Nuntius allerdings bei seiner Beobachtung, dass bei aller intensiven Kritik am Konkordat jedoch von niemandem das Bischofswahlrecht der Domkapitel eingefordert worden sei, obwohl man dieses während der Verhandlungen mehrfach als wesentlich für die Annahme des Vertrags im Landtag deklariert habe. Bekanntlich konnte schließlich die notwendige Mehrheit im bayerischen Parlament für das Konkordat gewonnen werden, gerade da-
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Pacelli spielte hier auf die Kundgebung der außerordentlichen Versammlung des „Evangelischen Bundes“ vom 10. Dezember 1924 in Nürnberg an. Vgl. „Kundgebung des Ev. Bundes in Bayern gegen das Konkordat“ sowie „Geheimrat D. Freiherr von Pechmann zum Konkordat“, in: „Deutsch-Evangelische Korrespondenz“ 23, Nr. 44 vom 16. Dezember 1924, S. 1f. Vgl. zum „Evangelischen Bund“ auch Bd. 3, Kap. II.3.3 Anm. 1517. „Per i protestanti fanatici aderenti alla ‚Lega evangelica‘ lʼodio contro la Chiesa cattolica, e soprattutto contro Roma, è tale che preferiscono di sacrificare i loro propri interessi piuttosto che di accordare ad Essa vantaggi. Uno dei gros bonnets della Chiesa cosidetta evangelica, il Sig. Barone v. Pechmann, il quale pure passa per uomo moderato, ha detto al Sig. Ministro del Culto (come questi mi ha ripetuto) a proposito del Concordato che la Potenza di Roma è tornata ad essere così grande come ai tempi di Innocenzo III e di Bonifazio VIII; il che naturalmente fa ombra e sospetto ai protestanti. Colla pedanteria minuziosa, propria dei tedeschi, acuita dalla passione anticattolica, il testo del Concordato è stato vivisezionato, analizzato, scrutato in ogni suo membro ed in ogni sua fibra, per trovare materia ad obbiezioni; si sono date interpretazioni artificiosamente esagerate od infondate … I maestri liberali appartenenti al Bayerischer Lehrerverein con rumorose assemblee e veementi ordini del giorno hanno eccitato la pubblica opinione; professori di Università hanno aggiunto alla lotta il peso della loro pretesa scienza. La situazione si è fatta man mano estremamente critica …“ Pacelli an Gasparri vom 29. Dezember 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1928, Pos. 72, Vol. IV, Fol. 98v–99r. Hervorhebungen im Original. 103
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durch, dass es gemeinsam mit den Verträgen zwischen Bayern und der evangelisch-lutherischen Kirche sowie der pfälzischen Landeskirche zum Staatsgesetz erhoben wurde.
Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens Nachdem am 15. Januar 1925 das Mantelgesetz mit dem neuen Konkordat vom bayerischen Parlament verabschiedet worden war,349 beauftragte Gasparri den Nuntius bei einem Rombesuch, „einen Regelentwurf oder ein Dekret für die Ausführung des genannten Paragraphen [sc. Art. 14, § 1 des Konkordats, R.H.] vorzubereiten“350. Dies bezog sich konkret auf drei Punkte: 1. die Triennallisten der bayerischen Bischöfe, 2. die Triennallisten der Domkapitel und 3. die Vorschlagsliste des Domkapitels der jeweils vakant gewordenen Diözese. Deshalb fertigte Pacelli drei unterschiedliche Dokumente an, für jeden Punkt ein eigenes, um so möglichste Klarheit zu erreichen. Es existierten also nicht nur zwei Dokumente, wie Thomas Forstner in seinem Aufsatz über die Besetzung der bayerischen Bischofsstühle vermutet, sondern drei.351 Am 16. April übersandte Pacelli seine drei Entwürfe nach Rom.352 In ihnen war der Ablauf zur Aufstellung der jeweiligen Kandidatenliste genauestens geregelt, angefangen vom erforderlichen Profil der zu wählenden Kandidaten über den genauen Ablauf der Wahlversammlung und des Wahlverlaufs bis hin zum Umgang mit den geheimen Wahlunterlagen. Dem Anforderungskatalog für einen episkopablen Kandidaten gab Pacelli folgende standardisierte Fassung: „Die Kandidaten müssen reifen Alters, aber nicht zu weit vorgerückt sein; ausgestattet mit Klugheit im Umgang mit den Umständen, die aus der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeiten erwiesen worden ist; mit gesündester und nicht gewöhnlicher Lehre ausgerüstet, und diese verbunden mit der geschuldeten Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Stuhl; im höchsten Grad aber hervorragend in der Ehrbarkeit des Lebens und der Frömmigkeit. Zu achten ist überdies auf die Geschicklichkeit der Kandidaten in der Verwaltung der weltlichen Güter, auf ihre familiären Verhältnisse, auf Charakter und Gesundheit. Mit einem Wort, es ist zu sehen, ob sie in allen diesen Qualitäten erblühen, die für einen sehr guten Hirten erforderlich sind, um imstande zu sein, fruchtbar und erbaulich das Volk Gottes zu leiten.“353 349
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Vgl. Gesetz zu dem Konkordate mit dem Heiligen Stuhle und den Verträgen mit den Evangelischen Kirchen vom 15. Januar 1925, abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 313 (Nr. 177). „… di preparare un progetto di regolamento o decreto per la esecuzione del surriferito paragrafo.“ Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 58r–61r, hier 58r-v. Vgl. Forstner, Nominierungen, S. 104. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 58r–61r und die Entwürfe der drei Dekrete mit handschriftlichen Korrekturen Pacellis, ebd., Fol. 62r–72r. Vgl.: „Candidati maturae sed non nimium provectae aetatis esse debent; prudentia praediti in agendis rebus, quae sit ex ministeriorum exercitio comprobata; sanissima et non communi exornati doctrina, 104
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Den beiden Dekreten, die für die Domkapitel bestimmt waren, fügte er einen weiteren, für sich sprechenden Passus hinzu: „Nichts aber steht entgegen, dass Priester auch aus einer anderen Diözese entweder Bayerns oder des übrigen Deutschland vorgeschlagen werden, auch wenn sie außerhalb der Grenzen Bayerns oder Deutschlands leben. Niemand kann sich selbst vorschlagen.“354 In den Vorschriften für die Domherren legte Pacelli besonderen Wert auf die Diskretion des Verfahrens355 und ein Vorschlagslimit der einzelnen Kanoniker.356
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eaque cum debita erga Apostolicam Sedem devotione coniuncta; maxime autem honestate vitae et pietate insignes. Attendendum insuper erit ad sollertiam candidatorum in temporalibus bonis administrandis, ad conditionem eorum familiarem, ad indolem et valetudinem. Uno verbo, videndum, num omnibus iis qualitatibus polleant, quae in optimo pastore requiruntur, ut cum fructu et aedificatione populum Dei regere queant.“ Nr. 12 des „Decrectum Circa proponendos ad Episcopale ministerium per Episcopos Bavaricos pro Dioecesibus Bavariae quolibet triennio“ vom 4. April 1926. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1, 1). In den Kapitelsdekreten war der zitierte Passus identisch jeweils unter der Nr. 3 abgedruckt. „Nil autem obstat, quominus sacerdotes alius etiam dioecesis aut provinciae Bavariae aut ulterioris Germaniae, etsi extra Bavariae vel Germaniae fines degant, proponantur. Nemo seipsum proponere potest.“ Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1, 2) und 3). Sein erster Gedanke bei Abfassung der beiden Kapitelsdekrete war nach eigenen Angaben, dieselben Bestimmungen des Bischofsdekrets zu übernehmen. Doch dann habe er sich anders entschieden: „… aber dann schien es mir nötig, diese Idee aufzugeben angesichts der ernsten Gefahr, um nicht zu sagen angesichts der Gewissheit (wie man aus Erfahrung weiß) von schweren Indiskretionen, über die man sich mit Anwendung jener Normen auf die Kanoniker (es gibt 84 in ganz Bayern, viele von ihnen von ziemlich fortgeschrittenem Alter und unvorsichtig) in einer so heiklen Materie beschweren müsste.“ [„… ma mi è poi sembrato necessario di abbandonare tale idea in considerazione del serio pericolo, per non dire della certezza (come si sa per esperienza) di gravi indiscrezioni, che colla applicazione di quelle norme ai Canonici (essi sono 84 in tutta la Baviera, molti dei quali di età assai avanzato ed incauti) si avrebbero a lamentare in materia così delicata.“] Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 59r-v. Die „Geschwätzigkeit“ der Domkapitulare veranlasste den Nuntius, eine Methode zu wählen, welche die Verbreitung von Informationen über die vorgeschlagenen Kandidaten möglichst vermied. Zunächst habe er gedacht, dies könne dadurch erreicht werden, dass jeder Kanoniker auf einem eigens dafür vorgesehenen Wahlzettel die Namen derjenigen Geistlichen aufschreiben sollte, die er vorschlagen wollte. Dieses Papier hätte dann verschlossen und versiegelt dem Domdekan zugehen sollen, der wiederum alle eingegangenen Wahlzettel an den Heiligen Stuhl weitergeleitet hätte. Doch dieser an sich von Pacelli gewünschte Modus, der eine Transparenz der Vorschläge untereinander sichtlich erschwerte, schien ihm nicht mit dem Konkordat konform zu gehen, das deutlich von „Listen der Domkapitel“ und nicht etwa von Einzelvorschlägen der Kanoniker sprach. Deshalb versuchte er, „ein Zwischensystem“ [„… un sistema intermedio …“, ebd., Fol. 59v–60r] zu schaffen. Dieses sollte unter Wahrung des Konzepts der „Kapitelslisten“ die Gelegenheiten zu Indiskretionen auf ein Minimum reduzieren und verzichtete deshalb auf die Bestimmungen des Bischofsdekrets (Nr. 2–7, 11), denen gemäß Kandidatenvorschläge schriftlich eingereicht und dann auf der Bischofskonferenz diskutiert werden sollten. Auf der anderen Seite ergänzte Pacelli die Tatstrafe der Exkommunikation für diejenigen, die das auferlegte Geheimnis verletzten. In den endgültigen Textfassungen entfiel diese Strafandrohung jedoch wieder. Das Limit ergab sich für den Nuntius aus der beträchtlichen Anzahl von Domkapitularen. Maximal drei Namen sollte jeder von ihnen benennen dürfen. Er wollte auf diese Weise einer ausufernden Fülle 105
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Gasparri leitete Pacellis Entwürfe zur Prüfung an die Konsistorialkongregation weiter, die „erfahrener in dieser Angelegenheit“357 sei. Sekretär De Lai bearbeitete die Dokumente bis Mitte Mai und urteilte, „dass sie in höchster Weise gut sind, insbesondere da sie sich auf ähnliche Dekrete stützen, die schon von der Vollversammlung dieser heiligen Kongregation approbiert wurden“358. Tatsächlich war es Pacellis Anliegen gewesen, auf Erlasse zurückzugreifen, welche die Konsistorialkongregation seit 1916 bereits für andere Staaten promulgiert hatte.359 Trotz seiner positiven Bewertung votierte De Lai dafür, streng vertraulich gemäß der herkömmlichen Praxis die bayerischen Bischöfe nach ihrer Ansicht zu den Dekreten zu befragen, bevor man diese zur Ausführung bringe. Auf Anweisung Piusʼ XI.360 trug Gasparri dem Nuntius diese vertrauliche Befragung des Episkopats auf.361 Pacelli war allerdings soeben in Begriff – auf römische Anordnung – seine Residenz von München nach Berlin zu verlegen. Er war bereits seit fünf Jahren Nuntius für das Deutsche Reich und nachdem das Bayernkonkordat abgeschlossen war, gab es keinen triftigen Grund mehr gegen eine Übersiedlung in die Reichshauptstadt. Diese erfolgte am 18. August, ganze neun Tage nach Gasparris Auftrag. So kurz vor seiner Abreise könne er diesen leider nicht mehr ausfüh-
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von Vorschlägen vorbeugen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob diese Zahl für die Triennallisten der Domkapitel (zweites Dekret) genügte, insofern jene Kandidaten aus allen acht bayerischen Diözesen umfassen sollten. Daher konnte er sich auch vorstellen, die Zahl auf fünf anzuheben, zumal dies noch mehr Wahlfreiheit für den Heiligen Stuhl schaffte. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 60v–61r. Die Kardinäle der AES, die über Pacellis Dekrete später diskutierten (vgl. das Folgende), stimmten der vorgeschlagenen Limitierung von drei Vorschlägen pro Kopf zu. „… più versata nella materia …“ Gasparri an De Lai vom 26. April 1925 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 4r. „… che in massima vadano bene tanto più che sono calcati su consimili decreti già approvati nelle adunanze plenarie di questa S. Congregatione.“ De Lai an Gasparri vom 18. Mai 1925, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 3r. Vgl. die Dokumente für die Vereinigten Staaten von Amerika (AAS 8 (1916), S. 400–404), Kanada (AAS 11 (1919), S. 124–128), Schottland (AAS 13 (1921), S. 13–16), Brasilien (AAS 13 (1921), S. 222–225), Mexiko (AAS 13 (1921), S. 379–382) und für die Diözesen des lateinischen Ritus in Polen (AAS 13 (1921), S. 430–432). Diese Vorlagen hatte Pacelli nach eigener Angabe für das erste Dekret über die Triennallisten der Bischöfe herangezogen und der besonderen Situation Bayerns und den Bestimmungen des bayerischen Konkordats angepasst. Solche Vorlagen standen ihm für die beiden Dekrete, die für die Domkapitel galten, nicht zur Verfügung und daher musste er diese frei entwerfen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 58v–59r. Vgl. zu den Regelungen der genannten Staaten die entsprechenden Kapitel bei Mörsdorf, Besetzungsrecht. Vgl. dazu die handschriftliche Bemerkung Borgongini Ducas auf einem an ihn gerichteten Brief De Lais vom 19. Juni 1925, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 6r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 9. August 1925, ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 73rv. 106
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ren, schrieb Pacelli am 13. des Monats dem Kardinalstaatssekretär zurück.362 Zudem schien er unzufrieden, dass den Bischöfen seine Entwürfe zur Verbesserung vorgelegt werden sollten.363 Stattdessen schlug er vor, seinen Nachfolger mit dieser Aufgabe zu betrauen, den bisherigen Gesandten in Argentinien, Alberto Vassallo di Torregrossa, der Ende August die Amtsgeschäfte der Münchener Nuntiatur übernahm.364 Da Gasparri mit dieser Lösung einverstanden war, erteilte er Vassallo die entsprechende Order.365 So ganz traute der Kardinalstaatssekretär dem neuen päpstlichen Gesandten die Aufgabe jedoch nicht zu, denn er riet ihm, sich mit Pacelli über die bestmögliche Lösung der Angelegenheit zu verständigen. Folgsam wandte Vassallo sich an Pacelli, holte sich Ratschläge ein366 und verfasste unter dem Datum des 30. September ein Zirkularschreiben an den bayerischen Episkopat, dem er jeweils ein Exemplar der drei Dekrete beifügte.367 Den kompletten Oktober über liefen nach und nach die Antwortschreiben der Bischöfe in der Münchener Nuntiatur ein. Sie waren mit dem von Pacelli entworfenen Verfahren sehr zufrieden, wobei einige Oberhirten geringfügige Änderungen wünschten.368 Unter Einbezug dieser Rückmeldungen 362
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 13. August 1925, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 19r. Dass er eine Befragung des Episkopats für unnötig hielt, bekannte Pacelli wenig später ausdrücklich gegenüber seinem Nachfolger in München. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 27. September 1925 (Entwurf), ASV, ANB 59, Fasz. 1, Fol. 46rv. Kardinal Giovanni Bonzano, vertrat später eine andere Auffassung. Seiner Ansicht nach sollte man den bischöflichen Korrekturwünschen Rechnung tragen, weil die zweifellos geringfügigen Änderungsvorschläge den Charakter und die Akribie der deutschen Bischöfe verdeutlichen würden. Vgl. Protokoll Borgonini-Ducas der Congregatio plenaria der AES vom 25. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1926, Sessio 1289, Vol. 80, Stampa 1152, ohne Foliierung [9 Seiten, hier 4]. Vgl. Zittel, Mönch, S. 490. Ernannt wurde Vassallo bereits am 8. Juni 1925. Vgl. Marchi, Nunziature, S. 59f. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 31. August 1925 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 20r und Gasparri an Pacelli vom 2. September 1925, ASV, ANB 59, Fasz. 1, Fol. 44r. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 26. September 1925, ASV, ANB 59, Fasz. 1, Fol. 45r und die Antwort, Pacelli an Vassallo vom 27. September 1925 (Entwurf), ebd., Fol. 46rv. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 5. November 1925, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 23r. Vgl. das überschwängliche Urteil Kardinal Faulhabers: „Ratio agendi pro eligendis Bavariae episcopis his decretis praeparanda ac consistoriali decreto praescribenda … in omnibus et in singulis (si liceat sententiam libere pandere) aptissima mihi videtur, quae ei ad quem tendit finem optime inserviat, videlicet gloriae DEI, libertati Ecclesiae eiusque canonum normae, animarum saluti, conditioni Ecclesiae in Bavaria per Concordatum sancitae, paci in Capitulis cathedralibus conservandae, periculo violationis secreti minuendo.“ Faulhaber an Vassallo vom 7. Oktober 1925 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 24r. Ebenfalls keinerlei Einwendungen hatte Sigismund Felix von Ow-Felldorf von Passau. Vgl. Ow-Felldorf an Vassallo vom 3. November 1925 (Abschrift), ebd., Fol. 32r. Geringfügige Änderungswünsche trugen Mergel, Ludwig Sebastian, Maximilian von Lingg, Hauck und Anton von Henle vor. Vgl. die Abschriften der Schreiben ebd., Fol. 25r–28r, 31r. Am umfassendsten 107
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wurden Pacellis Dekrete schließlich am 25. Februar 1926 von der Congregatio plenaria der AES diskutiert und angenommen.369 Pius XI. approbierte sie Mitte März und entschied außerdem, dass sie geheim bleiben und nicht im Amtsblatt des Heiligen Stuhls publiziert werden sollten.370 Damit folgte er der Auffassung, für die Pacelli nachdrücklich eingetreten war.371 Am 9. April des Jahres übersandte Gasparri dem neuen bayerischen Nuntius einen Stapel von fertigen Exemplaren der Dekrete und gab ihm die Anweisung, diese zu bestätigen, wie wenn es gewöhnliche Dekrete der Nuntiatur wären.372 Nicht eine römische Kongregation sollte also als Gesetzgeber auftreten, sondern die Nuntiatur als gewissermaßen „lokale“ Instanz. Dies war der
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waren die Anregungen, die der frisch ernannte Bischof von Würzburg, Matthias Ehrenfried, formulierte. Vgl. Ehrenfried an Vassallo vom 28. Oktober 1925 (Abschrift), ebd., Fol. 29r–30v. Unter anderem schlug er vor, für die Abstimmungen über die vorzuschlagenden Kandidaten Stimmzettel mit vorgedrucktem „Probo“, „Reprobo“ und „Abstineo“ zu verwenden anstatt verschiedenfarbige Kügelchen, wie es die Entwürfe bislang vorsahen. Diese Änderung wurde schließlich übernommen. Eingeladen wurden am 16. Februar folgende zehn Kardinäle, die Gasparri aus einer Liste mit 20 möglichen Kandidaten auswählte: Antonio Vico, Andreas Frühwirth, Raffaele Scapinelli di Léguigno, Vittorio Amadeo Ranuzzi deʼ Bianchi, Achille Locatelli, Giovanni Bonzano, Enrico Gasparri, Franz Ehrle, Aurelio Galli und Pietro Gasparri selbst. Gestrichen wurden Vincenzo Vannutelli, Gaetano De Lai, Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Basilio Pompilj, Giovanni Lagliero, Raffaele Merry del Val, Donato Sbarretti, Tommaso Pio Boggiani, Francesco Ragonesi und Gaetano Bisleti. Vgl. die Einladungsliste, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 62r. Das Protokoll der Sitzung vom 25. Februar 1926 verfasste Borgongini Duca, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1926, Sessio 1289, Vol. 80, Stampa 1152, ohne Foliierung [9 Seiten]. Zur Vorbereitung wurde wie gewöhnlich eine Relation erstellt. Vgl. Relation „circa le liste dei candidati allʼEpiscopato“ vom Februar 1926, ebd., S. 5–26. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 13. März 1926, ASV, ANB 59, Fasz. 1, Fol. 23r. Schon im Sommer 1925 und ein weiteres Mal, als er die Entwürfe fertiggestellt und nach Rom übersandt hatte, hatte Pacelli diese Empfehlung ausgesprochen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 7. August 1925, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1924–1940, Pos. 159 P.O., Fasz. 5, Fol. 42r–43r; Pacelli an Gasparri vom 16. April 1925 (Entwurf), ASV, ANM 401, Fasz. 9, Fol. 60v. Während der Sessio vom 25. Februar 1926 gab es andere Stimmen – wie die des Kardinals Bonzano –, welche die Dekrete in den „Acta Apostolicae Sedis“ publizieren wollten. Vgl. Sitzungsprotokoll der AES vom 25. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones, 1926, Sessio 1289, Vol. 80, Stampa 1152, S. [4]. Da Pacelli aber zuvor eine Geheimhaltung der Dokumente empfohlen hatte, rückversicherte sich Gasparri nach der Sitzung beim Berliner Nuntius und fragte nach den Gründen für die Geheimhaltung der Dekrete. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 2. März 1926, ASV, ANB 59, Fasz. 1, Fol. 21rv. Pacelli gab drei Argumente zu bedenken, die Dekrete unter Verschluss zu halten: 1. Die unterschiedliche Behandlung von Bischöfen und Domkapiteln könne Unzufriedenheit (vor allem auf Seiten letzterer) erzeugen. 2. Während seiner Amtszeit in München habe er mehrfach von der bayerischen Regierung verlangt, nicht einseitig Anordnungen zur Umsetzung des Konkordats zu erlassen. Nun befürchtete Pacelli, dass die Regierung den gleichen Vorwurf gegen den Heiligen Stuhl richten könnte. 3. Schließlich habe auch Kardinal Faulhaber – dem Pacelli seine Entwürfe vorgelegt hatte – empfohlen, die Dekrete der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926 (Entwurf), ebd., Fol. 22r. Wie das Ergebnis zeigt, ließ sich der Papst von Pacelli überzeugen. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 9. April 1926 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1925–1926, Pos. 164 P.O., Fasz. 13, Fol. 60rv. 108
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Grund, dass die Dekrete schließlich auf den 4. April 1926 datierten, das Siegel der Münchener Nuntiatur und die Unterschrift Vassallos trugen. Letzterer erhielt darüber hinaus den Auftrag, je zwei Exemplare jedes Dekrets an die bayerischen Ordinarien zu schicken. Für die folgenden bayerischen Besetzungsfälle sollten sie normativ werden.373 Die Zusammenkünfte der Bischöfe und Domherren zur Aufstellung der Triennallisten sollten gemäß den Dekreten alle drei Jahre jeweils um Ostern herum stattfinden.374 Da dieser Zeitraum im Jahr 1926 mittlerweile verstrichen war, erlaubte der Kardinalstaatssekretär, die Versammlungen in der Pfingstzeit abzuhalten. Alle Anordnungen führte Vassallo mit einem Zirkularschreiben an den bayerischen Episkopat am 19. April aus.375 Da die Bischöfe jedoch um Pfingsten herum allesamt auf Firmreise waren, gab es für sie keine Möglichkeit, sich zusammenzufinden und Kandidatenvorschläge für die erste Triennalliste aufzustellen. Daran hatte man in Rom nicht gedacht. Deshalb bat der Münchener Nuntius den Kardinalstaatssekretär, dass der Episkopat die diesjährige Liste erst auf der Septemberkonferenz in Freising aufstellen dürfe, was Gasparri gewährte.376 Damit waren schließlich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und alle Voraussetzungen erfüllt, dass der Artikel 14 § 1 des bayerischen Konkordats bei den künftigen Sedisvakanzen in Bayern Anwendung finden konnte. Die ersten Triennallisten wurden von Episkopat und Domkapiteln in den folgenden Monaten aufgestellt und sollten bereits 1927 bei der Wiederbesetzung des bischöflichen Stuhls von Regensburg benötigt werden. Die erste Bischofseinsetzung in Bayern erfolgte jedoch vor dem endgültigen Abschluss des Konkordats in Würzburg. Darauf wird der Blick als nächstes zu richten sein.
Ergebnis 1. Hinsichtlich Pacellis Bischofsprofil, das in den Konkordatsverhandlungen in abstracto eine gewichtige Rolle spielte, insofern der diskutierte Besetzungsmodus (vgl. Nr. 2) letztlich „nur“ Mittel 373 374
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Im Anhang sind die Dokumente in approbierter Fassung abgedruckt. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1. Zu Beginn der Quadragesima sollten die Bischöfe taugliche Geistliche beim Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz schriftlich vorschlagen, die Domkapitulare sich lediglich Namen überlegen. Während im Dekret für die Domkapitel als Termin für die gemeinsame Abstimmung „Circa Pascha“ angegeben wurde, hieß es bei den Bischöfen als Datum für die Abstimmung (und Diskussion) lediglich „Die et loco a Praeside determinandis“. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1, 1), Nr. 2 und 8 sowie 1.1, 2), Nr. 2 und 5. In der Praxis wurden die Listen oftmals erst im Herbst des jeweiligen Jahres – durch die Bischöfe auf der alljährlichen Herbstkonferenz in Freising – angefertigt. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 31. April 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 4rv. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 5. Juni 1926, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 25r. 109
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zum Zweck war, einen Diözesanbischof zu installieren, fällt zunächst der Fertigkeitenkatalog ins Auge, den der Nuntius in den Ausführungsdekreten zum konkordatären Listenverfahren festschrieb: „Die Kandidaten müssen reifen Alters, aber nicht zu weit vorgerückt sein; ausgestattet mit Klugheit im Umgang mit den Umständen, die aus der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeiten erwiesen worden ist; mit gesündester und nicht gewöhnlicher Lehre ausgerüstet, und diese verbunden mit der geschuldeten Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Stuhl; im höchsten Grad aber hervorragend in der Ehrbarkeit des Lebens und der Frömmigkeit. Zu achten ist überdies auf die Geschicklichkeit der Kandidaten in der Verwaltung der weltlichen Güter, auf ihre familiären Verhältnisse, auf Charakter und Gesundheit. Mit einem Wort, es ist zu sehen, ob sie in allen diesen Qualitäten erblühen, die für einen sehr guten Hirten erforderlich sind, um imstande zu sein, fruchtbar und erbaulich das Volk Gottes zu leiten.“
So umfassend diese Aufzählung von Anforderungen ist, denen gemäß ein Bischof praktisch eine universale Begabung sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Dingen besitzen musste, so aufschlussreich ist sie auch. Sie zeigt eine klare Priorisierung des ersten Teils: Die Anwärter von mittlerem Alter müssen sich in ihren bisherigen – logischerweise vor allem geistlichen – Aufgaben bewährt und eine „gesunde“ Theologie gelernt haben, dem Heiligen Stuhl ergeben sowie von integrem und frommem Lebenswandel sein. Dieser genuin kirchlich-geistlichen Ebene gegenüber werden Aspekte wie Administration, Familie, Charakter und Gesundheit nachgeordnet („überdies ist zu achten auf ...“). Dieses Gefälle findet ihre Entsprechung in der finalen Zuspitzung: Der Bischof soll ein Hirte sein, der in der Lage ist, das Gottesvolk mit geistlichem Gewinn zu lenken, das heißt, das Bischofsbild bekommt hier eine dezidiert seelsorglich-pastorale Grundsignatur. Dieses Ergebnis lässt sich anhand der vom Nuntius im Verlauf der Konkordatsverhandlungen getätigten Aussagen präzisieren. Hinsichtlich der Tauglichkeit eines Kandidaten nahm Pacelli eine fundamentale Klassifizierung vor: Er unterschied zwischen würdigen und sehr würdigen Bischöfen. Zur ersten Klasse zählte er jene Geistliche, die den allgemeinen Anforderungen des Kirchenrechts und der kirchlichen Lehrüberlieferung entsprachen. Diese erfüllten also die Grundvoraussetzungen und konnten daher auch vom Heiligen Stuhl nicht abgelehnt werden, wenn sie ihm zur Bestätigung vorgelegt wurden. Die sehr würdigen Kandidaten hingegen setzten sich in einem entscheidenden Punkt von dieser Gruppe ab. Im Hintergrund stand die Frage nach der „gesunden“ Theologie: Pacelli monierte, dass an den deutschen Universitäten und Lyzeen zu viel Gewicht auf historische und positive Methoden und Inhalte gelegt wurde anstatt wie an römischen Lehranstalten, insbesondere an der von Jesuiten geführten päpstlichen Gregoriana, auf spekulative Systematik und Scholastik. Dieser defizitäre Zustand der deutschen Theologie musste seiner Ansicht nach im Sinne der korrekten römischen reformiert werden, wie es der Geheimerlass der Studienkongregation vom 9. Oktober 1921 dem deutschen Episkopat aufgetragen hatte. Nüchtern konstatierte Pacelli jedoch diesbezüglich, dass „alle Instruktionen des Heiligen Stuhls … mehr oder weniger toter Buchstabe“ blieben, „wenn es keine Bischöfe gibt, die vollkommen ihre Not110
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wendigkeit und Bedeutung erfasst haben und daher mit aller Energie ihre treue und vollständige Umsetzung fördern“. Die Studienreform tatkräftig umzusetzen, war also Pacellis Meinung nach die vorrangige Aufgabe des Oberhirten und sehr würdige hatten dies erkannt und handelten danach. Damit war schlussendlich das Ziel des Ganzen eine Aufwertung der Priesterausbildung im Sinne der römischen Theologie und Aszese. Hier lag das zentrale Proprium von Pacellis idealem Bischofsbild, was mit der oben skizzierten pastoralen Ausrichtung insofern korreliert, als die „korrekt“ ausgebildeten Priester folgerichtig auch eine „korrekte“ Seelsorge betreiben würden. Nun blieben aber nach Pacellis Auffassung die meisten bloß würdigen Bischöfe bei der Umsetzung der Studienreform lediglich „mittelmäßig“, weil und insofern sie nämlich selbst die unzureichende deutsche Theologie studiert hatten. Dagegen ging er davon aus, dass ein Ex-Alumne des Germanicums, der die römisch-scholastische Ausbildung genossen hatte, prinzipiell einen besseren Sinn für die Notwendigkeit der Reform besaß und von der bischöflichen Cathedra aus alles daransetzen würde, sie durchzuführen. Deshalb waren für Pacelli die in Rom geformten Geistlichen im Allgemeinen die tauglicheren Bischofsaspiranten.377 2. Pacellis Bischofsideal brachte logischerweise maßgebliche Konsequenzen für den von ihm präferierten Besetzungsmodus mit sich: Natürlich ist es als solches nicht überraschend, dass der Nuntius für die freie päpstliche Nomination gemäß Can. 329 § 2 CIC als Idealform eintrat, zumal für deren möglichst getreue Umsetzung die Situation im katholischen Bayern angesichts der neuen kirchlichen Freiheiten der WRV so günstig wie selten schien. Doch seine Begründung verdient Beachtung: Die freie Besetzung der Bischofsstühle durch den Papst ermögliche, die sehr würdigen Geistlichen an die Spitze der Diözesen zu bringen, während bei einer Wahl durch die örtlichen Domkapitel zwar gewiss die würdigen Kleriker zum Zuge kämen, aber eben „bloß“ diese. Unrechtmäßige Einflussnahmen, Parteiungen, Neid, Eifersucht und Gegensätze unter den Domherren, kurzum niedere Beweggründe, würden die Wahl der tauglichsten Personen allzu oft ver377
Thematisierbar ist noch ein formales Moment, das sich zunächst aus einer knappen Bemerkung des Nuntius gegenüber dem bayerischen Kultusminister ergibt: Man brauche den Bischofsanwärter nicht nur im Klerus der vakanten Diözese zu suchen, sondern könne auf die Geistlichkeit ganz Bayerns zurückgreifen. Dass er gegenüber dem bayerischen Staatsvertreter die Gruppe verfügbarer Kleriker auf die bayerischen Grenzen einschränkte, überrascht nicht. In den geheimen Ausführungsdekreten zu den Kandidatenlisten der Domkapitel aber weitete Pacelli den Provenienzraum der Kandidaten auf ganz Deutschland beziehungsweise den gesamten deutschen Klerus aus. Hier freilich ging es ihm vornehmlich darum, die Selbstbezogenheit der Domkapitel aufzubrechen, indem er den größtmöglichen Rahmen für die Kandidatensuche aufzeigte. Da also beiden Aussagen eine bestimmte Intention zugrunde lag, lässt sich auf ihrer Basis schwer beantworten, ob Pacelli hinsichtlich der Provenienz der Bischofskandidaten eine prinzipielle Position besaß und falls ja, wo diese im Spektrum zwischen einem strikten Lokalprinzip und einem unbegrenzten (deutschen) Einzugsgebiet ungeachtet kultureller oder mentalitätsbezogener Unterschiede anzusiedeln ist. Diese Frage lässt sich letztlich nur in der Gesamtschau aller Besetzungsfälle beurteilen. Vgl. dazu Bd. 4, Kap. III.1.2. 111
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hindern. Insbesondere die „römischen“ Kandidaten blieben außen vor. Diese negativen Elemente seien hingegen bei einer römischen Ernennung nicht vorhanden, im Gegenteil lege der Heilige Stuhl „auf die Wahl der Bischöfe die peinlichste Sorge und Unvoreingenommenheit“ – wie Pacelli den staatlichen Verhandlungsführern versprach –, das heißt er bestelle die Bischöfe einzig aus den sachgemäßen Prinzipien. Auch die Katholiken nähmen keinen Anstoß an einem von Rom ernannten episcopus, denn ihnen sei einzig wichtig, dass es „ein würdiger und heiliger Hirte“ sei. Pacellis persönliche Erfahrungen flossen in sein hartes Urteil über die Domkapitel ein, da er das Beschriebene in Mainz 1920/21 und Trier 1921/22 selbst erlebt hatte. Von daher überrascht es nicht, dass ihm ein Auditionsrecht des Episkopats willkommener war als eine Beteiligung der Domherren am Besetzungsverfahren, die er so lange wie nur möglich verhindern wollte; oder dass er ihre Bittschriften nicht beantwortete und sie mit einem Ersatz für die Bischofswahl, nämlich einer Mitsprache bei der Besetzung der Domherrenstellen, beschwichtigen wollte; oder dass er schließlich die unerwartet fehlende Bindung des Heiligen Stuhls an die Vorschlagslisten der Domkapitel im staatlichen Konkordatsentwurf vom November 1923 klar heraushob.378 Auf der anderen Seite war es aber dann doch wieder Pacelli, der sich im Verlauf der Konkordatsverhandlungen mehrfach beim Kardinalstaatssekretär für eine Partizipation der Domkapitel an der Besetzung der Bischofsstühle einsetzte (vgl. Nr. 5) – wenn auch nur als Notlösung. Diese Beteiligung der Domkapitel konnte für ihn aber lediglich in einem Vorschlagsrecht bestehen, das er mit seiner skizzierten Maxime noch für vereinbar hielt. In einer ersten Überlegung (April 1922) dachte er – vermutlich in Anlehnung an die nordamerikanische Praxis379 – an eine wenigstens drei Kandidaten umfassende Sedisvakanzliste des jeweiligen Kapitels, die vom Metropoliten und den übrigen Provinzbischöfen überarbeitet, nach Rom geschickt und dort als eine nicht verbindliche Grundlage für die Ernennung des Bischofs dienen sollte. War hier die Freiheit der päpstlichen Nomination noch in hohem Maße garantiert, so zeichnet ein späterer Vorschlag (Februar 1923) ein völlig anderes Bild: Dieses Mal schwebte ihm erneut eine Sedisvakanzliste des betroffenen Domkapitels vor, die jedoch nun für den Papst verpflichtend war. Dieser Syllabus sollte jeweils zur Hälfte aus Kapitularen und Säkular- beziehungsweise Regularklerikern bestehen, wie es ähnlich in einem Entwurf des bayerischen Konkordats von 1816 gedacht gewesen war. Zwar diente diese Struktur der Liste als Maßnahme gegen die Domherren, damit diese nämlich nicht verlangten, 378
379
Auch an den näheren Spezifikationen des Triennallistenverfahrens, die Pacelli in den Ausführungsdekreten festlegte, ist seine distanzierte Haltung zu den Domkapiteln ablesbar. Zwar diente es eigentlich der Vermeidung von Indiskretionen, dass die Domherren anders als der Episkopat Kandidatenvorschläge nicht diskutieren sollten. Daraus folgte jedoch, dass sie dem Heiligen Stuhl lediglich die nackten Abstimmungsergebnisse präsentieren, während die Bischöfe jedem Kandidaten eine prosopographisch-wertende Anmerkung beifügen konnten, die aus der gemeinsamen Diskussion erwachsen war. Auf diese Weise erhielten die bischöflichen Triennallisten bereits formal ein stärkeres Gewicht als die der Domkapitel. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 309. 112
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„dass der neue Bischof immer aus ihren Reihen gewählt wird“. Dennoch konzedierte der Modus insgesamt den Kanonikern einen größeren Einfluss auf die Bischofsfindung, als zum Beispiel die schlussendlich im Konkordat verabschiedete Variante, die dem Papst mit den Triennallisten eine sehr viel größere Kandidatenauswahl ließ. Mit anderen Worten: Pacelli war – zumindest in der Dynamik der Verhandlungen – bereit, die Freiheit des Heiligen Stuhls weiter einzuschränken, als sie letztlich im verabschiedeten Konkordatsmodus eingeschränkt wurde. Das zeigt, wie weit er in der Lage war, von seinem Ideal in der Wirklichkeit abzurücken und das faktisch Durchsetzbare hinzunehmen, wozu ein freier Umgang Roms mit den Vorschlagslisten augenscheinlich nicht gehörte. Die Nachgiebigkeit war für ihn deshalb möglich und geboten, weil ihm der Konkordatsabschluss als solcher wichtiger war, als die getreue Umsetzung des Can. 329 § 2 CIC. Er hatte nicht etwa vorgefertigte „Besetzungsmodelle“ parat, auf die er während der Verhandlungen bei passender Gelegenheit zurückgegriffen hätte, sondern oberhalb einer Untergrenze (kein Kapitelswahlrecht) verhandelte er völlig ergebnisoffen. Dabei waren alle Zugeständnisse zugunsten der unliebsamen Domkapitel nicht als Gunsterweise für sie, sondern ausschließlich als Konzessionen an die bayerische Regierung verstanden und der Sorge um einen glücklichen Konkordatsabschluss geschuldet – und das obgleich er die Methode zur Besetzung der Bischofsstühle als innerkirchlichen Akt verstand, der den Staat eigentlich nichts anging. Damit ist bereits der nächste Punkte angerissen. 3. Die erste zentrale Frage zum Thema „Staat“, die den Modus der Bischofseinsetzungen bestimmen musste, war die nach der Fortgeltung des alten Konkordats nach dem Untergang der Monarchie und der neuen Verfassung von Weimar. Anders als in der Forschung vielfach zu lesen, war Pacelli nicht der Ansicht, dass der alte Staatskirchenvertrag seine Geltung verloren hatte, vielmehr ging er davon aus, dass das Konkordat – gemäß der Vertragstheorie, die er als Anhänger der am römischen Apollinare gelehrten Rechtstradition und in Übereinstimmung auch mit Hollweck vertrat – in seiner Gesamtheit noch in Kraft war und nur einzelne Bestimmungen ihre Geltung verloren hatten.380 Zu diesen gehörte seiner Ansicht nach zunächst und vor allem das königliche Recht zur Nomination der Diözesanbischöfe, das als streng auszulegendes persönliches Privileg
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Vgl. zur (häufig unklar ausgedrückten) Auffassung, das alte Konkordat sei nach dem Untergang der Monarchie gefallen beziehungsweise dies sei die Ansicht „des“ Heiligen Stuhls oder des Nuntius gewesen, zum Beispiel Besier, Heilige Stuhl, S. 55; Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 189; Greipl, Ende, S. 334f.; Haag, Recht, S. 7; Listl, Entwicklung, S. 447f.; Obermayer, Konkordate, S. 174. Dagegen korrekt May, Kaas 2, S. 382; Zedler, Bayern, S. 374f., 443, wobei er (wie May) vom Heiligen Stuhl als monolithischen Block ausgeht, wenn er sagt, dass es für diesen „evident“ gewesen sei, „dass das Konkordat weiterhin Geltung hatte“ (375). Stattdessen war man sich in der Kurie darüber keineswegs einig (vgl. Nr. 5), wie auch Groll, Domkapitel, S. 381 zeigt. Auch Benedikt XV. schien anders als Pacelli laut einer 113
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der bayerischen Krone zu interpretieren und folgerichtig zusammen mit dem Untergang des Privilegienempfängers gefallen war. Das Recht konnte also nicht einfach auf die neue, demokratische Regierung Bayerns übergehen, wofür es seiner Überzeugung nach einer neuen päpstlichen Konzession bedurfte. Eine solche lehnte Pacelli jedoch strikt ab, da er die staatliche Besetzung kirchlicher Ämter als einen herben Einschnitt in die libertas ecclesiae und damit als „größtmögliches Übel“ betrachtete. Erschwerend kam hinzu, dass eine demokratisch gewählte Regierung der Kirche niemals die gleichen Sicherheiten bieten könne, wie ein katholisches Königtum. Denn falls akatholische oder sogar antikatholische Kräfte legitim an die Macht kommen sollten, erhielten diese fundamentalen Einfluss auf das innerkirchliche Leben, was für Pacelli nur als katastrophal eingestuft werden konnte. Im Auge hatte er vor allem sozialistisch-bolschewistische Strömungen, was abgesehen vom grundsätzlichen katholischen Antikommunismus gerade vor seinen hautnahen Erlebnissen in und nach den Revolutionswirren in München sowie der „legitimen“, knapp einjährigen Regierungszeit des „feindlichen und antiklerikalen“ Mehrheitssozialisten Hoffmann Kontur gewinnt. Von daher war der Nuntius also prinzipiell der Ansicht, dass die Kirche in der Besetzung der bayerischen Bischofsstühle nach den politischen Umwälzungen völlig frei war. Ein zentrales Argument für diese Sicht fand Pacelli zusätzlich in Artikel 137, Absatz 3 der WRV, aufgrund dessen er ursprünglich sogar davon ausging, dass das staatliche Präsentationsrecht der Benefizien sich von selbst erledigen würde. Dies bildete seine theoretische Grundlage. Die praktische Auseinandersetzung mit der bayerischen Staatsregierung verlangte aber etwas völlig anderes. Sich schlicht auf die neue Verfassung Audienzaufzeichnung Faulhabers von dem grundsätzlichen Fall des Konkordats auszugehen: „Konkordat: Es sei ein Unum und wenn in ein paar Punkten durchbrochen, dann non esiste più.“ Audienzaufzeichnung Faulhabers vom 30. Dezember 1919, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 123f. (Nr. 59), hier 124 Tatsächlich standen zwei maßgebliche römische Rechtsschulen im Widerstreit: die am San Apollinare vertretene Auffassung von Konkordaten als bilateralen Verträgen zwischen Staat und Kirche als zwei societates perfectae und die an der Gregoriana gelehrte Auffassung von Konkordaten als jederzeit widerrufbarer Privilegien des Papstes angesichts des Auftrags der Kirche, dem Staat gegenüber als Leit- und Kontrollinstanz aufzutreten. In dieses Gegenüber ordnet auch Romeo Astorri Pacelli auf der Grundlage eines Votums, das dieser bereits 1916 verfasst hatte, korrekt ein: „Già nel modo di porre il problema, lʼautore del Votum [sc. Pacelli, R.H.] rompe con lo schema, che pareva allora predominare nella Curia, secondo il quale i concordati, essendo un accordo di due potestà di diversa natura, erano unicamente concessioni fatte dalla Chiesa alle autorità civili e dovevano essere giudicate solamente in funzione di tale supremo principio.“ Astorri, Diritto, S. 686. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu und zu Pacellis Konkordatsverständnis Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 481. Auch der bayerische Episkopat ging von der grundsätzlichen Fortgeltung des Konkordats aus. Vgl. Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats vom 3.–4. September 1919, abgedruckt bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. 88–96 (Nr. 46), hier 89. Anton Scharnagl vertrat in seinem Aufsatz über das königliche Nominationsrecht in Bayern von 1928 ebenfalls die Sicht Pacellis. Vgl. Scharnagl, Nominationsrecht, S. 261f. 114
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zu berufen und eine freie Besetzung der Kirchenämter vorzunehmen, schien Pacelli zu „heikel“. Er ahnte, dass dies von staatlicher Seite als Konkordatsbruch ausgelegt würde, mit allen Konsequenzen, die dies für die Kirche besonders in finanzieller Hinsicht nach sich ziehen konnte. Erst recht unmöglich erschien ein solches Vorgehen, als im Herbst 1919 klar wurde, dass Hoffmann das bayerische Konkordat in vollem Umfang für noch gültig erachtete und zusammen mit den übrigen deutschen Kultusministern beschloss, dass die kirchliche Ämterbesetzungsautonomie der WRV nur eine Richtlinie sei, die erst noch in die jeweilige Landesgesetzgebung umgesetzt werden müsse, um rechtlich wirksam zu werden. Es prallten also zwei grundsätzlich gegensätzliche Auffassungen aufeinander und Pacelli erachtete den Versuch für aussichtslos, in theoreticis eine Einigung mit dem staatlichen Verhandlungspartner zu erzielen – ihm war klar, dass die eigene Position nicht akzeptiert werden würde. Letztlich hielt er es sogar für gefährlich, wenn der Heilige Stuhl seine eigene Sicht auf die Rechtslage nach außen trug, was in dem Augenblick virulent wurde, als Hoffmann ihn vor die Frage stellte, ob Rom das Konkordat von 1817 für gültig oder ungültig erachtete. Pacellis Dilemma war offensichtlich: Einerseits wollte er den Vertrag nicht für gefallen erklären – was vor allem Konsultor Ojetti verlangte (vgl. Nr. 5) –, etwa um dadurch den Weg für eine freie kirchliche Ämterbesetzung zu ebnen, denn eine solche Erklärung hätte „den schwersten Schaden“ für die bayerische Kirche zur Folge, weil nämlich a) das alte Konkordat im Gegenteil die „festeste und sicherste Basis“ sei, um der Kirche so viel wie möglich von den alten Rechten zu erhalten, wie die Staatleistungen, das Recht auf theologische Fakultäten und Seminare etc.; weil b) man mit der WRV ohnehin ein starkes Argument besitze, um auf dem Verhandlungsweg die freie kirchliche Ämterbesetzung durchzusetzen und weil c) eine solche Erklärung als „feindliches Verhalten“ gegenüber Demokratie und Regierung interpretiert würde. Andererseits konnte und durfte er die Fortgeltung des Konkordats auch nicht bejahen, da er damit faktisch die anachronistischen Einflussrechte des Staates sanktioniert und die Möglichkeit verspielt hätte, eine neue Vereinbarung zu erzielen. Pacellis Ausweg aus dieser aporetischen Situation spiegelt eindrücklich seine diplomatische Raffinesse: Er beantwortete die Frage des Kultusministers nämlich nicht, ließ die Fortgeltungsfrage absichtlich offen und betonte stattdessen die dringende Notwendigkeit, einen neuen Staatskirchenvertrag abzuschließen. Diese Verhandlungsofferte kleidete er in folgenden Dreischritt: 1) Zunächst wies er dem Staat eine Schuldnerrolle zu, indem er klarstellte, dass dieser in der WRV (sowie der bayerischen Verfassung) einseitig das Kirche-Staat-Verhältnis geändert und dabei das Konkordat von 1817 mehrfach verletzt habe – vor allem dadurch, dass die katholische Kirche ihren bevorzugten Status verloren habe. Obwohl er also die neuen verfassungsmäßig verbürgten kirchlichen Freiheiten als Kernargument ausnutzen wollte – nicht zufällig formulierte er das freie Besetzungsrecht in seinen Punktationen in enger Anlehnung an den Wortlaut des Artikels 137 der WRV –, zeichnete er die Kirche als durch die neuen Verfassungen dezidiert Geschädigte. 2) 115
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Als nächstes meldete er gegen dieses unrechtmäßige Vorgehen des Staates Vorbehalt an und leitete aus der benachteiligten Position der Kirche das grundsätzliche Recht ab, in ihren ureigensten Angelegenheiten – wie der Ämterbesetzung – umso größere Freiheiten fordern zu können. 3) Schließlich stellte er den Heiligen Stuhl als großzügig dar, indem dieser trotz seiner Benachteiligung bereit sei, „den ganzen Inhalt“ der Staat und Kirche betreffenden Materie „von Neuem zu regeln“. Diese sorgfältig gewählte Formel verhinderte jede Interpretation, dass man römischerseits das alte Konkordat für aufgehoben betrachtete. Kurzum: Pacelli schaffte es auf diese Weise, neue Freiheiten für die Kirche reklamieren zu können, ohne dabei den bayerischen Staat aus seinen alten Verpflichtungen zu entlassen. Damit hatte er für die anstehenden Verhandlungen, deren Monopol er für sich als dem Vertreter des Heiligen Stuhls reklamierte, die bestmögliche Ausgangslage geschaffen und verlangte prompt das „billige und vernünftige“ Recht, die Bischofsstühle völlig unabhängig vom Staat besetzen zu können. Allerdings war Pacelli Realist genug, um von vornherein zu wissen, dass diese Idealform nicht zu erreichen war. Die theoretische Grundsatzdiskussion darüber, ob der Staat auf die Besetzung der Bischofsstühle Einfluss geltend machen konnte, lief wie folgt: Die Regierung argumentierte, dass die königlichen Rechte hinsichtlich der Bischofseinsetzung eine kirchliche Gegenleistung für die Staatsleistungen gewesen seien – ein Zusammenhang, auf dessen Basis man jetzt ein allgemeines Bedenkenrecht der Regierung und ein Bischofswahlrecht für die Domkapitel fordern könne. Außerdem glaubte sie, dass die Bischofswahl vor dem bayerischen Konkordat von 1817 gemeine Praxis gewesen sei, auf die man jetzt zurückkommen müsse. Pacelli hingegen war der Meinung, dass die alten Rechte der Krone ihren Grund in der Derogation der Gesetze des Staatskirchentums gehabt hätten und nicht in den finanziellen Leistungen, die vielmehr als eine partielle Restitution der in der Säkularisation eingezogenen Kirchengüter verstanden werden müssten. Außerdem sei die Bischofswahl im beginnenden 19. Jahrhundert keineswegs ius commune gewesen, sondern nur ein Partikularrecht. Zudem habe die Kurie dem bayerischen Staat seinerzeit das Bischofswahlrecht angeboten, das dieser jedoch zugunsten der nominatio regis abgelehnt habe, insbesondere um dem Heiligen Stuhl so wenig Einfluss wie möglich zu geben. Insofern habe Bayern das „Anrecht“ auf eine Domkapitelswahl der Bischöfe verwirkt, nachdem jetzt auch nach Ansicht vieler Staatsvertreter das genuin königliche Privileg durch die politischen Umwälzungen gefallen sei. Diese Grundsatzdebatte erbrachte allerdings erneut keinen Konsens, was Pacelli frustriert auf die „alten liberalen und josephinistischen Ideen“ des Staatskirchentums zurückführte, die sich tief in die Staatsgewalt eingebrannt hätten. Deshalb hielt er es auch hier für sinnvoller, den Grunddissens beiseite zu lassen und lieber konkret Artikel für Artikel durchzusprechen. Auf diese Weise kristallisierten sich im Lauf des Verhandlungsgangs zwei neue, wesentliche Argumente der bayerischen Verhandlungsführer für das Bischofswahlrecht heraus: Zum einen müsse man dem Landtag eine Kompensation für den Wegfall des königlichen Nominationsrechts bieten, zum anderen sei es für das katholische Bayern unerträg116
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lich, wenn es ihm verwehrt und dem protestantischen Preußen gewährt würde. Dem ersten Punkt nahm Pacelli die Schlagkraft, indem er geschickt über eine doppelte Vermittlung (vgl. Nr. 4) die Auffassung der BMP zum Bischofswahlrecht ergründete und dabei erfuhr, dass ihre parlamentarische Zustimmung zum Staatskirchenvertrag nicht davon abhing. Diese Erkenntnis brachte ihm die Sicherheit, mit einer Erweiterung des Listenverfahrens – die Sedisvakanzliste kam auf diese Weise zustande – den staatlichen Forderungen Genüge zu tun, ohne eine Ablehnung des Konkordats im Landtag fürchten zu müssen. Was den zweiten Punkt anbelangte, so brachte Pacelli zwar Verständnis dafür auf, dass Bayern nicht hinter Preußen zurückgestellt werden wollte. Dennoch hielt er diese Klage für unberechtigt, was er mit der Grundsignatur des Handelns des Heiligen Stuhls – das heißt seines Handelns – in der Interimszeit zwischen Revolution und den neu abzuschließenden Staatskirchenverträgen begründete: nämlich die Besetzung der Kirchenämter provisorisch nach dem bisherigen Modus vorzunehmen (und zwar um die Fortgeltung der alten Verträge nicht durch eine veränderte Praxis in Zweifel zu ziehen): Daraus folgte für ihn eindeutig, dass Preußen die Bischofswahl erlaubt, Bayern jedoch verweigert war.381 Wie diese strittige Frage schließlich gelöst wurde, erweist sich aus der Retrospektive als gravierend: Um die „Meistbegünstigungsklausel“ zu vermeiden und die Zustimmung der Regierung zu Artikel 14 § 1 zu erreichen, versprach Pacelli, dass der Heilige Stuhl in künftigen Verträgen keinem deutschen Teilstaat „das Privileg der Bischofswahl durch die Kapitel in irgendeiner Form zugestehen werde“. Diese Zusicherung, die wichtigen Anteil daran hatte, dass die Regierung den Artikel schlussendlich akzeptierte, wurde von römischer Seite faktisch in allen folgenden Konkordaten – mit Preußen, Baden und damit auch mit dem Reich – gebrochen.382 Entscheidend für die Rolle Pacellis ist hierbei jedoch, dass er dieses Versprechen für falsch hielt und es nur auf mehrfache Anweisung des Kardinalstaatssekretärs hin leistete (vgl. Nr. 5). Wichtig ist die Frage, warum der Nuntius überhaupt bereit war, auf den Staat zuzugehen, obwohl er diesem jegliche Rechte auf dem Feld der Bischofseinsetzungen theoretisch absprach. Die Antwort lautet: weil er Gegenleistungen verlangen konnte – schließlich wäre es „absurd“, in dieser wichtigen Materie Konzessionen ohne „angemessenen Nutzen“ einzuräumen. Der angemessene Nutzen bestand letztlich in dem Abschluss eines Konkordats, das „in vielen Punkten wenigstens substantiell … die Vorschläge des Heiligen Stuhls unberührt lässt“ und „für die Kirche so wohlwollende Bestimmungen enthält, welche schwerlich, in den modernen Zeiten, besser konzipiert werden könnten“. Dieser Einschätzung Pacellis kommt eine Schlüsselrolle zu: Ein so gutes Konkordat, das zum Beispiel hinsichtlich des Schulartikels – wie das Kultusministerium selbst genau zur Kenntnis nahm – oder der finanziellen Leistungen praktisch alles erreichte, was er verlangt hatte, durfte nicht dadurch gefährdet werden, dass man hinsichtlich 381
382
Diese Leitdirektive wandte Pacelli auch hinsichtlich des Bistums Würzburg an, das kurz vor Abschluss des Bayernkonkordats einen neuen Bischof erhielt. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.2. Es überrascht nicht, dass dies in München entsprechende Kritik hervorrief. Vgl. Zedler, Bayern, S. 450. 117
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
der Bischofseinsetzungen auf dem eigenen Standpunkt unverrückbar verharrte. Für die Regierung war dieses Thema zentral und der Vertrag daher ohne Zugehen des Heiligen Stuhls in diesem Punkt in ernster Gefahr. Dieses Risiko einzugehen, hielt der Nuntius für nicht wert: Ohne Konkordat könne der Heilige Stuhl zwar die völlige Freiheit der Ämterbesetzung einfordern, doch müsse man der Regierung trotzdem ein politisches Bedenkenrecht einräumen, um ein spannungsfreies Miteinander von Kirche und Staat sicherzustellen. Die finanziellen Leistungen könne man zwar ohne Konkordat mit Rekurs auf die Verpflichtungen aus der Säkularisation begründen, doch seien die Zahlungen dann ohne rechtliches Fundament, also dem Gutdünken des Staates und womöglich kirchenfeindlichen Regierungen anheim gestellt. Demnach war die rechtliche Fixierung der weitreichenden und für das kirchliche Leben zentralen Aspekte im Konkordat, wie vor allem die Gewähr der kirchlich-katholischen Sozialisation und Ausbildung der Kinder im Religionsunterricht und die Sicherung der Staatsleistungen für Pacelli wichtiger als die reine Umsetzung des Can. 329 § 2 CIC 1917 (vgl. Nr. 2). Er tat alles dafür, dass die Verhandlungen erfolgreich verliefen und war bereit, „bis an die äußersten Grenzen“ zu gehen, die mit der „Würde“ des Heiligen Stuhls und „den Interessen der Kirche vereinbar“ schienen. Wenn Pacelli der Regierung gegenüber mitunter auch einen Abbruch der Verhandlungen androhte, um massiven Druck auszuüben, so zeigen seine Nuntiaturberichte doch eindrücklich, dass ein solcher für ihn überhaupt nicht infrage kam. Was waren für Pacelli „die äußersten Grenzen“ im Bereich des Besetzungsmodus? Das erste Zugeständnis, zu dem Pacelli – eher als der bayerische Episkopat – bereit war, bestand in dem politischen Bedenkenrecht, für das es in der gerade angebrochenen „Konkordatsära“383 bereits Präzedenzfälle gab und das daher nach Ansicht des Nuntius dem bayerischen Staat nicht verweigert werden konnte. Nach dem eben Gesagten ist es eigentlich gar nicht als „Zugeständnis“ zu deklarieren, insofern es Pacelli der Regierung sogar ohne Konkordat zugestanden hätte. Für dasselbe in Verhandlungen Gegenleistungen zu verlangen, war also Taktik. Gegen die Forderung der Regierung nach einem allgemeinen Bedenkenrecht setzte er das enger gefasste politische Bedenkenrecht durch. Auf die grundsätzliche Klärung und inhaltliche Umschreibung des Bedenkenrechts, die innerhalb der AES anlässlich der bayerischen Konkordatsverhandlungen erfolgte, hatte Pacelli – nach Lage der Quellen – keinerlei Einfluss. Näher an die „äußerste Grenze“ rückten schließlich die Konzessionen, zu denen Pacelli hinsichtlich der Methode der Bischofsbestellung und das hieß zugunsten der Domkapitel bereit war. Dass diese in Form von Vorschlagsrechten durchaus weiter gingen, als der verabschiedete Konkordatsmodus vermuten lässt, wurde schon erwähnt (vgl. Nr. 2) und lässt sich vor dem hier gezeichneten Hintergrund richtig einordnen. Das Bischofswahlrecht der Domkapitel schließlich, auf das die Regierung
383
Vgl. Samerski, Kirchenrecht und Diplomatie. 118
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lange drang, lehnte er strikt ab – dieses ging über die „äußerste Grenze“ hinaus, die ihm sein Bischofsideal diktierte. 4. Zentraler Ansprechpartner und Unterstützer Pacellis bei den Konkordatsverhandlungen war Erzbischof Faulhaber und über dessen Vermittlung in zweiter Linie auch der übrige bayerische Episkopat, der auf den alljährlichen Freisinger Konferenzen und auch zwischendurch über die aktuellen Konkordatsentwürfe beriet. Nur Hauck und Mergel wandten sich in der Bischofsfrage auf direktem Weg an Pacelli, der wiederum außer Faulhaber niemanden isoliert um Rat oder Informationen anging. Den Münchener Erzbischof informierte der Nuntius regelmäßig über Fortund Rückschritte der Verhandlungen, fragte ihn nach seiner Einschätzung der WRV oder legte ihm seine Punktation I vor, die er wiederum auf Basis der von Faulhaber eingeholten Anmerkungen der Bischöfe überarbeitete. Was den Besetzungsmodus der Bischofsstühle anbelangt, ging der Episkopat – anders als etwa in Preußen – mit Pacelli in allen wesentlichen Aspekten konform, insbesondere in der Ausschaltung der staatlichen Einmischung und der Ablehnung des Kapitelswahlrechts. Wenn es auch unterschiedliche Auffassungen darüber gab, ob den Domherren nicht zumindest ein Vorschlagsrecht eingeräumt werden sollte – Bischof Mergel war beispielsweise von Anfang an dafür –, teilten sie doch Pacellis Ärger über die Vorstöße der Domkapitel, in denen Faulhaber nicht weniger als Verrat erblickte. Die Domherren ignorierte der Nuntius völlig, mit Ausnahme von Kiefl und Scheglmann, insofern sie nämlich seine Position teilten und daher seinen Dank verdienten. Als zweite Gruppe, zu der Pacelli in Verbindung stand, sind die Kanonisten Hollweck und Scharnagl zu nennen.384 Den Erstgenannten, den er schon früher bei den Kodifizierungsarbeiten des Kirchenrechts persönlich kennengelernt hatte, bat der Nuntius zwar nicht selbst um das Gutachten zur Fortgeltung des Konkordats, aber dennoch stimmte er dessen Urteil fast vollständig zu. Der Zweitgenannte war Landtagsabgeordneter und Teil des Beratungsgremiums im Münchener Ordinariat. Scharnagl vertrat in seiner Stellungnahme vom Januar 1923 die kuriale Position zum Bischofswahlrecht, hielt allerdings ein Vorschlagsrecht der Domkapitel für möglich. Insofern ist es nachvollziehbar, warum Pacelli im August des Jahres bei ihm Rat einholte, wie der Besetzungsmodus modifiziert werden könnte, um die Regierung zufrieden zu stellen. Scharnagls „römische Ausrichtung“ trotz Parteibindung war vermutlich Grund für Pacelli, ihm zu vertrauen und ihn
384
Bemerkenswert ist, dass Pacelli seinen eigentlichen Berater in Fragen, die das deutsche Konkordatsrecht betrafen, Ludwig Kaas, für die Verhandlungen über den Besetzungsmodus der bayerischen Bischofsstühle – zumindest laut der einschlägigen vatikanischen Quellen – nicht heranzog. Die Vermutung, dass der Zentrumsprälat, der ohnehin eher auf ein Reichskonkordat fokussiert und mit dem bayerischen Partikularrecht nicht auf gleiche Weise vertraut war, an den konkreten bayerischen Verhandlungen nicht mitwirkte, äußerte bereits Georg May. Vgl. May, Kaas 2, S. 385. 119
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gegenüber Gasparri als „Geistlichen von bester Gesinnung“385 zu qualifizieren.386 Dessen Vorschlag, anstatt Triennal- besser Sedisvakanzlisten zu erlauben, griff Pacelli auf und gab ihn an die Kurie weiter, wo er in Form der zusätzlichen „Spezialliste“ des betroffenen Domkapitels prompt in den neuen Entwurf implementiert wurde. Auf diese Weise hatte Scharnagl gewichtigen Anteil am endgültigen Konkordatsmodus, auch wenn diese Listenform bereits früher von Pacelli angedacht war. Die Konkordatsverhandlungen brachten für Pacelli notwendigerweise ein permanentes Auftreten auf politischem Parkett mit sich, bei dem er sich die Unterstützung von Seiten der katholischen Abgeordneten der BVP erhoffte: sei es als Vermittler – wie im Frühjahr 1919 der Vorsitzende Friedrich Speck –, sei es ab 1920 als eigentliche Verhandlungspartner. Dabei wünschte der Nuntius, dass die Katholizität ihre Sicht auf die kirchliche Freiheit der Ämterbesetzung bestimmte, fand jedoch in dieser Hinsicht Grund zur Klage, als er feststellte, dass seine Verhandlungspartner den Idealen des Staatskirchentums verpflichtet seien (vgl. Nr. 3).387 Besondere Erwähnung verdient noch Pacellis erfolgreicher Versuch, über die aristokratische Linie Preysing-Soden informell an Justizminister Gürtner heranzutreten, um Informationen über die Haltung der BMP zum Kapitelswahlrecht zu erhalten. Die enge Verbindung zwischen Pacelli und dem Münchener Stadtpfarrer bestand schon seit Anfang der 1920er Jahre. Preysing war ihm ein steter Begleiter, beispielsweise auf seinen ständigen Dienstreisen in die Reichshauptstadt.388 Der Graf war dem Nuntius so vertraut, dass er dem ihm befreundeten, streng kirchlich gesinnten
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„… ecclesiastico di ottimi sentimenti …“ Pacelli an Gasparri vom 4. August 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. III, Fol. 190r. Schon 1918 hatte Scharnagl seine Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl demonstriert, als er Papst Benedikt XV. Exemplare seiner Arbeit über den neuen Codex übersandte. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 24. April 1918, ASV, Segr. Stato, Anno 1918, Rubr. 255, Fasz. 1, Fol. 169r. Die Besetzung der Bischofsstühle war nicht das einzige Thema in den Konkordatsverhandlungen, bei dem Pacelli auf Scharnagls Expertise zurückgriff. Vgl. zum Beispiel Pacelli an Gasparri vom 15. September 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1922, Pos. 72, Vol. I, Fol. 162r–171v, hier 168v. Wenn Ludwig Volk daher konstatiert, dass Faulhaber „die Bestrebungen der BVP-Prälaten Wohlmuth und Scharnagl, den bayerischen Domkapiteln das Recht auf Einreichung eigener Bischofslisten an den Papst zu verschaffen“, mit „ausgesprochenem Mißfallen verfolgte“ (Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. LXI), dann traf das für Pacelli sicher auf den Erstgenannten zu, da dieser sich unablässig für das Kapitelswahlrecht einsetzte, nicht aber auf den Freisinger Kirchenrechtler. Im Gegenteil waren sich beide einig, dass man um ein Vorschlagsrecht der Domkapitel nicht umhin kam. Auch mit dem ihm aus seiner früheren Zeit im Staatssekretariat gut vertrauten Freiherrn von Ritter „stand Pacelli in regem brieflichem Austausch“ und war sich dessen vermittelnder Tätigkeit für den erfolgreichen Konkordatsabschluss sehr wohl bewusst. Zedler, Bayern, S. 451. Wie die Rekonstruktion zeigt, gibt die Nuntiaturkorrespondenz zur Bischofsfrage darüber keinen Aufschluss. Vgl. zum Verhältnis zwischen Preysing und Pacelli Bd. 3, Kap. II.2.5 (Ergebnis Nr. 1). 120
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Juristen Carl-Oskar von Soden nicht verriet, im Auftrag Pacellis zu handeln.389 Diese Episode ist durch Pacellis Nuntiaturberichterstattung bezeugt. Nur erahnen lässt sich, wie intensiv die vor allem mündlichen Absprachen mit den „Münchenern“ Preysing oder Faulhaber waren, von denen kein schriftliches Zeugnis überliefert wurde. 5. Dass die Person und das Verhandlungsgeschick Pacellis zu großen Teilen für den erfolgreichen Abschluss eines Konkordats verantwortlich waren, das der Kirche beziehungsweise dem Heiligen Stuhl so viele Vorteile brachte, um als Musterkonkordat gelten zu können, ist kein Geheimnis.390 Die Nuntiaturkorrespondenz ermöglicht, seine Rolle kurienintern genauer zu fassen. Dabei ergibt sich das Bild eines Nuntius, der keineswegs nur Exekutor römischer Instruktionen war, sondern vielmehr klare eigene Positionen besaß und diese auch vertrat. Augenfällig wurde dies direkt zu Verhandlungsbeginn angesichts der Grundfrage nach der bleibenden Gültigkeit des alten Konkordats. Nachdem Pacelli diesbezüglich seine Auffassung vorgetragen hatte, schickte ihm Gasparri kommentarlos und ohne Nennung des Verfassers Ojetti ein Gutachten, das nicht nur die gegenteilige Ansicht vertrat, sondern dem Nuntius außerdem vorwarf, dass er die theoretisch-korrekte kanonistische Sicht zugunsten opportunistischer Vorteile – etwa um sich nicht „den Groll einer gewiss nicht gottesfürchtigen Regierung“ zuzuziehen – opfere. Damit ignorierte der Jesuit nicht nur die konkrete Verhandlungssituation, in der sich der Nuntius befand, sondern erfasste letztlich auch gar nicht die Problematik, die seine Position – das alte Konkordat sei gefallen – für die deutsche beziehungsweise bayerische Kirche mit sich bringen konnte (vgl. Nr. 3).391 Ebenso bleibt es fraglich, was Gasparri eigentlich bezweckte, als er Pacelli dieses Votum zukommen ließ. Jedenfalls brachte er ihn in eine schwierige Situation, etwas ohne nähere Erläuterung vertreten zu müssen, was dieser für falsch erachtete. Die Art, wie sich der Nuntius daraus befreite, demonstriert, was er von Gasparris Weisung hielt und wie viel 389
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Florian Trenner stellt in seiner Biographie über Carl-Oskar von Soden die Vermutung auf, dass Pacelli im Kontext der bayerischen Konkordatsverhandlungen „auch von Baron Soden entscheidende Informationen erhalten hatte“, was sich zwar nicht beweisen lasse, aber doch wahrscheinlich sei, „denn Soden hatte ja in gleicher Weise Zugang zu politischen Kreisen, wie zu kirchlichen“. Trenner, Soden (1986), S. 57. Diese Vermutung lässt sich also dahingehend präzisieren, dass Soden – so weit quellenmäßig nachvollziehbar – dem Nuntius zwar nicht als Informationsgeber, aber doch als „unbewusster“ Mittelsmann diente. Bernhard Zittel urteilte vor über einem halben Jahrhundert: „Sein Werk in München krönte Pacelli mit dem Abschluß des bayerischen Konokrdates, das – sein ureigenstes Werk – eine Meisterleistung darstellte.“ Zittel, Mönch, S. 489. Daran ändert auch nichts, dass Ojetti als formale „Strategie“ bis zum Abschluss eines neuen Konkordats propagierte, die Kirche nicht „zu kompromittieren“, da er mit seinen anschließenden Überlegungen zur interimistischen Pfarrbesetzung letztlich genau das verlangte. Denn ein dezidiert von der alten Praxis abweichender Modus der Pfarrerbestellung hätte von staatlicher Seite als Konkordatsbruch mit allen Konsequenzen ausgelegt werden können. 121
II.2.1 bayerische Konkordatsverhandlungen 1918–1925
Selbstbewusstsein er besaß: Er vertrat vor dem staatlichen Verhandlungspartner seine Ansicht von der Fortgeltung des Konkordats! Zwar deklarierte er diese zunächst nur als seine Privatmeinung, doch Ende Dezember 1919 formulierte er sie als offizielle Stellungnahme des Heiligen Stuhls und zwar ohne, dass Gasparri diese zuvor ausdrücklich abgesegnet hätte. Vor dem Kardinalstaatssekretär rechtfertigte sich Pacelli, warum er nicht die Position Ojettis vom Fall des alten Konkordats eingenommen hatte, zum einen mit einer Erklärung der daraus sich ergebenden Konsequenzen und zum anderen mit der kasuistischen Bemerkung, dass „Eure Eminenz, als Sie mir … die Kopie des Gutachtens … übersandten, nicht auftrugen, dessen Schlussfolgerungen zu übernehmen“. Er hatte also ein Schlupfloch gefunden, Gasparris Weisung auszuhebeln, weil dieser keine präzisen Anordnungen formuliert hatte. Mit einem Nuntius, der die rechtliche Situation nicht so klar erfasst oder aber nicht einen solchen Schritt gegenüber seinem Vorgesetzten gewagt hätte, wäre die Ausgangslage der Konkordatsverhandlungen für den Heiligen Stuhl grundlegend anders gewesen. „Die“ nach außen hin vertretene Position des Heiligen Stuhls war also in dieser zentralen Frage nichts anderes als die Position Pacellis, die dieser gegen Rom behauptete. Trotz der unklaren Rolle Gasparris, der hier nicht den Eindruck machte, als hätte er die politische Tragweite der Fortgeltungsfrage tatsächlich erfasst, ist aber nicht zu übersehen, dass er Pacelli gewähren ließ und dieses Thema nicht mehr ansprach. Vielmehr war er mit den von Pacelli im Anschluss ausgearbeiteten Punktationen und insbesondere mit dem darin postulierten freien kirchlichen Recht auf Ernennung der Bischöfe zufrieden. Diese Maximalforderung zu Beginn bereitete dem Nuntius jedoch im Fortgang der Verhandlungen große Schwierigkeiten, denn von nun an musste er den Kardinalstaatssekretär und die übrigen Kardinäle der AES mühsam davon überzeugen, dass Abstriche von dieser unbedingten Freiheit für den erfolgreichen Konkordatsabschluss notwendig waren. Sie billigten zwar umgehend die politische Klausel, als Pacelli diese empfahl, aber das vom Nuntius ebenfalls angeratene Listenverfahren lehnten sie strikt ab (Mai 1922). Auf den dezenten Hinweis Pacellis, dass eine Zugehen auf die Regierung auch hinsichtlich der Besetzungsmethode nötig sein und vielleicht zumindest ein Auditionsrecht der Bischöfe etabliert werden könnte, reagierten die Kardinäle – vor allem De Lai – erneut ablehnend (August 1922). Darin halfen sie Pacelli bei den Verhandlungen nicht und wälzten mit dem Hinweis, die „Klugheit“ des Nuntius werde die Problematik schon lösen, die Verantwortung auf ihn ab. Dieses Grundmuster blieb in der Folgezeit bestehen: Der Nuntius bat um Zugeständnisse, damit das Konkordat keinen „Schiffbruch“ erlitt (Oktober 1922), untermauerte seine Bitte sogar mit der Einschätzung der beiden bayerischen Erzbischöfe Hauck und Faulhaber, um gleichsam zu zeigen, dass nicht etwa sein fehlendes Verhandlungsgeschick, sondern die realpolitischen Umstände das Zugehen erforderten. Gasparri hingegen legte lediglich eine veränderte politische Klausel vor, die das eigentliche Problem nicht löste (November 1922). Die gemeinsame Bittschrift der bayerischen Domkapitel nahm Pacelli zum Anlass, um Gasparri erneut die Notwendigkeit von Konzessionen 122
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klarzumachen (Dezember 1922). Als die Regierung zum Auftakt der mündlichen Verhandlungen weiterhin auf dem Bischofswahlrecht insistierte, nahm Pacellis Berichterstattung fast flehentliche Züge an, endlich mehr Verhandlungsspielraum zu bekommen (Februar 1923). Ausführlich führte er dem Kardinalstaatssekretär die Konsequenzen vor Augen, falls das Konkordat scheiterte; er zeigte auf, dass die – von ihm geleistete – theoretische Widerlegung der staatlichen Position keinen Effekt habe; er explizierte, dass die Vorteile und Errungenschaften des Vertrags mehr wogen als die reine Umsetzung des Can. 329 § 2 und schlug schließlich erneut ein Listenverfahren der Domkapitel vor. Erst jetzt zog Gasparri ein Zugeständnis bei der Methode der Bischofseinsetzung in Betracht, aber anscheinend nicht, weil er Pacellis langem Drängen nachgegeben hätte, sondern weil ihn vielmehr ein Gespräch mit dem bayerischen Gesandten Ritter überzeugt hatte. Nur dessen Anliegen, der Regierung den „Anschein“ eines Zugeständnisses zu machen und die Versicherung abzugeben, keinem deutschen Teilstaat das Kapitelswahlrecht mehr zu konzedieren, wollte er stattgeben (Mai 1923). Dementsprechend wich nicht nur das von ihm der AES vorgetragene Listenverfahren (jährliche Kapitels- und Bischofslisten) von Pacellis Vorschlag (Sedisvakanzliste) ab, sondern gerade auch die genannte Versicherung stand im Gegensatz zur Position des Nuntius, der ein künftiges Kapitelswahlrecht in Preußen bereits für wahrscheinlich erklärt hatte. Gasparri vertraute dem bayerischen Gesandten also mehr als dem Nuntius beziehungsweise er wollte die Konkordatsverhandlungen offensichtlich eigenständig einer glücklichen Lösung zuführen. Entscheidend ist, dass Pacelli zwar den aus der AES-Sitzung (Mai 1923) hervorgegangenen Listenmodus an die staatlichen Verhandlungsführer weiter kommunizierte, das aufgetragene Versprechen jedoch nicht leistete. Hier stellte er sich gegen Gasparri und die AES, weil er eine solche Zusicherung für nicht einhaltbar, inopportun und daher falsch hielt. Die Regierung reagierte auf den neuen römischen Modus unerwartet mit der inakzeptablen Forderung, dass das betroffene Domkapitel eine verbindliche „Zweierliste“ aufstellen sollte, woraufhin Pacelli schließlich empfahl, dem Modus eine Sedisvakanzliste hinzuzufügen, was Gasparri und Pius XI. dann auch als äußerste Konzession akzeptierten (August 1923). Auffällig ist, dass Pacelli diese Instruktion noch mehr als gewöhnlich völlig wortgetreu bis ins kleinste Detail übernahm, als er der Regierung diesen letzten Modus vorlegte (September 1923). Vermutlich wollte er sich damit versichern, dass, falls die staatliche Seite nicht einlenken und die Verhandlungen an diesem Punkt scheitern sollten, er die Verantwortung von sich weisen und beweisen konnte, „nur“ die römischen Anordnungen ausgeführt zu haben. Die Regierung lenkte daraufhin ein und war prinzipiell bereit, eine römische Nomination plus Listenverfahren anzunehmen (Oktober 1923). Eine wesentliche Bedingung war jedoch, dass der Heilige Stuhl die „Meistbegünstigungsklausel“ akzeptierte, welche die Regierung überhaupt erst deshalb verlangte, weil Pacelli das Versprechen, dass Bayern hinsichtlich des Kapitelwahlrechts nicht schlechter als die übrigen deutschen Staaten gestellt werde, noch nicht geleistet hatte. Das bedeutete freilich, dass der Nuntius seinem Vorgesetzten gestehen musste, die Anweisung nicht ausgeführt zu haben. Wieder einmal 123
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bestritt er einen doppelten „Kampf “: Einerseits gegen die Regierung, insofern er unbedingt vermeiden wollte, dass diese Begünstigungsklausel im Konkordatstext verankert wurde. Andererseits gegen Gasparri und die AES, insofern er die einfachste Lösung, der Regierung das offizielle Versprechen zu geben, weder Preußen noch sonst einem Land das Bischofswahlrecht zuzugestehen, ebenso verhindern wollte. Deshalb legte er Gasparri in aller Ausführlichkeit dar, welch weitreichende Konsequenzen dieses Versprechen für die Staatsleistungen an die Kirche und die gesamte, provisorische Ämterbesetzungspolitik des Heiligen Stuhls in Preußen, Deutschland und sogar darüber hinaus haben könnte (November 1923). Damit nahm Pacelli letztlich eine universale Perspektive ein, die eigentlich die des Kardinalstaatssekretärs und nicht des den örtlichen Interessen verpflichteten Nuntius gewesen wäre. Aber die Argumentation nützte nichts: Gasparri befahl ihm dennoch, der Regierung die angesprochene Zusicherung zu geben, weil der Heilige Stuhl fest entschlossen sei, keinem deutschen Staat das Kapitelswahlrecht mehr zu gewähren (Dezember 1923). Daraufhin gab Pacelli nach und leistete das Versprechen, das – wie erwähnt (vgl. Nr. 3) – später gebrochen wurde. In der oben skizzierten Fortgeltungsfrage hatte Pacelli noch einen (zugegeben) spitzfindigen Grund gefunden, Gasparris „Weisung“ nicht auszuführen, aber in dieser Frage sah er angesichts der mehrfachen ausdrücklichen Instruktion Gasparris keinen anderen Ausweg, als sie im Gehorsam zu seinen Amtspflichten zu erfüllen. Es war also gerade nicht, wie Jörg Zedler erklärt, Pacellis „Anregung“392, zu versichern, dass man keinem deutschen Staat das Bischofswahlrecht der Domherren mehr konzedieren werde, sondern dieser hatte vielmehr alles ihm möglich erscheinende getan, das Versprechen zu verhindern.393 Fasst man das Skizzierte zusammen, so bleibt festzuhalten, dass Pacelli sich zwar mit Gasparri, den Kardinälen der AES und letztlich auch Pius XI. in der Ablehnung des Bischofswahlrechts für die bayerischen Domkapitel einig war.394 Auch hinsichtlich der politischen Klausel gab es keine Divergenzen. Doch darüber hinaus stand er mit dem Kardinalstaatssekretär (und der von diesem geführten AES) trotz dessen mehrfach gezollter Anerkennung für seine Verhandlungserfolge praktisch in ständiger Frontstellung. Gasparri fehlte nicht nur der realpolitische und umfassende Blick des Nuntius vor Ort, sondern auch die Bereitschaft, Pacelli die nötige Verhandlungsfrei-
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Zedler, Bayern, S. 418. Richtig ist, dass Pacelli die unbestimmte Formel anregte, der Heilige Stuhl wolle Bayern nicht „benachteiligen“. Doch war diese Formel – wie gezeigt – dazu bestimmt, die ausdrückliche Versicherung gerade nicht geben zu müssen. Die gespannte Beziehung zwischen Pacelli und den Verantwortlichen in der Kurie zeigte sich schließlich ein weiteres Mal anlässlich der Ausarbeitung des Listenverfahrens, als Pacelli darüber verärgert war, dass die von ihm angefertigten Umsetzungsdekrete vom bayerischen Episkopat geprüft werden sollten. Der auf Basis von Ritters Berichterstattung gewonnene Eindruck Jörg Zedlers, dass „Gasparri zwischenzeitlich das Zugeständnis eines Kapitelwahlrechts in Erwägung zu ziehen schien“, erweist sich als nicht korrekt. Zedler, Bayern, S. 416. 124
II.2.2 Würzburg 1920–1924 II.2.2 Würzburg 1920–1924
heit zu gewähren. Dieser hingegen vertrat seine jeweils nach allen Seiten abgewogene Position nachdrücklich und versuchte ihr innerhalb der ihm gesteckten Grenzen, die er respektierte, und nicht ohne die Nerven der Verantwortlichen im Staatsekretariat zu strapazieren,395 so viel Geltung wie möglich zu verschaffen. Das gelang ihm geschickt in der Fortgeltungsfrage. Doch was den Besetzungsmodus anbelangte, schaffte er es ohne „Mithilfe“ Ritters nicht, bei Gasparri ein Listenverfahren durchzusetzen – erst für die nachträglich eingefügte Sedisvakanzliste war Pacelli wesentlich verantwortlich –, noch vermochte er das Versprechen hinsichtlich des außerbayerischen Kapitelswahlrechts zu verhindern.
II.2.2 Im Sog des Bayernkonkordats – Koinzidenz von Opportunität und Ideal: Würzburg 1920–1924 (Matthias Ehrenfried)396 Die Absetzung Ferdinand von Schlörs und die Einsetzung Johann von Haucks zum Apostolischen Administrator Die Initiative, an der Spitze des fränkischen Bistums eine Veränderung zu erwirken, kam von niemand anderem als dem Münchener Nuntius. Bei einem Rombesuch anlässlich des Todes seiner Mutter im Frühjahr 1920 schnitt Pacelli in einer Audienz bei Papst Benedikt XV. das Thema mit dem Hinweis an, dass der Würzburger Oberhirte, Ferdinand von Schlör, „obwohl noch bei robuster körperlicher Verfassung trotz seiner 81 Jahre,397 fast vollständig seine Erinnerung verloren hat und daher, nach Ansicht aller, nicht mehr zur Leitung der genannten wichtigen und großen Di-
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Einen deutlichen Widerhall davon gibt die Berichterstattung Ritters an das bayerische Staatsministerium: „Umso ungehaltener ist man dort [sc. im Staatssekretariat, R.H.], wie ich heute erfuhr, daß Mgr. Pacelli wieder um nähere Auskunft über die ihm erteilten Instruktionen bittet und dadurch den Fortgang der Verhandlungen verzögert. Das ist Pacelliʼs Art, sagte mir der Unterstaatssekretär mit einer etwas bitteren Miene. Er lichtet die Anker nicht, bevor er sich nicht überzeugt hat, daß das Schiff bis inʼs Kleinste und wenn es auch nur Schönheitsfehler wären, zur Fahrt bereit ist.“ Ritter an das bayerische Staatsministerium des Äußeren vom 15. September 1922, zitiert nach Zedler, Bayern, S. 401. Vgl. auch Franz-Willing, Vatikangesandtschaft, S. 193. Ein Beispiel für das akribische Arbeiten Pacellis am Konkordatstext findet sich bei Schwerdtfeger, Konrad, S. 39. Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Würzburg 1920–24 Domarus, Bischof, S. 23f.; Kramer, Ehrenfried, S. 149; Speckner, Wächter, S. 90f. Anders als heute war es nicht üblich, dass ein Diözesanbischof mit 75 Jahren seinen Rücktritt anbot. Vielmehr blieb dieser bis zu seinem Tod im Amt, wenn er nicht verzichtete. Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 302. 125
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özese geeignet ist“398. Deshalb schlug Pacelli dem Papst vor, Erzbischof Hauck, den Metropoliten der Bamberger Kirchenprovinz, zu der Würzburg gehörte, provisorisch als Apostolischen Administrator – „cum facultatibus necessariis et opportunis ad normam sacrorum Canonum“399 – mit der Verwaltung des Bistums Würzburg zu betrauen. Dies bedeutete nichts anderes, als dass dem greisen Oberhirten die rechtlichen Befugnisse zur Leitung der Diözese entzogen werden sollten. Nach seiner Rückkehr in die bayerische Hauptstadt informierte der Nuntius Hauck brieflich am 19. April über das vom Papst gebilligte Vorhaben. Benedikt XV. sei überzeugt, dass er die zusätzliche Arbeitslast gerne stemmen und das Würzburger Bistum an seiner „Weisheit, Klugheit und Festigkeit“400 teilhaben lassen werde. Da Hauck noch auf einer Visitationsreise war, bekannte er erst nach seiner Rückkehr fünf Tage später, dass ihn diese Entscheidung völlig unerwartet getroffen habe.401 Zwar wusste er um den gesundheitlichen Zustand Schlörs, war aber nach eigener Aussage nie auf den Gedanken gekommen, an seiner statt die Administration zu übernehmen. Weil es sich jedoch um eine Anordnung des Papstes handle, dürfe er sich nicht weigern, die geforderte Arbeit zu leisten, zumal es um seine Heimatdiözese gehe. Allerdings wollte er erfahren, wie Schlör sich zu dieser Sache stellte und wie man diesem gegebenenfalls seine Entbindung von den bischöflichen Pflichten beibringen konnte. Darüber hinaus ersuchte Hauck den Nuntius um Informationen, wie es überhaupt zu diesem Plan gekommen war und was der Heilige Vater von seiner Tätigkeit erwartete. Pacelli gab auf die berechtigten Fragen des Bamberger Oberhirten umgehend und bereitwillig Auskunft: Er habe nicht nur von mehreren Seiten gehört, „es könnte so nicht mehr weitergehen, da besonders das Gedächtnis nahezu vollständig versage“402, sondern habe sich auch selbst überzeugen können, dass Schlör nicht mehr regierungsfähig sei. Schon bei einer Reise nach Würzburg und Hammelburg im Dezember 1919, um heimgekehrte Kriegsgefangene zu begrüßen, sei ihm das aufgefallen.403 Diese Situation habe er dem Papst und dem Kardinalstaats-
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„… sebbene ancora di robusta costituzione fisica malgrado i suoi 81 anni di età, ha perduto quasi totalmente la memoria, e quindi, a giudizio di tutti, non è più atto al governo della importante e vasta diocesi suddetta.“ Pacelli an Gasparri vom 17. Mai 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 60, Fasz. 39, Fol. 36r–37r, hier 36r. Pacelli an Hauck vom 19. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 3rv, hier 3r. Vgl. zu den Rechten und Pflichten eines Administrators, auf die Pacelli hier anspielte, Cann. 312–318 CIC 1917. Vgl. dazu auch Bd. 1, Kap. II.1.4 Anm. 1046. Pacelli an Hauck vom 19. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 3r. Vgl. Hauck an Pacelli vom 24. April 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 4r–5v. Pacelli an Hauck vom 26. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 6r–7v, hier 7r. Vgl. dazu seinen Reisebericht für Gasparri vom 15. Dezember 1919, ASV, Segr. Stato, Guerra, 1914– 1918, Rubr. 244, Fasz. 144,2, Fol. 326r–329v. 126
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sekretär geschildert, die beide die Ansicht geäußert hätten, dass eine „Vorsorge“404 notwendig sei und möglichst schnell getroffen werden müsse. Ihre Eile erklärte Pacelli mit dem Hinweis, dass derzeit „eine günstige Regierung am Ruder sei und sich die Regelung ohne Schwierigkeit vollziehen lasse“405. Im Anschluss an den „Kapp-Putsch“ im März 1920406 war das bayerische Regierungskabinett unter dem von Pacelli verhassten Mehrheitssozialisten Johannes Hoffmann zurückgetreten und die MSPD aus der Regierungskoalition ausgeschieden. Daraufhin war die BVP als stärkste Fraktion ein Bündnis mit der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dem Bayerischen Bauernbund (BBB) eingegangen. Am 16. März schließlich hatte der Landtag den parteilosen Gustav von Kahr zum Ministerpräsidenten gewählt. Neuer Kultusminister wurde der BVP-Abgeordnete Franz Matt, den der Nuntius kurz darauf als „guten Katholiken“407 bezeichnete.408 Diese politische Lage schien den – von Pacelli unterrichteten – Verantwortlichen des Heiligen Stuhls günstig, um einvernehmlich mit dem bayerischen Staat vorzugehen, was nach bisherigem konkordatären Recht zwar nicht zwingend gefordert, doch für ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Kirche und Staat sowie insbesondere im Interesse der schwebenden Konkordatsverhandlungen geboten war. Ausgerüstet mit der „volle[n] Zustimmung“ von Papst und Staatssekretär zur Personalie und der „Vollmacht …, die Regelung dieser Angelegenheit in Ordnung zu bringen“409, habe er deshalb bereits – wie Pacelli dem Bamberger Erzbischof erläuterte – den Kultusminister über die römische Ernennung in Kenntnis gesetzt, der wiederum völlig einverstanden sei. Erst als sowohl von kurialer wie von staatlicher Seite das Plazet vorlag, hatte Pacelli also die Zustimmung Haucks eingeholt, während der einzige, der von der Verfügung des Heiligen Stuhls bis dahin noch nichts wusste, Schlör selbst war, der vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Dem Bamberger Erzbischof versprach Pacelli, sich zu bemühen, „in bestmöglicher Weise die Sache in Würzburg einzuleiten und jede Verletzung“410 zu vermeiden. Er hoffte, dass dies nicht übermäßig schwierig würde, da Schlör weiterhin im bischöflichen Palais leben könne – der Entzug seiner Leitungsgewalt blieb in dieser Hinsicht also unsichtbar.411
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Im Entwurf stand zunächst, dass „eine Änderung“ in der Bistumsleitung nötig sei, was Pacelli mit dem wesentlich schwächeren Terminus „Vorsorge“ ersetzte. Pacelli an Hauck vom 26. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 7v. Pacelli an Hauck vom 26. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 7v. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.2 Anm. 505. „… ottimo catholico …“ Pacelli an Gasparri vom 17. Mai 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 60, Fasz. 39, Fol. 36v. Vgl. zum Regierungswechsel Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 782–784. Pacelli an Hauck vom 26. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 7v. Pacelli an Hauck vom 26. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 7v. Hinsichtlich Haucks Frage, was der Papst von seiner Tätigkeit als Apostolischer Administrator erwartete, verwies ihn Pacelli auf die entsprechenden Canones des CIC. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.2 Anm. 399. 127
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Pacelli ließ keine Zeit verstreichen und wandte sich gemäß seiner Ankündigung am folgenden Tag, dem 27. April, nach Würzburg. Adressat war jedoch nicht Schlör selbst, sondern dessen Generalvikar, Adam Joseph Dittmeyer.412 Ihm erklärte er, dass der Papst „von verschiedenen Seiten“413 über den nachlassenden Gesundheitszustand des Würzburger Bischofs Kenntnis erhalten und daher Hauck zum Apostolischen Administrator ernannt habe. „Papst“ bedeutete an dieser Stelle für Pacelli so viel wie der „päpstliche Gesandte“, nämlich er selbst war es, der diese Kenntnis eingeholt und weitergereicht hatte. Er fuhr fort, dass, da auch der bayerische Kultusminister einverstanden sei, nur noch ein „heikler Punkt übrig“ bleibe: „Wie lässt es sich ermöglichen, mit aller Rücksicht und Zartheit die Sache dem hochwürdigsten Herrn Bischof beizubringen, ohne ihn zu verletzen?“414 Pacelli bat den Generalvikar, die Sache möglichst selbst in die Hand zu nehmen und falls das nicht opportun sei, ihm mitzuteilen, auf welche Weise dies geschehen könne. Dittmeyer kam der Bitte nach und teilte seinem Ordinarius die römische Verfügung mit. Wie er Pacelli am 5. Mai berichtete, habe Schlör die Maßnahme als „sehr schmerzlich empfunden“415, da dieser seine Amtspflichten doch nicht vernachlässigt habe. Zwar wisse Schlör um seine Gedächtnisschwäche, aber es fehle ihm „die Einsicht, dass er auch zur Verwaltung der Diözese unfähig geworden ist. Und doch ist es so.“416 Dittmeyer unterstützte die Einsetzung eines Administrators demnach vollkommen und war über den Plan keineswegs überrascht, da Hauck ihn bereits vertraulich unterrichtet hatte. Für den 12. Mai hatten beide eine Aussprache anberaumt. Der Generalvikar bat Pacelli daher, mit einer etwaigen amtlichen Verfügung bis nach diesem Termin zu warten. Nachdem Dittmeyer den Bamberger Erzbischof mündlich über die Lage des fränkischen Bistums umfassend informiert hatte, teilte er Pacelli mit, dass Schlör sich mittlerweile so verhalte, „als ob er von der ganze Sache nichts mehr wisse“417. Offenbar sah der Generalvikar in dieser Haltung ein Zeichen dafür, dass Schlör sich damit abgefunden hatte, von seinen oberhirtlichen Pflichten entbunden zu werden. Pacelli bekundete seinerseits Bedauern über den „empfindlichen Schmerz“418 des greisen Oberhirten, die römische Entscheidung zu akzeptieren, betonte aber – wie schon der Generalvikar selbst – die Notwendigkeit der Maßnahme.
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Vgl. Pacelli an Dittmeyer vom 27. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 8rv. Pacelli an Dittmeyer vom 27. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 8r. Pacelli an Dittmeyer vom 27. April 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 8r. Dittmeyer an Pacelli vom 5. Mai 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 9r–10v, hier 9r. Dittmeyer an Pacelli vom 5. Mai 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 9v. Dittmeyer an Pacelli vom 14. Mai 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 11rv, hier 11v. Pacelli an Dittmeyer vom 17. Mai 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 13r. 128
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Da somit alles geregelt war, ersuchte Pacelli den Kardinalstaatssekretär am 17. Mai, Haucks Ernennungsdekret ausfertigen zu dürfen.419 Außerdem drängte er, die Sache vor dem 6. Juni abzuschließen, weil für dieses Datum die nächsten bayerischen Landtagswahlen geplant waren, deren Ausgang noch offen sei. So könne die Gefahr vermieden werden, dass ein neuer Kultusminister „Schwierigkeiten schafft oder vielleicht unzulässige Einflussnahmen fordert“420. Die Sorge des Nuntius nahm man in Rom ernst: Rechtzeitig am 25. Mai traf die Genehmigung Gasparris bei ihm ein.421 Innerhalb eines Tages fertigte Pacelli das amtliche Dokument an und ließ es Hauck zukommen.422 Dieser versicherte, nach Kräften für das Bistum Würzburg zu arbeiten und hoffte, Schlör davon überzeugen zu können, dass der Heilige Stuhl ihn nur entlasten wolle.423 Am 7. Juni legte er Bischof und Domkapitel seine Ernennungsurkunde zum Administrator ad nutum Sanctae Sedis vor, wodurch er formal-rechtlich seine neue Aufgabe in Angriff nahm.424 Am folgenden Tag unterrichtete der neue Administrator den Nuntius davon, dass Schlör die Mitteilung, die Dittmeyer ihm im Auftrag Pacellis seinerzeit gemacht hatte, bereits wieder vergessen habe. Erneut habe der Altbischof schmerzlich auf seinen Amtsentzug reagiert, aber schließlich seinen Gehorsam gegenüber der römischen Verfügung versichert.425 Trotz dieser Gehorsamsbekundung konnte sich Schlör nicht mit der Situation abfinden, hielt seine körperlichen und geistigen Kräfte nach wie vor für ausreichend und übersandte Pacelli daher die Bitte, sich beim Papst zu verwenden, damit er in seine Amtspflichten wieder eingesetzt werde.426 Für Pacelli kam dies aber überhaupt nicht infrage. Er garantierte ihm, dass die Maßnahme „in der besten Absicht“ erfolgt sei und es dem Heiligen Stuhl einzig darum gehe, ihm „die Verantwortung zu erleichtern“427. Sorgsam vermied Pacelli jede Bemerkung über Schlörs Gesundheitszustand, den
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 17. Mai 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 60, Fasz. 39, Fol. 36r–37r. „… crei delle difficoltà ovvero pretenda forse inammissibili ingerenze.“ Pacelli an Gasparri vom 17. Mai 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1918–1920, Pos. 60, Fasz. 39, Fol. 37r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 24. Mai 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 14r. Vgl. Ernennungsdekret Haucks zum Apostolischen Administrator vom 26. Mai 1920 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 16r und Pacelli an Hauck vom 26. Mai 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 15r. Vgl. Hauck an Pacelli vom 27. Mai 1920, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 17r–18v. Vgl. Hauck an Pacelli vom 8. Juni 1920, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 20r–21r. Den Amtsantritt durch Vorlage der Urkunde bei Bischof und Domkapitel regelte der Can. 313 § 1 CIC 1917. Hauck bat den Nuntius, selbst einen Brief an Schlör zu verfassen und darin dessen Verdienste um die Diözese Würzburg lobend herauszustellen. Pacelli, der dies bis dahin nicht in Erwägung gezogen hatte, kam der Aufforderung unverzüglich nach. Vgl. Pacelli an Schlör vom 10. Juni 1920 (Entwurf), ANM 351, Fasz. 1, Fol. 23r. Vgl. Schlör an Pacelli vom 12. Juni 1920, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 24r. Pacelli an Schlör vom 15. Juni 1920 (Entwurf), ANM 351, Fasz. 1, Fol. 25r. 129
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Grund für die Absetzung, den dieser nicht akzeptiert hatte.428 Auf Basis dieser Nachricht aus der Münchener Nuntiatur entschied sich Schlör, von seinem Ansinnen abzusehen und die Einsetzung Haucks zum Administrator für seine Diözese endgültig hinzunehmen.429
Alternativlösung Koadjutor? Diese Einsetzung war gewissermaßen der erste Akt für die ordentliche Neubesetzung der Diözese. Den Beteiligten war klar, dass Haucks Tätigkeit in Würzburg nur vorübergehend sein konnte und keine dauerhafte Lösung war. Ein solche schlug Generalvikar Dittmeyer noch im gleichen Jahr vor. Als er am 30. Dezember dem Nuntius brieflich seine Neujahrswünsche übermittelte, lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Würzburger Dompropstei, die durch den Tod des Prälaten Clemens Valentin Heßdörfer am 10. des Monats vakant geworden war.430 Wenn man für diese Dignität eine Person finde, die sich zum Koadjutor eigne, „könnten die hiesigen schwierigen Verhältnisse gut geordnet werden“431. Die Gelegenheit, einen Koadjutor ohne zusätzliche und schwer zu akquirierende Mittel angemessen zu finanzieren, wollte er nutzen. Auch liege es im Interesse Haucks, mit dem sich der Generalvikar über die Sache bereits verständigt hatte, von seinem Administratoramt entbunden zu werden, zumal ein Ende der jetzigen Konstellation an der Bistumsspitze – und damit meinte Dittmeyer nichts anderes als den Tod Schlörs – nicht abzusehen sei. Pacelli jedoch griff diesen Gedanken nicht auf, sondern versicherte dem Generalvikar am 2. Januar 1921 lediglich seine Bereitschaft, „alles zu tun, was zum Besten der Diözese Würzburg gereichen kann“432. Wenige Tage später meldete sich der Bamberger Erzbischof selbst bei Pacelli und präsentierte denselben Vorschlag.433 Allerdings spezifizierte er ihn, insofern er von einem Koadjutor mit Nachfolgerecht sprach. Mit dieser Lösung sei der sachgerechten Verwaltung des Bistums besser geholfen als mit seiner Administration von Bamberg aus: „Ich merke immer mehr, dass in Würzburg ein energischer und praktischer Mann nottut, der an Ort und Stelle weilt und immer nach dem Rechten sehen kann. Ich hatte schon verschiedene Fragen zu erledigen, deren Ordnung von hier aus umständlich und zeitraubend
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Zwar hatte der Sekretär des Nuntius, Linus Mörner, im Entwurf noch „die nicht in Abrede zu stellenden Gebrechen“ Schlörs angesprochen, doch strich Pacelli diesen Passus aus dem Text, um sich auf keine Diskussion zu diesem Thema einzulassen. Im Unklaren war er allerdings, welche Befugnisse er künftig noch besitzen sollte. Vgl. dazu die Briefwechsel zwischen Schlör und Pacelli vom 23., 25. und 29. Juni 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 27r–29v. Vgl. Dittmeyer an Pacelli vom 30. Dezember 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 32r–33r. Dittmeyer an Pacelli vom 30. Dezember 1920, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 32v. Pacelli an Dittmeyer vom 2. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 34rv, hier 34r. Vgl. Hauck an Pacelli vom 6. Januar 1921, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 35r–36r. 130
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war, während sie von einem Koadjutor in Würzburg selbst ganz leicht hätten geregelt werden können.“434
Ob sich Schlör jedoch damit arrangieren könne, hielt Hauck vor dem Hintergrund der Reaktionen, die jener bereits hinsichtlich der Einsetzung des Administrators gezeigt hatte, für zweifelhaft. Letztlich müsse aber das Wohl des Bistums ausschlaggebend sein. Pacellis Entgegnung enthüllt, warum er sich gegenüber Dittmeyer so unkonkret geäußert hatte: Der Vorschlag begeisterte ihn keineswegs.435 Zwei Gründe veranlassten ihn zu seiner Ansicht: Zum einen sei eine erneute Änderung in der Bistumsleitung nach so kurzer Zeit nicht wünschenswert, „besonders bevor die Besetzung der kirchlichen Ämter durch Abschluss des Konkordates frei geworden ist“436. Zum anderen würde diese Maßnahme den Würzburger Bischof in erneute „Aufregung“437 versetzen. Obwohl ihm der Koadjutorplan daher inopportun schien, erklärte sich Pacelli bereit, Hauck in München zu empfangen und ihm die Gelegenheit einer Aussprache zu den diözesanen Verhältnissen zu geben, wozu der Bamberger Oberhirte sich zuvor ausdrücklich zur Verfügung gestellt hatte. Wenn dringende Gründe für die Aufstellung eines Koadjutors sprächen – so Pacelli –, wäre er auch bereit, dem Heiligen Stuhl dahingehende Vorschläge zu unterbreiten. Die angesprochene Audienz sollte am Dienstagmorgen, dem 1. Februar, stattfinden.438 Was hier besprochen wurde, muss offen bleiben, wobei festzuhalten ist, dass es Hauck nicht gelang, den Nuntius umzustimmen und die Idee, einen Koadjutor zu installieren, durchzusetzen.
Ein zweiter Anlauf: Weihbischof Hierl als Koadjutor für Schlör? Während die Konkordatsverhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Bayern sich länger hinzogen als von Pacelli eigentlich gewünscht und damit die für ihn entscheidende Voraussetzung bestehen blieb, die Lage in Würzburg so zu belassen wie sie war, grassierten Gerüchte, dass eine Neuvergabe des Bischofsstuhls bevorstand.439 Auch Faulhaber stellte ernste Überlegungen an, wer die
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Hauck an Pacelli vom 6. Januar 1921, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 35r. Vgl. Pacelli an Hauck vom 8. Januar 1921 (Reinschrift des Entwurfs), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 38rv. Pacelli an Hauck vom 8. Januar 1921 (Reinschrift des Entwurfs), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 38r. Pacelli an Hauck vom 8. Januar 1921 (Reinschrift des Entwurfs), ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 38r. Vgl. Johann Grellner (erzbischöflicher Sekretär) an Pacelli vom 21. Januar 1921, ASV, ANM 351, Fasz. 1, Fol. 39r und Schioppa an Grellner vom 23. Januar 1921 (Entwurf), ebd., Fol. 40r. Zum Beispiel erhielt Pacelli ein undatiertes Schreiben eines Verfassers mit dem Pseudonym „Zelotes“, der vermutlich aus der Diözese Würzburg stammte: „Hartnäckig erhält sich das Gerücht, daß H[ochwürden] H[err] Generalvikar Weidinger Bischof von Würzburg werden soll. Wir bitten und beschwören 131
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Nachfolge Schlörs antreten könnte.440 Doch die Jahre 1921 und 1922 verstrichen, ohne dass Pacelli sich dieser Sache annahm. Im Juli 1923 wird quellenmäßig wieder fassbar, dass der Nuntius mit der Würzburger Besetzungsfrage konfrontiert wurde. Seinen Ausgangspunkt nahm die Angelegenheit in Regensburg, genauer in dem gespannten Verhältnis zwischen dem dortigen Oberhirten Anton von Henle und seinem Weihbischof Johann Baptist Hierl. Letztgenannter war im Februar 1911 in dieses Amt erhoben worden, wie Pacelli am 14. Juli 1923 für den Kardinalstaatssekretär rekapitulierte.441 Henle habe ihn seinerzeit selbst vorgeschlagen, dessen Qualitäten in der Seelsorge und Interesse an politischen Fragen – Hierl war zuvor für knapp zehn Jahre bayerischer Landtagsabgeordneter (BVP) gewesen – besonders herausgestellt, allerdings auch Zweifel angemeldet, ob er „quoad theologiam in omni genere absolutus“442 sei. Weil der damalige Münchener Nuntius, Andreas Frühwirth, dieser – vor dem Hintergrund der Modernismusstreitigkeiten zu lesenden – Einschätzung keine Bedeutung beigemessen und ihn stattdessen als „vorbildhaften und eifrigen Priester“443 gewürdigt habe, sei er von Pius X. mit dem fraglichen Amt betraut worden. Doch schon nach kurzer Zeit habe sich zunehmend ein Dissens zwischen Diözesan- und Weihbischof entwickelt,444 der es unmöglich mache, dass letzterer länger in dieser Position verweile.445 So zumindest beurteilten es Hierl selbst und der Fraktionschef der BVP, Heinrich Held, der ein guter Freund des Weihbischofs war. Beide hätten ihm – so Pacelli – vorgeschlagen, „als einzig derzeit ausführbare Lösung“446, ihn zum Koadju-
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Eure Exzellenz, dieses Unglück von der Diözese fernzuhalten.“ Es folgte ein Pamphlet, das Joseph Weidinger, der Dittmeyer 1922 als Generalvikar nachfolgte, auf allen Ebenen diskreditierte. Vgl. „Zelotes“ an Pacelli ohne Datum, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 2r–3r (nur r). Im Juni 1922 legte Faulhaber dem Nuntius eine Liste von fünf Würzburger Diözesanklerikern vor, die er sich auf dem Bischofsstuhl vorstellen konnte: 1. den Subregens des Würzburger Priesterseminars, Vitus Brander, 2. den Pfarrer von Brückenau, Franz Miltenberger, 3. den Pfarrer von Mömlingen, Ernst Harth, 4. den Würzburger Stadtpfarrer, Karl Göbel, 5. den Oberstudienrat am Realgymnasium, Hugo Michael Kaufmann. Vgl. Faulhabers Kandidatenliste vom Juni 1922, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 4r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 45r–48r. Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 45r. „… sacerdote esemplare e zelante …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 45v. Dieser Konflikt, der nicht nur Henle und Hierl betraf, sondern das gesamte Domkapitel spaltete, sollte ein prägendes Moment des Regensburger Besetzungsfalls 1927/28 werden. Pacelli berichtete von der Beschwerde Hierls, dass Henle ihn nicht wie einen Bischof behandle, vor allem was das liturgische Zeremoniell anbelangte. Ergebnis der Auseinandersetzung sei gewesen, dass Henle „avrebbe man mano messo il suo Ausiliare quasi completamente in disparte, non affidando a lui se non assai poche funzioni, anche per ciò che riguarda le Cresime“. Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 46r. „… come unica soluzione attualmente effettuabile …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 46r. 132
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tor cum iure successionis des Bistums Würzburg zu ernennen. Der Nuntius schilderte Gasparri, dass ihm Ministerialrat Franz Goldenberger im Namen des bayerischen Kultusministers wenig später denselben Vorschlag unterbreitet und erklärt habe, „dass dieser [sc. Matt, R.H.] sehr danach verlangt, dass Monsignore Hierl, den er sehr schätzt, aus einer so misslichen Lage befreit wird und die Sache daher wärmstens empfiehlt; er würde dann versuchen, vom Landtag die notwendigen finanziellen Mittel für den Unterhalt des Koadjutors zu erhalten, bis er Monsignore von Schlör auf dem Bischofsstuhl von Würzburg nachfolgt.“447
Dieser von Hierl über die bayerische Regierung betriebene Versuch, zum Koadjutor und damit letztlich zum Diözesanbischof „befördert“ zu werden, war für Pacelli der Anlass gewesen, mit diesem Thema in Rom vorstellig zu werden. Doch was hielt er von diesem Vorstoß? Er teilte die Auffassung, dass Hierl ein anerkennenswerter und eifriger Geistlicher sei, den er nicht zögere, vorbehaltlos für andere Diözesen, wie beispielsweise Eichstätt, in Vorschlag zu bringen. Sicherlich würde Hierl zweifellos auch in Würzburg „einen guten und würdigen Oberhirten“448 abgeben, was Faulhaber, den er darüber vertraulich befragt habe, genauso sehe. Doch zweifelte Pacelli erheblich daran, dass Hierl „angesichts der besonderen Umstände“ der Würzburger Diözese „als sehr gut“449 für den Posten zu bezeichnen sei. Was verstand der Nuntius unter diesen „speziellen Umständen“? Zunächst einmal sei das Bistum schwer zu verwalten, weil es ein beträchtliches Diasporagebiet einschließe – seine Grenzen erstreckten sich über Bayern hinaus nach Thüringen.450 Außerdem habe es in der letzten Zeit sehr unter dem mentalen Zustand Schlörs gelitten. Daher schien ihm „ein tatkräftiger, aktiver und vom Alter noch nicht sehr weit fortgeschrittener Hirte wünschenswert, der mit unermüdlichem und klugem Eifer den Zustand der genannten Diözese wieder aufrichtet“451. Zu diesem Profil trat für Pacelli ein zweiter Aspekt hinzu:
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„… che questi, vivamente desideroso che Mons. Hierl, da lui sommamente stimato, sia liberato da tanto spiacevole situazione, raccomandava caldamente la cosa ed avrebbe poi cercato di ottenere dal Landtag i fondi necessari per la sostentazione del Coadiutore, finché egli non succeda nella Sede di Würzburg a Mons. de Schlör.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 46v. „… un buono e degno Pastore …“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 46v. „… considerate le condizioni speciali … come lʼottimo.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 47r. Vgl. zur Zirkumskription Burkard/Gatz, Bistum Würzburg, S. 764f. Vgl.: „Sembrerebbe quindi desiderabile per tale Sede un pastore forte, attivo e di età non troppo avanzata, il quale con infatigabile ed intelligente zelo risollevi lo stato della diocesi stessa.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 47r. 133
II.2.2 Würzburg 1920–1924
„Würzburg … hat eine staatliche Universität mit einer theologischen Fakultät, an der es … neben guten Professoren, wie [Joseph, R.H.] Zahn, [Franz, R.H.] Gillmann etc. andere gibt, die Anlass zur Zensur gegeben haben, wie [Sebastian, R.H.] Merkle oder [Johannes, R.H.] Hehn. Es scheint daher angemessen, dass der neue Bischof neben einer gesunden Lehre auch Ansehen auf wissenschaftlichem Gebiet besitzt, derart, dass er sich mit seiner Autorität in der genannten Fakultät durchsetzen und mutig Hand an die nötigen Reformen legen kann.“452
Auch ohne nähere Erläuterung war Gasparri natürlich klar, dass Pacelli bei den genannten Reformen die Richtlinien im Sinn hatte, welche die Studienkongregation dem deutschen Episkopat im Oktober 1921 an die Hand gegeben hatte.453 Der neue Bischof sollte die darin protegierte römisch-scholastische Theologie selbst vertreten und sich in der wissenschaftlichen Zunft bereits einen Namen gemacht haben, um mit der nötigen Autorität dafür sorgen zu können, dass für theologisch „fragwürdige“ Professoren kein Platz mehr war und die Alumnen stattdessen die ausschließlich gesunde Theologie hörten.454 Genau dies vermochte Hierl aus Pacellis Sicht aber nicht. Ihm fehle der Doktortitel, er habe sich nicht wissenschaftlich profilieren können und es bleibe der Zweifel, ob seine Theologie umfassend und einwandfrei sei, womit Pacelli an die eingangs erwähnte Wertung Henles anknüpfte. Dennoch wies Pacelli die Kandidatur Hierls nicht unbedingt ab, schließlich war sie von staatlicher Seite nachdrücklich gewünscht. Vielmehr waren die Gedanken des Nuntius differenzierter: „Sollte die Regierung schließlich zustimmen (was noch immer unsicher ist), den Standpunkt des Heiligen Stuhls im Artikel des Konkordatsprojekts über die Ernennung der Bischöfe anzunehmen, könnte der Heilige Stuhl aus einem Geist des Entgegenkommens dem Wunsch des Herrn Kultusministers bezüglich Monsignore Hierl zufriedenstellen; das müsste außerdem ein größeres Wohlwollen erzeugen gegenüber dem Heiligen Stuhl und dem Konkordat sowie gegenüber Dr. Matt – übrigens auch gegenüber Herrn Held –, der das Konkordat im Landtag wird verteidigen müssen. Im gegenteiligen Fall, scheint mir, dass es keinen Grund gäbe für ähnliche Rücksichten und dass es besser wäre, jener Diözese einen in jeder Hinsicht geeigneteren Hirten zu geben.“455
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„Würzburg … ha una Università dello Stato con Facoltà teologica, nella quale … accanto a buoni Professori, come lo Zahn, il Gillmann, ecc., ve ne sono altri, che hanno dato occasione a censure, come il Merkle e lʼHehn. Parrebbe quindi opportuno che il nuovo Vescovo possedesse, accanto alla sana dottrina, anche prestigio nel campo scientifico, di guisa che potesse colla sua autorità imporsi alla Facoltà anzidetta e mettere coraggiosamente mano alle necessarie riforme.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 47r-v. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.3 Anm. 728. Vgl. zu den theologischen Kontroversen innerhalb der Würzburger Fakultät zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere Weiss, Modernismuskontroverse (2000); Ders., Entwicklung (2002). „Se il Governo consentirà alfine (cosa tuttora incerta) ad accettare il punto di vista della S. Sede nellʼarticolo del progetto di Concordato concernente la nomina dei Vescovi, la S. Sede medesima potrebbe per spirito di condiscendenza soddisfare il desiderio del Sig. Ministro del Culto relativamente a Mons. Hierl; 134
II.2.2 Würzburg 1920–1924
War es bislang seine Politik gewesen, den Abschluss des Konkordats abzuwarten, um eine freie Amtseinsetzung ohne Schwierigkeiten vornehmen zu können, so witterte Pacelli jetzt die Möglichkeit, den Besetzungsfall für die Konkordatsverhandlungen zu instrumentalisieren. Die Frage nach der Methode der Bischofseinsetzung war im Frühsommer 1923 der zentrale Streitpunkt zwischen Regierung und Heiligem Stuhl geworden – während erstere beharrlich am Domkapitelswahlrecht festhielt, lehnte letzterer dieses ebenso beharrlich ab. Am 26. Mai erst hatte Pacelli dem Kultusminister den neuen römischen Entwurf des fraglichen Artikels 14 § 1 vorgelegt, der eine päpstliche Nomination auf Basis eines Triennallistenverfahrens des Episkopats und der Domherren vorsah. Diesen Modus hatte der Nuntius im Blick, als er von der „unsicheren“ Zustimmung der Regierung zum „Standpunkt des Heiligen Stuhls“ sprach. Als er Gasparri am 14. Juli den „Tauschhandel“ in der Person Hierls vorschlug, wartete er gerade sehnlichst auf die offizielle Stellungnahme der Regierung, die schließlich eine Woche später erfolgen sollte.456 Der angesprochene „Tausch“ sollte laut Pacellis Darstellung eigentlich kein Tausch im strengen Sinne sein, insofern er nicht intendierte, dem Kultusminister die Ernennung Hierls zum Koadjutor „anzubieten“, sondern lediglich sich „erkenntlich“ zu zeigen für den Fall, dass die römische Fassung des Artikels 14 akzeptiert würde. Das Entgegenkommen hätte außerdem den positiven Nebeneffekt, dass es die innerbayerische Stimmung zugunsten des Heiligen Stuhls und des Konkordatsprojekts beeinflussen, ja sogar innerhalb des Landtags als ein Erfolg des Kultusministers interpretiert werden konnte, was sich wiederum – so hoffte Pacelli – günstig auf die Abstimmung über den Staatskirchenvertrag auswirken würde. Dass er auf dieses Thema zu sprechen kam, ist nicht überraschend, da Pacellis Verhandlungspartner regelmäßig drohten, ohne Kapitelswahlrecht werde das Konkordat die Landtagsabstimmung nicht überstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Pacellis Bereitschaft verstehen, jetzt einen in seiner Sicht höchstens zweitklassigen Kandidaten für Würzburg zu akzeptieren, um ein Konkordat mit einem günstigen Besetzungsmodus abzuschließen, der künftig solcherart „Entgegenkommen“ nicht mehr nötig machte. Mit anderen Worten: Das Konkordat ging dem Würzburger Besetzungsfall vor. Deutlicher konnte Pacelli seine Prioritäten nicht kundtun. Pius XI., der Benedikt XV. im Februar 1922 auf die Cathedra Petri gefolgt war, sah die Dinge aber anders. Ohne Angabe von Gründen informierte Gasparri den Nuntius zwei Wochen nach dessen Berichterstattung, dass der Papst die
456
ciò varrebbe altresì a disporre ancor più favorevolmente verso la S. Sede e verso il Concordato così il Dr. Matt, come pure il Sig. Held, che dovrà difendere il progetto del Concordato stesso nel Landtag. In caso contrario, sembrami che non vi sarebbe motivo per simili riguardi e che converrebbe dare a quella diocesi il Pastore sotto ogni rispetto più idoneo.“ Pacelli an Gasparri vom 14. Juli 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 47v–48r. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die staatliche nota explicativa und eine neue innerkuriale Debatte sowie Der neue staatliche Konkordatsentwurf und Pacellis ‚Gegenmaßnahmen‘). 135
II.2.2 Würzburg 1920–1924
in Rede stehende Ernennung nicht für opportun halte.457 Damit war die Angelegenheit erst einmal wieder vom Tisch und Würzburg musste weiterhin auf einen neuen Oberhirten warten.
Der Tod Schlörs und Nachfolgeüberlegungen durch Pacelli und Hauck In den folgenden Monaten blieb der Wunsch nach einem neuen Hirten lebendig. So äußerte beispielsweise der Bamberger Diözesan Moritz Freiherr zu Franckenstein458 aus Ullstadt im Januar 1924 brieflich gegenüber Pacelli im Namen eines anonymen Würzburger Stadtpfarrers und vermeintlich des gesamten Diözesanklerus die Bitte, dass der Würzburger Bischofsstuhl bald wieder besetzt werden möge.459 Seiner Ansicht nach sollte „bei der wenig erbaulichen Diskussion über die 3 in der Stadt Würzburg wohnenden Kandidaten“460 ein Auswärtiger als Koadjutor mit Nachfolgerecht eingesetzt werden. Über diese drei namentlich nicht genannten Kandidaten wollte sich Franckenstein kein Urteil erlauben. Stattdessen nannte er als Alternative den Abt des Klosters Scheyern, den in der Nähe von Geisenhausen gebürtigen Simon Landersdorfer OSB. Pacelli bedankte sich mit einer allgemeinen Floskel für diesen Vorschlag, ließ die Angelegenheit aber zunächst ruhen.461 Für ihn wurde dieses Thema erst mit dem Tod Schlörs am 2. Juni 1924 wieder dringlich.462 Umgehend informierte Dompropst Thaddäus Stahler den Nuntius via Telegramm vom Ableben des greisen Bischofs.463 Einen Kapitelsvikar zu bestellen war nicht nötig, da die jurisdiktionellen 457 458
459 460 461 462
463
Vgl. Gasparri an Pacelli vom 28. Juli 1923, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 16r. Dass Franckenstein, obwohl er wie gesagt selbst nicht aus der Diözese Würzburg kam, an der dortigen Situation interessiert war, ergibt sich schon allein daraus, dass er zahlendes Mitglied der Ende 1921 gegründeten „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften bei der Universität Würzburg“ war. Vgl. dazu Schäfer, Freunde, S. 58. Vgl. Franckenstein an Pacelli vom 28. Januar 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 8rv. Franckenstein an Pacelli vom 28. Januar 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 8r. Vgl. Pacelli an Franckenstein vom 31. Januar 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 9r. Noch wenige Stunden vor dem Ableben Schlörs ersuchte Dompropst Thaddäus Stahler den Nuntius telegraphisch um den päpstlichen Segen für den Sterbenden, den Pacelli im Namen Piusʼ XI. postwendend gewährte. Vgl. Stahler an Pacelli vom 2. Juni 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 4, Fol. 42r und Pacelli an Stahler vom 2. Juni 1924 (Entwurf), ebd., Fol. 42r. Vgl. Stahler an Pacelli vom 2. Juni 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 4, Fol. 44r und am Folgetag in ausführlicher Form Stahler an Pacelli vom 3. Juni 1924, ebd., Fol. 46r. Vgl. auch die dem Nuntius übersandte Todesanzeige, ebd., Fol. 43rv. Die Einladung zur Teilnahme an den Exequien sagte Pacelli ab. Stattdessen übermittelte er dem Würzburger Domkapitel seine Beileidsbekundung. Vgl. Pacelli an Stahler vom 3. Juni 1924 (Entwurf), ebd., Fol. 45r sowie Stahler an Pacelli vom 10. Juni 1924, ebd., Fol. 51r. Die Domherren erhielten Mitte des Monats außerdem ein Kondolenztelegramm aus Rom, das Gasparri im Namen des Papstes verfasst hatte. Vgl. Würzburger Diöcesan-Blatt Nr. 20 vom 19. Juni 1924. 136
II.2.2 Würzburg 1920–1924
Vollmachten beim Administrator lagen. Die Frage, ob nun eine Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls erfolgen konnte, entschied für Pacelli bekanntermaßen der Verlauf der Konkordatsverhandlungen, die nach mittlerweile viereinhalb Jahren ihrem Ende entgegengingen. Am 29. März war der neue Staatskirchenvertrag paraphiert worden, sodass der künftige Modus zur Einsetzung der Bischöfe bereits festgesetzt war. Es fehlte allerdings noch die Zustimmung des bayerischen Landtags, die erst am 15. Januar 1925 im Rahmen eines Mantelgesetzes erfolgen sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt konnte der Vertrag Rechtskraft beanspruchen. Wollte Pacelli mit der Wiederbesetzung der Würzburger Cathedra bis zur staatlichen Ratifikation des Konkordats warten, von der er noch nicht genau wissen konnte, wann sie stattfinden würde? Bei Hauck verstärkte sich jedenfalls der Wunsch, von der Last der Administratur befreit zu werden, die er seit mittlerweile vier Jahren trug. In einem Schreiben an Pacelli von Mitte Juni 1924 zeigte er sich überzeugt, dass die Entscheidung, ob der bayerische Landtag dem Konkordat zustimme, bald fallen werde.464 Er ging davon aus, dass im positiven Fall der Würzburger Bischofsstuhl nach dem vereinbarten Modus besetzt würde. Diese Frage entschied sich für ihn letztlich daran, ob die schwierige Bildung einer Regierungskoalition gelang, um die sich die BVP nach den Verlusten bei der Landtagswahl vom 6. April und dem Rücktritt des Ministerpräsidenten, Eugen Ritter von Knilling, vom 5. Mai bemühte.465 Wenn dies nicht gelingen sollte – so Hauck –, müsse eine gesonderte Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Regierung getroffen werden: „Da möchte ich Euere Exzellenz recht innig und dringend bitten, die Sache in der Hochderselben geeignet erscheinenden Weise in die Wege zu leiten, damit Würzburg recht bald einen würdigen und tüchtigen Bischof erhält.“466 Anfang Juli war schließlich ein neues Regierungskabinett unter Ministerpräsident Held vereidigt worden. Dennoch musste Pacelli Hauck am 24. Juli467 sein Bedauern darüber ausdrücken, dass
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Nachdem die Beisetzungsfeierlichkeiten stattgefunden hatten, schrieb der Domvikar und bischöfliche Sekretär, Ivo Fischer, für den Nuntius einen Bericht über den Kranheitsverlauf des Verstorbenen und seine Beerdigung. Auch bedankte er sich bei Pacelli, die Altersschwäche Schlörs rücksichtsvoll ertragen zu haben. Vgl. Fischer an Pacelli vom 8. Juni 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 4, Fol. 49r–50r. Pacelli entrichtete seinerseits seinen Dank für die Informationen und versicherte, den Verstorbenen „nur in bestem Andenken“ zu bewahren. Pacelli an Fischer vom 11. Juni 1924 (Entwurf), ebd., Fol. 52r. Vgl. Hauck an Pacelli vom 20. Juni 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 18rv. Die BVP wollte eine Koalition mit der SPD unbedingt vermeiden, insbesondere deshalb, weil eine parlamentarische Zustimmung zum Konkordat von ihr nicht zu erwarten war. Daher blieb der BVP letztlich nur ein Bündnis mit dem BBB und der BMP beziehungsweise DNVP. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 785f.; Schwarz, Zeit von 1918 bis 1933. Zweiter Teil, S. 484–488. Hauck an Pacelli vom 20. Juni 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 18v. Am 13. des Monats hatte er den Erzbischof persönlich getroffen, als er in Bamberg anlässlich des Heinrichsfestes ein Pontifikalamt zelebrierte. Bereits hier war also Gelegenheit zum Meinungsaustausch in der Würzburger Frage gegeben. 137
II.2.2 Würzburg 1920–1924
„die Erledigung des Konkordates durch den Landtag vor den Ferien nun doch nicht mehr möglich ist“468. Daher beabsichtige er, „dem Heiligen Vater den Vorschlag zu unterbreiten, die Besetzung ohne Verzug vorzunehmen“469. Bedeutete das eine Wiederbesetzung vor der Ratifizierung? Darauf wollte sich Pacelli zumindest nicht festlegen, was daraus ersichtlich wird, dass es anstelle von „ohne Verzug“ im Entwurf des Schreibens zunächst „vor dessen Ratifizierung“ hieß, was von ihm dann aber entsprechend korrigiert wurde. Was die Kandidatenfrage anging, erklärte Pacelli dem Bamberger Erzbischof, dass ihm gegenüber der Wunsch vorgebracht worden sei, der Nachfolger Schlörs möge nicht dem Würzburger Bistum entnommen werden. Damit spielte er auf Franckensteins Eingabe vom Januar an, ohne diesen freilich gegenüber Hauck zu erwähnen. Wenn man sich an das Kandidatenprofil erinnert, das Pacelli gut ein Jahr zuvor gegenüber Gasparri gezeichnet hatte, so kann man davon ausgehen, dass der Wunsch nach einem externen Kandidaten nicht nur von außen herangetragen wurde, sondern auch seiner eigenen Auffassung entsprach: Ein Würzburger Geistlicher konnte der hiesigen Katholisch-Theologischen Fakultät, an der er womöglich ausgebildet worden war, sicher weniger Paroli bieten als ein unvoreingenommener Kandidat von außerhalb. Insofern verwundert es auch nicht, dass die beiden „besonders geeignet scheinende[n] Kandidaten“470, die er Hauck vorlegte, dem theologisch-wissenschaftlichen Kriterium vollauf genügten. Ohne nähere Charakterisierung nannte er den Eichstätter Hochschulprofessor Matthias Ehrenfried und den bereits erwähnten Scheyerner Abt Landersdorfer, der vor seiner Abtswahl 1922 wie der Erstgenannte Theologieprofessor gewesen war und auch anschließend noch wissenschaftlich arbeitete. Pacelli erwähnte, dass ihm beide Geistlichen „genannt“471 worden seien. Während der Benediktiner von Franckenstein vorgeschlagen wurde, war es niemand anders als der Kultusminister, der die Kandidatur Ehrenfrieds ins Spiel gebracht hatte. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zu beiden erbat sich der Nuntius von Hauck sub secreto Sancti Officii eine Einschätzung. Schon drei Tage später sandte der Bamberger Erzbischof eine ausführliche Stellungnahme zurück.472 Er bedauerte, dass die Besetzung des Bischofsstuhls noch nicht nach den Maßgaben des neuen Konkordats stattfinden könne, zumal es doch vorteilhaft sei, wenn der Heilige Stuhl „die Stimmung der betr[effenden] Diözese und des ganzen Episkopates besser kennen lernen [würde], als wenn Einzelpersonen ihre Ansichten und Wünsche vorzubringen versuchen, hierbei aber
468 469 470 471 472
Pacelli an Hauck vom 24. Juli 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 19r. Pacelli an Hauck vom 24. Juli 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 19r. Pacelli an Hauck vom 24. Juli 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 19r. Pacelli an Hauck vom 24. Juli 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 19r. Vgl. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 20r–21v. 138
II.2.2 Würzburg 1920–1924
mehr oder minder bewusst ihre besonderen Ziele verfolgen“473. Deutlicher konnte er seine Kritik an der Informationspolitik Pacellis wohl kaum artikulieren. Anstatt irgendwelche außenstehende Vertraute zu konsultieren, hielt er es für angemessener, das Würzburger Domkapitel und den bayerischen Episkopat in die Kandidatenfrage einzubeziehen. Deshalb überlegte er, ob nicht schon jetzt sub secreto strictissimo von diesen beiden Vorschlagslisten verlangt werden könnten.474 Dieses Prozedere war dem Bamberger Oberhirten so wichtig, dass er „fast zur Ansicht“ neigte, „es könne mit der Besetzung des Würzburger Bischofsstuhles schließlich doch zugewartet werden bis zur Ratifikation des Konkordates im Landtag“475, sofern diese nicht später als im Oktober erfolgen sollte. Er wolle die Last der Bistumsverwaltung notfalls noch einige Monate länger tragen. Diese Anmerkungen legen bereits die Vermutung nahe, dass Hauck von den beiden Kandidaten des Nuntius nicht überzeugt war und versuchte, über die Einforderung der Vorschlagslisten das Kandidatentableau zu verändern. Daraufhin entfaltete Hauck seine eigenen Personalüberlegungen. Zur Frage der externen Provenienz des neuen Oberhirten fand Hauck sowohl Pro- als auch Contra-Argumente. Da die Thematik in Würzburg selbst „in ziemlich unschöner Weise und in leicht zu durchdringender Absicht in öffentlichen Blättern“ behandelt und mögliche Amtsanwärter aus der eigenen Diözese völlig diskreditiert worden seien, hätte ein auswärtiger Geistlicher „nicht von vorneherein mit einer ihm missgünstigen Strömung zu rechnen und zu kämpfen“476. Dagegen spreche jedoch, dass ein auswärtiger Kandidat weder die diözesanen Verhältnisse noch den Klerus kenne. Die daraus resultierende Abhängigkeit vom Ordinariat oder anderen „Vertrauenspersonen“ könne leicht dazu führen, auf „irrige[r] Weise beeinflusst“477 zu werden. Offensichtlich brachte er hier Erfahrungen zum Ausdruck, die er als Administrator selbst gemacht hatte. Jedenfalls schien dem Bamberger Erzbischof das Provenienzkriterium letztlich verfehlt, weil es doch faktisch um die administrative Eignung ginge, ein solch großes Bistum und den dortigen „ziemlich demokratisch gesinnt[en]“478 Klerus zu regieren. Diese demokratische Gesinnung, die er kritisch beäugte, führte er hauptsächlich darauf zurück, dass durch die krankheitsbedingt unzureichende Amtsführung Schlörs seit einem Jahrzehnt „die Achtung vor der bischöflichen Autorität etwas gelitten“479 habe. Auch das bischöfliche Ordinariat handle viel zu selbständig. Diese Missstände habe er von Bamberg aus nicht
473 474
475 476 477 478 479
Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 20r. An die vom neuen Konkordat ebenfalls vorgesehenen Listen aller bayerischen Domkapitel dachte Hauck anscheinend nicht. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 20v. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 20v. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 20v. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21r. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21r. 139
II.2.2 Würzburg 1920–1924
essentiell beheben können, womit Hauck kein sonderlich positives Urteil über seine vierjährige Administratur fällte. Von hier aus profilierte er nun die Charaktereigenschaften des zu ernennenden Bischofs: Dieser werde „über ein großes Maß von Einsicht in die Diözesanverwaltung, von Klugheit und von ruhiger Energie und auch von Geduld verfügen müssen, wenn es ihm gelingen soll, alles bald ins rechte Geleis zu bringen. Ein Stürmer wäre wohl ebenso fehl am Platze als ein Mann ohne Energie.“480 Hauck legte den Fokus also anders als Pacelli einzig auf verwalterische Fähigkeiten und Führungsqualitäten. Passten aber die beiden vom Nuntius vorgebrachten Geistlichen in Haucks Kandidatenprofil? Ehrenfried war dem Bamberger Erzbischof persönlich bekannt „als ein tadelloser Priester, ein Gelehrter, der namentlich auch auf dem Gebiete der Philosophie zu Hause ist, ein sehr gewandter Redner, der nicht leicht in Verlegenheit zu bringen ist“481. Ohne es zu wissen, bestätigte Hauck dem Nuntius damit genau die Attribute, auf die es diesem ankam. Ob Ehrenfried jedoch in der Seelsorge und Bistumsverwaltung bewandert sei, könne er nicht beurteilen. Hierüber solle Pacelli sich beim Eichstätter Oberhirten Mergel versichern. Weniger wusste Hauck über Landersdorfer zu berichten. Ihn stimme jedoch bedenklich, dass der Benediktiner seit jeher nur im Kloster gelebt und sich vornehmlich pädagogischen und philologischen Studien hingegeben habe, sodass „die Vermutung nicht abzuweisen ist, er möchte etwas weltfremd sein“482. Außerdem sagte Hauck der Gedanke nicht zu, dass von vier Bischöfen der Kirchenprovinz Bamberg zwei dem Orden des heiligen Benedikt angehören sollten – neben Mergel in Eichstätt auch Landersdorfer in Würzburg. Abschließend relativierte er seine Wertung jedoch wieder und bekannte, nichts gegen den Abt vorbringen zu wollen, seine Bedenken könnten immerhin durch dessen persönliche Eigenschaften wieder aufgewogen werden. Trotz dieser Beteuerung schien Hauck von den Kandidaten Pacellis nicht unbedingt begeistert zu sein. Eigene Vorschläge formulierte er aber nicht, weil er nach eigener Angabe nicht den von ihm eingangs monierten Fehler begehen wollte, bewusst oder unbewusst eigene Interessen zu verfolgen. Kandidaten dürfe man nur „auf besondere Aufforderung des H[eiligen] Stuhles und unter schwerer Verpflichtung des Gewissens“483 vortragen und zwar einzig unter der Direktive des Wohls der betreffenden Diözese. Womöglich ist diese Feststellung wiederum als Kritik zu lesen, dass Pacelli ihn nicht nach Vorschlägen befragt hatte, obwohl er doch seit mindestens vier Jahren die Würzburger Verhältnisse bestens überblicken konnte.
480 481 482 483
Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21r. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21r. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21v. Hauck an Pacelli vom 27. Juli 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 21v. 140
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Pacellis Plan: eine römische Ernennung von Ehrenfried oder Landersdorfer Was fing der Nuntius mit dieser Darstellung des Bamberger Metropoliten an? Die Überlegungen Pacellis gehen aus einem Bericht an Gasparri vom 31. Juli hervor, dem er bislang zu diesem Thema lediglich eine kurze Notiz vom Tod Schlörs hatte zukommen lassen.484 Er informierte den Kardinalstaatssekretär von dem verbreiteten Wunsch, die Diözese Würzburg möge recht bald wieder einen neuen Hirten bekommen. Darüber hinaus habe ihm der bayerische Ministerpräsident Held mehrfach versichert, das fertige Konkordat werde im Juli oder wenigstens vor der Sommerpause vom Landtag angenommen. Daher habe er gedacht, dass man, „um Grundsatzfragen mit der Regierung in der Ernennung des neuen Bischofs zu vermeiden, die Ratifikation des Konkordats abwarten könnte und zwar so, dass die Besetzung des in Rede stehenden Bischofsstuhls ohne mögliche Kontroverse gemäß dem dort festgesetzten Modus erfolgt“485. Allerdings zeichne sich mittlerweile ab, dass es bis zur Ratifikation mindestens bis Oktober dauern werde, da die Protestanten, die ihre Angelegenheiten gleichzeitig mit der katholischen Kirche regeln wollten, noch verhandeln würden. Deshalb habe er bei einer abendlichen Unterredung mit dem bayerischen Kultusminister am 15. Juli die „heikle Frage“486 der Würzburger Sedisvakanz angesprochen, allerdings deutlich darauf hingewiesen, noch keine Anweisung des Heiligen Stuhls in dieser Sache erhalten zu haben. Matt habe sofort Bereitschaft signalisiert, mit einer besonderen Vereinbarung die Wiederbesetzung zu regeln, jedoch ohne auf eine Partizipation an der Kandidatenwahl verzichten zu wollen. Klar, dass der Kultusminister sofort die Möglichkeit ergriff, sich noch einmal in eine Bischofseinsetzung einzumischen, bevor das neue Konkordat Geltung erlangte und es mit einer aktiven staatlichen Einflussnahme endgültig vorbei sein würde. Umgehend habe dieser – so Pacelli – einen eigenen Kandidaten präsentiert: Ehrenfried. Vor diesem Hintergrund ergaben sich für den Nuntius drei Optionen, die Situation zu lösen, die er scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stellte: 1) die Ratifikation des Konkordats abzuwarten. Diese Variante habe den Vorteil – wie Pacelli bereits zuvor angedeutet hatte – sowohl die grundsätzliche Frage, wie die Besetzung vor sich gehen könne, als auch einen unrechtmäßigen Einfluss der Regierung auszuschließen. Auch gegenüber 484
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 3. Juni 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 4, Fol. 47r und Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 52r–55r. „… ad evitare questioni di principio col Governo nella nomina del nuovo Vescovo, avrebbe potuto attendersi la ratifica del Concordato stesso, di guisa che la provvista della Sede vecovile in discorso si sarebbe compiuta, senza alcuna possibile controversia, secondo il modo ivi fissato.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 52v. „… delicata questione …“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922– 1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 52v. 141
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Klerus und Volk sei diese Lösung vorteilhaft, insofern durch das „doppelte“ Listenverfahren von Episkopat und Domkapiteln jedem Verdacht der Boden entzogen werde, es habe eine gesonderte Einflussnahme durch bayerische Staatsbeamte oder Privatpersonen gegeben. Hier lag dem Nuntius offenbar Haucks Kritik im Ohr. Den offensichtlichen Nachteil dieser ersten Möglichkeit sah Pacelli darin, dass die ungünstige Situation in der „so schwierigen und wichtigen Diözese“487 noch so lange andauern würde, bis das Konkordat rechtskräftig sei. 2) den im Konkordat vereinbarten Besetzungsmodus schon vor der Ratifikation anzuwenden. Dieses Vorgehen setze die Zustimmung der Regierung voraus, die Pacelli aber für nicht schwer erreichbar hielt. In diesem Falle könne die Freisinger Bischofskonferenz bei ihrem nächsten Treffen im September die geforderte Kandidatenliste aufstellen. Die bayerischen Domkapitel oder wenigstens die Würzburger Kanoniker müssten gleichzeitig eine Instruktion erhalten, ihre Vorschläge dem Heiligen Stuhl zu unterbreiten. 3) den Heilige Stuhl direkt (unter Absprache mit der Regierung) die Ernennung vornehmen zu lassen. Der große Vorteil dieser Variante sei, dass man sofort für die Würzburger Diözese sorgen könne. Außerdem unterbinde man das Gerede und die Diskussionen in der Presse über vermeintliche Kandidaten. Weil der Heilige Stuhl für den letztgenannten Modus zügig einen ernennbaren Geistlichen benötigte, kam Pacelli im Folgenden auf das Kandidatenprofil zu sprechen und wiederholte dafür die beiden Kriterien, die er dem Kardinalstaatssekretär bereits im Juli des Vorjahres dargelegt hatte: Zum einen erfordere die Bedeutung und Diasporasituation der Diözese jemanden, der die schwierige Verwaltung meistern könne. Die bischöfliche Autorität sei in den letzten Jahren geschwächt worden und durch die Administration des Bamberger Erzbischofs nicht vollständig wiederherstellbar gewesen, wie Pacelli in Anlehnung an Haucks Analyse erklärte, ohne diesen jedoch als Informationsgeber zu benennen. Deshalb brauche es „einen ruhigen und klugen, aber gleichzeitig aktiven und energischen Hirten, der mit intelligentem und unermüdlichem Eifer die Verhältnisse wieder in Ordnung bringt, die Disziplin des Klerus wiederherstellt und den Zustand der Diözese wieder aufrichtet“488. Zum anderen müsse den zum Teil zensurierten Theologen der Würzburger Theologischen Fakultät – wieder nannte Pacelli Merkle und Hehn – ein Mann entgegengesetzt werden, der „zusätzlich zur gesunden Lehre auch eine volle Kenntnis der wahren Methoden des philosophisch-theologischen Unterrichts
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„… diocesi così difficile ed importante.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 53r. „… un Pastore calmo e prudente, ma al tempo stesso attivo ed energico, il quale con intelligente ed infatigabile zelo metta di nuovo le cose in ordine, tolga gli abusi, restituisca la disciplina del clero e risollevi lo stato della diocesi.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 53v. 142
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besitzt und ebenso möglichst Autorität und Prestige auf wissenschaftlichem Gebiet, um der Fakultät Auflagen machen zu können und die notwendigen Reformen in die Hand zu nehmen.“489 Neu zu den Überlegungen Pacellis aus der Vorjahrsberichterstattung trat die Frage der Provenienz des Kandidaten. Viele, darunter auch der Kultusminister, würden jemanden befürworten, der nicht aus dem Würzburger Bistum stamme, „wo der Klerus zerstritten und die Frage der Kandidaten für den Bischofsstuhl Gegenstand von Polemiken auch in den eigenen Zeitungen geworden ist.“490 Den Nachteil, dass ein Auswärtiger die örtlichen Verhältnisse nicht kannte, verschwieg der Nuntius zwar keineswegs, doch maß er ihm keine sonderliche Bedeutung zu, da er trotz der zurückhaltenden Bewertung Haucks an seinen auswärtigen Kandidaten festhielt, deren Eignung er für Gasparri umfassend begründete: 1) Ehrenfried (53 Jahre alt), Professor für Neues Testament, Apologetik und Homiletik in Eichstätt, habe seine Studien in Rom als Alumne des Germanicums absolviert und wisse also um die „wahren und gesunden Methoden des philosophischen und theologischen Unterrichts“, weshalb er „auch unter diesem Gesichtspunkt, (wie sich mir aus privaten Informationen ergibt) völlig zuverlässig ist“491. Außerdem werde er im Klerus hoch geachtet, zumal er auch Redakteur der „Blätter für den katholischen Klerus“ sei. Kürzlich habe ihn Mergel für ein vakantes Kanonikat in Eichstätt vorgeschlagen und ihn dort als „vorbildlichen Priester mit außergewöhnlichen Talenten und als einen gekonnten Redner“492 empfohlen. Faulhaber habe auf eine vertrauliche Nachfrage verlauten lassen, Ehrenfried für den geeignetsten Kandidaten zu halten. Pacelli selbst hielt diese Zeugnisse wohl für ausreichend, bot aber – gemäß der Empfehlung Haucks – an, weitere Informationen beim Eichstätter Oberhirten über Ehrenfrieds Fähigkeiten in der Seelsorge und der Bis-
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„… oltre alla sana dottrina, possegga anche una piena conoscenza dei veri metodi dellʼinsegnamento filosofico-teologico, ed anche possibilmente autorità e prestigio nel campo scientifico, affine di potersi imporre alla Facoltà medesima e metter mano alle necessarie riforme.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 53v. „… ove il clero è diviso e la questione dei candidati alla Sede episcopale è stata … oggetto di polemiche persino sui pubblici fogli.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922– 1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 53v–54r. Vgl.: „… conosce quindi i veri e sani metodi dellʼinsegnamento filosofico e teologico, è, anche sotto questo aspetto, (come mi risulta da private informazioni) del tutto sicuro …“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 54r. „… sacerdote esemplare, dotato di straordinari talenti e valente oratore.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 54r. Das angesprochene Kanonikat wurde vakant, weil Pius XI. Georg Wohlmuth kurz zuvor zum Dompropst von Eichstätt ernannt hatte. Tatsächlich sollte Ehrenfried das Kanonikat erhalten, was sich jedoch durch dessen Erhebung auf den Würzburger Bischofsstuhl zerschlug. Vgl. dazu Pacelli an Gasparri vom 22. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 153, Fasz. 4, Fol. 23rv und Gasparri an Pacelli vom 31. Juli 1924, ASV, ANM 401, Fasz. 1, Fol. 217rv. Vgl. auch Kramer, Ehrenfried, S. 149. 143
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tumsverwaltung einzuholen, falls Gasparri dies für nötig erachten sollte. Wenn – so Pacelli – die Entscheidung des Papstes auf Ehrenfried falle, möge Gasparri entscheiden, „ob es nötig oder angemessen ist, jedweden Anschein einer Präsentation von Seiten der Regierung zu vermeiden, zum Beispiel mittels einer Erklärung an den Herrn Kultusminister, in der man darlegt, dass die Wahl von Seiner Heiligkeit einzig durch die persönlichen Qualitäten des in Rede stehenden Geistlichen motiviert ist“493.
Pacelli befürchtete also, dass in der Öffentlichkeit und vermutlich besonders in Würzburg der Anschein erweckt werden konnte, der Heilige Stuhl habe dem Drängen der Regierung, die sich bekanntermaßen für Ehrenfried ausgesprochen hatte, nachgegeben. 2) Landersdorfer (44-jährig), promoviert in semitischer Philologie und Theologie, sei früher verantwortlich für die Seelsorge im Kloster Plankstetten gewesen, anschließend Präfekt, dann Subprior in Scheyern und endlich Professor für Bibelwissenschaften in St. Anselmo in Rom. Der Benediktiner sei Verfasser von zahlreichen gelehrten orientalischen und exegetischen Schriften, sodass er auf wissenschaftlichem Gebiet – wie Pacelli beim Münchener Scholastikforscher Martin Grabmann eruiert hatte – „ohne Zweifel eine Autorität“ besitze, „welche der EHRENFRIEDS überlegen ist, der, da von vielen anderen Sorgen und Aufgaben in Anspruch genommen, sich nicht mit derselben Muße den Studien widmen konnte“494. Was den Abt ebenfalls auszeichne, sei – wie Pacelli aus persönlicher Kenntnis beisteuerte –, dass er eine völlig klare und zutreffende Vorstellung über die Fragen der philosophisch-theologischen Priesterausbildung habe, was unter den Geistlichen in Deutschland höchst selten sei. Als „ein ruhiger, energischer Prälat, der mit vorzüglicher Regierungsqualität begabt ist“495, entsprach Landersdorfer für Pacelli auch dem ersten Kandidatenkriterium vollständig. Widerstände von Seiten des Kultusministers gegen dessen Ernennung fürchtete Pacelli nicht, wenngleich für diesen Ehrenfried die vorrangige Option war. Als einzige Schwierigkeit ergab sich für ihn, dass unter den acht bayerischen Bischöfen bereits einer dem Benediktinerorden angehörte, nämlich der 77-jährige Mergel, sodass die Nomination eines zweiten innerhalb der anderen Ordensgemeinschaften und dem Säkularklerus missmutige Reaktionen provozieren könnte. Die Altersangabe machte der Nuntius wohl nicht zufällig, sondern um
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„… se non sia necessario o conveniente di togliere qualsiasi apparenza di presentazione da parte del Governo, ad esempio, mediante una dichiarazione al Sig. Ministro del Culto, nella quale si esprimesse che la elezione di Sua Santità è stata motivata unicamente dalle qualità personali dellʼecclesiastico in discorso.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 54v. „… unʼautorità senza dubbio superiore a quella dellʼEHRENFRIED, il quale assorbito da molte altre cure e lavori, non ha potuto dedicarsi collo stesso agio agli studi.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 54v–55r. Hervorhebung im Original. „… è Prelato calmo, energico, dotato di egregie qualità di governo.“ Pacelli an Gasparri vom 31. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 55r. 144
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anzudeuten, dass mit keiner übermäßig langen Regierungszeit des Eichstätter Bischofs mehr zu rechnen sei und das angesprochene Problem damit nicht mehr allzu lange Bestand haben würde. Pacelli schrieb, dass diese Ordensproblematik von Faulhaber angeführt worden sei und verschwieg, dass der Bamberger Erzbischof es ebenfalls angesprochen hatte. Überhaupt gab er nicht zu, letzteren zu den genannten Kandidaten befragt zu haben, obgleich er bisweilen implizit auf dessen Darstellung zurückgriff. Man wird nicht fehlgehen, wenn man einen wichtigen Grund dafür in Haucks zurückhaltender Bewertung Landersdorfers sucht, die der Nuntius nicht teilte. Außerdem war Haucks nachdrückliches Votum, zunächst die im Konkordat vorgesehenen Vorschlagslisten einzuholen, keineswegs die bevorzugte Methode des Nuntius. Zwar hatte dieser den Konkordatsmodus in den ersten beiden Optionen zur Wiederbesetzung des Bischofsstuhls aufgegriffen, doch wenn er ihn ernsthaft in Erwägung gezogen hätte, hätte er wohl kaum ein so ausführliches Exposé zu den beiden Kandidaten entfaltet. Wer konnte denn wissen, ob diese auch auf einer der in Rom eingereichten Listen zu finden sein würden? Die Arbeit lohnte vielmehr nur, wenn der Papst gemäß der dritten Option einen der beiden „schmackhaft“ gemachten Kandidaten ohne Beteiligung von Episkopat und Domkapiteln ernannte. Daher ist davon auszugehen, dass Pacelli – ohne es ausdrücklich zuzugeben – diese letzte Variante anstrebte, die er durch seine „private“ Absprache mit dem Kultusminister ohnehin schon vorbereitet hatte. Die Antwort des Kardinalstaatssekretärs auf diese umfangreiche Darstellung Pacellis war ungleich kürzer, nämlich nur ein knappes Telegramm.496 Der in der Nuntiatur dechiffrierte Text lautete: „Der Heilige Stuhl bevorzugt den ersten Kandidaten. Bezüglich des Modus, wenn dieser irgendwelche Schwierigkeiten macht, bevorzuge man den zweiten; wenn dieser auch irgendwelche Schwierigkeiten erzeugt, richten Sie sich nach dem ersten.“497 Während die Präferenz für Ehrenfried eindeutig ist, ist der Sinn des Textes, was das Besetzungsverfahren anbelangt, nicht ganz klar. Näheren Aufschluss gibt ein Blick in den römischen Entwurf des Telegramms. Dort kann man lesen: „Was den Modus betrifft, bevorzuge man den dritten, wenn dieser irgendwelche Schwierigkeiten macht, bevorzuge man den zweiten, wenn dieser auch irgendwelche Schwierigkeiten erzeugt, richten Sie sich nach dem ersten.“498 Die wichtige Passage, welche die eigentliche Absicht Gasparris ausdrückte, fehlte also in dem Text, den Pacelli schließlich in den Händen hielt. Da genau dieser Abschnitt von Gasparri selbst im Entwurf handschriftlich ergänzt wurde, ist da496 497
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 11. August 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 28r. „S. Sede preferisce primo candidato. Quanto al modo se questo presenta qualche difficoltà si preferisce il secondo: se questo presenta pure qualche difficoltà V.S.I. si attenga al primo.“ Gasparri an Pacelli vom 11. August 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 28r. „Quanto al modo si preferisce il terzo, se questo presenta difficoltà, si preferisce il secondo, se questo presenta pure qualche difficoltà, V.S. si attenga al primo.“ Gasparri an Pacelli vom 11. August 1924 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 56r. Hervorhebung R.H. 145
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von auszugehen, dass im Prozess der Verschlüsselung ein Fehler unterlaufen ist.499 Es stellt sich die Frage, wie Pacelli mit diesem Fehler umging und die dunkle Stelle auffasste. Eine gezielte Nachfrage zur Klärung hielt er nicht für nötig, da man den Sinn zumindest erahnen konnte und der konkrete Kandidatenwunsch letztlich nur bei einer „listenfreien“ päpstlichen Nomination Sinn ergab. Damit hatte der Nuntius von seinem Vorgesetzten in jeder Hinsicht grünes Licht erhalten.
Mergels Gutachten über Ehrenfried Obwohl der Kardinalstaatssekretär nicht auf den Vorschlag des Nuntius eingegangen war, Ehrenfrieds Ordinarius zu befragen, ging Pacelli zunächst diesen Schritt. Am 15. August erbat er sich von Mergel vertrauliche Informationen über den Professor, vor allem, ob er ihn für den Würzburger Bischofsstuhl als „würdig und geeignet“500 ansehe. Pacelli erklärte dabei auch, dass – entgegen der klaren Präferenzbekundung Gasparris – die endgültige Entscheidung in der Kandidatenfrage noch nicht gefallen sei. Mergel, der dem Nuntius schon drei Tage später eine ausführliche Entgegnung zukommen ließ, zeigte sich von dem Interesse des Heiligen Stuhls an Ehrenfried überrascht.501 Eine gewisse Enttäuschung darüber konnte er nicht gänzlich verbergen, da er mit dem Genannten eigentlich noch weitreichende Pläne in seiner Diözese hatte. Daraus ergibt sich bereits die hohe Meinung, die der Bischof von ihm besaß. Er führte aus, dass Ehrenfried 1898 als Alumne des Germanicums zum Priester geweiht worden und nach kurzer Seelsorgstätigkeit recht schnell in eine akademische Laufbahn eingeschwenkt sei. Neben seiner Professur an der bischöflichen Hochschule habe er als Redakteur der „Christlichen Schule, Pädagogische Studien und Mitteilungen“ sowie der „Klerusblätter“ gewirkt. Doch damit nicht genug: „Erstaunliches hat H[err] Ehrenfried hierbei geleistet. Nebenbei nahm er an allen Versammlungen des Klerus führenden Anteil, half in Predigt und Beichtstuhl jedem guten Freunde aus, leitete Exerzitien u.s.f. Nur durch seine große geistige Gewandtheit und seine unermüdliche Schaffensfreude war er im Stande, das alles zu leisten und durch sein Wort verlief alles in korrekter kirchlicher Form, wo immer Meinungsverschiedenheiten auftauchten. Sein Motto war immer: treu zu den Bischöfen, treu zum H[eiligen] Stuhle!“502
Mergel war also überzeugt, dass Ehrenfried im höchsten Grade episkopabel war, sowohl was seine Fähigkeiten anbelangte als auch hinsichtlich seines Lebenswandels. Er sei bei Klerus und Volk
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Telegramme und wichtige Passagen in der Korrespondenz zwischen Nuntiatur und Kurie wurden regelmäßig verschlüsselt. Pacelli an Mergel vom 15. August 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 29r. Vgl. Mergel an Pacelli vom 18. August 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 30rv. Mergel an Pacelli vom 18. August 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 30r. 146
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beliebt und stets guter Stimmung. Insbesondere auch für die Verhältnisse in Würzburg hielt er „den sehr begabten, gewandten, liebenswürdigen und prinzipiell korrekten H[errn] Dr. Ehrenfried ganz vorzüglich geeignet“503.
Die Ernennung Ehrenfrieds zum Bischof von Würzburg Am nächsten Tag reichte Pacelli dieses ausschließlich positive Urteil über Ehrenfried, mit dem er vollauf zufrieden war, an Gasparri weiter: Obgleich die Kandidatur bereits entschieden gewesen sei, habe er es für opportun gehalten, Mergel noch in die Sache einzubeziehen.504 Mit anderen Worten: Die Meinung Mergels war letztlich unerheblich. Es ging Pacelli nur darum, diesen zumindest formal zu beteiligen und ihm das Gefühl zu geben, gefragt worden zu sein. Dementsprechend hatte der Nuntius laut seiner Berichterstattung schon bevor das Gutachten Mergels bei ihm eintraf den bayerischen Kultusminister aufgesucht, um die Besetzungsfrage mit der Regierung zu klären. Auf seine Mitteilung – so Pacelli –, dass der Heilige Stuhl nicht abgeneigt sei, Ehrenfried auf den bischöflichen Stuhl von Würzburg zu promovieren, wobei es nötig sei, jeden Anschein einer staatlichen Präsentation zu vermeiden, habe Matt „formal erklärt, dass er keine Forderung stellt und keinerlei Anspruch erhebt, sondern die Regierung sich bei der Wahl der Bischöfe mit der Berechtigung begnügt, eventuelle Einwände im Sinne des neuen Konkordats vorbringen zu können“505. Mit dieser Zusicherung schien Pacelli alles Nötige geklärt. Nun erwartete er die endgültige Entscheidung aus Rom. Diese folgte knapp drei Wochen später: Der Kardinalstaatssekretär setzte Pacelli am 8. September davon in Kenntnis, dass Pius XI. Ehrenfried zum neuen Bischof von Würzburg ernannt habe.506 Der Nuntius erhielt den Auftrag, Gasparri zu informieren, ob von Seiten der Regierung politische Bedenken bestanden „gemäß der Erlaubnis, die der Heilige Vater aus Höflichkeit und ausnahmsweise gewährt, obwohl das Konkordat noch nicht ratifiziert wurde“507. Im negativen Fall könne
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Mergel an Pacelli vom 18. August 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 30r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 19. August 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 57rv. „… dichiarò formalmente che non aveva preteso e non pretende ad esse in modo alcuno, contentandosi il Governo, nella scelta dei Vescovi, della facoltà di poter muovere eventuali obbiezioni nel senso del nuovo Concordato.“ Pacelli an Gasparri vom 19. August 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 57r-v. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 8. September 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 33r. „… secondo la concessione che Santo Padre fa in via di cortesia ed eccezione, non essendo ancora ratificato Concordato.“ Gasparri an Pacelli vom 8. September 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 33r. 147
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die Ernennung publiziert werden. Am Morgen des 12. September begab sich Pacelli ins bayerische Kultusministerium, um die Weisung auszuführen.508 Wie er Gasparri unterrichtete, habe er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Anfrage ein besonderes Zugeständnis des Papstes sei – „aus Höflichkeit und ausnahmsweise“509 –, da eine konkordatäre Verpflichtung noch nicht bestehe. Dass der Kultusminister daraufhin das Plazet zur Personalie Ehrenfried erteilte, war keine Überraschung mehr. Erst jetzt legte Gasparri den Namen des bereits Ernannten dem Heiligen Offizium zur Prüfung vor.510 Commissarius Giovanni Lottini OP bestätigte umgehend, dass die behördlichen Register keine Einträge zu Ehrenfried enthielten.511 Daraufhin bat Gasparri De Lai, den Sekretär der Konsistorialkongregation, die erforderlichen Ernennungsdokumente ausstellen zu lassen.512 Gleichzeitig unterrichtete er den Nuntius von diesem Schritt.513 Die offizielle Nomination datiert auf den 30. September.514 Bei früheren Besetzungsfällen wurde vor der offiziellen römischen Nomination der Informativprozess vor zwei Zeugen durchgeführt. Diese klassische Einrichtung war aber mit Dekret der Konsistorialkongregation vom 29. Februar 1924 aufgehoben worden.515 Von nun an fiel dieser Verfahrensbestandteil weg.516
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 12. September 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 59r. „… in via di cortesia ed a modo di eccezione.“ Pacelli an Gasparri vom 12. September 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 59r. Vgl. Gasparri an Lottini vom 21. September 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 62r. Vgl. Lottini an Gasparri vom 22. September 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 63r. Vgl. Gasparri an De Lai vom 25. September 1924 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1922–1927, Pos. 155, Fasz. 4, Fol. 60r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 25. September 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 35r. Vgl. AAS 16 (1924), S. 396. Vgl. Dekret „De processu inquisitionum circa promovendos ad episcopatum“ der Konsistorialkongregation vom 29. Februar 1924, in: AAS 16 (1924), S. 160f. Obwohl also der kanonische Prozess nicht mehr stattfand, blieben auf römische Anweisung „die Rechte und Einkünfte der Bediensteten“ bestehen, die bisher mit der Durchführung betraut gewesen waren. Vgl. dazu Gasparri an Pacelli vom 2. April 1924, ASV, ANB 21, Fasz. 4, Fol. 159r. Diese Anweisung wurde auf päpstliche Vorgabe nicht im Amtsblatt des Heiligen Stuhls publiziert. Für eine Bischofsernennung beliefen sich die angesprochenen Einkünfte auf 1.000 Mark, wie Pacelli Ehrenfried am 5. Oktober mitteilte. Vgl. Pacelli an Ehrenfried vom 5. Oktober 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 38r. Er überließ es diesem jedoch, zu entscheiden, ob er den Betrag begleichen wolle. Der Neuernannte entrichtete umgehend die fällige Summe. Vgl. die Quittung der Nuntiatur vom 10. Oktober 1924, ebd., Fol. 40r. 148
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Erst nachdem die Promotion Ehrenfrieds schon längst in der Presse zu lesen war,517 machte Pacelli dem Ordinarius des Ernannten die offizielle Mitteilung.518 Er bat Mergel die Nachricht an Ehrenfried weiterzugeben, mit dem Pacelli in dieser Angelegenheit bislang noch gar nicht korrespondiert hatte. Ob Ehrenfried auch bereit war, den Würzburger Bischofsstuhl zu besteigen, war für den Nuntius offensichtlich keine Frage. Ebenso wenig setzte er das Würzburger Domkapitel offiziell von der vollzogenen Einsetzung in Kenntnis.519 Für Mergel jedenfalls wog der Verlust schwer, wie er schon früher gestanden hatte: „Gottes h[eilige] Vorsehung hat diese Sache also gefügt; meine Gedanken gingen freilich anders, doch beuge ich mich unter Gottes Fügungen. Für meine Diözese ist [es, R.H.] wohl eine Ehre, doch verliere ich H[errn] Ehrenfried schwer. Auch beim Klerus der Diözese war er überaus beliebt. Unter Tränen nahm er gestern die Mitteilung … entgegen, bereit, das Opfer zu bringen. Der Diözese Würzburg ist zu gratulieren: sie erhält einen würdigen Bischof und ist Euerer Exzellenz großen Dank schuldig.“520
Bischofsweihe, Besitzergreifung der Diözese und Inthronisation Ehrenfried, den die Nachricht während eines Exerzitienkurses erreichte,521 ließ es sich nicht nehmen, wenige Tage später in einem eigenen Schreiben Papst und Nuntius seine Dankbarkeit auszudrücken.522 Dabei versicherte er „dem Heiligen Vater unbedingten Gehorsam, Liebe und Treue“, zumal er durch seine „siebenjährigen Studien in der heiligen Stadt Rom im Collegium Germanicum … fest mit dem Heiligen Stuhl verwurzelt“523 sei. Er kündigte an, ein Hirte zu sein, der seine Haupt517
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Vgl. die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 230 vom 1. Oktober 1924. Daher konnte der Meißener Bischof Schreiber den Nuntius bereits am 2. Oktober beglückwünschen, mit Ehrenfried eine „glückliche Wahl“ getroffen zu haben: „Der hochwürdigste Herr Dr. Ehrenfried hat mit mir zusammen sieben Jahre im Collegium Germanicum in Rom studiert. Er war einer der befähigsten Alumnen des deutschen Kollegs in der damaligen Zeit.“ Vgl. Schreiber an Pacelli vom 2. Oktober 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 36r. Schreiber lobte Ehrenfrieds Eifer, Fähigkeiten und treukirchliche Einstellung. Vgl. Pacelli an Mergel vom 4. Oktober 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 37r. Dies sorgte vor Ort natürlich nicht für eine Verbesserung der Stimmung, die ohnehin schon getrübt war, weil ohne eigene Beteiligung ein auswärtiger Geistlicher auf den Stuhl des heiligen Burkard berufen worden war. Dementsprechend sucht man eine amtliche Notifikation im Bistumsblatt vergeblich. Erst die anstehenden Weihe- und Inthronisationsfeierlichkeiten wurden mit einer knappen und unscheinbaren Ankündigung bedacht. Vgl. Würzburger Diöcesan-Blatt Nr. 40 vom 26. November 1924. Mergel an Pacelli vom 8. Oktober 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 39r. Vgl. Wittstadt, Würzburger Bischöfe, S. 86. Vgl. Ehrenfried an Pacelli vom 14. Oktober 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 41r–42r. Ehrenfried an Pacelli vom 14. Oktober 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 41v. 149
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aufgabe in der Heranbildung eines guten Klerus sehe. Mit dieser Leitlinie traf er haargenau die Motivation, die für Pacelli ausschlaggebend gewesen war, sich für Ehrenfried zu entscheiden. Dass er diese Ankündigung mit Genugtuung zur Kenntnis genommen habe, bekannte Pacelli ausdrücklich in seinem Antwortschreiben.524 Die römischen Ernennungsbullen ließen bis Ende November auf sich warten.525 Am 27. dieses Monats siedelte Ehrenfried schließlich nach Würzburg über, legte den Domherren seine Ernennungsschreiben vor und ergriff dadurch vom Bistum Besitz.526 Am Montag, dem 1. Dezember, empfing er im Würzburger Dom aus der Hand Haucks – die Bischöfe von Eichstätt und Speyer assistierten – die Bischofsweihe. Anschließend erfolgte die feierliche Inthronisation „als der 84. Nachfolger des hl. Burkard“527.
Ergebnis 1. Um die Tauglichkeit möglicher Kandidaten für den Würzburger Bischofsstuhl zu bemessen, formulierte Pacelli ein klares, auf die diözesanen Verhältnisse zugeschnittenes Profil. Dieses bestand aus zwei wesentlichen Kriterien: a) Zum einen sollte der neue Oberhirte in der Lage sein, die als schwierig betrachtete Administration der umfangreichen und zum Teil Diasporagebiete umfassenden Diözese zu meistern. Noch anspruchsvoller wurde die Aufgabe, weil seines Erachtens die Folgen einer mehrjährigen defizitären Bistumsleitung zu beseitigen waren. Deshalb suchte Pacelli nach einem jungen, „ruhigen und klugen“, aber ebenso „aktiven und energischen“ Hirten, der mit vollem und unermüdlichem Einsatz „die Verhältnisse wieder in Ordnung bringt“, den zerstrittenen Klerus diszipliniert, eine starke bischöfliche Autorität verkörpert und so „den Zustand der Diözese wieder aufrichtet“. b) Zum anderen richtete sich Pacellis sorgenvoller Blick auf die örtliche Katholisch-Theologische Fakultät – neben der Münchener immerhin die einzige in Bayern, die einer staatlichen Universität eingegliedert war528 –, die ohnehin seit den modernistischen Streitigkeiten, insbesondere den Auseinandersetzungen um den Apologeten Herman Schell,529 „das Odium Roms“530 besaß. Aus Pacellis Sicht hatte sich die Situation seitdem nicht wesentlich verbessert, Professoren wie
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Vgl. Pacelli an Ehrenfried vom 16. Oktober 1924 (Entwurf), ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 43rv. Vgl. Ehrenfried an Pacelli vom 24. November 1924, ASV, ANM 351, Fasz. 3, Fol. 44rv. Vgl. Ernennungsbulle Ehrenfrieds vom 30. September 1924, in: Würzburger Diöcesan-Blatt Nr. 42 vom 10. Dezember 1924. Wittstadt, Bischof (1995), S. 407. Vgl. Burkard/Gatz, Bistum Würzburg, S. 768. Vgl. dazu Ganzer, Fakultät, bes. S. 361–369; Hausberger, Schell; Trippen, Theologie, S. 189–219. Wittstadt, Bischof (1995), S. 408. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.2 Anm. 454. 150
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Merkle oder Hehn hielt er für heterodox, wobei die Problematik für ihn nicht nur personeller, sondern vor allem struktureller Natur war. Da Schlör seiner Ansicht nach versäumt hatte, sich dem entgegenzustellen, war dies die Aufgabe des künftigen Oberhirten, der dafür nach Pacelli dreierlei benötigte: 1) er musste selbst die gesunde Lehre vertreten, 2) „eine volle Kenntnis der wahren Methoden des philosophisch-theologischen Unterrichts“ aufweisen und 3) „möglichst Autorität und Prestige auf wissenschaftlichem Gebiet“ besitzen, um sich innerhalb der Fakultät Gehör verschaffen und „Auflagen“ durchsetzen zu können. Diese Trias zielte darauf ab, dass der neue Hirte sowohl die Fähigkeit als auch die Einsicht in die Notwendigkeit besaß, die von der Studienkongregation erlassenen Vorschriften zur Reform des deutschen Studienbetriebs zugunsten einer römisch-scholastischen, schwerpunktmäßig systematisch-spekulativen Philosophie und Theologie umzusetzen.531 Angesichts dieser doppelten Aufgabe war Pacelli klar, dass nur ein auswärtiger, unvoreingenommener Geistlicher für den Posten infrage kam. Unter diesen Gesichtspunkten beurteilte er drei Kandidaten: Zunächst den Regensburger Weihbischof Hierl, dessen Kandidatur an ihn herangetragen wurde. Diesen hielt er zwar für einen „guten und würdigen“ Oberhirten, doch sprach er ihm die theologisch-wissenschaftliche Eignung ab, welche den Genannten zu einem Bischof erster Klasse gemacht hätte – damit nahm Pacelli dieselbe Unterscheidung zwischen einem würdigen und einem sehr würdigen Bischof vor, die er bereits im Kontext der bayerischen Konkordatsverhandlungen entfaltet hatte.532 Nicht nur, dass Hierl der Doktortitel und die wissenschaftliche Reputation fehlte, sondern auch hinsichtlich der Reinheit seiner Lehre hegte Pacelli Zweifel. Bemerkenswerterweise griff er für dieses Urteil auf das Votum Henles aus der Hochzeit des Modernismus zurück, das für ihn zwölf Jahre später immer noch Geltung besaß, und zwar obwohl – das ist ein weiterer Aspekt – sein Vorgänger Frühwirth dasselbe bereits damals relativiert hatte. Umso überraschender erscheint, dass Pacelli dennoch bereit war, Hierl aus Opportunitätsgründen als Kandidaten für Würzburg zu akzeptieren (vgl. Nr. 3). Anders als der Weihbischof entsprachen Ehrenfried und Landersdorfer nach Pacellis Meinung jeweils beiden Kriterien seines Bischofsideals vollständig und sind damit als seine Favoriten anzusehen. Mit 53 beziehungsweise gerade einmal 44 Jahren hatten sie das gewünschte Alter, waren beide promoviert und hatten – der Benediktiner zumindest kurzzeitig – eine theologische Professur inne. Woran Pacelli ihre Eignung für die Diaspora festmachte, muss allerdings offen bleiben, denn Erfahrungen auf diesem Gebieten besaßen beide nicht. Das theologische Moment schien für den Nuntius die dominantere Rolle zu spielen. Interessant ist, dass
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Insofern lag es genau auf dieser Linie, dass Bischof Ehrenfried sich während seiner Amtszeit – insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – für die Priesterausbildung und die römischen Reformvorgaben einsetzte. Vgl. dazu Wittstadt, Bischof (1988). Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Ergebnis Nr. 1). 151
II.2.2 Würzburg 1920–1924
er zwar Ehrenfrieds Kenntnis um die „wahren und gesunden Methoden des philosophischen und theologischen Unterrichts“ aus dessen römischen Studien ableitete, aber sich dennoch durch „private Informationen“ – wie er ausdrücklich bekannte – rückversicherte, dass der Professor in diesen Belangen wirklich zuverlässig war. Das heißt, die Germanikerausbildung war zwar vorzuziehen, gab dem Nuntius aber für sich genommen nicht zwingend die Gewähr, dass der entsprechende Geistliche tatsächlich die Relevanz der Studienreform eingesehen hatte. Umgekehrt war es seiner Auffassung nach ebenso möglich, dass jemand die völlig korrekte Vorstellung zur Ausbildung des priesterlichen Nachwuchses besaß, der nicht in Rom studiert hatte. Dies traf nämlich auf Landersdorfer zu, der in Eichstätt und München theologisch beziehungsweise philologisch ausgebildet worden war. Gewiss nicht zufällig schwieg Pacelli darüber in seiner Berichterstattung, während er beim Eichstätter Professor die römische Studienzeit ausdrücklich erwähnte. Obwohl der Benediktiner in dieser Hinsicht Ehrenfried also unterlegen war, hatte er sich durch seine exegetischen Arbeiten auf wissenschaftlichem Gebiet eine höhere Autorität erworben als der Ex-Germaniker – auch dies war also nach Pacellis Auffassung möglich. Allerdings heißt das noch nicht, dass er der Kandidatur des Abts deshalb den Vorzug gab, denn Ehrenfrieds Eignung stellte er wiederum mit zusätzlichen Wertungen wie einer „hohen Achtung im Klerus“, einer außerordentlichen Rednergabe oder etwa mit dem Vermerk, dass Faulhaber ihn am Geeignetsten erachte, deutlich heraus. Darüber hinaus verschwieg er bei beiden Kandidaten nicht die möglichen Schwierigkeiten, die sich aus ihrer Nomination ergeben konnten. Von daher ist davon auszugehen, dass Pacelli keinen der beiden entscheidend priorisierte. Anzumerken bleibt noch, dass die beiden Geistlichen dem Nuntius vorgeschlagen wurden (vgl. Nr. 4) und er sich ihre Kandidatur für den Würzburger Bischofsstuhl daher offensichtlich nicht von selbst überlegte. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass er den Proponenten blind vertraute, vielmehr konnte er deren Exposés mit seinen eigenen unmittelbaren Kenntnissen fundieren, die er über beide – insbesondere über Landersdorfer, wie Pacelli ausdrücklich vermerkte – besaß.533 2. Pacellis Überlegungen zum Modus der Wiederbesetzung waren durch zwei wesentliche Faktoren bestimmt: den Gesundheitszustand Schlörs und die schwebenden Konkordatsverhandlungen. Seit 1920 wartete er darauf, dass ihm ein neuer Staatskirchenvertrag einen Besetzungsmodus 533
Vgl. zum engen Verhältnis zwischen Landersdorfer und Pacelli Bd. 3, Kap. II.2.7 (Ergebnis Nr. 1). Dass Pacelli den Scheyerner Abt persönlich gut kannte, fand in seiner Nuntiaturberichterstattung keinen Niederschlag, insofern er Landersdorfer im Kontext des Würzburger Besetzungsfalls zum ersten Mal erwähnte. Auch Ehrenfried nannte er abgesehen von der angesprochenen Kanonikatsbesetzung erstmals in diesem Zusammenhang. Ob es zwischen ihm und dem Nuntius im Vorfeld ebenfalls einen nennenswerten unmittelbaren Kontakt gegeben hatte, muss letztlich offen bleiben. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. 152
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an die Hand gab, den er für den Würzburger Bischofsstuhl anwenden konnte. Daraus erklärt sich letztlich die Dauer von vier Jahren, die Pacelli sich mit der causa Würzburg beschäftigte. In der Zwischenzeit trug jede, die Methode der Wiederbesetzung betreffende Maßnahme, lediglich provisorischen Charakter. Als Direktive für die provisorischen Fälle hatte Pacelli bereits im Kontext der Konkordatsverhandlungen vorgegeben, die Kirchenämter ohne Präjudiz nach dem bisherigen Modus zu besetzen.534 Deshalb schied eine Kapitelswahl bereits a priori aus und war für Pacelli tatsächlich zu keiner Zeit ein Thema. Ebenso wenig kam jedoch der Modus des bayerischen Konkordats von 1817 in Betracht, der dem König ein Nominationsrecht gewährte. Da die Monarchie inzwischen gefallen war, hätte doch, gemäß Pacellis Direktive, die republikanische Regierung einspringen und den neuen Oberhirten ernennen müssen? Aus mehreren Gründen war dies für Pacelli völlig undenkbar,535 sodass ihm streng genommen nichts anderes übrig blieb, als temporäre „Zwischenlösungen“ bis zum Abschluss des neuen Konkordats zu akzeptieren, um einen übergebührlichen Einfluss des Staates zu verhindern (vgl. Nr. 3). Angesichts der Kirchenartikel der WRV konnte er mit Sicherheit davon ausgehen, dass das neue Konkordat dem Heiligen Stuhl große Freiheit von staatlicher Einmischung konzedieren würde. In Erwartung dessen verzichtete er 1920 nicht nur darauf, für eine dauerhafte Lösung an der Spitze des Bistums zu sorgen und installierte stattdessen einen Interimsadministrator, sondern war auch wenige Monate später nicht bereit, einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu bestimmen. Dieses Modell wurde für ihn – letztlich zwangsläufig – erst interessant (Juli 1923), als er eine Möglichkeit sah, dasselbe zugunsten der stockenden Konkordatsverhandlungen einzusetzen. Der Ansicht des greisen Oberhirten maß Pacelli dabei keine Bedeutung zu, dieser musste sich fügen.536 Mit dessen Tod im Sommer 1924 änderte sich die Situation: Einerseits wurde eine Wiederbesetzung noch dringlicher – die negativen Auswirkungen eines fehlenden starken Oberhirten standen Pacelli vor Augen –, andererseits war davon auszugehen, dass die Beteiligungsansprüche der Regierung sich in dem Rahmen bewegen würden, den das mittlerweile fertige (lediglich nicht ratifizierte) Konkordat vorgab. Vor diesem Hintergrund entschied sich Pacelli schließlich, als im Juli weitere Verzögerungen bis zur parlamentarischen Abstimmung absehbar wurden, die Sedisvakanz ohne einen vertragsmäßigen Besetzungsmodus zu erledigen, wenn es ihm auch „heikel“ erschien. Als Methode präferierte er formal den speziellen Modus einer päpstlichen Ernennung in Verbindung mit einem politischen Bedenkenrecht des Staates. Informell hatte er jedoch bereits mit dem Kultusminister das Verfahren abgesprochen und darüber hinaus zwei Kandidaten ge-
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Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Ergebnis Nr. 3). Vgl. ebenfalls Bd. 3, Kap. II.2.1 (Ergebnis Nr. 3). Zwar galt dies streng genommen nur für die Administratoreinsetzung, weil sich Pacellis Koadjutorplan zerschlug. Doch ist wohl davon auszugehen, dass er in diesem Fall ähnlich gehandelt hätte. 153
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wählt, die der Regierung genehm waren – eine Vorsicht, die sich aus seiner Sorge um den erfolgreichen Konkordatsabschluss erklärt. Dem Administrator-, Koadjutor- und speziellen bischöflichen Besetzungsmodus war im Kern die römisch-päpstliche Nomination gemeinsam, während das Würzburger beziehungsweise die übrigen bayerischen Domkapitel jedes Mal ebenso ausgeschaltet waren wie der Episkopat. Das Listenverfahren, welches das Konkordat vorschrieb und das Pacelli als alternatives Besetzungsverfahren diskutierte, betrachtete er – anders als Hauck – bloß als nützlich, um gegenüber Klerus und Volk dem Verdacht einer staatlichen Präsentation zu begegnen, nicht jedoch als Instrumentarium, einen passenden Kandidaten zu finden (vgl. Nr. 4). Im Gegenteil kostete ein solches Verfahren Zeit, die Pacelli nicht mehr vorhanden glaubte, und führte seiner Ansicht nach zu missliebigen Gerüchten in der Öffentlichkeit, da nicht alle beteiligten Personen das secretum bewahren würden. Eine römische Nomination hingegen, die alle Freiheit und Entscheidungsgewalt beim Heiligen Stuhl beziehungsweise seinem Nuntius konzentrierte, konnte zügig und absolut in foro interno erfolgen. 3. Wesentliche Aspekte des Verhältnisses Pacellis zur bayerischen Regierung wurden bereits angesprochen. Grundsätzlich kennzeichnete diese Beziehung eine eigentümliche Dialektik: Einerseits verfolgte Pacelli mit der Politik, die endgültige Wiederbesetzung des Bischofsstuhls bis zum Konkordatsabschluss zu verschieben, die Absicht, die Regierung aus dem Besetzungsfall so weit wie möglich herauszuhalten. Andererseits bestimmte die staatliche Seite aber gerade dadurch indirekt den gesamten Verfahrensablauf. Dies nahm Pacelli letztlich deshalb in Kauf, weil ihm die konkrete causa Würzburg weniger wichtig war, als der erfolgreiche Abschluss der Konkordatsverhandlungen. Augenfällig wurde das insbesondere bei seinem Plan, einen „zweitklassigen“ Koadjutor zu installieren, nur weil dieser vom BVP-Fraktionschef Held protegiert wurde und dadurch Vorteile für die Konkordatsverhandlungen zu erwarten waren. Insofern wartete Pacelli auf den Vertragsabschluss nur in zweiter Linie, um einen freien und damit idealen Würzburger Besetzungsfall abwickeln zu können. In erster Linie war es vielmehr umgekehrt: Die Konkordatsverhandlungen sollten nicht durch die Besetzung des Würzburger Bischofsstuhls gefährdet werden. Da – wie erwähnt – eine provisorische Durchführung des bisherigen Modus nicht möglich war (vgl. Nr. 2), befürchtete Pacelli, dass eine alternative Methode von staatlicher Seite als Signal interpretiert werden konnte, dass der Heilige Stuhl das Konkordat von 1817 für ungültig betrachtete. Diesen Eindruck wollte er jedoch unbedingt vermeiden.537 Vor diesem Hintergrund erscheint die Administratoreinsetzung 1920 als Präventivmaßnahme, um einer – angesichts Schlörs Gesundheitszustand drohenden – Sedisvakanz vorzubeugen und die soeben begonnenen Verhandlungen zu „schützen“. Erst im Sommer 1924, als das neue 537
Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Ergebnis Nr. 3). 154
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Konkordat bereits paraphiert war und er nicht davon ausgehen konnte, dass die BVP-geführte Regierung dem Heiligen Stuhl jetzt noch einen Bruch des alten Vertrags vorwerfen würde, traute er sich gewissermaßen, mittels eines speziellen Modus den Bischofsstuhl wieder zu besetzen. Zusätzlich ergriff er alle Vorsichtsmaßnahmen: Bevor (!) er Gasparri die Wiederbesetzung gemäß dieser besonderen Variante überhaupt als Möglichkeit vorlegte, besprach er die „heikle Frage“ mit dem Kultusminister und vergewisserte sich, dass die Regierung einverstanden war. Außerdem war er überzeugt, dass die beiden Kandidaten, die für ihn infrage kamen, der Regierung genehm sein würden. Insbesondere hinsichtlich Ehrenfried war das unstrittig, da dieser sogar von Matt vorgeschlagen worden war. Indem der Nuntius diesen Vorschlag aufgriff, gewährte er dem Staat maßgeblichen Einfluss auf die Personalpolitik des Heiligen Stuhls. Da Papst und Staatssekretär sich schließlich für die Ernennung des Eichstätter Professors entschieden, könnte man überspitzt durchaus sagen, dass es sich bei der Besetzung des Bistums Würzburg de facto um eine staatliche „Präsentation“ gehandelt hat. Formal war sie das nicht und Pacelli lag aufgrund eines zu verhindernden negativen Präjudizʼ daran, sie auch nicht danach aussehen zu lassen. Nicht vergessen werden darf freilich, dass Ehrenfried nichtsdestotrotz von seinem Profil her in den Augen Pacellis ein idealer Kandidat war (vgl. Nr. 1). Deshalb fiel es ihm natürlich leicht, Matts Vorschlag zu adaptieren. Dennoch gestattete er der Regierung auf diese Weise eine weiterreichende Partizipation am Besetzungsfall, als die bloß formale Beteiligung in der Form des politischen Bedenkenrechts vermuten lässt.538 Um das Ergebnis zusammenzufassen: Dadurch, dass er der Regierung informell entscheidenden Einfluss auf die Personalfrage gestattete, erreichte Pacelli dreierlei: einen seiner Meinung nach idealen Bischof für Würzburg; in formaler Hinsicht nur einen geringfügigen Einfluss der Regierung auf den Besetzungsfall; und vor allem keinerlei Nachteile für den Konkordatsabschluss, der in künftigen Fällen eine enge Begrenzung des staatlichen Einflussspielraums bringen sollte. 4. Häufigster Ansprechpartner des Nuntius in den verfahrenstechnischen und personellen Fragen war der Bamberger Erzbischof, was nicht überrascht, da dieser als Interimsadministrator seines Suffraganbistums praktisch von selbst in die causa involviert war. Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis von Hauck und Pacelli hochgradig spannungsgeladen war. Eine erste Verstimmung deutete sich an, als der Erzbischof gemeinsam mit Dittmeyer einen Koadjutorplan vorlegte, den Pacelli jedoch kompromisslos abwies (Januar/Februar 1921). Durch die zunehmende Unzufriedenheit Haucks über die provisorische Administratur ließ sich Pacelli in seiner Politik nicht beirren. Schärfer wurde der Ton, als dieser im Juli 1924 endlich die Erledigung der Sedisvakanz anstrebte und dem Erzbischof ohne nähere Erläuterung zwei Kandidaten 538
Landersdorfer selbst ging in seiner Autobiographie davon aus, dass Ehrenfried aufgrund seiner Nähe zur BVP den Vorzug erhalten habe. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 30 Anm. 72. 155
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zur Einschätzung vorlegte. Pacelli eröffnete ihm weder seine Intentionen hinsichtlich der Besetzungsmethode noch verlangte er Kandidatenvorschläge. Dass Hauck sichtlich verärgert reagierte, die Politik, einzelne Vertrauenspersonen zu befragen, kritisierte, ein formelles Listenverfahren empfahl, um Domherren und Episkopat einzubeziehen, und den beiden Favoriten des Nuntius kein gutes Zeugnis ausstellte, vielmehr den Fokus einzig auf die administrativen Fähigkeiten eines künftigen Bischofs legte, veranlasste Pacelli keineswegs, seine Pläne zu revidieren. Obwohl Hauck übertrieben offensichtlich die Erwartung andeutete, nach eigenen Vorschlägen gefragt zu werden, dachte Pacelli gar nicht daran, dies nachzuholen – angesichts der divergenten Definition von Episkopabilität hielt er es wohl für nutzlos. Konsequenterweise verschwieg er Haucks Ansichten in seiner römischen Berichterstattung, es sei denn, sie deckten sich mit seinen eigenen Interessen.539 Von daher muss der Schluss gezogen werden, dass Haucks Stimme bei Pacelli kein Gewicht besaß, weder hinsichtlich des Verfahrens noch des Kandidaten. Dass er ihn formal einbezog und wünschte, Ehrenfried und Landersdorfer zu beurteilen, war demnach nicht mehr als ein Akt der Courtoisie ohne inhaltliche Relevanz. Dasselbe Schicksal ereilte den Eichstätter Oberhirten, den Pacelli erst zur Personalie Ehrenfried befragte, als bereits entschieden war, diesen auf den Würzburger Bischofsstuhl zu promovieren. Auf der anderen Seite gab es jedoch insbesondere zwei Vertrauenspersonen, deren Urteil für Pacelli Bedeutung hatte: Faulhaber und Grabmann. Beide fungierten für Pacelli als Autoritäten, welche die Eignung Ehrenfrieds und Landersdorfers stützten.540 Mit dem Münchener Erzbischof verband Pacelli ein enges Vertrauensverhältnis. Der Münchener Dogmatiker wiederum galt schon zu Beginn der 1920er Jahre als Koryphäe auf dem Gebiet der mittelalterlichen Scholastik, war auch in Rom angesehen und für die Kurie häufig in theologischen Fragen gutachterlich tätig.541 Damit war der ausgewiesenerweise orthodoxe und renommierte Münchener Professor die nächstliegende Ansprechperson, um die Frage nach Landersdorfers wissenschaftlicher Autorität beantworten zu können. Allerdings scheint es, dass der Nuntius auch von ihnen nur eine Beurteilung der vorgelegten Kandidaten erwartete und nicht etwa neue Vorschläge. Die konkreten Nachfolgeüberlegungen, die Faulhaber im Juni 1922 anstellte, zog Pacelli nicht in Erwägung. Abgesehen von dieser Liste des Münchener Erzbischofs enthält die vatikanische Quellenüberlieferung jedoch keine Zeugnisse aus der Feder Faulhabers oder Grabmanns. Daher ist zu vermuten, dass Pacelli sich mit beiden vornehmlich mündlich beriet, was durch die örtliche Nähe leicht möglich war. So lässt sich nur erah539
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Beispielsweise griff er Haucks Analyse auf, dass die bischöfliche Autorität in Würzburg durch die ungenügende Bistumsleitung der letzten Jahre geschwächt worden sei. Auch über Hierl hielt Pacelli mit Faulhaber Rücksprache (Juli 1923). Vgl. zum Beispiel Unterburger, Lehramt, S. 270f., 522f. u. ö. Auch in späteren Jahren erstellte Grabmann auf römischen Wunsch hin noch Gutachten, so zum Beispiel im Sommer 1931 zu Werken des Tübinger Dogmatikers Karl Adam. Vgl. das Gutachten ACDF, SO CL 1237/1926, Fol. 123–139. 156
II.2.2 Würzburg 1920–1924
nen, wie häufig und in welchem Umfang er bei den Münchenern Erkundigungen einzog. Ebenfalls muss offen bleiben, ob Pacelli einen von diesen beiden als Quelle meinte, als er gegenüber Gasparri im Juli 1924 von weiteren „privaten Informationen“ sprach, die ihm zur Verfügung stünden. Die beiden Geistlichen, die Pacelli für die Nachfolge Schlörs favorisierte, wurden ihm vom Kultusminister (vgl. Nr. 3) und vom Freiherrn von Franckenstein als taugliche Geistliche genannt. Letzterer wandte sich ebenso ohne Aufforderung an Pacelli wie der Regensburger Weihbischof Hierl, dessen Selbstproposition der Nuntius um des Konkordats willen sogar bereit gewesen wäre, zu akzeptieren. 5. Pacellis Rolle für Verlauf und Ausgang des Besetzungsfalls muss als entscheidend charakterisiert werden. Von Anfang an verfolgte er ein präzises Konzept, was das Kandidatenprofil und die Interdependenz der causa mit den Konkordatsverhandlungen anbelangte. Daraus resultierte ein hohes Maß an Autonomie und Unabhängigkeit, mit dem er gegenüber Papst und Staatssekretär agierte. Natürlich konnte Pacelli ungeachtet aller Eigenständigkeit seinem Amt als Nuntius entsprechend die zentralen Weichen letztlich nicht ohne päpstliche Bestätigung stellen. Dennoch entschied er selbst, wann und welche konkreten Schritte zu unternehmen waren, um den Fall innerhalb der gewünschten Bahnen zu erledigen. Instruktionen erhielt er von Gasparri nur, wenn er diese zuvor aus eigenem Antrieb erbeten hatte. Ansonsten handelte er eigenständig, wie er zum Beispiel den Koadjutorplan Haucks und Dittmeyers ohne Rücksprache mit dem Kardinalstaatssekretär ablehnte. In dem richtungsweisenden Nuntiaturbericht vom 31. Juli 1924 skizzierte er zwar formal drei optionale Verfahrensweisen, steuerte jedoch subtil die Entscheidung des Heiligen Stuhls, indem er die Struktur seiner Darstellung auf die letzte, von ihm präferierte Variante zuschnitt. Diese hatte er zuvor ohne römische Erlaubnis beim Kultusminister vorsondiert und damit letztlich antizipiert, was er dadurch „entschärfte“, dass er diesen Vorgang als „privat“ und nicht als „amtlich“ einstufte. In fast allen Belangen konnte Pacelli sich bei Gasparri und Benedikt XV. beziehungsweise Pius XI. durchsetzen: Angefangen bei seinem Grundkonzept, das er den Genannten vermutlich bereits bei seinem Romaufenthalt 1920 darlegte, über die Administratoreinsetzung Haucks bis zu den essentiellen Fragen nach Besetzungsmethode und Kandidaten, von denen Pacelli immerhin zwei gleichwertige zur Auswahl stellte. Nur mit seiner Überlegung, Hierl als Koadjutor zu installieren, um die Ausgangslage für die parlamentarische Zustimmung zum Konkordat zu verbessern, drang er in Rom nicht durch. Allerdings hatte er mit aller Klarheit deutlich gemacht, dass er den Weihbischof hinsichtlich der persönlichen Eignung nur für zweitklassig hielt und damit dem Papst bereits das Argument in die Hand gegeben, die Überlegung abzulehnen. Deshalb wird man das non placet Piusʼ XI. nicht überbewerten dürfen. Wie flüchtig man sich im Staatssekretariat letztlich mit der causa Würzburg befasste und die Sache vertrauensvoll Pacelli überließ, wird an dem knappen und fehlerhaften Telegramm deutlich, mit dem Gasparri auf den oben angesprochenen zentralen Nuntiaturbericht reagierte. Daher kann man ohne Übertreibung festhalten, dass Mün157
II.2.3 Regensburg 1927/28 II.2.3 Regensburg 1927/28
chen und nicht Rom die maßgebliche Schaltzentrale für die Wiederbesetzung des Würzburger Bischofsstuhls war.
II.2.3 Eine relevante Stimme in einer Flut von Kandidatenvoten: Regensburg 1927/28 (Michael Buchberger)542 Der Tod von Bischof Anton von Henle, die Spaltung des Domkapitels und die Einmischung des bayerischen Ministerpräsidenten Am 11. Oktober 1927 starb der 76-jährige Oberhirte von Regensburg, Antonius von Henle. Wie der dortige Dompropst, Weihbischof Johann Baptist Hierl, dem Münchener Nuntius, Alberto Vassallo di Torregrossa – er war der Nachfolger Pacellis, der 1925 nach Berlin übergesiedelt war –, am nächsten Tag mitteilte, sei der Tod unerwartet gekommen, abends, nachdem Henle tagsüber noch die auf den 11. und 12. des Monats angesetzte Diözesansynode543 geleitet habe.544 Das Domkapitel wählte noch am 12. Oktober Hierl zum Kapitelsvikar. Davon unterrichtete der Nuntius Kardinalstaatssekretär Gasparri telegraphisch am nächsten Tag.545 Nachdem der Verstorbene am 15. des Monats beigesetzt worden war, wurde es Zeit, über den Nachfolger nachzudenken. Als erste Sedisvakanz nach Abschluss des neuen bayerischen Konkordats griff der in Artikel 14 § 1 verabschiedete Modus zum ersten Mal.546 Demzufolge oblag es dem Regensburger Domkapitel, eine Sedisvakanzliste aufzustellen, die zusammen mit den Triennallisten der Freisinger Bischofskonferenz und aller bayerischen Domkapitel den Kandidatenfundus bereitstellen sollte, aus dem der Papst den neuen Bischof zu ernennen hatte. Die ersten und bislang einzigen Trien-
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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Regensburg 1927/ 28 die knappen Hinweise bei Hausberger, Geschichte II (1989), S. 225f.; Ders., Kiefl, S. 200–202; Ders., Bistum (2004), S. 197f.; Mai, Buchberger (1981), S. 41f.; Ders., Buchberger (1989), S. 961; Speckner, Wächter, S. 55f. Vgl. dazu Diözesan-Synode für die Diözese Regensburg. Vgl. Hierl an Vassallo vom 12. Oktober 1927, ASV, ANM 430, Fasz. 2, Fol. 203r. Der Nuntius telegraphierte die Nachricht vom Ableben des Bischofs umgehend nach Rom. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 12. Oktober 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 201r. Am nächsten Tag berichtete er genauer über die Umstände des Todes Henles, der als „uno dei più dotti Vescovi di Baviera“ gelte, was der Nuntius besonders auf die exegetischen Studien des Verstorbenen bezog. Vgl. Torrregrossa an Gasparri vom 13. Oktober 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 210rv, hier 210r. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 13. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 3r. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Der endgültige Modus der bayerischen Bischofseinsetzungen). 158
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nallisten waren im Jahr 1926 nach Rom gegangen.547 Bevor die Regensburger Domherren jedoch zusammentraten, um über ihre Sedisvakanzliste abzustimmen, wurden von verschiedenen Seiten Versuche unternommen, am ordentlichen Verfahren vorbei Einfluss auf die Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls auszuüben. Der erste Vorstoß stammte aus dem Domkapitel selbst: Dekan Franz Xaver Kiefl setzte am 19. Oktober, unterstützt von Generalvikar Alphons Maria Scheglmann und dem einfachen Kanoniker Johannes vom Kreuz Gschwendtner, eine Petition an Papst Pius XI. auf, in der er darum bat, den künftigen Bischof keinesfalls aus den Reihen des Regensburger Kapitels zu ernennen.548 Wie kam es zu dieser Bitte, zumal die Domherren noch ein Jahr zuvor drei Geistliche aus dem eigenen Gremium – Johann Baptist Höcht, Joseph Kumpfmüller und Robert Reichenberger – als episcopabili auf ihre Triennalliste gesetzt hatten? Der Grund für dieses außergewöhnliche Anliegen bestand in der Zerstrittenheit der Kanoniker, die Kiefl folgendermaßen beschrieb: „Schon seit langer Zeit mischen sich gewisse mächtige Laien in die kirchliche Regierung ein, wodurch sehr schwere Spaltungen auch im Domkapitel entstanden sind; gegen den Generalvikar [sc. Scheglmann, R.H.], der die Anweisungen des Bischofs vollzieht und gegen den Kapitelsdekan [sc. Kiefl, R.H.], gegen einen anderen Kapitular [womöglich Gschwendtner, R.H.] und sogar gegen den Seminarregens [sc. Maximilian Reger,549 R.H.], weil sie offen auf Seiten des Generalvikars standen, da sie glaubten, auf diese Weise die zumindest indirekt angegriffene Autorität des Bischofs verteidigen zu müssen. Diese Differenzen begannen, ungeachtet der ernsten Ermahnung der Heiligen Konzilskongregation vom 28. August 1926, … vor wenigen Monaten erneut auszubrechen, gewiss ohne jede Schuld der oben Genannten.“550
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Am 19. Juni 1926 übersandte Vassallo die ersten bayerischen Triennallisten überhaupt, die der Domkapitel, nach Rom. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 19. Juni 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 7rv. Die Triennalliste des bayerischen Episkopats wurde (ausnahmsweise) erst im September desselben Jahres aufgestellt und einen Monat später nach Rom übermittelt. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 14. Oktober 1926, ebd., Fol. 51rv. Vgl. die Listen in Bd. 4, Anhang 1.2. Vgl. Kiefl an Pius XI. vom 19. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 15r–16r (nur r). Reger, ein „Intimus Scheglmanns“, war 1922 von Henle zum Regens berufen worden, um „eine Stärkung der ‚Partei‘ Kiefl-Scheglmann“ zu erreichen. Vgl. zu ihm Hausberger, Reger, hier S. 366. „Iam dudum in dioecesi Ratisbonensi potentibus quibusdam laicis regimini ecclesiastico se immiscentibus gravissima dissidia etiam in Capitulo Cathedrali exorta sunt contra Vicarium Generalem mandata Episcopi exsequentem et contra decanum Capituli, contra alium canonicum necnon contra Seminarii Rectorem, quia hi aperte stabant e parte Vicarii Generalis, rati, ita defendere debere auctoritatem Episcopi saltem indirecte impugnatam. Quae dissidia non obstante severa monitione Sacrae Congregationis Concilii d. d. 28. augusti 1926 … ante paucas menses denuo erumpere coeperunt, certe absque ulla culpa supra nominatorum.“ Kiefl an Pius XI. vom 19. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 15r. 159
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Es stehe „zu befürchten, dass, wenn der neue Bischof aus dem Regensburger Domkapitel erwählt wird, die früheren Spaltungen aus menschlicher Gebrechlichkeit wiederaufleben und die genannten Kapitulare, die auf Seiten des verstorbenen Bischofs standen, der Rache der feindlichen Laien unterliegen“551. Also müsse ein Oberhirte von außerhalb kommen, der nicht in die alten Streitigkeiten involviert sei. Die drei Bittsteller stilisierten sich demnach als unschuldig an den Konflikten und als Opfer unrechtmäßiger Einflussnahmen. Durch Stellungnahme zugunsten des Diözesanbischofs versuchten sie augenscheinlich, ihre Bitte beim Papst zu legitimieren. Allerdings war diese Darstellung, die sich implizit gegen Hierl richtete, einseitig. Schon seitdem Kiefl 1914 sein Amt als Domdekan angetreten hatte, schwelte der Streit mit dem Dompropst, mit dem er sich „alsbald heftig überwarf, um ihn fortan stets aufs neue zu befehden, wie überhaupt Kiefls vierzehnjährige Amtszeit als Domdekan von einem nur durch den politischen Umbruch in den Jahren 1918/19 kurzzeitig sistierten Dauerkonflikt zwischen ihm und dem Generalvikar … Scheglmann auf der einen und der Kapitelsmajorität unter Führung Hierls auf der anderen überschattet war“552.
Anders als die Skizze aus Kiefls Feder suggeriert, lag der Streitgrund „im Persönlichkeitsprofil der Erstgenannten [sc. Kiefl und Scheglmann, R.H.], die den von einer nachgerade krankhaften Eifersucht auf den Weihbischof erfüllten Ordinarius Henle hinter sich wussten“553. Damit ist klar, dass die Bitte der im Domkapitel unterlegenen Partei Kiefls letztlich nur darauf abzielte, eine Ernennung Hierls zum Diözesanbischof zu verhindern. Formal-rechtlich nutzte sie dabei die vom Ausführungsdekret der konkordatären Kandidatenlisten eröffnete Möglichkeit, dass anlässlich einer Sedisvakanz auch einzelne Kanoniker separat dem Papst ihre Meinung kundtun konnten.554 Vassallo schickte die Petition am 25. Oktober nach Rom und fügte erklärend hinzu, aus vertraulicher Quelle erfahren zu haben, dass Hierl mit allen außer drei Stimmen von den Domherren zum Kapitularvikar gewählt worden sei.555 Da lag die Annahme nahe, dass die drei Gegner
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„… timendum est, ne, si novus episcopus eligatur ex gremio Capituli Ratibonensis, pristina dissidia ex fragilitate humana reviviscant et ii dicti canonici Capituli, qui steterant ab episcopo defuncto, adversariorum laicorum ultioni succumbant.“ Kiefl an Pius XI. vom 19. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 15r. Hausberger, Kiefl, S. 126. Vgl. ausführlich zu den Auseinandersetzungen ebd., S. 126–142, 191–203. Hausberger, Kiefl, S. 126. Vgl. Nr. 15 des Dekrets „Circa proponendos ad Episcopale ministerium per Capitula Cathedralia Bavarica pro Dioecesibus Bavariae quolibet triennio“, Bd. 4, Anhang 1.1, 2). Vgl. Vassallo an Gasparri vom 25. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 14rv. 160
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Hierls mit den drei Bittstellern identisch waren.556 Im Hintergrund sah der Nuntius „die bekannten Streitigkeiten“557 am Werk, die alten Parteiungen, über die er gut informiert war und die auch für die Kurie keineswegs unbekannt waren. Im Gegenteil erinnerte er den Kardinalstaatssekretär an das bereits in Kiefls Supplik erwähnte strenge Monitum, das die Konzilskongregation im August 1926 wegen heftiger Auseinandersetzungen zwischen Hierl und Scheglmann ausgesprochen habe.558 Was verbarg sich hinter dem angesprochenen unrechtmäßigen Einfluss „mächtiger“ und „feindlicher Laien“? Vassallo kommentierte, dass es sich hierbei vermutlich um den bayerischen Ministerpräsidenten Held handle, der Hierl freundschaftlich verbunden, dem Kapitelsdekan dagegen weniger zugeneigt sei. Tatsächlich hatte Held die Kandidatur Hierls erst am Vortag, dem 24. Oktober 1927, in einem Schreiben an Giuseppe Pizzardo, den Substituten der AES, vehement unterstützt.559 Der Ministerpräsident glaubte, dass die Probleme der Diözese eine Wahl Hierls erforderlich machten: „Die Diözese wartet mit Sehnsucht auf die endgültige Beseitigung der entstandenen Schwierigkeiten, die nicht ohne Einfluss auf das kirchliche Leben geblieben sind. 99% des Klerus, die ganze übrige Diözese würden es mit hoher Freude und Dankbarkeit begrüßen, wenn die Wahl Seiner Heiligkeit auf … Hierl fiele, der, wie allbekannt, unter den gegebenen Verhältnissen unendlich viel gelitten und geopfert hat. Für ihn wäre das Vertrauen des Heiligen Vaters eine Anerkennung seines vorbildlichen Verhaltens und eine Entschädigung für seine Opfer.“560
Die Feindschaften und Intrigen an der Regensburger Bistumsspitze hatten Held bereits 1923 veranlasst, die Promotion des Weihbischofs auf den Würzburger Bischofsstuhl zu betreiben.561 Nach seiner Ansicht sollte der Zwist nach dem Tod Henles endgültig beseitigt werden, indem Hierl 556
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Bei einer späteren Eingabe an den Papst rekapitulierte Hierl jedoch, dass er alle Stimmen der Domkapitulare erhalten habe, ausgenommen seiner eigenen und zwei weiterer. Wenn also wahr ist, dass Hierl sich nicht selbst gewählt hatte, dann musste einer der drei „Opponenten“ für ihn ein positives Votum abgegeben haben. Vgl. Hierl an Pius XI. vom 28. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 62r–64r. „… i noti dissapori …“ Vassallo an Gasparri vom 25. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 14r. Hierl hatte versucht, eine Entlassung Scheglmanns aus dem Amt des Generalvikars zu erreichen, was unter anderem nicht gelang, weil Bischof Henle sich auf dessen Seite stellte. Ergebnis war „eine Monitio paterna zur Friedfertigkeit“ aus der Feder Vassallos, auf die hin der Weihbischof am 6. März 1926 für den Nuntius einen ausführlichen Bericht über die Auseinandersetzungen verfasste. Vgl. Hausberger, Kiefl, S. 199f. u. ö., hier 199. Von einem Monitum der Konzilskongregation im August des Jahres schreibt Hausberger nichts. Vgl. Held an [Pizzardo] vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 9r–10r. Vgl. dazu auch Hausberger, Kiefl, S. 200f. Held an [Pizzardo] vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 9v. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.2 (Ein zweiter Anlauf: Weihbischof Hierl als Koadjutor für Schlör?). 161
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gewissermaßen als Entschädigung dessen Posten übernahm. Held erklärte, dass Hierl die Zustimmung der Katholiken, der anderen Bevölkerungsschichten und der Staatsregierung besitze. Bedenken über das hohe Alter des Weihbischofs – Hierl war 71 Jahre alt – versuchte der Minister mit dem Hinweis zu entkräften, dass dieser die physische Verfassung eines 60-jährigen habe. Weil er selbst aus Regensburg stamme – so Held abschließend –, traue er sich das dargelegte Urteil zu. Um nichts unversucht zu lassen, sandte er gegen Monatsende außerdem den bayerischen Gesandten beim Heiligen Stuhl, Otto Freiherr Ritter zu Groenesteyn, in das römische Staatssekretariat, um in mündlicher Form für die Wahl seines Favoriten einzutreten.562
Die Kandidatentrias Michael Hofmanns und die Empfehlung Bischof Ludwig Hugos Eine weitere Eingabe zur causa Regensburg außerhalb des ordentlichen Besetzungsverfahrens stammte vom Rektor des Innsbrucker Jesuitenkollegs, Michael Hofmann SJ. Am 21. Oktober sandte dieser ein Schreiben mit drei Kandidatenempfehlungen an Monsignore Amleto Giovanni Cicognani, den Substituten der Konsistorialkongregation.563 Dass er diese Kongregation als Adressat seines Gutachtens wählte, wird vor dem Hintergrund verständlich, dass sie im Allgemeinen für die Personalpolitik des Heiligen Stuhls zuständig war. Da die Entscheidungen über die Kandidaten für die bischöflichen Stühle in Deutschland aber im Staatssekretariat fielen,564 reichte Cicognani den Brief des Jesuiten an Borgongini Duca, den Sekretär der AES, weiter.565 Interessant ist, dass Hofmann gar nicht gebeten worden war, seine Meinung zur Regensburger Sedisvakanz vorzutragen:
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Aufschluss darüber gibt ein Schreiben Ritters an einen „Monsignore“, womit höchstwahrscheinlich wieder Pizzardo gemeint war. Darin berichtete der Gesandte von einem Wunsch des Ministerpräsidenten, den er bei der morgendlichen Besprechung vergessen habe vorzutragen: Nach der Einsetzung Hierls als Diözesanbischof sollte Dompfarrer Kumpfmüller den vakanten Weihbischofsposten erhalten. Diese Bitte der Staatsregierung über die Vatikangesandtschaft vorzutragen, schien Ritter notwendig, weil er vermutete, dass Vassallo die für das Bistum infrage kommenden Kandidaten vielleicht noch nicht kennengelernt habe. Dieser Grund erscheint vorgeschoben, wenn man bedenkt, dass Vassallo seit 1925 in München war. Vielmehr ging es wohl darum, der Sache in Rom weiteren Nachdruck zu verleihen, was man dem Nuntius offenbar nicht zutraute. Vgl. Ritter an [Pizzardo] vom 28. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 24r–25r. Vgl. Hofmann an Cicognani vom 21. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 6r–7r. Vgl. Can. 255 CIC 1917. Vgl. Cicognani an Borgongini Duca vom 29. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 5r. 162
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„Weil mir bekannt wurde, welch große Sorgfalt der Heilige Stuhl auf die Wahl der für das Bischofsamt besten Männer legt und weil ich in letzter Zeit zweimal über verschiedene Kandidaten befragt wurde, die zur Leitung der Diözese Brixen geeignet sind, wage ich, die besten Männer zu benennen, die zur Regierung der großen Diözese Regensburg gewiss tauglich erscheinen …“566
Um so mehr traue er sich – so Hofmann – in dieser Sache vorstellig zu werden, da ihm die großen Schwierigkeiten und Unglücksschläge, unter denen die Diözese seit Jahren leide, bekannt seien: 1) Den ersten Geistlichen, den der Jesuit als tauglichen Nachfolger Henles in Betracht zog, war Joseph Kumpfmüller, Dr. phil. und theol., Regensburger Domkapitular und Dompfarrer. Von 1888 bis 1895 sei der Genannte Alumne des römischen Germanicums gewesen. Hofmann bescheinigte ihm, „ein frommer, kluger, kräftiger, kultivierter, in seinen Arbeiten tüchtiger Mann und dem Heiligen Stuhl treu ergeben“567 zu sein. 2) Dann dachte Hofmann an den Speyerer Subregens Otto Lutz, ebenfalls Dr. theol., der in den Jahren 1901 bis 1904 und 1906 bis 1909 im Innsbrucker Canisiuskolleg studiert habe. Frömmigkeit, Klugheit, Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl, Leutseligkeit, Kultiviertheit und Bescheidenheit waren Attribute, die der Jesuit ihm zuschrieb. Darüber hinaus „ragt“ Lutz „in der Lehre hervor, in höchster Weise von den modernen Irrtümern abgewandt, die mehr oder weniger in Deutschland um sich greifen“568. Trotz dieser Qualitäten besitze Lutz in seiner eigenen Diözese nicht den ihm gebührenden Stand, woran er jedoch völlig schuldlos sei. Gesundheitlich sei der Subregens zwar längere Zeit angeschlagen gewesen, aber seit einem Jahr absolut stabil genug, um die bischöfliche Würde zu tragen.569 566
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„Cum vero mihi notum sit, quanta Sancta Sedis sollicitudo in eligendis viris optimis ad munus Episcopale, et cum ultimo tempore bis interrogatus fuerim de variis candidatis ad dioecesim Brixinensem regendam aptis, audeo nominare viros optimos qui ad magnam dioecesim Ratisbonensem gubernandam valde idonei videntur …“ Hofmann an Cicognani vom 21. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 6r. Hofmann bat Cicognani, seinen Brief zu vernichten, falls dieser unangebracht sei. „… vir pius, prudens, robustus, bene cultus, strenuus in laboribus et Sanctae Sedi devotus.“ Hofmann an Cicognani vom 21. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 6r. „… excellens in doctrina maxime aversus ab erroribus modernis, qui plus minus in Germania serpunt.“ Hofmann an Cicognani vom 21. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 6v. Friedrich Häussler führt die angesprochene eher untergeordnete Rolle Lutzʼ in der Diözese letztlich sowohl auf dessen Gesundheitszustand als auch auf eine gewisse Ambitionslosigkeit zurück, wenn er erklärt: „Dr. Lutz hätte das Zeug zu einem Bischof gehabt. Wenn er trotzdem fast sein Leben lang in der bescheidenen Stellung als Subregens belassen wurde, so war das hauptsächlich durch seine schwache Gesundheit bedingt. Als 1931 die Stelle des Seminarregens frei wurde, bat er, von seiner Person absehen zu wollen. Er habe sich in vieljähriger Arbeit in seine jetzige Berufstätigkeit eingearbeitet und habe darin so viel innere Anregung und Befriedigung gefunden, daß ihm eine Umstellung nicht wünschenswert erscheine.“ Häussler, Priestererzieher, S. 32f. 163
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3) Die Trias komplettierte Konrad Graf von Preysing, der – wie Hofmann resümierte570 – nach dem Studium des bürgerlichen Rechts kurzzeitig Attaché in der bayerischen Delegation beim Heiligen Stuhl gewesen sei. Daraufhin habe er, einen neuen Weg einschlagend, im Innsbrucker Jesuitenkolleg von 1908 bis 1913 Theologie studiert und seinen Doktorgrad erworben. Anschließend habe ihn Erzbischof Franz Kardinal Bettinger als sein Sekretär nach München berufen, bis er nach dessen Tod seinen aktuellen Posten als Domprediger an der Münchener Frauenkirche angetreten habe. Der Qualitätenkatalog Preysings, den Hofmann beifügte, liest sich wie die der vorgenannten Kandidaten: „Er ist ein frommer Mann, klug, sehr bescheiden, dem Heiligen Stuhl ergeben, kultiviert, kräftig.“571 Der Rektor des Jesuitenkollegs beließ es jedoch nicht allein bei diesem Empfehlungsschreiben. Vielmehr wandte er sich gleichzeitig an Bischof Ludwig Maria Hugo von Mainz, gewissermaßen ein „Geistesverwandter“, der wie Hofmann mehrere Jahre sowohl im Canisianum wie im Germanicum verbracht hatte. Ihm unterbreitete er seine Kandidatenvorschläge und bat ihn dringend, ebenfalls in der Angelegenheit tätig zu werden. Folgsam schrieb Hugo Ende Oktober an den deutschen Kurienkardinal Franz Ehrle, berichtete, dass „der kluge und gute“572 Hofmann Kontakt zu ihm aufgenommen habe und entschuldigte sich vorab, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen. Von den Kandidaten des Jesuiten unterstützte Hugo insbesondere den Speyerer Subregens Lutz, mit dem er als Regens lange Zeit zusammengearbeitet habe. Er könne bestätigen, „dass Dr. Lutz ein ganz ausgezeichneter Priester ist, da er wissenschaftlich – er trägt Dogmatik vor – hervorragt und sich kaum von jemand an treuer Gesinnung und Haltung gegenüber dem H[eiligen] Stuhl übertreffen lässt“573. Sein Gesundheitszustand, der längere Zeit angegriffen gewesen sei, habe sich mittlerweile deutlich gebessert. Aufgrund seines hervorragenden Alters von 45 Jahren, „wäre er“ – so Hugo – „sicher in Regensburg mehr am Platze als ich in Mainz“574. Trotz dieses deutlichen Votums verschwieg der Mainzer Oberhirte nicht, dass sein „lieber Kursgenosse“575 Kumpfmüller als aussichtsreicher Amtsanwärter gehandelt werde. Auch gegen
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Laut Ludwig Volk war Hofmann „jene Erzieherpersönlichkeit“, die Preysing „nach der Mutter am nachhaltigsten geformt hat“. Volk, Konrad, S. 89. Wie man sieht, beruhte die Wertschätzung auf Gegenseitigkeit. „Est vir pius, prudens, valde modestus, Sanctae Sedi addictus, bene cultus, robustus viribus.“ Hofmann an Cicognani vom 21. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 6v. Vgl. Hugo an Ehrle vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 40rv, hier 40r. Hugo an Ehrle vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 40r. Hugo an Ehrle vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 40v. Hugo an Ehrle vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 40v. 164
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ihn wollte er nichts einwenden. Daher schloss Hugo seine Ausführung mit der Bitte, Ehrle möge „das Gesagte ganz nach Belieben … verwenden. Vielleicht kann es einmal als Zeugnis dienen.“576 Da Lutz und Kumpfmüller nicht beide Bischof von Regensburg werden konnten, schien Hugo an künftige Fälle zu denken, in denen taugliche episcopabili benötigt würden. Ehrle „beliebte“ es, Hugos Votum in die Hände Borgongini Ducas gelangen zu lassen,577 womit das informelle Kandidatenkarussell für Regensburg allerdings noch nicht zum Stillstand gekommen war.
Ein weiteres Votum für Hierl: Stadtpfarrer Braun und Priorin Reichert Nach der Wortmeldung der drei Regensburger Domkapitulare, des bayerischen Ministerpräsidenten, des Innsbrucker Jesuiten und des Mainzer Bischofs folgte schließlich noch eine weitere. Sie entstammte der Feder der Priorin des Regensburger Dominikanerinnenklosters Heilig Kreuz, Maria Ignatia Reichert, und war an den österreichischen Kurienkardinal und ehemaligen Münchener Nuntius, ihren Ordensbruder Andreas Frühwirth adressiert.578 Die Priorin gab an, dass der Regensburger Stadtpfarrer Thomas Braun an sie herangetreten sei, damit sie eine Bitte weiterleite. Anlass war auch hier wieder die Zerstrittenheit in der hohen Regensburger Geistlichkeit, die Reichert im gesamten Diözesanklerus abgebildet sah: „Mit Sorge beobachtet der bischofstreue Teil des Klerus diesen Missstand und fürchtet, er könne zum Ruin unserer Diözese [führen], besonders wenn der zu ernennende Bischof mit den herrschenden Verhältnissen nicht vertraut und gezwungen ist, eine zuwartende Stellung einzunehmen.“579 Als geeignetste Persönlichkeit, um dem „Untergang des Klerus“580 entgegenzuwirken, sehe man gemeinhin Weihbischof Hierl an. Für ihn spreche, dass er ein Kind der Diözese sei – er stammte gebürtig aus Parsberg –, was auf keinen Diözesanbischof der letzten 100 Jahre zutreffe. In einer längeren Seelsorgstätigkeit habe er den Klerus des Bistums kennengelernt und wisse sehr genau um die
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Hugo an Ehrle vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 40v. Obgleich selbst Mitglied der AES (vgl. Annuario Pontificio 1927, S. 484) übergab Ehrle Hugos Schreiben zunächst der Konsistorialkongregation, von wo es der Assessor an Borgongini Duca weiterleitete. Vgl. Rossi an Borgongini Duca vom 16. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 39r. In der Konsistorialkongregation konnte man mit dem Dokument ohnehin nichts anfangen und glaubte, es handle sich um Vorschläge für den vakanten Bischofsstuhl von Mainz. Vgl. Reichert an Frühwirth vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 29r–30r. Reichert an Frühwirth vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 29r-v. Reichert an Frühwirth vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 29v. 165
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„zerrütteten Verhältnisse“581. Darüber hinaus werde er als „tatkräftig und klug gerühmt“ und besitze außerdem „das volle Vertrauen des bischofstreuen Klerus der Diözese“582. Deshalb – so die abschließende Bitte der Priorin – möge Frühwirth darauf hinwirken, dass Hierl vom Papst zum neuen Oberhirten ernannt werde. Frühwirth übergab die Supplik am 31. Oktober an Pizzardo.583 Er fügte hinzu, dass der Papst ihm gegenüber einmal den Gedanken geäußert habe, Weihbischof Hierl an die Spitze einer Diözese zu stellen. Anscheinend besaß der Kardinal gegen diesen Gedanken keinerlei Einwände. Überblicksartig lassen sich die informellen Eingaben in drei Gruppen gliedern: Ministerpräsident Held, Stadtpfarrer Braun und Priorin Reichert sprachen sich für die Kandidatur Hierls aus. Domdekan Kiefl wandte sich mit seinen beiden Konkapitularen gegen eine Ernennung des Weihbischofs, wenn sie ihn auch nicht direkt erwähnten. Hofmann schließlich präsentierte drei andere Namen, die allesamt Jesuitenschüler waren und von denen der erstgenannte Kumpfmüller aus dem Regensburger Kapitel stammte. Hugo unterstützte das Votum des Jesuiten. All diese Kandidatenvorschläge hatten jedoch formal-rechtlich überhaupt keine Chance auf Erfolg, wenn sie nicht auch auf den bayerischen Triennallisten von 1926 standen, an die der Heilige Stuhl in seiner Personalwahl gebunden war. Ein Blick auf diese zeigt, dass der Papst Hierl gar nicht ernennen durfte, da er auf keiner einzigen Liste stand. Subregens Lutz war zwar auf dem Zettel der Speyerer Kanoniker zu finden, hatte jedoch mit nur einer Ja-Stimme bei sieben Nein-Voten und zwei Enthaltungen ein desaströses Ergebnis eingefahren. Bei Kumpfmüller und Preysing sah es besser aus: Erstgenannter war zweimal vorgeschlagen worden (vom Episkopat und vom Regensburger Kapitel), Letztgenannter stand sogar auf drei Listen (wiederum auf der des Episkopats sowie derjenigen der Domkapitel in München und Speyer).584 Da allerdings die Sedisvakanzliste noch ausstand, konnte sich die Ausgangslage noch ändern.
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Reichert an Frühwirth vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 29v. Reichert an Frühwirth vom 24. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 29v. Vgl. Frühwirth an Pizzardo vom 31. Oktober 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 28rv. Kumpfmüller hatte vom Episkopat drei Ja-Stimmen bei vier Enthaltungen und im eigenen Domkapitel immerhin fünf positive Voten bei einer (vermutlich eigener) Enthaltung erhalten. Preysings Ergebnisse sahen schlechter aus: Die Bischöfen stimmten bei ihm zwar fünfmal ja, einmal nein und einmal enthaltend, die Münchener und Speyerer Domherren votierten aber jeweils ablehnend drei probo, fünf non probo und zwei abstineo. 166
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Noch einmal die Spaltung des Regensburger Domkapitels Als Vassallo am 25. Oktober die Petition Kiefls an Gasparri sandte, hatte er noch keinerlei Hinweise bekommen, ob das Regensburger Domkapitel Anstalten machte, die geforderte Kandidatenliste zu erstellen. Angesichts der tiefen Differenzen verwundert dies auch nicht, die Domherren waren erst einmal nur mit sich selbst beschäftigt. Aus dem Kapitel erhielt Pius XI. unter dem Datum des 28. Oktober erneute eine Supplik, die dieses Mal jedoch von der Gegenpartei unterzeichnet war, das heißt von allen Kapitularen außer der Kiefl-Gruppe mit Hierl an der Spitze.585 Formal ging es um zwei kirchenrechtliche Fragen, von denen die erste lautete, ob das Amt des Direktors des Allgemeinen Geistlichen Rats, der in Bayern in den Diözesankurien neben dem Generalvikariat Verwaltungsaufgaben erfüllte,586 trotz Sedisvakanz fortdauerte. Brisant war, dass das fragliche Amt niemand anders als Kiefl bekleidete. Während Scheglmann seinen Posten als Generalvikar sofort bei Eintritt der Sedisvakanz aufgegeben habe, wehre sich Kiefl seinen Stuhl zu räumen. Nach einer kurzen Skizze der Aufgaben kamen die Verfasser zu dem Schluss, dass dieses Amt letztlich ein Anhängsel des Generalvikariats darstelle und Kiefl daher ebenso wie der Generalvikar mit dem Tod des Bischofs abtreten müsse. Im gegenteiligen Falle würde die Arbeit des Kapitelsvikars außerdem ordnungswidrig eingeschränkt. Ihn einfach absetzen wollte Hierl nicht, da Kiefl, der seit Sommer 1922 an einer schweren Netzhautentzündung litt, fast völlig erblindet sei.587 Die Eingabe fuhr mit dem Hinweis fort, dass man schon 1926 erfolglos versucht habe, Bischof Henle zu bewegen, Kiefl aus gesundheitlichen Gründen von seinen Aufgaben zu entbinden. Doch der Domdekan leugne seine Krankheiten – er leide neben der Sehschwäche an Nierenproblemen und Diabetes – und habe in der Sitzung des Domkapitels vom 18. Oktober angekündigt, dem Heiligen Stuhl ein medizinisches Attest vorzulegen. Auch wolle er diesem gegenüber den Fortbestand seines Amtes verteidigen. Wie bereits dargestellt, wandte sich Kiefl tatsächlich nur einen Tag nach besagter Sitzung an den Heiligen Stuhl, ohne jedoch diese Postenfrage zu erwähnen. Vermutlich war ihm klar, dass er rechtlich keine Handhabe hatte und unmöglich Direktor des Allgemeinen Geistlichen Rats
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Neben Hierl waren das Karl Loibl, Michael Münz, Robert Reichenberger, Frank Anton und die ebenfalls bereits genannten Kumpfmüller und Höcht. Vgl. Hierl an Pius XI. vom 28. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 62r–64r. Vgl. dazu auch Hausberger, Kiefl, S. 200. Vgl. zum Allgemeinen Geistlichen Rat etwa Forstner, Priester, S. 54 Anm. 94; Laube, Ordinariat, S. 39f.; Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 414f. Vgl. Hausberger, Kiefl, S. 197f. 167
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bleiben konnte.588 Um also keinen – erwartbaren – Widerspruch aus Rom zu erhalten, verfocht er „lediglich“ das Hauptanliegen, Hierl als künftigen Diözesanbischof zu verhindern. Ob aber Kiefl seine Ankündigung wahr gemacht hatte und was sein Schreiben tatsächlich beinhaltete, wusste die Kanonikerpartei um Hierl nicht. Um allen Eventualitäten vorzubeugen, schloss die Schrift an den Papst mit einer harschen Kritik am Domdekan: „Durch viele Jahre hindurch bekämpfte Dekan Dr. Kiefl …, der streit- und zanklustig ist, unterstützt vom Generalvikar Dr. Scheglmann, den er ganz in sein Gefolge gezogen hat und der ihm in allen Dingen knechtisch diente, durch seine Plumpheit und Arroganz, seine arglistigen, verschlagenen und heimlichen Listigkeiten den Weihbischof … Hierl und den größeren Teil des Domkapitels auf unglaubliche Weise, verfolgte sie hasserfüllt und verletzte sie.“589
Anlässlich der Friedensmahnung der Konzilskongregation im August 1926 habe Henle geklagt, dass dieser Friede kein Problem sei, wenn es Domdekan Kiefl nicht gäbe: „Das sagte jener Bischof, der – mit wahrem Schmerz sagen wir dies – Kiefl und Scheglmann so viel zugestand und beiden fast in allen Dingen gewogen war.“590 Daher baten Hierl und die übrigen Kanoniker den Pontifex, sie gegen die ungerechten Anklagen Kiefls zu beschützen und versicherten, dass der weit größere Teil des Domkapitels zu Regensburg in allen wichtigen Dingen einmütig sei und stets nach Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit strebe. Vassallo vermittelte diese Eingabe am Allerheiligentage abschriftlich nach Rom weiter.591 Zu den erneut thematisierten Streitigkeiten enthielt er sich jeden Kommentars. Dass aber die Sedisva-
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Donato Kardinal Sbarretti, der Präfekt der Konzilskongregation, beantwortete, nachdem er von der AES mit der Eingabe Hierls zu den rechtlichen Fragen der Amtspersistenz während der Sedisvakanz konfrontiert worden war, zwar nicht, ob der Direktor des Allgemeinen Geistliche Rats bei Eintritt der Sedisvakanz ipso facto aus dem Amt schied, stärkte aber die Befugnisse des Kapitularvikars: Wenn gerechte Gründe vorlägen – sagte er –, unter die in diesem Falle die körperliche Einschränkung Kiefls durchaus zu rechnen sei, sei der Kapitelsvikar nicht verpflichtet, von ihm und dem Domkapitel als amtsunfähig beurteilte Personen in ihren Ämtern zu belassen, in welche sie der verstorbene Bischof berufen habe. Vgl. Gasparri an Sbarretti vom 9. November 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 22r und Sbarretti an Gasparri vom 26. November 1927, ebd., Fol. 51rv. „Per multos annos decanus Dr Kiefl … litium et rixae cupidus, adjutus a Vicario Generali Dre Scheglmann, quem totum in suas partes traxerat, et qui ei in omnibus serviliter serviebat, sua rusticitate et arrogantia, suis dolosis, callidis et clandestinis machinationibus Episcopum Auxiliarem … Hierl necnon partem capituli longe majorem incredibili modo impugnabat, odio persequebatur et offendebat.“ Hierl an Pius XI. vom 28. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 63v. „Quod dixit ille Episcopus, qui – cum vero dolore dicimus – tantum concedebat Dri Kiefl et Dri Scheglmann et utrique fere in omnibus favebat.“ Hierl an Pius XI. vom 28. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 63v. Vgl. Hierl an Vassallo vom 28. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 60r und Vassallo an Gasparri vom 1. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 18rv. 168
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kanzliste des Domkapitels – über den festgelegten Zeitraum von 15 Tagen hinaus592 – noch auf sich warten ließ, hatte einen handfesten Grund, wie Hierl dem Nuntius in einem weiteren Schreiben auseinandersetzte: Sie habe nicht aufgestellt werden können, „weil der versiegelte Akt über den Triennal-Vorschlag [sc. von 1926, R.H.] mit den Dekreten unter den Akten des verstorbenen Bischofs nicht aufgefunden werden konnte“593. Weil Henle kein Geheimarchiv besessen habe, habe man die Dokumente erst später in einem Privatschrank entdeckt. Merkwürdig an dieser Begründung ist, dass den Kapitularen das Dekret zur Aufstellung der Sedisvakanzliste normalerweise hätte vorliegen müssen, da die bayerischen Domkapitel das Dokument unter dem Datum des 19. April 1926 von der Nuntiatur über ihre Diözesanbischöfe erhalten hatten.594 Daher konnte die Unkenntnis des Wahlmodus eigentlich nicht das Problem gewesen sein. Wie dem auch sei: Stichtag für die Abgabe der Liste wäre der 26. Oktober 1927 gewesen. Hierl entschuldigte sich für die Verspätung und kündigte als Termin für die Wahlsitzung des Domkapitels den 5. November an.
Die Sedisvakanzliste des Domkapitels Der Dompropst hielt Wort: Am Samstagmorgen, dem 5. November, trafen sich die Domkapitulare595 auf Hierls Einladung, um über mögliche Nachfolger des verstorbenen Diözesanbischofs abzustimmen. Die Wahlversammlung sei genau nach den im entsprechenden Dekret festgesetzten Vorschriften und „in aller Ruhe“596 abgelaufen, wie Hierl Vassallo versicherte, dem er das Protokoll der Sitzung noch am selben Tage zusandte.597 Nach Anrufung der göttlichen Hilfe schworen alle Verschwiegenheit, der Propst verlas das maßgebliche Dekret zur Aufstellung der Kandidatenliste, woraufhin gemäß Can. 171 des kirchlichen Gesetzbuchs die Kapitulare Loibl und Münz zu Skrutatoren und Höcht zum Wahlsekretär gewählt wurden.598 Nach geheimer Abgabe der Kan592
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Laut dem von Pacelli angefertigten Ausführungsdekret musste der Dompropst innerhalb von 15 Tagen nach Eintritt der Sedisvakanz das Domkapitel zusammenrufen, um die Vorschlagsliste anzufertigen. Vgl. „Decretum Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ Nr. 2, Bd. 4, Anhang 1.1, 3). Hierl an Vassallo vom 31. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 65rv, hier 65r. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens). Außer Gschwendtner, der entschuldigt fehlte, waren alle übrigen neun Kanoniker anwesend: Dompropst Hierl, Domdekan Kiefl, Loibl, Scheglmann, Münz, Reichenberger, Frank, Kumpfmüller und Höcht. Hierl an Vassallo vom 5. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 141rv, hier 141r. Vgl. „Relatio de proponendis ad Episcopale ministerium Sede Ratisbonensi in Bavaria vacante per Capitulum Cathedrale Ratisbonense“ vom 5. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 134r–137r. Damit waren die Nummern 6 und 7 des „Decretum Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ in allen Einzelheiten befolgt worden. Vgl. die nächsten Nummern für den nun folgenden Wahlablauf. 169
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didatenvorschläge und der darauffolgenden Abstimmung über den index nominum propositorum notierte der Protokollant folgendes Ergebnis:
1. Joseph Engert (Philosophieprofessor in Regensburg) 2. Johann Baptist Hierl (Kapitelsvikar und Weihbischof in Regensburg) 3. Johann Baptist Höcht (Domkapitular in Regensburg) 4. Karl Kindsmüller (Religionslehrer in Regensburg) 5. Joseph Kumpfmüller (Domkapitular und -pfarrer in Regensburg) 6. Joseph Scherr (Pfarrer in Schwandorf)
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Als Sieger der Abstimmung ging der Kapitelsvikar mit sechs Ja-Stimmen hervor, gefolgt von Kumpfmüller mit fünf und Höcht mit vier positiven Voten.599 Leicht ist zu erraten, wer Hierl die Zustimmung verweigerte: Die beiden Nein-Stimmen kamen wahrscheinlich von Kiefl und Scheglmann. Klar, dass insbesondere ersterer mit diesem Ausgang nicht zufrieden war, hoffte er doch inständig, dass Hierl nicht der künftige Oberhirte wurde. Deshalb wollte er das Wahlergebnis nicht mittragen: Während der Sekretär noch das Protokoll schrieb, verließ Kiefl die Wahlversammlung. Daher fehlte schließlich seine Unterschrift unter dem Manuskript. So ruhig, wie Hierl dem Nuntius vorgab, war die Zusammenkunft der Kapitulare also gar nicht verlaufen.
Hierl, der Favorit Durch die Kandidatenliste des Domkapitels war die rechtliche Grundlage für eine mögliche Ernennung Hierls zum Nachfolger Henles gegeben, die dem deutlichen Eintreten des bayerischen Ministerpräsidenten Held oder des Regensburger Stadtpfarrers Braun für den Genannten über-
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Auf der Triennalliste der Regensburger Domherren vom Vorjahr fehlte Hierl noch. Höcht und Kumpfmüller hatten sich seit damals leicht verschlechtert, wobei 1926 drei Domkapitulare an der Abstimmung nicht teilnahmen und die Ergebnisse daher nicht ohne Vorbehalt vergleichbar sind (Höcht: vier ja, null nein, zwei Enthaltungen; Kumpfmüller: fünf ja, null nein, eine Enthaltung). 170
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haupt erst eine Chance auf Erfolg verlieh. Die Unterstützung für Hierl ging sogar noch erheblich weiter: Der Stadtpfarrer von Amberg, Jakob Wagner, startete noch Ende Oktober eine Kampagne, indem er alle 80 Dekane und Kämmerer des Bistums Regensburg als Repräsentanten des Diözesanklerus um ihre Unterschrift für die Kandidatur des Kapitelsvikars ersuchte.600 Um ihre Hilfe zu gewinnen, hatte er ein Rundschreiben entworfen, das er der Nuntiatur einzureichen beabsichtigte und aus dem die Motivation der Aktion hervorging: „Sollen wir – die Dekane und Kämmerer – uns nicht in einem Gesuche an Seine Exzellenz den Hochwürdigsten Herrn Nuntius in München wenden, es möchte doch bei der diesmaligen Besetzung des Bischofsstuhles ein Diözesan bedacht werden? Seit 100 Jahren war dies nicht mehr der Fall. Unser Hochsel[ige] Bischof Ignatius [sc. von Senestrey, R.H.] war wohl ein gebürtiger Bärnauer, aber der Sohn eines Beamten, der nicht aus der Diözese stammte; der Hochsel[ige] Bischof [Georg Michael, R.H.] Wittmann kam nicht mehr zur Regierung. Und doch wäre es bei den derzeitigen eigenartig gestalteten Verhältnissen gerade in unserer Diözese dringendst notwendig, dass der neue Oberhirte schon von Anfang an mit den Dingen aufs innigste vertraut wäre.“601
Die lokalpatriotische Forderung sah Wagner in der Person Hierls erfüllt: Dieser sei ein „ein vorbildlicher Priester, bei der Diözesansynode noch haben wir ihn als einen Herrn kennengelernt, der trotz seines Alters körperlich und geistig hervorragend schaffensfreudig und schaffensfähig ist, er kennt einen großen Teil des Klerus und die Diözese sehr gut“602. Von den genannten 80 Geistlichen, denen der Pfarrer sein Werbeschreiben zukommen ließ, sandten ihm 60 binnen weniger Tage den Text zurück und notierten ein „Einverstanden“ neben ihrer Unterschrift. Am 7. November übermittelte Wagner dem Nuntius den Stapel der Dokumente.603 Er rechtfertigte seine Aktion mit dem Hinweis, dass in der Kirchengeschichte oftmals jene die besten Bischöfe gewesen seien, „die auf den einmütigen Ruf von Klerus und Volk hin den Hirtenstab in die Hand bekamen“604. Seine Umfrage spiegelte seiner Ansicht nach die Meinung des Diözesanklerus wider, der damit geschlossen den Papst bitte, Hierl zum neuen Diözesanbischof zu ernennen. Dabei basiere die allgemeine Achtung des Kapitelsvikars nicht nur auf dessen diözesaner Herkunft, sondern ebenso auf persönlichen Qualitäten: Erfahrungen in der Seelsorge, bewährt als Landtagsabgeordneter der BVP, er „hat durch seinen klugen Rat, seine unermüdliche Arbeitsfreudigkeit, seine Ruhe und Besonnenheit in weitesten Kreisen sich hohe Achtung
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Vgl. dazu auch Hausberger, Kiefl, S. 201. Rundschreiben Wagners vom 31. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 72r. Rundschreiben Wagners vom 31. Oktober 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 72r. Vgl. Wagner an Vassallo vom 7. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 139r–140v und die unterschriebenen Rundschreiben, ebd., Fol. 72r–132r, 138r. Wagner an Vassallo vom 7. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 139v. 171
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und Wertschätzung erworben, hat sich auch persönlich einen weiten praktischen Blick und große Geschäftsgewandtheit angeeignet“605. Die 16-jährige Tätigkeit Hierls als Weihbischof und Dompropst charakterisierte Wagner als eine Zeit „heroischer Selbstverleugnung und bewunderungswürdiger Opferwilligkeit“, trotz deren er sich in seinem fortgeschrittenen Alter noch „einer seltenen geistigen und körperlichen Frische und Rüstigkeit“606 erfreue. Schlussendlich versicherte der Pfarrer dem Papst im Namen der Unterzeichner unbedingte Treue auch für den Fall, dass dieser jemand anders auf den Stuhl des heiligen Wolfgang berufen sollte.
Die Voten der Patres Schmoll und Fritz Es stellt sich die Frage, ob die Verantwortlichen in Rom den verschiedenen Stimmen Gehör schenkten und wie viel Bedeutung sie ihnen für die Kandidatenentscheidung beimaßen. Vassallo sandte eine Kopie607 der Sedisvakanzliste am 11. November an Gasparri, sodass vom formalen Gang des Besetzungsprozesses laut Artikel 14 § 1 des bayerischen Konkordats her alle Prämissen für die päpstliche Nomination erfüllt waren.608 Aus dem Wahlergebnis stellte der Nuntius die drei genannten Personen als infrage kommend heraus, die als einzige ein positives Stimmenverhältnis erzielt hatten,609 ergriff aber Partei für den Kapitelsvikar: „Das umsichtige Verhalten Hierls während der nicht wenigen Jahre, die er unter den dornigen Umständen lebte, hat ihm die Sympathien des Domkapitels eingebracht, das – nach dem Tod von Monsignore von Henle – ihn zu seinem Vikar gewählt hat mit allen Stimmen außer
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Wagner an Vassallo vom 7. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 140r. Wagner an Vassallo vom 7. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 140r und 140v. Die Kopie des Wahlprotokolls erhielt Vassallo auf Nachfrage unter dem Datum des 9. November. Vgl. Hierl an Vassallo vom 9. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 70r. Das Original, das ihm wie gesagt bereits am 5. des Monats zugegangen war, hätte der Nuntius nach der Nomination des neuen Oberhirten gemäß Nr. 15 des „Decretum Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ vernichten müssen. Obwohl er dies in der folgenden Berichterstattung ankündigte, hat es sich im Nuntiaturarchiv erhalten. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 11. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 32rv. Streng genommen war es nirgendwo rechtlich festgelegt, welches Stimmenverhältnis vorliegen musste, damit der Heilige Stuhl einen Kandidaten ernennen durfte. Gehörten auch diejenigen, die ein negatives Ergebnis erzielt hatten, zur „Liste von Kandidaten, die für das bischöfliche Amt würdig und … geeignet sind“, aus denen „sich der Heilige Stuhl freie Auswahl vor[behält]“? Art. 14 § 1 des bayerischen Konkordats von 1924, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 304f. Vgl. hierzu auch die Regierungsbegründung zum bayerischen Konkordat vom 18. November 1924, ebd., S. 310. 172
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seiner eigenen und der zwei von Monsignore Kiefl und Scheglmann, wie von informierten Personen behauptet wird …“610
Von der Gegenpartei hielt Vassallo allein Kiefl für unerbittlich. Obwohl Scheglmann bei der Abstimmung gegen den Weihbischof votiert hatte, hielt er ihn für nachgiebiger, vermutlich weil der ehemalige Generalvikar seinen Posten widerstandslos geräumt hatte. Jedenfalls schien der Nuntius bestrebt, den Widerstand gegen Hierl herunterzuspielen. Er führte die breite Unterstützung für den Genannten an, wie sie in der Werbeaktion Wagners zum Ausdruck kam, erinnerte noch einmal an den Zuspruch des bayerischen Ministerpräsidenten und schloss sich der Auffassung an, dass Hierl trotz seiner 71 Jahre bei bester Gesundheit war. Freilich gab er zu bedenken, dass bei fortschreitendem Alter die Leistungen in der Bistumsadministration abnehmen könnten. Zu einem klaren Votum, sei es für Hierl oder jemand anderen, konnte sich der Nuntius jedoch nicht durchringen. Stattdessen begnügte er sich damit, auf die neuen Anordnungen zu warten, die ihm der Staatssekretär auftragen würde. Diese ließen nicht lange auf sich warten. Vier Tage später wies ihn Gasparri telegraphisch an, sich selbst in der Kandidatenfrage zu positionieren.611 Er sah demnach keine Möglichkeit, auf Basis der Sedisvakanz- und Triennallisten eine ausreichend fundierte Personalentscheidung zu treffen. Auch Vassallo war zum jetzigen Stand nicht dazu in der Lage.612 Deshalb versicherte er seinem Vorgesetzten zunächst lediglich, die Order baldmöglichst auszuführen und holte umgehend Gutachten über Geistliche ein, die er sich als Bischof von Regensburg vorstellen konnte.613 Ein aussagekräftiges Kandidatenurteil traute er zunächst dem Provinzial der bayerischen Franziskaner, Polycarp Schmoll, zu. Als er ihn am 18. November in Audienz empfing, was leicht möglich war, da der Provinzial in München residierte, forderte er jeweils ein Exposé über den Benediktinerabt von Scheyern, Simon Landersdorfer, über den Münchener Weihbischof, Michael Buchberger, 610
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„La condotta prudente tenuta dallʼHierl durante i non pochi anni vissuti in circonstanze spinose, gli hanno conciliato le simpatie del Capitolo cattedrale che, morto Mons. von Henle, lo ha eletto a suo Vicario a pieni suffragi, meno il suo stesso e i due dei Mons. Kiefl e Scheglmann come da persone informate si asserisce …“ Vassallo an Gasparri vom 11. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 32r-v. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 15. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 146r. Er kannte nicht einmal die für eine Entscheidung grundlegende bischöfliche Triennalliste von 1926, die er seinerzeit selbst nach Rom gesandt hatte (vgl. Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 547). Deshalb bat er Kardinal Faulhaber, ihm die Liste zur Einsichtnahme zu überlassen. Vgl. Tagebucheinträge Faulhabers vom 8., 9. und 16. November 1927, EAM, NL Faulhaber 10012, S. 103, 104 und 106 beziehungsweise Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 640. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 16. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 37r. 173
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und schließlich über Weihbischof Hierl. In getrennten Schreiben vom 20. und 21. des Monats erfüllte der Franziskaner diese Aufgabe.614 a) Schmoll kannte Landersdorfer bereits seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in München. Schon als junger Priester habe sich dieser ausgezeichnet durch einen „wahrhaft religiösen Sinn“, durch Eifer für die klösterliche Disziplin und durch Liebe zur Wissenschaft „zur größeren Erleuchtung der katholischen Wahrheit“615. Sein Einsatz für das Wachstum des monastischen Geistes sei bis heute geblieben, was nach Ansicht Schmolls einen großen Gewinn für den ihm anvertrauten Konvent darstellte und die überaus hohe Wertschätzung erklärte, die Scheyern innerhalb der Bayerischen Benediktinerkongregation genoss. Vor seiner Abtswahl habe sich Landersdorfer als Theologieprofessor, näherhin als elaborierter Alttestamentler einen Namen gemacht. Dabei habe er sich nicht auf das Gebiet des katholischen Depositums beschränkt, sondern die biblische Wahrheit entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt in breiterem Rahmen durchleuchtet, so beispielsweise hinsichtlich der Geschichte, Sprache und Religion der altorientalischen Völker. Als Abt obliege Landersdorfer die Sorge für das erzbischöfliche Knabenseminar in Scheyern.616 Dabei gehe es nicht nur um eine disziplinarische und literarische Ausbildung, sondern auch um die Verantwortung für den kürzlich vorgenommenen Ausbau des Seminars, von dem ein großer Nutzen für den Unterricht zu erhoffen sei. Abschließend lobte Schmoll, dass Landersdorfers pastoraler Eifer nicht an den Mauern seines Klosters haltmache, sondern sich auch auf das Wohl der Pfarrkinder erstrecke. Weil er sich mit dem Gewöhnlichen nicht zufriedengebe, bemühe er sich, durch vorzügliche Prediger und Exerzitienmeister für die ihm anvertraute Herde zu sorgen. b) Bei seinen Ausführungen über Buchberger begann Schmoll erneut mit einer Skizze der geistlichen Eigenschaften: „Was den kirchlichen Sinn betrifft hat er sich selbst immer als standhafter Mann der Glaubenslehre erwiesen, als unerschütterliche Stütze sei es in der Predigt oder im Unterricht oder im Schrifttum, sei es im Zurechtweisen und Beweisen, besonders im öffentlichen Bekenntnis als furchtloser Verteidiger der Wahrheit.“617
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Vgl. Schmoll an Vassallo vom 20. November 1927 (2 Schreiben), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 148rv und Fol. 150rv sowie vom 21. November 1927, ebd., Fol. 149r. Vgl.: „Iam tunc elucebat in ipso sacerdote iuvene verus religionis sensus, strenuus ardor vitae disciplinaris monasticae et amor studiis scientificis dedita ad maiorem veritatis catholicae elucidationem.“ Schmoll an Vassallo vom 20. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 148r. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu Nesner, Erzbistum, S. 191f.; Neubauer O.S.B., Seminar, S. 30–60. „Quod attinet sensum ecclesiasticum ipse sese semper exhibuit, ut virum in doctrina fidei stabilem, firmamentum inconcussum sive in praedicando, sive in docendo vel scribendo, sive in reprehendendo et arguendo, praesertim in publica confessione ut assertorem veritatis intrepidum.“ Schmoll an Vassallo vom 20. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 150r. Hervorhebung im Original. 174
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Zu Buchbergers Treue trete wahre Frömmigkeit hinzu, sodass er ein Paradigma des religiösen Lebens sei. Mit einem reinen Gewissen – woher auch immer der Franziskanerprovinzial das wusste – und einem untadeligen Lebenswandel leuchte er Klerus und Laien voran. Hatte Schmoll schon bei Landersdorfer den pastoralen Eifer hervorgehoben, so steigerte er diese Qualität bei Buchberger noch: An pastoraler Eifrigkeit und Klugheit komme diesem niemand gleich. Sein Katholizismus scheine befreit von den überall lauernden heutigen Gefahren. Auf sozialem und caritativem Gebiet sei er in Wort und Tat aktiv, insofern er die Jugend beschütze und für die Bedürfnisse der Armen, Schwachen und Geprüften sorge. Sein Amt als Generalvikar des Erzbistums habe er als „treuer, kluger und väterlicher Diener“618 ausgefüllt. Als Anklagen in antikatholischen Zeitungen laut geworden seien, Buchberger habe sich bei der Auswahl der Pfarrer nicht von Gerechtigkeits-, sondern persönlichen Motiven leiten lassen, hätten die erfolgten Untersuchungen gezeigt, dass die Angriffe haltlos gewesen seien. Da Buchberger alle seine Kräfte ausschöpfe und seine Gesundheit in der Bistumsverwaltung nicht schone, sei klar, dass sich seine körperliche Verfassung in den letzten Jahren kaum habe erholen können. In der theologischen Wissenschaft schließlich habe sich der Genannte schon in seiner Zeit als Dozent an der Freisinger Hochschule und am Regensburger Lyzeum durch seine Abhandlungen über die Lehre und Geschichte der Scholastik619 und weitere Publikationen – unter denen Schmoll das von Buchberger herausgegebene „Kirchliche Handlexikon“620 heraushob – große Achtung erworben. c) Bei Hierl kam Schmoll sofort auf das Alter zu sprechen und bekannte, nicht beurteilen zu können, ob dieser mit seinen über 70 Jahren noch die nötige physische Kondition für das fragliche Amt mitbringe. Hinsichtlich der moralischen Qualitäten könne er jedoch aus Mitteilungen von Regensburger Diözesanklerikern schöpfen, dass Hierl „in allen pastoralen Aufgaben im höchsten Grad erfahren ist und daher in höchster Achtung steht was die Seelenführung und die kirchliche Verwaltung betrifft“621. Der Klerus habe in ihm mehr den Vater und Ratgeber gesehen als im Diözesanbischof oder im Generalvikar. Damit bestätigte der Franziskaner die breite Zustimmung, die Hierl in Regensburg genoss und deutete implizit den alles bestimmenden Konflikt in Domkapitel und Klerus an, den er ausdrücklich nicht erwähnte. Auf dem Feld der wissenschaftlichen Lehre sei Hierl schließlich nicht in Erscheinung getreten. Dagegen lägen seine Fertigkeiten in besonderer Weise auf praktischem Gebiet. 618
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„… minister fidelis, prudens et paternus.“ Schmoll an Vassallo vom 20. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 150v. Buchberger wurde 1902 von der Universität München mit einer Arbeit über die Wirkungen des Bußsakraments nach der Lehre des Thomas von Aquin promoviert. Vgl. Buchberger, Wirkungen. Vgl. Buchberger (Hg.), Handlexikon. „… in omnibus officiis pastoralibus maxime probatur esse ideoque in summa esse aestimatione in ordine quoad regimen animarum et administrationem ecclesiasticam …“ Schmoll an Vassallo vom 21. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 149r. 175
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Die Darlegungen Schmolls waren für alle drei Kandidaten im Grunde genommen eine laudatio. Eine ausdrückliche Priorisierung nahm er nicht vor, wobei er Hierl sowohl quantitativ als auch qualitativ ein schwächeres Zeugnis ausstellte als den beiden Erstgenannten. Als zweiten Informanten kontaktierte Vassallo den Jesuitenprovinzial der oberdeutschen Ordensprovinz, Theobald Fritz, der ebenfalls in München stationiert war. Ihm legte er – vermutlich wiederum mündlich – jedoch nicht nur drei, sondern insgesamt fünf Namen zur Bewertung vor: zusätzlich zu den genannten drei Abt Placidus Glogger OSB von St. Stephan in Augsburg und den Passauer Domkapitular Karl Dangl. Wie diese Ergänzungen zustande kamen, muss offen bleiben. Vielleicht fielen sie dem Nuntius spontan ein oder sie kristallisierten sich aus dem Gespräch mit Fritz heraus.622 Jedenfalls sandte ihm der Jesuit am 22. November seine Einschätzungen zu, die sich aus Erkundigungen speisten, welche er nach eigener Überzeugung bei Patres eingeholt hatte, „die sich gut auskennen und ein Urteil haben“623. Ausgiebigere Erkundigungen habe er nicht einziehen können, ohne Verdacht zu erregen. Mit einer vorangestellten Zusammenfassung offenbarte Fritz die Grundtendenz seines Exposés, das niemanden besonders in den Vordergrund rückte: „Alle fünf Kandidaten gelten als fromme, tadellose, kirchlich gesinnte Priester.“624 a) Hierl, ehemals Pfarrer und Landtagsabgeordneter, sei redebegabt und tüchtig in Verwaltungsaufgaben. Allerdings habe er nur wenig Gelegenheit gehabt, sich hervorzutun. Fritz benannte die Lagerbildung im Regensburger Domkapitel mit Henle, Scheglmann und dem „geistigen Führer“625 Kiefl auf der einen sowie Hierl mit den übrigen Domherren auf der anderen Seite. Dabei nähmen die Kapitulare Kumpfmüller und Höcht eine vermittelnde Rolle ein. Der Provinzial enthielt sich jeder Wertung und ließ nicht durchblicken, ob die Differenzen irgendeinen Einfluss auf Hierls Episkopabilität ausübten. Er konstatierte lediglich, dass der Weihbischof bereits 71 Jahre alt sei, was er sicher nicht als Pluspunkt verbuchte. b) Buchberger, „ein vielseitiger Gelehrter“, der sich „mit Vorliebe“626 um das „Kirchliche Handlexikon“ kümmere, gelte als erfahren auf administrativem Gebiet. Negativ beurteilte Fritz, dass Buchberger – wegen einer Herzerkrankung vermutete er – in seinen Handlungen
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Es gab auch keine Jesuitenniederlassungen in Augsburg oder Passau, die erklären könnten, warum Vassallo den Jesuiten und nicht den Franziskaner für ein Urteil über Glogger und Dangl heranzog. Vgl. Schatz, Jesuiten, S. 66f. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 151r–152v, hier 151r. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152r. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152r. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152r. 176
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von einer gewissen Ängstlichkeit geprägt sei, „eine Scheu vor Verantwortung, zu viel Rücksichtnahme“627. c) Landersdorfer wusste Fritz eine Vielzahl lobenswerter Attribute zuzuschreiben: Er „gilt als gerader, aufrechter, energischer Mann. Er hat einen scharfen Blick, eine entschiedene Sprache und ist neben seiner Gelehrsamkeit praktisch veranlagt. Ernste Frömmigkeit, Eifer für eine gute Klosterzucht und ungekünstelte Güte sind ihm eigen. Man bringt ihm Achtung und Liebe entgegen. Die Sache Gottes und der Kirche liegt ihm sehr am Herzen.“628
In Fritz sprach der Jesuit, als er bemängelte, dass eine Vorliebe für den eigenen Orden bei Landersdorfer „nicht ausgeschlossen“629 sei. d) Glogger charakterisierte der Jesuit knapp als freundlich, gemütvoll, volksnah, gütig und friedliebend. Darüber hinaus sage man ihm nach, den „guten Geist“630 im klösterlichen Leben zu fördern. Er lehre neuere Sprachen, Ästhetik und Philosophie. e) Dangl skizzierte Fritz schließlich als frommen, fähigen, fleißigen und geschickten Geistlichen, der umgänglich und wohlwollend sei. Stärken besitze er auf dem Feld des Rechts und der Verwaltung. Außerdem steche er als eifriger Dompönitentiar heraus. Weniger begabt sei Dangl als Prediger, da ihm die nötige Stimme und das erforderliche Pathos fehlen würden. Inhaltlich jedoch sei sein Vortrag klar, verständig und überzeugend, wenn auch nüchtern. Überhaupt sei er von ruhigem, gemessenem und freundlichem Naturell. Wie der Jesuit seine abschließende Bemerkung verstanden wissen wollte, erläuterte er nicht: „Er ist ein Mann, der zu schweigen versteht.“631 Wie eingangs angesprochen ist es ähnlich schwer wie bei Schmolls Gutachten, einen Favoriten des Jesuitenprovinzials auszumachen. Sein Exposé legte viel Wert auf Charaktereigenschaften und berücksichtigte kaum biographische Aspekte oder die Umstände der Regensburger Diözese. Umso wichtiger scheint es, den Fokus auf den Ertrag zu richten, den der Nuntius aus den Voten zog.
Buchberger, der „Wachtposten“: Vassallos Kandidatenquintett Am 22. November fertigte er für Gasparri seinen versprochenen Personalbericht an, der die fünf bekannten Geistlichen umfasste, die – wie er erklärte – seiner „untertänigen Ansicht 627 628 629 630 631
Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152r. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152r. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152v. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152v. Fritz an Vassallo vom 22. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 152v. 177
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nach für die Besetzung des vakanten Stuhls von Regensburg in Erwägung gezogen werden können“632. 1) Vassallo begann erneut damit, den Kapitelsvikar zu beleuchten. Er wiederholte seine frühere Einschätzung, dass Hierl in den vergangenen Jahren der Kapitelsstreitigkeiten klug und nachsichtig agiert habe, was ihm mit viel Achtung belohnt worden sei. Als Parlamentarier, in der Bistumsverwaltung und im pastoralen Dienst habe sich Hierl bewährt. Die breite Unterstützung des Diözesanklerus und des bayerischen Ministerpräsidenten, die der Nuntius ihm zusprach, war keine neue Erkenntnis mehr. In Anlehnung an Schmoll betonte er Hierls Stärke in der praktischen Wissenschaft. Trotz seines Alters sei er bei guter Gesundheit und könne die pastoralen Mühen problemlos tragen, besonders, wenn er Unterstützung bekäme. Dabei dachte der Nuntius wohl an einen neuen Weihbischof. Diese Einschätzung teile übrigens auch Monsignore Gustavo Testa, der Auditor der Münchener Nuntiatur, der den Kapitelsvikar kürzlich noch gesehen habe. 2) Buchberger, Doktor der Theologie, werde allenthalben für seine Frömmigkeit, Klugheit, Freundlichkeit und seinen Eifer gelobt. Aber das, was ihn wirklich auszeichne, sei „sein auserlesener Verstand und die tiefe und gesunde Lehre, gepaart mit einer solchen Begeisterung für Arbeit und Studium, dass darüber seine Gesundheit zerrüttet wurde“633. Als Generalvikar des Münchener Erzbistums kümmere er sich persönlich um unzählige Angelegenheiten, kenne sich gut mit der katholischen Vereinsbewegung aus und sei durch die Kenntnis von Presse und Literatur auf dem Laufenden, was das religiöse Tagesdenken anbelange. Der Nuntius bekannte, von Buchberger auf einige Artikel von besonderem Interesse hingewiesen worden zu sein. Wie seine Informanten stellte Vassallo vor allem das „Kirchliche Handlexikon“ als wichtigste Publikation des Weihbischofs und sehr gelehrtes Werk heraus. Während seiner Dozentur in Freising und Regensburg habe Buchberger vor allem Beiträge über die Scholastik und ihre Geschichte geschrieben. Ein Schwächeanfall vor wenigen Jahren habe ihn gezwungen, sich zur Kur in die Schweiz zu begeben. Seitdem verbessere sich seine Situation stetig, zumal er einige Verpflichtungen aufgegeben habe, um sich zu entlasten. Nach der Sommerpause in diesem Jahr scheine der 53-jährige wieder bei bester Gesundheit. Fritzʼs negative Wertung, Buchberger sei verantwortungsscheu und zu rücksichtsvoll, hielt Vassallo für nicht erwähnenswert. 3) Erheblich knapper waren die Ausführungen des Nuntius zu Glogger. Ebenso alt wie Buchberger, aktuell Präses der bayerischen Benediktinerkongregation, Dr. phil. sowie Professor für 632
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Vgl.: „… a mio sottomesso parere possono prendersi in considerazione per la provvisione della sede vacante di Ratisbona.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 44r–46r, hier 44r. „… il suo eletto ingegno e profonda e sana dottrina, unita ad un trasporto tale al lavoro e allo studio, che ne è rimasto scosso nella salute.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 44v. 178
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Religion und moderne Sprachen erfreue er sich großer Achtung „als ein Mann der Führung und der besonderen Begabung, den guten Geist in den Klöstern wiederherzustellen und zu kultivieren“634. Außerdem sei er jovial und achte auf die Stimme der einfachen Gläubigen. Damit gab Vassallo zunächst einmal nur wieder, was der Jesuitenprovinzial über den Abt berichtet hatte. Doch auch aus eigener Erfahrung bestätigte er, seit seiner Ankunft in München zu verschiedenen Anlässen anerkennende Äußerungen über den Benediktiner gehört zu haben. In einem persönlichen Gespräch habe er Glogger als einen „bescheidenen und klugen Prälaten“635 kennengelernt. 4) Rangierte Landersdorfer bei Fritz noch an dritter Stelle, behandelte ihn der Nuntius erst im Anschluss an den Augsburger Abt. Der 47-jährige promovierte Philosoph und Theologe sei als ein Mann von tiefgründiger Glaubenslehre bekannt. Ehemals Exegeseprofessor an der Benediktinerhochschule SantʼAnselmo in Rom habe sich Landersdorfer den Studien der Geschichte, der Sprache und der orientalischen Religionen gewidmet. Wie seine Informanten schilderte der Nuntius den Abt als jemanden, der ein ausgeprägtes Gespür für religiöse Disziplin besaß und sich als Erzieher im erzbischöflichen Knabenseminar bewährt hatte. Anlässlich von Visitationen in anderen Konventen habe er sich geschickt gezeigt und rechten Geist, Energie sowie praktischen Sinn bewiesen. An der Abtei Scheyern könne man seinen guten Einfluss ablesen. Die Kritik des Jesuiten, Landersdorfer agiere tendenziös zugunsten des eigenen Ordens, sparte Vassallo aus. Stattdessen thematisierte er eine Formalität, die sowohl gegen Landersdorfer als auch gegen Glogger sprach: beide waren Benediktiner. Da bereits der Eichstätter Oberhirte Mergel dem Ordo sancti Benedicti angehörte, schien dem Nuntius ein zweiter benediktinischer Diözesanbischof unter den acht bayerischen Bischofssitzen zu viel.636 Allerdings hatte ihn dieses Problem nicht veranlasst, die Genannten aus seinem Favoritenkreis auszuschließen. Er konnte sich also durchaus vorstellen, dass man die „benediktinische Redundanz“ in Rom anders bewertete. 5) Übrig blieb noch „Dottore“637 Dangl, wie Vassallo ohne nähere Spezifikation bemerkte. Viele Pflichten habe er in seiner Diözese fleißig und gekonnt gelöst. Sein Ordinarius, Bischof Sigismund von Ow-Felldorf, habe ihn kürzlich für die Dompropstei vorgeschlagen und dabei große Lobreden über ihn gehalten. Vermutlich war dies der Hintergrund, der erklärt, wie Dangl 634
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„… come uomo di governo e di speciale attitudine nel ristaurare [sic, R.H.] e coltivare il buono spirito nei monasteri.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 45r. „… Prelato modesto e prudente.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 45r. Der gleiche Sachverhalt war schon bei der Besetzung des Bistums Würzburg 1924 erörtert worden. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.2 (Pacellis Plan: eine römische Ernennung von Ehrenfried oder Landersdorfer). Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 45v. 179
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es in die Gruppe der episcopabili des Nuntius geschafft hatte. Charakterlich schrieb ihm Vassallo Frömmigkeit, Güte und kirchlichen Geist zu. Auf rechtlichem Gebiete gebildet, verstehe es Dangl auf klare und überzeugende Weise zu predigen, sei allerdings – wie Fritz es ähnlich ausgedrückt hatte – „kühl und zurückhaltend“638. Die Gutachten der beiden Religiosen fügte Vassallo seinem Bericht nicht bei, sodass er Gasparri tatsächlich nur jene Informationen zur Verfügung stellte, die er aus den Voten rezipierte. Auffällig ist, dass er kritische Bemerkungen über Buchberger und Landersdorfer verschwieg. Sicherlich wollte der Nuntius dadurch seine eigene Präferenzliste nicht diskreditieren. Während er also nur die allgemeine Angabe machte, die beiden Provinziale hinzugezogen zu haben, berichtete er auch, dass sein Vorgänger, der nunmehr in Berlin residierende Nuntius Pacelli, das Kandidatenquintett approbiert, aber schlussendlich für Landersdorfer optiert habe. Allerdings hatte Vassallo nicht persönlich mit Pacelli gesprochen oder ihn brieflich kontaktiert, sondern den bereits genannten Auditor Testa in das Schweizerische Rorschach geschickt, um den dort urlaubenden Berliner Amtskollegen zu treffen.639 Er erinnerte Gasparri daran, dass Pacelli den Scheyerner Abt schon 1924 für den Würzburger Bischofsstuhl in Erwägung gezogen hatte. Vassallo hatte nach eigener Aussage außerdem den Münchener Erzbischof Faulhaber konsultiert, der die Fünferliste ebenfalls für gut befunden habe.640 Dieses prinzipielle Plazet schränkte 638
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„… fredda e compassata.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 45v. Offenbar hatten Testa und Pacelli bei ihrem Treffen auch über weitere Kandidaten als jene fünf diskutiert, unter anderem über den Regensburger Domkapitular Höcht. Einige Tage nach dem Besuch des Auditors der bayerischen Nuntiatur erhielt Pacelli – nach eigenen Angaben von einem „sehr würdigen deutschen Geistlichen“ – Informationen über den Genannten, ohne freilich explizit danach gefragt zu haben. Diese Kenntnisse reichte Pacelli seinem bayerischen Amtskollegen schließlich nach: „In Regensburg sembra che si aspetti come successore del defunto Vescovo il Canonico Dr. Giov. Batt. Höcht, dellʼetà di 57 anni, già alunno del Collegio Germanico in Roma, ottimo sacerdote, assai attaccato alla S. Sede, ben versato negli affari della diocesi, essendo stato per molti anni Segretario dellʼantecessore del Vescovo testè defunto, Mons. Senestrej, assolutamente estraneo ai partiti, che dividono il Capitolo cattedrale.“ Pacelli an Testa vom 25. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 48r. In Anbetracht der Tatsache, dass Hierls Kandidatur breite Unterstützung im Regensburger Klerus genoss, war die Einschätzung, dass man dort die Nomination von Höcht erwartete, mindestens einseitig. Laut Faulhabers Tagebuchaufzeichnungen suchte Vassallo ihn am 8. November auf und erbat sich eine Abschrift der bischöflichen Triennalliste von 1926. Am nächsten Tag brachte der Münchener Erzbischof das Dokument persönlich in die Nuntiatur. Vassallo gab ihm die Liste schließlich am 16. des Monats zurück. Offenbar bezog sich die Aussage des Nuntius in seiner Berichterstattung auf letztgenanntes Datum, zu dem Faulhaber sich notierte: „Wir sprechen über einzelne Namen.“ Vgl. Tagebucheinträge Faulhabers vom 8., 9. und 16. November 1927, EAM, NL Faulhaber 10012, S. 103, 104 und 106. 180
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Vassallo freilich sofort mit dem Hinweis ein, dass Faulhaber sich gegen einen weiteren benediktinischen Bischof in Bayern ausgesprochen habe, weil allerhand Gerede entstehe, wenn ein Viertel der bischöflichen Stühle von Mitgliedern eines Ordens besetzt seien. Damit vertrat der Münchener Kardinal übrigens eine andere Auffassung als Pacelli, für den dieses Kriterium nicht zwingend war.641 Vorbehalte habe der Erzbischof schließlich auch gegen eine Promotion Dangls nach Regensburg geltend gemacht. Letztlich gab Vassallo zu, dass für Faulhaber derzeit niemand anders als sein Weihbischof und Generalvikar infrage komme, der „außer dem bereits Gesagten, dort [sc. in Regensburg, R.H.] Professor gewesen ist und die örtlichen Verhältnisse ausreichend kennt sowie sich hinsichtlich seiner Gesundheit verbessert hat“642. Der Nuntius gab zu bedenken, dass Buchberger mit Hierl bereits ein Weihbischof als Unterstützung zur Verfügung stünde. Schien er ursprünglich den Letztgenannten zu favorisieren, hatte sich seine Ansicht unter dem Eindruck von offenbar vor allem Faulhabers Argumenten geändert: „Was mir erwägenswert erscheint, ist, dass man mit Buchberger in Regensburg im Herzen Deutschlands einen sicheren Wachtposten hätte über die philosophischen und theologischen Strömungen der Gegenwart in Bezug auf die gesunde katholische Lehre.“643 Der Nuntius schloss seine Darstellung mit einer taktischen Überlegung: Sollte der Heilige Stuhl sich für Buchberger entscheiden, könnte man Hierl, den der Ministerpräsident gegenüber Kiefl begünstigt sehen wolle, – gewissermaßen als Entschädigung – eine Auszeichnung verleihen und ihn beispielsweise zum Päpstlichen Thronassistenten erheben.
Faulhabers Intervention in Rom und Buchbergers Ernennung zum Bischof von Regensburg Dem Heiligen Stuhl lag also eine Fülle von Kandidatennamen und Voten verschiedenster Provenienz vor. Alle Unterlagen wurden im Staatssekretariat gebündelt. Wie dort mit ihnen verfahren
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Noch bevor Faulhaber mit Vassallo die Kandidatenfrage besprach, hatte er sie mit Pacelli bei einem Besuch in Rorschach erörtert. Vgl. Tagebucheintrag Faulhabers vom 11. November 1927, EAM, NL Faulhaber 10012, S. 105. Ihre genauen Standpunkte gehen aus den Notizen des Münchener Erzbischofs freilich nicht hervor. Pacelli erwähnte jedenfalls die Präferenz Helds für Weihbischof Hierl. „… oltre al già detto, è stato là professore e conosce abbastanza le condizioni locali, ed in riguardo alla salute, è migliorato.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 46r. „Quel che mi sembra da considerare si è che col Buchberger a Ratisbona si avrebbe nel Cuore della Germania una vedetta sicura sul movimento filosofico e teologico del giorno nei riguardi alla sana dottrina cattolica.“ Vassallo an Gasparri vom 22. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 46r. 181
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werden sollte, geht aus einer knappen Archivnotiz hervor: Zunächst sollten alle Kandidaten, die auf den Triennallisten des Episkopats und der Domkapitel sowie auf der Sedisvakanzliste des Regensburger Kapitels aufgeführt waren, in einer Ponenza gesammelt werden.644 Dann aber ließ man von diesem Vorhaben ab, wie die Notiz fortfuhr: „Weil aber seine Eminenz, Kardinal Faulhaber nach Rom kam, und weil das Datum des nächsten Konsistoriums nahe war, wie auch weil sich die Einfachheit einer Wahl aus der Gesamtheit der Informationen und der Kandidatenlisten klar zeigte, entschied der Heilige Vater in der Audienz am 30. November den ehrwürdigen Buchberger ohne Weiteres zu ernennen …“645
Die Aktennotiz konstatierte, dass Buchberger auf den Triennallisten des Episkopats, des Münchener Metropolitankapitels und der Domkapitel von Passau und Würzburg stand. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die beiden erstgenannten Listen mit sieben beziehungsweise neun Ja-Stimmen und jeweils ohne Gegenvotum sich ganz deutlich für Buchberger ausgesprochen hatten. Der Episkopat vermerkte über Buchberger in der kurzen Kandidatenskizze, die er seiner Triennalliste beifügte, dass dieser von zwei Ordinarien – darunter sicher Faulhaber – zur Abstimmung vorgeschlagen worden sei, dass er „in jeder Hinsicht die erforderten Qualitäten“646 besitze und gute Aussichten bestünden, dass er sich gesundheitlich verbessere. Damit war Buchberger im Episkopat wie im Münchener Kapitel ganz klarer Favorit. Anders sah es auf der Passauer Liste aus. Hier fehlte das genaue Abstimmungsergebnis und nur bei den drei Geistlichen, welche die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, war vom Protokollanten eine Zahl angegeben worden. Buchberger gehörte jedoch nicht zu dieser Trias. Noch gravierender war das Bild, welches die Liste des Würzburger Domkapitels zeichnete: Buchberger hatte nur eine Ja-Stimme erhalten bei vier Ablehnungen und drei Enthaltungen. Konnte sich der Heilige Stuhl demnach auf die letzten beiden Listen berufen, um Buchberger zu ernennen? Dass man sich dieser Problematik im Staatssekretariat bewusst war, zeigt ein genauer Blick auf die Wortwahl der Archivnotiz: Der Papst habe Buchberger ernannt, „der sowohl vom Episkopat als auch vom Münchener Kapitel vorgeschlagen wurde und in den Listen der Kapitel von Passau und
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Vgl. Archivnotiz ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 43r. „Essendo però venuto in Rom lʼE.mo Card. Faulhaber, ed essendo prossima la data delle informazioni e delle liste dei Candidati la facilità di una scelta, il Santo Padre nellʼUdienza del 30 novembre ha deciso di nominare senzʼaltro lʼIllʼmo e Rev.mo Buchberger …“ Archivnotiz ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 43r. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 52r. 182
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Würzburg enthalten ist“647. Es wird also deutlich, dass als rechtliche Grundlage für die Nomination letztlich nur die beiden ersten Listen angesehen wurden. Weil sie sich einhellig für Buchberger ausgesprochen hatten, war die angedeutete Problematik – zumindest in diesem Fall – nicht relevant. Was bedeutete schließlich die angesprochene „Einfachheit“ der Wahl? Offensichtlich bezog sie sich nicht nur auf die einhellige Stimme der bayerischen Bischöfe und der Münchener Domherren zugunsten Buchbergers oder auf dessen breit beschriebene Qualitäten, sondern auch auf die Überzeugungskunst Faulhabers. Dieser wirkte beim Staatssekretär und bei Pius XI. selbst maßgeblich darauf hin, sich für den Münchener Weihbischof zu entscheiden. Die erwähnte Audienz vom 30. November war die Audienz Faulhabers anlässlich seines Ad-limina-Besuchs.648 Auf dessen Geheiß ernannte der Pontifex „ohne Weiteres“ Buchberger zum Bischof von Regensburg. Das bedeutete: Sämtliche Voten, auch die Mühen des Nuntius, waren letztlich unnütz, entscheidend war die persönliche Intervention des Münchener Erzbischofs.649 Da Buchberger die Bischofsweihe bereits empfangen hatte, wurde offenbar auch auf die Anfrage beim Heiligen Offizium verzichtet.
Das Nihil obstat der bayerischen Regierung und Buchbergers Amtsantritt Gemäß Konkordatsvorschrift hatte der Heilige Stuhl vor der Veröffentlichung und Einsetzung des neuen Diözesanbischofs bei der Regierung anzufragen, ob gegen den electus Bedenken politischer Natur vorhanden waren. Genau damit beauftragte Gasparri den Münchener Nuntius noch am Tag der Entscheidung, nachdem er ihn von der päpstlichen Nomination unterrichtet hatte.650 Vassallo sollte der Regierung zu verstehen geben, dass der Name Buchbergers unbedingt geheim bleiben müsse, solange der Heilige Stuhl die Ernennung nicht publik gemacht habe, was beim nächsten päpstlichen Konsistorium am 19. Dezember geschehen werde.651 Der Nuntius führte die Order
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„… proposto sia dallʼEpiscopato, sia dall Capitolo di Monaco e compreso nelle liste dei Capitoli di Passavia e Würzburg.“ Archivnotiz ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 43r. Hervorhebungen R.H. Vgl. die Auflistung von Faulhabers Romreisen bei Volk (Bearb.), Akten Faulhabers I, S. XXXIIIf. Vgl. auch den Tagebucheintrag Faulhabers vom 24. November 1927, EAM, NL Faulhaber 10012, S. 109. Insofern war wohl eher weniger „das durch den Nuntius vorbereitete Votum“ Piusʼ XI. entscheidend, wie Winfried Becker vermutet. Becker, Neue Freiheit, S. 387. Hervorhebung R.H. Treffend ist jedoch seine Einschätzung, dass die Gelehrsamkeit Buchbergers ein wichtiges Kriterium bildete. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 30. November 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 157r. Vgl. AAS 19 (1927), S. 440. 183
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umgehend aus – er begab sich vermutlich persönlich ins bayerische Kultusministerium – und telegraphierte bereits am 1. Dezember zurück, dass auf Regierungsseite keinerlei Einwände gegen Buchberger bestanden.652 Auf dieser Basis erteilte Gasparri am 6. Dezember Erzbischof Rossi, dem Assessor der Konsistorialkongregation, den Auftrag, die Ernennungsbullen anfertigen zu lassen und alles für die Präkonisation im Konsistorium vorzubereiten.653 Am gleichen Tag ließ er die Präkonisation im „Osservatore Romano“ ankündigen, sodass bereits jetzt die Öffentlichkeit über die anstehende Promotion Buchbergers auf den vakanten Bischofsstuhl Bescheid wusste.654 Ebenfalls am 6. Dezember ernannte der Papst – wie Vassallo vorgeschlagen hatte – Hierl zum Päpstlichen Thronassistenten.655 Gasparri sandte sofort die Anweisung an die Münchener Nuntiatur, dem Genannten dies bekannt zu geben.656 Die als Kompensation gedachte Auszeichnung musste natürlich schnell kommuniziert werden, jetzt, da Hierl erfuhr, dass die päpstliche Entscheidung nicht auf ihn gefallen war. Einen Tag nach der Ankündigung im „Osservatore“ war die Nomination des Münchener Weihbischofs auch in der deutschen Presse zu lesen. Vassallo nahm einen Artikel im „Bayerischen Kurier“ zur Kenntnis, der die päpstliche Wahl freudig begrüßte.657 Nach zwei Monaten neigte sich die Sedisvakanz ihrem Ende entgegen. Schon vor der konsistorialen Präkonisation verfasste Buchberger sein Ergebenheitsschreiben an Papst Pius XI., worin er insbesondere seine enge Verbundenheit mit dem Stellvertreter Christi betonte, die er auch in seiner neuen Diözese fördern wolle.658 Darüber, dass der Informativprozess 652
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Vgl. Vassallo an Gasparri vom 1. Dezember 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 158r. Vgl. Gasparri an Rossi vom 6. Dezember 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 55r. Vgl. die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 282 vom 5.–6. Dezember 1927. Gasparri ließ den Kanzler der Apostolischen Breven, Domenico Spada, umgehend das Ernennungsbreve ausstellen. Vgl. Gasparri an Spada vom 6. Dezember 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 57r. Vgl. dazu auch die Dokumente in ASV, ANM 430, Fasz. 2, Fol. 217r–224r. Vgl. Gasparri an Vassallo vom 6. Dezember 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 56r. Vgl. „Weihbischof Dr. Michael Buchberger – Bischof von Regensburg“, in: „Bayerischer Kurier“ Nr. 341 vom 7. Dezember 1927, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 159r. Vgl.: „Cum Apostolica Sede, quae est veritatis cathedra, arctissime semper conjunctus et in communione fidei et filialis caritatis pientissime cohaerens cum Jesu Christi Vicario, omnium Patre et Magistro, primum meum praecipuumque in dioecesis meae curae concreditae regimine erit afficium non solum Apostolicam Sedem cum pietatis studio colere, sed etiam quaequnque ab ea profecta sunt vel docenda vel agenda, eadem sedulo complecti et in usum ducere.“ Buchberger an Pius XI. vom 15. Dezember 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 60r–61v, hier 60v–61r. 184
II.2.3 Regensburg 1927/28
1924 abgeschafft worden war, war Vassallo bislang noch nicht informiert.659 Da er sich wunderte, keine entsprechende Anweisung erhalten zu haben, begab sich Auditor Testa während einer Romreise zu Cicognani in die Konsistorialkongregation, um nach dem kanonischen Prozess für den neuen Bischof von Regensburg zu fragen. Dieser machte auf das Derogationsdekret von 1924 aufmerksam, das überdies an alle Nuntiaturen gesandt worden sei. Noch aus Rom unterrichtete Testa den Münchener Nuntius brieflich über diese für beide neue rechtliche Information.660 Die Ernennungsbullen erreichten Buchberger schließlich Ende Januar 1928.661 Am 11. März zog er in Regensburg ein und legte den Domherren die Ernennungsschreiben vor, womit er vom Bistum Besitz ergriff.662 Die Inthronisation des neuen Oberhirten im Regensburger Dom erfolgte schließlich am Morgen des folgenden Tages.663
Ergebnis Zwischen Sommer 1925 und Ende 1929 amtierte Pacelli als Nuntius für das Deutsche Reich in Berlin. Da Bayern noch eigenständige diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl pflegte, entzog es sich der Zuständigkeit der Reichsnuntiatur. Deshalb brauchte sich Pacelli um die Sedisvakanz des Regensburger Bischofsstuhls, die genau in diese Zeitspanne fiel, formal nicht mehr – als Münchener Nuntius – beziehungsweise noch nicht – als Kardinalstaatssekretär – zu kümmern. Dennoch stellt sich die Frage, ob er, der immerhin knapp acht Jahre die Interessen des Heiligen Stuhls in Bayern vertreten hatte, informell nicht doch an der causa beteiligt war oder maßgeblich die Kandidatenentscheidung mitbestimmte. Wie das Besetzungsverfahren zeigt, mischte sich Pacelli nicht selbständig in die Angelegenheit ein, wurde aber immerhin von Vassallo über Auditor Testa in die Kandidatenfrage einbezogen, als sich die Gelegenheit bot, ihn in Rorschach zu konsultieren. Dass Pacelli für Landersdorfer optierte, ist vor dem Hintergrund des Würzburger Falls nicht überraschend. Hatte er den Abt damals als geeignet für die spezifisch diözesane Situation beschrieben, zeigt sich jetzt, dass der
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Vgl. dazu den Hinweis in Bd. 3, Kap. II.2.2 (Die Ernennung Ehrenfrieds zum Bischof von Würzburg). Vgl. Testa an Vassallo vom 18. Januar 1928, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 161r–162r. Vgl. Rossi an Vassallo vom 20. Januar 1928, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 163r. Die Taxe für die Ernennungsdokumente betrug 4.000 Lire. Vgl. auch Vassallo an Rossi vom 2. Februar 1928 (Entwurf), ebd., Fol. 165r. Vgl. Vassallo an Buchberger vom 11. März 1928 (Entwurf), ASV, ANM 430, Fasz. 2, Fol. 228r sowie Buchbergers Antwort vom gleichen Tag, ebd., Fol. 229r. Vgl. Hierl an Vassallo vom 22. Februar 1928, ASV, ANM 430, Fasz. 2, Fol. 227r. Vgl. auch die vom Nuntius zur Kenntnis genommene Berichterstattung über den Einzug in die Stadt und die Inthronisation im „Regensburger Anzeiger“, ebd., Fol. 231r–232v. 185
II.2.4 Augsburg 1930 II.2.4 Augsburg 1930
konkrete Bistumsbezug nicht entscheidend war. Deutlich wird auch eine Meinungsverschiedenheit mit dem Münchener Erzbischof: Damals wie jetzt erklärte Faulhaber es für inopportun, einen zweiten Benediktiner in den bayerischen Episkopat aufzunehmen, was für Pacelli wiederum damals wie jetzt kein essentielles Argument zu sein schien. Da der Berliner Nuntius die Kandidatur Landersdorfers an der Kurie jedoch nicht vertrat, war es letztlich folgerichtig, dass seine kurze Empfehlung, die Vassallo an Gasparri weiterleitete, nicht ausreichte, um gegen die persönliche Intervention Faulhabers bei Pius XI. anzukommen. Daher war auch Pacellis faktischer Einfluss auf die causa Regensburg völlig unerheblich.
II.2.4 Gegen das Votum der Ortskirche: Augsburg 1930 (Joseph Kumpfmüller)664 Der Tod von Bischof Maximilian von Lingg Als der Bischof von Augsburg, Maximilian von Lingg, am 31. Mai 1930 im hohen Alter von 88 Jahren verstarb, hatte Pacelli noch kein halbes Jahr die Berliner Nuntiatur verlassen, um in Rom die Nachfolge von Kardinalstaatssekretär Gasparri anzutreten. Dennoch war es nicht die erste Besetzung eines bischöflichen Stuhls in Deutschland, die Pacelli nach seinem Amtsantritt am 7. Februar von Rom aus verwaltete. Schon wenige Tage nach diesem Datum musste er damit beginnen, das Verfahren zur Wiederbesetzung der preußischen Diözese Ermland abzuwickeln.665 Dieses verlief praktisch zeitgleich mit dem Augsburger Fall, der mit dem Tod Linggs seinen Ausgang nahm. Der Tod des greisen Oberhirten, der die Geschicke der alten bayerischen Diözese fast drei Jahrzehnte gelenkt hatte, kam nicht überraschend. Schon länger schränkten Krankheit und Altersschwäche seine Regierungsfähigkeit ein. Nachdem er im Priestererholungsheim in Füssen, das er einst selbst gegründet hatte, gestorben war, wurde sein Leichnam feierlich nach Augsburg überführt und am 4. Juni in der Gertrudenkapelle hinter dem Ostchor des Domes beigesetzt.666 664
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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Augsburg 1930 Unterburger, Licht, S. 35f., 45–48; außerdem die Hinweise bei Becker, Neue Freiheit, S. 386; Groll, Domkapitel, S. 476f.; Hetzer, Industriestadt, S. 217f.; Ders., Kulturkampf, S. 15f.; Rummel, Kumpfmüller, S. 420; Ders., Augsburger Bischöfe, S. 66; Speckner, Wächter, S. 38, 41f.; Witetschek, Kräfte, S. 150; Ders., Humanum, S. 80. Dazu kamen noch weitere Besetzungsfälle, mit denen Pacelli bereits 1929 noch als Berliner Nuntius konfrontiert wurde und die bis in das Jahr 1930 oder noch länger andauerten: Berlin, Schneidemühl, Limburg, Aachen und Meißen. Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel in dieser Studie. Vgl. dazu Buxbaum, Lingg, S. 49–52. 186
II.2.4 Augsburg 1930 II.2.4 Augsburg 1930
Das Domkapitel wählte am 1. Juni entsprechend den kanonischen Vorgaben den bisherigen Generalvikar, Franz Xaver Eberle, zum Kapitularvikar. Nachdem das Domkapitel dem Münchener Nuntius Vassallo den Tod des Oberhirten und die Wahl Eberles angezeigt hatte,667 gab jener die Informationen am 3. Juni an den neuen Kardinalstaatssekretär weiter.668 Den Modus zur Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls stellte Artikel 14 § 1 des bayerischen Konkordats von 1924 bereit.669 Danach stand es dem Papst zu, den neuen Oberhirten aus der Gruppe von Kandidaten zu ernennen, die sich zu einem Teil aus den Triennallisten des bayerischen Episkopats und sämtlicher bayerischen Domkapitel zusammensetzte. Bis zum Jahr 1930 waren diese Listen zweimal eingeholt worden, 1926 und 1929.670 Den anderen Teil des Fundus wählbarer Geistlicher komplettierte die Sedisvakanzliste, die das Domkapitel der vakanten Diözese aufstellen musste und die unmittelbar auf die örtlichen Verhältnisse gemünzte Kandidatenvorschläge liefern sollte. Diese Liste anzufertigen, war den Augsburger Domherren also als nächster Verfahrensschritt aufgegeben.
Zwei Voten für Eberle aus Augsburg Doch nicht nur im Augsburger Domkapitel machte man sich Gedanken über einen geeigneten Nachfolger auf dem Bischofsstuhl des heiligen Ulrich. Mitte Juni gingen zwei Bittschriften im Staatssekretariat ein, die außerhalb des ordentlichen Besetzungsverfahrens versuchten, die römische Entscheidung zu beeinflussen. Beide warben darum, Eberle zum neuen Diözesanbischof zu ernennen und versuchten gleichzeitig jeweils einen anderen, unerwünschten Geistlichen zu diskreditieren. Der erste Fürsprecher war der Augsburger Domprediger, Adam Birner, der sich mit seiner Supplik an einen in Rom weilenden, namentlich nicht genannten Generalprokurator wandte.671
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Vgl. Funk an Vassallo vom 30. Mai 1930, ASV, ANM 430, Fasz. 4, Fol. 128r, 129r, 133r sowie Eberle an Vassallo vom 2. Juni 1930, ebd., Fol. 132r. Die Domherren erbaten vom Heiligen Stuhl außerdem die Quinquennalfakultäten und die Erlaubnis, dass Weihbischof Karl Reth die für Juli angesetzten Priesterweihen spenden durfte. Vgl. Eberle an Vassallo vom 2. Juni 1930, ebd., Fol. 132v und die Antwort Vassallos an Eberle vom 4. Juni 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 131r. Beiden Anliegen wurde entsprochen, nachdem Pacelli die zuständigen Behörden – die Konsistorial- sowie die Sakramentenkongregation – kontaktiert hatte. Vgl. die beiden Entwürfe Pizzardos vom 8. Juni 1930, ., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 30rv sowie 31r, das Antwortschreiben der Sakramentenkongregation vom 13. Juni 1930, ebd., Fol. 32r und Pacelli an Vassallo vom 8. Juni 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 29r. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 3. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 27rv. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Der endgültige Modus der bayerischen Bischofseinsetzungen). Vgl. die Listen in Bd. 4, Anhang 1.2. Vgl. Birner an einen anonymen Generalprokurator vom 13. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 57rv. 187
II.2.4 Augsburg 1930
Dieser reichte das Schreiben an Alfredo Ottaviani weiter, der seit gut einem Jahr Substitut im Staatssekretariat war. So gelangte es in das Zentrum der römischen Entscheidungsfindung, auf den Schreibtisch des Kardinalstaatssekretärs. Birners Einsatz für Eberle trug den Zug persönlicher Dankbarkeit: Nachdem er ihm nämlich drei Jahre lang als Sekretär zur Seite gestanden habe, als Eberle Kanzleidirektor gewesen war, sei er anschließend auf dessen Geheiß hin zum Domprediger ernannt worden. Darüber hinaus sei er „im Gewissen felsenfest überzeugt, dass kein anderer Kandidat auch nur annähernd die Qualitäten eines Dr. Eberle für den bischöflichen Stuhl besitzt“672. Besonders ausgezeichnet habe sich Eberle als Generalvikar der Diözese, in der man sich nicht mehr zurückerinnern könne, wann zuletzt jemand dieses Amt „mit solchem Geschick, solcher Prinzipientreue und Klugheit“673 ausgefüllt hätte. Seit seiner Amtsübernahme 1927 habe er die Diözesangeschäfte ganz alleine getragen – Bischof Lingg sei bereits zu alt gewesen – und stehe auch bei den zivilen Stellen im größten Ansehen. Daher sei es der Wunsch des gesamten Diözesanklerus, Eberle als neuen Hirten zu sehen. Mit den letzten beiden Diözesanbischöfen – der Vorgänger Linggs war Petrus von Hötzl gewesen – ging Birner hart ins Gericht, da er ihre Wahl nicht für sonderlich glücklich hielt. Der neue Bischof dürfe nicht von außen kommen, „besonders erscheinen die Herren aus dem Domkapitel München, von denen man sagt, sie würden gern nach der Inful greifen, für ganz ungeeignet“674. Ganz besonders wehrte sich Birner gegen eine Kandidatur des Münchener Domkapitulars Nikolaus Brem, der gebürtig aus Augsburg stammte. Dieser sei als hochmütiger und verletzender Mann untragbar, auch wenn er die Unterstützung des bayerischen Ministerpräsidenten Held besitze: „Wir haben noch genug von Maximilian Lingg her, den auch das damalige Staatsoberhaupt auf den Bischofsstuhl brachte. Was hat denn ein Regierender für eine Ahnung von den Bedürfnissen einer Diözese?“675 Gemäß dem damals – Lingg wurde 1902 Bischof von Augsburg – noch geltenden Konkordat von 1817 war Lingg vom Prinzregenten Luitpold dem Papst als neuer Oberhirte präsentiert worden. Birners Beschwerde richtete sich wohl besonders dagegen, dass Lingg, als liberal und staatsloyal eingestuft, durch seinen früheren Studienkommilitonen, den Kultusminister Robert von Landmann, protegiert und dem Prinzregenten in Vorschlag gebracht worden war.676 Eine aus solcherart „weltlichen“ Motiven resultieren-
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Birner an einen anonymen Generalprokurator vom 13. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 57r. Birner an einen anonymen Generalprokurator vom 13. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 57r. Birner an einen anonymen Generalprokurator vom 13. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 57r-v. Birner an einen anonymen Generalprokurator vom 13. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 57v. Vgl. zur Bischofseinsetzung Linggs 1902 Buxbaum, Lingg, S. 35–40; Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 710–720. 188
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de Kandidatenwahl durfte sich nach Birner also – gerade auch unter den neuen konkordatären Vorzeichen – nicht wiederholen. Es lässt sich auch an den beiden Triennallisten des Augsburger Domkapitels ablesen, dass Brem dort tatsächlich zunehmend weniger Sympathien genoss und es sich hierbei nicht bloß um Birners Privatmeinung handelte: 1926 stand er mit immerhin fünf Ja-Stimmen (bei zwei negativen Voten und ebenfalls zwei Enthaltungen) in der Reihe der episkopablen Kandidaten. Drei Jahre später schaffte er es jedoch nicht einmal mehr auf die Liste. Der zweite Bittsteller, der sich in dieser Frage zu Wort meldete, war der Augsburger Industrielle und Vertraute Piusʼ XI., Freiherr Theodor von Cramer-Klett. Am 14. Juni schrieb er – anders als Birner – auf direktem Wege an Pacelli, der ihn aus seiner Zeit als Nuntius in München noch gut kannte.677 Cramer-Klett betonte, dass diese Kontaktaufnahme nicht aus eigenem Antrieb erfolgte. Vielmehr habe er von dem bedeutenden bayerischen Papierfabrikanten, Georg Haindl, der einer „sehr guten, sehr geschätzten und sehr katholischen Familie“678 entstamme, einen Brief mit der Bitte erhalten, ihn an die zuständigen römischen Stellen weiterzuleiten. Der Brief Haindls hat sich in den vatikanischen Unterlagen nicht erhalten, aber aus den Ausführungen des Freiherrn geht hervor, dass er durch das in Augsburg kursierende Gerücht veranlasst war, der Münchener Weihbischof, Johann Baptist Schauer, besitze die größten Chancen, zum Nachfolger Linggs ernannt zu werden. Dies wollte der Papierhersteller verhindern und erklärte, dass die Sympathien von Klerus und Volk in Augsburg vielmehr Eberle gehörten, was Cramer-Klett aus eigener Erfahrung bestätigte. Dennoch wollte sich letzterer dem Votum Haindls für den Augsburger Kapitelsvikar nicht vorbehaltlos anschließen: Er habe ihn nur vor 25 Jahren einmal persönlich gesehen, während er für Schauer persönlich große Verehrung empfinde. Überhaupt beteuerte Cramer-Klett, sich in diese kirchliche Angelegenheit nicht einmischen zu wollen, da sie Laien nichts angehe. Dies habe er auch Haindl auseinandergesetzt und klargestellt, in der Sache nichts tun zu können. Wenn er im Widerspruch dazu das Schreiben trotzdem weiterreichte, dann nur – so Cramer-Klett –, weil er es für seine Pflicht halte, den Heiligen Stuhl davon in Kenntnis zu setzen. Trotz dieser sehr zurückhaltenden Bemerkungen des Augsburger Unternehmers zeichnete sich also eine breite Unterstützung für den bisherigen Generalvikar ab. Da lohnt sich ein Blick auf
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Vgl. Cramer-Klett an Pacelli vom 14. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 34r–37r (nur r). Drei Wochen später bedankte sich Pacelli kommentarlos für das erhaltene Schreiben. Vgl. Pacelli an Cramer-Klett vom 8. Juli 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 38r. „…una famiglia ottima e stimatissima e molto bene cattolica …“ Cramer-Klett an Pacelli vom 14. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 34r. Hervorhebung im Original. 189
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die bayerischen Triennallisten: Wie stand es um die Zustimmung für Eberle unter den Bischöfen und Domherren? Zunächst einmal fällt auf, dass Eberle auf der ersten bischöflichen Liste von 1926 nicht nur nicht auftauchte, sondern sogar vor der eigentlichen geheimen Abstimmung „mit den Stimmen aller anwesenden Bischöfe von der Liste [sc. der Kandidatenvorschläge, R.H.] gestrichen“679 wurde. Dies war demnach nicht nur kein positives Votum, sondern vielmehr ein ausdrücklich negatives. Folgerichtig spielte er in der nachfolgenden Zeit keine Rolle und stand nicht auf der nächsten Liste der Bischöfe von 1929. Anders verhielt es sich mit den Triennallisten des Augsburger Domkapitels: Rangierte Eberle auf der 26er-Liste noch an sechster Stelle (von neun Kandidaten) mit vier Ja- und keiner Nein-Stimme bei vier Enthaltungen, so stieg er drei Jahre später zum Favoriten des Kapitels auf mit einem Abstimmungsergebnis von acht zu null positiven Voten bei einer Enthaltung. Dies scheint also die Analyse Birners zu belegen, dass Eberle seit seiner Übernahme des Generalvikariats 1927 viele Sympathien gewinnen konnte. Die übrigen bayerischen Domkapitel hatten Eberle nicht auf der Rechnung, auf keiner ihrer Listen tauchte er auf.
Die Sedisvakanzliste der Augsburger Domherren Das gute Ergebnis Eberles von 1929 lässt vermuten, dass die Abstimmung anlässlich der Sedisvakanz ein Jahr später ein ähnliches Bild bot. Am Freitagnachmittag, dem 6. Juni 1930, traf sich das Augsburger Domkapitel zur Aufstellung der Liste.680 Die Wahlversammlung folgte genau den Vorgaben des von Pacelli verfassten Dekrets „Decretum Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ von 1926.681 Den Vorsitz führte der Weihbischof und Dompropst Karl Reth, Eberle und Joseph Maria Friesenegger wurden zu Wahlprüfern, Leonard Meitinger zum Wahlsekretär bestellt. In einem ersten geheimen Wahlgang machten die Kapitulare Kandidatenvorschläge, über die in einem zweiten Durchgang abgestimmt wurde: 679
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Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 52v. Zu bedenken ist allerdings, dass gerade Bischof Lingg aus Alters- beziehungsweise Krankheitsgründen nicht an der Abstimmung teilnahm. Er hatte zuvor gemäß der Nr. 2 des Ausführungsdekrets seinen Generalvikar überhaupt erst als Bischofskandidaten ins Spiel gebracht, der dann in seiner Abwesenheit auf der Freisinger Bischofskonferenz keinen Fürsprecher hatte. Vgl. dazu das Folgende. Vgl. Wahlprotokoll des Augsburger Domkapitels vom 6. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 41r–48r. Anwesend waren neben Eberle Dompropst Karl Reth, Joseph Friesenegger, Joseph Funk, Wendelin Weber, Ludwig Zimmermann, Otto Jochum, Leonard Meitinger und Maximilian Weishaupt. Krankheitsbedingt fehlte Johannes Deller, sodass insgesamt nur neun Stimmen für die Kandidaten abgegeben wurden. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1., 3). 190
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probo – non probo – abstineo 1. Robert Domm (Domvikar und bisheriger Bischofssekretär in Augsburg) 2. Franz Xaver Eberle
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(Kapitelsvikar) 3. Placidus Glogger OSB (Abt in Augsburg) 4. Joseph Hörmann (Regens des Priesterseminars in Dillingen)
Der Wahlausgang deckte sich im Wesentlichen mit der Triennalliste des Vorjahres, auf der alle vier Kandidaten bereits zu finden waren: Während sich Domm im Vergleich zu damals marginal verbesserte, Glogger sich leicht verschlechterte und Hörmann sogar drei zustimmende Voten einbüßte, blieb Eberles Ergebnis konstant. Auf seinem Konto standen erneut acht Ja-Stimmen und diesmal sogar ohne Enthaltung. Das Augsburger Domkapitel sprach sich damit einmütig für seinen Kapitelsvikar als neuen Bischof aus.
Vassallo über Eberle und die Diözese Augsburg Am 13. Juni übersandte Reth sowohl ein versiegeltes Exemplar des Wahlprotokolls als auch die originalen Unterlagen der Wahlversammlung an die Münchener Nuntiatur.683 Während Vassallo die letztgenannten später verbrannte,684 übermittelte er am 17. des Monats die versiegelte Sedis682
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Die divergente Stimmenzahl – bei den übrigen drei Kandidaten wurden neun, bei Eberle insgesamt nur acht Stimmen abgegeben – liegt daran, dass Eberle als Mitglied des Domkapitels bei der Abstimmung über seine Person nicht teilnahm. Die übrigen Kandidaten gehörten jeweils nicht dem Kapitel an, sodass bei ihnen alle neun Kanoniker ihr Votum in die Urne legten. Vgl. Reth an Vassallo vom 13. Juni 1930, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 190r und 191r. Gemäß Nr. 15 des „Decretum Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ mussten die Dokumente zunächst im Nuntiaturarchiv verwahrt, nach der päpstlichen Nomination des neuen Bischofs dann aber vernichtet werden. Diese Vorschrift erfüllte Vassallo am 25. Juli, wie er auf dem entsprechenden Schreiben des Domdekans vom 13. Juni vermerkte. Für Pacelli, der diese Anordnung im Ausführungsdekret verankerte, war vor allem die Diskretion maßgeblich. Dass die Wahlunterlagen ebenfalls nicht vor Ort bei der Bistumsleitung verbleiben durften, hatte einen besonderen Grund: Die AES diskutierte am 25. Februar 1926 darüber und argumentierte, dass es nicht an191
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vakanzliste an Pacelli.685 Nun hatte der Heilige Stuhl auf Basis der bayerischen Kandidatenlisten eine Entscheidung zu treffen. „Obgleich Eure Eminenz“ – so Vassallo – „die Diözese Augsburg aus persönlicher Erfahrung gründlich kennen“686, übersandte er dem Kardinalstaatssekretär als zusätzliche Entscheidungshilfe einen Auszug aus einer Relation über die bayerischen Diözesen, die er auf Bitten des Sekretärs der Konsistorialkongregation, Carlo Perosi, Ende Mai 1929 angefertigt hatte.687 Dieser die Diözese Augsburg betreffende Teil der Relation fand lobende Worte für den damals noch lebenden Bischof Lingg,688 aber auch für die gute Unterstützung, die dieser laut Vassallo von Generalvikar Eberle – „jung, gelehrt und tüchtig“689 – bekam. Am Zustand des Diözesanklerus zeigte Vassallo aber Handlungsdirektiven für die Zukunft auf: „Man beklagt, dass ein Teil des Klerus zu den Zeiten der liberalen Herrschaft in Bayern in diesem Sinne in seiner Ausbildung beeinflusst worden sei. Gegenwärtig jedoch ist die Ausbildungsbedingung des jungen Klerus in Dillingen verbessert und ein Jesuit fungiert als Spiritual; aber es bleiben vor allem die Alten im heiligen Dienst und die Diözese belegt den ersten Platz in der Gruppe der gefallenen Priester.“690
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gehe, wenn der neue Diözesanbischof sich die Wahlunterlagen anschauen und prüfen könne, wer zuvor für und wer gegen ihn gestimmt hatte. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens). Diese Vorschrift ist letztlich dafür verantwortlich, dass die Wahldokumente weder in den Diözesanarchiven noch im Nuntiaturarchiv überdauerten. Eine Ausnahme war der Regensburger Fall 1927, wo Vassallo die Vernichtung offenbar vergaß. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 607. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 17. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 39rv. „Benché lʼEminenza Vostra per esperienza personale conosca a fondo la diocesi di Augusta …“ Vassallo an Pacelli vom 17. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 39v. Es handelte sich also gewissermaßen um das Pendent zur Schlussrelation Pacellis über die Lage der Kirche im übrigen Deutschland von Mitte November 1929. Vgl. Auszug über die Diözese Augsburg aus Vassallos Relation vom 31. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 49r–50r. Vgl.: „Il Vescovo Dr. Massimiliano von Lingg è persona di molta considerazione, buon giurista e benché di avanzata età è tuttavia di chiara intelligenza e vera prontezza di memoria. Pur impedito delle estremità, si sforza di compiere personalmente la visita pastorale e interviene negli affari diocesani e provvista delle parrocchie. Il clero lo rispetta.“ Auszug über die Diözese Augsburg aus Vassallos Relation vom 31. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 49r. „… giovane, istruito e attivo …“ Auszug über die Diözese Augsburg aus Vassallos Relation vom 31. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 49r. „Si lamenta che una parte del clero ai tempi del dominio liberale in Baviera sia stato influenzato in tal senso nella sua educazione. Al presente però la condizione dellʼeducazione del giovane clero in Dillingen è migliorata ed un religioso Gesuita funge da padre spirituale; ma restano tuttavia gli anziani nel sacro ministero e la diocesi tiene il primo posto nel novero dei sacerdoti caduti.“ Auszug über die Diözese Augsburg aus Vassallos Relation vom 31. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 49r. 192
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Damit war klar, worauf der neue Oberhirte Gewicht legen musste, wenngleich der Nuntius insbesondere für die Priester in den Städten auch anerkennende Worte verlor. Kritisch merkte Vassallo an, dass liberalistische und sozialistische Einflüsse überall in der Diözese sichtbar seien und nicht stark genug bekämpft würden.691 Deshalb empfahl Vassallo damals, den Bischof zu ermahnen, beim Klerus die Reinheit der Lehre und die Redlichkeit des Lebenswandels stärker zu beaufsichtigen, wobei ihm Generalvikar Eberle eine gute Hilfe sein werde.
Die Sondierungen des Kardinalstaatssekretärs: Zweifel an Eberles moralischer Integrität Die Analyse des Münchener Nuntius stellte den Kapitelsvikar erneut in ein gutes Licht. Und es scheint, dass die Stimmen für Eberle und seine Favoritenrolle im Domkapitel auf den Kardinalstaatssekretär nicht ohne Wirkung blieben. Da ihm die bisherigen Informationen jedoch nicht genügten, stellte er selbst Nachforschungen über den Genannten an. Unter Umgehung der Nuntiatur wandte er sich an den Provinzial der oberdeutschen Ordensprovinz der Jesuiten, Franz Xaver Hayler. Zwar ist Pacellis Entwurf der Anfrage in den vatikanischen Quellen nicht überliefert, doch geht aus dem Antwortschreiben Haylers hervor, dass der Kardinal zwei Fragen gestellt hatte: Nämlich „1. ob der H[ochwürdigste] H[err] Generalvikar Dr. Eberle ein klares theologisches Wissen hat und in grundsätzlichen Dingen nicht zu nachgiebig ist, 2. ob er für die Heranbildung der Priester viel Sinn und gute Grundsätze hat“692. Beides – so schrieb der Provinzial über seine Erkundigungen – „meinte man mit gutem Gewissen sicher bejahen zu können“693. Darüber hinaus hatte ihn Pacelli gebeten, etwas über die Erwartungen in Erfahrung zu bringen, die man im Klerus angesichts der anstehenden Bischofseinsetzung hegte. Diesbezüglich erklärte Hayler, dass eine Nomination Eberles nicht unerwartet käme, sondern vielmehr „mit dem größten Vertrauen begrüßt“694 würde. Gerne sähe man auch den Seminarregens Hörmann, wobei dieser nach allgemeiner Auffassung zu gütig sei, was der Jesuit wohl mit Blick auf Pacellis „Nachgiebigkeitskriterium“ anmerkte.695 Mit Sorge betrachte man hingegen eine mögliche Ernennung
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Knapp äußerte sich der Nuntius auch über die Grundschullehrer, die katholische Presse und caritativen Einrichtungen. Vgl. Auszug über die Diözese Augsburg aus Vassallos Relation vom 31. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 49v. Hayler an Pacelli vom 4. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 51r. Hayler an Pacelli vom 4. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 51r. Hayler an Pacelli vom 4. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 51r. Tatsächlich ging wenig später auch ein Referenzschreiben für Hörmann in der Kurie ein. Es stammte vom Dillinger Brauereibesitzer Hans Wengenmayr und war direkt an Pius XI. adressiert. Der Regens sei 193
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des Münchener Weihbischofs Schauer – eine Einschätzung, die sich mit den Bemerkungen Cramer-Kletts deckte.696 Gab das knappe, positive Zeugnis des Jesuitenprovinzials für Pacelli den Ausschlag, um dem Papst die Ernennung des Kapitelsvikars zu empfehlen? Die Antwort lautet nein, denn noch waren seine Zweifel nicht beseitigt. Ihm war nämlich das bereits angeführte gewichtige Detail keineswegs entgangen, dass Eberle auf den beiden Triennallisten des bayerischen Episkopats nicht zum Zuge kam. Diesem Sachverhalt wollte er auf den Grund gehen und beauftragte den Nuntius damit, sich beim Münchener Erzbischof Faulhaber zu erkundigen, wieso Eberle 1926 von der Liste getilgt und 1929 erst gar nicht vorgeschlagen worden war.697 Umgehend suchte Vassallo den Erzbischof auf und brachte in Erfahrung, dass Eberle 1926 von Lingg in die Diskussion eingebracht worden sei, der allerdings bei der Abstimmung über die Kandidaten auf der Bischofskonferenz krankheitsbedingt fehlte.698 Keiner der übrigen Bischöfe habe etwas gegen Eberle einzuwenden gehabt und alle wären bereit gewesen, ihn auf der Vorschlagsliste zu belassen. Einzig der Würzburger Oberhirte Ehrenfried habe interveniert und zwar aufgrund von „die Moral betreffenden Tatsachen, die auf dem Kandidaten lasteten“699. Auch dem Augsburger Klerus sei dieser Sachverhalt bekannt gewesen. Auf Nachfrage Faulhabers habe Ehrenfried anschließend erklärt, dass es sich nicht um eine zweifelhafte Anschuldigung handle, sondern um eine absolut gesicherte. Daraufhin hätten die Bischöfe den Namen Eberles einmütig von der Liste entfernt. Vassallo referierte weiter, dass Faulhaber damals nicht vollständig überzeugt worden sei und sich deshalb selbst nach Augsburg zu Lingg begeben habe. Nachdem dieser den Grund dafür erfahren habe, warum sein Kandidat von der Bischofskonferenz nicht angenommen worden sei,
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„ein wirklich geistig gebildeter Herr, streng mit sich selbst, gerecht gegen jedermann. Er spricht nicht nur von Opferwilligkeit, sondern übt selbst praktisches Christentum.“ Für den Absender war er der ideale Bischofskandidat. Vgl. Wengenmayr an Pius XI. vom 16. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1932, Pos. 601 P.O., Fasz. 111, Fol. 7rv, hier 7r. Gegen die Ernennung Schauers wandte sich wenige Tage später auch noch ein namentlich aus den Quellen nicht hervorgehender Denunziant aus Kempten mit einem Schreiben an Pacelli. Darin warf der Schreiber dem Münchener Weihbischof einen „unchristlich-gehässigen Charakter[s]“ vor und verwies auf einen „für Dr. Schauer und die h[eilige] Kirche gleich wenig schmeichelhaften Artikel“, der im Fall, dass der Genannte Bischof von Augsburg werde, von nationalsozialistischer Seite publiziert würde. Vgl. Brief eines anonymen Denunzianten an Pacelli vom 7. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 52r. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 14. Juli 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 53r. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 21. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 54r–55r; abgedruckt bei Unterburger, Licht, S. 45f. „… per fatti riguardanti la moralità che pesavano sul candidato …“ Vassallo an Pacelli vom 21. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 54r. 194
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„verharrte er beeindruckt und sprachlos. Weil er aber nicht protestierte, noch Eberle verteidigte, kann man annehmen, dass er die Beschuldigungen, die dieser [sc. Faulhaber, R.H.] ihm vorlegte, zwar bezweifelte, aber dass er die Sache für absolut geheim hielt.“700 Daher sei schließlich im Jahr 1929, als die Bischöfe in Freising die zweite Triennalliste aufstellten, auf die Proposition Eberles verzichtet worden. Es stellt sich die Frage, warum die Augsburger Domherren – von den übrigen Fürsprechern einmal abgesehen – den Generalvikar auf zwei Vorschlagslisten vorbehaltlos unterstützten, wenn sie – wie Ehrenfried behauptete – von diesem nicht näher erläuterten moralischen Defizit gewusst hatten. Auch der Nuntius schien nicht vollends überzeugt, dass die Anschuldigung stichhaltig war. Stattdessen berichtete er Pacelli von einem Gespräch, das er nach eigener Angabe mit einem Freund Eberles, einem Religiosen aus Augsburg, geführt hatte. Dieser habe versichert, den Kapitularvikar stets als in jeder Hinsicht sorgfältigen und korrekten Menschen kennengelernt zu haben. Allerdings könne der Ordensmann über die Zeit, in der Eberle Moraltheologie in Passau lehrte (1912 bis 1914) und Felddienst im Ersten Weltkrieg verrichtete (1914 bis 1916), keine Auskunft geben. Insofern vermochte der anonyme Freund nicht zu garantieren, dass Eberle immer den priesterlichen Moralvorgaben entsprechend gelebt hatte. Weil Pacelli ihn um seine eigene Meinung zur Eignung Eberles gebeten hatte, schloss Vassallo seinen Bericht mit der persönlichen Überzeugung, dass der Genannte durchaus für den bischöflichen Stuhl von Augsburg tauge. Von dem moralischen dubium zeigte er sich unbeeindruckt und bestätigte damit seine früher geäußerte Einschätzung. Nach allem, was er selbst gehört und gesehen habe, halte er ihn „für einen intelligenten, aktiven, in seiner Arbeit kundigen, in der Lehre makellosen und in der Rhetorik geschulten Prälaten, wie er bewiesen hat, als er in der Münchener Theatinerkirche Prediger war. Er führt einen korrekten Lebenswandel und als Generalvikar von Augsburg hat er sich gut bewährt. Auch wird er vom Klerus und Volk geachtet und respektiert. Daher halte ich ihn für fähig und angemessen für die Diözese Augsburg, die er bereits gut kennt …“701
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„… rimase impressionato e muto. Non avendo però protestato, né difeso lʼEberle, si può suppone chʼegli almeno dubitasse degli addebiti che si facevano a costui, ma che credeva la cosa assolutamente segreta.“ Vassallo an Pacelli vom 21. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 54v. „… per un Prelato intelligente, attivo, pratico nel suo lavoro, integro nella dottrina e dotato di facoltà oratorie, come dimostrò quandʼera predicatore nella chiesa dei Teatini in Monaco. È di vita corretta e da Vicario generale di Augsburg ha fatto buona prova. È anche stimato e rispettato dal clero e dal popolo. Io quindi lo riterrei capace e conveniente per la diocesi di Augsburg chʼegli già ben conosce …“ Vassallo an Pacelli vom 21. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 54v–55r. 195
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Obwohl er Eberle einen angemessenen Lebenswandel attestierte, war Vassallo jedoch auch klar, dass die moralischen Anschuldigungen erst einmal auszuräumen waren, bevor ernsthaft eine Berufung auf den Bischofsstuhl anvisiert werden konnte.
Das Ende der Kandidatur Eberles und die Alternativen Höcht und Kumpfmüller Pacelli dachte freilich gar nicht daran, die Anschuldigungen zu zerstreuen oder etwa – was doch an sich folgerichtig gewesen wäre – Ehrenfried zu diesem Thema zu befragen. Stattdessen genügte ihm schon die fama, der pure Verdacht, um die Kandidatur Eberles zunichte zu machen. Er habe den geäußerten Anschuldigungen „entnommen“ – schrieb er am 29. Juli an Vassallo –, „dass der Ehrwürdige Monsignore Eberle für die Besetzung von Augsburg nicht in Erwägung gezogen werden kann, auch wenn er mit den besten Qualitäten ausgerüstet ist und einmütig vom dortigen Kapitel vorgeschlagen wurde“702. Damit war die Akte Eberle geschlossen703 und alternative Kandidaten mussten gefunden werden. Unter den übrigen, die im Zuge des konkordatären Listenverfahrens genannt worden waren, ragten für Pacelli die beiden Regensburger Domkapitulare Höcht und Kumpfmüller heraus. Er stellte fest, dass ersterer 1929 von der Freisinger Bischofskonferenz präsentiert worden, letzterer sogar auf beiden Bischofslisten von 1926 und 1929 zu finden war und beide überdies auf der Liste des Regensburger Domkapitels von 1926 standen. Obwohl Pacelli an dieser Stelle nicht genauer auf die Listen einging, muss das Bild, das diese von den genannten Geistlichen zeichneten, näher betrachtet werden. Dabei zeigt sich, dass Kumpfmüller insgesamt etwas mehr Zustimmung als Höcht genoss: Nicht nur weil Letztgenannter auf der bischöflichen Liste von 1926 gar nicht zu finden war, während Erstgenannter dort drei Ja-Stimmen ohne Nein-Stimme bei aber immerhin vier Enthaltungen auf sich vereinte. Sondern auch im direkten Vergleich 1929 schnitt Kumpfmüller mit fünf Ja-Stimmen, null Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen leicht besser ab als Höcht, der nur auf vier Ja-Stimmen, null Nein-Stimmen und drei Enthaltungen kam. Zu Kumpfmüller notierten die bayerischen Bischöfe 1926 knapp: „Ger-
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Vgl.: „… dalle gravi ragioni ho rilevato che il Revmo Mons. Eberle non può essere preso in considerazione per la provvista di Augusta, pure essendo fornito di belle qualità e proposito dal voto unanime di quel Capitolo.“ Pacelli an Vassallo vom 29. Juli 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 56rv, hier 56r; abgedruckt bei Unterburger, Licht, S. 46. Daher muss dem Hinweis von Thomas Groll, dass Eberle „[d]em Vernehmen nach … von der Römischen Kurie bereits sein Ernennungsdekret in Händen [hatte]“, widersprochen werden. Groll, Domkapitel, S. 477 Anm. 32. 196
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maniker, war und ist guter Prediger und Seelsorger“704, während 1929 die wertenden Angaben ausführlicher lauteten: „Kardinal von Faulhaber machte die Bemerkung, dass er sich in Rom im Collegium Germanicum seinen Studien widmete. Der Bischof von Regensburg [sc. Buchberger, R.H.] hält es für sicher, dass dieser einen idealen Bischof abgeben kann, weil er ein leutseliger und bewährter Mann ist.“705 Für Höcht trat neben dem Würzburger Ordinarius Ehrenfried wiederum Buchberger als Protegé auf, wie die 29er-Liste widerspiegelt: „Der Bischof von Regensburg lobt ihn nämlich als hervorragenden Mann; aber altersmäßig ist er weiter fortgeschritten. Römischer Doktor, im Collegium Germanicum in Rom ausgebildet. – Der Bischof von Würzburg berichtet, dass dieser durch Anständigkeit, Schlichtheit des Herzens, Treue und Zuverlässigkeit gegenüber der Kirche und dem Bischof hervorragt.“706
Das negativ gewertete Alter Höchts konnte gegenüber Kumpfmüller freilich nicht ins Gewicht fallen, denn mit Geburtsjahr 1870 war er sogar noch ein Jahr jünger als Letztgenannter. Das Alter der Kandidaten wurde in der Übersicht der Bischöfe jeweils notiert und berücksichtigt, doch bei Kumpfmüller nicht negativ ausgelegt. Lag Kumpfmüller also stimmenmäßig bei den Bischöfen leicht vorne, so bot die Regensburger Triennalliste von 1926 ein ähnliches Bild: Auch hier gewann Kumpfmüller fünf positive Voten, bei keiner Ablehnung und einer Enthaltung, während Höcht knapp darunter mit vier Mal probo, bei keiner Ablehnung und zwei Enthaltungen rangierte.707 Die anderen Domkapitel Bayerns hatten die beiden Regensburger Kapitulare nicht auf dem Zettel.
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Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 52v. „Cardinalis de Faulhaber notionem facit eum Romae in Collegio Germanico studiis incubuisse. Episcopus Ratisbonensis certo habet ipsum episcopum idealem posse prae se ferre, esse hominem affabilissimum et probum.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 4r–9r, hier 6r. Hervorhebung im Original. Im Staatssekretariat erhielt der unterstrichene „ideale Bischof “ bezeichnenderweise noch eine herausstellende Anstreichung am Blattrand. „Episcopus Ratisbonensis eum laudat utpote virum excellentissimum; sed aetate provectior est. Doctor Romanus, in Collegio Germanico Romae instructus. – Episcopus Herbipolensis tradit, eum probitate, simplicitate cordis, fide et fidelitate erga ecclesiam et episcopum praecellere.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 6r. Im Jahre 1929 fertigte das Regensburger Domkapitel keine Triennalliste an, mit der Begründung, dass es erst zwei Jahre zuvor anlässlich der Sedisvakanz des eigenen Bistums seine Kandidatenvorschläge eingereicht habe. Auf dieser Sedisvakanzliste von 1927 erreichten Höcht und Kumpfmüller im Vergleich zum Vorjahr etwas schwächere Resultate (vier probo, ein non probo, vier abstineo und fünf probo, zwei non probo und zwei abstineo). Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Sedisvakanzliste des Domkapitels). 197
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Vassallos Informationsbeschaffung Ohne dass Pacelli selbst eine Abstufung zwischen seinen beiden Favoriten vornahm, bat er den Nuntius, ihn möglichst schnell mit Informationen zu versorgen und auch seine eigene Meinung zu äußern. In den folgenden Wochen trug Vassallo die gewünschten Daten zusammen, die er am 22. August in einem ausführlichen Bericht niederschrieb.708 Er begann jeweils mit einer differenzierten Biographie: Höcht, 1870 in Krummennaab geboren, erste philosophische Studien in Regensburg und 1898 zum Priester geweiht, habe anschließend einige Jahre als Kaplan gewirkt, bis er schließlich zum Subregens und 1908 zum Regens des Priesterseminars erhoben worden sei. 1915 habe er verschiedene Aufgaben innerhalb der Diözesankurie übernommen, dazu weitere Verpflichtungen wie etwa das Amt des Diözesanpräses der Marianischen Lehrerinnenkongregation. Er besitze den Titel eines bischöflichen Rates. Bereits 1922 Regensburger Kanoniker, habe ihn der neue Diözesanbischof Buchberger 1929 zum Generalvikar ernannt. Nach dieser Skizze begann Vassallo die Person Höchts zu bewerten, wobei er sein Zeugnis interessanterweise mit einem Faktum begann, das eigentlich in die Biographie gehörte: „Der ehrwürdige Höcht absolvierte seine Studien mit großem Erfolg am Collegium Germanicum-Hungaricum in Rom, wo er die Doktorwürde in Philosophie und Theologie erhielt. Schon die Reihe der übernommenen Ämter zeigt seine guten Qualitäten und die Wertschätzung, die er bei seinen Vorgesetzten gewonnen hat. Er wurde zum Generalvikar in der schwierigen Phase des diözesanen Regierungswechsels ernannt; auf die Störungen, die durch mehrere Jahre hindurch innerhalb des Domkapitels offenkundig wurden,709 hat Höcht einen Beweis seiner Umsicht und seiner Klugheit gegeben. In Regensburg ist sein Arbeitsfleiß und sein korrekter wie moralisch unangreifbarer Lebenswandel bekannt, weshalb er bei Klerus und Volk in hoher Achtung steht.“710
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Vgl. Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 58r–59v; abgedruckt bei Unterburger, Licht, S. 47f. Vgl. zu den inneren Konflikten im Regensburger Domkapitel Bd. 3, Kap. II.2.3 (Der Tod von Bischof Anton von Henle, die Spaltung des Domkapitels und die Einmischung des bayerischen Ministerpräsidenten). „Il Rmo Hoecht compi suoi studii con buon successo nel Collegio germano-ungarico di Roma, dove ottenne le lauree di Dottore in filosofia e teologia. Già la serie degli uffici coperti dimostrano le di lui buone qualità e la considerazione guadagnatasi presso i suoi superiori. Nominato Vicario generale nel difficile periodo del cambio di governo diocesano, dopo i disturbi che si erano manifestati per vari anni in seno al capitulo cattedrale, lʼHoecht ha dato prova di circospezione e di prudenza. In Ratisbona viene notata la sua assiduità al lavoro e la vita corretta e moralmente inatacciabile, laonde è venuto in buona stima presso il clero e il popolo.“ Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 58v. 198
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Damit sah der Nuntius keinerlei Veranlassung, den Vorschlag des Kardinalstaatssekretärs in irgendeiner Form zu kritisieren. Ein ähnliches Bild zeichnete er über Kumpfmüller: 1869 in Schwarzenberg geboren und 1894 zum Priester geweiht, nachdem er die Schullaufbahn in Regensburg absolviert und die philosophisch-theologische Ausbildung – genauso wie Höcht – im römischen Germanicum erhalten habe. Nach einigen Jahren als Kaplan und Bischofssekretär sei er 1900 zum Stadtpfarrprediger in Regensburg, danach zum Inspektor des Knabenseminars Obermünster und 1908 schließlich zum Domprediger ernannt worden. Wie Höcht sei Kumpfmüller mit einer ganzen Serie von Ämtern betraut worden wie zum Beispiel dem des Pönitentiars, des Synodalrichters oder des Schulinspektors für den Religionsunterricht. Für dessen Amtsführung hatte Vassallo nur lobende Worte übrig: „Ehrenhaft hat er seine Aufgaben erfüllt; aber in besonderer Weise jene des Dompfarrers, wie man auch einer Seelsorgekonferenz entnehmen kann, die er für den Regensburger Seelsorgsklerus zu Ostern veranstaltet hat. In seiner Pfarrei hat er das Laienapostolat organisiert und die [Regensburger, R.H.] Pfarrschwestern eingeführt … Sein priesterliches Leben, ohne Makel, hat ihm die allgemeine Verehrung von Priestern und Laien eingebracht.“711
Auf der Basis dieser biographischen Skizzen kam Vassallo zu dem Schluss, dass beide Personen die vorzüglichsten Eigenschaften besaßen und daher beide zum Bischofsamt erhoben werden konnten. Doch gab er letzterem den Vorzug: Kumpfmüller sei auch über die Diözesangrenzen hinaus bekannt als eine episkopable Persönlichkeit. Mehr als einmal – so der Nuntius – habe er den Namen in diesem Kontext gehört. Diesen Eindruck untermauerte Vassallo mit Verweis auf die Triennallisten, die – wie beschrieben – Kumpfmüller leicht favorisierten. Laut seiner Berichterstattung hatte Vassallo über beide Kandidaten mit dem Prior des Münchener Karmelitenklosters, dem vormaligen Provinzial der Bayerischen Provinz der Unbeschuhten Karmeliten, Pater Paulinus a Sancta Teresia OCD,712 gesprochen. Dieser habe längere Jahre im Regensburger Konvent gelebt und deshalb die beiden Geistlichen kennengelernt. Paulinus betrachte beide mit hohem Respekt, Höcht und Kumpfmüller seien die einzigen Geistlichen in Regensburg, die man aufgrund von Verdiensten und nicht wegen Dienstalters zum Domherrn berufen habe. Der Prior habe hinzugefügt, dass man in Regensburg von einer Erhebung Kumpfmüllers zum 711
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„Onorevolmente ha disimpeguato i suoi compiti; ma in modo speciale quello di parroco della cattedrale, come potè anche rilevarsi da una conferenza sulla cura delle anime, data al clero di Ratisbona avente cura dʼanime in occasione della pascua. Nella sua parrochia ha organizato lʼapostolato dei laici ed introdotte le suore parrochiali … La sua vita sacerdotale, senza nei, gli ha cattivato la generale venerazione di preti e di laici.“ Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 59r. Den Namen des Priors nannte der Nuntius nicht. Für die Identifizierung danke ich dem Provinzial der Deutschen Provinz des Teresianischen Karmel, P. Dr. Ulrich Dobhan OCD, sehr herzlich. 199
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Weihbischof ausgehe. Vassallo berichtete, dass der Karmelit Kumpfmüllers Tätigkeit im Vorstand der Katholischen Diözesanverbände als die eines „aktiven und praktischen Arbeiters“713 beurteile und zwar aus nächster Nähe, weil Paulinus selbst zeitgleich in diesem Gremium gewesen sei. Auf seine Feststellung – so der Nuntius –, dass für Augsburg, „nach der Langmütigkeit der letzten Zeit“714, ein Oberhirte benötigt werde, der sich als energischer Beschützer der priesterlichen Disziplin erweise, habe der Prior bestätigt, dass Kumpfmüller dieser Anforderung gerecht werde.
Die Ernennung Kumpfmüllers zum Bischof von Augsburg Obwohl er also Höcht und Kumpfmüller gleichermaßen für würdig und tauglich hielt, priorisierte der Münchener Nuntius unter der Bedingung, sich entscheiden zu müssen, letzteren.715 Ohne weitere Bedenkzeit folgte Pacelli dieser Präferenz und ließ Kumpfmüller durch Pizzardo, der mittlerweile Sekretär der AES war, beim Heiligen Offizium überprüfen, was freilich nicht mehr als eine Formalität war.716 Ob – was anzunehmen ist –, wann und in welcher Form Pacelli die Angelegenheit mit Pius XI. besprach, lässt sich den Akten nicht entnehmen.717 Daraufhin fragte Vassallo im Namen des Papstes beim electus an, ob dieser gegen seine Nomination Einwände hege oder bereit sei, zu akzeptieren.718 In der üblichen Demutsbekundung verwies Kumpfmüller auf seine mangelnde Würde, dieses hohe Amt auszufüllen, wollte aber dem Wink Piusʼ XI. Folge leisten.719
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„… lavoratore attivo e pratico …“ Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 59v. „… dopo la longanimità dei passati tempi …“ Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 59v. Vgl.: „Poiché lʼEminenza Vostra vuole che in affare di cotanta importanza faccia conoscere il mio modesto parere su questi due candidati, ritenendo ambidue degni e atti ad essere promossi al Vescovato, darei la preferenza, dopo quanto ho esposto, al Rmo Giuseppe Kumpfmueller.“ Vassallo an Pacelli vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 59v. Vgl. Pizzardo an Canali vom 26. August 1930 und Canali an Pizzardo vom 28. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 60r und 61r. Auch eine Audienznotiz Pacellis in dieser Angelegenheit lässt sich nicht nachweisen. Vgl. Pagano/ Chappin/Coco (Hg.), fogli. Vgl. Vassallo an Kumpfmüller vom 2. September 1930 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 194r. Die diesbezügliche Weisung des Kardinalstaatssekretärs hat sich in den relevanten Faszikeln der vatikanischen Akten nicht erhalten. Vgl.: „At iam in Collegio Germanico et Ungarico Romae instructus sum et semper tamquam sacerdos docui voluntatem Vicarii Christi esse voluntatem Dei ipsius ideoque, si Beatissimo Patri placuerit me in Episcopum Augustanum nominare, non recusabo curas et laboras, difficultates et labores, quae praeser200
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Auch die bayerische Regierung machte keine Bedenken politischer Natur geltend, wie Vassallo am 6. September knapp an Pacelli telegraphierte.720 Am 17. des Monats bat Pizzardo den erst kürzlich zum Assessor der Konsistorialkongregation berufenen Vincenzo Santoro, die notwendigen Ernennungsdokumente auszustellen.721 Damit stand dieser Termin als offizielles Datum der Nomination fest.722 Nachdem der Nuntius den Augsburger Kapitelsvikar am 20. September über die Ernennung informiert hatte,723 wurde die Promotion Kumpfmüllers auf den Augsburger Bischofsstuhl am 24. des Monats im „Osservatore Romano“ publiziert.724
Ernennungsbullen, Bischofsweihe und Inthronisation Am 2. Oktober erschien Kumpfmüller bei Vassallo zur Audienz und bekundete die Absicht, am 28. des Monats die Bischofsweihe durch Kardinal Faulhaber zu empfangen.725 Dieser Termin, ein Dienstag, das Fest der heiligen Apostel Simon und Judas, sei der einzige Tag, an dem der Klerus an den Weihe- und Inthronisationsfeierlichkeiten teilnehmen könne.726 Da der neu ernannte Bischof zur Besitzergreifung seiner Diözese dem Domkapitel seine römischen Ernennungsschreiben vorlegen musste, war ihre schnelle Anfertigung dringlich. Deshalb skizzierte Vassallo mit Schreiben vom 2. Oktober – noch am Tag der Audienz – für Pizzardo die Situation und bat, dass die Bullen ihm spätestens am 21. des Monats zugingen.727 Doch noch bevor Pizzardo diese Bitte an Santo-
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tim his diebus cum munere episcopali connexa sunt.“ Dem Heiligen Vater werde er – so Kumpfmüller abschließend – immer treu und ergeben sein. Vgl. Kumpfmüller an Vassallo vom 5. September 1930, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 195r–196r, hier 195rv. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 6. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 62r. Vgl. Pizzardo an Santoro vom 17. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 63r. Vgl. AAS 22 (1930), S. 455. Vgl. Vassallo an Eberle vom 20. September 1930 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 198rv. Vgl. Pacelli an Vassallo ohne Datum [24. September 1930] (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 64r und die Publikationsnotiz, ebd., Fol. 65r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 223 vom 24. September 1930. Vgl. Kumpfmüller an Vassallo vom 23. September 1930 und Vassallo an Kumpfmüller vom 24. September (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 201rv und 202r. Die Weihe musste nach kirchlichem Recht an einem Sonntag oder Apostelfest stattfinden. Vgl. Can. 1006 § 1 CIC 1917. Da sonntags der Diözesanklerus stets umfangreiche liturgische Verpflichtungen zu erfüllen hatte, wich man häufig auf Apostelfeste aus. Vgl. Vassallo an Pizzardo vom 2. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 67rv. 201
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ro weiterleitete, waren die Dokumente bereits fertiggestellt.728 Sekretär Rossi übersandte sie am 4. Oktober an die Nuntiatur, sodass Vassallo dem ernannten Oberhirten bereits fünf Tage später vom Eintreffen der Unterlagen berichten konnte.729 Auf Geheiß des Nuntius kam Kumpfmüller am 15. Oktober in die Nuntiatur, um sich seine Ernennungsbullen persönlich abzuholen und bei dieser Gelegenheit vor dem Stellvertreter des Papstes die professio fidei abzulegen.730 Damit war alles bereitet, dass Kumpfmüller planmäßig am 28. Oktober im Augsburger Dom die Bischofsweihe aus der Hand Faulhabers empfangen konnte. Auch der bayerische Nuntius, der an den Feierlichkeiten nicht teilnahm, gratulierte.731
Ergebnis 1. Der Besetzungsfall bietet zwei für Pacellis Personalüberlegungen entscheidende Kriterien, die zwar nur indirekt aus dem Schreiben des Jesuitenprovinzials, aber dennoch eindeutig namhaft werden: Der Bischofsanwärter musste a) „ein klares theologisches Wissen“ besitzen und dabei „in grundsätzlichen Dingen nicht zu nachgiebig“ sein; b) er benötigte „für die Heranbildung der Priester viel Sinn und gute Grundsätze“. In gewisser Weise antwortete Pacelli mit diesen Gesichtspunkten auf Vassallos Analyse der kirchlichen Situation des Bistums. Dem liberalistischen und sozialistischen Einfluss auf Klerus und Volk, der bereits das kirchliche Leben beeinträchtigte, zum Beispiel in übertriebenen Vergnügungs- und Sportaktivitäten am Sonntag, musste Einhalt geboten werden. Das setzte eine klare Sicht auf die Gefahren und ihre Konsequenzen ebenso voraus 728
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Vgl. Pizzardo an Santoro vom 5. Oktober 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1930, Pos. 176 P.O., Fasz. 23, Fol. 66r. Vgl. Rossi an Vassallo vom 4. Oktober 1930, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 206r und Vassallo an Kumpfmüller vom 9. Oktober 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 207r. Es waren vier Ernennungsbullen, die ausgestellt wurden: eine für den Metropoliten, Kardinal Faulhaber, eine für Klerus und Volk des vakanten Bistums, die dem Kapitularvikar zugehen sollte, eine dritte, die Kumpfmüller dem dortigen Domkapitel vorzulegen hatte, und eine letzte für Kumpfmüller selbst. Die ersten beiden Dokumente leitete Vassallo von der Nuntiatur aus direkt an ihre Ziele weiter. Vgl. Vassallo an Eberle vom 9. Oktober 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 208r. Die Bulle für Faulhaber übergab der Nuntius höchstwahrscheinlich persönlich. Die von der Kurie erhobene Gebühr für die Dokumente betrug 4.000 Lire. Den von Kumpfmüller über diesen Betrag ausgestellten Scheck übermittelte der Nuntius Anfang November an die Konsistorialkongregation. Vgl. Vassallo an Rossi vom 6. November 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 211r. Vgl. Kumpfmüller an Vassallo ohne Datum [zwischen dem 10. und 13. Oktober 1930], ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 200rv. Die unterschriebenen Eidesformulare übersandte der Nuntius – wie es dem Geschäftsgang entsprach – anschließend dem Kanzler der Heiligen Römischen Kirche, Andreas Kardinal Frühwirth, damit sie in der Apostolischen Kanzlei archiviert werden konnten. Vgl. Vassallo an Frühwirth vom 16. Oktober 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 210r. Vgl. Vassallo an Kumpfmüller vom 28. Oktober 1930 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 203r. 202
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wie das entsprechende Durchsetzungsvermögen (a). Entscheidend war natürlich, dass die Ausbildung den Priesternachwuchs für diese Situation wappnete (b). Auch wenn nach Vassallos Urteil die Bedingungen der diözesanen Ausbildungsstätte, des Lyzeums und Seminars in Dillingen, im Vergleich zu früher verbessert waren, war hier der Hebel anzusetzen. Bei den angesprochenen „guten Grundsätzen“ für die Priesterausbildung ist nicht nur an den bereits mehrfach genannten Geheimerlass an den deutschen Episkopat vom 9. Oktober 1921 zur Reform der deutschen Universitätstheologie zu denken, der in den folgenden Jahren mehrfach eingeschärft wurde,732 sondern auch an die Konstitution Deus scientiarum Dominus Piusʼ XI. über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten, die im Mai 1931, also wenige Monate nach der Augsburger causa, promulgiert werden sollte und die unter anderem auf Pacellis Stellungnahmen zu diesem Gegenstand fußte.733 Diese, von Rom an die Hand gegebenen „guten Grundsätze“, waren vom künftigen Diözesanbischof um- und durchzusetzen, der demnach dafür den rechten „Sinn“, also die nötige Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl, mitzubringen hatte. Was bedeuteten diese Normen für Pacellis konkrete Kandidatensondierungen? Zunächst war er durchaus bereit, den einhelligen Favoriten des Domkapitels, der auch in der öffentlichen Meinung der Diözese als Nachfolger Linggs gehandelt wurde734 und nicht zuletzt die Unterstützung des Nuntius genoss, in Erwägung zu ziehen. Alle Voten, die zugunsten Eberles in Rom eingingen, stellten heraus, dass der mit der Diözese vertraute ehemalige Generalvikar in jeder Hinsicht für den vakanten Bischofsstuhl geeignet war, doch über seine maßgeblichen zwei Kriterien erhielt Pacelli keine Gewissheit. Daher ließ er sich eigens bestätigen, dass Eberle ihnen genügte – bei einem negativen Ergebnis wäre dessen Kandidatur für den Kardinalstaatssekretär bereits hier beendet gewesen. Eberle wurde jedoch zum Verhängnis, dass Pacelli die Triennallisten sorgfältig studierte und daher das negative Präjudiz zur Kenntnis nahm, dass der Genannte vom Episkopat nicht nur nicht als episkopabel vorgestellt, sondern durch dessen Streichung vor der Abstimmung 1926 sogar als dezidiert nicht-episkopabel disqualifiziert wurde. Der auf diese Weise aufgedeckte leise Zweifel an der moralischen Integrität Eberles genügte Pacelli, um ihn fallen zu lassen. Zum einen wird daran deutlich, dass er in dieser Hinsicht kein Risiko eingehen wollte – nicht die geringste Unsicherheit über die kanonische Eignung durfte bei einem Oberhirten bestehen. Zum anderen
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Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.3 (Der Kandidat von Ludwig Kaas: Nikolaus Bares). Vgl. Konstitution Deus scientiarum Dominus vom 24. Mai 1931, abgedruckt in: AAS 23 (1931), S. 241– 262. Vgl. dazu Unterburger, Lehramt. Becker, Neue Freiheit, S. 386; Groll, Domkapitel, S. 476f.; Hetzer, Industriestadt, S. 217; Ders., Kulturkampf, S. 15f.; Rummel, Kumpfmüller, S. 420; Ders., Augsburger Bischöfe, S. 66; Witetschek, Humanum, S. 80 weisen sämtlich darauf hin, dass man fest mit einer Ernennung Eberles rechnete. Der Halbmonatsbericht der Regierung von Schwaben und Neuburg vom 19. September 1930 sprach sogar von einer „Enttäuschung“ über die Wahl Kumpfmüllers. Vgl. dazu Ders., Kräfte, S. 150; Hetzer, Kulturkampf, S. 15f. 203
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fällt auf, dass er keinerlei Anstalten machte, um mehr Licht in diese Sache zu bringen. Offenbar war Eberle ohnehin nicht sein Wunschkandidat, offensichtlich war Pacelli trotz der Versicherung des Jesuitenprovinzials nicht von dessen Tauglichkeit überzeugt, andernfalls hätte er womöglich versucht, die Anschuldigung zu zerstreuen.735 Jedenfalls bot sich ihm so die Gelegenheit, ohne „Erklärungsnot“ die Zuspitzung auf Eberle zu durchbrechen und auf Basis der Vorschlagslisten eine eigenständige Kandidatenauswahl zu betreiben. Entscheidender Ausgangspunkt waren für ihn die Triennallisten des bayerischen Episkopats, näherhin die aktuelle Liste von 1929 (vgl. Nr. 4). Aus ihr arbeitete er die Kandidatur Höchts und Kumpfmüllers heraus, um diese dann mit den übrigen Listen abzugleichen.736 Höchstwahrscheinlich war es Pacelli selbst, der genau anlässlich der Augsburger Sedisvakanz alle Namen der 29er-Liste am Blattrand im Hinblick auf die Episkopabilität kennzeichnete: Die Randnotizen reichten von „No“ über „-“ und „+“ bis „++“ als höchste Auszeichnung.737 Materialgrundlage für diese Klassifizierung waren offenbar das Abstimmungsergebnis des Episkopats, die bio735
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Wenn überhaupt, dann findet man hier einen Ansatzpunkt für den „Geruch ‚modernistischer‘ Neigungen“, den Eberle laut Gerhard Hetzer „infolge seiner Aufgeschlossenheit für soziale Reformbewegungen bei der Kurie“ besessen habe. Hetzer, Industriestadt, S. 218. Einen ausdrücklichen Beweis, dass Pacelli den Kapitularvikar in diesem Licht sah, liefern die vatikanischen Quellen jedoch nicht. Im Gegenteil: Wenn der Kardinalstaatssekretär dieser Auffassung gewesen wäre, hätte er Eberle wohl von vornherein gar nicht erst in Erwägung gezogen, geschweige denn den Jesuitenprovinzial zur theologischen Reinheit Eberles befragt, die jener obendrein noch bestätigte. Von daher bleibt zu vermuten, dass es tatsächlich das malum moralum war, das dem Favoriten des Domkapitels den Weg auf den Bischofsstuhl versperrte. Klaus Unterburger stellt die Überlegung auf, dass die von Ehrenfried betriebene Intrige vielleicht seinen Ursprung darin hatte, dass Eberle „als Generalvikar eben auch als mitverantwortlich für den bischöflichen Kurs in Augsburg in der vorherigen Zeit betrachtet wurde“. Unterburger, Licht, S. 36. Sollte dies zutreffen, dann hätte sogar Faulhaber den Vorwand der moralischen Anschuldigung nicht durchschaut, insofern er ihr mit seiner Reise nach Augsburg auf den Grund gehen wollte. Wäre er von 26er-Liste der Bischöfe ausgegangen, hätte er Höcht nicht nominieren können, da dieser damals noch nicht unter den Vorgeschlagenen war. Zwar legt die Handschrift der Randnotizen nahe, dass Pacelli die Klassifizierung der Kandidaten vornahm, doch lässt sich diese Zuordnung aufgrund der Kürze der Anmerkungen nicht unzweifelhaft erweisen. Darüber hinaus ergibt sich allerdings auch aus weiteren Gründen, dass Pacelli die Liste analysierte und zwar dezidiert anlässlich der Augsburger Sedisvakanz: 1) Seine Weisung an Vassallo vom 29. Juli zeigt eindrücklich, dass Pacelli und niemand anders in der Kurie die Vorauswahl der Bischofskandidaten traf (vgl. Nr. 5). Folglich war die Klassifizierung Teil seiner Sondierungen. 2) Ausschließlich bei den Namen Höcht und Kumpfmüller war den Randnotizen jeweils das entsprechende Geburtsjahr beigefügt (bei Höcht „del 1870“ und bei Kumpfmüller „n[ato] 1869“, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 5v und 6r). Da Pacelli laut seiner Weisung genau diese beiden Domkapitulare für den Augsburger Bischofsstuhl favorisierte, scheint es einleuchtend, dass er die Informationen ergänzte und die Liste jetzt, als sie anlässlich der Augsburger Sedisvakanz gebraucht wurde, akribisch analysierte. 204
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graphisch-wertenden Anmerkungen, welche die Bischöfe den einzelnen Kandidaten beifügten, außerdem frühere Zeugnisse, die im Staatssekretariat vorlagen und die persönliche Kenntnis, die Pacelli in seiner Zeit als Nuntius in Deutschland beziehungsweise Bayern von zumindest einigen der Kandidaten gewonnen hatte.738 In Pacellis Favoritengruppe „++“ schafften es sieben Geistliche: der Passauer Professor Franz Xaver Eggersdorfer, Höcht, Kumpfmüller, der Scheyerner Abt Simon Landersdorfer OSB, der Münchener Domkapitular Konrad Graf von Preysing, der Regens des Eichstätter Priesterseminars Michael Rackl, sowie der Bamberger Domkapitular und langjährige Regens Karl Wolkenau.739 Die Aufnahmebedingungen in diesen Kreis haben sich oben bereits ergeben: Zusätzlich
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3) Pacelli ließ Maurilio Silvani, Minutant in der AES, sämtliche Triennallisten von 1929 durchsehen und eine neue Liste anfertigen, die festhielt, welcher Kandidat auf welcher Triennalliste der Bischöfe oder Domkapitel mit welchem Abstimmungsergebnis vorgeschlagen worden war. Vgl. ebd., Fol. 11r–16v. Auf einem einzelnen Blatt (Fol. 13r), das über Graf von Preysing handelte, vermerkte Silvani, was für Urteile über den Genannten in Rom eingegangen waren. Unter diesen Notizen befindet sich auch die Wertung, die Schulte von Köln im Kontext des Ermländer Besetzungsfalls 1930 über Preysing vorgenommen hatte. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels). Da Schulte dieses Urteil erst am 7. März 1930 schrieb, ergibt sich dieses Datum als terminus post quem für die Abfassung von Silvanis Liste. Da Lingg nur wenige Wochen später Ende Mai 1930 starb, ist es sinnvoll, dieses Datum als Anlass anzunehmen. Erst jetzt war es notwendig, sich mit den bayerischen Vorschlägen zu befassen. Damit wird zugleich deutlich, dass es nicht Gasparri gewesen sein konnte, der die Triennalliste von 1929 mit den Randnotizen versah, zumal ihm Vassallo das Dokument erst Ende September 1929 zusandte, nur wenige Wochen vor seiner Demission als Staatssekretär. Vgl. Vassallo an Gasparri vom 30. September 1929, ebd., Fol. 3r. 4) In den folgenden drei bayerischen Besetzungsfällen, die von Pacelli als Kardinalstaatssekretär abgewickelt wurden (Eichstätt 1932 und 1935 sowie Passau 1936), sollten jeweils Geistliche zum Diözesanbischof ernannt werden (Konrad Graf von Preysing, Michael Rackel und Simon Konrad Landersdorfer OSB), die bereits jetzt mit „++“ in der höchsten Klasse der episcopabili rangierten. Wenn diese Geistlichen also später nach Meinung Pacellis taugliche Kandidaten waren, wie es sich aus den dortigen Verfahren ergibt, erscheint es zumindest plausibel, dass er es war, der sie schon 1930 dementsprechend einstufte. Vgl. zu den genannten Besetzungsfällen die folgenden Kapitel in diesem Buch. Dass das Abstimmungsergebnis nicht allein für die Einstufung der Kandidaten verantwortlich war, lässt sich beispielhaft am Passauer Domvikar Otto Ritzer und am Münchener Domkapitular Rudolf Hindringer zeigen. Beide hatten mit fünf probo und zwei abstineo beziehungsweise sechs probo und ein abstineo ein besseres Ergebnis erzielt als etwa der Münchener Domkapitular Preysing, der auf fünf probo, ein non probo und ein abstineo kam. Dennoch wurde Preysing mit „++“, Ritzer und Hindringer jedoch nur mit „+“ gewertet. In den nachfolgenden Triennallisten des Episkopats von 1932, 1935 und 1938 erfolgte diese Klassifizierung nicht mehr. Wohl aber findet man dieselbe „Nomenklatur“ auf der Liste von 1926. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 56r–59v. Da Pacelli nach eigener Aussage die 26er-Liste in seine Kandidatensuche für den Augsburger Bischofsstuhl einbezog, scheint es denkbar, dass er diese Notizen ebenfalls in diesem Kontext machte. Die Favoritengruppe „++“ 1926 hatte dem205
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zu einem deutlich positiven Abstimmungsergebnis müssen das rechtmäßige theologische Wissen und die Grundsätze in der Priesterausbildung als ausschlaggebend betrachtet werden und zwar, weil die Analyse der Triennalliste gerade den Zweck hatte, den künftigen Augsburger Bischof zu finden, den Pacelli in seiner Anfrage an den Jesuitenprovinzial mit diesen beiden Kriterien entscheidend profiliert hatte. Es handelte sich übrigens um dieselbe Kriteriologie, mit der Pacelli bereits Anfang der 1920er Jahre im Kontext der bayerischen Konkordatsverhandlungen würdige von sehr würdigen Bischöfen unterschied.740 Woran genau er bei jedem der Kandidaten festmachte, dass die beiden Grundsatzkriterien erfüllt waren, lässt sich im Einzelnen nicht beantworten.741 Auch die Anschlussfrage, wieso Pacelli aus dieser Gruppe gerade Höcht und Kumpfmüller für die Nachfolge Linggs auswählte, bleibt im Dunkeln. Hinsichtlich des Zuspruchs durch den Episkopat bewegte sich letzterer im Vergleich zu den übrigen der Gruppe im Mittelfeld und ersterer sogar nur am unteren Ende.742 Zwei Indizien für Pacellis Entscheidung lassen sich eventuell anführen: Zum einen könnte Pacelli die von Birner und Haindl vorgetragene Sorge zur Kenntnis genommen haben, dass wieder – wie schon 1927 in Regensburg – ein Münchener Geistlicher zum Diözesanbischof erhoben würde. Wollte er deshalb auf die Nomination eines Müncheners verzichten, schieden Preysing und Landersdorfer – die Abtei Scheyern lag in der Münchener Erzdiözese – aus. Zum anderen ist die gewichtigere Beobachtung anzusprechen, dass Höcht und Kumpfmüller die einzigen Ex-Alumnen des römischen Germanicums auf der 29er-Triennalliste
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entsprechend große Ähnlichkeit mit der von 1929: Zu ihr gehörten erneut Kumpfmüller, Landersdorfer, Preysing und Wolkenau. Eggersdorfer und Höcht fehlten, weil sie 1926 nicht auf der Triennalliste standen. Die einzige Abweichung in der Wertung gab es hinsichtlich der Person Rackls: Dieser erhielt auf der 26er-Liste nur ein „+“. Bei Pacellis Durchsicht der 29er-Liste wurde der Eichstätter Regens also aufgewertet. Darüber hinaus ist zur 26er-Triennalliste anzumerken, dass einerseits zwei Kandidaten überhaupt keine Randnotiz erhielten und sich andererseits in den Akten keine Gesamtübersicht über alle vorgeschlagenen Kandidaten findet, wie sie Silvani 1929 aufstellte. Das stützt die Annahme, dass die aktuelle bischöfliche Triennalliste von 1929 die entscheidende Grundlage für Pacelli war und er die ältere 26er-Liste nicht mit derselben Intensität begutachtete. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Ergebnis Nr. 1). Möchte man als Gesichtspunkt, um die rechte Theologie des Kandidaten greifbar zu machen, ein römisches oder zumindest jesuitisches Studium veranschlagen, so ist zu konstatieren, dass Eggersdorfer, Landersdorfer, Rackl und Wolkenau ein solches nicht vorzuweisen hatten. Sucht man in der Vita der Geistlichen nach Erfahrungen in der (engeren) Priesterausbildung, wird man bei Eggersdorfer, Kumpfmüller, Landersdorfer und Preysing nicht fündig. Die Kandidatenwahl Pacellis war also komplizierter als ein einfaches biographisches Abhaken. Am besten hatten Eggersdorfer und Landersdorfer abgeschnitten, jeweils mit sechs probo, null non probo und ein abstineo. Dann folgten Kumpfmüller, Rackl und Wolkenau, jeweils mit fünf probo, null non probo und zwei abstineo. Schließlich kam Preysing mit fünf probo, ein non probo und ein abstineo. Auf dem letzten Platz endlich rangierte Höcht mit vier probo, null non probo und drei abstineo. 206
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überhaupt und damit auch in der Favoritengruppe waren. Sie brachten also formal nach Pacellis Auffassung vor allen anderen die idealen Voraussetzungen mit, dem doppelten Grundsatzkriterium gerecht zu werden. Da die Triennalliste den Ausgangspunkt seiner Sondierungen bildete, ist davon auszugehen, dass die darin enthaltenen Charakterisierungen der beiden Regensburger Domkapitulare für Pacelli relevant waren. a) Sie beschrieben Höcht als „hervorragenden Mann“, anständig und schlicht, der durch „Treue und Zuverlässigkeit gegenüber Kirche und dem Bischof “, also gegenüber den kirchlichen Vorgesetzten, herausrage. Diese Treue ließ hoffen, dass er die römischen Anweisungen zur Priesterausbildung ernstnehmen würde. Ohnehin kannte ihn Pacelli bereits seit Beginn seiner Münchener Zeit als langjährigen und gewissenhaften Ausbilder des Priesternachwuchses: In seinem Bericht für die Studienkongregation von 1919 über die deutschen Priesterseminare notierte Pacelli zum Regensburger Seminar: „Die Frömmigkeit blüht in allen Belangen.“743 Diese Lorbeeren fielen natürlich auf Höcht als den Leiter der Einrichtung zurück. b) Kumpfmüller wurde in der bischöflichen Triennalliste von 1929 als „leutseliger und bewährter Mann“ charakterisiert, zusammen mit der superlativischen Feststellung, dass er der „ideale Bischof “ sei. Die 26er-Liste sprach außerdem von seiner guten Seelsorgstätigkeit und Predigtbegabung – eine Anspielung auf Kumpfmüllers Amt als Domprediger. Anders als Höcht fand er in Pacellis Nuntiaturberichterstattung keine Erwähnung.744 Dennoch kannte Pacelli den Domkapitular, allein durch die langjährigen internen Streitigkeiten war das Regensburger Domkapitel bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ins Blickfeld des damaligen Nuntius gerückt.745 Damit ist bereits der letzte Referenzpunkt angedeutet, der noch der Erwähnung verdient: der Regensburger Besetzungsfall von 1927/28. Zwar war Pacelli als damaliger Berliner Nuntius nicht unmittelbar an den Geschehnissen beteiligt, doch wurde er von Vassallo kontaktiert, der sich über etwaige Bischofskandidaten rückversichern wollte. In diesem Zusammenhang war Pacelli „von einem sehr würdigen deutschen Geistlichen“ ein positives Votum über Höcht zugespielt worden: „In Regensburg scheint man als Nachfolger des verstorbenen Bischofs den Kanoniker Dr. Johann Baptist Höcht zu erwarten, 57 Jahre alt, einst Alumne des Collegium Germanicum in Rom, ein sehr guter Priester, äußerst anhänglich an den Heiligen Stuhl, gut vertraut mit den Angelegenheiten der Diözese, da er für viele Jahre Sekretär des Vorgängers
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„Pietà fiorente sotto ogni riguardo.“ Votum Pacellis zum Regensburger Priesterseminar ohne Datum [1919] (Abschrift), ACEC, 1920, Pos. 334/19, S. 22–24, hier 23. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Zum Beispiel erhielt Pacelli 1924 ein Exposé über die „Zwietracht an der Regensburger Bischofskurie“ vom dortigen Spiritual, Pater Balthasar Wilhelm SJ. Vgl. dazu Hausberger, Kiefl, S. 126f. 207
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des soeben verstorbenen Bischofs, Monsignore [Ignatius von, R.H.] Senestrey, war, absolut unbeteiligt an den Parteiungen, die das Domkapitel spalten.“746
Dieses Urteil, das Minutant Silvani aus den Akten der Regensburger causa wieder hervorholte,747 war nicht das einzige, was dieser Besetzungsfall an relevanten und für Pacelli einsehbaren Informationen lieferte. Inhaltlich übereinstimmend hatte damals Haylers Vorgänger an der Spitze der oberdeutschen Jesuitenprovinz, Theobald Fritz, versichert, dass Höcht und genauso Kumpfmüller in den heftigen internen Auseinandersetzungen des Regensburger Domkapitels eine vermittelnde Rolle einnahmen und damit keine streitlustigen und schwer umgänglichen Charaktere waren – für eine etwaige Bischofsnomination eine wichtige Information. Außerdem hatte sich der Rektor des Innsbrucker Jesuitenkollegs Canisianum, Michael Hofmann, zu Wort gemeldet und den Germaniker Kumpfmüller als episcopabilis ausgewiesen. Er attestierte ihm, fromm, klug, kräftig, kultiviert, tüchtig und – wie es bei Höcht schon mehrfach angeklungen war – „dem Heiligen Stuhl treu ergeben“ zu sein. Dass Pacelli schlussendlich Kumpfmüller den Vorzug gab, hing womöglich mit diesem Votum Hofmanns zusammen. Ob er ihn aber von den persönlichen Qualitäten her tatsächlich für tauglicher hielt als Höcht, können die Quellen nicht belegen. Vielleicht gab er Kumpfmüller letztlich nur den Zuschlag, weil dieser ein leichtes Übergewicht an Stimmen im Episkopat und Regensburger Domkapitel besaß und außerdem vom Nuntius präferiert wurde (vgl. Nr. 5). 2. Besonderheiten zum Besetzungsmodus lassen sich in diesem Fall kaum benennen. Der von Pacelli selbst zu großen Teilen ausgehandelte Modus war vom Bayernkonkordat vorgezeichnet und das Listenverfahren ging seinen geordneten Gang. Interessant ist allerdings, dass Pacelli seine Kandidatensondierungen nicht etwa nur auf einen Favoriten konzentrierte, sondern direkt mehrgleisig fuhr, indem er Vassallo zwei Namen präsentierte. Dies ermöglichte, flexibel und zügig auf etwaige Hindernisse zu reagieren, die unvorhergesehen von Seiten einer der beteiligten Parteien auftreten konnten. Nötig werden sollte dieses Vorgehen, das durchaus als Vorsichtsmaßnahme verstanden werden kann, in der Augsburger causa freilich nicht.
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„… da un degnissimo ecclesiastico della Germania … In Regensburg sembra che si aspetti come successore del defunto Vescovo il Canonico Dr. Giov. Batt. Höcht, dellʼetà di 57 anni, già alunno del Collegio Germanico in Roma, ottimo sacerdote, assai attaccato alla S. Sede, ben versato negli affari della diocesi, essendo stato per molti anni Segretario dellʼantecessore del Vescovo testè defunto, Mons. Senestrej, assolutamente estraneo ai partiti, che dividono il Capitolo cattedrale.“ Pacelli an Testa vom 25. November 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1927, Pos. 172 P.O., Fasz. 21, Fol. 48r. Vgl. auch Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 639. Silvani verwies in seiner Synopse der vorgeschlagenen Kandidaten auf die Protokollnummer des genannten Schreibens von Pacelli an Testa. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 12r. 208
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3. Das Verhältnis Pacellis zur bayerischen Staatsregierung war spannungsfrei. Da sie der Nomination Kumpfmüllers umgehend und vorhaltlos zustimmte, gab es keinen Grund, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das stützt jedoch noch keineswegs die von Gerhard Hetzer auf Basis der Tagespresse geäußerte Vermutung, dass die Ernennung des Regensburger Domkapitulars durch Ministerpräsident Held „maßgeblich beeinflusst“ worden sei, „der auf dem Augsburger Bischofsstuhl sicher einen der BVP nahestehenden, zuverlässig föderalistischen, altbayerischen Kleriker gewünscht hatte“748. Kumpfmüllers Kandidatur lässt sich durchaus völlig stimmig durch eine rein innerkirchliche Genese erklären (vgl. Nr. 1). 4. Da sich keine Fragen zum Besetzungsmodus stellten, bestand der Kern des Verfahrens ausschließlich in der Suche nach dem passenden Kandidaten. An ihr war eine ganze Reihe von „Informanten“ beteiligt, die sich in vier Gruppen untergliedern lässt: a) Die erste wurde durch das konkordatäre Listenverfahren konstituiert, das formal die bayerischen Bischöfe und Domkapitel als Proponenten vorschrieb. Für Pacelli waren die Triennallisten des Episkopats und nicht die der Domkapitel maßgeblich: Die Bischofslisten sorgten dafür, dass er die Kandidatur Eberles fallen ließ und bildeten – zumindest die 29er-Liste – den Ausgangspunkt, von dem aus er die Anwärterschaft Höchts und Kumpfmüllers entwickelte. Es waren insbesondere drei Oberhirten, die hinsichtlich der drei genannten Kandidaten das Wort führten: Ehrenfried, der – wie Pacelli nachträglich in Erfahrung brachte – gegen den Augsburger Kapitelsvikar Anschuldigung erhob749 und Höchts Kandidatur unterstützte; Buchberger, der sowohl Kumpfmüller als auch Höcht befürwortete; und schließlich Faulhaber, der sich lobend über Kumpfmüller äußerte. Alle drei waren dem Kardinalstaatssekretär langjährig bekannt und von ihm hochgeschätzt: Ehrenfried hatte er 1924 auf den Würzburger Bischofsstuhl verholfen. Mit Faulhaber arbeitete Pacelli in seiner Münchener Nuntiaturzeit eng zusammen und wusste sich in theologisch-kirchlicher Ausrichtung mit ihm einig. Dessen „Zögling“ Buchberger schließlich, der 1927 ohne sein Zutun Bischof von Regensburg wurde, hatte Pacelli schon 1921 als „äußerst würdigen und eifrigen Geistlichen“750 schätzen gelernt. Insofern schien das Wort dieser drei für den Kardinalstaatssekretär besonderes Gewicht zu besitzen.
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Hetzer, Industriestadt, S. 217. Vgl. auch Ders., Kulturkampf, S. 16 und im Anschluss an Hetzer Groll, Domkapitel, S. 477 Anm. 33. Gerhard Hetzer sieht als entscheidende Opponenten Eberles „dessen bayerische Gegner und hier zuallererst de[n] Münchener Erzbischof “. Hetzer, Industriestadt, S. 217. Vgl. auch Ders., Kulturkampf, S. 16. Richtig daran ist, dass Faulhaber dem Kardinalstaatssekretär die entscheidende Information lieferte, wie es zur Streichung Eberles von den bischöflichen Triennallisten gekommen war. Allerdings hätte er selbst – wie Vassallo von ihm erfuhr – nichts einzuwenden gehabt, wenn Ehrenfried nicht interveniert hätte. „… ecclesiastico assai degno e zelante …“ Pacelli an Gasparri vom 3. März 1921, ASV, Segr. Stato, Anno 1921, Rubr. 255, Fasz. 1, Fol. 131r. Pacelli befürwortete an dieser Stelle die Ernennung Buchbergers zum Apostolischen Protonotar. 209
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Diese Beobachtung lässt sich auf die oben genannte Favoritengruppe Pacellis „++“ anwenden (vgl. Nr. 1) und dadurch noch einmal näher konturieren. Tatsächlich fand jeder der sieben Kandidaten, die zu dieser Gruppe gehörten, mindestens in einem der drei genannten Oberhirten einen Fürsprecher: Eggersdorfer, Landersdorfer und Wolkenau in Faulhaber, Preysing in Faulhaber und Ehrenfried sowie Rackl in Ehrenfried. Umgekehrt zeigt sich ex negativo, dass bei den übrigen Kandidaten der 29er-Triennalliste, die es nicht in diesen gehobenen Kreis geschafft hatten, entweder mindestens ein negatives Votum der drei Pacelli-Vertrauten zu Buche stand oder zumindest kein positives.751 Ein besonderer Fall war die Kandidatur des Münchener Kanonisten Anton Scharnagl: Obwohl ihn Faulhaber und Buchberger sehr positiv beurteilten, wertete ihn Pacelli lediglich mit „+“, was sicherlich nicht zuletzt damit zusammenhing, dass Ehrenfried staatliche Widerstände gegen dessen Nomination prophezeite. Das positive Urteil dieser drei (Erz-) Bischöfe war für Pacelli wichtiger als die rein statistische Zustimmung, welche die Triennalliste für die einzelnen Kandidaten verzeichnete,752 wenngleich sich ihr Zeugnis durchweg in positiven Abstimmungsergebnissen für die Beurteilten niederschlug. Erst damit war letztlich auch die rechtliche Grundlage gegeben, damit sie der Heilige Stuhl gemäß Konkordatsvorschrift zum Bischof ernennen konnte.753 Übrig bleibt noch die Frage, wie Pacelli mit den Triennallisten der Domkapitel beziehungsweise mit der Sedisvakanzliste der Augsburger Domherren umging. Anfänglich war er durchaus bereit, dem klaren Votum letzterer für Eberle zu entsprechen. Doch maß er dem ablehnenden Urteil der Bischöfe beziehungsweise Ehrenfrieds schlussendlich größeres Gewicht bei, sodass er die Sedisvakanzliste im Endeffekt ignorierte. Auch die Triennallisten der Domkapitel waren für
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Zum Beispiel auf den Prager Professor August Naegle traf der erstgenannte Fall zu: Während Ludwig Sebastian von Speyer ihn lobend herausstellte, schätzte ihn Buchberger als untauglich ein. Folgerichtig erhielt er von Pacelli ein „No“ am Blattrand. Genauso der Regensburger Professor Franz Heidingsfelder: Er bekam vom Eichstätter Oberhirten, Leo von Mergel, ein positives Zeugnis. Buchberger und Ehrenfried jedoch beurteilten ihn durchwachsen und letztlich für inepiskopabel. Die logische Folge war ein erneutes „No“ Pacellis. Der zweite Fall zeigte sich beispielsweise am Passauer Domkapitular Otto Brauner, den Pacelli mit „-“ einstufte. Dieser besaß nur im Passauer Oberhirten, Sigismund Felix von Ow-Felldorf, einen Fürsprecher. Die anderen Bischöfe kannten ihn nicht. Ähnlich der Passauer Domvikar Otto Ritzer: Obwohl dieser von Ow-Felldorf und Sebastian ein positives Votum erhalten hatte, deklarierte ihn Pacelli lediglich mit „+“. Vgl. das oben zu Ritzer und Hindringer im Verhältnis zu Preysing Gesagte Bd. 3, Kap. II.2.4 Anm. 738. Belegen lässt sich das außerdem eindrücklich mit dem eben genannten Scharnagl: Dieser erhielt mit zwei probo (offenbar waren dies die Stimmen Faulhabers und Buchbergers), ein non probo und vier abstineo ein eher schlechtes Ergebnis. Dennoch notierte Pacelli bei ihm ein „+“, während etwa der schon genannte Brauner mit einem besseren Resultat von drei probo, null non probo und vier abstineo ein „-“ bekam. Vgl. zu der Frage, welches Abstimmungsverhältnis vorliegen musste, damit der Beurteilte entsprechend der Vorgabe des Bayernkonkordats als von Episkopat beziehungsweise Domkapitel vorgeschlagen und „bezeichnet“ gelten konnte, auch Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 609. 210
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ihn unerheblich. Zwar stellte er fest, dass Höcht und Kumpfmüller auf der Regensburger Liste von 1926 standen. Doch handelte es sich dabei um nicht mehr als eine nachträgliche und eher belanglose „Vergewisserung“ über die beiden Geistlichen, die er aus den Bischofslisten herauskristallisiert hatte. b) Sodann gab es eine Person, die Pacelli selbst informell und aus eigenem Antrieb befragte: den Jesuitenprovinzial Hayler. Dem Jesuiten, der wiederum vermittelst Conpatres eigene Nachforschungen anstellte, traute er ein sachgemäßes Urteil über die Grundkriterien Theologie und Priesterausbildung zu. Interessant ist, dass Pacelli den Provinzial nur zu Eberle, nicht jedoch zu Höcht und Kumpfmüller konsultierte. Der Grund dafür ist klar: Diese beiden hatte er zuvor auf Basis des doppelten Kriteriums ausgewählt, das heißt, er war sich dessen bereits sicher und musste sich nicht mehr bestätigen lassen, dass sie in dieser Hinsicht genügten. c) Drittens lassen sich „Informanten“ ansprechen, die sich ohne Aufforderung an den Kardinalstaatssekretär wandten:754 Zum einen handelte es sich dabei um den Augsburger Domprediger Birner – der Postweg verlief hier über die doppelte Vermittlung eines anonymen Generalprokurators und des Substituten Ottaviani –, zum anderen um den Papierfabrikanten Haindl, der sich der Vermittlung des päpstlichen Geheimkämmerers und Industriellen Cramer-Klett bediente. Dieser, den Pacelli aus seiner Münchener Zeit gut kannte und dessen Romverbundenheit er wohlwollend betrachtete,755 schaltete sich häufiger in kirchliche und kirchenpolitische Angelegenheiten ein.756 Was die Relevanz dieser Eingaben anbelangte, so lässt sich letztlich nur das wiederholen, was bereits zur Sedisvakanzliste gesagt wurde: Im Endeffekt blieben sie in ihrem Votum für Eberle wirkungslos, wenngleich sie Pacellis anfängliche Bestrebung, diesen für den vakanten Bischofsstuhl in Betracht zu ziehen, verstärkt haben mögen. d) Als letzte Gruppe sind jene Ratgeber anzuführen, deren Urteile Pacelli indirekt erreichten, nämlich zum einen der Karmelitenprior Paulinus, von dem Vassallo ein Zeugnis über Höcht und Kumpfmüller einholte, und zum anderen die Jesuiten Fritz und Hofmann, deren Voten aus dem Kontext des Regensburger Besetzungsfalls durch die Akten des Staatssekretariats präsent waren. Während
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Einfügen lassen sich in diese Kategorie auch die in Bd. 3, Kap. II.2.4 Anm. 695 und 696 genannten, letztlich unbedeutenden Eingaben. Im Jahr 1919 bezeichnete ihn Pacelli als einen „Signore ottimo sotto ogni riguardo ed attaccattissimo alla S. Sede“. Pacelli an Gasparri vom 18. August 1919, ASV, Segr. Stato, Anno 1919, Rubr. 255, Fasz. 2, Fol. 123r. Zum Beispiel setzte er sich zweieinhalb Jahre nach dem Augsburger Fall für den Tübinger Dogmatiker Karl Adam ein, dessen zentrale Werke im Heiligen Offizium geprüft wurden und deren Indizierung man fürchtete. Vgl. Cramer-Klett an Pacelli vom 11. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 598 P.O., Fasz. 107, Fol. 20r–21r. Vgl. zu den römischen Zensurverfahren gegen Adam Hülsbömer, Adam. 211
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der Karmeliter „nur“ die bereits bestehende Kandidatur Höchts und Kumpfmüllers stützen konnte, ist es leicht denkbar, dass die Jesuiten auch Pacellis Kandidatenauswahl beeinflussten (vgl. Nr. 1). 5. Zur Rolle Piusʼ XI. in dieser causa geben die Quellen so gut wie keinen Aufschluss. Vielmehr tritt ausschließlich der Kardinalstaatssekretär als maßgebende römische Instanz in Erscheinung. Bei ihm liefen nicht nur qua Amt die organisatorischen Fäden zusammen, sondern er traf auch die zentralen Entscheidungen. Insbesondere an Pacellis Weisung von Ende Juli wird das ersichtlich: Er zog aus den vorgebrachten Verdächtigungen den Schluss – so schrieb er –, dass Eberle für das Bischofsamt nicht infrage kam, er suchte mit Höcht und Kumpfmüller zwei Alternativkandidaten aus den Triennallisten, über die Vassallo für seine Information Erkundigungen einziehen sollte. Pacelli betrieb die Kandidatensondierungen und bestimmte den künftigen Augsburger Oberhirten. Auch sachlich lag das nahe: Er kannte nicht nur viele der vorgeschlagenen Geistlichen aus persönlicher Erfahrung,757 sondern auch den bayerischen Episkopat als die – für ihn – wesentliche Proponentengruppe (vgl. Nr. 4) und wusste ebenfalls „gründlich“ über die Diözese Augsburg Bescheid, wie Vassallo vielsagend schrieb. Diese starke Position Pacellis wirkte sich auch auf sein Verhältnis zum Nuntius aus: Vassallos klarem Votum für Eberle traute er nicht, sondern stellte ohne Vermittlung und Wissen der Nuntiatur eigene Nachforschungen in München (!) an. Er war also mit Vassallos Wertung nicht zufrieden und fand, dass dieser sich über die wesentlichen episkopablen Kriterien nicht ausreichend vergewissert hatte. Anstatt ihm die eigene Skepsis zu demonstrieren und den Auftrag zu erteilen, in dieser Hinsicht nachzubessern, übernahm er diese Aufgabe von Rom aus lieber gleich selbst. Damit ging er detailliert wie ein Nuntius vor Ort der Sache nach, war letztlich akribischer als Vassallo und legte andere Maßstäbe bei der Auswahl der Bischofskandidaten an, was sich auch im Umgang mit dem moralischen dubium Eberles zeigt. Vassallo hatte die Tatsache ignoriert oder zumindest übersehen, dass der Kapitelsvikar vom Episkopat als Kandidat explizit ausgeschlossen worden war und selbst nachdem er vom Zweifel an Eberles Integrität erfahren hatte, revidierte er sein positives Urteil nicht. Pacelli hingegen war unerbittlich, blockte die Auffassung des Nuntius ab und suchte kurzerhand nach alternativen Kandidaten. Dass er Vassallo nicht um Vorschläge bat, verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Erst nachdem er zwei Anwärter gefunden hatte, bezog
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Es wurde bereits deutlich, dass das Abstimmungsergebnis der bischöflichen Triennalliste von 1929 nicht allein für die Einsortierung der Kandidaten in die Favoritengruppe verantwortlich war und überhaupt nicht sein konnte (vgl. Nr. 1/4). Ohne persönliche Kenntnis (oder zumindest dem Studium weiterer Gutachten) wäre es zum Beispiel gar nicht möglich gewesen, Preysing dort einzugruppieren und die besser bewerteten Hindringer oder Ritzer zu übergehen. Diese persönliche Kenntnis – im Falle Preysings sogar Vertrautheit – besaß Pacelli im Gegensatz zu Pius XI., der damit nicht oder zumindest nicht in annähernd äquivalentem Maße aufwarten konnte. Daher war es dem Papst schon von den Voraussetzungen her nicht möglich, die Kandidatensondierungen in der Art vorzunehmen, wie sie – von Pacelli – vorgenommen wurden. 212
II.2.5 Eichstätt 1932 II.2.5 Eichstätt 1932
II.2.5 Eichstätt 1932
er ihn mit ein und erteilte die Anweisung, Gutachten einzuholen und die eigene Meinung zu äußern. Über eine reine Vermittlerrolle kam der päpstliche Gesandte erst hinaus, als Pacelli seiner Präferenz für Kumpfmüller folgte, wobei man die Bedeutung von Vassallos Meinung für die Entscheidung des Kardinalstaatssekretärs nach dem Gesagten wohl eher gering veranschlagen muss.
II.2.5 Von römischer „Voreingenommenheit“: Eichstätt 1932 (Konrad Graf von Preysing)758 Der Tod von Bischof Leo von Mergel und die Bischofskandidaten des Domkapitels Als Bischof Leo von Mergel, ehemals Benediktinerabt und einziger Religiose unter dem bayerischen Diözesanepiskopat, der 27 Jahre dem mittelbayerischen Bistum Eichstätt vorstand, nach einer kurzen Krankheit am 20. Juni 1932 starb, bahnte sich die dritte Bischofseinsetzung in Bayern seit dem Abschluss des Konkordats von 1924/25 an. Nachdem das Eichstätter Domkapitel noch am selben Tag seinen Dekan, Karl Kiefer, zum Kapitularvikar gewählt hatte,759 trat es am 26. Juni erneut zusammen, um entsprechend der konkordatären Vorschrift (Artikel 14 § 1)760 und dem Umsetzungsdekret „Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“761 von 1926 die geforderte Sedisvakanzliste geeigneter Nachfolgekandidaten aufzustellen.762 Die Wahlsitzung brachte als Ergebnis eine vier Geistliche umfassende Liste hervor, von denen alle aus dem Eichstätter Klerus, drei sogar aus dem eigenen Domkapitel stammten:763 758
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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Eichstätt 1932 Adam, Auseinandersetzung, S. 22f.; Ders., Konrad, S. 209; Knauft, Preysing (2003), S. 44f.; Schwerdtfeger, Konrad, S. 45–49; Speckner, Wächter, S. 75f.; Wolf, Papst, S. 65–68. Vgl. die Notifikation vom 20. Juni 1932, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 10 vom 28. Juni 1932. Eine Wahlanzeige für die Münchener Nuntiatur konnte in den vatikanischen Quellen nicht gefunden werden. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Der endgültige Modus der bayerischen Bischofseinsetzungen). Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1, 3). Um die Wahlversammlung durchzuführen, gewährte das genannte Dekret maximal 15 Tage vom Beginn der Sedisvakanz an (Nr. 2). Vgl. Sedisvakanzliste des Eichstätter Domkapitels vom 26. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 26r–27r. Bei der Sitzung anwesend waren neben Dekan Kiefer, Dompropst Georg Wohlmuth und die Kapitulare Willibald Regnath, Joseph Schielle, Klemens Wagner, Franz Xaver Hacker, August Horstmann, Ludwig Bruggaier, Franz Xaver Buchner und Matthias Lederer. Damit war das Kapitel vollzählig versammelt. 213
II.2.5 Eichstätt 1932
1. Ludwig Bruggaier (Domkapitular in Eichstätt) 2. Karl Kiefer (Domdekan in Eichstätt) 3. Matthias Lederer (Domkapitular in Eichstätt) 4. Michael Rackl (Regens der Priesterseminars in Eichstätt)
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Diese Kandidatenaufstellung war alles andere als eine Innovation, wenn man sie mit den Triennallisten vergleicht, die das Domkapitel seit 1926 angefertigt hatte.765 Auf allen drei Listen (1926, 1929 und 1932) waren jeweils sämtliche vier Namen zu finden (Ausnahme war lediglich die Liste von 1929, auf der Lederer fehlte). Wenn man bedenkt, dass die Domherren erst Ende Mai und damit knapp vier Wochen vor der Sedisvakanzliste die Triennalliste von 1932 aufgestellt hatten, überrascht diese Beobachtung zumindest für diese letzte Liste nicht. Bruggaier hatte sich seit dem ersten Syllabus von 1926 (sechs Ja-Stimmen bei zwei Enthaltungen) stetig verbessert, sodass er auf der 32er-Liste als Favorit des Kapitels mit acht Ja-Stimmen und einer Ablehnung sowie auf der aktuellen Sedisvakanzliste mit acht Ja-Stimmen und einer Enthaltung auf dem ersten Platz rangierte. Eine ähnlich gute Entwicklung machte Domdekan Kiefer durch, dessen Ergebnis der Sedisvakanzliste exakt mit dem der Triennalliste aus diesem Jahr übereinstimmte. Absteigend war der Trend bei Rackl: Hatte er 1926 noch fulminant mit neun positiven Voten die Liste angeführt und drei Jahre später ebenfalls die Wahl mit acht zu eins Stimmen gewonnen, so war er nun auf ein eher durchschnittliches Ergebnis von sechs Mal probo und je zwei Mal non probo beziehungsweise abstineo (auf der Triennalliste drei Mal non probo bei nur einer Enthaltung) abgerutscht. Auch Lederer, der 1926 noch ein katastrophales Ergebnis von sieben ablehnenden Voten erhalten hatte, musste im Vergleich zum mittelmäßigen Ergebnis der Triennalliste von 1932 (sechs Ja-Stimmen bei drei Nein-Stimmen) Federn lassen. Der Kapitelsvikar sandte die versiegelten Wahlunterlagen am nächsten Tag – dem 27. Juni – an die Münchener Nuntiatur, von wo Vassallo ein Exemplar der Liste am 30. des Monats an Kardinal-
Die abweichende Stimmenzahl erklärt sich daraus, dass Rackl im Gegensatz zu den Erstgenannten kein Mitglied des Domkapitels war. Wenn die eigene Person zur Wahl stand, verzichteten die Domkapitulare gemäß Nr. 11 e) des Ausführungsdekrets darauf, ihr Votum abzugeben. Bei der Person Rackls gab es diese Einschränkung nicht. 765 Vgl. Bd. 4, Anhang 1.2.2. 764
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II.2.5 Eichstätt 1932
staatssekretär Pacelli weiterschickte.766 Weil der Nuntius die Kuverts nicht öffnete, kannte er den Wahlausgang nicht und konnte daher auch keine Stellungnahme abgeben.
Helds Fürsprache für Bruggaier Nicht allein das Eichstätter Domkapitel wünschte sich Bruggaier als neuen Diözesanbischof. Unterstützung erhielt der Genannte auch von staatlicher Seite: Der kirchennahe bayerische Ministerpräsident Held trug Mitte Juli dem diplomatischen Vertreter Bayerns beim Heiligen Stuhl, Otto Freiherr Ritter zu Groenesteyn, auf, „dem Herrn Kardinalstaatssekretär mein lebhaftes Interesse für die Wiederbesetzung dieses Bischofsstuhles [sc. von Eichstätt, R.H.] zu bekunden und ihn wissen zu lassen, dass ich, ganz unabhängig von irgendwem, für den geeignetsten und kirchlich erfreulichsten Kandidaten den Herrn Domkapitular Dr. Bruggaier erachte“767. Dieser sei hochgelehrt, gleichzeitig praktisch veranlagt und werde als Seelsorger sehr geachtet, „ein Mann von feinster Erziehung und von feinstem Schliff “768. Darüber hinaus stehe er im leistungsfähigsten Alter – Bruggaier war Jahrgang 1882, also 50 Jahre alt. Held bekundete, Bruggaier persönlich zu kennen und glaubte daher fundiert urteilen zu können, in ganz Bayern von keinem Priester zu wissen, „der in höherem Maße einem Bischofsstuhl zur Zierde gereichen könnte“769. Von Geburt an gehöre Bruggaier zum Bistum Eichstätt und habe hier seine gesamte Laufbahn in der Lehre, Seelsorge und Verwaltung absolviert. Diese tiefe Verwurzelung betrachtete der Ministerpräsident als ein wichtiges Plus des Domkapitulars im Rennen um die Nachfolge des verstorbenen Mergel. Obwohl Held bekräftigte, mit seinem Personalvorschlag einzig die diözesanen Interessen zu vertreten – er wusste, um die breite Zustimmung Bruggaiers im Bistum, die sich ja auch in der Sedisvakanzliste des Domkapitels niedergeschlagen hatte –, witterte Ritter die Gefahr, die mit dieser Eingabe verbunden war. Seit dem Konkordat von 1924 stand der bayerischen Regierung kein aktives Mitbestimmungsrecht in der Bestellung der Bischöfe mehr zu. Es blieb ihr nur das politische Bedenkenrecht. Der bayerische Gesandte ließ in seinem Brief an den Kardinalstaatssekretär, mit dem er die Petition Helds weiterleitete, deutlich durchblicken, dass dieselbe als versuchte, 766
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Vgl. Kiefer an Vassallo vom 27. Juni 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 45r; Vassallo an Kiefer vom 1. Juli 1932 (Entwurf), ebd., Fol. 46r; Vassallo an Pacelli vom 30. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 36r. Held an Ritter vom 16. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 32r–33r (nur r), hier 32r. Held an Ritter vom 16. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 32r. Held an Ritter vom 16. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 32r. 215
II.2.5 Eichstätt 1932
ungehörige Einmischung ausgelegt werden könnte.770 Daher versicherte er, dass dem Ministerpräsidenten, „nichts ferner [liegt], als sich der Kirche gegenüber ein Recht anzumaßen, das ihm nicht zusteht“771. Das Votum für Bruggaier sollte von Pacelli daher nur als eine eventuell hilfreiche Dienstleistung verstanden werden.
Drei mögliche Geistliche für den Bischofsstuhl des heiligen Willibald Welchen Einfluss hatten die Sedisvakanzliste des Domkapitels und das Votum Helds mit ihrer jeweiligen Präferenz für Bruggaier auf die römische Entscheidungsfindung? Nach einer Bedenkzeit von vier Wochen – seitdem Vassallo die Kapitelsliste nach Rom gesandt hatte – beziehungsweise von neun Tagen – seitdem der bayerische Gesandte die Eingabe Helds weitervermittelt hatte – meldete sich Pacelli in dieser Angelegenheit zu Wort.772 Am 27. Juli legte er dem Nuntius einige Namen von Geistlichen vor, die er in die engere Auswahl zog und über die Vassallo weitere Informationen liefern sollte. Aufschlussreich ist es, den Entwurf dieser Weisung, der am 23. Juli angefertigt wurde, mit den am Text vorgenommenen Korrekturen für die Ausfertigung zu vergleichen.773 Zunächst hieß es, dass der Heilige Stuhl besonders zwei Geistliche für den vakanten Bischofsstuhl in Eichstätt in Aussicht genommen habe: Einerseits Konrad Graf von Preysing, Domkapitular in München, und andererseits niemand anderen als Bruggaier, der – wie es im Entwurf lautete – „von seinen Kollegen [sc. im Domkapitel, R.H.] die größte Anzahl der Stimmen erhalten hat“774. Diese Begründung, die für die Ausfertigung des Schreibens wieder gestrichen wurde, zeigt, dass die Sedisvakanzliste für Pacelli kein bedeutungsloses Blatt Papier blieb. Ob die Für-
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Vgl. Ritter an Pacelli vom 18. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 29r–30r. Ritter an Pacelli vom 18. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 29v. Um jeden Anschein von staatlicher Ingerenz zu vermeiden, bat Ritter Pacelli überdies, ihm das Schreiben Helds später zurückzugeben, „damit es nicht in die jenseitigen Akten gelange und eventuell einmal falsch ausgelegt werde“, ebd., Fol. 29v. Wie die Überlieferung in der AES belegt, ist die Rückgabe des Dokuments nicht erfolgt. Bereits am 6. Juli hatte der Kardinalstaatssekretär den Domherren im Namen des Papstes ein Kondolenzschreiben übermittelt. Vgl. Pacelli an Kiefer vom 6. Juli 1932, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 11 vom 21. Juli 1932. Der maschinenschriftliche Entwurf wurde anschließend handschriftlich von Pizzardo korrigiert. Wie der Stempel „Firma Sua Eminenza“ auf dem ersten Blatt belegt, gab Pacelli die entsprechenden Anweisungen. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 27. Juli 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 28rv. „… ha riportato dai suoi colleghi il numero maggiore di voti.“ Pacelli an Vassallo vom 27. Juli 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 28v. 216
II.2.5 Eichstätt 1932
sprache des bayerischen Ministerpräsidenten, die an dieser Stelle nicht genannt wurde, mit dafür gesorgt hatte, dass Bruggaier in die engere Auswahl kam, kann vermutet werden. Dafür spricht jedenfalls, dass Pacelli sich von Vassallo insbesondere Auskünfte über Bruggaier wünschte, weil er diesen kaum kenne.775 Dieser Hinweis, der übrigens auch nicht in die Ausfertigung übernommen wurde, legt die Überlegung nahe, dass Pacelli ohne Sedisvakanzliste und Helds Petition nicht auf die Idee gekommen wäre, den Domkapitular in Betracht zu ziehen. Zu Preysing bemerkte Pacelli hingegen, dass ihm dieser, wie Vassallo wisse, gut bekannt sei.776 Auch diese Anmerkung, die den Staatssekretär ähnlich wie zuvor bei Bruggaier deutlich als Personalentscheidungsinstanz indiziert, wurde aus dem Text wieder gestrichen, wohl auch deshalb, weil sie die Bitte an den Nuntius, über die Kandidaten Informationen zu liefern, überflüssig gemacht hätte. Nach Abfassung des Entwurfs vergingen vier Tage, bis Pacelli den Text von Pizzardo korrigieren ließ. Neben den erwähnten Streichungen fügte er auch etwas ein, nämlich den Namen eines weiteren Kandidaten, eine dritte Option für den Eichstätter Bischofsstuhl: den Generalvikar von Regensburg, Johann Baptist Höcht. Nähere Anmerkungen zu ihm machte Pacelli nicht. Während der Grund für die Nominierung Bruggaiers deutlich aus dem Textentwurf hervorgeht, wird die Wahl der beiden anderen erst vor dem Hintergrund einleuchtend, dass sowohl Preysing als auch Höcht zu Pacellis episkopabler Favoritengruppe „++“ gehörten, die er 1930 im Kontext des Augsburger Besetzungsfalls auf Basis der bischöflichen Triennalliste von 1929 zusammengestellt hatte.777 Aus der Nennung Preysings an erster Stelle kann außerdem eine Präferenz Pacellis für den Münchener Domkapitular abgelesen werden, der ihm seit vielen Jahren ein enger Vertrauter war. Die Nachnominierung Höchts verdeutlicht hingegen, dass dieser für ihn letztlich nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Pacellis Kandidatentrias auf den Triennallisten Was der Kardinalstaatssekretär in der Weisung nicht – auch nicht im Entwurf – erwähnte, waren die bayerischen Triennallisten.778 Diese konstituierten mit der Sedisvakanzliste des Domkapitels den Kandidatenfundus, aus dem der neue Bischof ernannt werden musste. Von den bischöflichen 775
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Vgl.: „Nel rendere di ciò informata lʼEccellenza Vostra, La prego di volere assumere le informazioni del caso, particolarmente sul Canonico Bruggaier, che poco conosco …“ Pacelli an Vassallo vom 27. Juli 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 28v. Hervorhebung R.H. Vgl.: „Il Rev.mo Dr. Konrad Preysing, Canonico di cotesta Capitolo Metropolitano, che comʼElla sa, mi è bene noto …“ Pacelli an Vassallo vom 27. Juli 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 28r. Hervorhebung R.H. Vgl. dazu ausführlich Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1). Vgl. Bd. 4, Anhang 1.2. 217
II.2.5 Eichstätt 1932
Triennallisten kommen an dieser Stelle nur die von 1926 und 1929 in Betracht. Die im laufenden Jahr 1932 vom bayerischen Episkopat anzufertigende Liste existierte zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht.779 Die Listen der Domkapitel hingegen lagen seit wenigen Tagen vollständig in der Kurie vor. Welchen Stand hatten die drei von Pacelli proponierten Geistlichen auf diesen Vorschlagslisten? Preysing war von den Bischöfen jeweils mit fünf Ja-Stimmen bei einer Ablehnung und einer Enthaltung als episkopabel deklariert worden. Im Wahlprotokoll von 1926 charakterisierten ihn die Bischöfe knapp als „sittenstreng“, als „von Nuntius Pacelli sehr hoch geschätzt“780 sowie als jemanden mit Qualitäten in der Predigt und als Schriftsteller. War es hier womöglich bereits Kardinal Faulhaber gewesen, der auf die enge Bekanntschaft Preysings mit Pacelli hinwies, so trat er drei Jahre später zusammen mit Ehrenfried von Würzburg erneut als Fürsprecher des Grafen auf:781 „Der Bischof von Würzburg führt seine Rechtschaffenheit an und hält ihn für überaus geeignet, weil er schon als Sekretär der [bayerischen, R.H.] Gesandtschaft in Rom war, später Sekretär von Kardinal von Bettinger, Münchener Domprediger. Kardinal Faulhaber fügt seine Sittenredlichkeit hinzu. In der Seelsorge und in Verwaltungsangelegenheiten ist er unermüdlich.“782
Darüber hinaus wurde Preysing vom Metropolitankapitel München und Freising, seinem Heimatbistum, auf allen drei Listen genannt, freilich nicht mit überragenden Ergebnissen: 1926 überwogen mit fünf zu drei die Nein-Stimmen (plus zwei Enthaltungen). Auf den beiden folgenden Listen erzielte Preysing ein besseres Resultat mit jeweils sechs Mal probo, einmal non probo und drei Mal abstineo. Negativ war die Bilanz außerdem auf der 26er-Liste von Speyer (drei zu fünf 779
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Sie wurde am 6. September 1932 auf der Herbstvollversammlung in Freising angefertigt und am 20. Oktober von Vassallo an das römische Staatssekretariat übersandt. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 20. Oktober 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 41r. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 53r. Auf einem anderen Blatt steht, dass Preysing selbst – zumindest früher – dem Münchener Erzbischof distanziert gegenüberstand, wenn er 1917 die Promotion Faulhabers von Speyer in die bayerische Landeshauptstadt mit der Begründung ablehnte, „die Führung seiner Diözese [lasse] nachhaltig zu wünschen übrig“. Zedler, Bayern, S. 311. Klaus Unterburger erklärt die auf Basis von Preysings späteren Berufungen zum Domprediger beziehungsweise -kapitular „dann also doch zu konstatierende erzbischöfliche Protektion“ mit der engen Verbindung des Grafen mit Pacelli. Unterburger, Friedensverhandlungen, S. 57. In diese plausible Auffassung fügt sich haargenau das Bild der genannten Triennalliste, wenn dort die Tauglichkeit Preysings von Pacellis Hochschätzung abgeleitet wird. „Episcopus Herbipolensis eius probitatem affert et eum versatissimum credit, quia iam Romae secretarius Legationis erat, postea secretarius Cardinalis de Bettinger, praedicator ecclesiae Cathedralis Monacensis. Cardinalis Faulhaber eius morum probitatem addit. In cura animarum et in rebus administrationis eum indefessum esse.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 4r–9r, hier 6v–7r. 218
II.2.5 Eichstätt 1932
bei zwei Enthaltungen) und der 29er-Liste von Passau (zwei zu vier bei vier Enthaltungen). Damit konnte Pacelli als Resonanzgrundlage für die Wahl Preysings nur die Voten der Bischöfe und die beiden letzten Abstimmungen des Münchener Metropolitankapitels heranziehen. Vom starken Votum des Eichstätter Domkapitels für Bruggaier war oben schon die Rede. Ansonsten tauchte der Domkapitular nur auf der bischöflichen Triennalliste von 1929 auf, mit einem mittelmäßigen Ergebnis von drei befürwortenden gegenüber null ablehnenden Stimmen bei allerdings immerhin vier Enthaltungen. Mergel, sein Ordinarius, bemerkte damals, dass Bruggaier ein erfahrener Kanonist und sein Lebenswandel gewissenhaft und tadellos sei. Allerdings attestierte er ihm auch, außerordentlich ehrgeizig zu sein – eine negative Einschätzung, der sich Ehrenfried anschloss. Der Bamberger Erzbischof Hauck hob die Leutseligkeit des Domkapitulars lobend hervor. Im Grunde genommen ähnlich sah es mit der Unterstützung für den drittgenannten Höcht aus: Rückhalt erhielt dieser vornehmlich im eigenen Bistum Regensburg. In der Abstimmung des dortigen Kapitels von 1926 erreichte er vier Ja-Stimmen, keine Nein-Stimme und zwei Enthaltungen. Da die Regensburger Kapitulare in den folgenden beiden Jahrgängen keine Triennallisten anfertigten, lässt sich nur noch auf die Sedisvakanzliste von 1927 verweisen, auf der Höcht zu einem mittelmäßigen Resultat mit vier Mal probo, einmal non probo und vier Mal abstineo kam.783 Genau wie Bruggaier wurde Höcht ansonsten nur 1929 von den Bischöfen in Erwägung gezogen, als er wiederum vier positive Voten erhielt, bei null Nein-Stimmen und drei Enthaltungen. Der ehemalige Alumne des römischen Germanicums erhielt Unterstützung vor allem vom Regensburger Oberhirten Buchberger, der ihn als „hervorragend“ qualifizierte, sowie von Ehrenfried, der Höcht „Anständigkeit, Schlichtheit des Herzens, Treue und Zuverlässigkeit gegenüber der Kirche und dem Bischof “784 zusprach. Schlussendlich kann man festhalten, dass keiner der drei von Pacelli ausgewählten Kandidaten triumphale Abstimmungserfolge vorzuweisen hatte. Während für Bruggaier die Zustimmung im eigenen Bistum sehr hoch war, hatte Preysing ein insgesamt ordentliches Ergebnis, das insbesondere auf den Listen des Episkopats fußte, keineswegs jedoch durch breite Unterstützung der bayerischen Domkapitel herausragte. Der von Pacelli als Kandidat nachgeschobene Höcht hingegen war, die numerische Komponente der Vorschlagslisten zugrunde gelegt, klarer Außenseiter. 783 784
Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Sedisvakanzliste des Domkapitels). Vgl.: „Episcopus Ratisbonensis eum laudat utpote virum excellentissimum … Doctor Romanus, in Collegio Germanico Romae instructus. – Episcopus Herbipolensis tradit, eum probitate, simplicitate cordis, fide et fidelitate erga ecclesiam et episcopum praecellere.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 6r. 219
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Vassallo über Pacellis Kandidaten Die von Pacelli gewünschte Begutachtung der Kandidatentrias durch den Münchener Nuntius ließ drei Wochen auf sich warten. Mitte August hatte Vassallo dann alle Informationen zusammengetragen, um seinem Vorgesetzten die Kenntnisse zu liefern, die seiner Ansicht nach für eine Entscheidung hilfreich waren.785 Bei Preysing lobte der Nuntius die adlige Familie, die Frömmigkeit und Intelligenz der Mutter, die Kultiviertheit der Schwester, die im „Geruch der Heiligkeit“786 gestorben sei, sowie die beiden Brüder, welche als Pfarrer ebenfalls eine geistliche Laufbahn eingeschlagen hatten. Darauf skizzierte Vassallo die biographischen Stationen des 1880 geborenen Grafen, angefangen bei dessen Rechtsstudien in München und anschließender Amtszeit als Attaché bei der Bayerischen Gesandtschaft in Rom über dessen Umschwenken auf die klerikale Karriere mit den philosophisch-theologischen Studien bei den Innsbrucker Jesuiten und dem Sekretärsdienst beim Münchener Erzbischof Bettinger bis hin zur aktuellen Position als Domkapitular: „Als frommer und fleißiger Priester hat er mit Lob das Amt des Predigers der Erzdiözese [sc. München und Freising, R.H.] ausgeübt, wie auch das des Offizials der Diözesankurie, in der er sich durch die Beherrschung des kanonischen wie des Zivilrechts auszeichnet und durch kirchlichen Geist, von dem er beseelt ist und der ihn in Diskussionen trägt, um immer die Rechte der Kirche gegenüber jenen des Staates und den kirchlichen Standpunkt zu verfechten. Aus demselben Grund verehrt Preysing besonders den Papst und ist gehorsam gegenüber dem päpstlichen Repräsentanten in München.“787
In wissenschaftlich-theologischer Hinsicht habe sich Preysing besonders mit den Kirchenvätern beschäftigt sowie aszetische Werke des Oratorianerpaters Frederick William Faber aus dem Englischen übersetzt – Vassallo nannte die Abhandlung „Schöpfer und Geschöpf “788. In der erzbischöflichen Kurie trete der päpstliche Ehrenkämmerer als „ein guter Wächter der Moral und
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Vgl. Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 36r–37v. „… odore di santità …“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932– 1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 36r. „Sacerdote pio e laborioso ha disimpegnato con lode lʼufficio di predicatore di questa metropolitana, come pure quello di officiale della Curia diocesana nel la quale si distingue pel possesso del Diritto canonico e civile, e per lo spirito ecclesiastico ondʼè animato, e che lo porta nelle discussioni a sostenere sempre i diritti della Chiesa di fronte a quelli dello Stato e il punto di vista ecclesiastico. Pel medesimo motivo il Preysing venera particolarmente il Sommo pontefice ed è ossequente alla Rappresentanza Pontificia in Monaco.“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 36v. Vgl. Faber, Schöpfer. 220
II.2.5 Eichstätt 1932
Disziplin des Klerus“789 auf, für die er sich auch privat einsetze. Daher habe der Graf mit seinen beiden Brüdern innerhalb des Klerus den Ruf des Adels gehoben. Preysing besitze einen Charakter, der Vertrauen in seine zukünftigen Tätigkeiten wecke. Größter Beachtung erfreue er sich in der „Deutschen Adelsgenossenschaft“, im Klerus der Erzdiözese sowie ganz besonders beim Oberhirten Faulhaber. Domkapitular Bruggaier, 1882 geboren und 1905 zum Priester geweiht, sei später Mitglied der „Gesellschaft für fränkische Geschichte“, Professor für Katechetik an der Eichstätter Hochschule, wo er gut auf die Jugend eingewirkt habe, und schließlich bischöflicher Schulkommissar geworden. Die Ämterlaufbahn wurde in Vassallos Darstellung komplettiert durch den Posten des Bischofssekretärs, des Domvikars und des Herausgebers des „Klerusblattes“. Für bemerkenswert hielt Vassallo zudem, dass Bruggaier in Rom ein Jahr kanonisches Recht studiert, die Studien jedoch in Deutschland, „wahrscheinlich an der Universität Tübingen“790, vollendet habe. Aus dieser Mutmaßung geht nicht hervor, ob Vassallo hier gesicherte Informationen nicht einholen konnte oder nicht einholen wollte. Damit war der Nuntius in seiner Darstellung jedenfalls schon bei der Wertung angekommen, die freilich auf ganzer Linie positiv ausfiel: „Seit seiner Jugend hat er sich tätig im heiligen Dienst gezeigt und sich die Achtung des Klerus wie der Öffentlichkeit in den verschiedenen Ämtern, die er bekleidete, verdient durch sein Leben ohne Schatten, durch sein gutes äußeres Benehmen und durch seine höflichen Manieren. Resultat der allgemeinen guten Meinung, derer er sich in der Diözese erfreut, ist die Stimme, die ihn für einen Kandidaten des Bischofsamtes hält.“791
Ebenso wie Held verbuchte es auch Vassallo als Plus, dass Bruggaier die diözesanen Traditionen, das Priesterseminar und die theologische Fakultät in Eichstätt bestens kenne. Für die Einschätzung Höchts schließlich verwies der Nuntius auf sein vorbehaltlos positives Exposé, das er dem Kardinalstaatssekretär anlässlich der Augsburger Sedisvakanz 1930 vorgelegt hatte.792 Diesem früheren Votum fügte Vassallo nun eine kürzliche Bemerkung des Augsburger Oberhirten Kumpfmüller hinzu: „Der ehrwürdige Dr. Johann Höcht ist mir durch viele Jahre bekannt als ein frommer, gelehrter und tüchtiger Priester, der durch 15 Jahre hindurch das Pries789
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„… buon custode della moralità e disciplina del clero …“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 36v. „… probabilmente nellʼUniversità di Tubinga.“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 37r. „Fin da giovane si è mostrato attivo nel sacro ministero e si è guadagnata la stima del clero come del pubblico nei vari uffici sostenuti per la sua vita senza ombra, pel suo esteriore buon contegno e per le sue cortesi maniere. Effetto della generale buona opinione di che gode nella diocesi si è la voce che lo ritiene candidato al vescovado.“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 37r. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.4 (Vassallos Informationsbeschaffung). Vgl. auch Vassallo über Höcht vom 22. August 1930 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 38rv. 221
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terseminar von Regensburg gut und stark leitete, der kirchliche Ehren nicht begehrt, sondern mir völlig geeignet zu sein scheint, den bischöflichen Stuhl von Eichstätt zu besteigen.“793 Mit diesem Schlusswort hatte der Nuntius alle drei Kandidaten als episkopabel und tauglich deklariert, die Nachfolge Mergels als Bischof von Eichstätt anzutreten. Ein zumindest quantitatives Übergewicht in der Darlegung genoss Preysing, obgleich Pacelli von diesem die beste Kenntnis besaß. Nun kam es dem Heiligen Stuhl zu, aus der Trias den neuen Oberhirten auszuwählen.
Die Ernennung Preysings zum Bischof von Eichstätt, staatliche Indiskretion und die Rüge des Nuntius Die endgültige Entscheidung fiel in der Audienz des Kardinalstaatssekretärs bei Pius XI. am 26. August. Pacelli notierte sich aus dem Gespräch: „Gewählt wurde Monsignore Preysing. An Freiherrn von Ritter schreiben, dass der Heilige Vater in dieser Sache schon voreingenommen war.“794 Letztlich waren die Sondierungen über Bruggaier und Höcht also nur pro forma gewesen – das aus der obigen Weisung bereits deutlich gewordene Präjudiz Pacellis für Preysing materialisierte sich in der „Voreingenommenheit“ des Pontifex. Am folgenden Tag legte Pacelli den Namen des Grafen dem Sanctum Officium zur Prüfung vor, das keinerlei negative Aktenvermerke über den Grafen vorzuweisen hatte.795 Damit stand der Nomination von Pacellis langjährigem Vertrauten und Freund nichts mehr im Wege. Allerdings war es Papst und Kardinalstaatssekretär aus diplomatischer Perspektive gelegen, sich beim bayerischen Ministerpräsidenten gewissermaßen zu entschuldigen, dass nicht dessen Favorit Bruggaier auf den Eichstätter Bischofsstuhl erhoben werden sollte. Und diese „Entschuldigung“ war für Pacelli so wichtig, dass er sie leistete noch bevor er die Wahl des Heiligen Stuhls dem Münchener Nuntius anzeigte. Er bedankte sich bei Ritter für den wohlgemeinten Kandidatenvorschlag, bemerkte aber, dass der Papst, „obwohl er die schönen Qualitäten der angezeigten Person [sc. Bruggaier, R.H.] zu schätzen weiß (der gegebenenfalls für die Zukunft im Gedächtnis behalten werden kann), mir antwortete, dass Er für den aktuellen Fall nun schon ‚voreingenommenʻ sei (dieses Wort 793
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„Rev. Dr. Joannes Höcht … mihi per multos annos notus est ut sacerdos pius, doctus et strenuus, qui per 15 annos rexit majus Seminarium Ratisbonense bene et fortiter, qui honores ecclesiasticos non appetit, sed mihi omnino habilis esse videtur ad sedem episcopalem Eystettensem adeundam.“ Vassallo an Pacelli vom 16. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 37r-v. „Eletto Mgr Preysing. Scrivere als Barone v. Ritter che il S.P. era già per questo caso voreingenommen [sic, R.H.].“ Audienznotiz Pacellis vom 26. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930– 1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 346, Fol. 49rv, hier 49v. Vgl. Pizzardo an Lottini vom 27. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 39r und Lottini an Pizzardo vom 29. August 1932, ebd., Fol. 40r. 222
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sagte Seine Heiligkeit auf deutscher Sprache),796 insofern er seinen Blick auf einen anderen sehr guten bayerischen Priester richtete, der, wiederholt von den Bischöfen und Kapiteln vorgeschlagen, durch seine ausgezeichneten Begabungen gewiss nicht verfehlen wird, auf wohlwollende Aufnahme zu treffen, auch von Seiten der Regierung“797.
Wer sich unter dem „sehr guten bayerischen Priester“ verbarg, verriet er dem bayerischen Gesandten allerdings noch nicht.798 Damit glaubte Pacelli, der diplomatischen Etikette Genüge getan zu haben und informierte Vassallo am Folgetag über die päpstliche Nomination Preysings.799 Dem Nuntius erteilte er den Auftrag, sub secreto Sancti Officii den Grafen nach seinem Einverständnis zu befragen. Bei positiver Antwort sollte Vassallo Preysings Ordinarius Faulhaber unterrichten und anschließend – entsprechend Artikel 14 § 1 des Konkordats – die bayerische Regierung offiziell in Kenntnis setzen. Innerhalb einer Woche erfüllte der Nuntius diese Aufgaben und telegraphierte in knappster Form an Pacelli, dass Preysing seine in persönlicher Audienz unterbreitete Ernennung akzeptiere, der Münchener Erzbischof unterrichtet sei und die Regierung keinerlei Einwände habe.800 Somit konnten die letzten Formalitäten erledigt werden: Pacelli beauftragte am 9. September Kardinal Rossi, den Sekretär der Konsistorialkongregation, die Ernennungsdokumente anfertigen zu lassen.801 Dieser Tag fungierte daher als amtliches Nominationsdatum.802
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Nach dem Zeugnis von Alois Hudal, dem langjährigen Rektor des römischen Priesterkollegs Santa Maria dellʼAnima, war es nicht ungewöhnlich, dass Pius XI. sich der deutschen Sprache bediente: „Er sprach geläufig deutsch und suchte förmlich gewählte deutsche Worte.“ Langer, Hudal, S. 256. „… pur apprezzando le belle qualità del soggetto indicato (che potrà eventualmente esser tenuto presenti in avvenire), mi rispose che per il caso attuale Egli ora già ‚voreingenommenʻ (questa parola fu da Sua Santità detta in lingua tedesca), avendo fissato le sue vedute su altro distinto sacerdote bavarese, che, ripetutamente proposto da Vescovi e da Capitoli, per le sue egregia doti non avrebbe certo mancato dʼincontrare favorevoli accoglienze, anche da parte del Governo.“ Pacelli an Ritter vom 30. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 35rv, hier 35r. Eine erste Textfassung des Schreibens an Ritter hatte zuvor Pizzardo entworfen. Dieser gab mehr Informationen über die römische Wahl preis. Neben dem Namen des electus sprach er zum Beispiel auch von einer wiederholten Unterstützung durch Episkopat und Domkapitel. Eine erste Korrektur dieses Entwurfs zeigt bereits die Tendenz, präzise Angaben aus dem Text zu eleminieren. Vgl. Textentwurf Pizzardos, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 34rv. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 31. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 41rv. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 7. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 42r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 9. September 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 43r. Vgl. AAS 24 (1932), S. 343. 223
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Am 12. September ließ Pacelli die Erhebung Preysings auf den bischöflichen Stuhl von Eichstätt in der Abendausgabe des „Osservatore Romano“ publizieren.803 Allerdings war die Identität des neuen Oberhirten zu diesem Zeitpunkt – zum Missfallen Pacellis – längst kein Geheimnis mehr. Schon drei Tage zuvor war der Name Preysings in der deutschen Presse zu lesen, beispielsweise in den „Münchner Neuesten Nachrichten“.804 Die Neuigkeit war im Anschluss an die Anfrage nach politischen Bedenken von Ministerpräsident Held aus in die Öffentlichkeit gesickert, weil man dort geglaubt habe – wie Vassallo am 14. des Monats nach Rom berichtete –, dass die Ernennung bereits offiziell sei.805 Der Nuntius reagierte sofort und schaltete am 10. September eine Pressemeldung im „Bayerischen Kurier“, in der er die Ernennungsanzeige als verfrüht deklarierte, weil noch die amtliche Bestätigung fehle.806 Er verzichtete nach eigenen Angaben jedoch darauf, beim Ministerpräsidenten eine Beschwerde über die Indiskretion vorzubringen, weil dieser soeben an Diabetes erkrankt sei. Damit rechtfertigte Vassallo gegenüber seinem Vorgesetzten die Absicht, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, wenngleich er versprach, das Thema beim nächsten Zusammentreffen mit Held anzusprechen.807 Doch auch die Regierung erkannte sofort das Versehen und publizierte eine Presseerklärung, in der es relativierend hieß, dass die „Ernennung des Grafen Preysing zum Bischof von Eichstätt durch den Papst … noch nicht erfolgt [ist], es ist aber sicher mit ihr zu rechnen“808. All dieser Presseerklärungen zum Trotz war das Geheimnis vor der Öffentlichkeit gelüftet. Die Notifikation der römischen Ernennung Preysings, die Vassallo dem Eichstätter Kapitularvikar Kiefer am
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Vgl. Pacelli an Vassallo vom 10. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 217r sowie die Publikationsnotiz ebd., Fol. 45r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 213 vom 12.–13. September 1932. Der Graf verfasste bereits zwei Tage später ein Ergebenheitsschreiben an den Kardinalstaatssekretär, in dem er bat, dem Papst seinen Dank für das entgegengebrachte Vertrauen auszurichten und darüber hinaus die ihm seit langem „bewiesene wohlwollende Gesinnung auch fernerhin zu bewahren“. Preysing an Pacelli vom 14. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 46r–47r (nur r), hier 47r. Vgl. „Der neue Bischof von Eichstätt“, in: „Münchner Neueste Nachrichten“ Nr. 245 vom 9. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 216r. Vgl. weitere Pressemeldungen, die Vassallo zur Kenntnis nahm, ebd., Fol. 214r, 215r, 218r und 223r–225r (nur r). Vgl. Vassallo an Pacelli vom 14. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 22r–23r. Vgl. „Die Besetzung des Bischofsstuhles in Eichstätt“, in: „Bayerischer Kurier“ Nr. 254 vom 10. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 219r. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 14. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 23r. „Der neue Bischof von Eichstätt“, in: „Bayerische Staatszeitung“ Nr. 209 vom 10. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 220r. 224
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12. September, dem offiziellen Publikationsdatum, zukommen ließ, war daher zu spät und stellte keine Neuigkeit mehr dar.809 Wie schon beiläufig erwähnt, erzeugte diese verfrühte Bekanntmachung des neuen Diözesanbischofs durch die staatliche Seite Ärger im Staatssekretariat. Auch mit der Reaktion Vassallos schien man dort unzufrieden, was sich an dem erneuten Unmut ablesen lässt, den die nachträgliche Presseerklärung des bayerischen Kultusministeriums heraufbeschwor. In dieser hieß es zur Erläuterung des 14. Artikels des Konkordats, dass „die Kirche vor der Publikation der Bulle über die Ernennung eines Bischofs mit der Staatsregierung in Verbindung treten, ihr von der beabsichtigten Ernennung Mitteilung machen und die Anfrage stellen muss, ob Erinnerungen obwalten“810. In Rom nahm man diesen Passus wahr, weil Vassallo ihn in seinem Bericht vom 14. September auf italienisch zitierte. Zwar hatte er dadurch die Regierung als einsichtig darstellen und ihren Fauxpas augenscheinlich entschärfen wollen. Doch gelang ihm letztlich das glatte Gegenteil, da er sich stattdessen eine Rüge Pizzardos einhandelte: „Eurer Exzellenz wird gewiss nicht entgangen sein, dass die veröffentlichte Erklärung in der ‚Bayerischen Staatszeitung‘ des Außenministeriums nicht in allem mit Artikel 14 des Konkordats übereinstimmt.“811 Zum einen monierte der Kuriale, dass darin von einer beabsichtigten Ernennung die Rede war, während zum Zeitpunkt der römischen Anfrage an die Staatsregierung zwecks politischer Klausel die Ernennung schon vollzogen sei. Zum anderen werde in der Presseerklärung nur allgemein von Erinnerungen gesprochen, während es doch tatsächlich bloß Erinnerungen politischer Natur seien, welche die Regierung geltend machen könne.812 Diese beiden, nach römischer Anschauung gravierenden Fehler, die der Nuntius hätte erkennen müssen, sowie die Veröffentlichung des neuen Bischofs durch die dafür nicht zuständigen staatlichen Stellen, war man in Rom nicht gewillt, einfach durchgehen zu lassen. Deshalb verlangte Pizzardo vom Nuntius in dieser Hinsicht eine Klarstellung: „In Übereinstimmung mit dem Verlangen des Heiligen Vaters bitte ich Sie, in der Form, die Sie für am geeignetsten halten, die oben ausgedrückten Bedenken an zuständiger Stelle vor809
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Vgl. Vassallo an Kiefer vom 12. September 1932 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 222r. Die Öffentlichkeit habe – so bemerkte Vassallo gegenüber Pacelli – die römische Ernennung Preysings zustimmend aufgenommen. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 14. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 23r. „Der neue Bischof von Eichstätt“, in: „Bayerische Staatszeitung“ Nr. 209 vom 10. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 220r. „A Vostra Eccellenza non sarà certamente sfuggito che la dichiarazione pubblicata nella ‚Bayerische Staatszeitungʻ da cotesto Ministero degli Esteri non è in tutto conforme allʼarticolo 14 del Concordato.“ Pizzardo an Vassallo vom 20. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 228rv, hier 228r. Vgl. zur Frage nach dem Umfang des staatlichen Bedenkenrechts die Debatte innerhalb der Konkordatsverhandlungen Bd. 3, Kap. II.2.1 (insbesondere Die Klärung der politischen Klausel und Die Debatte über den ersten römischen Konkordatsentwurf: Kritik an der politischen Klausel). 225
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zubringen und ich warne Sie vor, dass der ‚Osservatore Romano‘ auf Anweisung des Papstes den hier im Entwurf angefügten Artikel veröffentlichen wird, um die Angelegenheit schonend in Ordnung zu bringen.“813
Weil man in der Kurie also nicht glaubte, dass Vassallo allein die Interessen des Heiligen Stuhls ausreichend vertreten konnte, wurde man dort selbst tätig. Der genannte Artikel, der am 22. September in der Vatikanzeitung unter dem Titel „Il nuovo Vescovo di Eichstätt“ publiziert wurde, stellte die erfolgten Indiskretionen ebenso fest wie die von Pizzardo indizierten Fehler in der Presseerklärung der „Bayerischen Staatszeitung“.814 Dass nicht der Kardinalstaatssekretär den Nuntius zurechtwies, sondern der Sekretär der AES, lag wohl daran, dass Pacelli zur selben Zeit seinen alljährlichen Urlaub in Rorschach antrat.815 Da ihn Vassallos Bericht, der für den skizzierten Ärger sorgte, aber vermutlich vorher noch erreichte, ist davon auszugehen, dass dennoch er es war, der auf die Unsauberkeiten der Regierungserklärung aufmerksam wurde und Pizzardo vor seiner Abreise beauftragte, die Angelegenheit zu bereinigen. Dem Nuntius gelang es erst im November, die ihm auferlegte Verpflichtung zu erfüllen und mit Held die Eichstätter Thematik zu erörtern. Wie er an Pizzardo schrieb, habe ihm der Ministerpräsident „ungeniert“816 bekannt, dass er selbst für die Indiskretion verantwortlich gewesen sei. Er habe die Ernennung nämlich – nachdem er sein Nihil obstat gegeben habe – vertraulich dem Freiherrn Erwein von Aretin mitgeteilt, der ein Verwandter Graf Preysings war. Aretin allerdings war Redakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“ und hatte die Neuigkeit nicht für sich behalten, sondern direkt in den Druck gebracht. Vassallo berichtete weiter, dass Held durchaus Verständnis dafür signalisiert habe, dass die Nomination, „obgleich schon vor der ‚Unbedenklichkeitserklärung‘ vollzogen, dennoch nicht vor der Veröffentlichung der Päpstlichen Bulle publiziert werden
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„In conformità al desiderio del Santo Padre La prego di volere, nella forma che Ella crederà più opportuna, far presenti i su esposti rilievi a chi di dovere, e La prevengo che lʼ‚Osservatore Romano‘ per ordine Superiore pubblicherà lʼarticolo di cui lʼacclusa bozza per mettere delicatamente a posto le cose.“ Pizzardo an Vassallo vom 20. September 1932, ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 228v. Vgl. „Il nuovo Vescovo di Eichstätt“, in: „Osservatore Romano“ Nr. 221 vom 22. September 1932; der genannte Entwurf ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 227r. Die in diesem Artikel enthaltene Biographie Preysings war wortwörtlich aus dem Bericht von Mitte August entnommen, mit dem Vassallo die Informationen über die drei von Pacelli ins Auge gefassten Kandidaten lieferte. Pacelli war vom 21. September bis zum 15. Oktober 1932 in seinem Schweizerischen Ferienort, wo er insbesondere die badischen Konkordatsverhandlungen zum Abschluss brachte. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.3.4 (Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen). Vgl. auch die Zusammenstellung der Reisen Pacellis nach Rorschach im Schlagwort Nr. 9026 (Pacelli-Edition). „… schiettamente …“ Vassallo an Pizzardo vom 23. November 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 56r. 226
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darf.“817 Dem angesprochenen Korrektiv-Artikel im „Osservatore Romano“ habe Held keine Einwände entgegengebracht und somit – wie sich folgern lässt – die römische Kritik akzeptiert. Damit war für Vassallo die Sache abgeschlossen und auch in Rom ließ man sie ruhen.
Preysings Amtsantritt und Dank an Pacelli Es fehlt noch der Abschluss des Besetzungsverfahrens: Ende September übersandte Vassallo die von der Apostolischen Kanzlei angefertigte Ernennungsbulle für das Eichstätter Domkapitel sowie für Klerus und Volk der Diözese an Kapitelsvikar Kiefer.818 Gleichzeitig übermittelte er Erzbischof Hauck von Bamberg das für ihn bestimmte Ernennungsdekret Preysings, da die Eichstätter Diözese zu seiner Kirchenprovinz gehörte.819 Preysing selbst erhielt sein Dokument wahrscheinlich auf direktem Weg aus Rom. Am 17. Oktober zog er in seine Bischofsstadt ein, am 26. des Monats legte er dem Domkapitel sein Ernennungsschreiben vor. Die Bischofsweihe spendete ihm Hauck unter Assistenz von Ehrenfried und Ow-Felldorf zwei Tage später, dem Fest der Apostel Simon und Judas, im Eichstätter Dom. Unmittelbar darauf folgte die Inthronisation.820 Im November sandte der neue Oberhirte Pacelli ein Dankschreiben für die Glückwünsche, die dieser ihm zuvor übermittelt hatte.821 Darin erinnerte der Graf an die für ihn „so schöne Zeit, in der ich als Begleiter Euer Eminenz so viel Förderung in jeder Hinsicht erhalten habe“822, womit er besonders auf die erste Hälfte der 20er Jahre anspielte, in der Pacelli als Nuntius in München war. Für Preysing war klar, dass ihm diese Förderung seines römischen Vertrauten die bischöfliche Mitra eingebracht hatte. Darüber hinaus berichtete er dem Kardinalstaatssekretär über die
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„… benché già fatta, prima dell ‚nulla osta‘, pure non doveva pubblicarsi prima della pubblicazione della Bolla Pontificia.“ Vassallo an Pizzardo vom 23. November 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932– 1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 56r. Vgl. Vassallo an Kiefer vom 29. September 1932 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 230r. Vgl. auch Ernennungsbulle Preysings vom 9. September 1932, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 15 vom 5. Oktober 1932. Vgl. Vassallo an Hauck vom 29. September 1932 (Entwurf), ASV, ANM 431, Fasz. 2, Fol. 231r. Vgl. auch Hauck an Vassallo vom 30. September 1932, ebd., Fol. 232r. Vgl. „Konsekration und Inthronisation unseres Hochwürdigsten Herrn Bischofs Konrad“ vom 18. Oktober 1932, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 16 vom 18. Oktober 1932. Vgl. Preysing an Pacelli vom 19. November 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 48r–49v. Das angesprochene Glückwunschschreiben konnte in den vatikanischen Unterlagen nicht gefunden werden. Eventuell behandelte es Pacelli als privates Dokument und ließ den Entwurf nicht archivieren. Vielleicht war diesem Schreiben auch die Nominationsbulle beigefügt. Preysing an Pacelli vom 19. November 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 48r. 227
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ersten Wochen seiner Amtszeit: Die durch und durch katholisch geprägte Diözese habe ihn begeistert aufgenommen, eng arbeite er mit dem Domkapitel zusammen und selbst die Ernennung des neuen Generalvikars (Karl Kiefer) werde freudig akzeptiert. Preysing bewunderte die treukirchliche, mit seelsorgerlichem Interesse gepaarte Gesinnung der Katholischen-Theologischen Fakultät Eichstätt und auch das Priesterseminar machte einen vorzüglichen Eindruck auf ihn. So bedankte er sich unumwunden dafür, dass er diesen und keinen anderen Bischofsstuhl erhalten habe, eine Präferenz, um die Pacelli in Anbetracht ihres Vertrauensverhältnisses wahrscheinlich im Vorhinein wusste.823 Als Bischof von Berlin bezeichnete Preysing später seine Zeit in Eichstätt als die glücklichste seines Lebens.824
Ergebnis 1. a) Für Pacelli lief die Kandidatenfrage in diesem Fall geradlinig auf Preysing zu, seinen Vertrauten und Freund aus Münchener Zeit. Beide waren durch aristokratische Herkunft, hohe Bildung, diplomatische Begabung und treu kirchlich-römische Ausrichtung verbunden.825 In den beginnenden 1920er Jahren war Preysing ständiger Begleiter auf den zahlreichen Reisen des damaligen bayerischen Nuntius, insbesondere bei den diplomatischen Missionen nach Berlin wie zum Beispiel im Sommer 1920 anlässlich Pacellis Akkreditierung beim Deutschen Reich.826 Preysing ging in der Nuntiatur ein und aus, beratschlagte Pacelli in politischen und kirchlichen Fragen, begleitete ihn zu liturgischen Feiern in Adelskreisen,827 diente ihm als Mit823
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Dem Brief fügte der neue Oberhirte sein erstes Hirtenschreiben bei und drückte auch damit seine Verbundenheit mit Pacelli aus. Vgl. Hirtenbrief Preysings vom 28. Oktober 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1932–1934, Pos. 185 P.O., Fasz. 31, Fol. 50r–54r. Vgl. auch Pacelli an Preysing vom 22. November 1932 (Entwurf), ebd., Fol. 55r. In diesem Sinne äußerte er sich in mehrfachen Briefen gegenüber seinem Nachfolger auf dem Eichstätter Bischofsstuhl, Michael Rackl. Vgl. Reiter, Ernennung, S. 74 Anm. 16. Vgl. zum Verhältnis von Pacelli und Preysing Adam, Auseinandersetzung, S. 18–20; Adolph, Kardinal, S. 17; Hausberger, Bischof, S. 321; Knauft, Preysing (2003), S. 32f.; Schwerdtfeger, Konrad, S. 37–40; Unterburger, Friedensverhandlungen, S. 57; Volk, Konrad, S. 91; Wolf, Papst, S. 65–70. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 30. Juni 1920 (Entwurf), ASV, ANB 11, Fasz. 1, Fol. 24r–25v. Vgl. dazu auch Bd. 1, Kap. II.1.2 Anm. 580. Beispielsweise reiste Pacelli mit Preysing nach Sigmaringen, um in Vertretung des Papstes die Taufpatenschaft der Enkelin des Fürsten Wilhelm von Hohenzollern-Sigmaringen zu übernehmen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 26. Februar 1921, ASV, Segr. Stato, Anno 1921, Rubr. 255, Fasz. 1, Fol. 106r–107v. Vgl. dazu auch den kurzen Hinweis bei Schwerdtfeger, Konrad, S. 39. Wenige Monate später assistierte ihm Preysing, als er Kronprinz Rupprecht von Bayern mit Prinzessin Antonia von Luxemburg im oberbayerischen Lenggries verheiratete. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 8. April 1921, ASV, Segr. Stato, Anno 1921, Rubr. 245, Fasz. unico, Fol. 127r–129r. 228
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telsmann828 und stand ihm auch bei den bayerischen Konkordatsverhandlungen zur Seite.829 Diese enge Verbindung blieb auch bestehen, nachdem Pacelli München in Richtung Berlin und später Rom verlassen hatte, was allein schon die oben zitierte Bemerkung der bischöflichen Triennalliste von 1926: „von Nuntius Pacelli hoch geschätzt“ belegt oder etwa auch der vertrauliche Ton von Preysings Dankschreiben zum Abschluss des aktuellen Besetzungsfalls. Von daher überrascht es nicht, dass der Münchener Domkapitular auf Pacellis Liste episkopabler Kandidaten stand. Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen: Preysing gehörte zur Favoritengruppe „++“, die der Kardinalstaatssekretär zwei Jahre zuvor anlässlich der Augsburger Sedisvakanz auf Grundlage der bischöflichen Triennalliste von 1929 zusammengestellt hatte. Als maßgeblich galt Pacelli damals, dass die Kandidaten eine „gesunde“ römische Theologie und damit zusammenhängend die römischen Grundsätze in der Priesterausbildung vertraten. Dass Preysing diesen Kriterien genügte, wusste Pacelli nicht nur aus eigener Anschauung, sondern war für ihn auch aus dessen jesuitischer Ausbildung in Innsbruck ableitbar, insbesondere da der Rektor des Canisianums den Grafen bereits 1927 mit entsprechenden Attributen als episkopabel deklariert hatte (vgl. Nr. 4).830 Auch die der Triennalliste beigefügte Charakterisierung konnte dahingehend gelesen werden, wenn es dort hieß, Preysing sei geeignet, weil er bereits als Gesandtschaftssekretär in Rom gewirkt habe. Neben der damit verbundenen diplomatischen Erfahrung ging es offenbar darum, dass der Graf die römischen Gepflogenheiten – im Rom Piusʼ X. – kennengelernt hatte und – folgt man der Logik des Gedankens weiter – für das Bischofsamt fruchtbar machen konnte. Ebenfalls die weiteren Qualitäten, welche die Bischöfe dem Münchener Domkapitular zuschrieben, nämlich Sittlichkeit, Eifer in Verwaltung und Seelsorge, Rechtschaffenheit sowie Begabung als Prediger und Schriftsteller – ohnehin behielt Pacelli das Schrifttum des Grafen im Blick831 –, nahm der Kardinalstaatssekretär gerne zur Kenntnis, als er den Namen Preysings mit dem „++“ versah. Bestärkt wurde er darin noch
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Zum Beispiel versuchte Pacelli über Preysing den Superior der Franziskanerinnenkongregation in Salzkotten von der Absicht abzubringen, Unterlagen im Archiv der Münchener Nuntiatur einsehen zu wollen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 28. April 1923, ASV, Segr. Stato, Anno 1923, Rubr. 79, Fasz. 3, Fol. 49rv. Zumindest am Rande ist das auch an der partiellen Untersuchung in Bd. 3, Kap. II.2.1 (Der neue staatliche Konkordatsentwurf und Pacellis ‚Gegenmaßnahmen‘) zu sehen, als der Nuntius den Grafen erneut als verschwiegenen Vermittler benutzte. Hofmann beschrieb Preysing im Kontext des Regensburger Besetzungsfalls als fromm, klug, bescheiden, kultiviert, von kräftiger Physis und vor allem anhänglich an den Heiligen Stuhl, was als wichtiges Indiz für die Bereitschaft gelten konnte, die römischen Vorgaben zur Priesterausbildung umzusetzen. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Kandidatentrias Michael Hofmanns und die Empfehlung Bischof Ludwig Hugos). In den bayerischen Nuntiaturarchivakten findet sich beispielsweise die Kopie einer kurzen Abhandlung Preysings über Hippolyt von 1918. Vgl. ASV, ANM 406, Fasz. 1, Fol. 188r–192v. Vgl. auch Preysing, Ausscheiden. 229
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durch ein jüngeres Votum des Kölner Erzbischofs Schulte. Dieser hatte am 7. März 1930 im Kontext der Besetzung des Ermländer Bischofsstuhls auch Preysing auf dem Zettel gehabt, bei dem er nicht nur die familiäre Herkunft lobte, sondern auch den Grafen selbst als sympathischen und gewandten Charakter sowie als vorbildlichen Priester herausstellte.832 Ist damit zwar erklärt, worauf Pacelli Preysings Kandidatur gründete, bleibt die Frage, wieso er ihn gerade jetzt erstmals stringent für einen Bischofsstuhl ins Auge fasste. Immerhin ließ er – zumindest seit seinem Amtsantritt als Kardinalstaatssekretär 1930 – bereits einige Gelegenheiten verstreichen, Preysing auf einen deutschen Bischofsstuhl zu bringen.833 Offensichtlich schien Pacelli grundsätzlich bestrebt, die bayerischen Kandidaten für bayerische Diözesen zu reservieren, zumal ungeachtet jeder „kulturellen“ und „mentalitätsbezogenen Kompatibilität“ die Listenbindung des römischen Nominationsrechts dazu riet, die Kandidaten der bayerischen Triennallisten nicht „leichtfertig“ an außerbayerische Bistümer zu vergeben.834 Unter dieser Einschränkung wäre es allerdings möglich gewesen, Preysing im Sommer 1930 auf den Augsburger Bischofsthron zu promovieren. Einen Grund dafür, dass Pacelli diesen Gedanken nicht verfolgte, liefert Preysing selbst in dem genannten Dankschreiben: Die Beschaulichkeit der kleinen, im Kern katholischen Diözese Eichstätt machte sie zum Wunschbistum des Grafen.835 Diese Präferenz schien Pacelli zu berücksichtigen, sodass sich Preysing in der glücklichen Lage befand, das Bistum gewissermaßen aussuchen zu können – ein Luxus, den ihm der Kardinalstaatssekretär drei Jahre später nicht mehr gewährte, als er ihn in die Diaspora der politisch hochbrisanten Reichshauptstadt transferierte.836 b) Auch für die Einordnung der Kandidatur des Regensburger Domkapitulars Höcht ist auf den Augsburger Besetzungsfall von 1930 zu verweisen. Wie Preysing gehörte er zu Pacellis Favoriten832
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Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels). Dass diese Einschätzung Schultes ebenso wie die Hofmanns bei der Analyse der Triennalliste von 1929 und damit auch bei der Ernennung Preysings zum Bischof von Eichstätt mittelbar präsent war, lässt sich an dem gesonderten „Referenzblatt“ für den Münchener Domkapitular ablesen, das Minutant Silvani erstellte, als er 1930 für seinen Vorgesetzten die bayerischen Triennallisten zusammenfasste. Er verwies neben den knappen Voten der bischöflichen Triennallisten von 1926 und 1929 außerdem auf die beiden genannten Wortmeldungen. Vgl. Notizblatt Silvanis über Preysing ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 13r. Vgl. dazu auch Bd. 3, Kap. II.2.4 Anm. 737. Wiederbesetzungen erfolgten in diesem Zeitraum in Ermland, Schneidemühl, Aachen, Freiburg, Meißen und natürlich Augsburg. Als Beispiel noch einmal Ermland 1930: Obwohl Schulte Preysing für den vakanten Bischofsstuhl vorschlug, zog Pacelli ihn nicht in Erwägung. Abgesehen von den genannten Mentalitätsunterschieden waren dafür sicherlich auch weitere Gründe ursächlich, wie zum Beispiel die relative Unbedeutendheit des Bistums Ermland und die fehlenden Polnischkenntnisse des Grafen. Vgl. zum Bistum Lengenfelder/Appel, Bistum Eichstätt. Die besondere Qualität Berlins als Reichshauptstadt war auch der Grund dafür, dass Pacelli in diesem Fall von dem skizzierten Prinzip – bayerische Geistliche auf bayerische Bischofsstühle – absah. 230
II.2.5 Eichstätt 1932
gruppe und war sogar neben Kumpfmüller heißester Anwärter auf den Stuhl des heiligen Ulrich. Da Höcht damals übergangen wurde, war es gleichsam folgerichtig, wenn Pacelli anlässlich der nächsten bayerischen causa wieder auf ihn zurückgriff. Doch ungeachtet der hohen Meinung, die Pacelli vom ehemaligen Germaniker besaß, war dieser für Eichstätt kein ernsthafter Kandidat, wie die Textgenese der Weisung an Vassallo von Ende Juli zeigt. Erst nachträglich und nachgeordnet zog ihn der Kardinalstaatssekretär in Betracht, weil es für ihn in diesem Fall mit Preysing letztlich nur einen reellen Kandidaten gab. c) Noch aussichtsloser erscheint vor diesem Hintergrund die Kandidatur des einzigen Eichstätters, der zumindest formaliter in die engere Auswahl kam. Pacelli kannte Bruggaier persönlich kaum, wie der Entwurf der genannten Weisung verrät.837 Damit ist bereits klar, dass dieser bei früheren Bischofseinsetzungen noch nicht in Pacellis Blickfeld geraten war, wenngleich der Hildesheimer Oberhirte, Nikolaus Bares, ihn im Juli 1930 für den Ermländer Bischofsstuhl vorgeschlagen hatte.838 Dass Bruggaier abseits der Eichstätter Listen nur noch auf der bischöflichen Triennalliste von 1929 zu finden war, wurde bereits gesagt.839 Da diese Liste für Pacellis bayerische Kandidatensondierungen maßgeblich war, stellt sich die Frage, wie er den Eichstätter Domkapitular bei ihrer Analyse einstufte. Interessanterweise versah er den Namen Bruggaier am Blattrand nicht mit den bei den übrigen Kandidaten verwendeten Klassifizierungszeichen (++/+/-/No), sondern notierte sich stattdessen ein „?“ mitsamt einer „~“.840 Diese Randnotizen demonstrieren nicht nur, dass Pacelli Bruggaier wie erwähnt nicht näher kannte, sondern suggerieren auch, dass er ihn „mittelmäßig“ beurteilte, was dem Abstimmungsergebnis der Triennalliste (drei probo und vier abstineo) und der Wertung entsprach, die der bayerische Episkopat beifügte: Einerseits lobten sie Bruggaiers kanonistischen Kenntnisse, seine Leutseligkeit und seinen tugendhaften Lebenswandel, andererseits monierten sie seinen ausgeprägten Ehrgeiz. Da das ambitionierte Streben nach Ehren und geistlichen Ämtern traditionell nicht als Signum von Amtstauglichkeit galt, mussten an dieser Stelle Zweifel an der kanonischen Eignung Bruggaiers aufkommen. Dass Pacelli diese Kritik ernst nahm, ergibt sich daraus, dass er den entsprechenden Passus in der Kandidatenübersicht mit einer dreifachen Randmarkierung ver-
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Wenn man bedenkt, dass Bruggaier namhafte Ämter, wie etwa das des Herausgebers des renommierten „Klerusblattes“ (1925) oder auch das des Domkapitulars (1926), erst antrat, nachdem Pacelli München verlassen hatte, verwundert diese Unkenntnis nicht. Dementsprechend fällt der Name des Eichstätters in Pacellis Nuntiaturberichterstattung nicht. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels). Auf der Liste von 1932, welche die Freisinger Konferenz wie gesagt erst wenige Tage nach der Ernennung Preysings anfertigte, war Bruggaier nicht mehr zu finden, da ihn Mergel, der ihn 1929 ins Gespräch gebracht hatte, nicht mehr vorschlagen konnte. Vgl. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 4r–9r, hier 4v. 231
II.2.5 Eichstätt 1932
sah.841 Dieses durchwachsene Ergebnis gepaart mit dem Fehlen eines persönlichen Eindrucks hatte offenbar den doppelten Effekt, dass Pacelli Bruggaier weder als ernsthaften Kandidaten betrachtete – er gehörte nicht zur „++“-Gruppe der episcopabili – noch direkt als untauglich aussortierte. Letzteres ermöglichte es schlussendlich erst, dass der Kardinalstaatssekretär ihn für den Eichstätter Bischofsstuhl formal und vorläufig in Betracht ziehen konnte, wobei der Grund dafür einzig in der Sedisvakanzliste des Domkapitels (vgl. Nr. 4) und dem Votum des bayerischen Ministerpräsidenten (vgl. Nr. 3) gesehen werden muss. Auch die Informationen Vassallos änderten nichts daran, sondern zementierten wohl eher die Ansicht Pacellis, dass der Domkapitular trotz aller aufgezählten Qualitäten zumindest den wesentlichen Kriterien von Theologie und Priesterausbildung nicht vollauf genügte: Ein Theologiestudium, das „wahrscheinlich“ – wie der Nuntius bemerkte – im von Pacelli seit langem kritisch beäugten Tübingen absolviert wurde, stellte kein gutes Zeugnis dar.842 Insofern verwundert es nicht, dass er Bruggaier auch in den späteren Fällen nicht mehr berücksichtigen sollte, obgleich er Ritter gegenüber erklärte, der Genannte könne „gegebenenfalls für die Zukunft im Gedächtnis behalten werden“. 2. Nach dem Gesagten erhebt sich die Frage, wieso Pacelli dem Nuntius überhaupt noch zwei weitere Kandidaten zur Meinungsäußerung vorlegte, wenn er sich von vornherein auf Preysing festgelegt hatte. Anscheinend konnte er die Möglichkeit nicht völlig ausschließen, dass noch Alternativkandidaten gebraucht wurden, wenn sich nämlich der Einsetzung des Grafen noch Hindernisse entgegenstellten – womöglich von der Regierung, die nachweislich einen anderen Geistlichen wünschte, oder vom Papst, der Pacellis Kandidatenauswahl absegnen musste. Dass Pacelli sich nicht sicher war, ob Preysing seine Wahl akzeptieren würde, scheint angesichts ihres engen Verhältnisses eher unwahrscheinlich. Indem er Vassallo mehrere Geistliche bezeichnete, die in der engeren Auswahl waren, etablierte Pacelli jedenfalls einen „Zwischenschritt“ zwischen den bayerischen Vorschlagslisten und der römischen Nomination des neuen Diözesanbischofs.843 Damit stellte er die Suche des passenden Kandidaten zumindest formal auf eine breitere Basis, als wenn er – womöglich eng am Text von Artikel 14 § 1 des Konkordats entlang844 – lediglich einen Geistlichen aus den Vorschlagslisten ausgewählt und direkt dem Papst zur Bestätigung vorgelegt hätte. Dieser 841
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Vgl. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 5r. Vgl. zu Pacellis Sicht auf die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen die Hinweise im Kontext des Rottenburger Besetzungsfalls Bd. 3, Kap. II.3.3 (Wahl oder Ernennung? Das Punctum saliens der Frage nach der Wiederbesetzung). Im vorangegangenen Augsburger Fall war Pacelli genauso verfahren. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 2). Das Konkordat schrieb lediglich vor, dass „sich der Hl. Stuhl“ unter den Kandidaten aller Vorschlagslisten „freie Auswahl“ vorbehält. Art. 14 § 1 des bayerischen Konkordats von 1924, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 304f. 232
II.2.5 Eichstätt 1932
formale Charakter wird dadurch unterstrichen, dass Pacelli vom Nuntius auch Informationen über Preysing verlangte, was inhaltlich gesehen überflüssig erscheinen musste. 3. Durch den Fall der bayerischen Monarchie und spätestens durch den Abschluss des neuen Bayernkonkordats von 1924 war eine aktive staatliche Einflussnahme des Staates auf die Besetzung der Bischofsstühle rechtlich ausgeschlossen. Der neue Staatskirchenvertrag erlaubte ihm lediglich noch, Bedenken politischer Natur geltend zu machen und damit im Extremfall einen bestimmten Kandidaten zu verhindern, den der Heilige Stuhl ins Auge gefasst beziehungsweise bereits ernannt, aber nicht publiziert hatte. Diese passive Rolle genügte dem bayerischen Ministerpräsidenten im aktuellen Fall nicht. Stattdessen unterbreitete er dem Kardinalstaatssekretär über Ritter ein Votum für die Ernennung Bruggaiers, das zwar vom bayerischen Gesandten peinlich genau als rechtlich bedeutungsloser Ratschlag eingestuft wurde, aber dennoch eine sehr starke Willensbekundung transportierte.845 Tatsächlich ließ diese den Kardinalstaatssekretär nicht unbeeindruckt, was sich einerseits daran ablesen lässt, dass er den Eichstätter Domkapitular in die engere Kandidatenauswahl einbezog, obwohl er nicht überzeugt war, dass dieser seinem Bischofsideal genügte. Andererseits erweckt die freundschaftlich und „entschuldigend“ gehaltene Replik, die mehrere Textentwürfe durchlief bis Pacelli mit dem Wortlaut zufrieden war, denselben Eindruck846 – immerhin suggerierte sie, dass der Heilige Stuhl Bruggaier zum neuen Bischof von Eichstätt erhoben hätte, wäre der Papst nicht zugunsten Preysings „voreingenommen“. Darüber hinaus ließ Pacelli dem bayerischen Gesandten diese Antwort zukommen noch bevor er der Münchener Nuntiatur die Nomination des Grafen kommunizierte. Dies alles verdeutlicht zwar, für wie delikat Pacelli den Vorstoß des Ministerpräsidenten hielt, doch handelte es sich bei all dem de facto lediglich um diplomatische Etikette, denn in der Sache war er – genauso wie Pius XI. – nicht bereit nachzugeben und von der Kandidatur Preysings abzurücken. Allerdings wird man in Pacellis Zusicherung, der Heilige Stuhl habe seinen Blick auf einen „bayerischen Priester gerichtet“, der bei der Regierung genauso wie Bruggaier „auf wohlwollende Aufnahme“ treffen werde, durchaus mehr als eine bloße Floskel sehen können. Denn der bekannte Münchener Domkapitular aus dem „alteingesessenen niederbayerischen Adelsgeschlecht[s] der Preysing“847, dessen Vater und Onkel jeweils dem bayerischen Landtag angehörten und der selbst ehemals im Staatsdienst tätig war, konnte aus staatlicher Perspektive schwerlich Anlass zu Kritik bieten. Insofern musste – angesichts der Rechtslage ohnehin – und konnte Held mit dieser römischen Entscheidung zufrieden sein, sodass
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Man denke an Helds Feststellung, kein Priester in ganz Bayern könne „in höherem Maße einem Bischofsstuhl zur Zierde gereichen“. Auch Hubert Wolf weist in seiner kurzen Skizze des Eichstätter Besetzungsfalls auf diesen Umstand hin. Vgl. Wolf, Papst, S. 68. Hausberger, Bischof, S. 319. 233
II.2.5 Eichstätt 1932
er das vom Konkordat vorgeschriebene staatliche Plazet auch ohne zu zögern gewährte.848 Ungeachtet seiner festen Haltung in der Kandidatenfrage war dem Kardinalstaatssekretär insgesamt an einem reibungslosen und spannungsfreien Verhältnis zur bayerischen Regierung gelegen. Zum Abschluss des Verfahrens sorgte Helds Indiskretion für Missstimmung im Vatikan, die sogar darin kulminierte, dass dieser sich zu einer Richtigstellung der Rechtslage genötigt sah. Wenn Pacelli sich kurz vor seinem Urlaub auch über die mangelnde Verschwiegenheit des Ministerpräsidenten geärgert haben mag, so war diese Angelegenheit aufs Ganze der causa gesehen nur eine Randnotiz. 4. Abgesehen vom Ministerpräsidenten meldete sich niemand bei Pacelli mit einem Vorschlag für die Nachfolge Mergels. Umgekehrt kontaktierte er auch niemand Außenstehenden in dieser Angelegenheit, was folgerichtig erscheint, wenn man bedenkt, dass er über seinen Wunschkandidaten weder Informationen noch Zeugnisse benötigte. a) Daher kommen an dieser Stelle als Informationsgeber einerseits nur jene früheren Wortmeldungen in Betracht, die Pacellis gegenwärtige Personalentscheidung auf indirekte Weise beeinflussten: insbesondere die Voten Hofmanns und Schultes für Preysing (vgl. Nr. 1) sowie der beiden Ordensprovinziale Fritz SJ und Paulinus OCD, die sich in den vorangegangenen Fällen von Regensburg beziehungsweise Augsburg über Höcht geäußert hatten.849 b) Andererseits sind hauptsächlich die bayerischen Bischöfe und Domkapitel anzusprechen, die laut Konkordat mittels Triennallisten beziehungsweise Sedisvakanzliste Kandidatenvorschläge zu unterbreiten hatten. Die starke Stimme der Eichstätter Domherren für Bruggaier nahm Pacelli durchaus zur Kenntnis, wenn er ihn dem Nuntius mit dem Hinweis zur Bewertung vorlegte, dass dieser die meisten Fürsprecher im Kapitel besaß. Allerdings muss die Frage offen bleiben, ob der Grund dafür nicht ebenso sehr im Votum Helds zu suchen ist, da Pacelli die übrigen Geistlichen der Sedisvakanzliste mit durchaus guten Ergebnissen völlig ignorierte. Da aber auch Bruggaier nur begrenzt als Pacellis Kandidat gelten kann, bleibt festzuhalten, dass die Liste des Eichstätter Kapitels für ihn nicht maßgeblich war. Gleiches gilt für dessen Triennallisten – über deren Ähnlichkeiten zur Sedisvakanzliste wurde bereits gesprochen – und letztlich auch für die Triennallisten der übrigen
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Die genannte „wohlwollende Aufnahme“ war inhaltlich natürlich weiter und positiver gefasst als das bloß negative allgemeinpolitische Bedenkenrecht. Eine nicht wohlwollende Aufnahme des römischen Kandidaten wäre noch kein rechtmäßiger Grund gewesen, solcherart Bedenken geltend zu machen. Vgl. zum politischen Bedenkenrecht die entsprechenden Abschnitte in Bd. 3, Kap. II.2.1 (besonders Die Klärung der politischen Klausel). Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1 und 4). Im aktuellen Eichstätter Besetzungsfall berichtete Vassallo außerdem von einem positiven Zeugnis über Höcht aus dem Munde Kumpfmüllers. Da Pacelli sich jedoch hinterher – beziehungsweise streng genommen bereits von Anbeginn – gegen den Regensburger Domkapitular entschied, hatte dieses Votum für ihn offensichtlich wenig Relevanz. 234
II.2.5 Eichstätt 1932
bayerischen Domherren. Genauso wie Bruggaier hatten Höcht und Preysing nur im jeweiligen Heimatbistum Zustimmung. Dass letzterer auf der Speyerer Liste von 1926 als nicht-episkopabel disqualifiziert wurde, interessierte Pacelli ebenso wenig, wie das negative Ergebnis des Grafen auf der 29er-Liste von Passau. Doch sogar in seiner Heimat hatte Preysing erst 1929 ein positives Resultat erworben, als er mittlerweile selbst dem Metropolitankapitel angehörte. Wesentlicher Referenzpunkt für Pacellis Kandidatenüberlegungen bildete stattdessen seine Favoritengruppe episkopabler Geistlicher, die auf der aktuellen bischöflichen Triennalliste von 1929 basierte. Diese Gruppe stellte einen Kandidatenfundus zur Verfügung, auf den Pacelli bei Bedarf zurückgreifen konnte, wie er es jetzt mit der Nominierung Preysings und Höchts tat. Entscheidendes dazu wurde bereits im Kontext des Augsburger Besetzungsfalls gesagt und muss hier nicht im Einzelnen wiederholt werden.850 Nur so viel: Auf der 29er-Liste – wie auch auf der Vorgängerliste von 1926 – hatte Preysing zwar ein gutes Ergebnis erzielt, doch gab es durchaus auch Kandidaten, die mehr Zustimmung von den Bischöfen erhalten hatten und von Pacelli dennoch nicht mit „++“ bezeichnet wurden. Pacelli richtete sich also nicht stringent am Abstimmungsergebnis aus, sondern brachte andere Faktoren in seine Kandidatensondierungen ein, wie zum Beispiel das Urteil aus persönlicher Kenntnis, das im Fall Preysings natürlich von besonderem Gewicht sein musste. Insofern wird man auch das Votum des Episkopats an dieser Stelle nicht überschätzen dürfen, zumal es den Kardinalstaatssekretär auch nicht kümmerte, dass ihm die bischöfliche Triennalliste von 1932 während des Besetzungsfalls noch nicht zur Verfügung stand. Ansonsten hätte er die Wiederbesetzung noch etwas verzögern oder den Episkopat auf eine zügige Anfertigung der Liste drängen können. An der Favoritengruppe „++“ ist ablesbar, dass es unter den bayerischen Bischöfen – auch das wurde anlässlich der Augsburger causa bereits gesagt – insbesondere Faulhaber, Ehrenfried und Buchberger waren, deren Stimmen bei Pacelli das meiste Gewicht besaßen: Die beiden Erstgenannten hatten sich lobend über Preysing geäußert, die beiden Letztgenannten über Höcht. Der von Pacelli als nicht ideal-episkopabel gewertete Bruggaier hingegen, der ebenfalls auf der 29er-Triennalliste stand, konnte „nur“ mit positiven Anmerkungen seines Ordinarius Mergel und des Bamberger Erzbischofs Hauck aufwarten. Erschwerend kam hinzu, dass die Kritik an Bruggaiers Ehrgeiz wiederum von Ehrenfried stammte. 5. Der Weisungsentwurf vom 27. Juli identifiziert den Kardinalstaatssekretär eindeutig als die Instanz in der Kurie, welche die Personalfrage maßgeblich bestimmte: Während er Bruggaier kaum kannte, war Preysing ihm gut vertraut. Er prüfte die Eichstätter Sedisvakanzliste, nahm die Eingabe des Ministerpräsidenten zur Kenntnis, griff auf seine eigene Favoritengruppe geeigneter Geistlicher zurück und berücksichtigte offensichtlich die ihm persönlich bekannte Präferenz 850
Vgl. dazu erneut Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1 und 4). 235
II.2.5 Eichstätt 1932
Preysings für das Bistum Eichstätt. Kurzum: Pacelli nahm die entscheidenden Sondierungen vor, stellte die Kandidatentrias auf und ging erst dann, mit der Zustimmung des Nuntius gewappnet, in die Audienz des Papstes. Als Gesprächsergebnis notierte er sich, Pius XI. sei für Preysing „voreingenommen“. Konnte Achille Ratti von seinen persönlichen Voraussetzungen her für den Grafen „voreingenommen“ sein? Fest steht zumindest, dass Pacelli diese „Voreingenommenheit“ besaß und der Pontifex seinem Entschluss, Preysing auf den Eichstätter Bischofsstuhl zu verhelfen, zustimmte. Ohnehin diente diese Formulierung vor allem als Begründung gegenüber Ritter, dass dem Kandidatenwunsch Helds nicht entsprochen wurde. Pacellis Audienznotiz – „Gewählt wurde Monsignore Preysing“ – legt allerdings die Vermutung nahe, dass er dem Papst zusätzlich die beiden Alternativkandidaten vorstellte, was vor dem Hintergrund seiner Fokussierung auf Preysing nicht selbstverständlich erscheint. Obgleich er auf diese Weise die päpstliche Autorität zur Letztentscheidung respektierte, indem er ihr Wahlmöglichkeiten offerierte, gelang es ihm, seinen Wunschkandidaten durchzusetzen. Vassallos Aufgabe in diesem Besetzungsverfahren bestand lediglich darin, die vom Kardinalstaatssekretär präsentierten Kandidaten zu „bestätigen“. Vorschläge wünschte Pacelli von ihm nicht, brachte der Nuntius auch nicht auf eigene Faust ins Gespräch. Er holte Informationen über Pacellis Terna ein, die – wie die Anmerkung, Bruggaier habe „wahrscheinlich“ in Tübingen seine Studien abgeschlossen, zeigt – nicht immer fundiert waren und hielt alle drei für gleich tauglich. Eine negative Wertung oder auch nur eine Abstufung wie Pacelli selbst, nahm Vassallo nicht vor. Als Entscheidungshilfe für oder gegen einen Kandidaten konnte seine Darstellung wohl kaum dienen, allerdings hatte Pacelli darum auch nicht gebeten – anders etwa als sein Vorgänger Gasparri im Regensburger Besetzungsfall von 1927.851 Die marginale Nebenrolle, die Pacelli dem Nuntius gestattete, mündete zum Abschluss des Verfahrens in eine ausdrückliche Kritik an Vassallos Amtsführung: Nicht nur war dieser nach Ansicht des Staatssekretariats zu nachsichtig mit der staatlichen Indiskretion umgegangen, sondern hatte es zudem versäumt, angemessen – und das heißt korrigierend – auf die rechtlich ungenaue Darstellung des konkordatären Besetzungsmodus in der „Bayerischen Staatszeitung“ zu reagieren. Schlimmer noch: Ihm waren die unzureichenden Formulierungen anscheinend nicht einmal aufgefallen, die er dem Staatssekretär ahnungslos zur Verfügung stellte. Auch wenn Pizzardo den Tadel erteilte, war es höchstwahrscheinlich Pacelli, der kurz vor seinem Urlaub den Auftrag dazu gab: Es war seine juristische Kenntnis des Bayernkonkordats, der diese Fehler auffallen konnten und seine diplomatische Akribie, welche diese Fehler, selbst wenn sie in einem letztlich irrelevan-
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Da Gasparri nicht in der Lage war, auf Basis der bayerischen Triennallisten eine Kandidatenentscheidung zu fällen, wies er Vassallo an, sich klar über taugliche Geistliche zu äußern. Der Nuntius votierte daraufhin für den schließlich vom Heiligen Stuhl ernannten Buchberger. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Voten der Patres Schmoll und Fritz sowie Buchberger, der „Wachtposten“: Vassallos Kandidatenquintett). 236
II.2.6 Eichstätt 1935 II.2.6 Eichstätt 1935
ten Zeitungsartikel erschienen waren, nicht tolerieren konnte.852 Anders als für Pacelli, der sein Ziel erreichte, Preysing als neuen Bischof von Eichstätt zu installieren, endete für Vassallo der Besetzungsfall also mehr als unglücklich.
II.2.6 Ein einheimischer „candidatus dignissimus“ und der scheidende Oberhirte als Promotor: Eichstätt 1935 (Michael Rackl)853 Kirchenpolitische Voraussetzungen Die politische Situation in Deutschland hatte sich gravierend verändert, als Preysing 1935, drei Jahre nachdem er den Bischofsstuhl des heiligen Willibald bestiegen hatte, von Papst Pius XI. an die Spitze der Diözese Berlin transferiert wurde. Hitler war Reichskanzler, die Länder gleichgeschaltet und die nationalsozialistischen Parteigänger und Funktionäre verbreiteten ihre Ideologien offensiv in der Gesellschaft. Ihre antikirchlichen Aktionen in allen Lebensbereichen, ihre Repressalien im kirchlichen Presse- und Verbandswesen, ihre Einschüchterungen und Diffamierungen gegen Klerus und Laien waren im vollen Gange. Der Heilige Stuhl hatte in der Hoffnung, die kirchlichen Rechte zu sichern, am 20. Juli 1933 mit der nationalsozialistischen Regierung das Reichskonkordat abgeschlossen, das in Artikel 2 die Länderkonkordate mit Bayern, Preußen und Baden – und damit auch die dort festgelegten Modi der Ämterbesetzung – in Geltung ließ. Der Artikel 14 § 2 änderte den Adressaten der sogenannten „politischen Klausel“, insofern nun der Reichsstatthalter des jeweiligen Landes gegen den von Rom ins Auge gefassten Kandidaten „Bedenken allgemeinpolitischer Natur“ geltend machen konnte. Das Schlussprotokoll legte die Einspruchsfrist auf 20 Tage fest. Ergänzend bestimmte der 16. Konkordatsartikel, dass die neu erwählten Diözesanbischöfe vor dem Reichsstatthalter auch einen Treueid ablegen mussten.854 Eine für die verbliebenen bayerischen Besetzungsfälle bedeutende Strukturveränderung betraf die seit Ende des 18. Jahrhunderts bestehende Münchener Nuntiatur: Das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934 hob das aktive und passive Gesandtschaftsrecht Bayerns 852
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Pizzardo besaß vermutlich nicht die nötige Kenntnis, um Urheber der Kritik zu sein. Eindrücklich ist das am Meißener Besetzungsfall von 1936/37 ablesbar, wo der Sekretär der AES vom deutschen Partikularkirchenrecht völlig überfordert war. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.4 (Die Hilflosigkeit Giuseppe Pizzardos bei Pacellis Abwesenheit). Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Eichstätt 1935 Bauch, Rackl, S. 444f.; Heim, Bischöfe, S. 186–217; Reiter, Ernennung. Vgl. dazu die Angaben in Bd. 2, Kap. II.1.12 (Der Tod von Bischof Johannes Poggenburg, politische Umwälzungen und eine geheime Kandidatenliste). 237
II.2.6 Eichstätt 1935
auf und delegitimierte damit die Existenz der bayerischen Nuntiatur.855 Formal endete die diplomatische Mission des Nuntius Ende Mai, sodass von da an für die Abwicklung der bayerischen Angelegenheiten die Reichsnuntiatur in Berlin mit ihrem Nuntius Orsenigo zuständig war. Allerdings blieb Vassallo als „Privatperson“ noch zwei Jahre bis Oktober 1936 in der Landeshauptstadt und damit als etwaiger Ansprechpartner vor Ort.856
Preysings Abschied und die Nachfolgekandidaten des Domkapitels Am 14. Juli 1935 verabschiedete sich Preysing von den Alumnen des Priesterseminars und den Studenten der Philosophisch-Theologischen Hochschule Eichstätt. Schon am Tag darauf und damit längst bevor Preysing am 11. August im Eichstätter Dom endgültig von der Diözese feierlichen Abschied nahm und nach Berlin übersiedelte bemühte sich Kardinalstaatssekretär Pacelli um eine zügige Neubesetzung der Diözese. Er gab Vassallo den Auftrag – auf päpstliche Anordnung, wie er schrieb –, das Eichstätter Domkapitel aufzufordern, die von Artikel 14 des Bayernkonkordats verlangte Sedisvakanzliste tauglicher Kandidaten für das Bischofsamt aufzustellen.857 Informell führte Vassallo die innerkirchlichen Amtsgeschäfte Bayerns also weiter, wenngleich Pacelli ihn nicht mehr als „Apostolischen Nuntius“, sondern nur noch als „Titularerzbischof von Emesa“ anschrieb. Darüber hinaus fragte ihn der Kardinalstaatssekretär, ob damit zu rechnen sei, dass die noch fehlenden Triennallisten der bayerischen Domkapitel, die in diesem Jahr wieder aufzustellen waren, bald einträfen. Seit 1926 wurden die dreijährigen Listen nun zum vierten Mal fällig. Abgesehen von den Vorschlägen der Domkapitel zu Regensburg, Bamberg und Eichstätt lagen die aktuellen 1935er-Listen der übrigen bayerischen Kapitel inklusive der Freisinger Bischofskonferenz zu diesem Zeitpunkt schon in der Kurie vor.858 Wie eine Randnotiz Pizzardos, des Sekretärs der AES, auf dem Entwurf der Weisung belegt, war Pacelli verärgert darüber, dass die genannten Domkapitel ihrer konkordatären Verpflichtung nicht nachgekommen waren und eigentlich nicht gewillt, sie daran zu erinnern.859 Nur auf die Sedisvakanzliste des ebenfalls säumigen Eichstätter Kapitels konnte er keinesfalls verzichten, wenn das Besetzungsverfahren seinen rechtmäßigen Gang nehmen sollte. 855 856
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Vgl. zum angesprochenen Gesetz Bd. 2, Kap. II.1.14 Anm. 1067. Vgl. zur Aufhebung der Münchener Nuntiatur Feldkamp, Aufhebung; Ders., Apostolische Nuntiatur; Zittel, Mönch, S. 491–493. Über die Aufhebung der bayerischen Gesandtschaft in Rom Zedler, Bayern, bes. S. 470–486. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 15. Juli 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 63r. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.2. Gemäß dem von Pacelli entworfenen Ausführungsdekret zur Aufstellung der Triennallisten durch die Domkapitel sollten die Listen eigentlich um Ostern herum angefertigt werden. Vgl. Bd. 4, Anhang 1.1, 2), 238
II.2.6 Eichstätt 1935
Eine Reminiszenz hatte das Eichstätter Domkapitel allerdings gar nicht nötig, denn schon drei Tage vorher, am 12. Juli, war es zusammengetreten, um bemerkenswerterweise beide Listen, Sedisvakanz- und Triennalliste, direkt nacheinander aufzustellen: Nachmittags um 16 Uhr versammelten sich die Kanoniker, um über mögliche Kandidaten per sede vacante abzustimmen, und im Anschluss um 17.15 Uhr führten sie die Wahlversammlung für die Dreijahresliste durch.860 Bereits die Tatsache, dass sie auf keinen der beiden syllabi verzichteten, legt die Vermutung nahe, dass beide nicht gänzlich übereinstimmten. Doch zunächst stellt sich die Frage: Wen wünschte sich das Domkapitel laut Sedisvakanzliste als Nachfolger Preysings? probo – non probo – abstineo 1. Ludwig Bruggaier
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(Domkapitular in Eichstätt) 2. Matthias Lederer (Domkapitular in Eichstätt) 3. Michael Rackl (Regens der Priesterseminars in Eichstätt) 4. Anton Scharnagl (Domdekan in München)
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Nr. 2 und 5. Auf Nachfrage Vassallos versicherten die Domdekane aus Bamberg und Regensburg, ihre Listen nach der Sommerpause aufzustellen. Da derzeit viele Kapitulare Urlaub machten, sei die Einberufung einer Wahlversammlung momentan nicht möglich. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 16. August 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 16, Fol. 12rv. Im Dezember des Folgejahres bat Pizzardo den in Rom weilenden Vassallo – im Oktober hatte er München endgültig verlassen –, ihm die noch fehlenden bayerischen Listen – offenbar die 1935er-Listen von Bamberg und Regensburg – zukommen zu lassen. Vgl. Pizzardo an Vassallo vom 7. Dezember 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 32r. Doch der ehemalige Nuntius konnte nicht weiterhelfen, da die Listen vor seiner Abreise aus der bayerischen Hauptstadt nicht bei ihm eingegangen seien. Vgl. Vassallo an Pizzardo vom 8. Dezember 1936, ebd., Fol. 36r. Konsequenterweise versuchte es Pizzardo anschließend beim Berliner Nuntius Orsenigo, der jedoch vier Monate später (!) mit dem Hinweis abwinkte, dass die bayerischen Listen der Jahre 1935–37 bereits direkt an den Kardinalstaatssekretär gesandt worden seien und dieser kürzlich gegenüber Kardinal Faulhaber bestätigt habe, sie erhalten zu haben. Vgl. Pizzardo an Orsenigo vom 20. Dezember 1936 (Entwurf) und die Antwort Orsenigos an Pizzardo vom 27. März 1937, ebd., Fol. 37r und 38r. Während die Liste des Regensburger Domkapitels von 1935 in den Quellen überliefert ist, konnte das Bamberger Pendant nicht gefunden werden. Vgl. Sedisvakanzliste des Eichstätter Domkapitels vom 12. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 65r–66r sowie die Triennalliste vom selben Tag, Bd. 4, Anhang 1.2.2. Da Bruggaier und Lederer als Mitglieder des Wahlgremiums an der jeweiligen Abstimmung über ihre eigene Person nicht teilnahmen, war die Summe der für sie abgegebenen Voten um eins niederiger als für Rackl und Scharnagl. 239
II.2.6 Eichstätt 1935
Bereits beim vorangegangenen Besetzungsfall von 1932 wurde darauf hingewiesen, dass der Stamm der Kandidaten, die das Domkapitel für tauglich hielt, seit der ersten Liste von 1926 sehr konstant geblieben war.862 Dasselbe galt für die aktuelle Liste. Einzig Domdekan und Generalvikar Karl Kiefer, der bislang auf jeder Eichstätter Liste zu finden war, schied mittlerweile 69-jährig aus dem Kandidatenkorpus aus. Belegte Regens Rackl auf der Sedisvakanzliste von 1932 nur den dritten Rang – damals erhielt Bruggaier die meiste Zustimmung –, so gewann er jetzt die Abstimmung ohne Gegenvotum mit nur einer Enthaltung. Bruggaier rutschte knapp auf den zweiten Platz ab. Auffällig ist, dass dieses Wahlergebnis gegenläufig war zu der Tendenz, die sich für die Zustimmung Rackls im Domkapitel abgezeichnet hatte: Auf der Triennalliste von 1926 hatte er noch überzeugend alle neun Kapitulare auf seiner Seite gehabt und war unangefochtener Spitzenreiter. Doch die folgenden Listen zeigten dann einen klaren Abwärtstrend von acht zu eins Stimmen (bei null Enthaltungen) 1929 bis zum mittelmäßigen Ergebnis von sechs Ja- und drei Nein-Stimmen (bei einer Enthaltung) im Jahre 1932. Zu diesem Zeitpunkt musste Rackl den ersten Platz auf der Favoritenskala des Kapitels an Bruggaier abgeben, der 1932 acht Mal probo und einmal non probo für sich verbuchen konnte. Dessen Ergebnis hatte sich seit 1926 (sechs Ja, zwei Nein) stetig verbessert (1929 sieben Ja, eine Enthaltung). Auf der aktuellen Sedisvakanzliste konnte Rackl also seinen früheren Platz als Favorit des Domkapitels von Bruggaier zurückerobern. Womöglich hatte sich Rackl durch seine enge Zusammenarbeit mit dem in Eichstätt beliebten Preysing neue Sympathien im Domkapitel erworben. Wie sah es auf der aktuellen Triennalliste aus? Bruggaier erhielt hier neun Ja-Stimmen bei null Ablehnungen oder Enthaltungen. Somit verkehrte jener Domkapitular, der ihm auf der Sedisvakanzliste noch eine Nein-Stimme zugesprochen hatte, sein Stimmverhalten ins glatte Gegenteil. Weil Bruggaier selbst Mitglied des Domkapitels war, gab er bei der Abstimmung über seine Person – wie es allgemein üblich war – keine Stimme ab. Anders war es bei Rackl, der nicht zum Gremium der Kanoniker gehörte und für den daher alle zehn Mitglieder abstimmten. Sein Ergebnis auf der Triennalliste war identisch mit dem der Sedisvakanzliste: neun Ja-Stimmen und eine Enthaltung. Einer der Domherren verweigerte Rackl die Zustimmung. In dieser Hinsicht war das Ergebnis Bruggaiers auf der Triennalliste also hauchdünn besser.863
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Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.5 (Der Tod von Bischof Leo von Mergel und die Bischofskandidaten des Domkapitels). Weniger relevant sind die weiteren Unterschiede zwischen Sedisvakanz- und Triennalliste: Zum einen schnitt der Münchener Domdekan und Kirchenrechtler Scharnagl auf der Triennalliste mit vier Mal probo sowie drei Mal non probo und drei Mal abstineo leicht besser ab als auf der Liste per sede vacante, was allerdings nicht weiter ins Gewicht fiel. Zum anderen tauchte Domkapitular Lederer, der auf letzterer ein durchaus ordentliches Ergebnis erzielte, auf der Triennalliste gar nicht auf. Statt seiner hatten sich die Kanoniker entschieden, den Eichstätter Professor Joseph Kürzinger vorzuschlagen. 240
II.2.6 Eichstätt 1935
Es drängt sich die Frage auf, wieso sich nach Ansicht der Kapitulare die Triennalliste neben der Sedisvakanzliste nicht erübrigte. Darauf muss man wohl zunächst antworten, dass die Eichstätter Kanoniker die rechtliche Vorgabe des Bayernkonkordats zur Aufstellung beider Listen ernst nahmen. Außerdem zeigen die Divergenzen zwischen beiden Listen, dass die Domkapitulare (oder zumindest einige) ihren jeweiligen Zweck berücksichtigten: Die Sedisvakanzliste sollte geeignete Geistliche für den Eichstätter Bischofsstuhl liefern, während die Triennalliste die bischöflichen Stühle aller acht bayerischen Diözesen im Auge hatte. Unter dieser Prämisse lässt sich auch über die Motivation des anonymen Kapitulars nachdenken, der auf erstgenannter Liste Bruggaier mit einer Nein-Stimme bedachte, auf der zweiten dann gegenteilig votierte. Dieser Kapitular – so lässt sich vermuten – lehnte eine Erhebung Bruggaiers auf den Eichstätter Bischofsstuhl ab, stand aber einer „Weglobung“ des Genannten an die Spitze einer anderen Diözese wohlwollend gegenüber. Deshalb könnte er auf der Triennalliste affirmativ für ihn votiert haben, um dessen grundsätzliche Eignung für die bischöfliche Mitra – nur eben nicht in Eichstätt – zu bekräftigen. Deutlich wird jedenfalls, dass die Domherren mit der Sedisvakanzliste Namen genuin für die Nachfolge Preysings bieten wollten, an erster Stelle den Regens des Priesterseminars, Michael Rackl.
Die römische Entscheidung für Rackl und seine Resultate auf den bischöflichen Triennallisten Vassallo übermittelte beide Eichstätter Listen am 15. Juli an Pacelli.864 Da die Manuskripte jeweils in versiegelten Umschlägen verschickt wurden, hatte der „informelle“ Nuntius keinerlei Kenntnis über die Abstimmungsergebnisse. Deshalb konnte er sie auch nur kommentarlos weiterreichen. Gehörte es bei den vergangenen Besetzungen in Bayern zu Pacellis Praxis, dass er, nachdem er die
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Die Sorge, dass Letztgenannter zum neuen Diözesanbischof berufen werden könnte, veranlasste Domdekan Kiefer Ende Oktober – die lange Dauer der causa verstärkte seine Befürchtung –, sich brieflich an Pacelli zu wenden. Erst nach der Abstimmung habe er von einem anderen Domkapitular „mit voller Sicherheit und Zuverlässigkeit erfahren“, dass es gewichtige Zweifel an der moralischen Integrität des Theologieprofessors gebe: „Tempore studiorum suorum in Universitate Monacensi turpem conversationem habuit cum filia domus et suspectus fuit de cooperatione saltem morali ad abortum, quia dictam mulierem visitavit in nosocomis degentem extra Baviera fines. Erat tunc periculum fere protinum, ne res divulgaretur cum gravissimo scandalo. Quod Deus bene avertit.“ Abgesehen davon äußerte Kiefer auch die Sorge, die Verzögerung könne an Plänen liegen, die Diözese aufzulösen. Vgl. Kiefer an Pacelli vom 28. Oktober 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 16, Fol. 24rv, hier 24r. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 15. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 64rv. 241
II.2.6 Eichstätt 1935
eingegangenen Listen studiert hatte, dem Nuntius jeweils zwei oder drei Namen, die er in die engere Auswahl nahm, zur Informationsbeschaffung und Kommentierung vorlegte, so unternahm er diesmal nichts dergleichen. An einer Meinungsäußerung Vassallos, die trotz dessen formalem Amtsverlust möglich gewesen wäre, war ihm nicht mehr gelegen. Daher lassen sich die Überlegungen im Staatssekretariat zur Kandidatenfrage quellenmäßig nicht nachvollziehen. Fakt ist jedoch, dass dort innerhalb der nächsten drei Wochen die Entscheidung fiel, Rackl zum neuen Diözesanbischof von Eichstätt zu ernennen, denn am 9. August ließ Pizzardo vom Heiligen Offizium überprüfen, ob der Regens dort aktenkundig war.865 Papst und Kardinalstaatssekretär schienen demnach dem Wunsch der Eichstätter Domherren entsprechen zu wollen. Genoss Rackl auch die Zustimmung der übrigen hohen Geistlichkeit Bayerns? Hinsichtlich der anderen bayerischen Domkapitel muss die Antwort nein lauten – auf keiner ihrer Triennallisten tauchte er auf. Ein anderes Bild zeichneten die Dreijahreslisten der Freisinger Bischofskonferenz: Im Jahre 1926 war er von zwei – im Wahlprotokoll nicht näher spezifizierten – Bischöfen vorgeschlagen worden mit der Begründung, er sei „ein frommer Gelehrter, guter Regens und unter den Geistlichen der Diözese Eichstätt hoch geschätzt. Ein aszetischer Mann.“866 Bei der Abstimmung erhielt er jedoch nur ein durchschnittliches Ergebnis mit drei Ja-Stimmen, null Ablehnungen und vier Enthaltungen. Damit rangierte er nur im Mittelfeld der für episkopabel gehaltenen Kandidaten. Etwas verbessert schnitt der Regens drei Jahre später ab: fünf Mal probo, null Mal non probo und nur noch zwei Mal abstineo. Vehemente Fürsprache bekam der Regens in diesem Jahr von drei Oberhirten: Der damalige Eichstätter Bischof Mergel schlug ihn als „candidatum dignissimum“867 vor, als einen Priester, der sowohl durch tugendhaftes Verhalten als auch durch wissenschaftliche Begabung hervorrage. Der Protokollant notierte des Weiteren, dass Sebastian von Speyer ihn in höchstem Maße schätze und Ehrenfried von Würzburg bekräftigt habe, dass „seine Tugend und Wissenschaft, seine Schlichtheit des Herzens und Leutseligkeit überfließen“868. Bei seiner Analyse
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Vgl. Pizzardo an Canali vom 9. August 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 71r. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 53v. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 4r–9r, hier 7r. „… eius probitas et scientia, simpliciter cordis et affabilitas superabundavit.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 7r. 242
II.2.6 Eichstätt 1935
dieser Liste im Kontext der Wiederbesetzung des Augsburger Bischofsstuhls 1930 sortierte Pacelli den Regens in seine Favoritengruppe episkopabler Kandidaten ein.869 Der sichtbare Aufstieg Rackls in der Achtung unter den Bischöfen bestätigte sich in der Liste von 1932. Zusammen mit dem Bamberger Regens, Johann Baptist Dietz, steigerte er sich zum Favoriten des Episkopats mit einem affirmativen Votum aller sieben anwesenden Ordinarien. Laut Wahlprotokoll wiederholten Sebastian und Ehrenfried noch einmal ihre Wertungen von 1929 und lobten Rackls Tugend, Gelehrsamkeit und Klugheit, die ihn zu einem überaus würdigen Bischofsanwärter machen würden.870 Umso überraschender ist, dass man auf der bislang letzten Kandidatenaufstellung vom März 1935 den Namen Rackls vergeblich sucht.871 Auch wenn man bedenkt, dass mit Mergel einer von seinen bisherigen Proponenten inzwischen verstorben war und sein Nachfolger Preysing diese Rolle nicht übernahm – vermutlich weil dieser seinen wichtigen Mitarbeiter nicht verlieren wollte –, so hätte dennoch einer der übrigen Fürsprecher einspringen können. Da jedoch auch Ehrenfried und Sebastian, drei Jahre zuvor noch voll des Lobes, ihn nicht nominierten, schaffte es Rackl nicht einmal bis zur Abstimmung. Da legt sich die Vermutung nahe, dass innerhalb der letzten drei Jahre etwas vorgefallen sein musste, das ihn in den Augen der Bischöfe als Kandidaten disqualifizierte. Später wird noch einmal darauf zurückzukommen sein.
Rackl in der Berliner Nuntiatur und Preysings Unterstützung Die letztgenannte Triennalliste von 1935 lag dem Kardinalstaatssekretär zum Zeitpunkt seiner Personalentscheidung längst vor.872 Daher muss man konstatieren, dass sich Pacelli vom Faktum, dass der Episkopat Rackl soeben von der Tauglichkeitsliste sistiert hatte, vollkommen unbeein-
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Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1 und 4). Vgl. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 42r–47v, hier 45r. Vgl. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 20. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 50r–57r/66r–71r. Auch Dietz tauchte auf dieser Liste übrigens nicht mehr auf. Vassallo sandte die bischöfliche Triennalliste am 29. März – neun Tage nach ihrer Anfertigung durch die Freisinger Bischofskonferenz – an Pacelli. Das Begleitschreiben wurde in den Quellen zwar nicht gefunden, doch geht das genannte Datum aus der Eingangsbestätigung Pacellis hervor. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 8. April 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 88r. Die Listen der Domkapitel übermittelte Vassallo etappenweise im April, Mai und Oktober. Vgl. die Schreiben S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 16, Fol. 2rv, 5r und 19r. Mitte August fehlten nur noch die Kapitelslisten aus Regensburg und Bamberg, wie Vassallo gegenüber Pacelli anmerkte. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 16. August 1935, ebd., Fol. 12rv. 243
II.2.6 Eichstätt 1935
druckt zeigte. Zu erwarten wäre, dass Pacelli dieser Sache auf den Grund ging, wenn er Rackl für die Bischofserhebung ins Auge gefasst hatte. Die römischen Quellen können dies jedoch nicht belegen. Jedenfalls stand für Pacelli der Nachfolger Preysings fest, ehe dieser am 11. August die Diözese verließ, am 30. August sein neues Bistum in Besitz nahm und die Eichstätter Domherren am 31. des Monats ihren Dekan Kiefer zum Kapitelsvikar wählten.873 Nachdem bereits am 16. August das Heilige Offizium grünes Licht für die Nomination Rackls gegeben hatte,874 teilte Pacelli die Personalentscheidung vier Tage später dem Berliner Nuntius mit.875 Dieser erhielt den Auftrag, sich sub secreto Pontificio um die Zustimmung des electus zu seiner Promotion auf den Bischofsstuhl des heiligen Willibald zu bemühen. Sobald diese vorliege, sollte er als zweiten Schritt die Unbedenklichkeitserklärung des bayerischen Reichsstatthalters einholen. Weil das Besetzungsverfahren nun aus dem rein innerkirchlichen Rahmen heraustrat und die formal-rechtliche Kompetenz des beim Deutschen Reich akkreditierten päpstlichen Diplomaten gefragt war, wählte Pacelli dieses Mal Orsenigo und nicht etwa Vassallo als Weisungsempfänger aus. Am 24. August lud Orsenigo den Eichstätter Regens in die Berliner Nuntiatur vor, um „eine dringende Angelegenheit“876 zu besprechen. Aus Gründen der Diskretion, die Pacelli noch einmal ausdrücklich eingeschärft hatte, beließ es der Nuntius bei dieser unspezifischen Formulierung. Als Rackl vier Tage später in die Reichshauptstadt kam, verbot ihm Orsenigo daher auch, seinen ehemaligen Ordinarius Preysing zu besuchen. Das geht aus einem Brief hervor, den Rackl später nach seiner Inthronisation in Eichstätt an den Berliner Bischof schrieb: Orsenigo habe zwar die Vermutung geäußert, dass Preysing über die Personalentscheidung informiert sei und „in Rom jedenfalls davon gesprochen habe; aber er, der Nuntius, habe kein Recht, mich vom secretum pontificium zu entbinden“877. Der Nuntius wusste um das enge Vertrauensverhältnis, das zwischen Pacelli und Preysing seit langem bestand und konnte sich durchaus vorstellen, dass letzterer sich beim Kardinal-
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Vgl. „Das Bischöfliche Domkapitel Eichstätt Sede vacante“ vom 31. August 1935, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 15 vom 5. September 1935. Vgl. Canali an Pizzardo vom 16. August 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 72r. Dass man im Staatssekretariat nicht mit einem Einwand des Heiligen Offiziums rechnete, zeigt sich daran, dass der Entwurf des Schreibens an Orsenigo schon am 14. des Monats angefertigt wurde. Die Ausfertigung wurde jedoch erst am 20. August auf den Weg gebracht, wie aus der Antwort des Nuntius vom Monatsende hervorgeht. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 14. [20.] August 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 73rv. Vgl.: „Pergratum mihi fore si Dominatio Tua quam citius et insciis omnibus ad hanc Nuntiaturam Apostolicam se conferre velit, ut Tecum de urgenti negotio colloquar.“ Orsenigo an Rackl vom 24. August 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 77 Anm. 33. Rackl an Preysing vom 11. November 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 77 Anm. 34. 244
II.2.6 Eichstätt 1935
staatssekretär für die Wahl Rackls eingesetzt hatte. Auch Rackl selbst hegte diese Vermutung.878 Die Andeutung Orsenigos ist wohl nicht hoch genug zu veranschlagen, besonders wenn man die zeitliche Abfolge betrachtet: Wie oben gesagt erbat Pizzardo am 9. August das Nihil obstat der Suprema Congregatio. Am 5. August erst hatte Preysing – anlässlich seiner Translation nach Berlin – Pius XI. in Castel Gandolfo besucht und bei dieser Gelegenheit mit Sicherheit auch Pacelli getroffen.879 Es liegt auf der Hand, dass hier über seine Nachfolge in Eichstätt gesprochen wurde, ja die zeitliche Konvergenz legt sogar nahe, dass Preysings Meinung eine ganz wesentliche Rolle bei der römischen Entscheidung für Rackl zukam. Unmittelbar nach der Audienz, in der Rackl sein Einverständnis zum neuen Amt erklärt hatte, wandte sich der Nuntius weisungsgemäß an den bayerischen Reichsstatthalter, Franz Ritter von Epp, und fragte an, „ob gegen die Ernennung des Hochwürdigen Herrn Dr. Michael Rackl, Regens des Priesterseminars und Rektor der philosophisch-theologischen Hochschule zu Eichstätt, zum Bischof von Eichstätt, von Seiten der Hohen Staatsregierung von Bayern Erinnerungen politischer Natur obwalten“880. Ohne jede Einzelheit berichtete Orsenigo seinem römischen Vorgesetzten anschließend, die Zustimmung Rackls erwirkt und den bayerischen Reichsstatthalter kontaktiert zu haben.881 Die Regierung hatte nun 20 Tage Zeit, eventuelle allgemeinpolitische Einwände gegen den Nominierten vorzubringen.
Politische Bedenken? Rackl und die Wehrpflicht Vom Büro des Reichsstatthalters aus nahm die Anfrage Orsenigos in den nächsten Tagen einen langen Weg durch den staatlichen Behördenapparat. Sie gelangte am 30. August nach Berlin in das Auswärtige Amt und das Reichsinnenministerium sowie in die bayerische Staatskanzlei. Erst später – am 5. September – leitete das Auswärtige Amt sie in das eigentlich zuständige, zwei Monate zuvor errichtete Reichsministerium für die Kirchenangelegenheiten weiter. An dieser Stelle ge-
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Dementsprechend hieß es in dem erwähnten Brief: „Wenn aber Euere Exzellenz geglaubt haben, vor Gott und Ihrem Gewissen es verantworten zu können, mich in Rom den maßgebenden Stellen zu empfehlen, dann bin ich trotz alledem und trotz alledem (!) auch einigermaßen beruhigt. Es geschehe der heiligste Wille Gottes.“ Rackl an Preysing vom 11. November 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 77 Anm. 34. Vgl. Schwerdtfeger, Konrad, S. 58. Vgl. Orsenigo an Epp vom 28. August 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 119 (Nr. 119). Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 31. August 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 74rv. 245
II.2.6 Eichstätt 1935
nügt es, die wesentlichen Stationen der staatlichen Entscheidungsfindung und Beurteilung Rackls nachzuzeichnen.882 Staatssekretär Georg Hofmann, der in der Reichsstatthalterbehörde die Ernennungsanfrage bearbeitete, erklärte Ende August gegenüber dem Auswärtigen Amt, dass Epp keine Bedenken gegen die Nomination Rackls vorbringen werde, sofern die bayerische Regierung ähnlich urteile und auch von Seiten der Reichsregierung „keine anderen Anweisungen ergehen“883. Am 7. September wiederholte Hofmann diese Botschaft gegenüber dem neuen Kirchenministerium, das bereits drei Tage später in gleichem Sinne erwiderte, gegen die Ernennung Rackls keine Bedenken zu hegen. Dass in dieser jungen Institution noch keine (negativen) Unterlagen über den Eichstätter Regens vorlagen, überrascht nicht. Ganz anders war die Situation im bayerischen Kultusministerium, das am 2. September von der bayerischen Staatskanzlei in das Verfahren eingeschaltet wurde. Staatsrat Ernst Boepple, der seit dem tödlichen Unfall des Ministers Hans Schemm vom 5. März des Jahres das Ministerium kommissarisch leitete, fertigte auf Basis der in der Behörde gesammelten Akten ein ausführliches Gutachten über Rackl an und übersandte es am 9. September an die Staatskanzlei. Darin kam er zu dem Schluss, dass der Eichstätter Regens „jeweils den kirchlichen Standpunkt mit Entschiedenheit, jedoch in maßvoller und sachlicher Weise vertreten hat. Dabei hat er u[nter] a[nderem] geltend gemacht, daß er in seinen Darlegungen nur Zweifelsfragen klären, nicht dagegen die Staatsautorität angreifen wolle“884. Dass Rackl hierbei häufig bekundet habe, nur auf Anweisung seines Ordinarius Preysing zu handeln, genügte Boepple als Entschuldigung nicht. Zwar ließen sich ihm „positive staatsfeindliche Äußerungen und Akte“ nicht nachweisen, jedoch seien die aktenkundigen Vorfälle Beweis dafür, dass Rackl „den Erfordernissen des nationalsozialistischen Staates wenig Verständnis entgegenbringt“885. Um was für konkrete Vorfälle handelte es sich, die Boepple zu diesem Urteil bewogen? Neben kleineren „Vergehen“, welche Rackls Leitung des bischöflichen Knabenseminars886 und seine Auf882
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Vgl. zur folgenden innerstaatlichen Debatte und dem Treueid des neuen Bischofs ausführlich Heim, Bischöfe, S. 188–208; Reiter, Ernennung, S. 78–96. Hofmann an das Auswärtige Amt vom 30. August 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 189. Boepple an die bayerische Staatskanzlei vom 9. September 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 190. Boepple an die bayerische Staatskanzlei vom 9. September 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 190. Boepple gab eine Äußerung von Walter Krauß, Kreisleiter in Eichstätt, vom 24. Juli 1935 wieder: „Das Verhalten der Leitung des bischöflichen Knabenseminars (war) seit der Machtergreifung des Nationalsozialismus – dementsprechend auch das Verhalten der Zöglinge – eine andauernde Kette von Widerständen, Gegensätzlichkeiten und Sabotageakten gegen den neuen Staat.“ Zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 190. Konkret kritisierte man, dass Rackl es gebilligt hatte, dass eine Gruppe von Seminaristen während eines Propagandamarsches am 1. März 1935 anlässlich der Wiedereingliederung des Saargebietes in das Deutsche Reich ein religiöses Lied sang, das mit dem Vers „Christus, Herr der neuen Zeit“ endete. Darüber hinaus hatte Rackl Missfallen erregt, weil er zur Rundfunkansprache Hitlers am 21. Mai 1935 246
II.2.6 Eichstätt 1935
lösung des Eichstätter Studentenwerks in der Funktion als Hochschulrektor betrafen,887 monierte Boepple insbesondere Rackls Ansichten zur Wehrpflicht der Theologiestudenten. Als im Juni 1935 in Eichstätt erstmals seit Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht eine Musterung der 20- und 21-jährigen Männer stattfinden sollte, hatte sich Rackl als Regens und Hochschulrektor am 6. des Monats an das zuständige Wehrbezirkskommando Ingolstadt gewandt und mit Rekurs auf eine in Passau existierende Abmachung sowie die Musterungsverordnung von 1935 gebeten, die betroffenen Theologiestudenten von der Musterung freizustellen.888 Am Folgetag lehnte die Wehrbezirksbehörde das Gesuch mit der Bemerkung ab, dass die Freistellung durch die Musterungskommission erfolge und die zur Musterung Vorgeladenen eine Bescheinigung zum Beweis ihres Theologiestudiums vorlegen sollten. Doch als am 24. Juni der Tag der Musterung kam, erwies sich dieser Hinweis als nutzlos: „Seinen Schülern und Studenten gab der Regens zur Musterung … vervielfältigte und von ihm unterschriebene Zurückstellungsanträge mit. Von den zur Musterung erschienenen 102 Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1914 besuchten zehn das Gymnasium, während 62 an der Hochschule immatrikuliert waren. Die Musterungskommission stellte unter den Wehrpflichtigen keinen Theologen fest, der bereits die Subdiakonatsweihe empfangen hatte, und stellte daher nur die drei anwesenden Theologiestudenten aus dem 5. Fachsemester und die Gymnasiasten für ein Jahr vom Wehrdienst zurück. Den Zurückstellungsanträgen der Studenten aus dem Grundstudium wurde ausnahmslos nicht entsprochen.“889
Letzteres geschah mit der für die kirchliche Seite völlig unverständlichen Begründung, dass es sich bei den Studierenden im Grundstudium nur um Philosophie-, nicht aber um Theologiestudenten
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über das „Friedensprogramm Deutschlands“ die Seminaristen des Priesterseminars nicht um das Radio versammelte und sie die Rede daher nicht anhören konnten. Vgl. Hitlers Ansprache bei Domarus, Hitler 1, S. 505–515. Schließlich hatten die Seminaristen wegen der eingangs erwähnten Verabschiedung Preysings am 14. Juli nicht am gleichzeitig in Eichstätt stattfindenen „Fest der Jugend“ teilgenommen, das eine nationalsozialistische Sport- und Propagandaveranstaltung war. Vgl. zu den Kritikpunkten ausführlicher Reiter, Ernennung, S. 80. Durch die Auflösung des örtlichen Studentenwerkes intendierte Rackl, der sich dabei auf eine Anordnung Preysings berief, die Studenten der Mitgliedschaft der nationalsozialistisch orientierten Deutschen Studentenschaft und damit der ideologischen Beeinflussung zu entziehen. Vgl. zum Hintergrund Reiter, Ernennung, S. 80f.; Ders., Eichstätter Bischöfe, S. 11–19 und die diesbezüglichen Quellen S. 57–84. Laut der Musterungsverordnung waren Geistliche mit Empfang der Subdiakonatsweihe vom Militärdienst befreit (§ 18) und katholische Theologiestudenten konnten – hier ließ die Verordnung Interpretationsspielraum – bis zu sieben Jahre vom Militärdienst freigestellt werden (§ 25 Ziffer 10 mit § 21 Absatz 2). Vgl. „Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935“ vom 29. Mai 1935, Reichsgesetzblatt I Nr. 56 vom 1. Juni 1935, S. 697–720, hier 700 und 703. Vgl. dazu Reiter, Ernennung, S. 81. Heim, Bischöfe, S. 192. 247
II.2.6 Eichstätt 1935
handeln würde.890 Rackl reagierte sofort und richtete noch am selben Tag ein Beschwerdeschreiben an das Ingolstädter Wehrbezirkskommando, in dem er diese Interpretation kritisierte.891 Hinsichtlich des auf staatlicher Seite bestehenden Wunsches, dass sich Theologiestudenten häufiger freiwillig für den Dienst an der Waffe bereit erklären sollten, erwiderte Rackl, dass „der Priester als ‚Soldat Jesu Christi‘ eine wesentlich andere Aufgabe hat, als der Soldat des Vaterlandes. Soldat und Priester haben eine so wichtige Aufgabe, daß jeder für sich genug zu tun hat. Und die Vorbereitung auf das Priestertum fordert erst recht die volle und ganze Kraft, die volle und ganze Zeit des jungen Menschen.“892
Als besonders anstößig wurde Rackls abschließende – vom kanonischen Recht vollkommen gedeckte893 – Feststellung empfunden, dass derjenige aus dem klerikalen Stand ausscheide, der sich freiwillig zum Militärdienst melde. Gerade diese Aussage schlug in der deutschen Behördenlandschaft hohe Wellen und gelangte über das harsche Kritik übende Eichstätter Bezirksamt auch in die Hände der Geheimen Staatspolizei in München sowie der bayerischen politischen Polizei.894
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Diese Begründung stand auch im Gegensatz zu dem, was der Geheime Anhang des Reichskonkordats für den Fall der Einführung der Wehrpflicht vorschrieb: „a) Die in kirchlichen Lehranstalten befindlichen Studierenden der Philosophie und Theologie, die sich auf das Priestertum vorbereiten, sind vom Militärdienst und den darauf vorbereitenden Übungen befreit …“ Geheimer Anhang des Reichskonkordats, Huber/Huber (Bearb.), Staat und Kirche IV, S. 515. Hervorhebung R.H. Rackl berief sich dabei auf ein diesbezügliches Rundschreiben Kardinal Bertrams an den deutschen Episkopat vom 11. Juni 1935, in dem dieser eine Verlautbarung von maßgeblicher militärischer Stelle weitergegeben hatte: „Die Bestimmungen des Wehrgesetzes § 14 Nr. 2 und der Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935 § 25 Nr. 10 entsprechen den Bestimmungen des Wehrgesetzes der Vorkriegszeit, sodaß die Theologiestudierenden überhaupt nicht Wehrdienst zu leisten brauchen.“ Reiter, Ernennung, S. 82 Anm. 56. Der hier genannte § 14 Ziffer 2 des „Wehrgesetzes“ vom 21. Mai 1935 bestimmte nur, dass „Wehrpflichtige römisch-katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe erhalten haben“ nicht zum Wehrdienst herangezogen werden durften, was angesichts der Vorgabe des Reichskonkordats unzureichend war. Vgl. Reichsgesetzblatt I Nr. 52 vom 22. Mai 1935, S. 609–614, hier 610f. Vgl. dazu Absolon, Wehrgesetz, bes. S. 3–50; Scheuermann, Wehrdienst. Deshalb erntete es auch die Kritik des Kardinalstaatssekretärs. Vgl. Pacelli an Bergen vom 21. Juni 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel I, S. 251 (Nr. 62). Rackl an das Wehrbezirkskommando Ingolstadt vom 24. Juni 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 83 Anm. 57. Vgl. Can. 141 CIC 1917. Vgl. auch Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 277f. Die Wehrinspektion Nürnberg, die aus Ingolstadt über das Schreiben Rackls in Kenntnis gesetzt wurde, bezeichnete Rackls Auffassung über die freiwillige Meldung eines Geistlichen zum Militär als „Diffamierung des Wehrdienstes“. Heim, Bischöfe, S. 194. Ähnlich äußerte sich auch der Leiter des Eichstätter Bezirksamtes Georg Roth: „Die Ausführungen in diesem Schreiben [sc. Rackls vom 24. Juni, R.H.] gehen über das Maß sachlicher Vorstellungen weit hinaus und müssen als eine direkte Diffamierung des Wehrdienstes und Arbeitsdienstes angesehen werden. … Ich bin der Meinung, daß aus einer solchen Äußerung eine derart staatsfeindliche Einstellung spricht, daß … hiedurch die öffentliche Sicherheit und 248
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Letztere teilte die feindliche Sicht und nahm den Vorfall in ihren polizeilichen Monatsbericht auf. In seinem Gutachten vom 9. September, das er anlässlich der Anfrage Orsenigos für die bayerische Staatskanzlei verfasste, zeigte Staatsrat Boepple mehr Kenntnis der kirchlichen Belange und anerkannte, dass Studenten des Grundstudiums an philosophisch-theologischen Hochschulen bereits Theologiestudenten waren.895 Ebenso war ihm klar, dass es nach kanonischem Recht für einen Kleriker nicht erlaubt war, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Da man mit dem Empfang der Tonsur in den Klerikerstand eintrete und diese für gewöhnlich im ersten Studienjahr erteilt werde, sei diese Norm für die meisten Studenten relevant. Die Kontroverse war jedoch zu brisant, als dass Boepple ein Urteil abgeben wollte, ob gegen Rackl politische Bedenken zu erheben seien oder nicht. Diese Entscheidung stellte er ausdrücklich dem bayerischen Reichsstatthalter anheim. Als die Staatskanzlei dieses Gutachten des Kultusministeriums am nächsten Tag – dem 10. September – an die Reichsstatthalterbehörde weiterleitete, bemerkte sie ebenso unentschlossen, dass es für den bayerischen Ministerpräsidenten, Ludwig Siebert, nicht möglich sei, eine Stellungnahme abzugeben, weil dieser sich auf dem Weg zum Reichsparteitag nach Nürnberg befinde.
Vassallos Informationen und die Verzögerung der staatlichen Entscheidung Der Ausgang der staatlichen Überprüfung der Person Rackls war also noch völlig offen. In der römischen Kurie konnte man nicht mehr tun, als die Antwort auf die Anfrage Orsenigos abzuwarten. Dafür, dass der Kardinalstaatssekretär über die innerstaatliche Debatte nicht völlig im Dunkeln tappte, sorgte ein streng vertrauliches Schreiben des „informellen“ Münchener Nuntius vom 11. September.896 Seine Informationsquelle benannte er nicht, aber man wird vermuten dürfen, dass er seine Kenntnisse aus dem Reichsstatthalteramt erhalten hatte. Er berichtete Pacelli, dass Statthalter Epp persönlich keine Einwendungen gegen Rackl habe – wie gesehen handelte es sich dabei um
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Ordnung gefährdet ist.“ Ebd., S. 194. Vgl. auch Reiter, Ernennung, S. 83. Daher verlangte Roth – freilich ohne in Berlin auf entsprechend radikale Resonanz zu stoßen –, gegen Rackl eine politische Schutzhaft zu verhängen. Deutlicher konnten die NS-Bürokraten ihre völlige Unkenntnis und ihr völliges Unverständnis kirchlicher Belange nicht äußern. Diese Interpretation war übrigens vom bayerischen Kultusministerium im August noch einmal ausdrücklich gebilligt worden. Deshalb schließt Ernst Reiter zu Recht: „Die ganze Affäre wurde demnach ausgelöst durch das Nichtwissen und den Übereifer der untersten Instanz.“ Reiter, Ernennung, S. 85 Anm. 65. Vgl. Vassallo an Pacelli vom 11. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 75rv. 249
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die Wortmeldung aus jener Dienststelle vom Monatsanfang. Dieselbe Ansicht scheine man im bayerischen Ministerium für Unterricht und Kultus zu vertreten – in Wirklichkeit wollte Boepple diese Frage nicht entscheiden –, wobei sich aufgrund von Schwierigkeiten die Stellungnahme dieser Behörde verzögere. Richtig informiert war er über die Hauptquellen der Kritik am Regens: „In dieser Angelegenheit aber brachte die Eichstätter Polizei Beschwerden gegen den Ehrwürdigen Dr. Rackl vor, in ziemlich herbem Ton, aufgrund des Widerstands, dem man bei ihm begegnet hinsichtlich des Militärdienstes der jungen Theologen.“897 Vassallo erwähnte auch den schon angesprochenen Polizeibericht, der die Differenzen zwischen dem Regens und der Eichstätter Kreisleitung verdeutliche, wobei der dortige Kreisleiter, Walter Krauß,898 für seinen Antikatholizismus bekannt sei.899 Er wusste von einem heftigen Kampf des Genannten zu berichten, das Eichstätter Waisenhaus der Verantwortung katholischer Schwestern zugunsten der Frauenorganisation der NSDAP zu entziehen. Für die Zukunft befürchtete Vassallo weitere Konflikte: „Mit diesen Vorbelastungen, mit solchem Charakter und mit den offenkundigen Ansichten fehlen Krause [sic, R.H.] keine Gründe für weitere Kämpfe gegen den Hochwürdigen Rackl, wenn dieser auf dem Bischofsstuhl sitzt.“900 Ob Vassallo damit implizit einen Wechsel zu einem nicht „vorbelasteten“ Kandidaten empfehlen wollte, solange dies noch möglich war, muss offen bleiben. Einen staatlichen Einspruch gegen Rackl sagte er jedenfalls trotz des skizzierten Widerspruchs nicht voraus. Zuversichtlich stimmte sicher, dass der staatliche Kernwiderstand in Eichstätt selbst und nicht etwa in den maßgeblichen Institutionen wie der Reichsstatthalterbehörde zu verorten war. Vassallo berichtete Pacelli abschließend, dass Statthalter Epp, Ministerpräsident Siebert und der kommissarische Leiter des Kultusministeriums Boepple auf dem Reichsparteitag in Nürnberg zusammengekommen seien und dort vermutlich eine Entscheidung über die römische Anfrage fällen würden.901
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„In questo punto però la polizia di Eichstätt fece delle lagnanze contro il Revmo Dr Rackl, in tono abbastanza aspro, a ragione dellʼopposizione che si era incontrata presso di lui a proposito del servizio militare dei giovani teologi.“ Vassallo an Pacelli vom 11. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 75r. Es handelt sich um eben jenen Krauß, der das von Rackl geleitete Knabenseminar als einen Hort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus bezeichnet hatte. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.6 Anm. 886. Vgl.: „… il signor Krause [sic, R.H.], uomo conosciuto come avverso aglʼinteressi e alle cose cattoliche.“ Vassallo an Pacelli vom 11. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 75v. „Con questi precedenti, con siffatto carattere e con i sentimenti manifestati non mancheranno al Krause [sic, R.H.] motivi di ulteriori lotte col Revmo Rackl posto sulla sede vescovile.“ Vassallo an Pacelli vom 11. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 75v. Ohne sich zu den Anschuldigungen gegen Rackl zu äußern, bedankte sich Pacelli am Monatsende für die Mitteilung Vassallos. Vgl. Pacelli an Vassallo vom 26. September 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 78r. 250
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Diese Vermutung war richtig und falsch zugleich: Als der bayerische Ministerpräsident am 13. September in Nürnberg mit Ministerialrat Fritz Schachinger in Vertretung des Reichsstatthalters über die Angelegenheit beriet, kam er zu dem Schluss – wie Bernd Heim resümiert –, dass die Unterlagen aus dem Kultusministerium nicht genügten, um Bedenken allgemeinpolitischer Natur gegen Rackl zu rechtfertigen: „Da auch Kirchenminister [Hanns, R.H.] Kerrl keine Bedenken gegen die Ernennung geltend gemacht hatte und Bischof Preysing, auf den sich Dr. Rackl bei den von ihm getroffenen Maßnahmen wiederholt bezogen hat, ohne staatlichen Widerspruch zum Bischof von Berlin ernannt worden war, sah der bayerische Ministerpräsident keine Veranlassung, gegen die geplante Ernennung zu intervenieren.“902
Vor dem Hintergrund dieser – freilich zunächst nur mündlich zugesicherten – Position der bayerischen Regierung entschied sich Epp, dem Berliner Nuntius mitzuteilen, dass die römische Anfrage innerhalb der vom Reichskonkordat festgelegten Frist nicht beantwortet werden könne. Am 15. September – zwei Tage vor Ablauf der 20-tägigen Einspruchsfrist – schickte er den Bescheid auf den Postweg, in dem es begründend hieß: „Es haben sich noch weitere Anfragen als notwendig erwiesen und es steht noch die Äußerung der Bayerischen Staatsregierung aus. Ich werde für Beschleunigung der Angelegenheit besorgt sein.“903 Dass eine Stellungnahme der bayerischen Regierung noch ausstand, stimmte nur insofern, als dass sie noch nicht schriftlich vorlag. Da Orsenigo zu diesem Zeitpunkt ohnehin nach Rom reiste, übergab er Pacelli die staatliche Note wahrscheinlich persönlich.904 Als der 17. September als Enddatum der Einspruchsfrist überschritten war, ohne dass der Staat zur Nomination Rackls definitiv Stellung genommen hatte, beschwerte sich Pacelli beim Vatikanbotschafter der Reichsregierung, Diego von Bergen. Wie Bernd Heim ein Telegramm Bergens zusammenfasst, das dieser am 20. September an das Auswärtige Amt sandte, habe „Pacelli die erneute Verzögerung einer Antwort der Reichsre-
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Heim, Bischöfe, S. 196. Ähnlich schreibt auch Ernst Reiter: „Das von Staatsrat Dr. Boepple vorgelegte Material brachte die bayerische Staatsregierung und das Büro beim Reichsstatthalter in einige Verlegenheit. Es lag auf der Hand, ‚daß bei der Einstellung Dr. Racklʼs zum neuen Staat bei ihm eine freudige innere Verbundenheit zum Nationalsozialismusʻ nicht zu erwarten war. … Als positiv staatsfeindliche Äußerung im Sinne einer Gefährdung des Bestandes des Staates konnte Rackls Verhalten als Regens des Priesterseminars kaum gedeutet werden.“ Reiter, Ernennung, S. 84. Epp an Orsenigo vom 15. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 77r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 124 (Nr. 124). Vermutlich findet sich deshalb in den vatikanischen Quellen kein Bericht darüber. Dass Orsenigo am 17. oder 18. September einen dreiwöchigen Italienurlaub antrat, innerhalb dessen er auch nach Rom reisen wollte, ergibt sich aus den Hinweisen in den Aufzeichnungen Menshausens vom 16. September 1935 beziehungsweise Neuraths vom 17. September 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 125 (Nr. 125) beziehungsweise S. 128f. (Nr. 128). 251
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gierung mit Unwillen zur Kenntnis“ genommen und sei darüber „überaus verärgert“905. Der Botschafter deutete einen drohenden Konflikt mit der Kurie an, denn Pacelli sei bereits bei der staatlichen Fristüberschreitung anlässlich des Berliner Besetzungsfalls wenige Wochen zuvor „zum Kampf bereit gewesen“906. Das Auswärtige Amt reagierte auf diesen Hinweis, indem es dem Kardinalstaatssekretär über Bergen mitteilen ließ, dass sich die Antwort wegen des Nürnberger Reichsparteitages verzögere. Diese Erklärung änderte jedoch nichts an dem Tatbestand und konnte niemanden zufriedenstellen. Streng genommen war der Heilige Stuhl laut Reichskonkordat berechtigt, die Einsetzung des neuen Bischofs vorzunehmen, wenn eine Antwort der Regierung nicht fristgerecht eintraf.907 Doch zu diesem Schritt war Pacelli offensichtlich nicht bereit, mehr als der geschilderte Ärger kam nicht aus dem Vatikan.
Faulhaber contra Rackl und das Nihil obstat des bayerischen Reichsstatthalters Da man im Büro des Reichsstatthalters keine Option sah, auf formal-rechtlichem Weg über das allgemeinpolitische Bedenkenrecht die Ernennung Rackls zu verhindern, versuchte man dies auf informelle Weise zu erreichen. Zu diesem Zweck lud Staatssekretär Hofmann den Münchener Erzbischof Faulhaber zu einer Besprechung am 26. September in sein Büro ein. Hofmann hielt in seinen Gesprächsnotizen fest, dass Faulhaber den Brief Rackls an das Wehrbezirkskommando Ingolstadt vom 24. Juni als „ungeschickt“ bezeichnet und die Ansicht vertreten habe, dass „es in Anbetracht der (anhand der Akten mitgeteilten) Vorkommnisse zweckmäßig wäre, einen anderen Kandidaten für den Bischofsstuhl zu benennen, da auch er, der Kardinal, Schwierigkeiten in der bischöflichen Amtsführung Rackls befürchte“908. Wenn diese Aussage Faulhabers tatsächlich so gefallen ist, wie sie der Staatsbeamte festhielt, ist sie ein deutliches Signum für ein gespanntes Verhältnis zwischen beiden Kirchenmännern. Der Kardinal stellte die römische Kandidatenentscheidung infrage. Angesichts dieser Sicht des Münchener Kardinals verwundert es nicht mehr – und damit schließt sich 905 906
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Heim, Bischöfe, S. 198. Heim, Bischöfe, S. 198. Vgl. zur angesprochenen „Bereitschaft“ Pacellis im Berliner Fall Bd. 2, Kap. II.1.15 (Das Nihil obstat der preußischen Regierung und die Kontroverse um das Innsbrucker Studium). Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats: „Es besteht Einverständnis darüber, daß, sofern Bedenken allgemeinpolitischer Natur bestehen, solche in kürzester Frist vorgebracht werden. Liegt nach Ablauf von 20 Tagen eine derartige Erklärung nicht vor, so wird der Heilige Stuhl berechtigt sein, anzunehmen, daß Bedenken gegen den Kandidaten nicht bestehen.“ Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. Aufzeichnung Hofmanns vom 26. September 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 85. Aus Faulhabers Tagebüchern lassen sich leider keine näheren Informationen zu diesem Treffen gewinnen. Zu diesem Datum notierte er sich lediglich: „… beim Statthalter wegen einer dringlichen Sache zu sprechen.“ Tagebucheintrag Faulhabers vom 26. September 1935, EAM, NL Faulhaber 10016, S. 123. 252
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der Kreis –, dass der Name des Eichstätter Regens so plötzlich von der bischöflichen Triennalliste von 1935 verschwand. Vermutlich war es Faulhaber gewesen, der seinen Ausschluss ventilierte. Faulhaber bekundete Hofmann seine Bereitschaft – wie Reiter und Heim auf Basis der staatlichen Aktenüberlieferung darstellen909 –, sich beim Berliner Nuntius für einen Wechsel des Kandidaten einzusetzen. Über das römische Staatssekretariat ließ er den noch urlaubenden Orsenigo die telegraphische Bitte zukommen, auf der Rückreise nach Berlin in München Halt zu machen. Doch entgegen dieser Anfrage kehrte der Nuntius auf direktem Wege in die Reichshauptstadt zurück. Die vatikanischen Quellen geben über diese Zusammenhänge keinen Aufschluss. Ob Pacelli von dieser versuchten Intervention des Münchener Kardinals erfuhr, muss offen bleiben, da er seit dem 1. Oktober für vier Wochen im Schweizerischen Rorschach seinen Erholungsurlaub verbrachte und Faulhabers Telegramm womöglich erst nach seiner Abreise in Rom eintraf.910 Auch Orsenigo hielt sich nicht seinen gesamten Urlaub über an den Apostelgräbern auf und empfing Faulhabers Telegramm daher vielleicht gar nicht vor seiner Rückreise nach Berlin. Das würde erklären, warum er der bayerischen Landeshauptstadt keinen Besuch abstattete. Bis zum 9. Oktober war es Faulhaber nicht gelungen, mit Orsenigo Kontakt aufzunehmen. An diesem Tag überreichte er Hofmann eine Stellungnahme zur causa Rackl und fügte hinzu: „Von Tag zu Tag wird es mir immer zweifelhafter, ob der Herr Nuntius auf mündlich von Ihnen besprochenen Grunde hin die bisherige Anwartschaft umstoßen werde.“911 Im Gegenteil äußerte er die Vermutung, dass Orsenigo dieselbe Meinung in der Rechtsfrage vertrete, wie er, nämlich dass die gegen Rackl vorgebrachten „Bedenken vom staatsrechtlichen und vom kirchenrechtlichen Standpunkt aus nicht jenes Gewicht zu haben [scheinen], um ein Veto aus politischen Gründen im Sinne von Art[ikel] 14 des bay[erischen] Konkordates einzulegen“912. Auch den strittigen Brief Rackls nahm er (jetzt) aus der Schusslinie, indem er konstatierte, dass er in Form und Sprache höflich gehalten sei und inhaltlich keine Unrechtmäßigkeiten enthalte: „Wenn nun die Reichsregierung im Konkordat den Standpunkt des Kirchenrechts in der Frage ‚Wehrdienst der Theologenʻ anerkennt, kann es für den Rektor einer staatlichen [sic!] Hochschule kein Verbrechen sein, den gleichen Standpunkt gegenüber dem Wehrbezirks-Kommando … zu vertreten.“913 Trotz dieser klaren rechtlichen Haltung und dem erneuten Hinweis, dass ein „Gegenantrag“ Orsenigos „in Rom“ angesichts dessen – von den geringen Erfolgsaussichten einmal 909 910 911 912 913
Vgl. Heim, Bischöfe, S. 198–200; Reiter, Ernennung, S. 85f. Pacelli verbrachte den gesamten Oktober 1935 in Rorschach. Vgl. Schlagwort Nr. 9026 (Pacelli-Edition). Faulhaber an Hofmann vom 9. Oktober 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 86 Anm. 69. Faulhaber an Hofmann vom 9. Oktober 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 199. Faulhaber an Hofmann vom 9. Oktober 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 199. Abgesehen davon sei soeben – wie Faulhaber weiter anmerkte – zwischen den Diözesen Bayerns und dem Wehrkreiskommando VII in München vereinbart worden, dass die kirchlichen Ordinariate eine freiwillige Meldung einzelner Theologen zum Wehrdienst nicht verbieten würden. Dass Rackl künftig als Bischof von Eichstätt eine davon abweichende Praxis unterstützte, war nach Faulhaber nicht zu erwarten. 253
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abgesehen – „sehr unwahrscheinlich“914 sei, bot Faulhaber am 11. Oktober an, persönlich in der Berliner Nuntiatur vorzusprechen, falls der Reichsstatthalter dies wünsche. Aus diesem Vorhaben wurde jedoch nichts mehr, denn gleichzeitig erreichte Epp die schriftliche Stellungnahme des bayerischen Ministerpräsidenten, welche die Basis für politische Einwände gegen Rackl trotz ernsthafter Bedenken hinsichtlich der geplanten Ernennung als nicht gegeben ansah.915 Schließlich wurde über die politische Polizei Bayerns eine Wortmeldung des Reichskriegsministeriums und Oberkommandos der Wehrmacht vom 30. September des Jahres bekannt, die Rackls Ansicht zur freiwilligen Meldung zum Dienst an der Waffe zwar kritisch als den Interessen des Staates zuwiderlaufend einschätzte, dessen Argumentation hinsichtlich der Musterung jedoch als legitim ansah.916 Vor diesem Hintergrund entschied sich Reichsstatthalter Epp auf Anraten Hofmanns, in einer Note an Orsenigo vom 21. Oktober – also mit viereinhalbwöchiger Verspätung – bekannt zu geben, dass „gegen den für den bischöflichen Stuhl in Eichstätt in Aussicht genommenen … Herrn Dr. Michael Rackl, Bedenken allgemein politischer Art nicht bestehen“917. Er verzichtete freilich nicht darauf, das staatliche Missfallen dieser Personalwahl auszudrücken, indem er hinzufügte, dass „im Laufe dieses Jahres Maßnahmen des Herrn Regens mehrfach den Gegenstand von Erörterungen politischer und staatlicher Dienststellen bildeten“918. Daher sei anzunehmen, dass Rackl während seiner bevorstehenden Amtszeit Schwierigkeiten
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Faulhaber an Hofmann vom 11. Oktober 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 200. Wenn Rackl zum Diözesanbischof von Eichstätt ernannt werde, seien künftig weitere Konflikte vorprogrammiert. Um aber dennoch die eigene Entscheidung gegen einen formalen Einspruch bei der Kurie auf Basis des Konkordats zu rechtfertigen, verwies Siebert noch einmal auf die Parallele Preysing: „Endlich wird noch zu würdigen sein, daß, wenn schon gegen die Berufung des bisherigen Bischofs von Eichstätt, Dr. Konrad Graf von Preysing, auf den Bischofsstuhl von Berlin keine Einwendung erhoben wurde, dies wohl auch gegen Dr. Rackl mit Erfolg dem Vatikan gegenüber nicht wird geschehen können, da Graf von Preysing doch wohl wesentlich stärker seiner inneren Ablehnung gegenüber dem Nationalsozialismus Ausdruck verlieh als Dr. Rackl.“ Siebert an Epp vom 11. Oktober 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 201. Konkret hieß es: „Zu der grundsätzlichen Frage ist seinerzeit den bearbeitenden Stellen mitgeteilt worden, daß dem Geheimen Anhang zum Konkordat entsprechend alle Studierenden der röm[isch]-kath[olischen] Theologie bis zum Erhalt der Subdiakonenweihe zurückzustellen sind, sofern sie sich nicht freiwillig zum Wehrdienst melden.“ Erlass des Kriegsministeriums vom 30. September 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 87. Vgl. zur Bestimmung im Anhang des Reichskonkordats Bd. 3, Kap. II.2.6 Anm. 890. Wie Reiter plausibel erklärt, war dieser Anhang zum Reichskonkordat weder den beteiligten staatlichen Behörden noch dem Episkopat zum Zeitpunkt des skizzierten Disputs bekannt. Vgl. Reiter, Ernennung, S. 87 Anm. 73. Epp an Orsenigo vom 21. Oktober 1935 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 80r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 132f. (Nr. 135). Davon unterrichtete Epp am nächsten Tag auch Kardinal Faulhaber. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 202. Epp an Orsenigo vom 21. Oktober 1935 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 80r; Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 133. 254
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entstünden – ihm und nicht etwa der NS-Seite –, die einer nicht vorbelasteten Persönlichkeit erspart blieben.919 Trotz dieses letztlich unverbindlichen Vorbehalts hatte sich die Hinnahme der staatlichen Fristverletzung für den Heiligen Stuhl also gelohnt. Mitte Oktober noch – wenige Tage vor dem Nihil obstat des Reichsstatthalters – hatte Orsenigo beim Vatikanreferenten des Auswärtigen Amtes, Fritz von Menshausen, vertraulich um eine Intervention bei den bayerischen Behörden gebeten, die Ernennungsanfrage endlich zu erledigen. Möglicherweise hatte Pacelli dem Nuntius bei dessen kürzlichem Rombesuch aufgetragen, diese Angelegenheit – wieder einmal920 – zur Sprache zu bringen. Orsenigo hatte mit seinem Gespräch ein Schreiben des Ministerialdirektors Gerhard Köpke aus dem Auswärtigen Amt an Epp erwirkt, aus dem hervorgeht, dass Orsenigo offenbar nicht nur die Fristverletzung moniert, sondern auch darauf insistiert hatte, dass „staatlicherseits um eine zeitlich beschränkte Verlängerung der konkordatsmäßigen Frist nachgesucht werden müsse, falls diese aus besonderen Gründen nicht eingehalten werden könne“921. Um zu verhindern, dass die Kurie die Einsetzung Rackls womöglich ohne staatliche Antwort vornahm, bat Köpke den bayerischen Reichsstatthalter, den Fall schnellstmöglich abzuschließen oder aber dem Nuntius ein genaues Datum zu kommunizieren, bis wann die Stellungnahme erfolgen werde. Der diplomatische Druck Orsenigos war aber letztlich für das kurz darauf erteilte Plazet nicht mehr maßgeblich, denn bevor das Schreiben Köpkes beim Reichsstatthalter eintraf, hatte dieser das Nihil obstat bereits an die Berliner Nuntiatur gesandt.922
Notifikation und Formalia Der Nuntius übermittelte das Schreiben des Reichsstatthalters am 23. Oktober ohne Wertung an Pacelli.923 Nach seiner Rückkehr in den Vatikan leitete dieser die letzten formalen Schritte zur amtlichen 919
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Tatsächlich fand Rackl später in den vertraulichen Monatsberichten der Regierung von Ober- und Mittelfranken an die bayerischen Staatsministerien beziehungsweise das Reichsinnenministerium ständige kritische Erwähnung. Vgl. zum Beispiel: „Zu welchen Mitteln die kath. Kirche greift, um ihren Ideen Eingang in weiteste Kreise zu verschaffen, zeigt die neueste Aktion des streitbaren Bischofs Dr. Rackl von Eichstätt …“ Monatsbericht der Regierung vom 8. Februar 1938, abgedruckt bei Witetschek (Bearb.), Lage II, S. 265–271 (Nr. 81), hier 267. Die Fristverletzung der NS-Regierung hinsichtlich des politischen Bedenkenrechts war seit 1933 schon öfter Gegenstand von Unterredungen zwischen Orsenigo und Menshausen gewesen. Vgl. insbesondere Bd. 2, Kap. II.1.14 (Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist). Köpke an Epp vom 16. Oktober 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 201. Dieses Schreiben war in Absprache mit dem Kirchenministerium verfasst worden. Vgl. Reiter, Ernennung, S. 88 Anm. 76. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 23. Oktober 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 79r. 255
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Nomination Rackls ein: Am 4. November veranlasste er Kardinal Rossi, den Sekretär der Konsistorialkongregation, die Ernennungsdokumente ausstellen zu lassen.924 Damit stand dieser Tag als offizielles Nominationsdatum fest.925 Gleichzeitig informierte er Orsenigo, dass der „Osservatore Romano“ in der nächsten Ausgabe die Erhebung Rackls auf den Eichstätter Bischofsstuhl publizieren werde.926 Nach Erhalt dieser Nachricht unterrichtete der Nuntius den Ernannten selbst,927 setzte den für Eichstätt zuständigen Bamberger Metropoliten Hauck in Kenntnis928 und notifizierte die Nomination dem bayerischen Reichsstatthalter sowie dem Reichsaußenminister, Konstantin von Neurath.929 Nachdem die Konsistorialkongregation das Ernennungsdekret für Rackl angefertigt hatte, reichte sie dieses an die Apostolische Kanzlei weiter, die dafür zuständig war, die Ernennungsbullen zu schreiben. Hier ergab sich eine rechtliche Unklarheit, mit der Kanzleiregens Vincenzo Bianchi-Cagliesi am 12. November Pizzardo konfrontierte: Im Dekret sei von einer vorausgegangenen Wahl Rackls aus der römischen Terna durch das Eichstätter Domkapitel (!) „ad normam Concordati“930 die Rede. Bianchi-Cagliesi war damit überfordert und bat um eine generelle Anweisung, ob er unbestimmt „ad normam Concordati“ in die Bulle schreiben solle oder vielmehr das spezifische Konkordat zitieren müsse, das im konkreten Fall gelte.931 Pizzardo klärte den 924
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Vgl. Pacelli an Rossi vom 4. November 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 83r. Zur Information der Verantwortlichen in der Konsistorialkongregation war wie üblich eine kursorische Biographie des Ernannten beigefügt. Vgl. ebd., Fol. 82r. Vgl. AAS 27 (1935), S. 441. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 4. November 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 84r. Vgl. den Entwurf der Publikationsnotiz, ebd., Fol. 81r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 259 vom 6. November 1935. Die Nachricht Orsenigos traf am Morgen des 6. November im Eichstätter Priesterseminar ein. Vgl. Bauch, Rackl, S. 444. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 203. Vgl. Orsenigo an Neurath vom 5. November 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 139 (Nr. 144). Vgl. auch die Antwort Neurath an Orsenigo vom 9. November 1935, ebd., S. 139 (Nr. 145). Vgl. zur Benachrichtigung Epps Heim, Bischöfe, S. 202. Aus einer Aufzeichnung Bernhard Wilhelm von Bülows, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, geht hervor, dass Orsenigo ebenfalls plante, den preußischen Ministerpräsidenten, Hermann Göring, zu informieren, was Bülow angesichts der Tatsache, dass dieser keinerlei Zuständigkeit im Eichstätter Besetzungsfall besaß, nicht nachvollziehen konnte. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 4. November 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 138 (Nr. 142). Bianchi-Cagliesi an Pizzardo vom 12. November 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 85rv, hier 85r. Hervorhebung im Original. Alle drei deutschen Länderkonkordate plus Reichskonkordat hatte Bianchi-Cagliesi nach eigenen Angaben – offenbar unerschlossen – vorliegen. Mit der Zuordnung zum Eichstätter Besetzungsfall war er freilich überfordert. Interessant ist seine Anmerkung, dass Ludwig Kaas – mittlerweile Leiter der Dombauhütte zu Sankt Peter – kürzlich in der Kanzlei gewesen sei und bei diesem Anlass einige konkordatsrechtliche Hinweise gegeben habe. 256
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Kanzleiregens auf, dass die Kapitelswahl aus einer römischen Dreierliste die preußische Praxis sei, nicht aber die bayerische.932 Die Wendung „nach Konkordatsvorschrift“ könne jedoch wie in der Vergangenheit beibehalten werden.933 Wenn sich die Anfrage zwar letztlich nur um eine Formulierungsmarginalie drehte, so offenbart sie doch, dass sowohl die Konsistorialkongregation wie die Apostolische Kanzlei in Unkenntnis der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse in Deutschland und damit vollkommen abhängig von den Anweisungen und Informationen waren, die ihnen das Staatssekretariat beziehungsweise die AES lieferte.
Eidesleistung und Amtsantritt des neuen Diözesanbischofs Wenn man vermutet, dass mit dem amtlichen Plazet des bayerischen Reichsstatthalters zur Nomination Rackls die innerstaatliche Debatte über den Fall abgeschlossen war, liegt man falsch. Nachdem das Kirchenministerium Ende Oktober im Anschluss an die angesprochene Intervention des Auswärtigen Amtes beim bayerischen Reichsstatthalter von diesem die gesammelten Akten zum Fall Rackl erhalten hatte, änderte es seine im September geäußerte Auffassung und „kam“ – wie Bernd Heim anführt – „nunmehr zu dem Ergebnis, daß gegen Regens Rackl als Kandidaten des bischöflichen Stuhles in Eichstätt ‚in der Tat schwere Bedenken politischer Natur obwaltenʻ“934. So äußerte sich Kirchenminister Hanns Kerrl in einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 2. November und warf Rackl vor, dass in dessen Schreiben vom 24. Juni eine „staatsfeindliche Haltung“935 – und damit ein klarer Anwendungsgrund für die politische Klausel – zum Ausdruck komme. Diese Staatsfeindlichkeit bestand für ihn in „einer wehrfeindlichen Gesinnung“936. Da-
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Vgl. Pizzardo an Bianchi-Cagliesi vom 15. November 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1935, Pos. 197 P.O., Fasz. 39, Fol. 86r–87r (nur r). Die Entwürfe der Ernennungsbullen, die sich im vatikanischen Geheimarchiv unter der Signatur „Cancelleria Apostolica, Regesta Litterarum Apostolicarum“ befinden, sind ab Jahrgang 1922 der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Ausfertigungen für Rackl selbst und für das Eichstätter Domkapitel sowie Klerus und Volk der Diözese – die fälschlich auf den 4. September statt auf den 4. November datieren – haben sich im Diözesanarchiv Eichstätt erhalten. Vgl. die Notiz bei Reiter, Ernennung, S. 90 Anm. 81. Die zweitgenannte Bulle, die Orsenigo am 2. Dezember übersandte, wurde samt deutscher Übersetzung im diözesanen Amtsblatt publiziert. Vgl. Ernennungsbulle Rackls vom 4. September [sic, R.H.] 1935, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 22 vom 11. Dezember 1935. Der fragliche Passus lautete schließlich: „Hodie nos … ad Cathedralium Ecclesiam vestram Eistettensem … dilectum Filium Michaelem Rackl … apostolica auctoritate ad juris conventi normam elegimus ipsumque illi Episcopum praefecimus et Pastorem.“ Hervorhebung R.H. Heim, Bischöfe, S. 202f. Kerrl an das Auswärtige Amt vom 2. November 1935, abgedruckt bei Reiter, Ernenung, S. 88f., hier 89. Kerrl an das Auswärtige Amt vom 2. November 1935, Reiter, Ernenung, S. 89. 257
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her bat Kerrl das Auswärtige Amt, die Ernennung Rackls beim Nuntius noch zu verhindern. Da Orsenigo jedoch zur selben Zeit die Nomination anzeigte, war es dafür zu spät. Am 6. November meldete das Auswärtige Amt daher zurück, erfolglos gewesen zu sein. Abgesehen davon, dass eine Rücknahme der Ernennung nach erfolgter Publikation undenkbar erschien, konnte es für die Behörden wohl nur peinlich sein, die soeben erteilte Zustimmung wenige Tage später zu widerrufen. Von daher bleibt offen, ob das Auswärtige Amt nach der Notifikation überhaupt noch bei Orsenigo vorstellig wurde. Die vatikanischen Quellen dokumentieren darüber jedenfalls nichts. Eine rechtliche Prämisse für den Amtsantritt des ernannten Bischofs fehlte noch: Der Amtseid vor dem Reichsstatthalter gemäß Artikel 16 des Reichskonkordats.937 Nach Korrespondenzen zwischen Rackl und Epp vom 19., 26. und 27. November stand der 2. Dezember als Vereidigungstermin fest. Doch schon im Vorfeld bahnte sich ein neuerlicher Konflikt an: Die dem Reichsstatthalter übermittelte Ansprache, die Rackl bei den Eidesfeierlichkeiten halten wollte, erntete Kritik im bayerischen Kultusministerium, das von Epp zur Prüfung des Textes herangezogen worden war. Staatsrat Boepple monierte den Rekurs Rackls auf die Staatslehre Leos XIII. im letzten Abschnitt der Rede, die er für antiquiert und staatsabträglich erachtete.938 Nachdem 937
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Die Eidesformel lautete: „Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande ... Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.“ Art. 16 des Reichskonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 509. Der Abschnitt lautete: „‚So wie es einem Bischof geziemtʻ soll und will ich als Bischof dem Deutschen Reich und dem Lande Bayern in Treue dienen. Ich glaube das am besten zu tun, wenn ich mich anschließe an die großen Enzykliken des Papstes Leo XIII.: ‚Diuturnum illudʻ vom 29. Juni 1881, welche das Verhältnis der Kirche zur weltlichen Obrigkeit darstellt, ‚Sapientiae christianaeʻ vom 10. Januar 1890, worin die Lehre der Kirche von den Pflichten der Bürger klargelegt ist, und ganz besonders die weitschauende und grundlegende Enzyklika ‚Immortale Deiʻ vom 1. November 1885 über das Thema: Die Kirche und die christliche Staatsordnung. Leo XIII. hat seinerzeit diese Enzyklika allen Regierungen der Welt zugesandt und von keiner Seite Widerspruch erfahren. Ich bin überzeugt, daß ich mein eidliches Treueversprechen dann am besten einlöse, wenn ich als Bischof meiner Heimatdiözese Eichstätt die Richtlinien des großen Papstes als wegweisend betrachte.“ Erster Entwurf der Ansprache Rackls vom 27. November 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 92. Staatsrat Boepple kritisierte daran: „Es ist immer mißlich, sich in einer persönlich abzugebenden Erklärung ganz allgemein auf frühere Erklärungen anderer Autoren zu berufen (soweit es sich nicht um sehr bekannte Zitate handelt). Ich habe die drei Enzykliken nunmehr nachgelesen und muß sagen, daß ich gegen die in der Rede beabsichtigte ganz allgemeine Bezugnahme erhebliche Bedenken habe. Die drei Enzykliken enthalten vieles, was durchaus zeitbedingt ist und sich als Richtschnur für heutiges kirchenpolitisches oder staatspolitisches Handeln durchaus nicht eignet, so z[um] B[eispiel] die Verurteilung der Zerstörung der weltlichen Herrschaft der Päpste (Immortale Dei 30) u[nter] a[nderem]. Dann enthalten sie Beleidigungen des evangelischen Bekenntnisses in den Hinweisen auf die 258
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ihn diese Kritik, die sich der Reichsstatthalter zu eigen machte, über Kapitularvikar Kiefer erreicht hatte,939 strich Rackl die inkriminierten Passagen heraus, sodass seine Rede dadurch zwar weniger anstößig klang, aber inhaltlich letztlich keine andere Botschaft transportierte.940 Insbesondere fügte er eine positive Bemerkung zur „Wehrhaftigkeit des Staates“ ein, die später bei staatlichen Stellen befriedigend zur Kenntnis genommen wurde.941 Bevor er am Mittag des
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‚sog. Reformationʻ (Diuturnum illud 224) oder die ‚unheilvolle und beklagenswerte Neuerungssucht im 16. Jahrhundertʻ (Immortale Dei 28). Dann finden sich auch viele Formulierungen, die in ihrer Allgemeinheit gelegentlich auch einer staatsabträglichen Auslegung durchaus fähig sind, so die in allen drei Enzykliken wiederholten Hinweise, daß man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen, ein Satz, der bekanntlich von kirchlicher Seite von jeher gerne gegen den Staat und staatliche Maßnahmen angeführt worden ist; ich erinnere nur an den heutigen Kampf gegen die Sterilisierungsgesetze.“ Boepple an Epp vom 28. November 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 205. Kiefer hatte den Entwurf der Ansprache persönlich nach München überbracht und erwartete in der Landeshauptstadt die Antwort des Reichsstatthalters. Vgl. Reiter, Ernennung, S. 92 Anm. 93. Der modifizierte Schlussteil der Rede lautete nun: „‚So wie es einem Bischof geziemtʻ soll und will ich als Bischof dem Deutschen Reich und dem Lande Bayern in Treue dienen. Mein katholischer Glaube zeigt mir klar den Weg, den ich als katholischer Bischof in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes zu gehen habe. Gerne und freudig bejahe ich nach den Normen des Naturrechtes und des positiven christlichen Sittengesetzes als etwas Gottgewolltes den Staat und die Staatsautorität und alles, was dem Wohl und der Ehre und dem Schutz und der Wehrhaftigkeit des Staates dient.“ Zweiter Entwurf der Ansprache Rackls vom 29. November 1935, zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 94. Hervorhebungen R.H. Die lehramtlichen Vorgaben Papst Leos XIII. und insbesondere der als anstößig empfundene Vers aus der Apostelgeschichte (5,29) ließen sich bequem im „katholischen Glauben“ als Handlungsdirektive des Bischofs unterbringen. In gleicher Weise waren sie in der katholischen Auffassung vom angesprochenen Naturrecht – im „positiven christlichen Sittengesetz“ ohnehin – als von Gott gegebener Grundlage der Moral und damit auch Grenze des Handelns impliziert. Bei der Textänderung handelte sich also letztlich um eine zurückhaltendere Formulierung derselben Aussagen. Ähnlich urteilt auch Ernst Reiter: „Mit dieser Neuformulierung kam Rackl den Wünschen der staatlichen Behörden entgegen. Der Hinweis auf die Wehrhaftigkeit des Staates sollte zeigen, daß er sich nicht grundsätzlich gegen den Wehrdienst stellte und auch die freiwillige Meldung von Theologen zum Militärdienst, gemäß der Absprache der bayerischen Bischöfe nicht verhindern werde. Auch betonte er ausdrücklicher als in der vorherigen Fassung die Notwendigkeit der Respektierung des Staates und der Staatsautorität. Aber der Hinweis auf die Normen des Naturrechts und des christlichen Sittengesetzes setzte der Respektierung des Staates und zugleich auch der staatlichen Gewalt deutliche Grenzen. Im Grunde hatte Rackl mit seiner neuen Formulierung von dem, was er mit dem Hinweis auf die Enzykliken zum Ausdruck bringen wollte, nichts zurückgenommen. Gleichzeitig hatte er durch die Bejahung der ‚Wehrhaftigkeitʻ des Staates seinen Kritikern den Wind aus den Segeln genommen, ohne zur Frage des Wehrdienstes der Theologen sich zu äußern.“ Reiter, Ernennung, S. 94f. So äußerte sich Legationsrat Menshausen am 3. Dezember gegenüber Bergen: „In der Rede des Bischofs ist auch von der Wehrhaftigkeit des Staates die Rede. Ich möchte annehmen, daß hiermit die Angelegenheit ihre befriedigende Erledigung gefunden hat.“ Zitiert nach Reiter, Ernennung, S. 95 Anm. 100. Zuvor hatte der Vatikangesandte das Auswärtige Amt noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Aussagen Rackls vom 24. Juni völlig mit den Vereinbarungen zwischen der Reichsregierung und dem Heiligen Stuhl übereinstimmten. Möglicherweise hatte Pacelli gegenüber 259
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2. Dezember diese Ansprache hielt und vor Epp den vorgeschriebenen Eid leistete, suchte er für „eine längere Aussprache“942 Kardinal Faulhaber auf. Diese sei – wie Rackl dem Erzbischof später bekannte – für das sich an die Eidesleistung anschließende Gespräch mit dem Reichsstatthalter sehr nützlich gewesen. Am 18. Dezember, nach etwas mehr als viermonatiger Sedisvakanz, legte Rackl dem Eichstätter Domkapitel die römische Ernennungsbulle vor und nahm damit das Bistum in Besitz.943 Drei Tage später, am Fest des heiligen Apostels Thomas, empfing er im Eichstätter Dom die Bischofsweihe, die ihm sein Vorgänger und Vertrauter Preysing unter Mitwirkung der Bischöfe Ehrenfried und Sebastian spendete. Reichsstatthalter Epp und Ministerpräsident Siebert, die zu den Konsekrationsfeierlichkeiten eingeladen worden waren, sagten ihre Teilnahme ab.
Ergebnis 1. Für die Nachfolge Preysings hatte Pacelli nur einen einzigen Kandidaten im Sinn: den Eichstätter Regens Rackl. Obwohl die Quellen über den Prozess der Entscheidungsfindung kaum Auskunft geben, lassen sich drei Eckpunkte benennen, auf Basis welcher Kriterien und auf welche Weise die Kandidatur Rackls zustande kam: a) Zunächst ist festzuhalten, dass Rackl zu der Favoritengruppe tauglicher Bischofskandidaten gehörte, die Pacelli im Kontext des Augsburger Besetzungsfalls anhand der bischöflichen Triennalliste von 1929 zusammenstellte. Wie in diesem Zusammenhang erläutert, bestanden die für Pacelli maßgeblichen Attribute, um in diese Gruppe zu gelangen, nicht allein in der kanonischen Eignung des Kandidaten, wie sie etwa die Bischöfe auf ihren Listen von 1926 bis 1932 Rackl attestierten: nämlich die fromme Gelehrsamkeit und wissenschaftliche Begabung, ein „candidatus dignissimus“, von tugendhaftem Verhalten, aszetisch, klug, „überfließend“ von „Tugend und Wissenschaft“, „Schlichtheit des Herzens und Leutseligkeit“. Zu dieser Grundvoraussetzung traten für
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dem deutschen Diplomaten darauf noch einmal insistiert. Zu diesem Zeitpunkt notierte er sich als Ergebnis einer Audienz bei Pius XI.: „Nomina del Vescovo di Eichstätt (Rackl): Si proceda senzʼaltro.“ Audienznotiz Pacellis vom 3. Dezember 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 352, Fol. 68r. Reiter, Ernennung, S. 95. Die Unterredung fand laut Faulhabers Tagebuchaufzeichnungen am Vortag statt: „Bischof Michael Rackl von Eichstätt, mit Prälat Grabmann zu Tisch. Ich erzähle die Vorgeschichte - für die Rede bei der Vereidigung morgen. Beide Herren bleiben zu Tisch.“ Tagebucheintrag Faulhabers vom 1. Dezember 1935, EAM, NL Faulhaber 10016, S. 142. Vgl. dazu „Konsekration und Inthronisation unseres Hochwürdigsten Herrn Bischofs Michael“ ohne Datum, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt Nr. 22 vom 11. Dezember 1935. 260
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Pacelli als entscheidend relevante Eigenschaften hinzu: eine „gesunde“ Theologie, die vorzugsweise in Rom oder zumindest in einem Jesuitenkolleg gelernt wurde und ein korrektes, das heißt an den römischen Vorgaben orientiertes Verständnis von Priesterausbildung, zusammen mit der Einsicht in die Notwendigkeit, diese Vorgaben umzusetzen. Dadurch, dass er Rackl in diese Gruppe einsortierte, dokumentierte Pacelli, dass er diese beiden Kriterien in ihm erfüllt sah. Dadurch, dass er 1935 auf Rackl zurückgriff, zeigte er, dass diese für ihn nach wie vor normativ waren. Dabei genügte der Regens hinsichtlich der theologischen Ausbildung gar nicht dem Optimum, auch wenn er nach seinem Studium am Eichstätter Lyzeum und seiner Promotion in Freiburg die gut drei Jahre als Kaplan am Priesterkolleg der Anima in Rom zu weiteren Studien nutzte.944 Dass der Regens sich entsprechend den Anforderungen „in den Bahnen neuscholastischer Theologie [bewegte]“945, konnte sich für Pacelli aus dessen wissenschaftlicher Betätigung als Dogmatikprofessor und den damit verbundenen Publikationen ergeben – immerhin drängte die auf den Triennallisten mehrfach herausgehobene Wissenschaftlichkeit Rackls geradezu nach einer näheren Untersuchung, worin diese bestand. Außerdem stand Pacelli ein Urteil von Bares zur Verfügung, der als Hildesheimer Oberhirte den Eichstätter Regens im Frühjahr 1933 für den Münsteraner Bischofsstuhl vorgeschlagen hatte.946 Bares stellte damals besonders die wissenschaftlich-theologische Tätigkeit Rackls heraus und bezeugte, dass dessen Publikationen „den innersten katholischen Sinn eines frommen Priesters“ offenlegten.947 Die „gesunde“ theologische Ausrichtung des Genannten bildete die Grundlage, um dem zweiten Kriterium der Priesterausbildung genügen zu können. Erfahrungen auf diesem Gebiet konnte Rackl, der seit 1924 Regens des Priesterseminars und Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule war, genug vorweisen. Dass Pacelli ein aus persönlichen Eindrücken gewonnenes umfassenderes Bild Rackls aus seiner Zeit als Nuntius in München besaß, ist wohl eher unwahrscheinlich, nicht nur, weil er ihn in
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Eine Ausbildung in Rom oder zumindest bei Jesuiten war für Pacelli keine conditio sine qua non, um die erwünschte römische Ausrichtung in der Theologie zu vertreten. Neben Rackl hatten aus seiner Favoritengruppe der Passauer Professor Franz Xaver Eggersdorfer, der Bamberger Domkapitular Karl Wolkenau und der Scheyerner Abt Simon Konrad Landersdorfer OSB ebenfalls kein solches Studium vorzuweisen. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1). Hausberger, Rackl, Sp. 1187. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats). Dieses wissenschaftlich-theologische, auf die Dogmatik ausgerichtete Profil wurde von den Zeitgenossen durchaus als wesentliches Kriterium für die römische Kandidatenwahl aufgefasst. So schrieb Martin Grabmann mit einem Seitenblick auf die Wiederbesetzung des Mainzer Bischofsstuhls noch im November 1935 im „Klerusblatt“: „Es ist ein eigenartiges Zusammentreffen, daß unmittelbar nacheinander zwei Professoren der Dogmatik: Dr. Albert Stohr in Mainz und Dr. Michael Rackl in Eichstätt durch Seine Heiligkeit Papst Pius XI. zur bischöflichen Würde erhoben worden sind.“ Grabmann, Michael, S. 745. 261
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seiner Nuntiaturberichterstattung nicht erwähnte,948 sondern auch, weil er den Regens nicht von vornherein ideal einschätzte, wie die bischöfliche Triennalliste von 1926 zeigt: Bei ihrer Analyse markierte Pacelli den Vorgeschlagenen lediglich mit einem „+“, erst auf der 29er-Liste schaffte dieser den Sprung in die Favoritengruppe „++“. Dass Pacelli ab jetzt von der Tauglichkeit Rackls überzeugt war, könnte seinen Grund darin haben, dass der Regens hier die Unterstützung Ehrenfrieds erhielt, dem Pacelli ein sachgemäßes Urteil in den genannten Bereichen zutraute (vgl. Nr. 4). Jedenfalls schließt sich hier die Folgefrage an: Wieso wählte er unter allen Kandidaten aus seiner Favoritengruppe gerade Rackl aus? b) Der zweite Eckpunkt gibt eine Antwort: Pacellis Vertrauter Preysing sprach sich in Rom für seinen Freund und Mitarbeiter der letzten Jahre aus (vgl. Nr. 4). Die angezeigte zeitliche Nähe von Preysings Besuch und der Anfrage Pizzardos an das Sanctum Officium lässt erahnen, wie bedeutsam diese Fürsprache war. Offensichtlich erfolgte hier der maßgebliche Schritt zur Kandidatur des Eichstätter Regens. Es ist davon auszugehen, dass der Graf, „der nahezu täglich zu“ Rackl „ins Seminar kam“949, von ihrer engen Zusammenarbeit berichtete, auch und gerade zum Schutz des Priesternachwuchses vor nationalsozialistischer Beeinflussung. Damit ist nicht nur eine Brücke zum zweiten Zentralkriterium Pacellis geschlagen, sondern auch ein weiterer fundamentaler Aspekt angesprochen: c) die Auseinandersetzung mit dem NS beziehungsweise die Reaktion auf den teils laufenden, teils noch zu erwartenden Kampf des Regimes und seiner Ideologie gegen die Freiheiten und Grundsätze der Kirche. Der dezidierte NS-Gegner Preysing, den Pacelli unter diesen Vorzeichen soeben in das nationalsozialistische Machtzentrum transferiert hatte, konnte nicht nur die entschiedene Ablehnung versichern, mit der Rackl dem NS gegenüberstand, sondern auch die Bereitschaft des Regens bestätigen, die kirchlichen Interessen standhaft zu verteidigen.950 Immerhin gehörte zu Pacellis maßgeblichen Kriterien, auf deren Basis er seine „++“-Gruppe erstellte, auch der Zusatz, „in grundsätzlichen Dingen nicht zu nachgiebig“ zu sein. Diese Unnachgiebigkeit hatte Rackl hinsichtlich des Grundsatzthemas Priesterausbildung bereits unter Beweis gestellt. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass Rackl der Favorit des Eichstätter Domkapitels war. Auch dies könnte für Pacelli eine Rolle gespielt haben, sich gerade jetzt für Rackl zu entscheiden, wobei sich die Frage stellt, wie hoch die Relevanz dieses Votums angesichts der geschilderten
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Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Grabmann, Michael, S. 746. Auch Bernd Heim weist darauf hin, dass man auf Seiten des NS „entsetzt“ feststellen musste, dass „der Vatikan mit Graf Preysing und Regens Rackl nunmehr sogar Männer zu Bischöfen ernannte, die dem Nationalsozialismus dezidiert kritisch gegenüberstanden“. Heim, Bischöfe, S. 216. 262
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Fürsprache Preysings veranschlagt werden darf. Faktisch entsprach Pacelli jedenfalls der Stimme der Domherren, indem er den heimischen Regens, der fast seine gesamte berufliche Karriere in Eichstätt zugebracht hatte, als neuen Oberhirten nominierte. Es bleibt festzuhalten: Die allgemein-episkopable Tauglichkeit, die Pacelli dem Eichstätter Regens auf Basis kanonischer Eignung, rechtmäßiger theologischer Ausrichtung und korrekter Einsicht in die Konditionen der Priesterausbildung zuschrieb, ergänzt durch eine stringente Haltung gegenüber dem NS, traf auf die Fürsprache und Bestätigung Preysings sowie die Unterstützung der Domherren.951 Dies machte Rackl in den Augen des Kardinalstaatssekretärs zum idealen Bischof für das Bistum Eichstätt, sodass an alternative Kandidaten nicht gedacht werden musste. 2. Durch die Translation Preysings nach Berlin war die Eichstätter Sedisvakanz für Pacelli frühzeitig absehbar. Diesen Vorsprung wollte er nutzen, um die Wiederbesetzung gemäß Artikel 14 § 1 des Bayernkonkordats und den erstmals in Bayern greifenden Modifikationen des Reichskonkordats zügig durchzuführen. Dementsprechend hatte er den Nachfolger bereits gefunden, bevor Preysing am 11. August seine bayerische Diözese verließ. Dabei kümmerte es Pacelli nicht, dass die Domkapitel von Regensburg und Bamberg ihre Triennallisten des laufenden Jahres noch nicht eingereicht hatten. Das Listenverfahren interpretierte er also lediglich als „Recht“ der Domherren und nicht als „Pflicht“, ohne die eine Nomination nicht statthaft wäre. An der Stimme der säumigen Kapitel war ihm wenig gelegen, ansonsten hätte er eine drängende Aufforderung schicken oder die Erledigung der Sedisvakanz noch etwas verzögern können. Eine Besonderheit dieser causa ist, dass Pacelli zwei Nuntien involvierte: informell den „Privatmann“ Vassallo, der Informationen lieferte und nach wie vor für die Vermittlung der Triennallisten zuständig war, und formell Orsenigo, der die rechtlich relevanten Schritte verantwortete wie die Anfrage zwecks politischer Bedenken. Auch die Zustimmung des ins Auge gefassten Kandidaten holte er ein. Auf den in den vorangegangenen bayerischen Besetzungsfällen eingeschobenen Verfahrensschritt, zwischen der Durchsicht der Vorschlagslisten und der Nomination den neuen Bischofs dem Münchener Nuntius ausgewählte Geistliche zur Bewertung vorzulegen, verzichtete der Kardinalstaatssekretär in dieser causa. Den Grund dafür wird man vermutlich nicht darin suchen können, dass Vassallo keinen offiziellen Status als Nuntius mehr besaß – eine informelle
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Damit ist auch Bernd Heims Frage, die er bei seiner „Bewertung“ des Eichstätter Besetzungsfalls aufwirft, „ob Bischof Preysings Empfehlung eine ohnehin innerhalb der Kurie vorhandene Präferenz zugunsten Regens Rackls verstärkte oder der Kandidatensuche eine völlig neue Richtung gab“, beantwortet. Heim, Bischöfe, S. 209. 263
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Meinungsäußerung wäre dennoch möglich gewesen952 –, sondern eher in dem mündlichen Votum Preysings, das für Papst und Staatssekretär offensichtlich alle Zweifel beseitigte. 3. Obwohl Pacelli noch vor Eintritt der Sedisvakanz den Nachfolger parat hatte, dauerte es weitere vier Monate, bis dieser sein Amt antreten konnte. Für eine Verzögerung sorgte vor allem, dass der bayerische Reichsstatthalter erst über vier Wochen nach Ablauf der 20-tägigen Einspruchsfrist bekannt gab, keine politischen Bedenken gegen Rackl geltend zu machen. Der Kardinalstaatssekretär war über diese Fristverletzung, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Regel zu werden schien, in hohem Maße verärgert. Seine Beschwerde beim Vatikanbotschafter hatte den Zweck, auf staatlicher Seite die Angst zu schüren, der Heilige Stuhl könnte von dem im Schlussprotokoll zum Reichskonkordat fixierten Recht Gebrauch machen und die Einsetzung Rackls vollziehen, ohne auf die staatliche Antwort zu warten. Dass Pacelli ernsthaft an diese konfliktgeladene Option dachte, ist eher unwahrscheinlich, denn ansonsten hätte er kaum volle vier Wochen geduldig auf die Antwort Epps gewartet. Brisant hätte die Angelegenheit in dem Augenblick werden können, wenn der Bescheid negativ ausgefallen wäre beziehungsweise wenn der neue Kirchenminister seinen verspäteten Versuch, Rackl wegen „staatsfeindlicher Gesinnung“ zu verhindern, einige Tage früher unternommen hätte. Wie hätte Pacelli auf eine Ablehnung seines Wunschkandidaten reagiert? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Anzunehmen ist jedenfalls, dass er die in den staatlichen Behörden diskutierten Ablehnungsgründe als nicht legitim betrachtet hätte. Zwar war Kerrls Vorwurf der „Staatsfeindlichkeit“ Rackls für sich genommen ein Anwendungsfall der politischen Klausel, da es sich hier auch im Sinne Roms um allgemeinpolitische Bedenken handelte. Doch eine prinzipielle „Staatsfeindlichkeit“ aus der Auffassung Rackls zur freiwilligen Wehrpflicht der Theologen abzuleiten, die dazu noch auf dem Fundament des Kirchenrechts fußte, musste Pacelli absurd erscheinen. Im Hintergrund stand für die NS-Seite das Grundproblem, dass nämlich Rackl – wie Boepple schrieb – „den Erfordernissen des nationalsozialistischen Staates wenig Verständnis entgegenbringt“, ja sogar offensiv versuchte, nationalsozialistische Einflussnahmen auf kirchliche Belange zu unterbinden. Nun war genau das für den Kardinalstaatssekretär gerade ein Kriterium zugunsten der Kandidatur des Regens (vgl. Nr. 1). Deshalb kam für ihn ein Kandidatenwechsel, für den der Reichsstatthalter informell kurzzeitig auch Faulhaber gewinnen konnte, nicht infrage.953 Außerdem 952
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Vassallo hätte sich außerdem erheblich fundierter zum Eichstätter Geistlichen äußern können als Orsenigo, der neuerdings formal gesehen der erste Ansprechpartner hätte sein müssen, aber logischerweise über die bayerischen Verhältnisse nicht profund Bescheid wissen konnte. Von daher ist einsichtig, dass Pacelli den Berliner Nuntius nicht bat, sich zur Kandidatenfrage zu äußern. Erinnert sei an Pacellis Audienznotiz vom 3. Dezember 1935, man solle mit der Einsetzung Rackls „ohne Weiteres fortfahren“. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.6 Anm. 941. Auch als Vassallo am 11. September für die Zukunft weitere Konflikte zwischen Rackl und dem NS-Staat vorhersagte, rückten Papst und Staatssekretär 264
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hatte die gewünschte klare Ablehnung der Ideologie des NS für Pacelli nichts mit allgemeinpolitischen Bedenken zu tun – sie war ein illegitimer parteipolitischer Beweggrund. Andernfalls hätte er mit einem Einspruch rechnen müssen und in diesem Fall vermutlich zuerst das staatliche Nihil obstat und erst anschließend auf gesicherter Basis die Zustimmung Rackls selbst einholen lassen. Doch seine Weisung für Orsenigo sah die umgekehrte Reihenfolge vor.954 Dennoch musste ihm klar sein, dass die Ernennung des streitbaren Regens dem NS-Regime nicht gefallen konnte und daher zumindest ein gewisses Risiko barg. Zwar sah er sich rechtlich auf der sicheren Seite, doch während die Differenzierung zwischen allgemein- und parteipolitischen Bedenken für ihn und den Heiligen Stuhl auf der Hand lag, wurde sie dem totalitären Regime zunehmend unmöglich. Da der Verschmelzungsprozess dieser beiden Ebenen 1935 noch nicht abgeschlossen war,955 ging die Angelegenheit aus Pacellis Sicht noch glücklich aus. Ernst Reiter glaubt, dass Rackl nur ein Jahr später das Nihil obstat nicht mehr erhalten hätte.956 Da dieser es jedoch 1935 – haarscharf – noch erhielt,
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von der Kandidatur des Regens nicht ab. Ernst Reiter sieht in dem Schritt, Faulhaber einzuschalten, ein Zeichen von „Verunsicherung der bayerischen Behörden“. Reiter, Ernennung, S. 85. Für Bernd Heim ist er „zugleich Ausdruck einer maßvollen Reaktion. Einer Reaktion, die das Bestreben leitete, zu einer für beide Vertragsparteien befriedigenden und akzeptablen Lösung des Falls zu gelangen.“ Heim, Bischöfe, S. 214. Angesichts von Pacellis Kandidatenkriteriologie konnte es eine solche Lösung, die für die NS-Seite „befriedigend“ gewesen wäre, nicht geben. Das änderte sich in den nachfolgenden Besetzungsfällen (Meißen 1936/37, Passau 1936, Fulda 1936/39), in denen Pacelli das Einverständnis des Amtsanwärters jeweils erst nach dem staatlichen Plazet einholen ließ. Auch Bernd Heim weist auf diesen Wechsel im Vorgehen im Anschluss an den Eichstätter Fall von 1935 hin. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 210. Zur allmählichen Verquickung von allgemein- und parteipolitischen Bedenken bemerkt Bernd Heim: „Dem Bemühen, sich bei der Entscheidungsfindung nach allen Seiten abzusichern, entspricht auch die im Büro des Reichsstatthalters diskutierte Option, Parteidienststellen zum ‚Fall Rackl‘ zu hören. Die erörterte Anhörung der NSDAP-Vertreter unterblieb, weil die Arbeitsweise der Parteidienststellen als zu langsam und zu ineffizient bewertet wurde und eine neuerliche Befragung des Eichstätter Kreisleiters, Dr. Krauß, durch das Kultusministerium keine neuen Gesichtspunkte zum Fall hätte beisteuern können. An dieser Stelle zeigten sich auch die innerhalb der bayerischen Ministerialbürokratie Tendenzen, die noch bestehenden Trennungslinien zwischen Staat und Partei zu eliminieren. Den Erfordernissen der politischen Klauseln des Reichskonkordats bzw. des bayerischen Konkordats, die Ablehnungen nur aus ‚allgemein politischen‘ bzw. ‚politischen‘ Motiven gestatten, vermag die hier erkennbare zunehmende Verflechtung der Interessen von Staat und Partei nicht mehr gerecht zu werden. Der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus zeigte im Sommer 1935 auch innerhalb der Ministerialbürokratie Wirkung und begann, sich in den Köpfen der dort arbeitenden Mitarbeiter zu verankern.“ Heim, Bischöfe, S. 214. Vgl. auch ebd., S. 216. Er analysiert das staatliche Plazet folgendermaßen: „Trotz der von verschiedenen Stellen gegen den Regens und Rektor Dr. Michael Rackl vorgebrachten Anklagen und Bedenken ist seine Ernennung zum Bischof von Eichstätt nicht am konkordatär abgesicherten Einspruchsrecht des Staates gescheitert. Die Gründe dafür sind verschiedener Art: Die zuständigen bayerischen Persönlichkeiten und Behörden waren noch rechtlichem Denken verpflichtet und noch nicht völlig dem totalitären Geist des Nationalsozialismus verfallen; die Gleichschaltung der Länder war noch nicht bis ins letzte durch265
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brauchte sich Pacelli mit einem Widerspruch nicht zu befassen. Daher blieb es bei der mittlerweile zur Gewohnheit werdenden Einschärfung, dass die Einspruchsfrist gewahrt und andernfalls um eine Verlängerung gebeten werden müsse. 4. In der Frage, ob und welche Informanten, Ratgeber oder Einflüsse von dritter Seite für Pacelli in dieser causa eine Rolle spielten, ist ein Vierfaches anzusprechen: a) An erster Stelle ist Preysing zu nennen, dem eine konstitutive Rolle in der Kandidatenwahl von Papst und Staatssekretär zukam (vgl. Nr. 1). Als enger Vertrauter und Geistesverwandter Pacellis, der als Ordinarius der Eichstätter Diözese intime Kenntnisse über die dortigen Verhältnisse besaß, war er der perfekte Ansprechpartner. Insofern war es folgerichtig, dass sein Rombesuch in eine mündliche Sondierung über seinen Nachfolger mündete. b) Die versuchte Intervention Faulhabers lässt Fragen offen: Welche Motive bewogen den Erzbischof, sich vom Reichsstatthalter gegen die Nomination Rackls instrumentalisieren zu lassen? Warum wandte er sich an den Berliner Nuntius, anstatt sein Anliegen direkt bei Pacelli oder Pius XI. vorzubringen, die es doch letztlich zu überzeugen galt? Tatsache ist jedenfalls, dass er die rechtliche Haltung des Heiligen Stuhls zur politischen Klausel teilte und daher klar auf die Aussichtslosigkeit hinwies, mit solcherart Argumenten in Rom auf Resonanz zu stoßen. Dass er dennoch anbot, persönlich in der Berliner Nuntiatur vorzusprechen, lässt sich wohl nur als Versuch deuten, durch eine versöhnliche und kompromissbereite Haltung – etwa im Sinne der „Freundschaftsklausel“ des Reichskonkordats957 – das Verhältnis von Kirche und NS-Regierung zu entspannen. Wie angesprochen war Pacelli hingegen nicht bereit, dem Regime entgegenzukommen, um etwa einen weniger „distanzierten“ Geistlichen auf den Stuhl des heiligen Willibald zu promovieren. Sollte der Kardinalstaatssekretär also, der zu diesem Zeitpunkt in Rorschach weilte, von Faulhabers Initiative erfahren haben, gab er ihr nicht nach.
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geführt, so daß die Landesbehörden Entscheidungen treffen konnten, die – aus nationalsozialistischer Sicht – den Reichsbehörden zustanden; außerdem waren die staatlichen Behörden zu dieser Zeit noch nicht völlig aufeinander abgestimmt. Wäre der Eichstätter Bischofsstuhl erst 1936 oder noch später in Erledigung gekommen, Michael Rackl wäre wohl nie Bischof von Eichstätt geworden.“ Reiter, Ernennung, S. 96. Bernd Heim ergänzt, dass insbesondere auch die unklare Rolle des noch jungen Kirchenministeriums dazu beitrug, dass die Nomination Rackls glückte, insofern dieses in der Folgezeit häufig die Quelle des Widerstands gegen kirchliche Kandidaten werden sollte. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 217 und generell zu seiner Einschätzung des als „grotesk“ eingestuften behördlichen Ablaufs der Entscheidungsfindung ebd., S. 211–217, hier 212. In dem in der vorliegenden Studie behandelten Zeitraum ist auf die Besetzungsfälle von Fulda 1936/39 und Aachen 1937/38 zu verweisen, in denen das Kirchenministerium jeweils den römischen Kandidaten ablehnte. Vgl. Art. 33, Satz 2 des Reichskonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 513. 266
II.2.6 Eichstätt 1935
c) Schließlich sind die Vorschlagslisten von Episkopat und Domkapitel in den Blick zu nehmen, die formal-rechtlich die Grundlage für die römische Nomination des neuen Diözesanbischofs bildeten. Was die Domherrenlisten anbelangt, so hatten nur die heimischen Kanoniker Rackl auf dem Zettel, allerdings mit überwältigender Zustimmung als Wunschkandidaten für die Nachfolge Preysings. Mit der Wahl Rackls entsprach Pacelli faktisch ihrem Votum, wobei die tatsächliche Relevanz, die man ihrer Stimme beim Kardinalstaatssekretär zusprechen möchte, korrelativ davon abhängt, wie stark man das Votum Preysings gewichtet. Jedenfalls stützten die Eichstätter Sedisvakanz- und Triennalliste(n) Rackls Kandidatur, genauso wie die bischöflichen Triennallisten bis 1932. Wie entscheidend diese Bischofslisten waren, insbesondere die aus dem Jahr 1929, auf deren Grundlage Pacelli seine Favoritengruppe „++“ erstellte, wurde schon mehrfach betont. Die „Aufwertung“, die Rackl von der 1926er- zur 1929er-Liste zuteil wurde, könnte mit der Fürsprache Bischof Ehrenfrieds verbunden gewesen sein, dessen Stimme für Pacelli offenbar besonderes Gewicht besaß.958 Außerdem sprachen sich Mergel und Sebastian, 1932 nochmals Sebastian und Ehrenfried für den Regens aus, der in diesem Jahr sogar zum Favoriten des Episkopats avancierte. Wenn dessen Urteil allerdings für Pacelli letztentscheidend gewesen wäre, hätte er Rackl konsequenterweise nicht nominieren dürfen, da ihn die Bischöfe auf ihrer aktuellen Liste von 1935 nicht mehr zu den episkopablen Geistlichen zählten und damit überraschend „abwählten“. Denkbar ist, dass letztlich Faulhaber dafür verantwortlich war, der im bayerischen Episkopat die alles beherrschende Rolle einnahm. Die vatikanischen Quellen belegen nicht, dass Pacelli dieser Sache auf den Grund gegangen wäre, wobei zu vermuten ist, dass er diesen negativen Befund mündlich mit Preysing erörterte, der an der Abstimmung über die Triennalliste immerhin beteiligt gewesen war. Jedenfalls sieht man an diesem Beispiel eine „Option“ des Triennallistenverfahrens: Obwohl einem Kandidaten auf einer Liste die Episkopabilität gewissermaßen entzogen wurde, konnte dieser mit Rekurs auf frühere Listen beziehungsweise auf Listen anderer Proponenten wie in diesem Fall des Eichstätter Domkapitels dennoch als Amtsanwärter herangezogen werden. Insofern bleibt als ambivalentes Bild festzuhalten, dass Pacelli die Meinung sowohl der Eichstätter Kanoniker als auch der bayerischen Bischöfe berücksichtigte, bei beiden jedoch ein einschränkendes „aber“ notiert werden muss. Die Stimme der übrigen Domkapitel war bedeutungslos. d) Abschließend lässt sich Bares mit seinem Votum von 1933 als mittelbarer „Informant“ anführen (vgl. Nr. 1), wobei offen bleibt, ob Pacelli dieses zum jetzigen Zeitpunkt noch präsent hatte und für relevant erachtete. 5. Das Verfahren bringt das Bild eines Kardinalstaatssekretärs zum Vorschein, der die Wiederbesetzung des Eichstätter Bischofsstuhls von Anfang bis Ende genau im Auge behielt und den Geschäftsgang durch präzise Anordnungen von Rom aus steuerte: Er ergriff die Initiative zum 958
Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 4). 267
II.2.6 Eichstätt 1935
Verfahrensauftakt, indem er Vassallo aufforderte, sich um die fehlenden Vorschlagslisten zu kümmern; Orsenigo trug er auf, erst die Zustimmung Rackls, dann das Plazet der Regierung einzuholen; über den Vatikangesandten Bergen übte er Druck auf die staatliche Seite aus; nachdem Orsenigo das Nihil obstat der Regierung nach Rom übermittelt hatte, blieb es fast zwei Wochen unbearbeitet im Staatssekretariat liegen bis Pacelli aus seinem Urlaub zurückkehrte und die weiteren formalen Verfahrensschritte einleitete. Die Rolle der beiden Nuntien in Berlin und München blieb demgegenüber blass: Der Ärger Pacellis, dass noch nicht alle Triennallisten des laufenden Jahres eingegangen waren, konnte sich auch auf Vassallo beziehen, der sich von selbst nicht um diese Angelegenheit gekümmert hatte. Orsenigo war es seinerseits nicht gelungen, die Regierung zu einer fristgemäßen Behandlung des Bedenkenrechts zu bewegen, sodass der Kardinalstaatssekretär in dieser Sache selbst tätig werden musste. Keinerlei Einfluss hatten sie auf die Kandidatenfrage, zu der Pacelli sie nicht konsultierte (vgl. Nr. 2) und zu der sie sich auch von selbst nicht äußerten. Eine Ausnahme bildete das aus eigener Initiative entstandene Schreiben Vassallos vom 11. September, mit dem er Pacelli Informationen über den internen Entscheidungsprozess der bayerischen Staatsbehörden zukommen ließ. Doch seinem implizit empfohlenen Kandidatenwechsel folgte Pacelli nicht. Kaum Einblicke gewähren die vatikanischen Quellen schließlich in das Zusammenspiel von Papst und Staatssekretär, insbesondere hinsichtlich des Bischofskandidaten. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Nachfolgefrage angesichts von Preysings Rombesuch offensichtlich komplett mündlich diskutiert wurde. Es ist durchaus denkbar, dass in der Audienz des neuen Berliner Oberhirten bei Pius XI. neben den drängenden politischen Themen auch die Eichstätter Bischofsfrage Gesprächsgegenstand war. Allerdings dürfen Zweifel angemeldet werden, ob der Pontifex mit der Person des Eichstätter Regens und Hochschulrektors eine ausreichende Vorstellung assoziieren konnte, die eine spontane Entscheidung zu dessen Gunsten rechtfertigte, zumal man dies vermutlich selbst für den langjährigen deutschen Nuntius Pacelli in Abrede stellen muss (vgl. Nr. 1). Auf der anderen Seite sprach Preysing mit Sicherheit auch beim Kardinalstaatssekretär vor, dem die Eichstätter causa wie gesagt von Beginn an am Herzen lag. Außerdem gehörte Rackl zu seiner episkopablen Favoritengruppe, sodass hier ein Resonanzboden bestand, auf dem dessen Kandidatur in der Diskussion mit Preysing entstehen und anschließend dem Papst schmackhaft gemacht werden konnte.959
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Dass Pacelli den Papst über die Eichstätter Sedisvakanz auf dem Laufenden hielt, ergibt sich nicht nur aus seiner Audienznotiz vom 3. Dezember, sondern auch aus seiner Bemerkung vom 15. Juli, Vassallo möge die Eichstätter Sedisvakanzliste „per venerato ordine del Santo Padre“ einholen. 268
II.2.7 Passau 1936
II.2.7 Passau 1936
II.2.7 Eine letzte Gelegenheit für einen langjährigen Bischofsanwärter: Passau 1936 (Simon Konrad Landersdorfer OSB) Der Tod von Bischof Felix von Ow-Felldorf und die Kandidaten der Passauer Domherren Die letzte bayerische Bischofseinsetzung in dem hier zu behandelnden Zeitraum stand im Frühsommer 1936 an, nachdem Bischof Sigismund Felix Freiherr von Ow-Felldorf am 11. Mai nach langer Krankheit gestorben war. Wie bereits zu Beginn dieser Studie darauf hingewiesen wurde, fehlen für diesen Besetzungsfall nicht nur die Akten aus dem Nuntiaturarchiv, sondern ebenfalls die Dokumente aus der AES.960 Damit ist eine quellengestützte, gesicherte Rekonstruktion der innerkurialen Entscheidungsfindung respektive der Korrespondenz zwischen Staatssekretariat und Nuntiatur nicht möglich. Allerdings ist zu bedenken, dass durch den Artikel 14 § 1 des bayerischen Konkordats ein klares Raster für den formalen Verfahrensverlauf vorgegeben war und die dafür wesentlichen Triennallisten überliefert sind. Auf ihrer Basis lassen sich neue Einblicke in die römische Personalentscheidung gewinnen. Der äußere Rahmen des Verfahrens lässt sich mit den autobiographischen Aufzeichnungen Simon Konrad Landersdorfers961 und der auf Basis staatlicher Aktenüberlieferung entstandenen Studie Bernd Heims962 vervollständigen, sodass sich zumindest für die Außenperspektive ein recht komplettes Bild der Ereignisse ergibt.963 Bischof Ow-Felldorf verstarb also am 11. Mai 1936. Das Passauer Domkapitel wählte schon am gleichen Tag seinen Propst, Generalvikar Franz Riemer, zum Kapitularvikar.964 Gemäß dem Aus-
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Das Archivprotokollbuch vermerkt, dass die AES-Akten verschollen seien. Die autobiographischen Aufzeichnungen Landersdorfers, die sich im Passauer Diözesanarchiv erhalten haben, wurden mir freundlicherweise von Archivdirektor Herbert W. Wurster zur Verfügung gestellt, der an einer Edition arbeitet. Vgl. Wurster (Hg.), Landersdorfer. Die für die Bischofseinsetzung relevanten Aufzeichnungen wurden bereits verarbeitet bei Ders. (Hg.), Ernstes und Geier, Seelsorge, S. 30–36. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 323–342. Vgl. außerdem zur Besetzung des bischöflichen Stuhls Passau 1936 Leidl, Bischof (1971), S. 8f.; Siegmund/Leidl, Simon, S. 31f. Zwei Tage später zeigte Riemer seine Wahl dem bayerischen Innenministerium und dem bayerischen Reichsstatthalter an. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 323. 269
II.2.7 Passau 1936
führungsdekret „Circa proponendos ad Episcopale ministerium, sede aliqua Bavariae vacante, per respectivum Capitulum Cathedrale“ von 1926 lud dieser innerhalb der nächsten acht Tage die Domkapitulare zu einer geheimen Versammlung ein, um über die geforderte Sedisvakanzliste tauglicher Nachfolgekandidaten für die Leitung des ostbayerischen Bistums abzustimmen.965 Die Wahl durfte nicht später als 15 Tage nach Erledigung des Bistums stattfinden. Wenn sich die Kanoniker an diese Vorgabe hielten, erfolgte sie also spätestens am 26. Mai. Weil mit den vatikanischen Akten auch die Sedisvakanzliste verloren ging, lässt sich nur vermuten, wie diese ausgesehen haben könnte.966 Einen gewichtigen Anhaltspunkt geben dabei die Triennallisten der Passauer Domherren. Nach 1926, 1929 und 1932 hatten sie gut ein Jahr vor der Sedisvakanz, am 25. März 1935, bislang zum letzten Mal einen Kandidatensyllabus nach Rom übermittelt.967 Laut dieser aktuellsten Liste, die insgesamt elf Namen umfasste, erachteten sie insbesondere vier Geistliche als episkopabel: probo – non probo – abstineo 1. Franz Xaver Eggersdorfer
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(Domkapitular in Passau) 2. Joseph Freundorfer (Professor in Passau) 3. Simon Irschl (Domkapitular in München) 4. Franz Riemer (Generalvikar und Dompropst in Passau)
Damit lag der Fokus auf heimischen Kandidaten: zwei Kanoniker aus dem eigenen Gremium und der Neutestamentler Freundorfer, der als außerordentlicher Professor an der Passauer Philosophisch-Theologischen Hochschule lehrte, an der er ehemals selbst studiert hatte. Indem 965 966
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Vgl. Nr. 2 des Dekrets in Bd. 4, Anhang 1.1, 3). Die Kandidatenlisten konnten sich letztlich nur in den vatikanischen Archiven erhalten. Dafür, dass sie nicht in der Obhut der Domkapitel bleiben und später in die Diözesanarchive gelangen konnten, hatte Pacelli entsprechende Anweisungen erteilt. Vgl. Nr. 15 des Umsetzungsdekrets, Bd. 4, Anhang 1.1, 3). Vgl. Bd. 4, Anhang 1.2.2. Die Divergenz in der Stimmenanzahl zwischen Eggersdorfer und Riemer auf der einen sowie Freundorfer und Irschl auf der anderen Seite rührte daher, dass erstere als Mitglieder des Domkapitels bei der Abstimmung über ihre Person jeweils auf die Abgabe eines Votums verzichteten. 270
II.2.7 Passau 1936
sie Irschl vorschlugen, weitete sich der Blick der Domherren auf das Erzbistum ihrer Kirchenprovinz. Vergleicht man dieses Favoritenquartett mit den drei früheren Listen, lassen sich gewisse Tendenzen erkennen. Der letztgenannte Münchener Domkapitular war neu unter den Vorgeschlagenen, drängte sich den Passauer Proponenten also erst seit kurzem als Bischofskandidat auf. Auch Freundorfer und Riemer gehörten nach 1932 erst zum zweiten Mal zum Kreis der Kandidaten. Diese Beobachtung überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass beide erst kurz vorher höhere Ämter angetreten hatten – Freundorfer erhielt die Professur 1930, Riemer das Amt des Generalvikars 1931 – und sich dadurch für den Bischofsstuhl empfehlen konnten. Allerdings waren die Abstimmungsergebnisse 1932 für beide noch deutlicher schlechter ausgefallen als 1935 (Freundorfer: zwei ja, zwei nein und zwei enthaltend; Riemer: drei ja, null nein, zwei enthaltend). Die einzige Konstante der vier Genannten durch alle Triennallisten hindurch bildete Eggersdorfer, der seine Zustimmung seit 1926 stetig verbessern konnte. In den ersten Jahren war er noch vornehmlich den beiden Theologieprofessoren Eduard Weigl (München) und Anton Scharnagl (Freising, ab 1930 dann Domdekan in München) unterlegen. Während jedoch seine Unterstützung zunahm, nahm ihre ab, bis sie 1935 zwar noch auf der Liste standen, allerdings mit miserablen Ergebnissen alle Ambitionen eingebüßt hatten. Welche Schlüsse sind aus diesen Beobachtungen für die Sedisvakanzliste von 1936 zu ziehen? Die Kontinuität und die steigende Zustimmung für Eggersdorfer legen die Annahme nahe, dass er ein Jahr später immer noch zum Favoritenkreis der Domkapitulare gehörte. Für Freundorfer und Riemer muss man wohl Gleiches vermuten in Anbetracht der deutlichen Verbesserung ihrer Resultate von 1932 zu 1935. Da für Irschl jeder Vergleichspunkt fehlt, bleibt nur der Verweis auf das gute Ergebnis, das er 1935 erzielte. Dass er ein Jahr später nicht mehr auf der neuen Kandidatenliste stehen sollte, erscheint daher zumindest unwahrscheinlich. Insofern bot die Sedisvakanzliste von 1936 in Bezug auf diese vier Favoriten vermutlich ein ähnliches Bild wie die Triennalliste von 1935, wobei Verschiebungen in der Stimmenverteilung ebenso wenig auszuschließen sind wie die Möglichkeit, dass es – wie Irschl 1935 – neue Geistliche auf die Liste geschafft haben könnten.969
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Nicht übersehen werden darf außerdem, dass Sedisvakanz- und Triennalliste einen unterschiedlichen Zweck hatten: Erstere sollte Kandidaten dezidiert für den eigenen Bischofsstuhl bieten, letztere hingegen Vorschläge für prinzipiell jede bayerische Diözese liefern. Dieser feine Unterschied lässt zwar nicht auf grundlegend divergente Abstimmungsverhalten schließen, war den Domkapiteln aber durchaus bewusst und konnte mitunter Auwirkungen nach sich ziehen. So beispielsweise beim Eichstätter Besetzungsfall 1935, wo die Kapitulare am selben (!) Tag eine unterschiedliche Sedisvakanzund Triennalliste aufstellten. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.6 (Preysings Abschied und die Nachfolgekandidaten des Domkapitels). 271
II.2.7 Passau 1936
Die Entscheidung des Heiligen Stuhls für Landersdorfer und dessen Status auf den Triennallisten Vermutlich übermittelte der Münchener Ex-Nuntius Vassallo die Kandidatenliste der Passauer Domherren nach Rom. Zwar war die bayerische Nuntiatur 1934 aufgehoben worden – formal zuständig für das gesamte Reichsgebiet war der Berliner Nuntius Orsenigo –, doch blieb Vassallo bis zum 23. Oktober 1936 „privatim“ in der Landeshauptstadt. Dort konnte er zwar keine offiziell-diplomatischen Aufträge mehr erfüllen, jedoch innerkirchlich durchaus als Vermittler agieren.970 Spätestens in den ersten Junitagen trafen die Kandidatenvorschläge aus Passau im römischen Staatssekretariat ein. Innerhalb nur weniger Tage wurde dort der Entschluss gefällt, Simon Graf von Landersdorfer, ehemals Professor für alttestamentliche Exegese an der römischen Benediktinerhochschule Sankt Anselmo und mittlerweile langjähriger Abt der oberbayerischen Benediktinerabtei Scheyern (seit 1922), an die Spitze der Passauer Diözese zu stellen. Der knappe Entscheidungszeitraum bemisst sich daher, dass Kardinalstaatssekretär Pacelli einerseits die Ankunft der Passauer Liste – zwischen Ende Mai und Anfang Juni – abwartete und andererseits Nuntius Orsenigo schon am 10. Juni beim Auswärtigen Amt anfragte, ob gegen Landersdorfer Bedenken allgemeinpolitischer Natur bestanden.971 Aufgrund der raschen Personalwahl vermutet Bernd Heim, dass „bereits die vor dem Mai 1936 der Kurie … zugegangenen Triennallisten Abt Landersdorfer als einen geeigneten Bischofskandidaten auswiesen“972. Welches Bild vom Abt zeichneten die Triennallisten, an die der Heilige Stuhl bei seiner Wahl gebunden war? Wie schon deutlich wurde, gehörte Landersdorfer – unter dem Vorbehalt, dass die Sedisvakanzliste nicht vorliegt – nicht zum engeren Kreis derer, die sich das Passauer Domkapitel als neuen Oberhirten wünschte. Ganz im Gegenteil: Zwar war er durchaus auf der Triennalliste von 1935 zu finden, jedoch mit einem desaströsen Resultat: ein probo, drei non probo und drei abstineo. Zusammen mit dem Münchener Domkapitular Nikolaus Brem belegte er den drittletzten Platz der elf Namen umfassenden Liste und war weit abgeschlagen hinter den vier oben genannten Favoriten. Die Kanoniker hatten ihn also nicht nur nicht zum Kandidaten erwählt, sondern sogar dezidiert abgewählt. Ähnlich schlecht schnitt der Benediktiner 1929 ab (zwei probo, drei non probo und fünf abstineo), während sein Name 1926 und 1932 gar keine Rolle spielte. Den Passauer
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Auch anlässlich der Eichstätter Sedisvakanz 1935 leitete er die Sedisvakanz- und Triennallisten nach Rom weiter. Vgl. Verbalnote der Nuntiatur an das Auswärtige Amt vom 10. Juni 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 192 (Nr. 203). Heim, Bischöfe, S. 335. 272
II.2.7 Passau 1936
Bischofsstuhl mit Landersdorfer zu besetzen, war also eine Absicht, die der Heilige Stuhl gegen das Votum des Domkapitels anstrebte, und für die er sich nicht – auch rechtlich nicht973 – auf ihre Stimme berufen konnte. Etwas anders sah es auf den Listen des Münchener Metropolitankapitels aus. In den 1920er Jahren hatten die Domherren den Benediktiner klar im Visier, immerhin lag die Abtei Scheyern in der Erzdiözese und Landersdorfer pflegte viele Kontakte zur Münchener Geistlichkeit.974 1926 rangierte er noch im Mittelfeld des Kandidatenkorpus mit fünf Ja-Stimmen, einer Ablehnung und vier Enthaltungen, um drei Jahre später auf den zweiten Platz zu klettern, den er sich mit dem Münchener Weihbischof, Johann Baptist Schauer, teilte (acht probo, kein non probo, drei abstineo). Nach diesem Höhepunkt begann jedoch der Abstieg: 1932 erhielt er nur noch vier positive Voten bei drei negativen und vier Enthaltungen. 1935 war er schließlich ganz von der Kandidatenliste verschwunden. Die Tendenz zeigte also deutlich nach unten, sodass sich eine Bischofsernennung Landersdorfers von den Listen des Münchener Metropolitankapitels her nicht nahelegte. Gleiches galt für die Vorschläge der übrigen bayerischen Domkapitel: Unter ihnen sucht man den Namen Landersdorfer vergebens. Im Gegensatz zu diesem Befund genoss der Abt eine konstante Zustimmung im bayerischen Episkopat. In den zur Kandidatenliste von 1926 gehörenden biographischen Skizzen hieß es über Landesdorfer knapp, dass er vormals Professor am römischen Anselmum gewesen, „ein guter Prediger u[nd] Organisator“ sowie „ein anerkannter Gelehrter“975 sei. Die Oberhirten bedachten ihn damals mit vier Ja-Stimmen, null Nein-Stimmen sowie drei Enthaltungen. Besser lautete das Ergebnis 1929: sechs probo, null non probo und nur noch ein abstineo. Damit war er zusammen mit Eggersdorfer – dem jetzigen Wunschkandidaten der Passauer Kanoniker – und dem Münchener Domkapitular Rudolf Hindringer der Favorit des Episkopats. 973
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Hier ergibt sich eine Interpretationsfrage zum Artikel 14 § 1 des bayerischen Konkordats, denn wenn es darin heißt, dass sich der Heilige Stuhl unter den eingereichten Listen „freie Auswahl vor[behält]“, könnte man im Extremfall die Nomination eines auf jeglicher Liste abgelehnten Kandidaten mit der Bemerkung rechtfertigen, dass dieser eben auf den Listen stehe, unabhängig von seinem Abschneiden. Damit wäre die in den Ausführungsdekreten vorgeschriebene Abstimmung natürlich hinfällig. In den vorangegangenen Bischofseinsetzungen erachtete die Kurie für eine rechtlich fundierte Ernennung jedoch stets wenigstens eine positive Bewertung durch eine der Vorschlagslisten als notwendig. Vgl. dazu auch Bd. 3, Kap. II.2.3 Anm. 609 sowie den entsprechenden Hinweis in Bd. 3, Kap. II.2.3 (Faulhabers Intervention in Rom und Buchbergers Ernennung zum Bischof von Regensburg). Kontakte nach München durchzogen die komplette Vita Landersdorfers: 1903 weihte ihn Erzbischof Franz Joseph von Stein zum Priester, 1904/05 nahm er seine philologischen Studien an der Universität München auf, 1922 weihte ihn Kardinal Faulhaber zum Abt. Vgl. Leidl, Bischof (1971), S. 4–6. Mit Faulhaber verband den Benediktiner eine lebenslange Freundschaft. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 31. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 8. September 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 14, Fol. 52r–61r, hier 53r. 273
II.2.7 Passau 1936
In diesem Jahr notierte der Protokollant aus der Diskussion der Fuldaer Konferenz über den Abt: „Kardinal von Faulhaber berichtet, dass er von zwei Bischöfen vorgeschlagen wurde und sich höchster Wertschätzung erfreut. Er ist ein Mann von größter Wissenschaft, ein sehr guter Verwalter der Kirchengüter, in jeder Hinsicht bewährt.“976 Einer von den beiden Proponenten scheint offenbar Faulhaber selbst gewesen zu sein. Der zweite war womöglich der Bamberger Erzbischof Hauck, denn diesen erwähnte das Protokoll namentlich, als es feststellte, dass weitere Bischöfe dem Urteil des Münchener Erzbischofs umgehend zugestimmt hätten. An dieser Stelle ist bereits eine essentielle Beobachtung zu machen: Landersdorfer gehörte zur „++“-Gruppe idealer Bischofskandidaten, die Pacelli auf Grundlage dieser Triennalliste zusammenstellte.977 1932 erzielte der Benediktiner das identische Abstimmungsergebnis wie drei Jahre zuvor, war aber immerhin schon von drei bayerischen Bischöfen ins Gespräch gebracht worden. Besondere Fürsprache erhielt er wiederum von Faulhaber und Hauck.978 Der Abt sei „ein Priester von gesunder Lehre“979, die er durch seine Dozententätigkeit an der römischen Benediktinerhochschule und durch zahlreiche exegetische Publikationen unter Beweis gestellt habe. In Erinnerung war ihnen Landersdorfer als außerordentlicher Visitator der Benediktinerkonvente in Österreich, zu der Pius XI. ihn 1928 berufen hatte. Seine hier zum Tragen kommenden administrativ-organisatorischen Fähigkeiten hob das Protokoll – wie schon 1926 – lobend hervor. Schließlich pochten die Bischöfe auf den persönlichen Tugendgrad des Abts: „Er zeichnet sich durch seine Frömmigkeit, seine Sittenredlichkeit und sein hohes Ansehen beim Säkular- wie Regularklerus gleichermaßen aus.“980 In der letzten Triennalliste von 1935 wiederholte der Episkopat im Wesentlichen dieses Urteil.981 Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass Landersdorfer Unterstützung von Faulhaber, Hauck, Eh-
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„Cardinalis de Faulhaber refert, eum a duobus episcopis propositum esse et summa gaudere aestimatione. Esse virum maximae scientiae, optimum administratorem rerum temporalium ecclesiae, omni modo probatum.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 11. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 4r–9r, hier 6v. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.4 (Ergebnis Nr. 1). Wer der dritte Proponent war, geht aus dem Protokoll nicht hervor. Man kann vermuten, dass es sich dabei um Ow-Felldorf handelte, da dieser 1935 ebenfalls gemeinsam mit Faulhaber und Hauck den Benedikinerabt in Vorschlag brachte. „… sacerdos sanae doctrinae …“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 42r–47v, hier 44v. „Pietate, probitate morum, bona apud clerum saecularem et regularem aestimatione pari modo excellit.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 44v. Wieder sei Landersdorfer von drei (Erz-) Bischöfen vorgeschlagen worden. Dass Faulhaber und Hauck dazu gehörten, scheint nach Sichtung der vorangegangenen Listen klar. Der dritte Proponent war Ow-Felldorf. Dies ergibt sich daraus, dass er zwar krankheitsbedingt nicht an der Bischofskonferenz teil274
II.2.7 Passau 1936
renfried (Würzburg) und Buchberger (Regensburg) erhielt. Diese waren es wohl auch, die für ihn in der Abstimmung ein positives Votum abgaben: vier Mal probo, kein Mal non probo und drei Mal abstineo. Damit gab das Resultat im Vergleich zu den Vorjahren etwas nach.982 Es lässt sich zusammenfassen, dass Pacelli und Pius XI. ihre Personalentscheidung letztlich nur auf das Votum der bayerischen Bischöfe stützen konnten. Unter diesen waren es insbesondere die beiden Erzbischöfe aus München und Bamberg, die sich für die Episkopabilität Landersdorfers stark gemacht hatten.
Unproblematisch: das staatliche Nihil obstat Wie oben erwähnt informierte Orsenigo das Auswärtige Amt am 10. Juni darüber, dass der Heilige Stuhl den Abt von Scheyern für den Passauer Bischofsstuhl ins Auge gefasst hatte.983 Diese konkordatäre Verpflichtung zu erfüllen, war wahrscheinlich der erste Bestandteil einer vorausgegangenen Anweisung Pacellis gewesen. Der zweite Teil bestand vermutlich darin, die Zustimmung des Benediktiners zu seiner Promotion auf den Passauer Bischofsstuhl einzuholen, sobald das Nihil obstat der Reichsregierung vorlag. Dies erfüllte Orsenigo Anfang Juli, wie sich Landersdorfer später erinnerte: „In den ersten Julitagen [sc. 1936, R.H.] erhielt ich einen eingeschriebenen Brief von der Päpstlichen Nuntiatur in Berlin.“984 Das Schreiben beinhaltete eine Einladung zur Audienz, in der er das neue Amt annehmen sollte. Einen solchen Auftrag, das staatliche Plazet und die Zustimmung des electus einzuholen, hatte Pacelli dem Nuntius in den vergangenen Besetzungsfällen stets erteilt. Doch bislang war die Reihenfolge umgekehrt gewesen: erst die Zustimmung des Amtsanwärters, dann die Unbedenklichkeitserklärung der Reichsregierung.985 Wie sich aus den Daten klar ergibt, handelte Orsenigo dieses Mal andersherum: Erst musste die Regierung sich zum Kandidaten äußern, bevor dieser über
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nehmen konnte, sich aber laut Protokoll lobend über Landersdorfer ausgesprochen hatte. Nur in seinen Vorschlägen, die er vor dem Freisinger Treffen einreichte, war ihm das möglich. Vgl. Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 20. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 50r–57r, hier 51v. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass dem Abt durch die Abwesenheit des Passauer Oberhirten eine sichere Ja-Stimme fehlte. Vgl. zum Folgenden Heim, Bischöfe, S. 323–329. Der Anfrage fügte Orsenigo eine Kurzbiographie Landersdorfers bei. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. So noch 1935 bei der Ernennung Rackls zum Bischof von Eichstätt. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.6 (Rackl in der Berliner Nuntiatur und Preysings Unterstützung). 275
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seine Nomination informiert werden sollte. Die Erklärung scheint offenkundig: Pacelli hatte aus den vergangenen Besetzungsfällen gelernt, dass er sich der Zustimmung der NS-Regierung nicht mehr sicher sein konnte. Erst wenige Wochen zuvor im April hatte sie seinen Kandidaten für den Fuldaer Bischofsstuhl abgelehnt.986 Daher schien seine neue Devise zu lauten, erst die rechtlichen Prämissen zu klären, anstatt schlimmstenfalls einen Bischofskandidaten fallen lassen zu müssen, der bereits von seiner Ernennung unterrichtet war. Streng genommen war die Anfrage nach politischen Bedenken gemäß Artikel 14 § 1 des Bayernkonkordats und Artikel 14 Absatz 2 Ziffer 2 des Reichskonkordats an den jeweiligen Reichsstatthalter zu richten. Allerdings hatte insbesondere die Besetzung des Bistums Eichstätt 1935 offenbart, wie unorganisiert und unabgesprochen die staatlichen Behörden zusammenarbeiteten, sodass man anschließend gewillt war, strukturelle Konsequenzen zu ziehen. Offensichtlich war mit dem Nuntius abgesprochen, die Anfrage von nun an beim Auswärtigen Amt zu stellen.987 Die Reichsregierung hatte bislang regelmäßig die laut Schlussprotokoll des Reichskonkordats zugestandene 20-tägige Frist, um politische Bedenken vorzubringen, überschritten. Daher bat Orsenigo nicht nur um strenge Diskretion in der Angelegenheit – insbesondere, weil Landersdorfer selbst noch nicht von seiner Erwählung wisse –, sondern auch um Einhaltung des bemessenen Zeitraums. Das Gesuch des Heiligen Stuhls wurde am nächsten Tag an das Reichsministerium für die Kirchlichen Angelegenheiten weitergereicht, wo keine Unterlagen über Landersdorfer existierten, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass diese Institution erst seit knapp einem Jahr bestand. Da man also selbst nicht über den Benediktiner urteilen konnte, verlangte Ministerialdirigent Hermann von Detten ein Gutachten vom bayerischen Reichsstatthalter, Franz von Epp. Als er deshalb am 15. des Monats eine Abschrift des Nuntiaturschreibens nach München sandte, war ein Viertel der zur Verfügung stehenden Frist bereits ergebnislos verflossen. Aus der Reichsstatthalterbehörde wurde das Anliegen des Kirchenministeriums am 18. Juni wiederum an das bayerische Kultusministerium weitergeleitet. Erst hier erfolgte die eigentliche Untersuchung über den Kandidaten, deren Ergebnis Staatsrat Ernst Boepple als kommissarischer Leiter der Behörde am 27. Juni – drei Tage vor Fristende – dem Reichsstatthalter mitteilte: Gegen Landersdorfer bestünden keinerlei Bedenken allgemeinpolitischer Natur. Diese Antwort nahm nun den umgekehrten Behördenweg vom bayerischen Reichsstatthalterbüro über das Berliner Kirchenministerium zurück zum Auswärtigen Amt. Von dort ging sie am 2. Juli dem Nuntius zu.988 Die staatliche Rückmeldung war also für die NS-Zeit ungewohnt reibungsund problemlos mit nur geringfügiger Fristüberschreitung erfolgt. 986
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Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.16 (Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung). Vgl. Heim, Bischöfe, S. 206f. Dementsprechend stellte Orsenigo in den Fällen Fulda 1936/39 und Meißen 1936/37 die Anfragen ebenfalls beim Auswärtigen Amt. Vgl. Verbalnote des Auswärtigen Amtes an die Nuntiatur vom 2. Juli 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 197f. (Nr. 209). 276
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Problematisch: das zögerliche Einverständnis Landersdorfers und seine Ernennung zum Bischof von Passau Nach dieser für den Heiligen Stuhl erfreulichen Nachricht lud Orsenigo den Scheyerner Abt gemäß der Anweisung Pacellis in die Berliner Nuntiatur vor, um dessen Einverständnis zur Amtsübernahme entgegenzunehmen. Vermutlich datierte der oben genannte „eingeschriebene[n] Brief … der Päpstlichen Nuntiatur in Berlin“ an Landersdorfer bereits auf den 3., spätestens 4. Juli, wenn man davon ausgeht, dass der Nuntius es ausnutzte, dass die staatliche Seite sich kooperativ zeigte. Auf dieses Schreiben hin erschien der Abt am Sonntag, dem 12. Juli, zur Audienz, nach eigenen Angaben aus der Retrospektive wohlwissend, aus welchem Grund er berufen worden war: „Der Herr Nuntius empfing mich persönlich am Portal. Er hatte aus Vorsicht das gesamte Personal, auch die Schwestern, fortgeschickt. So sehr war ihm um die Geheimhaltung der Sache zu tun.989 Die Besprechung drehte sich zunächst um die politische Lage. Dann teilte er mir mit, daß der Heilige Vater mich zum Bischof von Passau ausersehen habe und erwarte, daß ich diese Stelle dankbar annehme. Ich tat durchaus nicht überrascht, wie es die Etikette erfordert hätte, sondern erklärte, daß ich auf diese Mitteilung gefaßt gewesen sei, daß ich mir die Sache diese Tage reiflich überlegt hätte und daß ich entschlossen sei, diese Würde nicht anzunehmen. Ich führte eine Anzahl innerer und äußerer Gründe an und erklärte, daß ich mich diesem Amt nicht gewachsen fühle in dieser schweren Zeit, da ich überhaupt nicht geeignet dafür sei.990 Der Herr Nuntius wollte kurzen Prozess machen und sagte, darüber zu befinden sei nicht meine Sache, das sei bereits von anderer Seite geschehen. Ich aber bestand darauf, daß meine Gründe dem Heiligen Vater mitgeteilt würden, sollte er trotzdem die Annahme befehlen, dann in Gottes Namen. Die ganze Besprechung dauerte ungefähr eine Stunde. Er entließ mich dann wieder persönlich durch den Garten, wo gleich ein Parkplatz war, so daß ich sofort einen Wagen haben konnte.“991
An anderer Stelle rekapitulierte Landersdorfer, dass es bei der Audienz nicht um eine „offene[n], ehrliche[n] Aussprache über die persönliche Eignung und subjektive Bereitschaft“ gegangen sei, 989
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Landersdorfer war verpflichtet worden, seinen Besuch in der Nuntiatur streng geheim zu halten. Dies entsprach der üblichen Praxis bei Bischofsernennungen und war insbesondere Pacelli wichtig, der sich des Öfteren über Indiskretionen beklagte. Vgl. über die Maßnahmen, die Landersdorfer unternahm, um seine Berlinreise geheim zu halten, Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. An anderer Stelle spezifizierte er die Motivation, seine Berufung zum Bischofsamt abzulehnen: „Als ich Bischof werden mußte und mich aus Gewissensgründen dagegen wehrte, war mein stärkstes Argument, daß ich eigentlich nie in der ordentlichen Seelsorge gewesen sei, und auch in der außerordentlichen zu wenig tätig gewesen sei, mich auch zu wenig interessiert habe. Ich habe dieses Argument sehr ernst genommen und habe mich gewundert, daß man es in Rom allem Anschein nach weniger ernst nahm.“ Zitiert nach Geier, Seelsorge, S. 33. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. 277
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„ein so verantwortungsvolles Amt zu übernehmen, zumal in einer Zeit der Verfolgung“, sondern einzig darum, „die Mitteilung entgegenzunehmen, daß der Heilige Vater sich entschlossen habe, mich zum Bischof von Passau zu ernennen, und meine Zustimmung zu geben“992. Nach einer „schwierige[n] Auseinandersetzung“993 habe sich Orsenigo schließlich bereit erklärt, die von Landersdorfer vorgebrachten Bedenken dem Papst mitzuteilen. Der beharrliche Widerstand des Scheyerner Abtes war mehr als ein reiner Demutsgestus. Für ihn, der sich ursprünglich der theologischen Wissenschaft verschrieben hatte, war bereits die Berufung zum Abt ein schwieriger Schritt gewesen.994 Gar das Leitungsamt eines Diözesanbischofs zu übernehmen, das noch eine Stufe höher angesiedelt war, konnte er sich nicht vorstellen. Zunächst vergingen knapp fünf Wochen, bis Rom auf die Absage des Benediktiners reagierte. Wie kam es zu dieser Verzögerung? Landersdorfer selbst ging davon aus, dass er „diese zeitweilige Ruhe nur den römischen Ferien zu verdanken hatte“995. Tatsächlich verbrachte Pius XI. die heißen Sommermonate in Castel Gandolfo, erledigte dort jedoch weiterhin die Angelegenheiten des Heiligen Stuhls – dementsprechend unterzeichnete er Landersdorfers Ernennungsschreiben auch in seiner Sommerresidenz.996 Da auch Pacelli in dieser Zeit seinen Amtspflichten nachkam,997 scheint die Begründung nicht zutreffend zu sein. Denkbar erscheint eine andere These: Erst am 8. Juli musste Orsenigo dem Kardinalstaatssekretär mitteilen, dass der für Fulda als Koadjutor ins Auge gefasste Johann Baptist Dietz seine Zustimmung zu dieser Aufgabe kategorisch versagte.998 Vor diesem Hintergrund wäre es dem 992 993 994
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Wurster (Hg.), Ernstes. Wurster (Hg.), Ernstes. So schrieb er später im Rückblick über seine Abtswahl vom 3. März 1922: „Ich hatte die Empfindung, daß man mich mit sanfter Gewalt auf ein falsches Geleise geschoben habe, um mir den Weg, den ich gehen wollte für immer zu versperren. … So ergab ich mich dem Unabänderlichen und suchte aus der Not eine Tugend zu machen. Sobald ich fest im Sattel saß, führte ich die Arbeiten, die ich angefangen hatte, noch zu Ende und machte dann entschlossen Schluß mit der Wissenschaft …“ Zitiert nach Geier, Seelsorge, S. 27. Dass ihn diese jedoch nicht losließ, spiegelt sich in einem Artikel wider, den er der Festschrift zum 25-jährigen Bischofsjubiläum Kardinal Faulhabers beisteuerte: „Wenn ein erfolgreicher akademischer Lehrer vom Katheder der Hochschule auf eine bischöfliche Kathedra berufen wird, so bucht die Wissenschaft das in der Regel als einen Verlust. Und dies mit Recht. Nicht nur daß sie auf die Mitwirkung des so Erhöhten an der Forschungsarbeit verzichten muß, denn zumeist stellt sich trotz besten Willens binnen kurzer Zeit heraus, daß die bischöflichen Amtsgeschäfte keine Muße mehr lassen für gelehrte Studien …“ Landersdorfer, Faulhaber, S. 55. Vgl. auch Geier, Seelsorge, S. 30. Autobiographische Aufzeichnung Landersdorfers, zitiert nach Geier, Seelsorge, S. 31. Vgl. Ernennungsbulle Landersdorfers vom 11. September 1936, abgedruckt bei Geier, Seelsorge, S. 32 Anm. 82. Das belegen die Audienznotizen aus dem entsprechenden Zeitraum. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 353, Fol. 53r–71r. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.16 (Ein erneutes Hindernis? Dietzʼ zögerliche Annahme des Koadjutoramtes). 278
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Nuntius nicht zu verdenken, dass er sich nicht bereits vier Tage später mit einer analogen Hiobsbotschaft bei Pacelli melden wollte und die Angelegenheit noch einige Tage liegen ließ. Dies würde die lange Verzögerung jedoch nicht erklären, da die Einsetzung des Fuldaer Koadjutors Ende Juli feststand und damit kein Grund mehr bestand, die nächsten Schritte in der Passauer causa bis zur zweiten Augusthälfte zu verschieben. Bernd Heim glaubt seinerseits eine Verzahnung der Besetzung des Passauer Bischofsstuhls mit der Anfang August 1936 erfolgten Einsetzung Franz Justus Rarkowskis zum Feldbischof zu erkennen.999 Näherhin stellt er die These auf, dass die römische Nomination des früher noch als untauglich deklarierten, aber von staatlicher Seite gewünschten Rarkowski als „vatikanische Gegenleistung für das von der Reichsregierung zuvor bekundete Einverständnis mit der Neubesetzung der Bistümer Fulda und Passau gewertet“1000 werden könne. Folgt man dieser Überlegung, dann hätten Papst und Staatssekretär das Passauer Verfahren ausgesetzt, um die NS-Regierung zunächst mit Rarkowskis Ernennung zu „belohnen“, bevor sie die Passauer Sedisvakanz öffentlich erledigten. Auch dies stellt jedoch nicht völlig zufrieden: Denn selbst falls es einen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen in der skizzierten Form gab, wäre es möglich gewesen, den Fall intern weiter voranzutreiben und Landersdorfers Zustimmung zu besorgen, zumal von dieser der Erfolg des gesamten – durch Rarkowskis Ernennung vermeintlich „belohnten“ – Verfahrens abhing. Vielleicht dachten Papst und Staatssekretär letztlich auch nur darüber nach, wie man mit Landersdorfers negativer Antwort umgehen sollte oder wollten dem Abt lediglich eine gewisse Bedenkzeit gewähren. Mitte August wählte Pacelli jedenfalls die Vermittlung Kardinal Faulhabers in München und bat ihn, mit dem Abt über die Nominierung für den Passauer Bischofsstuhl zu sprechen.1001 Nachdem der Erzbischof – wie Landersdorfer später berichtete – ihn unter dem Vorwand eingeladen hatte, über die zu jener Zeit von den Nationalsozialisten inszenierten Sittlichkeitsprozesse gegen Priester und Mönche reden zu wollen,1002 erschien er am 23. August im erzbischöflichen Palais.1003 Nach eigenen Angaben wiederholte der Benediktiner vor Faulhaber seine Bedenken dagegen, den Bischofsstuhl von Passau zu besteigen, denn „unter den gegebenen Verhältnissen könnte ich mich nicht entschließen, freiwillig Bischof zu werden, die Verantwortung sei zu groß, ich fühlte mich dem nicht gewachsen“1004. Wie schon gegenüber dem Nuntius 999 1000 1001 1002 1003
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Vgl. Heim, Bischöfe, S. 332–340. Heim, Bischöfe, S. 339. Vgl. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. Vgl. zu den angesprochenen Schauprozessen die in Bd. 3, Kap. II.3.5 Anm. 1900 angegebene Literatur. Der Besuch Landersdorfers lässt sich durch Faulhabers Besuchstagebücher bestätigen, den Zweck der Unterredung dokumentieren sie jedoch nicht: „Abt Simon von Scheyern: Hirtenwort an die Klöster. Diversa.“ Tagebucheintrag Faulhabers vom 23. August 1936, EAM, NL Faulhaber 10017, S. 76. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. 279
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erklärte er, die Ernennung nur anzunehmen, wenn Pius XI. es ausdrücklich befehle. Offenbar hatte Faulhaber nicht versucht, die Zustimmung zwingend herbeizuführen, denn Landersdorfer verließ die Unterredung mit demselben Entschluss, mit dem er gekommen war.1005 Faulhaber berichtete anschließend dem Kardinalstaatssekretär vom fortdauernden Widerstand Landersdorfers gegen seine Kandidatur. Pacelli und Pius XI. waren jedoch keineswegs bereit, nachzugeben. Während einer Audienz am 4. September berieten beide über diese Angelegenheit und für das weitere Vorgehen notierte sich Pacelli knapp: „Den Kard[inal] v[on] F[aulhaber] beauftragen, ihm [sc. Landersdorfer, R.H.] zu sagen, dass er annehmen [accetti] soll.“1006 Das hörte sich zwar noch immer nicht wie ein ausdrücklicher Befehl an. Jedoch bestand kein Zweifel an der Erwartung, dass Landersdorfer von seiner Haltung endlich abrückte. Der päpstliche Auftrag erreichte den Münchener Erzbischof über Vassallo, der am 6. September um 10 Uhr in dieser Angelegenheit bei ihm vorstellig wurde, wie Faulhaber in seinem Besuchstagebuch festhielt.1007 Doch das verschlüsselte Telegramm aus Rom, das die Anweisung enthielt, stiftete zunächst einmal Verwirrung: Es sprach von der Aufgabe, „persuadere noto Amministr[atore] (Visitatore) Apost[olico] annullare nomina vescovo Passavia“1008 – Landersdorfer sollte demnach überzeugt werden, die Ernennung zum Passauer Oberhirten abzulehnen. Faulhaber vermochte hierin keinen Sinn zu erkennen, denn warum sollte der Heilige Stuhl den Abt erst ins Auge fassen und ihn dann zur Ablehnung bewegen beziehungsweise ihn dazu sogar noch überzeugen wollen? Daher entließ der Erzbischof den informellen Nuntius mit der Aufgabe, sich bei der Kurie über den Terminus annullare rückzuversichern. Am Nachmittag des nächsten Tages überbrachte Vassallo bereits die Lösung: nicht annullare, sondern accettare war das korrekte Verb im oben zitierten Satz.1009 Es war also bei der Chiffrierung des Telegramms im Staatssekretariat ein Fehler unterlaufen, der den Sinn des Auftrags ins völlige Gegenteil verkehrte. Nachdem nun jedoch Klarheit herrschte, konnte Faulhaber mit seiner Überzeugungsarbeit beginnen. Landersdorfer schildert wiederum in seiner Autobiographie, wie der Erzbischof Pacellis Anweisung umgesetzt habe: „Am 9. September wurde ich wieder zum Herrn Kardinal berufen. Er sagte, der Heilige Vater werde in solchen Sachen keinen Gehorsamsbefehl aussprechen, aber er erwarte, daß ich die 1005
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Wie Faulhaber die vorgebrachten Argumente Landersdorfers beurteilte, muss offen bleiben. In seiner Autobiographie bemerkte der Abt, dass er ihnen zugestimmt habe. Vgl. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. „Incaricare lo stesso Card. v. F. di dirgli che accetti.“ Audienznotiz Pacellis vom 4. September 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 353, Fol. 72r. Vgl. Tagebucheintrag Faulhabers vom 6. September 1936, EAM, NL Faulhaber 10017, S. 82. Tagebucheintrag Faulhabers vom 6. September 1936, EAM, NL Faulhaber 10017, S. 82. Hervorhebung R.H. Vgl. Tagebucheintrag Faulhabers vom 7. September 1936, EAM, NL Faulhaber 10017, S. 83. 280
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Ernennung annehme, ebenso erwartete das Pacelli, auch er und die Bischöfe. Ich möchte auch an Passau denken, das schon so lange auf einen neuen Bischof warte. So redete er mir kräftig zu und schob mich dann in sein Arbeitszimmer, legte mir einen Zettel hin, der die Annahmeerklärung enthielt und den ich unterschreiben solle. Er selbst gab unterdessen im Salon Audienz. So blieb mir denn in Gottes Namen nichts anderes übrig, als mich zu ergeben. Eminenz gab seiner Freude Ausdruck, sprach mir Mut zu und meinte, die Dinge würden sich nun rasch entwickeln.“1010
Damit behielt Faulhaber recht: Noch am selben Tag leitete er über Vassallo das Einverständnis Landersdorfers an Pacelli weiter. Schon zwei Tage später, am 11. September, wurde der Benediktiner von Pius XI. zum Bischof von Passau ernannt.1011 Das hieß im Klartext, dass Pacelli an diesem Tag Rossi, dem Sekretär der Konsistorialkongregation, den Auftrag gab, die Ernennungsdokumente anfertigen zu lassen. Gleichzeitig unterrichtete er Orsenigo von der Zustimmung Landersdorfers, denn bereits am 12. September notifizierte Carlo Colli, der Geschäftsträger der Berliner Nuntiatur, dem Auswärtigen Amt die päpstliche Ernennung.1012 Am 13. September machte daraufhin der „Osservatore Romano“ die Nomination publik.1013
Treueid und Amtsantritt Während Landersdorfer nun auf die Ankunft der römischen Ernennungsbullen wartete, kümmerte er sich um die Modalitäten seiner Vereidigung vor dem bayerischen Reichsstatthalter, die in Artikel 16 des Reichskonkordats vorgeschrieben war.1014 Am 5. Oktober trat er mit der Bitte an Epp heran, die Eidesleistung vor dem 21. des Monats zu terminieren, damit am 28. Oktober, dem Fest der Apostel Simon und Judas, die Bischofsweihe und Inthronisation stattfinden könne.1015 An besagtem 21. Oktober fand der Reichsstatthalter die Zeit, den Eid von Landersdorfer 1010
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Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. Faulhaber notierte sich in seinem Tagebuch zu diesem Gespräch: „Abt Simon – muss mir schriftlich das accettare geben. Er soll nicht sagen, er habe nur im Geheimen angenommen. Er ist in Sorge[,] weil [er] auch nicht als Weltpriester in Verwaltungstätigkeit war[.] Aber er hat einen ausgezeichneten Gen[eral] Vic[ar].“ Tagebucheintrag Faulhabers vom 9. September 1936, EAM, NL Faulhaber 10017, S. 84. Vgl. AAS 28 (1936), S. 405. Vgl. Colli an Neurath vom 12. September 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 213 (Nr. 225). Vgl. die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 214 vom 13. September 1936. Vgl. dazu Geier, Seelsorge, S. 51–53; Heim, Bischöfe, S. 326–328. Den Weihetermin hatte Landersdorfer mit dem Domkapitel abgesprochen, als er sich am 25. und 26. September inoffiziell in Passau aufhielt. Bereits am 17. September hatte ihn eine Delegation von Kapitularen um Kapitularvikar Riemer in Scheyern aufgesucht, um erste Klärungen vorzunehmen. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 34. 281
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entgegenzunehmen, nachdem er den zuerst geplanten Termin (20. Oktober) zuvor kurzfristig abgesagt hatte. Die vom Neubischof zu diesem Anlass gehaltene und dem Reichsstatthalter zuvor zugegangene Ansprache wurde von der nationalsozialistischen Propaganda anschließend im Sinne einer gemeinsamen Front von Kirche und Staat gegen den Bolschewismus ausgeschlachtet: Landersdorfer sprach von der Bedrohung des Bolschewismus,1016 aus der auch dem Bischof eine „bedeutsame vaterländische Aufgabe“ erwachse und forderte eine „einträchtige Zusammenarbeit von Kirche und Staat“, um „das deutsche Volk wieder herauszuführen aus der moralischen Verelendung“1017. Solche Äußerungen kamen dem Reichsstatthalter gerade recht, der in seiner Entgegnung sofort die Gelegenheit nutzte, den neuen Oberhirten gegen dessen Amtskollegen in Stellung zu bringen: „Sie haben damit all denen eine Antwort gegeben, die glauben machen wollen, daß Nationalsozialismus und Kirche unvereinbare Gegensätze seien …“1018 Landersdorfer selbst sah sich in dieser Deutung – wie er rückblickend klarstellte –, „als ob ich in meiner politischen Einstellung im Gegensatz zu den übrigen deutschen Bischöfen stünde“, völlig fehlinterpretiert und habe deshalb anlässlich seiner Konsekration „dieses Mißverständnis gründlich zerstört“1019. Während einer Glaubenskundgebung am Nachmittag des Weihetages erklärte er, den Frieden, den er als Bischof bringen wolle, in diesen Tagen nur durch Kampf bewahren zu können und übte so eine eher „unterschwellige Kritik“, die „von den Spitzeln der Partei“1020 aber durchaus verstanden wurde. 1016
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Die Gefahr des Bolschewismus anzusprechen als einzige Gemeinsamkeit von Nationalsozialismus und kirchlicher Lehre, hatte ihm nach eigenen Angaben Kardinal Faulhaber empfohlen. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 51. Rede Landersdorfers vom 21. Oktober 1936, in: „Vereidigung und Ansprache beim Reichsstatthalter“, Passauer Bistumsblatt Nr. 19 vom 1. November 1936. Rede Epps vom 21. Oktober 1936, in: „Vereidigung und Ansprache beim Reichsstatthalter“, Passauer Bistumsblatt Nr. 19 vom 1. November 1936. Wie man auf NS-Seite die Worte Landersdorfers auffasste, dokumentiert der Monatsbericht der Münchener Polizeidirektion vom 10. Dezember 1936. Darin notierte der Verfasser Franz Mayr, dass innerhalb der Bevölkerung „im Zusammenhang mit der Einsetzung des neuen Bischofs in Passau auch Äußerungen von einer Einfühlung des Katholizismus in das neue Deutschland“ gefallen seien. Monatsbericht der Polizeidirektion (November 1936) vom 10. Dezember 1936, abgedruckt bei Witetschek (Bearb.), Lage I, S. 167–171 (Nr. 86), hier 168. Wurster (Hg.), Landersdorfer, Nr. 22. Geier, Seelsorge, S. 55. Geier zufolge wurde bei der Gestapo vor allem die Aussage Landersdorfers kritisch aufgenommen, „daß es nicht das größte Unglück sei, wenn Protestanten da seien, mit denen uns der gemeinsame Glaube an Christus verbinde, schlimmer sei es, wenn in der Diözese Passau das Antichristentum Unterschlupf suche“. Ebd., S. 55. Eine Verurteilung der nationalsozialistischen Ideologie und der antikirchlichen Übergriffe war zudem aus Landersdorfers erstem Hirtenbrief herauszulesen. Dort hieß es unter anderem: „In einer Zeit, da in großen Ländern eine blutige Christenverfolgung wütet wie kaum jemals zuvor, da allüberall gewaltige Kräfte daran arbeiten, den Glauben an die Offenbarung zu untergraben und das christliche Sittengesetz zu lockern, da selbst in unserem Vaterlande, das durch Gottes gnädige Fügung vor den Schrecken eines Umsturzes bewahrt geblieben ist, ein ungewöhnlicher Mut dazugehört, den Glauben immer und überall 282
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Die propagandistische Instrumentalisierung der Ansprache zur Vereidigung, die Landersdorfer „in den Ruf eines ‚Nazi-freundlichen‘ Kirchenmannes gebracht“1021 hatte, führte immerhin dazu, dass der Einzug des neuen Oberhirten in Passau am 25. Oktober von der Parteileitung ungestört und daher ungewohnt feierlich wie eine „Demonstration kirchlichen Selbstbewußtseins“1022 unter großer Beteiligung der Gläubigen ablief. Nach dem Festakt legte der neue Oberhirte dem Domkapitel seine Ernennungsbulle vor und ergriff damit de iure vom Bistum Besitz. Drei Tage später spendete ihm Kardinal Faulhaber – dieser hatte ihn 1922 bereits zum Abt benediziert – unter Assistenz der Bischöfe Buchberger und Kumpfmüller im Passauer Stephansdom die Bischofsweihe. Nach über einhalbjähriger Sedisvakanz war die Cathedra der heiligen Bischöfe Maximilian und Valentin wieder besetzt.1023
Ergebnis 1. Als in hohem Maße tauglichen Bischofskandidaten betrachtete Pacelli Landersdorfer schon lange. Bereits 1924 hatte er ihn für den Würzburger Bischofsstuhl vorgeschlagen, weil er glaubte, dass der Abt ein „ruhiger“, „kluger“, „aktiver“ und „energischer“ Oberhirte sein würde, der einerseits den administrativ-verwalterischen Aufgaben der Bistumsleitung gerecht werde und dem andererseits die korrekte römische Theologie mitsamt den „wahren Methoden des philosophisch-theologischen Unterrichts“ vertraut seien. Um diese „Methoden“ entsprechend den römischen Instruktionen zur Priesterausbildung um- und durchzusetzen, brachte Landersdorfer nach Pacellis Überzeugung
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offen zu bekennen …“; und an anderer Stelle: „Denn mehr als je will man heute die praktische Betätigung des Christentums behindern und aus der Öffentlichkeit verdrängen. So mancher Katholik bringt nicht mehr den Mut auf, sich öffentlich zur Gemeinschaft der Heiligen zu bekennen; er erfüllt wohl noch seine Pflichten als katholischer Christ, aber nur scheu und im Verborgenen, um ja alles zu vermeiden, was ihn in den Augen der Feinde der Kirche belasten könnte.“ Ein wichtiges Anliegen war dem neuen Bischof darüber hinaus die Betonung des Christkönig-Theologumenons, mit dem er klarstellte, welcher Autorität die letzte Loyalität des Katholiken zu gelten habe. Vgl. Hirtenbrief Landersdorfers vom 28. Oktober 1936, abgedruckt ebd., S. 301–306, hier 301 und 304f. Vgl. auch die Analyse ebd., S. 55–61. Geier, Seelsorge, S. 54. Ein weiteres Ereignis, das ihn ungewollt in diesen Ruf brachte, war eine Jahre zuvor erteilte Fahnenweihe anlässlich einer Feldmesse gewesen, für die er sich später rechtfertigte: „Da wegen des kürzlich abgeschlossenen Konkordates [sc. mit dem Reich, R.H.] sich das Verhältnis zwischen Kirche und Staat einigermaßen gebessert hatte …, beschloß ich die erbetene Weihe zu erteilen ritu simplicissimo, aber unter der Bedingung, daß die Fahnen eingerollt bleiben, weil sie kein religiöses Emblem, nur das Hakenkreuz trugen.“ Zitiert nach ebd., S. 50. Geier, Seelsorge, S. 54. Aus Verehrung für den zwei Jahre zuvor kanonisierten Diözesanpatron Konrad von Parzham wählte sich Landersdorfer „Konrad“ als zweiten Vornamen. Vgl. die Notiz im „Passauer Bistumsblatt“ Nr. 16 vom 11. Oktober 1936. Wenngleich dies nur ein symbolischer Akt war, führte er dennoch zu einer innerstaatlichen Debatte über die Legitimität einer solchen Namensergänzung. Vgl. dazu Heim, Bischöfe, S. 328f. 283
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schon damals nicht nur das Verständnis, sondern auch die nötige wissenschaftliche Autorität mit, die er sich durch seine exegetischen Studien erworben hatte. Dass Landersdorfer – zwar immerhin Professor am römischen Anselmum – kein Studium im „Schatten“ des Heiligen Stuhls genossen hatte, sondern in Eichstätt und München, tat dieser Auffassung keinen Abbruch. Auch drei Jahre später, als Pacelli von Vassallo über mögliche Anwärter für den Regensburger Bischofsstuhl befragt wurde, optierte er für den Benediktiner. Sogar außerhalb Bayerns war er für ihn eine denkbare Option: Als 1933 die Diözese Berlin vakant war, platzierte Pacelli den Abt auf der vorläufigen Terna. Wieder waren es dieselben Kriterien gewesen, die den Kardinalstaatssekretär dazu bewogen, wobei die Leitungs- und Regierungsqualität angesichts der politischen Bedeutung der Reichshauptstadt und der ersten NS-Pressionen im katholischen Presse- und Verbandswesen damals eine herausragende Rolle spielten. Angesichts dieses Befunds ist es folgerichtig, dass der Benediktiner zur Gruppe der idealen Bischofskandidaten gehörte, die Pacelli 1930 aus der bischöflichen Triennalliste von 1929 herauskristallisierte. Auch hier waren es wieder „gesunde“ Theologie und an römischen Maßgaben ausgerichtete Priesterausbildung, die als Maximen seine Sondierungen leiteten und die damit wie ein roter Faden seine Voten über den Abt bestimmten. Insofern wird man davon ausgehen können, dass sich der Kardinalstaatssekretär von Landersdorfer erhoffte, sein Passauer Episkopat entsprechend zu gewichten, zumal das kleine ostbayerische Bistum mit Knaben- und Priesterseminar sowie Philosophisch-Theologischer Hochschule „über alle Einrichtungen zur Förderung wie zur Ausbildung des geistlichen Nachwuchses“1024 verfügte. Um sich zu vergewissern, dass der Abt diese Qualitäten besaß, konnte Pacelli nur zum Teil auf die bischöflichen Triennallisten zurückgreifen: Zwar stellten sie das wissenschaftliche Renommee und die anerkannte Gelehrsamkeit des Benediktiners heraus, sprachen aber nur unspezifisch darüber, dass er „ein Priester von gesunder Lehre“ sei, ohne dessen theologische Ausrichtung näher zu spezifizieren oder das Thema Priesterausbildung auch nur zu erwähnen. Immerhin belegten sie Landersdorfers kanonische Eignung und betonten seine Fähigkeiten in der Kirchenverwaltung, die für die Leitung eines Bistums nicht unerheblich sein konnten und die man bei einem Religiosen aus einem kontemplativen Orden vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte. Er war also kein bloßer „Stubengelehrter“, sondern als „guter Prediger u[nd] Organisator“ und mit seinen Erfahrungen als Abt jemand, der auch die öffentliche Seite des Bischofsamts würde ausfüllen können. Da man diesen Aspekt am Profil des Benediktiners in Rom sehr deutlich wahrnahm, wie dessen Beauftragung zum Visitator belegt, ist davon auszugehen, dass er ebenfalls für Pacelli nicht unerheblich war. Wenig Beachtung schenkte er hingegen der Tatsache – die Landersdorfer auch selbst gegen seine Nomination ins Feld führte –, dass der Abt wenig Erfahrungen in der Seelsorge vorweisen konnte. 1024
Landersdorfer, Bistum Passau, S. 589. 284
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Allerdings benötigte Pacelli die wertenden Zeugnisse der Triennallisten nicht, um ein ausreichendes Bild von den Qualitäten Landersdorfers zu gewinnen. Wie der Würzburger Fall beweist, besaß er ein solches längst bevor irgendeine Kandidatenliste in der Kurie einging. Als Münchener Nuntius hatte er den Benediktiner bereits im Juli 1921 persönlich kennengelernt1025 und schätzte seinen Rat. Landersdorfer schrieb in seiner Autobiographie darüber: „Ich war mit Nuntius Pacelli sehr befreundet. Der Umstand, daß der alte Br[uder] Andreas, ein großes Original, im Dienste der Nuntiatur stand …, führte mich oft in die Nuntiatur, schon um Frieden zu stiften zwischen diesem und der berühmten Schw[ester] Pascalina. Der Nuntius wollte übrigens, daß ich jedes Mal, so oft ich in München war, ihn besuchen solle. Es war damals das Bayerische Konkordat in Behandlung und da gab es manches zu besprechen.“1026
An anderer Stelle bezeichnete er Pacelli sogar als „intimste[n] Freund“1027. Der Kontakt riss auch nach Pacellis Weggang aus München nicht ab. Dieser zog ihn beispielsweise als Gutachter zur Mitarbeit an der Konstitution Deus scientiarum Dominus von 1931 über die Reform des deutschen Studienwesens heran und lud ihn in diesem Kontext mehrfach nach Rom ein,1028 was noch einmal eindrücklich zeigt, für wie qualifiziert er sein Urteil im Bereich der Priesterausbildung erachtete. Wenn der Abt also seit frühester Zeit zu Pacellis Kreis der favorisierten Bischofsaspiranten zählte und wenn es stimmt, dass – wie Landersdorfer autobiographisch festhielt – der ehemalige Nuntius zu Beginn der 1920er Jahre konstatierte, „der Abt von Scheyern müsse einer der nächsten Bischöfe in Bayern sein“1029, erhebt sich die Frage, wieso er erst jetzt in dieses Amt erhoben wurde. Lässt man die vergangenen bayerischen Besetzungsfälle Revue passieren, ergibt sich eine erste Antwort: in Würzburg war Landersdorfer ein heißer Kandidat Pacellis, doch entschieden sich Papst und Staatssekretär damals für Ehrenfried; in Regensburg war Pacelli nicht wesentlich an der Kandidatenentscheidung beteiligt gewesen; in Augsburg fiel der Scheyerner Abt womöglich wegen seiner Nähe zum Münchener Erzbistum heraus; in den beiden Eichstätter Fällen spielte er für Pacelli keine Rolle, weil er nach Mergel vermutlich nicht erneut einen Benediktiner an die Diözesanspitze stellen wollte. Insofern eröffnete die Passauer Sedisvakanz eine der letzten Möglichkeiten, 1025 1026 1027
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Vgl. Geier, Seelsorge, S. 29. Wurster (Hg.), Ernstes. Wurster (Hg.), Ernstes. Ungeachtet der Frage, inwieweit man diese Wahrnehmung durch Landersdorfer selbst pressen darf, ist doch für die Bewertung der vatikanischen Quellen aufschlussreich, dass sich in der Nuntiaturberichterstattung Pacellis diese enge Bekanntschaft nicht widerspiegelt. Außerhalb des Würzburger Besetzungsfalls wird der Benediktiner darin nicht erwähnt. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 29; Siegmund/Leidl, Simon, S. 30. Wurster (Hg.), Ernstes. 285
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Landersdorfer die Bischofsmitra aufzusetzen, da mit Ausnahme von Bamberg seit 1917 sämtliche bayerischen (Erz-) Bistümer neu besetzt worden waren. Eine zweite Antwort ergibt sich beim Seitenblick auf den parallelen Fuldaer Besetzungsfall. Nachdem die NS-Regierung im April 1936 die Kandidatur Wendelin Rauchs abgeblockt hatte, wählten Papst und Staatssekretär mit Johann Baptist Dietz einen Geistlichen, der zwar ideell den NS ebenso kategorisch ablehnte, aber anders als Erstgenannter in der Öffentlichkeit nicht mit dieser Haltung hervorgetreten war. Vor diesem Hintergrund erscheint es schlüssig, dass Pacelli nur wenige Wochen später für Passau sofort einen politisch „unauffälligen“ Kandidaten aussuchte.1030 Als Benediktiner musste Landersdorfer gewissermaßen ex professo „unpolitisch“ sein und war derart unbelastet, dass seine Ansprache anlässlich der Vereidigung, die geschickt den Antibolschewismus als gemeinsames momentum von Kirche und NS herausstellte, von den Nationalsozialisten vereinnahmt werden konnte. Richard Geier fasst Landersdorfers Strategie wie folgt zusammen: „Nach diesem unguten Start benutzte Bischof Landersdorfer jede Gelegenheit, um seine Reputation wieder in Ordnung zu bringen. Dabei wählte er allerdings den Weg, eine direkte Kritik der nationalsozialistischen Machthaber zu unterlassen. Eine solche Vorgehensweise hätte ihn wiederum nur in die Schlagzeilen gebracht. Vielmehr benutzte er die binnenkirchliche Sprache, um direkt hinter der Fassade frommer biblischer Rede seine Abwehrhaltung gegenüber den Nazis zu artikulieren. Für diejenigen, die gewillt waren, diese Zwischentöne herauszuhören, stellte sich der neue Bischof als Wahrer der Rechte des Glaubens gegenüber allen Feinden dar.“1031
Diese öffentliche Zurückhaltung machte also die Promotion Landersdorfers auf einen (letztlich beliebigen) bayerischen Bischofsstuhl zu diesem Zeitpunkt für Pacelli besonders opportun: Er nominierte seinen langjährigen, idealen, in kirchlicher wie politischer Hinsicht über alle Zweifel erhabenen Bischofskandidaten, der nur geringfügige Gefahr lief, von staatlicher Seite im Rahmen des politischen Bedenkenrechts abgelehnt zu werden. Die favorisierte Stellung, die der Abt bei Pacelli einnahm und insbesondere die skizzierte Opportunität, denselben zum jetzigen Zeitpunkt als Bischof zu installieren, wird noch einmal ex negativo aus einer weiteren Beobachtung deutlich: Den vom Passauer Domkapitel präferierten Eggersdorfer, der tief im Bistum verwurzelt war, erwählte Pacelli nicht zum neuen Oberhirten 1030
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Über die konkrete Situation in Passau war Pacelli durch einen „Bericht zur seelsorglichen Lage im Bistum Passau“ vom 25. März 1936 aus der Feder des Generalvikars Riemer informiert, der von „einer planmäßigen Unterdrückung der Kirche“ sprach. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 47f., hier 47. Diese Kenntnisse aus erster Hand konnten in seine Kandidatenüberlegungen einfließen. Geier, Seelsorge, S. 53. Vgl. zu Landersdorfers Haltung zum NS ebd., S. 44–130; Leidl, Passauer Bistumsgeschichte, S. 63f.; Siegmund/Leidl, Simon, S. 33f. Für den Umgang der Diözesanleitung mit dem NS war in den Folgejahren vor allem Generalvikar Riemer bestimmend. Vgl. Wurster, Geschichte, S. 248f. 286
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und das obwohl – dies ist entscheidend – der Domkapitular genauso wie Landersdorfer zu seiner „++“-Kandidatengruppe von 1930 gehörte. Das eigentliche Problem war wohl nicht, dass Eggersdorfer es mit dem Vertrauensverhältnis, das zwischen Abt und Kardinalstaatssekretär bestand, nicht aufnehmen konnte, sondern eher der zweite Punkt: Schon seit langem hatte der Passauer Pädagogikprofessor die NS-Ideologie vehement und öffentlich attackiert, was 1933 zu seiner Demission als Rektor und Professor der Hochschule führte und ihn letztlich „für 12 Jahre jeglicher öffentlicher Wirksamkeit beraubt[e]“1032. Bereits als Eggersdorfer Ende 1933 das Domdekanat übernehmen sollte, versagte der Heilige Stuhl die Zustimmung, um Auseinandersetzungen mit der Regierung zu vermeiden. Der Kandidat war also politisch diskreditiert und hätte wohl niemals das Plazet des NS-Regimes für den Passauer Bischofsstuhl erhalten.1033 In dieser Hinsicht war er das glatte Gegenteil des von Pacelli gewünschten „unauffälligen“ und damit opportunen Kandidaten, der mit seiner ablehnenden Haltung zum NS in der Öffentlichkeit bislang nicht hervorgetreten war. 2. Angesichts der Quellenlage und der Tatsache, dass der Besetzungsmodus durch das Bayernkonkordat vorgezeichnet war, lassen sich in verfahrenstechnischer Hinsicht wenig wesentliche Erkenntnisse gewinnen. Erwähnenswert ist lediglich, dass Pacelli einen Verfahrensschritt im Vergleich etwa zur vorangegangenen Eichstätter causa von 1935 umdrehte, indem er Orsenigo zunächst das Plazet der Regierung und erst darauf Landersdorfers Einverständnis einholen ließ. Außerdem duldete er nicht, dass der Abt letzteres verweigerte, sondern insistierte vielmehr auf einer positiven Antwort. Beides hing eng mit dem Faktor „Staat“ zusammen und betrifft daher den nächsten Punkt. 3. Der Tausch der Verfahrensschritte deutet klar auf eine zugespitzte Sicht Pacellis und Rattis auf das Verhältnis von Kirche und deutscher NS-Regierung hin. Die Auseinandersetzungen und der nationalsozialistische Kirchenkampf begannen sich endgültig auf die Bischofseinsetzungen auszuwirken. Der Fuldaer Besetzungsfall, der zum Verständnis der Passauer Besetzung mitgelesen werden muss, hatte dem Kardinalstaatssekretär vor Augen geführt, dass die Nationalsozialisten nicht mehr bereit waren, die römischen Kandidaten bereitwillig durchzuwinken und dass eine rechtliche Verständigung über die konkordatär vereinbarte politische Klausel kaum bis gar nicht mehr möglich war. Der zunehmenden Nivellierung von allgemein- und parteipolitischen Bedenken durch den nationalsozialistischen Totalitarismus, der letztlich dafür ursächlich war, dass die
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Berger, Eggersdorfer, Sp. 296. Vgl. dazu Landersdorfer, Hochschulrektor; Leidl, Passauer Bistumsgeschichte, S. 63. Hier ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür zu suchen, dass die Bischöfe Eggersdorfer nach 1929 und 1932 auf ihrer Triennalliste von 1935 nicht mehr nominierten. So auch Forstner, Nominierungen, S. 121f. 287
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Regierung wie in Fulda bei Ablehnung eines Kandidaten die (parteipolitischen) Ablehnungsgründe nicht mehr offenlegte, versuchte Pacelli a priori zu begegnen, indem er – wie in Fulda – einen Kandidaten auswählte, der nicht nur aus allgemeinpolitischer, sondern auch parteipolitischer Perspektive den Nationalsozialisten keinen Anlass zur Kritik gab. Das bedeutete jedoch nicht, dass dieser Kandidat ein „Brückenbauer“ oder gar pronationalsozialistisch eingestellt sein sollte. Im Gegenteil: Das „alte“ Rezept des theologisch einwandfreien, damit auf festen katholischen Prinzipien stehenden und eben nicht NS-ideologiegläubigen Kandidaten erweiterte Pacelli um die eine Zutat, dass diese Haltung bislang nicht offensiv nach außen hin vertreten worden war (vgl. Nr. 1). Deshalb kann man sicher wie Bernd Heim von einer „Entspannungsdiplomatie“ oder „Antieskalationsstrategie“ der Kurie sprechen, doch mit Sicherheit nicht von einem „Kurswechsel des Vatikans“, der seine „bislang vertretenen Positionen“1034 revidiert hätte. Vielmehr ist gerade die Kontinuität, mit der Pacelli Landersdorfers Kandidatur seit ungefähr 15 Jahren verfolgte, bemerkenswert. Die neue, der politischen Lage in Deutschland geschuldete Maßgabe, bestimmte wesentlich die Sondierung für die Nachfolge Ow-Felldorfs und führte zum Erfolg: Der bayerische Reichsstatthalter, das Kirchenministerium und das Auswärtige Amt ließen Landersdorfer unbehelligt passieren. Neben dem geschickt ausgesuchten Kandidaten war dafür sicherlich auch das moderate Gesicht verantwortlich, das das NS-Regime im Vorfeld der im August 1936 beginnenden Berliner Sommerolympiade der Weltöffentlichkeit zeigen wollte.1035 Vielleicht lag hierin auch ein Grund dafür, dass die staatliche Antwort ungewohnt nahezu fristgerecht erfolgte. Insofern entpuppte sich nicht, wie von Pacelli angenommen, die vorgezogene politische Klausel als das größte Hindernis im Verfahren, sondern die nachgeordnete Zustimmung des Kandidaten. Dass Papst und Staatssekretär nicht bereit waren, einen neuen tauglichen Geistlichen zu suchen und bei der Reichsregierung erneut das höchst ungewisse Nihil obstat einzuholen, wenn ein nach ihrer Ansicht vorzüglicher Kandidat diese Hürde bereits genommen hatte, ist vor diesem Hintergrund einleuchtend. Daher musste sich Landersdorfer schlussendlich fügen. Ob schließlich, wie die oben dargestellte Vermutung Bernd Heims lautet, die positive Entscheidung der Reichsregierung zu Landersdorfer (und Dietz in Fulda) zu einem Entgegen-
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Heim, Bischöfe, S. 332. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 329. Auch Bernd Heim weist primär auf die Person Landersdorfers als Grund für das reibungslose Passauer Verfahren hin, stellt im Profil des Abts neben einer Heimatverbundenheit und einer nationalen Einstellung jedoch den dezidierten Antikommunismus als wesentliches Auswahlkriterium heraus. Dem ist entgegenzuhalten, dass dieser, wie er in Landersdorfers Ansprache anlässlich seiner Vereidigung zum Ausdruck kam, lediglich ein strategischer Ratschlag Faulhabers war und damit kein vom Abt selbst über die Maßen verfolgtes Anliegen. Insofern spielte „Landersdorfers Antikommunismus“ vor der Vereidigung keine Rolle und übte daher auch keinen Einfluss auf die römische Kandidatenwahl oder das staatliche Plazet aus. 288
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kommen des Heiligen Stuhls in der Besetzung des Feldbischofsamtes führte, wäre an den vatikanischen Quellen eigens zu untersuchen. Grundsätzlich scheint dies durchaus denkbar, gerade wenn man sich das gewünschte Bischofsprofil Pacellis vergegenwärtigt: Der Feldbischof brauchte anders als ein Diözesanbischof nicht zwingend den Sinn für eine korrekte Priesterausbildung zu haben, da diese nicht zu seiner Zuständigkeit gehörte. Insofern musste dieses Amt für ihn eine untergeordnete Rolle spielen, in der Konzessionen ohne größeren „Schaden“ möglich waren. Von daher entbehrt es zumindest nicht der Logik, dass er Rarkowski als den favorisierten Kandidaten der NS-Regierung schließlich doch akzeptierte und sich womöglich im Gegenzug – aller Ernüchterung zum Trotz – eine größere Nachgiebigkeit von Seiten des Regimes bei künftigen Konfliktfällen erhoffte. 4. Zur Informantenfrage ist zweierlei anzumerken: a) Pacelli bediente sich der informellen Vermittlung Kardinal Faulhabers, um Landersdorfer zur Amtsannahme zu bewegen, nachdem der formelle Weg über den Berliner Nuntius erfolglos geblieben war. Den Münchener Erzbischof mit dieser Aufgabe zu betrauen, bot sich nicht nur an, weil dieser anders als Orsenigo direkt vor Ort war und sich dadurch eine zügige, diskrete und nach außen hin „unverdächtige“ Aussprache mit dem Scheyerner Abt ermöglichte. Auch das Freundschaftsverhältnis zwischen Landersdorfer und Faulhaber ließ hoffen, dass ersterer auf letzteren hören und schlussendlich nachgeben würde. b) Die enge Verbindung zwischen den beiden Geistlichen spiegelt sich auch in den Triennallisten wider, die in formaler Hinsicht die Grundlage für die römische Kandidatenentscheidung bildeten. Die bischöflichen Vorschlagslisten von 1929, 1932 und 1935 vermerkten ausdrücklich, dass Faulhaber jeweils zu den Unterstützern des Benediktiners zählte. Dazu trat jeweils das Votum des Bamberger Erzbischofs Hauck und auf der letzten Liste außerdem die Stimmen von Ehrenfried und Buchberger. Was die Abstimmungsergebnisse anbelangte, so gehörte der Abt seit 1929 jeweils zu den Favoriten des bayerischen Episkopats – auch noch 1935, obwohl sich das Ergebnis, wie gezeigt, leicht verschlechterte. Deshalb kann man durchaus sagen, dass Pacelli dem Wunsch der (Erz-) Bischöfe entsprach, als er Landersdorfer nominierte. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass dieser schon vor Abschluss des Bayernkonkordats und damit bevor die ersten Triennallisten angefertigt wurden, ein dezidierter Bischofskandidat Pacellis war (vgl. Nr. 1). Daher koinzidierte bei Landersdorfers Kandidatur Pacellis persönliche Präferenz mit dem Votum der Freisinger Bischofskonferenz. Außerdem legitimierten die positiven Abstimmungsergebnisse die Promotion des Abts auf den Passauer Bischofsstuhl rechtlich. Konnten die bischöflichen Triennallisten den Kardinalstaatssekretär festigen und bestärken, Landersdorfer zu wählen, waren die Triennallisten der Domkapitel ohne Bedeutung. Die Passauer Domherren mussten feststellen, dass sich der Heilige Stuhl für keinen ihrer Wunschkandidaten entschieden hatte. Die Tatsache, dass sie Eggersdorfer (laut Triennalliste von 1935) favorisierten, 289
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den Pacelli wiederum aus politischen Gründen für völlig inepiskopabel betrachtete, musste in den Augen des Kardinalstaatssekretärs ein klares Signum bedeuten, dass zwischen ihm und dem Domkapitel eine grundlegend divergente Auffassung von der realpolitischen Situation bestand. Tatsächlich erhebt sich die Frage, wie die Domherren es sich vorstellten, für Eggersdorfer das staatliche Plazet zu bekommen.1036 Dass Pacelli angesichts des hier zu notierenden Fragezeichens die gesamte Liste nicht mehr berücksichtigte, ist nicht verwunderlich. Doch das war noch nicht alles: Er nominierte mit Landersdorfer einen Geistlichen, den die Passauer Domherren sogar als dezidiert untauglich abgewählt hatten (1929 und 1935). Das heißt, dem Kardinalstaatssekretär war nicht nur gleichgültig, dass sie den Abt nicht als episkopabel vorschlugen, sondern auch dass sie ihn als nicht-episkopabel disqualifizierten. Deutlicher konnte die Geringschätzung, die Pacelli dem Votum des Passauer Kapitels entgegenbrachte, wohl nicht zum Ausdruck kommen. 5. Während die römische Ernennung Landersdorfers als solche in sich einsichtig ist und auf den Kardinalstaatssekretär als wesentlichen Promotor zurückweist (vgl. Nr. 1), bleiben die genauen innerkurialen Kandidatensondierungen im Dunkeln, näherhin inwieweit Pius XI. an ihnen beteiligt war. Klar ist jedenfalls, dass Pacelli seinen langjährigen Favoriten beim Pontifex durchsetzen konnte. Da dieser wiederum den Benediktiner selbst persönlich kannte, um dessen Ansehen innerhalb und außerhalb des Ordens wusste und der Abt wiederum mehrfach im Dienste des Heiligen Stuhls stand, ist davon auszugehen, dass es sich zwischen Papst und Staatssekretär um eine besonders einvernehmliche Kandidatenwahl handelte.1037 Folgerichtig belegt auch die Audienznotiz vom 4. September 1936, dass Pius XI. an der Kandidatur Landersdorfers trotz dessen Widerstands festhielt. Keine sehr gute Figur gab schließlich der Berliner Nuntius ab, dem es nicht gelang, Landersdorfer zu überzeugen, ja nicht einmal, dass diesem das Gespräch in der Nuntiatur in guter Erinnerung blieb. Pacelli traute Orsenigo nicht zu, die Angelegenheit bei einem zweiten Versuch besser zu lösen und beauftragte an seiner statt den Münchener Erzbischof. Da er hierbei jedoch auch Vassallo überging, der inoffiziell noch bis Oktober in München weilte, muss man den Grund für Faulhabers Sonderauftrag wohl weniger in einem Misstrauensvotum Pacellis gegenüber den päpstlichen Stellvertretern in Deutschland sehen, als in den genannten günstigen Konditionen, 1036
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Ein ähnliches Problem bestand beispielsweise auch bei Generalvikar Riemer. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 48. Die erste Begegnung gab es bereits im März 1922, als der damalige römische Exegeseprofessor Landersdorfer den Abtprimas des Benediktinerordens, Fidelis von Stotzingen, zu einer Privataudienz beim frisch gewählten Pius XI. begleitete. In der römischen Zeit konnte Landersdorfer zahlreiche Kontakte zur Kurie knüpfen und blieb auch in späteren Jahren – seine Berufung zum päpstlichen Visitator und seine Romaufenthalte zwecks Mitarbeit an Deus scientiarum Dominus wurden bereits genannt – im römischen Fokus. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 26–30. 290
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die den Münchener Erzbischof für diese Aufgabe prädestinierten. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass Pacelli weder von Orsenigo noch Vassallo ein Gutachten zum Benediktiner einholte beziehungsweise eine Meinung hören wollte – dies legt sich aus dem analogen Vorgehen Pacellis in Eichstätt 1935 und Fulda 1936 nahe –, dann beschränkte sich ihr Beitrag zum Verfahren lediglich darauf, die Sedisvakanzliste nach Rom weiterzureichen (vermutlich Vassallo) und die Regierung nach politischen Bedenken zu befragen (Orsenigo). Die zentralen Weichen hingegen wurden im päpstlichen Staatssekretariat gestellt.
II.3 Oberrheinische Kirchenprovinz II.3.1 Eine freie Bischofswahl: Freiburg 1920 (Karl Fritz)1038 Die badische Verfassung von 1919: neue Freiheit für die Kirche Im April 1919 gab sich der Staat Baden eine neue Verfassung.1039 Nachdem diese in dem deutschlandweit singulären Plebiszit am 13. April 1919 gebilligt worden war, trat sie am 23. des Monats in Kraft. Sie wurde somit noch vor der WRV verabschiedet, brauchte aber nach deren Ratifikation nicht mehr geändert zu werden, da sie „den in dieser festgelegten Grundsätzen“1040 folgte. Bereits am 7. März des Jahres verfasste der Freiburger Erzbischof, Thomas Nörber, eine Denkschrift für die badische Verfassunggebende Nationalversammlung in Karlsruhe, in welcher er das kurz vor der Verabschiedung stehende Verfassungswerk aus kirchlicher Perspektive beurteilte.1041 Darin rekapitulierte er, dass die Kirche in Baden seit jeher der staatlichen Repression ausgesetzt gewesen sei: „Die katholische Weltkirche kann nach Verfassung und Lehre keine Staatskirche sein. Sie hat darum in schweren, Jahrhunderte langen Kämpfen die Ketten des Cäsaro-Papismus immer
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Vgl. zur Besetzung des erzbischöflichen Stuhls von Freiburg 1920 Fischer, Erzbischofswahlen, S. 321– 326; Gatz, Ringen, S. 108f.; Schmider, Frei gewählt. Vgl. badische Verfassung vom 21. März 1919, in: Badisches Gesetzes- und Verordnungs-Blatt Nr. 28 vom 25. April 1919, S. 279–294 beziehungsweise den Auszug bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 141–143. Vgl. zur Verfassung Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 795–798; Hug, Geschichte, S. 309–311. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 795. Vgl. Memorandum Nörbers über „Die rechtliche Stellung der kirchlichen Gemeinschaften im Entwurf zur badischen Verfassung“ vom 7. März 1919, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 85r–88r. 291
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wieder abschütteln müssen. In Baden hat das sog[enannten] Kirchengesetz vom 9. Oktober 18601042 auch der kathol[ischen] Kirche nach einer Zeit bedrückendsten Staatskirchentums eine gewisse Selbständigkeit gesichert. Diese Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche behielt aber der Staatsgewalt insbesondere bezüglich der Vorbildung der Kirchendiener und der Besetzung der Kirchenämter weitgehende Rechte vor, deren Ausübung unter anderem die Verwaisung des Erzbischöflichen Stuhles zu Freiburg durch 14 Jahre (von 1868–1882)1043 und den badischen Kulturkampf1044 mit seinen für das katholische Volk so bitteren Erinnerungen zur Folge hatte. Wenn im Laufe der letzten Jahrzehnte das Verhältnis der Großh[erzoglichen] Bad[ischen] Regierung zur Kurie in Freiburg im Allgemeinen ein friedliches geworden ist, so lag der Grund nicht in einer völlig befriedigenden Ordnung des Rechtes der beiden Gewalten, sondern in dem beiderseitigen Wunsche und Willen zu friedlichem Zusammenwirken, das besonders auch auf Seite der Kirchenbehörde nach Jahrzehnte hindurch währenden aufregenden Kämpfen vorhanden war. Wenn nun auch das Gesetz vom 4. Juli 19181045 einige empfindliche Härten früherer Kulturkampfgesetze beseitigte, so fehlt doch noch sehr viel bis zur vollen Kirchenfreiheit. Es sei nur daran erinnert, daß bei der Wahl des Erzbischofs, der Domkapitulare und der Dompräbendare der einem anderen Religionsbekenntnis angehörige Landesherr das Recht besaß, von der Wahlliste die mindergenehmen Persönlichkeiten zu streichen … Diesen Vorrechten des Staates auf kirchlichem Gebiete standen keineswegs entsprechende Vorteile der Kirche und Kirchendiener auf staatlichem Gebiete gegenüber.“1046
Die neue Verfassung brachte der Kirche die lang ersehnten Freiheiten. Sie bestimmte eine prinzipielle Trennung von Kirche und Staat, die von Seiten der Kirche – gerade im Anschluss an die Staatslehre Leos XIII.1047 – trotz der damit verbundenen Freiheiten kritisch beäugt wur-
Vgl. „Gesetz, die rechtliche Stellung der Kirchen und kirchlichen Vereine betreffend“ vom 9. Oktober 1860, in: Großherzoglich Badisches Regierungs-Blatt Nr. LI vom 16. Oktober 1860, S. 375–378. Vgl. auch Braun, Kirche, S. 145–150; Grossmann, Besetzung, S. 330–356. 1043 Vgl. zur 14-jährigen Sedisvakanz nach dem Tod des Erzbischofs Hermann von Vicari und zur Wiederbesetzung 1882 Braun, Kirche, S. 163–167; Friedberg, Staat, S. 341–345; Grossmann, Besetzung, S. 356–377; Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 575; Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche II, S. 259– 266. 1044 Vgl. zum Kulturkampf in Baden Bäumer, Kulturkampf; Becker, Staat; Braun, Kirche, S. 150–182; Hug, Geschichte, S. 265–272. 1045 Vgl. „Gesetz. Die Änderung einiger Bestimmungen des Gesetzes vom 9. Oktober 1860 über die rechtliche Stellung der Kirchen und kirchlichen Vereine im Staate betreffend“ vom 4. Juli 1918, in: Gesetzesund Verordnungs-Blatt für das Großherzogtum Baden Nr. 33 vom 17. Juli 1918, S. 193f. 1046 Memorandum Nörbers über „Die rechtliche Stellung der kirchlichen Gemeinschaften im Entwurf zur badischen Verfassung“ vom 7. März 1919, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 85r. 1047 Papst Leo XIII. forderte ein einträchtiges Zusammenwirken der beiden souveränen Gewalten. Da der Staat ebenso wie die Kirche eine vollkommene Gesellschaft sei, könne letztere zwar keinen direkten oder indirekten Einfluss auf ersteren ausüben, ihm allerdings im Sinne der potestas directiva-Lehre die sittlichen und tugendhaften Maßstäbe für das Erreichen des bonum commune aufzeigen. Vgl. zu Leos Staatslehre Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 53–67; Tischleder, Staatslehre; Uertz, Gottesrecht, S. 236–266. 1042
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de.1048 Die §§ 18 und 19 des Verfassungstextes regelten die kirchenpolitische Materie. Im ersteren hieß es unter Absatz 3: „Alle staatlich anerkannten kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind rechtlich gleichgestellt. Sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und haben das Recht der Selbstbesteuerung nach den Landesgesetzen. Sie ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten frei und selbständig im Rahmen der allgemeinen Staatsgesetze. Insbesondere werden die Kirchenämter durch die Kirchen selbst verliehen.“1049
Damit war nach Ansicht der kirchlichen Stellen jeder Einfluss der Staatsregierung auf die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls ausgeschlossen.1050 Zu diesem Entschluss kam auch Nörber, nicht nur in seiner Denkschrift vom 7. März 1919,1051 sondern ebenso ein Jahr später, als er für den Münchener Nuntius Pacelli eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses der katholischen Kirche zum Land Baden anfertigte. Der Nuntius wollte besser einschätzen können, was die neue Verfassung für das Verhältnis von Staat und Kirche bedeutete, wobei es ihm vornehmlich um die Frage der Opportunität oder Inopportunität ging, Konkordatsverhandlungen mit der badischen Regierung aufzunehmen. In seinem Votum vom 9. März 1920 deduzierte Nörber, dass durch die mittels § 18 erfolgte Aufhebung der Exklusive des Königs beziehungsweise 1048
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So auch Nörber in seiner Denkschrift: „Die katholische Kirche verwirft aber auch bei aller Wahrung ihrer Selbständigkeit die seit etwa 1840 mehr und mehr, meist mit ausgesprochen kirchenfeindlicher Tendenz, verbreitete Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche.“ Memorandum Nörbers über „Die rechtliche Stellung der kirchlichen Gemeinschaften im Entwurf zur badischen Verfassung“ vom 7. März 1919, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 85r. Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 142. Vgl. zur Auswirkung auf die kirchliche Ämterbesetzung Grossmann, Besetzung, S. 405–417; Grüninger, Besetzungsrecht, S. 443–457. Auch der badische Staat teilte diese Auffassung. Vor der Verabschiedung der Verfassung war die entsprechende Kommission der badischen Nationalversammlung zu dem Schluss gekommen, dass „sich aus dem Recht der Kirche, die Kirchenämter selbst zu verleihen, auch das Recht ergibt, die höheren Kirchenämter ohne Mitwirkung der staatl[ichen] Behörde zu besetzen, daß also insbes[ondere] auch die dem Staat nach den Bullen Provida solersque u[nd] Ad dominici gregis custodiam bisher zustehende Beteiligung an der Besetzung des Erzbischöfl[ichen] Stuhls u[nd] des Domkapitels fortan in Wegfall kommt“. Schmidt, Kirche und Staat in Baden, Sp. 245. Vgl. auch Grossmann, Besetzung, S. 407. Klaus Mörsdorf weist mit Recht darauf hin, dass Provida solersque hier fälschlicherweise genannt ist, da die Thematik der Bischofseinsetzungen darin nicht thematisiert wird. Vgl. Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 105f. Vgl.: „Die von der Kommission eingefügte Bestimmung über freie Verleihung der Kirchenämter durch die Kirchen …, wird der katholischen Kirche auf einem Gebiete, wo sie bisher außerordentlich beengt war, Freiheit schaffen. Durch diese Bestimmung soll offenbar auch der staatliche Verzicht auf jene Rechte ausgesprochen werden, die auf Grund der Bulle Ad Dominici gregis custodiam vom 11. April 1827, Punkt 1 und 4 dem Landesherrn in Bezug auf die Wahl des Erzbischofes, der Domkapitulare und der Dompräbendare zustanden, sodass die Verleihung dieser Kirchenämter künftighin der kanonischen Wahl durch das Domkapitel bez[iehungsweise] der Ernennung durch den Erzbischof allein überlassen bliebe.“ Memorandum Nörbers über „Die rechtliche Stellung der kirchlichen Gemeinschaften im Entwurf zur badischen Verfassung“ vom 7. März 1919, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 86r. 293
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der Regierung, die Besetzung des erzbischöflichen Stuhls völlig frei gemäß dem Kirchenrecht stattfinden könne.1052 Jedoch sei es wünschenswert, dass unbeschadet des Can. 329 § 2, das Privileg der Kanoniker zur Wahl des neuen Oberhirten – wie es die Bulle Ad dominici gregis custodiam konzediert hatte – erhalten bleibe.1053 Klerus und Volk würden einem Entzug dieses bisherigen Rechts widerwillig gegenüberstehen. Außerdem könne die Bischofswahl für das Wohl der Kirche sorgen: „Daher bitten der unterzeichnende Ordinarius und sein Ordinariat innig, dass der Heilige Stuhl wegen der veränderten Lage der Dinge, die Bestimmungen, die er bei der Errichtung dieser Erzdiözese mit Einverständnis der Regierungen erließ, jetzt nicht formal widerruft, sondern insoweit es möglich ist, dieselben bewahrt …“1054
Eine Abschaffung des Wahlprivilegs brachte laut Nörber zudem die Gefahr mit sich, dass im Gegenzug die dotativen Leistungen für die Kirche durch den mehrheitlich nicht-katholischen Staat aufgekündigt werden könnten.1055 Beide Gutachten übersandte Nörber dem Nuntius am 11. März 1920.1056 Schon wenige Monate später sollten die von ihm behandelten Fragen um die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls hoch aktuell werden.
Der Tod von Erzbischof Thomas Nörber und die Frage der Nachfolgeregelung Schon unmittelbar nach dem Tod des Freiburger Erzbischofs am 27. Juli 1920 liefen die Überlegungen des Nuntius zur Regelung der Nachfolgefrage auf Hochtouren.1057 Während er am 28. Juli Kardinalstaatssekretär Gasparri in einer kurzen Notiz über den Tod Nörbers 1052
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Vgl. Memorandum Nörbers für Pacelli vom 9. März 1920, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 78r–84r, hier 80v. Da eine staatliche Einflussnahme durch § 18 der badischen und Art. 137 der Reichsverfassung beendet sei, habe – so Nörber – auch der Treueid des neu gewählten Erzbischofs keine Berechtigung mehr. Vgl. zur alten Regelung Grüninger, Besetzungsrecht, S. 438–443 beziehungsweise Bd. 1, Kap. I.4. „Denique Ordinarius subscriptus eiusque Ordinariatus enixe supplicant, ne Sancta Sedes ob mutatam rerum conditionem Constitutiones, quas in erectione huius Archidioecesis cum assensu Guberniorum edidit, nunc formaliter revocet, sed easdem, in quantum possibile est, conservet …“ Memorandum Nörbers für Pacelli vom 9. März 1920, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 80v. Vgl.: „… quia post revocationem periculum adest, ne comitia Badensia, quae per maiorem partem religioni catholicae fidei non favent, declarent, tali revocatione etiam dotationem Archiepiscopatus in iis Constitutionibus Gubernio in favorem Ecclesiae impositam exstinctam esse.“ Memorandum Nörbers für Pacelli vom 9. März 1920, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 80v. Vgl. Nörber an Pacelli vom 11. März 1920, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 77r. Da sich Pacelli zu diesem Zeitpunkt in Rom aufhielt, nahm Schioppa die Dokumente in Empfang und versicherte Nörber in seiner Antwort, sie bei nächster Gelegenheit dem Nuntius vorzulegen. Vgl. Schioppa an Nörber vom 20. März 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 89r. Noch am Todestag setzte das Freiburger Metropolitankapitel den Nuntius über das Hinscheiden Nörbers in Kenntnis. Die Beisetzung sollte am darauffolgenden Dienstagmorgen stattfinden. Vgl. Metropolitan294
II.3.1 Freiburg 1920
informierte, verfasste er am 29. des Monats einen ausführlichen Bericht, in dem er seinem römischen Vorgesetzten die Umstände für die Neubesetzung des erzbischöflichen Stuhls darlegte.1058 Darin betonte er in Anlehnung an die Relation des Verstorbenen über die kirchenpolitische Situation in Baden vom 9. März des Jahres, dass die neue badische Verfassung in ihrem 18. § die königliche Exklusive und überhaupt jedweden staatlichen Einfluss auf die Wahl des Erzbischofs aufgehoben habe, sodass „diese von nun an völlig frei gemäß dem kanonischen Recht stattfinden wird“1059. Nörber habe – wie Pacelli Gasparri schilderte – darum gebeten, dass dem Freiburger Kapitel das Privileg zur Bischofswahl bewahrt werde und dies mit zwei Gründen unterstützt: zum einen mit der Anhänglichkeit von Klerus und Volk an dieses seit Jahrhunderten geltende Recht; zum anderen mit dem Hinweis auf die Gefahr, dass eine neue badische Regierung1060 die Dotation des Erzbistums stoppen könnte, falls der Freiburger Erzbischof frei von Rom ernannt werden sollte. Der Nuntius fügte an, dass man eine Diskussion über das Kapitelswahlrecht mit Blick auf ein künftiges Reichskonkordat „nicht von vornherein ausschließen könne“1061. Vielmehr lasse sich das Wahlrecht in den Verhandlungen als Tauschmasse einsetzen, „[f]alls die Regierung bereit ist, in den anderen Punkten wichtige wohlbekannte Konzessionen an den Heiligen Stuhl zu machen“1062. Zwar sei ihm bei seinem kürzlichen Berlinaufenthalt1063 von Seiten der Reichsregierung versichert worden, dass die Relikte der alten Konvention, wie das Recht der Regierung zur Präsentation der Kandidatenliste
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kapitel an Pacelli vom 27. Juli 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 12r. Einen Tag darauf erhielt der Nuntius vom Freiburger Domdekan Friedrich Justus Knecht die Todesanzeige. Vgl. Knecht an Pacelli vom 28. Juli 1920, ebd., Fol. 14r. Pacelli entrichtete den Domkapitularen umgehend sein Beileid. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 28. Juli 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 13r; Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 32r–33v. „… questa sarà dʼora innanzi del tutto libera a norma del diritto canonico.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 32v. Am 5. Januar 1919 hatten die Wahlen zur badischen Nationalversammlung stattgefunden, die einen Sieg der bürgerlich-mehrheitssozialistischen Richtung erbrachten. Die Regierungskoalition wurde aus Mehrheitssozialisten, Zentrum und Deutschdemokraten gebildet. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1048. Die nächstfolgenden Wahlen fanden am 30. Oktober 1921 statt. Trotz „nicht unerhebliche[r] Verschiebungen nach rechts wie nach links“ blieb die bisherige Koalition weiter unangefochten an der Macht, sodass die Sorge über eine etwaige kirchenfeindlichere Regierung unbegründet war. Vgl. Ders., Verfassungsgeschichte VI, S. 795f., hier 795. „… potrebbe non respingersi a limine …“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 33r. „Qualora il Governo medesimo fosse disposto a fare su altri punti importanti delle notevoli concessioni alla Santa Sede …“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 33r. Pacelli spielte hier auf seine Reise in die Reichshauptstadt anlässlich seiner Akkreditierung als Nuntius beim Deutschen Reich an. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.2 Anm. 580. 295
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oder der Entsendung eines Regierungskommissars zum Wahlakt, mit der neuen WRV gefallen seien. Aber die Regierung werde unter allen Umständen versuchen, in einem neuen Konkordat das Kapitelswahlrecht durchzusetzen. Dem Nuntius war klar, dass die Besetzung des vakanten Erzbischofsstuhls nicht darauf warten konnte, dass ein mögliches Reichskonkordat einen neuen Modus zur Einsetzung der Bischöfe bereitstellte. Außerdem hielt er es für besser, zunächst ein Konkordat mit Bayern abzuschließen, „wo die gegenwärtige Situation verhältnismäßig besser ist als in den übrigen Ländern Deutschlands“, welches dann wiederum „wie ein Modell und wie eine Präzedenz“1064 in den Verhandlungen mit der Reichsregierung verwendet werden könne. Alle Verhandlungen und diplomatischen Prozesse zugunsten neuer Staatskirchenverträge benötigten Pacellis Überzeugung nach noch einige Zeit und da in dem angedachten Reichskonkordat auch Baden mit eingeschlossen werden könnte, „scheint es klug, dass die Situation in der Zwischenzeit nicht auf irgendeine Weise kompromittiert oder gestört wird“1065. Deshalb votierte er „untertänig unter dem höheren Urteil Eurer Eminenz“ dafür, „dass die Besetzung des in Rede stehenden Metropolitansitzes, wenigstens für dieses Mal, durch die Kapitelswahl stattfindet, immer natürlich mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass dies keinen Präzedenzfall für die endgültige Regelung der Frage schaffen kann“1066. Um dieses Votum zu untermauern, erinnerte er Gasparri an die fast parallelen Besetzungsfälle in Köln und Paderborn, in denen der Heilige Stuhl den Domkapiteln ebenfalls das Wahlrecht pro hac vice erlaubt hatte. Pacellis Fokus lag also auf den erhofften Staatskirchenverträgen mit den deutschen Teilstaaten beziehungsweise dem Gesamtreich. Davon profitierte letztlich das Freiburger Metropolitankapitel, insofern er bereit war, auf eine getreue Umsetzung des Can. 329 § 2 des CIC zu verzichten – die ohnehin erst durch die badische Verfassung in den Horizont des Möglichen gerückt war – und dem Domkapitel das Wahlrecht zu gestatten, um die Rahmenbedingungen für die Konkordatsverhandlungen nicht zu gefährden.
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„… ove al presente la situazione è relativamente migliore che in qualsiasi altro Paese della Germania … come modello e come precedente …“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 33r. „… sembra quindi prudente che la situazione non venga nel frattempo in alcun modo compromessa o turbata.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 33v. „… subordinatamente al superiore giudizio dellʼEminenza Vostra … che la provvista della Sede Metropolitana in discorso abbia luogo, almeno pro hac vice, mediante lʼelezione capitolare, sempre naturalmente collʼespressa riserva che ciò non potrà costituire un precedente per il definitivo regolamento della questione.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Juli 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 33v. 296
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Die päpstliche Wahlerlaubnis und Freiheit von staatlicher Ingerenz Papst Benedikt XV. und Gasparri waren mit den Ausführungen des Münchener Nuntius zufrieden. Mit besonderem Interesse nahmen beide die Aufhebung der Regierungsexklusive bei der Bischofswahl zur Kenntnis, wie der Staatssekretär in einer Weisung an Pacelli vom 3. August versicherte.1067 Daher erlaube der Papst – so Gasparri die frühere Formulierung Pacellis aufnehmend – „dass die Besetzung des besagten Metropolitansitzes für dieses Mal durch die Kapitelswahl stattfindet“1068, jedoch mit ausdrücklicher Betonung der Präzedenzklausel. Pacelli teilte diesen päpstlichen Entscheid Mitte August zunächst einmal dem Geschäftsträger der preußischen Gesandtschaft in Bayern mit, Julius Graf von Zech-Burkersroda: „Ich habe die Ehre … mitzuteilen, dass der Heilige Vater, in Erwägung der jetzigen Verhältnisse und insbesondere der bereits staatlicherseits geschehenen Aufhebung jeglicher Einmischung der Regierung bei Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Baden, erlaubt, dass die Besetzung des derzeit vakanten Metropolitanstuhles in Freiburg für diesen Fall durch die Kapitularwahl stattfinde, mit dem ausdrücklichen Vorbehalt jedoch, dass dies keinen Präzedenzfall für die definitive Regelung der Frage wird bilden können.“1069
Zech, der wenig später auch Vertreter der Reichsregierung in München wurde, war Pacellis erste diplomatische Verbindung in die Reichshauptstadt. Angesichts seiner Ausrichtung auf ein Konkordat mit dem Reich überrascht es nicht, dass der Nuntius die an sich formal nicht notwendige Mitteilung nach Berlin vornahm. Inzwischen hatte das Freiburger Metropolitankapitel am 30. Juli den Domkapitular und Generalvikar Karl Fritz zum Kapitularvikar gewählt, der die wichtigsten Amtsgeschäfte während der Sedisvakanz abwickelte. Die Wahlanzeige sandte der Weihbischof und Kapitelsdekan Friedrich Justus Knecht auf direktem Weg nach Rom, informierte am 4. August aber auch den Nuntius.1070 Erst am 19. August, knapp eine Woche nach der Mitteilung an den Berliner Regierungsgesandten, reichte Pacelli die einmalige päpstliche Konzession zur Wahl des neuen Oberhirten auch an den Kapitularvikar weiter.1071 Deutlicher konnte Pacelli seine Prioritäten zugunsten einer friedvollen
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 3. August 1920, ASV, ANB 82 Fasz. 2, Fol. 93r. „… che la provvista dellʼanzidetta Sede Metropolitana abbia luogo pro hac vice mediante lʼelezione Capitolare …“ Gasparri an Pacelli vom 3. August 1920, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 93r. Hervorhebung im Original. Pacelli an Zech vom 13. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 96r. Hervorhebung im Original. Vgl. Knecht an Pacelli vom 4. August 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 19r. Pacelli übermittelte daraufhin dem zum Kapitelsvikar Gewählten seine Glücks- und Segenswünsche. Vgl. Pacelli an Knecht vom 7. August 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 20r. Vgl. Pacelli an Fritz vom 19. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 95r. 297
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Verständigung mit der Reichsregierung nicht kundtun. Erst nachdem man in Berlin ausgiebig Zeit gehabt hatte, das Entgegenkommen des Heiligen Stuhls zu würdigen, wandte sich Pacelli an den eigentlichen Adressaten der Wahlgenehmigung. Nachdem dann auch – wie nach der badischen Verfassung erwartet – das badische Kultusministerium am 2. September ausdrücklich erklärt hatte, von jeder Beteiligung an dem Besetzungsprozedere abzusehen, stand der Wahl des neuen Erzbischofs nichts mehr im Wege.1072 Auf Anordnung des Kapitelsdekans fand sie am Montag, dem 6. September, um 9 Uhr morgens in der Sakristei des Freiburger Münsters statt.
Die Wahl des neuen Erzbischofs Das Documentum Electionis Archiepiscopi Friburgensis gibt Aufschluss über den Wahlverlauf.1073 Nach der Votivmesse vom Heiligen Geist fanden sich alle Mitglieder des Metropolitankapitels in der Sakristei der Freiburger Bischofskirche ein.1074 Nachdem die Wahlinstruktionen durch Verlesen des Breves Re sacra1075 und des Schreibens von Kardinal Rampolla aus dem Jahr 19001076 ins Gedächtnis gerufen worden waren, bestellten die Kapitulare durch geheime Abstimmung zwei Wahlprüfer, nämlich die Domherren Simon Weber (mit sechs Ja-Stimmen) und Fridolin Weiß (mit fünf positiven Voten). Nach ihrer Vereidigung, das Amt gewissenhaft zu erfüllen und Stillschweigen zu bewahren, konnte die eigentliche Wahl beginnen. Zu diesem Zweck war ein Tisch mit einem Kruzifix, zwei brennenden Kerzen und einem Kelch für die Stimmzettel aufgestellt worden. Gemäß der Rangfolge 1072
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Unter Rekurs auf die neue Verfassung hatte am 24. August das Metropolitankapitel gegenüber der badischen Regierung geäußert, die Wahl des Erzbischofs von Freiburg ohne Präsentation der bislang vorgesehenen Kandidatenliste vornehmen zu wollen. Das Kultusministerium teilte seine Argumentation vollständig, wie es am 2. September an das badische Staatsministerium schrieb: „Nachdem der Verfassungsausschuß unter Zustimmung des Bad[ischen] Landtags im Einklang mit dieser Verfassungsbestimmung [sc. § 18 Absatz 3, R.H.] erklärt hat, auf die Ausübung der nach der Fundationsurkunde des Erzbistums (Bulle Ad Dominici gregis custodiam vom Jahre 1827) der Regierung zustehenden Rechte hinsichtlich der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles zu verzichten, entfällt unseres Erachtens die Pflicht des Domkapitels zur Mitteilung der für die Besetzung des Erzbischöfl[ichen] Stuhles in Frage kommenden Kandidatenliste sowie jegliche Mitwirkung von staatlicher Seite bei der Wahl des Erzbischofs.“ Zitiert nach Fischer, Erzbischofswahlen, S. 322 Anm. 9. Vgl. Documentum Electionis Archiepiscopi Friburgensis vom 6. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 37r–38r. Anwesend waren der Dekan des Kapitels Knecht, der zum Kapitularvikar gewählte Fritz sowie die Kanoniker Peter Schenk, August Brettle, Franz Xaver Mutz, Simon Weber und Fridolin Weiß. Ludwig Körner, Sekretär und Notar des erzbischöflichen Ordinariats, übernahm die Aufgabe der Beurkundung. Vgl. Breve Re sacra vom 28. Mai 1827, abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 272f. (Nr. 110). Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 Anm. 131. 298
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händigten die Wahlprüfer den Wählern die Zettel für die Stimmabgabe aus. Nachdem alle gewählt hatten, die Anzahl der abgegebenen Wahlzettel überprüft und die Namen der Gewählten verlesen waren, ergab sich folgendes Endergebnis: auf Fritz entfielen fünf, auf Domkapitular Franz Xaver Mutz sowie auf den Konstanzer Pfarrer Conrad Gröber jeweils eine Stimme.1077 Da Fritz die einfache Mehrheit der Voten erreichte, war die electio entschieden. Nachdem dieser seine Zustimmung zur Entscheidung des Kapitels gegeben hatte, wurden die Stimmzettel verbrannt. Alle Teilnehmer unterzeichneten daraufhin die Wahlurkunde. Der Name des electus wurde anschließend durch den Kanoniker Weiß dem wartenden Volk von der Kanzel des Münsters mitgeteilt, wenn auch unter dem Vorbehalt der Approbation des Heiligen Stuhls, wie es das Schreiben Rampollas eingeschärft hatte. Die Wahl sei genau nach den Vorgaben des CIC abgelaufen, versicherte Knecht am selben Tag in einem Schreiben an den Papst.1078 Er teilte das Wahlergebnis mit und fügte das Wahlprotokoll als Beleg an. Besonders wichtig war dem Weihbischof die Freiheit von jedweder staatlichen Ingerenz: „Diese Wahl war zum ersten Mal völlig frei ohne irgendeine Einwirkung der laikalen Macht, welche weder eine Kandidatenliste gemäß der Vorschrift der Bulle ‚Ad Dominici gregis custodiam‘ vom 11. April 1827 von uns empfing, noch über Tag und Ort der Wahl informiert worden ist.“1079 Knecht führte diese neu erworbene Freiheit auf den § 18 der badischen Verfassung zurück, wobei die darin verbürgte Freiheit der kirchlichen Ämterbesetzung von der Verfassunggebenden Versammlung bestätigt und bekräftigt worden sei. Daher hätten die Vereinbarungen über die Besetzung des erzbischöflichen Stuhls von Freiburg, wie sie in der genannten Bulle niedergelegt worden seien, ihren Geltungsanspruch verloren.1080 Knecht bat den Papst, Fritz als den neuen Erzbischof von Freiburg noch vor Durchführung des Informativprozesses zu bestätigen. Denn nach Ansicht der Domkapitulare war all das bei dem Neugewählten anzutreffen, was der Codex vor allem im Can. 331 von einem Bischof verlangte: „… legitime Geburt, das rechte Alter, um die heilige Weihe zu empfangen, die besten Sitten, Frömmigkeit, Seeleneifer, Gelehrsamkeit und in der Führung der Diözese, in diesen äußerst schwierigen Zeiten, die höchste Erfahrung und Klug1077
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Irrtümlich spricht Erwin Gatz davon, dass im Wahlinstrument neben Fritz von keinem anderen Kandidaten die Rede sei. Vgl. Gatz, Ringen, S. 109. Vgl. Knecht an Benedikt XV. vom 6. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 35r–36r. Vgl. zu den Normen des CIC für die Bischofswahl Bd. 1, Kap. I.6. „Quae electio prima hac vice omnino libera fuit sine ullo interventu potestatis laicalis, quae neque elenchum candidatorum iuxta praeceptum Bullae ‚Ad Dominici gregis custodiam‘ d[e] d[ato] 11. Aprilis 1827 a nobis recepit neque de die et loco electionis certiorata est …“ Knecht an Benedikt XV. vom 6. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 35r. Nach Klaus Mörsdorf hätte die badische Regierung ihr Recht der Exklusive trotz badischer beziehungsweise Weimarer Verfassung durchaus noch ausüben können: „Die badische Regierung hatte in richtiger Erkenntnis der Tragweite des Art. 137, III, S. 2 der RV und des § 18, III, S. 4 der badischen Verfassung auf die Ausübung des ihr vertraglich m. E. noch mit Recht zukommenden Ausschließungsrechts verzichtet.“ Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 143 Anm. 521. 299
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heit.“1081 Mit einem biographischen Abriss des Neugewählten, den Knecht in ähnlich leuchtenden Farben malte, schloss er seinen Bericht an den Pontifex ab. Wie auch am deutlichen Ergebnis1082 ablesbar, war der Wahlausgang keine Überraschung, galt Fritz doch als Favorit und war zuvor nicht zufällig schon zum Kapitularvikar bestimmt worden. Zudem war er offensichtlich von Nörber als Nachfolger gewünscht und durch diverse Ämter wie die des Kanzleidirektors, Wirklichen Geistlichen Rats, Domkapitulars und schließlich des Generalvikars, gezielt auf die erzbischöfliche Cathedra vorbereitet worden.1083
Informationsbeschaffung des Nuntius über Fritz Der Nuntius wurde bei der Berichterstattung nicht übergangen. Auch er erhielt unter dem Datum des 6. September das Wahlprotokoll und das Schreiben des Kapitularvikars an den Papst. Dass sie für ihn persönlich bestimmt waren und er sie nicht zur Information nach Rom übersenden brauchte, teilte ihm der Wirkliche Geistliche Rat Adolf Rösch aus dem Erzbischöflichen Ordinariat nachträglich am Folgetag mit: „Die Übersendung an E[hrwürdige] Exzellenz geschah also zur persönlichen Information und aus der dem Vertreter des h[eiligen] Vaters in Deutschland schuldigen Rücksicht und Verehrung.“1084 Ohne von Gasparri gesondert dazu aufgefordert worden zu sein, holte Pacelli umgehend Beurteilungen über Fritz ein. Jeweils am 9. September befragte er den ehemaligen Franziskanergeneral, Titularerzbischof Dionysius Schuler, der im Kloster Gorheim lebte, und den Vorsitzenden des Deutschen Caritasverbandes, Lorenz Werthmann, der Erzbischöflicher Geistlicher Rat in Freiburg war.1085 Mit letzterem war Pacelli bereits Anfang 1918 in Kontakt gekommen, als dieser für ihn einen Bericht über die Situation der italienischen Kriegsgefangenen in Rastatt angefertigt hatte.1086 1081
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„… legitima natalia, aetas etiam circa susceptam sacram ordinationem, mores optimi, pietas, animarum zelus, doctrina atque in gubernanda dioecesi, maxime his temporibus difficillimis, summa experientia ac prudentia.“ Knecht an Benedikt XV. vom 6. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 35v. Wenn man davon ausgeht, dass Fritz sich nicht selbst wählte, dann erhielt er letztlich nur von einem der übrigen Kanoniker nicht die Stimme. Vgl. Fischer, Erzbischofswahlen, S. 324; Schmider, Bischöfe, S. 128f. Rösch an Pacelli vom 7. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 25r. Pacelli bedankte sich zwei Tage darauf für die Übersendung der beiden Dokumente. Vgl. Pacelli an Rösch vom 9. September 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 29r. Vgl. Pacelli an Schuler vom 9. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 26r und Pacelli an Werthmann vom 9. September 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 27r. Damals hatte sich Pacelli zunächst an Erzbischof Nörber gewandt, der Werthmann beauftragte, für Pacelli das in der Freiburger Erzdiözese gelegene Lager zu besuchen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 21. Januar 1918, ASV, Segr. Stato, Guerra, 1914–1918, Rubr. 244, Fasz. 141, Fol. 21rv. 300
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In der Folgezeit beobachtete er dessen Wirken in der Caritas genau, sodass er ihn gegenüber Gasparri als „verdienstvollen Präsidenten“1087 bezeichnen konnte. Am 10. September schrieb Pacelli schließlich noch Pater Irenäus Schönherr OFM an, Guardian des Franziskanerkonvents ebenfalls in Freiburg.1088 Pacelli verwendete jeweils einen standardisierten Text. Er erbat sich „gewissenhafte und genaue Informationen“ über Fritz, insbesondere ob dieser „nach Ihrem Ermessen würdig und geeignet“ sei, das bischöfliche Amt zu bekleiden. Eine Rückantwort sollte möglichst in lateinischer Sprache abgefasst sein, damit er die Schriftstücke, ohne sie übersetzen zu müssen, nach Rom weiterleiten könne. Er wies die Adressaten nachdrücklich darauf hin, dass die Anfrage sub secreto Pontificio stehe. Alle Befragten antworteten innerhalb der nächsten Tage. Für Schuler erfreute sich Fritz, im mittleren Alter stehend, „bester Gesundheit“1089. Er zeichne sich durch „wahre Frömmigkeit“ aus und nach seinem Theologiestudium in Freiburg besitze er das „notwendige theologische und rechtliche Wissen“1090. Fritz seien schon seit einigen Jahren schwierige Aufgaben anvertraut worden. Schuler nannte hier dessen Amt als Kollegialmitglied im Katholischen Oberstiftungsrat in Karlsruhe, wo er für die Verwaltung sämtlicher Kirchengüter Badens zuständig gewesen sei. Anschließend habe ihn Erzbischof Nörber zum Direktor der Erzbischöflichen Kanzlei und jüngst zum Generalvikar ernannt. In der Ausübung dieser bedeutenden Aufgaben – so Schuler – habe Fritz einen glänzenden Nachweis „seiner außerordentlichen Gewandtheit, Energie und Klugheit gegeben und sich äußerst versiert in den weltlichen, wirtschaftlichen und geistlichen Angelegenheiten gezeigt“1091. Bei der Majorität des Klerus und der Gläubigen sei er sehr beliebt. Schuler beschloss sein Plädoyer mit der Demutswendung, dass es nur seine persönliche Überzeugung sei, die er hier darlege, und nur insoweit es die „fragilitas humana“ in der Erkenntnisfähigkeit zulasse, könne er sagen, dass Fritz für das Amt des Erzbischofs eine „sehr würdige und ausgezeichnete Person“1092 sei.
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„… benemerito Presidente …“ Pacelli an Gasparri vom 16. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 39rv, hier 39v. Vgl. Pacelli an Schönherr vom 10. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 28r. „… ottimo salute.“ Schuler an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 40r–41r, hier 40r. „… vera pietà … la necessaria scienza theologica e giuridica …“ Schuler an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 40r. „… sua straordinaria destrezza, energia, prudenza e si è fatto versatissimo negli affari temporali, economici e spirituali.“ Schuler an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 40v. Hervorhebungen im Original. „… persona degnissima ed ottissima …“ Schuler an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, 1920, Fasz. 894, Fol. 41r. 301
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Das Schreiben von Werthmann, das auf den 11. September datiert, liest sich wie eine Laudatio auf Fritz, die er – wie Werthmann selbstbewusst bekräftigte – „vor Gott eidlich bestätigen“1093 würde. Die physische Verfassung des bisherigen Generalvikars sei ausgezeichnet, aber „wahrlich noch größer sind seine geistigen Gaben!“1094 Integrität und Frömmigkeit würden bei ihm mit gediegenem theologischen Wissen zusammenfallen. Für mehrere Jahre habe sich Fritz in der ländlichen und städtischen Pastoral erprobt sowie in der kirchlichen Verwaltung ausgezeichnet. Sicher hörte der Nuntius gern von Fritzʼ „Tapferkeit in der Verteidigung der Rechte der Kirche“ und seiner „Anhänglichkeit an den Apostolischen Stuhl“1095, die Werthmann ihm zuschrieb. Darüber hinaus hob der Caritasvorsitzende genauso wie Schuler dessen langjähriges Verwaltungsamt der Kirchengüter Badens hervor. Überhaupt habe Fritz stets alle Aufgaben zu einem glücklichen Ende geführt und stets zur Zufriedenheit des verstorbenen Erzbischofs absolviert. Ebenso wie dieser hätten auch die übrigen deutschen Bischöfe von Fritz, die ihn als Abgesandten auf der Fuldaer Bischofskonferenz kennengelernt hätten, einen guten Eindruck gehabt. Der Diözesanklerus schätze besonders seine Verdienste um die Erzdiözese und seine Leitungsfähigkeit. Seine Reden über den Nutzen des Caritaswerkes für die salus animarum würden in Erinnerung bleiben. Deshalb war Werthmanns abschließendes Votum eindeutig: „Daher bin ich innerlich überzeugt, dass die Gedanken der Wähler in ihrer Wahl vom Heiligen Geist gelenkt wurden.“1096 Der Guardian der Freiburger Franziskaner antwortete auf die Anfrage Pacellis am 14. September.1097 Seine Bewertung des Gewählten stimmte mit jener der beiden Erstbefragten überein: „Der Gewählte ist beim gesamten Klerus wie bei den Laien so hoch verehrt, weil für alle feststeht, dass er wahrlich ein Priester ist, der den priesterlichen Pflichten äußerst demütig und gewissenhaft nachkommt.“1098 Die Schwierigkeiten der Amtsführung habe er mit Bravour überwunden und gerade die jüngeren Priester in den Problemen, die ihnen ihre pastoralen Aufgaben stellten, stets 1093
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„… coram Deo jurejurando … confirmare …“ Werthmann an Pacelli vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 42r–43v, hier 42r. „Multo vero majora eius dona spiritualia!“ Werthmann an Pacelli vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 42r-v. „… fortitudo in defendendis juribus ecclesiae … in Apostolicam Sedem devotio.“ Werthmann an Pacelli vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 42v. „Proinde interne mihi persuasum est, animos Votantium in eius electione a Spiritu sancto directos fuisse.“ Werthmann an Pacelli vom 11. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 43v. Vgl. Schönherr an Pacelli vom 14. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 44rv. „Electus apud omnes tam clericos quam laicos magna veneratione colitur, quia inter omnes constat eum esse vere sacerdotem, qui officiis sacerdotalibus devotissime et diligentissime fungitur.“ Schönherr an Pacelli vom 14. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 44r. 302
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unterstützt. Daher glaubte Schönherr den gesamten Sprengel hinter sich, wenn er prognostizierte, dass Fritz, „ein Mann wahrhaft vorzüglicher Strenge der Sitten und Redlichkeit des Lebens, auch in Zukunft die ganze Erzdiözese im Geist der Unterwürfigkeit gegen den Heiligen Stuhl und im Geist der Klugheit und Tapferkeit lenken wird“1099.
Die päpstliche Approbation des neuen Erzbischofs Angesichts dieser einmütigen Aussprache für Fritz als Nachfolger von Nörber auf dem erzbischöflichen Stuhl von Freiburg fiel auch Pacellis Meinung eindeutig aus. In seinem Bericht für Gasparri vom 16. September gestand er mit Rekurs auf die drei Gutachten, die er für den Staatssekretär beifügte, dass, seiner „untergeordneten Meinung nach, nichts einer Genehmigung der erbetenen Bestätigung entgegenzustehen scheint“1100. Pacelli war es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Wahl völlig frei und ohne jeden staatlichen Einfluss vonstatten gegangen war. Noch bevor sein Bericht in Rom eintraf, ließ das Staatssekretariat den gewählten Kandidaten vom Heiligen Offizium überprüfen.1101 Am 21. September antwortete der Commissarius der Suprema Congregatio, Pater Lottini, dass keine negativen Einträge über Fritz in den Akten der Kongregation vorhanden seien.1102 Im Anschluss daran gab Benedikt XV. schließlich sein Plazet, wie Gasparri dem Münchener Nuntius am 23. September mitteilte.1103 Interessant ist, dass die von Pacelli beschafften Gutachten über Fritz zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Rom eingetroffen waren und der Papst die Wahl schlicht ohne dieses Entscheidungsfundament approbierte.1104 Deshalb beauftragte Gasparri den Nuntius zu diesem Zeitpunkt noch damit, Informationen einzuholen. Sollten diese positiv ausfallen, könne Pacelli dem Metropolitankapitel die päpstliche Bestätigung kommunizieren. Der Kardinalstaatssekretär wies Pacelli 1099
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„… vir vere excellens gravitate morum et vitae probitate, etiam in futurum totam archidioecesim in spiritu devotionis erga Sanctam Sedem et in spiritu prudentiae et fortitudinis sit gubernaturus.“ Schönherr an Pacelli vom 14. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 44v. „… subordinato parere, nulla sembra ostare alla concessione della implorata conferma.“ Pacelli an Gasparri vom 16. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 39rv, hier 39v. Vgl. Notiz der Anfrage beim SO vom 16. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 46r. Vgl. Lottini an Pizzardo vom 21. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 45r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 23. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 31r. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich die Frage von Christoph Schmider: „Waren diese drei Herren am Ende gar die eigentlichen ‚Bischofsmacherʻ?“ Schmider, Bischöfe, S. 130. 303
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darüber hinaus an, in diesem Fall den vorgesehenen Informativprozess entweder selbst durchzuführen oder, angesichts der schwierigen Reisesituation in Deutschland, die Durchführung des Prozesses zu subdelegieren. Letztere Möglichkeit setzte der Nuntius in die Tat um und rechtfertigte sie vor Gasparri damit, dass er selbst bereits Informationen über Fritz eingeholt habe.1105 Für diese Aufgabe wählte er sich Weihbischof Knecht aus, den er am 24. September zunächst darum bat, den Domkapitularen mitzuteilen, dass der Heilige Vater Fritz als neuen Erzbischof von Freiburg bestätigt habe.1106 Sodann wies er auf die hohen Kosten einer Reise nach Freiburg hin, die es nahelegen würden, dass Knecht an seiner statt den kanonischen Informativprozess vornehme. Zu diesem Zweck übersandte er ihm die notwendigen Formularien sowie den Entwurf des Prozesses, der beim frischernannten Bischof Klein in Paderborn Anwendung gefunden hatte.1107 Da Benedikt XV. die Wahl bereits bestätigt hatte und der Heilige Stuhl schon mit Informationen über Fritz versorgt war, war der Informativprozess nicht mehr als Makulatur. Knecht nahm den Auftrag des Nuntius dankend an und führte ihn umgehend aus.1108 Als Prozesszeugen zog er die Domkapitulare August Brettle und Franz Xaver Mutz hinzu, „zwei treu kirchlich gesinnte und in der kirchlichen Verwaltung erfahrene Männer“1109. Die entsprechenden Unterlagen sandte Knecht zusammen mit dem Paderborner Prozessentwurf am 29. September an Pacelli.1110 Dabei bat er den Nuntius, er möge in Rom eine beschleunigte Ausstellung der Ernennungsbullen erwirken. Da die Bischofsweihe nur an einem Sonntag oder einem Apostelfest gespendet werden dürfe, sonntags die Majorität der Priester aber verhindert sei, käme als Weihetag nur das Fest der Apostel Simon und Judas am 28. Oktober infrage.1111 Würde dieser Termin verpasst – so Knecht – stünde das Erzbischöfliche Palais noch eine ganze Zeit länger leer und das könne „bei der großen Wohnungsnot in hiesiger Stadt die Begehrlichkeit der hier sehr zahlreichen ganz links stehenden Sozialdemokraten und Kommunisten in bedenklicher Weise wecken“1112.
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 25. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 49r. Vgl. Pacelli an Knecht vom 24. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 32r. Vgl. zum Paderborner Informativprozess von 1920 Bd. 1, Kap. II.1.2 (Die päpstliche Bestätigung Kleins und der Informativprozess). Vgl. Knecht an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 37rv. Knecht an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 37r. Die Genannten besetzten in der Rangfolge des Dienstalters die Plätze zwei und drei. Der Senior des Kapitels, der die Zeugenaufgabe übernehmen sollte, war aus gesundheitlichen Gründen verhindert. Vgl. Informativprozessakten vom 29. September 1920, ANB 21, Fasz. 4, Fol. 23r–43r. Vgl. zum Weihetermin Can. 1006 § 1 CIC 1917. Knecht an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 37v. 304
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Ernennungsbullen, Bischofsweihe und Inthronisation Nachdem Fritz von seiner Approbation erfahren und den Informativprozess geleistet hatte,1113 erbat er vom Papst die ihm zustehende Verleihung der Erzdiözese Freiburg.1114 Mit dieser Supplik verband er eine weitere: Fritz wünschte sich, dass er vom Rottenburger Bischof, Paul Wilhelm von Keppler, dem dienstältesten Diözesanbischof der Oberrheinischen Kirchenprovinz, zum Bischof konsekriert werde. Ersatzweise möge der sich am zweitlängsten im Dienst befindliche Bischof von Fulda, Joseph Damian Schmitt, die Weihe spenden. Das Gesuch schickte Fritz mit der Bitte um Weiterleitung am 29. September an Pacelli, für den er seinen Inhalt noch einmal kurz zusammenfasste.1115 Der Nuntius übersandte am 2. Oktober die Unterlagen des Informativprozesses und das von Fritz an Benedikt XV. adressierte Schreiben an den Kardinalstaatssekretär.1116 Dabei trug er das „lebendige Verlangen des Metropolitankapitels“1117, dass die Ernennungsbullen zügig angefertigt werden mögen, damit die Bischofsweihe schon am 28. des Monats stattfinden könne, noch einmal gesondert vor. Da die rechtlichen Grundlagen für die Besetzung des Freiburger Erzbistums nun erfüllt waren und nur noch die formelle Ausstellung der besagten Bullen sowie die Bischofsweihe fehlten, konnte Pacelli dem Gewählten bereits zu seinem Hirtenamte gratulieren und ihm seine Segenswünschen entbieten: „Die Erbarmung Gottes möge Ihre verantwortungsvolle Amtsführung zum Ruhme der h[eiligen] Kirche und zum Wohl der Gläubigen reichlich segnen ad multos annos!“1118 Vier Tage später bedankte sich Fritz bei ihm für die guten Wünsche und versicherte: „Mein Streben und meine Freude wird es sein, das bischöfliche Amt in der großen Erzdiözese Freiburg in treuester Anhänglichkeit an den H[eiligen] Stuhl und mit unverbrüchlichem Gehorsam gegen den Statthalter Christi unter Aufbietung allʼ meiner Kraft zu Gottes Ehre
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Als Taxe für den kanonischen Prozess überwies die Freiburger Kollektur den Betrag von 2.400 Mark an die Münchener Nuntiatur und bezahlte somit 400 Mark mehr als vorgesehen war. Vgl. Fritz an Pacelli vom 30. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 38r. Am 6. Oktober traf das Geld in der Nuntiatur ein. Vgl. Pacelli an das Freiburger Ordinariat vom 6. Oktober 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 43r und der dazugehörige Scheckbeleg, ebd., Fol. 42rv. Vgl. Fritz an Bendikt XV. vom 29. September 1920 (Abschrift), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 36r. Vgl. Fritz an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 35r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 2. Oktober 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 50rv. „… vivissimo desiderio del Capitolo Metropolitano …“ Pacelli an Gasparri vom 2. Oktober 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 50r. Pacelli an Fritz vom 2. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 40r. Darin bestätigte er Fritz auch, dessen Bittschreiben nach Rom weitergeleitet zu haben. 305
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zu verwalten und die Diözesanen in der Liebe und Verehrung zum H[eiligen] Vater zu befestigen.“1119
Darüber hinaus informierte Pacelli Weihbischof Knecht, der Bitte entsprochen zu haben, in Rom das in Aussicht genommene Weihedatum zu unterstützen.1120 Zudem gab der Nuntius bei dieser Gelegenheit den Hinweis, dass es hinsichtlich der Ernennungsbullen doch auch opportun wäre, „wenn das Erzbischöfliche Ordinariat seinen Agenten in Rom, der an Ort und Stelle ist, beauftragt, der Sache eifrig nachzugehen und so die Erledigung zu beschleunigen“1121. Das von Knecht gezeichnete Szenario, die Kommunisten könnten sich am kirchlichen Eigentum vergreifen, wollte Pacelli also auf keinen Fall Realität werden lassen. Wenn er sich davor nicht tatsächlich gefürchtet hätte, hätte er wohl kaum empfohlen, an ihm, dem päpstlichen Stellvertreter, vorbei, in Rom ein weiteres Mal vorstellig zu werden.1122 Doch war Pacellis Vorschlag gar nicht notwendig, denn der Kardinalstaatssekretär kümmerte sich ohnehin schon um eine baldige Abfassung der Ernennungsbullen. Am 7. Oktober gab er De Lai, dem Sekretär der Konsistorialkongregation, die formal die Bischofseinsetzungen abwickelte, bekannt, dass der Papst die „schleunige“1123 – wie er ausdrücklich betonte – Ausfertigung der Bullen angeordnet habe. Gasparri hatte Benedikt XV. also über den aktuellen Stand der Freiburger Bistumsbesetzung ins Bild gesetzt. Wie er Pacelli mitteilte, habe er die Dokumente des kanonischen Prozesses mitsamt der Bittschrift des neuen Erzbischofs pflichtgemäß an die Konsistorialkongregation weitergeleitet.1124 Bereits am 19. Oktober benachrichtigte er den Nuntius, dass die Bullen fertig seien.1125 Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie auch rechtzeitig in Freiburg eintreffen würden. Daher erlaube der Papst – so Gasparri –, dass die Weihezeremonie gegebenenfalls auch am 28. stattfinden könne, wenn die Schriftstücke noch nicht
Fritz an Pacelli vom 6. Oktober 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 44r. Vgl. Pacelli an Knecht vom 2. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 41r. Pacelli versicherte dem Weihbischof auch, die Informativprozessakten an das Staatssekretariat weitergereicht zu haben. 1121 Pacelli an Knecht vom 2. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 41r. 1122 Womöglich spielte hier die Erfahrung eine Rolle, die Pacellis selbst eineinhalb Jahre zuvor machen musste, als im Kontext der bayerischen Revolution kommunistische Schergen in das Münchener Nuntiaturgebäude eindrangen und sein Leben bedrohten. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 Anm. 21. 1123 „… sollecitamente …“ Gasparri an De Lai vom 7. Oktober 1920 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 51rv, hier 51r. Hervorhebung im Original. 1124 Vgl. Gasparri an Pacelli vom 8. Oktober 1920, ASV, ANM 375, Fasz. 1, Fol. 104rv. 1125 Vgl. Gasparri an Pacelli vom 19. Oktober 1920, ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 45r. Als Gebühr ver anschlagte die Konsistorialkongregation einen Betrag von 6.170 Mark. Am 9. Dezember bestätigte Pacelli der Erzbischöflichen Kollektur Freiburg, dass der Geldbetrag in der Apostolischen Nuntiatur angekommen sei und nunmehr an die Konsistorialkongregation überwiesen werde. Vgl. Pacelli an die Kollektur vom 9. Dezember 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 47r sowie den dazugehörigen Scheckbeleg, ebd., Fol. 46r. 1119 1120
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vorliegen sollten. Pacelli gab die in Freiburg sehnlichst erwarteten Informationen umgehend an Fritz weiter.1126 Daraufhin ließ das Metropolitankapitel im Anzeigeblatt der Erzdiözese feierlich die päpstliche Bestätigung der Wahl von Fritz zum Erzbischof verlauten und machte den Termin der Konsekration und Inthronisation öffentlich bekannt.1127 Am 24. Oktober legte Fritz dem versammelten Domkapitel die Ernennungsdokumente vor und übernahm mit diesem Akt die Verwaltung der Erzdiözese.1128 Sie datierten auf den 12. Oktober.1129 Aufgrund des zügigen Zusammenspiels von Nuntius und Staatssekretär konnte die Bischofsweihe wie gewünscht am 28. Oktober im Freiburger Münster stattfinden. Ganz in seinem Sinne wurde Fritz vom Rottenburger Bischof Keppler unter der Assistenz von Knecht und dem Fuldaer Bischof Schmitt konsekriert.1130 Nach nur drei Monaten hatte die Erzdiözese wieder einen Oberhirten.
Zum Abschluss: zwei Fragen der Forschung Die bisherige Forschung hat dem Heiligen Stuhl unterstellt, bei der Freiburger Erzbischofswahl nur eingeschränkt mit dem Domkapitel kooperiert und eher hemmend gewirkt zu haben, wie zum Beispiel die Bewertung des Besetzungsfalls durch Christoph Schmider belegt: „Um dem Papst zuvorzukommen, und um zugleich sein hergebrachtes Recht zu sichern und Pflöcke für die irgendwann zu erwartenden Konkordatsverhandlungen einzuschlagen, beeilte sich das Domkapitel, nicht nur schnell zu wählen, sondern auch das Wahlergebnis sofort und möglichst weiträumig bekannt zu machen. Dem Heiligen Stuhl hingegen passte diese Eile überhaupt nicht, und er bemühte sich nach Kräften, zu bremsen. Nicht, dass man in Rom etwas gegen die Person des Erwählten einzuwenden gehabt hätte, aber man wollte sich natürlich nicht so ohne Weiteres vom Freiburger Domkapitel ausbremsen lassen.“1131
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Vgl. Pacelli an Fritz ohne Datum (Entwurf unter Gasparris Telegramm vom 19. des Monats), ASV, ANB 47, Fasz. 1, Fol. 45r. Vgl. „Die Konsekration und Inthronisation des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs“ vom 20. Oktober 1920, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 20 vom 21. Oktober 1920. Vgl. „Die Konsekration des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs und die Übernahme der Verwaltung der Erzdiözese durch denselben“ vom 28. Oktober 1920, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 21 vom 28. Oktober 1920. Vgl. Ernennungsbulle Fritzʼ vom 12. Oktober 1920, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 21 vom 28. Oktober 1920. Vgl. „Die Konsekration des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs und die Übernahme der Verwaltung der Erzdiözese durch denselben“ vom 28. Oktober 1920, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 21 vom 28. Oktober 1920. Schmider, Frei gewählt. Vgl. auch Ders., Bischöfe, S. 129. 307
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Die vatikanischen Quellen erlauben, dieses Urteil zu korrigieren: Nicht nur, dass die Domherren erst wählten, nachdem sie die päpstliche Genehmigung dazu hatten – und dem Papst nicht etwa „zuvorkamen“. Auch wurde gezeigt, dass die Wahlgenehmigung keineswegs widerwillig erfolgte, sondern dem diplomatisch-kirchenpolitischen Konzept des Nuntius entsprang. Gerade das forcierte Bemühen seitens Pacelli und Gasparri um eine zeitnahe Ausstellung der Ernennungsbullen verdeutlicht, dass von einer Verzögerungstaktik des Heiligen Stuhls keine Rede sein kann. Eine römische Verzögerung, die Erzbischofswahl zu bestätigen, nimmt auch Hans-Peter Fischer an.1132 Aber angesichts der Tatsache, dass nach der Wahl am 6. September 1. Pacelli die drei Exposés über Fritz organisierte, 2. das Staatssekretariat die Orthodoxie des Gewählten beim Heiligen Offizium überprüfen ließ, 3. der Informativprozess abgewickelt wurde und 4. die Bullen von der Apostolischen Kanzlei über die Vermittlung der Konsistorialkongregation, also wiederum einer anderen Instanz, ausgestellt wurden und das alles bis zum 12. Oktober (man bedenke auch die Dauer der Korrespondenzwege), erscheint der erhobene Vorwurf als grundlos. Im Gegenteil konnte auf die innerkuriale Anweisung der „beschleunigten“ Abfassung der Bullen hingewiesen werden. Für einige Brisanz hat schließlich die römische Ernennungsbulle gesorgt. Schon Klaus Mörsdorf wies mit Recht darauf hin, dass darin nicht von einer päpstlichen Bestätigung einer vorausgegangenen Wahl die Rede war.1133 Vielmehr hieß es: „Wir haben heute für Eure Metropolitankirche zu Freiburg, die gegenwärtig ihres Oberhirten beraubt ist, unsern geliebten Sohn Karl Fritz, Domherrn derselben Metropolitankirche, Doktor der h[eiligen] Theologie, auf den Rat unserer ehrwürdigen Brüder der Kardinäle der H[eiligen] R[ömischen] K[irche] kraft apostolischer Vollgewalt auserwählt und ihn über dieselbe zum Erzbischof und Hirten bestellt.“1134
Auch Christoph Schmider analysiert, dass der Pontifex „in seiner offiziellen Urkunde nicht etwa davon [sprach], dass er die Wahl des Freiburger Domkapitels bestätige – Domkapitel und Wahl kommen überhaupt nicht vor –, sondern dass er Karl Fritz als neuen Freiburger Erzbischof ausgesucht habe“1135. Und er fährt fort: „Vom Ergebnis her machte es keinen Unterschied, juristisch aber war es dem Vatikan wichtig, das Recht des Papstes auf die Ernennung des Bischofs bekräftigt 1132 1133
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Vgl. Fischer, Erzbischofswahlen, S. 324. Vgl. Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 143f. Vgl. auch Fischer, Erzbischofswahlen, S. 324; Föhr, Geschichte, S. 8; Grüninger, Besetzungsrecht, S. 459f.; Plück, Konkordat, S. 25f. „Hodie Nos ad Metropolitanam Ecclesiam Vestram Friburgensem, in praesens pastore destitutam, dilectum filium Carolum Fritz, Canonicum eiusdem Metropolitanae Ecclesiae, Doctorem in S. Theologia de venerabilium Fratrum Nostrorum S. R. E. Cardinalium consilio Apostolica auctoritate elegimus ipsumque illi in Archiepiscopum praefecimus et pastorem.“ Ernennungsbulle Fritzʼ vom 12. Oktober 1920, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 21 vom 28. Oktober 1920. Hervorhebungen R.H. Schmider, Bischöfe, S. 130. 308
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und nicht etwa das Wahlrecht des Domkapitels festgeschrieben zu haben.“1136 Diese Beobachtungen sind sicher nicht von der Hand zu weisen. Dass man auf die Nennung der Bischofswahl verzichtete, um keine dahingehende Präzedenz zu schaffen, erscheint freilich unwahrscheinlich, insofern die einmalige Wahlerlaubnis, die Pacelli an das Domkapitel und den Gesandten Zech verschickte, eine ausdrückliche Präzedenzklausel enthielt und dieser Sachverhalt damit klargestellt war. Darüber hinaus weisen die vatikanischen Quellen keinerlei Spuren auf, dass man bei der fraglichen Formulierung in der Ernennungsbulle in irgendeiner Weise beabsichtigte, das Wahlrecht auszuhebeln und formal-juristisch eine päpstliche Nomination zu vollziehen. Im Gegenteil: Es wurde deutlich, dass Pacelli im Anschluss an die Voten über Fritz gegenüber Gasparri bemerkte, dass seiner Ansicht nach „nichts einer Genehmigung der erbetenen Bestätigung [sc. der Wahl!, R.H.]“1137 entgegenstand. In ähnlicher Form erteilte Gasparri seine Anweisungen an die Konsistorialkongregation: Er – so Gasparri – teile mit, dass „der Papst sich wohlwollend entschlossen hat, die genannte Wahl [sc. des Freiburger Metropolitankapitels, R.H.] zu bestätigen“1138. Dass sich davon nichts in der Bulle findet, hat seine Ursache also in der lediglich ausführenden Konsistorialkongregation, die ihrerseits die Apostolische Kanzlei beauftragte. Vermutlich war die dort abschließend gewählte Formulierung kein absichtlicher Ausschluss der vorangegangenen Kapitelswahl, sondern eher ein Versehen, das anscheinend da herrührte, dass die Mitarbeiter der Kongregation über die kirchenrechtlichen Grundlagen in Deutschland nur unzureichend im Bilde waren. Jedenfalls sollte die fragliche Formulierung in der Bulle bei der Nachfolgebesetzung des Erzbistums im Jahr 1932 noch eine Rolle spielen.
Ergebnis 1. Eine Wunschkandidatur für die Nachfolge Nörbers auf dem Freiburger Erzbischofsstuhl verfolgte Pacelli nicht. Auch machte er gegen den schließlich gewählten Fritz keine Einwände geltend, nachdem er den Qualitätenkatalog der eingeholten Gutachten vor Augen hatte. Dem Faktum schließlich, dass er aus eigener Kenntnis nichts über die Charaktereigenschaften des electus
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Schmider, Bischöfe, S. 130. Das Metropolitankapitel sprach in seinen Verlautbarungen zur Einsetzung Fritzʼ logischerweise dennoch davon, dass der Heilige Stuhl die Wahl bestätigt habe. Vgl.: „… nulla sembra ostare alla concessione della implorata conferma.“ Pacelli an Gasparri vom 16. September 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 39v. Hervorhebung R.H. „… il Santo Padre si è benignamente degnato di confermare lʼanzidetta elezione …“ Gasparri an De Lai vom 7. Oktober 1920 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1708, Fasz. 894, Fol. 51r. Hervorhebungen R.H. 309
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beizutragen wusste, entspricht, dass sich ein früherer Kontakt zwischen den beiden auf Basis der Nuntiaturberichterstattung nicht nachweisen lässt.1139 2. Die prinzipiellen Argumente Nörbers für die Erhaltung des Kapitelswahlrechts – nämlich die Anhänglichkeit von Klerus und Volk an diesen alten Brauch, der darüber hinaus dem Wohl der Kirche durchaus genüge –, kommentierte Pacelli nicht. Dass er sich jedoch durchaus vorstellen konnte, das Wahlrecht dauerhaft beizubehalten, zeigt seine Einschätzung, man könne in den Reichskonkordatsverhandlungen die Diskussion über dieses Thema nicht a priori ausschließen. Damit war für ihn einerseits das Ideal der päpstlichen Nomination gemäß Can. 329 § 2 CIC 1917 nicht unumstößlich und andererseits das – auch dauerhafte – Wahlrecht der Domkapitel nicht das größtmögliche Übel. Allerdings dachte er hier nicht in erster Linie daran, Klerus und Volk einen Gefallen zu tun, sondern bettete die Frage in den staatskirchenrechtlichen Kontext ein. Denn wohlwissend um das Ziel des Deutschen Reichs, dass die Bischöfe nicht von einer auswärtigen Macht, sondern von einem aus deutschen Staatsbürgern bestehenden Gremium berufen wurden, votierte er dafür, das Bischofswahlrecht in einem zukünftigen Reichskonkordat als Tauschmasse gegen Zugeständnisse einzusetzen, sicherlich auf Feldern wie Religionsunterricht, Priesterseminaren, Fakultäten oder Staatsleistungen. Auch das Problem, auf welche Weise die aktuelle Freiburger Sedisvakanz erledigt werden sollte, behandelte Pacelli im Hinblick auf ein Konkordat. 3. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass Pacelli die staatliche Seite in seine Überlegungen mit einbezog, denn die badische Regierung versagte sich selbst freiwillig jeden Einfluss auf die Wiederbesetzung des vakanten Erzbischofsstuhls. Damit zog sie bereits im ersten badischen Besetzungsfall nach den politischen Umwälzungen die letzte Konsequenz aus den Verfassungen Badens und Weimars, die beide die kirchliche Autonomie der Ämterbesetzung propagierten.1140 Deshalb brauchte der Nuntius im unmittelbaren Umfeld der Wiederbesetzung die Frage, ob die staatlichen Privilegien in der alten Zirkumskriptionsbulle Ad dominici gregis angesichts der neuen politischen Situation noch Geltung beanspruchen konnten, gar nicht zu diskutieren. Hätte die Regierung auf ihren dort verbrieften Einflussrechten insistiert, wäre diese grundsätzliche Frage unumgänglich gewesen. Da sie sich also jeder Einmischung enthielt, stellt Christoph Schmider die Frage, warum der Heilige Stuhl dem Metropolitankapitel nicht das Wahlrecht entzog: „Dem Kirchenrecht zufolge,
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Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Eine Diskussion wie etwa in Preußen, ob die Kirchenartikel der WRV noch durch die Ländergesetzgebung umgesetzt werden mussten, konnte in Baden nicht stattfinden, weil die badische Verfassung die kirchlichen Freiheiten der Reichsverfassung bereits antizipiert hatte. Vgl. auch Grossmann, Besetzung, S. 405f. 310
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im Codex Iuris Canonici (CIC) von 1917 gerade erst neu gefasst, hätte nun der Papst den neuen Erzbischof ohne Beteiligung des Domkapitels ernennen können – der Staat, dessen waren sich alle einig, hatte nichts mitzureden.“1141 Wie die vatikanischen Quellen zeigen, dachte Pacelli gar nicht daran. Zum einen hätte ein solches Vorgehen gewiss doch noch die Regierung auf den Plan gerufen1142 und – wie Nörber vor seinem Tod prognostizierte – die staatlichen Leistungen an die Kirche gefährden können. Auch wenn Pacelli sich hier zu dieser Gefahr nicht äußerte, stand ihm doch deutlich vor Augen, dass eine päpstliche Nomination nach Ansicht der Regierung die Fortgeltung der Zirkumskriptionsbulle von römischer Seite in Zweifel gezogen hätte.1143 Zum anderen ordnete Pacelli den Fall in eine von Freiburg über Baden bis nach Berlin geweitete konkordatspolitische Perspektive ein. Um eine vorteilhafte Atmosphäre für die Verhandlungen mit dem Reich zu schaffen, deklarierte er es als „klug, dass die Situation in der Zwischenzeit nicht auf irgendeine Weise kompromittiert oder gestört wird“. Eine päpstliche Nomination hätte seiner Ansicht nach genau dazu geführt, da diese signalisiert hätte, wie leicht der Heilige Stuhl bereit war, sich über vertragliche Abmachungen, deren Status keinesfalls eindeutig geklärt war, hinwegzusetzen.1144 Deshalb optierte er für ein einmaliges, präzedenzloses Wahlprivileg für das Freiburger Domkapitel und trug damit die Verantwortung dafür, dass der Heilige Stuhl dieses ohne jede Kontroverse konzedierte. Ausdrücklich zog der Nuntius eine direkte Linie vom Kölner über den Paderborner bis zum Freiburger Fall, in deren Licht letztgenannter damit zu sehen ist. So profitierten die Domherren von Pacellis gesamtdeutscher Perspektive und davon, dass ihm auch nur die Hoffnung auf leichte Vorteile in den Konkordatsverhandlungen wichtiger war, als der konkrete Freiburger Besetzungsfall. Deshalb war die Wahl nicht nur frei von staatlicher, sondern auch von römischer Beein-
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Schmider, Bischöfe, S. 129. So vertritt Josef Großmann die Auffassung, dass durch § 18 der badischen Verfassung, „nur das aktive Mitwirkungsrecht bei der Besetzung kirchlicher Ämter entfiel. Alle übrigen Rechte und Ansprüche des Staates blieben jedoch im vollen Umfang weiter bestehen. So z. B. sein Anspruch, dass das Domkapitel, also eine ‚einheimische‘ Körperschaft, wähle …, dass nur ein Diözesangeistlicher zu dem betreffenden Amt gelangt und vor allem, dass keine persona minus grata gewählt werde. Das Verfahren als solches durfte also nicht geändert werden, es fiel nur die Listeneinreichung an die Regierung und deren Veto fort.“ Grossmann, Besetzung, S. 413. Hervorhebung im Original. Die Aufhebung des Kapitelswahlrechts wäre dieser Ansicht nach also widerrechtlich gewesen. Vgl. seine umfassenden Warnungen im parallel verlaufenden Kölner Besetzungsfall, Bd. 1, Kap. II.1.1 (Ergebnis Nr. 3). Denkbar ist sogar, dass Pacelli trotz badischer Verfassung auch eine staatliche Mitwirkung in der bislang üblichen Form zugelassen hätte, um keine Spannungen zur badischen beziehungsweise Reichsregierung zu erzeugen. Dies bleibt zwar Spekulation, entbehrt aber angesichts seiner Politik in den Fällen von Köln oder Paderborn nicht der Wahrscheinlichkeit. 311
II.3.1 Freiburg 1920
flussung.1145 Deutlicher konnte Pacelli seine Prioritäten schließlich nicht offenbaren, als er die römische Wahlerlaubnis zunächst dem preußischen Gesandten in Bayern kommunizierte, der mit einer badischen Bischofseinsetzung formal-rechtlich überhaupt nichts zu schaffen hatte, und erst anschließend das Metropolitankapitel informierte. 4. Für die staatskirchenrechtliche Bewertung des Besetzungsfalls griff Pacelli auf die Darlegungen über das Verhältnis von Kirche und Staat in Baden zurück, die er kurz zuvor bei Erzbischof Nörber, der höchsten geistlichen Autorität in Baden, eingeholt hatte. Weitere Informanten zu diesen prinzipiellen Fragen konsultierte Pacelli nicht. Über die Person des electus befragte er den ehemaligen Franziskanergeneral Erzbischof Schuler, der im zur Erzdiözese gehörenden Kloster Gorheim seinen Lebensabend verbrachte, den Gründer und in Freiburg residierenden Vorsitzenden des Deutschen Caritasverbands, Werthmann, sowie schließlich den Pater Guardian der erst Ende 1918 errichteten „bescheidenen Niederlassung der Franziskaner in Freiburg“1146, Schönherr. Alle drei lebten in der Freiburger Erzdiözese, waren bedeutende Geistliche, gehörten jedoch nicht zur unmittelbaren Bistumsleitung. Schuler hatte für Nörber häufiger Pontifikalhandlungen in der Erzdiözese vollzogen, war mit den Verhältnissen also vertraut und mit der hohen Geistlichkeit bekannt.1147 Diese Kenntnisse wollte sich der Nuntius nicht versagen. Wie bereits beschrieben war Pacelli Werthmann bereits begegnet und schätzte ihn. Da der Caritasdirektor vor Ort in Freiburg residierte, war von ihm ein qualifiziertes Urteil über den Domkapitular und Generalvikar zu erwarten. Gleiches galt für Schönherr, bei dem nicht klar ist, ob Pacelli ihn persönlich kannte oder vielmehr dessen aszetisch-spirituell-geistliche Perspektive, die man von einem Franziskanerguardian erwarten würde, im Vordergrund stand.1148
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So notierte sich Erzbischof Schuler im August 1920, also noch vor der Wahl, dass diese, sollte sie zustande kommen, die erste und letzte freie Bischofswahl in Freiburg sei. Er ging davon aus, dass Pacelli letztendlich die päpstliche Ernennung der Erzbischöfe durchsetzen wollte. Vgl. Fischer, Erzbischofswahlen, S. 321 Anm. 5. Burger (Hg.), Erzbistum, S. 131. Vgl. Haselbeck, Schuler, S. 195. Vor diesem Besetzungsfall fand Schönherr keine Erwähnung in Pacellis Berichterstattung. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Was das Spektrum der Orden in der Erzdiözese anbelangt, ist zu berücksichtigen, dass sich dieses nach dem Kulturkampf und der neuen freiheitlichen Verfassung erst langsam zu erholen begann und Pacelli daher unter den Religiosen nur eine begrenzte Zahl von potentiellen Informanten zur Verfügung stand. Er hätte sich aber zum Beispiel auch an die im Erzbistum gelegene Benediktinerabtei Beuron, die Birnauer Zisterzienser oder vereinzelte Kapuzinerniederlassungen wenden können. Zu denken wäre hier beispielsweise an die Kapuziner in Waghäusel, die Pacelli für die Besetzung des Mainzer Bischofsstuhls im selben Jahr konsultierte. Die Kapuziner waren allerdings erst am 16. Juni 1920, also wenige Wochen bevor Pacelli seine Informanten über Fritz befragte, in ihr 312
II.3.2 Mainz 1920/21 II.3.2 Mainz 1920/21
5. Umgehend nach dem Tod Nörbers unterrichtete Pacelli seinen römischen Vorgesetzten umfassend über die Lage der Kirche in Baden und präsentierte sofort ein fertiges Prozedere, wie man die Sedisvakanz erledigen müsse. Papst und Staatssekretär ließen dem Nuntius ohne Einschränkung völlig freie Hand. Überzeugungsarbeit brauchte Pacelli nicht zu leisten, weil er sein leitendes konkordatspolitisches Konzept in Rom im Kontext des Kölner Besetzungsfalls wenige Monate zuvor bereits durchgesetzt hatte. Als ihn Gasparri schließlich anwies, Informationen über Fritz einzuholen, hatte Pacelli diese Aufgabe schon längst erledigt. Bemerkenswert ist, dass weder Papst noch Staatssekretär sich für diese Voten näher interessierten, insofern sie die Entscheidung letztlich dem Nuntius überließen, ob dieselben die Bestätigung der Wahl rechtfertigten oder nicht. Ohne dies überstrapazieren zu wollen, kann man darin durchaus einen Beleg für das römische Vertrauen in den päpstlichen Gesandten erblicken und ein Signum dafür sehen, dass die wesentlichen Deutschland betreffenden Entscheidungen nicht nur in Rom, sondern auch und gerade in der Münchener Nuntiatur getroffen wurden.
II.3.2 Nationale Interessen und Gräben in der Bistumsleitung: Mainz 1920/21 (Ludwig Maria Hugo)1149 Die Besetzung des Domdekanats als Auftakt Am 19. Dezember 1919 starb der Dekan des Mainzer Domkapitels und Generalvikar der Diözese, Joseph Selbst. Dies warf die Frage auf, wie nach der kurz zuvor erfolgten Ausrufung der Republik und der Promulgation der WRV die Nachfolge geregelt werden sollte.1150 Der Domkapitular
Waghäusler Kloster zurückgekehrt und daher wohl keine profunde Informationsquelle. Neben den genannten hätte der Nuntius außerdem noch auf vereinzelte caritative Orden oder Missionsgesellschaften zurückgreifen können. Vgl. zur Übersicht über die Orden im Erzbistum Freiburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts Burger (Hg.), Erzbistum, S. 128–135 sowie die Beiträge von Wolfgang Hug, Angelika Hansert, Barbara Henze und Wolfgang Schaffer, in: Smolinsky (Hg.), Geschichte 1, S. 293–439. 1149 Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Mainz 1920/21 Braun, Bistum, S. 1147–1150; Gatz, Ringen, S. 109–113; Hamers, Konkordatspolitik, S. 123f.; Jürgensmeier, Bistum, bes. S. 307–309; Lenhart, Ludwig Maria Hugo, bes. S. 125–131; Ders., Kirstein, S. 183–188; o.V., Festschrift zur Inthronisation Ludwig Maria Hugo; Selbach, Katholische Kirche, S. 300–312; Speckner, Wächter, S. 220; Süss, Rheinhessen, S. 145–149. 1150 Das Bistum Mainz wurde 1821 durch die Zirkumskriptionsbulle Provida solersque Landesbistum für das Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Die hessische Verfassung wiederum, die den veränderten politischen Umständen nach 1918 Rechnung tragen sollte und erst nach der WRV am 12. Dezem313
II.3.2 Mainz 1920/21
und Kirchenrechtler Ludwig Bendix, der sich auf den schwer erkrankten Bischof Georg Heinrich Maria Kirstein einen weitreichenden Einfluss erworben hatte, thematisierte die rechtliche Problematik in einem Schreiben an den Münchener Nuntius am 12. Januar 1920.1151 Gemäß der Bulle Ad dominici gregis vom 11. April 1827 stand die Wahl des neuen Dekans in geraden Monaten dem Domkapitel zu, während die hessische Regierung das Recht der Mindergenehmheit geltend machen durfte.1152 Bendix plädierte dafür, dieser Regelung trotz der veränderten politischen Situation zu folgen, denn es stünde dem Kapitel nicht zu, „mit der Staatsregierung einen neuen Modus vivendi zu vereinbaren, der von den Bestimmungen der genannten Bulle abweicht. Da die darin festgelegten kirchlichen und staatlichen Rechte und Pflichten ein Ganzes bilden, so geht es auch nicht wohl an, kurzerhand die staatlichen Einwirkungen im Sinne voller kirchlicher Freiheit zurückzuweisen.“1153 Tatsächlich erlaubte Pacelli die Besetzung des Domdekanats in der bisher üblichen Weise, erwartete aber, dass von der Regierung eine schriftliche Bestätigung eingeholt wurde, dass dies für die Zukunft keinen Präzedenzfall konstituierte.1154 Bei dieser Gelegenheit sollte Bendix darüber hinaus sondieren, ob der hessische Staat bereit war, mit dem Heiligen Stuhl in Verhandlungen einzutreten, um die gesamte Kirche und Staat betreffende Materie von Neuem zu regeln. Obwohl der Nuntius in den folgenden Monaten zweimal nachfragte, was Bendix über die Konkordatsbereitschaft der Regierung herausgefunden hatte, bekam er erst acht Monate später, Ende September, eine Antwort.1155 Am 2. Februar 1920 schließlich wählte das Mainzer Domkapitel nach der herkömmlichen Praxis Bendix zum neuen Domdekan, dem Kirstein darüber hinaus das Amt des Generalvikars übertrug.1156
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1156
ber 1919 in Kraft trat, enthielt keine Vorschriften zur Religionsausübung oder Selbstbestimmung von Religionsgemeinschaften. Einzig der § 63 handelte von der Aufhebung der Patronate. Vgl. hessische Verfassung vom 12. Dezember 1919, in: Hessisches Regierungsblatt Nr. 37 vom 20. Dezember 1919, S. 439–452 beziehungsweise den Auszug bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 143f. Vgl. zur Verfassung Franz/Köhler (Hg.), Parlament, bes. S. 28–35. Vgl. zur Geschichte des Bistums Mainz Braun, Mainz; Gatz/Schwerdtfeger, Bistum Mainz; Jürgensmeier, Bistum; Ders. (Hg.), Handbuch. Vgl. Bendix an Pacelli vom 12. Januar 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 1r–3r (nur r). Vgl. Ad dominici gregis, Nr. IV, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 270f. Bendix an Pacelli vom 12. Januar 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 2r–3r. Vgl. Pacelli an Bendix vom 15. Januar 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 4r. Vgl. Pacelli an Bendix vom 20. April 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 5r; Pacelli an Bendix vom 11. Mai 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 6r; Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ebd., Fol. 96r–116r. Vgl. dazu das Folgende. Vgl. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 98rv. 314
II.3.2 Mainz 1920/21
Pacellis Kandidatensondierungen für den Posten eines Koadjutors Wie schon in Köln wenige Monate zuvor war es also wiederum eine vakante Domherrenstelle, durch die die Frage nach der Fortgeltung der alten Rechtsordnung aufgeworfen wurde.1157 Diese wurde bald auch für die Nachfolge des Mainzer Oberhirten akut. Pacelli beobachtete den Gesundheitszustand des Bischofs Kirstein in den folgenden Wochen sehr genau und da keine Besserung in Aussicht stand, begann er, intensiv nach einem möglichen Nachfolger zu suchen. Zu diesem Zweck holte er Kandidatenvorschläge bei Pater Dominikus Schropp OFMCap1158 ein, dem Superior der soeben erst durch den badischen Staat im Erzbistum Freiburg wieder zugelassenen Kapuziner in Waghäusel.1159 Am 12. August legte dieser insbesondere drei Namen vor:1160 1) Zunächst den 63-jährigen Ludwig Bendix, dem der Kapuziner eine bedeutende Geschäftserfahrung und -geschicklichkeit sowie einen autoritativen Habitus im Gegenüber zu den staatlichen Beamten attestierte. Allerdings besitze er gewisse Charakterzüge, die dazu führen würden, dass niemand, weder im Klerus noch im Volk, seine Ernennung zum Bischof erwarte. 2) Den nächsten Kandidaten schien Schropp mehr zu favorisieren: Domkapitular Philipp Mayer (50 Jahre), neuerdings Regens des Priesterseminars. Nach langjähriger Tätigkeit in der Seelsorge und im Schulunterricht lägen seine Frömmigkeit, seine Katholizität und seine Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl auf der Hand. Er sei der Wunschkandidat des Klerus. 3) Schließlich dachte der Kapuziner an den kürzlich zum Domkapitular ernannten 51 Jahre alten Georg Lenhart. Eloquent und politisch aktiv sei er mit den aktuellen religiösen und politischen Notwendigkeiten sehr vertraut, vielleicht sogar mehr als der Zuvorgenannte. Über seine Rechtgläubigkeit bestehe kein Zweifel. Klerus und Volk seien ihm zugetan. Noch mehr als Mayer habe sich Lenhart öffentlich profiliert und die kirchlichen Rechte verteidigt, insbesondere in der Schulfrage. Mayer zeige den Gläubigen hingegen eher das Bild eines guten Hirten und lehre weniger, wie man angesichts der Zeitumstände handeln müsse. Der Kapuziner war sich sicher, dass für die Bestellung des neuen Oberhirten andere Personen als die genannten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden mussten. Geeignet schienen ihm ansonsten noch Jakob May (59-jährig), ebenfalls Domkapitular in Mainz und die Diözesanpfarrer Peter Laufer (59 Jahre) und Michael Eich (49 Jahre). Vor allem sei es überhaupt nicht ratsam, einen Kandidaten zu wählen, der nicht aus der Mainzer Diözese stam-
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Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 (Der Auftakt der Frage nach der Geltung der alten Rechtsgrundlagen). Erwin Gatz schreibt fälschlich, es handle sich um Amandus Meise. Vgl. Gatz, Ringen, S. 110. Waghäusel gehörte zu Oberhausen-Rheinhausen, das 1803 an Baden gefallen war. Am 16. Juni 1920 erfolgte die feierliche Einführung der Kapuziner. Vgl. dazu Burger, Erzbistum, S. 133; o.V., Beiträge, bes. S. 28–32. Vgl. Schropp an Pacelli vom 12. August 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 10r–11v. 315
II.3.2 Mainz 1920/21
me. Es sei zu befürchten, dass die französische Regierung – weite Teile des Bistums inklusive der Stadt Mainz waren seit Ende des Ersten Weltkrieges von französischen Truppen besetzt1161 – die Ernennung eines deutschsprachigen Elsässers anstreben werde. Die hessische Regierung würde jedoch einem elsässischen Priester niemals ihre Zustimmung geben und ein solcher werde auch bei Klerus und Volk nur schwerlich Akzeptanz finden. Pacelli war dem Kapuziner für die Kandidatenvorschläge dankbar.1162 Weiteren Rat suchte er wenige Tage später beim Breslauer Fürstbischof Bertram, der nach Pacellis Ansicht gut über die derzeitige Lage der Mainzer Diözese Bescheid wusste.1163 Ihm gegenüber brachte der Nuntius zur Sprache, dass es angesichts der schlechten Diagnosen über die physische Verfassung Kirsteins sinnvoll erscheine, einen Koadjutor cum iure successionis für Mainz in Erwägung zu ziehen. Als dafür möglicherweise infrage kommende Kandidaten nannte er die beiden Favoriten des Kapuzinersuperiors: Mayer und Lenhart. Die Namen relativierte er jedoch sofort wieder, als er die Frage der Provenienz des zu Ernennenden anders beantwortete: „Soweit ich aber berichtet worden bin, scheint es, dass viele es nicht ungern sehen würden, wenn ein Priester einer anderen Diözese gewählt würde, welcher durch Ansehen, Gelehrsamkeit und Entschiedenheit fähig wäre, der Leitung der Diözese einen kräftigen Aufschwung zu verleihen, was seit dem berühmten Bischof [Wilhelm Emmanuel von, R.H.] Ketteler gefehlt haben dürfte.“1164
Zwar hatte die Bulle Ad dominici gregis bestimmt, dass der Ordinarius dem Mainzer Diözesanklerus entstammen musste.1165 Jedoch war das für Pacelli kein Hindernis, „da nach zugekommenen Informationen die Hessische Regierung keine Schwierigkeiten machen wird bezüglich der Ernennung des Bischofes, sondern volle Freiheit bei der Auswahl lassen wird“1166. Weil daher auch Kleriker anderer Diözesen optionale Alternativen waren, erwartete Pacelli von Bertram in dieser Hinsicht geeignete Namen. Das Schreiben an Bertram setzt voraus, dass der Nuntius bereits mit hessischen Staatsvertretern gesprochen hatte. Die entsprechende Adresse war der Justizminister und Zentrumsabgeordne-
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Vgl. zur alliierten Besetzung des Rheinlands in der Zeit von 1918 bis 1930 Bd. 1, Kap. II.1.3 Anm. 734. Vgl. Pacelli an Schropp vom 14. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 12r. Vgl. Pacelli an Bertram vom 19. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 15rv. Pacelli an Bertram vom 19. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 15r. Vgl. Ad dominici gregis, Nr. I, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 269f. Pacelli an Bertram vom 19. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 15r. 316
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te, Otto von Brentano di Tremezzo, dem der Nuntius zuvor eine Audienz gewährt hatte.1167 Die Initiative ging dabei vom Laien und Politiker aus, nicht vom Nuntius. Brentano wiederholte seine Gesprächsanliegen in einem Brief vom 25. August.1168 Der Grund für die Kontaktaufnahme des katholischen Ministers mit dem Nuntius bestand in der prekären Situation, in der sich seiner Ansicht nach die Diözese Mainz befand. Brentano übte Kritik, dass die Mainzer Bistumsleitung sich um wesentliche Angelegenheiten nicht kümmere: die Förderung von mittlerweile wieder erlaubten männlichen Orden, die rechte Ausbildung des Klerus sowie die politische Einheit der Priester und katholischen Studenten.1169 Einen gewichtigen Anteil an der desolaten Situation trage Bendix, der aufgrund des schwer kranken Bischofs fast die alleinige Leitung des Bistums ausübe.1170 Was konnte nach Brentano gegen die Missstände getan werden? Er stieß die Überlegung an, einen Koadjutor zu installieren, der vom Domkapitel gewählt werden sollte. Dabei ergab sich für ihn die Möglichkeit entweder einen Weihbischof oder einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu ernennen, wobei der Politiker die letztere Variante präferierte. Diesen Plan – wie bereits gesagt von Brentano zuvor mündlich geäußert – machte sich der Nuntius sofort zu eigen. Freilich dachte Pacelli keineswegs an eine Wahl des Koadjutors durch die Domherren, sondern an eine päpstliche Nomination entsprechend der Vorgabe des Kirchenrechts.1171 Nur vor diesem Hintergrund machten die Kandidatenrecherchen Pacellis überhaupt Sinn – bei einer Bischofswahl oder analog „Koadjutorwahl“ durch das Domkapitel wären sie nutzlos gewesen. Interessant ist auch, dass Pacelli von Bertram keine Einschätzung verlangte, was dieser prinzipiell von der Koadjutorlösung hielt, An der Meldung, dass Brentano in der Mainzer Angelegenheit in Audienz von Benedikt XV. empfangen worden sei, welche die Presse im November 1920 kolportierte, stimmte also zumindest, dass der Minister bei Pacelli vorgesprochen hatte. Vgl. zu dem Pressegerücht Lenhart, Kirstein, S. 184. 1168 Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 25. August 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 16r–21r (nur r). 1169 Brentano erinnerte dabei an die Mainzer Oberhirten des 19. Jahrhunderts, besonders an den 1850 von Pius IX. zum Mainzer Bischof ernannten Wilhelm Emmanuel von Ketteler, einen der schärfsten Kämpfer gegen das Staatskirchentum und für die Rechte und Freiheiten der Kirche. Intensiv setzte sich dieser für die Priesterausbildung ein – sofort eröffnete er in Mainz eine dem Priesterseminar angegliederte theologische Lehranstalt und zog die Alumnen damit von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Gießener Landesuniversität ab – und beurteilte „neues Ordensleben im Bistum“ als „Herzens- und wichtige Pastoralangelegenheit“. Jürgensmeier, Bistum, S. 281–306, hier 298. Vgl. außerdem zu Ketteler Iserloh, Kirche, S. 259–345; Lenhart, Ketteler; Rivinius, Bistum, S. 1052–1141. Wenn er diese vergangenen Zeiten – so Brentano – mit der heutigen vergleiche, befalle ihn „Herzweh“. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 25. August 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 17r. Offenbar teilte Pacelli diese Sicht, da er in seinem Schreiben an Bertram ebenfalls auf die Zeiten Kettelers verwiesen hatte. 1170 Zu monieren sei ganz besonders, dass Briefe von Behörden mit keinerlei Antwort gewürdigt würden, ein Umstand, den Pacelli auch selbst erfahren hatte. 1171 Vgl. Can. 350 § 1 CIC 1917. 1167
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sondern lediglich dafür infrage kommende Kandidaten wünschte. Der Besetzungsmodus stand für den Nuntius demnach bereits unumstößlich fest. Brentano warf schließlich auch die Personenfrage auf und aus seinen Überlegungen wird ersichtlich, warum sich Pacelli in der Frage, ob der Designierte aus der Diözese Mainz oder einem anderen Bistum kommen sollte, gegen die Auffassung von Schropp entschieden hatte: „Aus der Diözese Mainz ist nichts zu erwarten. Es fehlt ein Mann, der den Mut und vor allem den erforderlichen Einfluss hat, gegen die allgemein erkannten Missstände einzutreten. … Nunmehr ist es m[eines] E[rachtens] für die Diözese Mainz eine Lebensfrage, einen Bischof zu bekommen, der energisch, weltklug und gelehrt ist. Ein solcher Hirte kann enormen Einfluss gewinnen und damit das Ansehen des Mainzer Stuhles heben. Was dies für Hessen zu bedeuten hätte, ist gar nicht zu ermessen. Schon die politischen Verhältnisse weisen darauf hin. Ein Drittel unseres kleinen Bistums ist von den Franzosen besetzt. Hier ist eine politisch energische, aber auch konziliante und kluge Persönlichkeit absolut nötig. … Welches Glück, welches Vorbild und welcher Halt könnte da ein rheinischer Bischof sein. Es entsteht die Frage, würde ein Hesse oder ein Auswärtiger als geeignet erscheinen. Weit entfernt von einer einseitigen Beurteilung glaube ich, dass zur Zeit im Kapitel selbst nur der dem Amte nach jüngste Domherr1172 wirklich geeignet wäre.“1173
Als tauglichen auswärtigen Kandidaten schlug Brentano den gebürtigen Mainzer und zweiten Abt des Benediktinerklosters Emaus in Prag, Alban Schachleiter, vor.1174 Dieser traf beim Nuntius allerdings auf keine Resonanz, was nicht verwundert, wenn man sich vor Augen hält, dass Schachleiter als Verfechter deutsch-nationaler Gedanken 1918 aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurde und soeben – am 15. Juni 1920 – auf Drängen Roms auf sein Amt verzichten musste.1175 Eine solche extreme und nationalistische Persönlichkeit, ohne Fähigkeit zum Ausgleich, war für eine leitende kirchliche Stelle wohl weniger geeignet, schon gar nicht für das Bischofsamt. Gegenüber Bertram hatte Pacelli behauptet, dass die Regierung sich völlig aus der Bestellung eines Koadjutors heraushalten werde. Offenbar hatte Brentano ihm das in der genannten Audienz versprochen. Diesem gegenüber zeigte sich der Nuntius einige Tage später jedoch zurückhaltender, was dessen Vorschlag zur Besserung der Lage der katholischen Kirche im Bistum Mainz anbelangte.1176 Er verlangte zunächst einmal streng vertraulich eine klare Einschätzung, ob die Regierung dem Heiligen 1172 1173 1174
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Es handelte sich dabei um den bereits vom Kapuziner an dritter Stelle genannten Lenhart. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 25. August 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 19r–20r. Laut Hans-Ludwig Selbach favorisierte auch der hessische Staatskommissar in Koblenz, Eugen Kranzbühler, den Benediktinerabt. Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 301. Ob der Vorschlag letztlich von jenem oder von Brentano stammte, muss wohl offen bleiben. Vgl. Lenhart, Kontakt, S. 158. Schachleiter besaß auch selbst Ambitionen auf den Stuhl des heiligen Bonifatius. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 28. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 22r. 318
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Stuhl unbedingte Freiheit zugestehe, falls dieser die Ernennung eines Koadjutors mit dem Recht der Nachfolge beschließen sollte. Pacelli wollte also eine schriftliche Bestätigung für das mündlich Zugesicherte. Eine zweite Frage bezog sich darauf, wie die Gehaltsproblematik gelöst werden konnte. Würde die Regierung für die Vergütung des zusätzlichen Amtes aufkommen? In der Zirkumskriptionsbulle Provida solersque war von der Dotation eines Koadjutors keine Rede. Auf die mögliche Schwierigkeit dieses Themas hatte Brentano in seinem Schreiben vom 25. August schon hingewiesen. Während Pacelli auf die schriftlichen Zusicherungen des Justizministers wartete, erhielt er Post vom Breslauer Kardinal, der sich gerade auf Dienstreise befand und daher aus Wartha schrieb.1177 Bertram war mit Pacellis Analyse der Mainzer Diözese vollkommen einverstanden. Drei auswärtige Kandidaten schlug er vor, die seines Erachtens dem notwendigen Ideal eines „arbeitstüchtigen Bischof[s]“1178 gerecht wurden. Alle drei stammten aus benachbarten Bistümern: 1) Er begann mit dem in der Diözese Limburg inkardinierten, 47-jährigen Antonius Hilfrich, einem ehemaligen Germaniker, zwischenzeitlich Regens am bischöflichen Gymnasialkonvikt in Hadamar und derzeit Pfarrer in Wiesbaden. Bertram wusste zu berichten, dass seine Amtsbrüder in Limburg und Fulda den Genannten als absolut befähigt ansähen, um die Mainzer Herausforderungen zu bewältigen. 2) Tauglich sei auch der Regens des Fuldaer Priesterseminars, Christian Schreiber, „ein in jeder Hinsicht tüchtiger Priester“1179. Bei der Besetzung des Bistums Hildesheim 1914 habe er schon auf der Kandidatenliste gestanden, sei allerdings für den Fuldaer Oberhirten unersetzlich.1180 3) Als letzten benannte Bertram den Trierer Weihbischof, Antonius Mönch, ohne allerdings seine Eignung zu spezifizieren. Angesichts der neuen Vorschläge rückte Pacelli endgültig von einem Mainzer Kandidaten ab. Aus der Trias Bertrams bevorzugte er die Nummer eins. Am 8. September forderte er in zwei identischen Schreiben an die Bischöfe von Limburg und Fulda, Kilian und Schmitt, Informationen über den Wiesbadener Pfarrer an sowie ein Urteil über die Tauglichkeit Hilfrichs für die angedachte Aufgabe.1181 Da sich Brentano bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gemeldet hatte, drängte ihn Pacelli am 9. September, seine beiden Anfragen zu beantworten.1182 Drei Tage später verfasste der JusVgl. Bertram an Pacelli vom 5. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 23r–24r. Bertram an Pacelli vom 5. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 23r. 1179 Bertram an Pacelli vom 5. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 23v. Eine Altersangabe wie bei Hilfrich machte Bertram nicht. Schreiber war 1920 48 Jahre alt. 1180 Vgl. zur Hildesheimer Bischofswahl von 1914/15 Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 219–224. 1181 Vgl. Pacelli an Kilian vom 8. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 25r und Pacelli an Schmitt vom 8. September 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 26r. 1182 Vgl. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 9. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 27r. 1177 1178
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tizminister die ersehnte Antwort und begründete die Verzögerung damit, vertrauliche Erkundigungen eingeholt zu haben.1183 Auf den ersten Punkt hatte er eine klare Erwiderung: „Nach meiner absolut feststehenden Überzeugung wird die Regierung keinerlei Schwierigkeiten machen, vielmehr der Bestellung eines Koadjutors cum jure successionis völlig neutral gegenüberstehen.“1184 Der zweite gestaltete sich komplexer: Da der Koadjutor nicht zum Domkapitel gehöre, stehe ihm nicht das Gehalt eines Kapitulars zu. Allerdings existiere für den Bischof eine „Art Repräsentationssumme“1185, die dem Koadjutor zur Verfügung gestellt werden könnte. Andererseits bestehe die Möglichkeit, dass der Diözesankirchenvorstand eine geringe Erhöhung der Kirchensteuer in die Wege leite, um weitere Geldmittel aufzutreiben. Hinsichtlich der finanziellen Problematik war das für Pacelli keine zufriedenstellende Lösung. Brentanos Antwort gebe zwar „einige Hoffnung, aber keine Sicherheit“1186, wie Pacelli am 18. des Monats dem Breslauer Oberhirten darlegte. Weil diese Angelegenheit jedoch unbedingt geklärt werden müsse, bevor er der Kurie den Vorschlag, einen Mainzer Koadjutor zu ernennen, unterbreiten könne, habe er sie „vertraulich und inoffiziell“1187 dem Auswärtigen Amt in Berlin vorgelegt. Inzwischen war das von Kilian verlangte Gutachten in der Nuntiatur eingetroffen.1188 Das Zeugnis des Limburger Ordinarius über Hilfrich, den er seit Jugendzeit kannte, hätte nicht besser ausfallen können: „… wegen der hervorragenden Beschaffenheit seines Geistes, der guten Sitten und Tugenden, die den Geist des Jungen und Jugendlichen schmücken: Reinheit nämlich, Frömmigkeit, Gehorsam und Gewissenhaftigkeit, habe ich ihm meine Liebe geschenkt. Der Philosophie und Theologie widmete er sich in Rom im Collegium Germanicum. Dort lernte er nicht nur die gesunde Lehre, sondern, was mehr ist, jenes Fühlen mit der Kirche von den frommen Vätern der Gesellschaft Jesu.“1189
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Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 12. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 28rv. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 12. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 28r. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 12. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 28r. Pacelli an Bertram vom 18. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 30r. Pacelli an Bertram vom 18. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 30r. Vgl. Kilian an Pacelli vom 14. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 29r. „… propter animi eius egregiam indolem, bonos mores necnon virtutes, quae pueri adolescentisque animum decorent, puritatem sc., pietatem, oboedientiam, diligentiam speciali eum prosecutus sum amore. Philosophiae ac theologiae Romae incubuit in collegio Germanico. Ibi non solum sanam doctrinam sed, quod magis, illud sentire cum Ecclesia a piis patribus Societatis Jesu didicit.“ Kilian an Pacelli vom 14. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 29r. 320
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Wieder aus Rom zurückgekehrt, habe er verschiedene Ämter ausgefüllt, ein Vorbild an Gelehrsamkeit gegeben und sei vom Limburger Domkapitel als jemand bezeichnet worden, der es verdiene, mit der bischöflichen Würde ausgezeichnet zu werden. Er sei absolut zum Koadjutor des erkrankten Mainzer Bischofs geeignet. Eine solch günstige Beurteilung Hilfrichs kam für Pacelli nicht überraschend, wie er später Bertram mitteilte.1190 Offenbar folgerte er dessen Eignung bereits aus den knappen Stationen der Biographie. Wenige Tage später erhielt er auch das angeforderte Gutachten aus der Feder des Fuldaer Bischofs. Im Anschreiben bekannte Schmitt, überaus erfreut zu sein, „wenn Herr Hilfrich für die fragliche Stelle von Gott ausersehen wäre“1191. Das Zeugnis über den Wiesbadener Pfarrer fiel ähnlich positiv aus, wie das des Limburger Bischofs: Hilfrich, 1873 in der Diözese Limburg geboren, stamme „aus einer gut katholischen Familie“1192 – sein älterer Bruder Joseph sei auch Priester. Nach ersten philosophischen Studien im Fuldaer Priesterseminar sei Antonius Ende 1892 ins römische Collegium Germanicum aufgenommen worden. Schmitt wies besonders darauf hin, dass Hilfrich während seiner siebenjährigen Studienzeit in Rom beim jetzigen Kardinal Louis Billot gelernt habe.1193 Anschließend habe er verschiedene Seelsorgestellen ausgefüllt, auch in Frankfurt, wo sich das pastorale Wirken sehr schwierig gestalte. Im Jahr 1911 sei er schließlich als Pfarrer von „Maria-Hilf “ nach Wiesbaden berufen worden. Charakterlich und persönlich stellte ihm Schmitt das beste Zeugnis aus: „Der Ehrwürdige Herr Antonius Hilfrich ist ein wahrhaft frommer Priester, der Klugheit mit Eifer verbindet, sanft und leutselig; in der Seelsorge, wie sie in großen Städten auszuüben ist, bewandert und in Verwaltungsaufgaben erfahren. Er ist ein guter und gelehrter Theologe, sodass ich vor zwei Jahren ernsthaft überlegte, ihm die Dogmatikprofessur im Fuldaer Priesterseminar zu übertragen.“1194
Eine kleine Schwäche gebe es hinsichtlich seiner Predigtfähigkeit, denn er sei kein „gewaltiger Redner, der die Hörer mitreißt, dennoch ist das, was er öffentlich sagt, nützlich, sodass seine feste
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Vgl. Pacelli an Bertram vom 18. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 30r. Schmitt an Pacelli vom 19. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 33rv, hier 33r. „… ex familia bene catholica …“ Gutachten von Schmitt über Hilfrich vom 19. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 31r–32v, hier 31r. Louis Billot war in der Zeit von 1885 bis 1911 einflussreicher Dogmatikprofessor an der päpstlichen Universität Gregoriana und lehrte einen klassisch-spekulativen Thomismus. Vgl. dazu Barthold/Barthold, Einleitung, bes. S. 13–16; Walter, Billot. „R. D. Antonius Hilfrich est sacerdos vere pius, prudentiam cum zelo coniungens, mitis et affabilis, in cura animarum, prouti in magnis urbibus exercenda est, bene versatus, in negotiis administrativis peritus. Est bonus et doctus theologus, ita ut ante duos annos serio cogitaverim de professura dogmaticae in Seminario Fuldensi ei conferenda.“ Gutachten von Schmitt über Hilfrich vom 19. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 31v. 321
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und fromme Lehre die Seelen der Gläubigen zu nähren vermag“1195. Kurzum: Hilfrich sei für die fragliche Stelle bestens geeignet.1196 Seinen Kandidaten schien Pacelli gefunden zu haben. Allerdings kamen ihm nun doch Bedenken, ob ein auswärtiger Geistlicher nicht einen zu schweren Stand in dem hohen Amt haben könnte, wie Pater Schropp prophezeit hatte. Um sich diesbezüglich abzusichern, bat er Bertram am 18. September um seine Einschätzung dieses Sachverhalts. Für den Breslauer Fürstbischof, der eine Woche später antwortete, war diese Befürchtung zwar nicht völlig abwegig, aber nicht zu überschätzen.1197 Eine kompliziertere Ausgangssituation ergäbe sich lediglich, wenn der neue Koadjutor „als Person unbeliebt wäre“1198. Im gegenteiligen Fall seien die Widerstände, die sich gegebenenfalls gegen einen Nicht-Mainzer aufrichten würden, leicht überwindbar. Bertram empfahl, den Limburger Ordinarius zu befragen, ob Hilfrich das dafür angemessene Auftreten besitze. Er machte das Angebot, Kilian selbst mit dieser Problematik zu konfrontieren, wenn Pacelli das wünsche. Da dieser darauf einging, holte Bertram die Information aus Limburg ein und leitete sie daraufhin an den Nuntius weiter.1199 Kilian war überzeugt, dass der ausersehene Kandidat mit den Mainzer Umständen zurechtkommen werde: „H[ilfrich] ist ein liebenswürdiger Mensch von geziemender Freundlichkeit. Der Klerus – [der, R.H.] ein oder der andere Domkapitular vielleicht ausgenommen – wird ihm keine Schwierigkeiten machen.“1200 Da er aber jemand sei, „qui sentit cum Ecclesia“1201 und Angriffe auf kirchliche Rechte nicht einfach hinnehme, sondern zurückweise, könne es durchaus sein, dass er Gegner in Regierungskreisen habe. Womöglich hatte Pacelli diese letzte Bemerkung Kilians aufhorchen lassen. Jedenfalls befiel ihn die Sorge, dass angesichts der französischen Besetzung des hessischen Territoriums eine zu
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„… orator vehemens, qui abripiat auditores, attamen expeditus in genere dicendi medio quod dicitur, ita ut solida et pia doctrina animas fidelium pascere valeat.“ Gutachten von Schmitt über Hilfrich vom 19. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 31v. Schmitt hatte für sein ausführliches Gutachten nicht nur auf eigene Kenntnisse zurückgegriffen, sondern sich auch Einschätzungen von zwei Vertrauenspersonen beschafft: Zum einen vom Mainzer Domherrn Joseph Becker, zum anderen vom Fuldaer Regens Schreiber, der Hilfrich aus der gemeinsamen Zeit in Rom gut kannte. Vgl. Bertram an Pacelli vom 25. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 35r–36r. Bertram an Pacelli vom 25. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 35r. Vgl. Pacelli an Bertram vom 27. September 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 37r; Bertram an Pacelli vom 5. Oktober 1920, ebd., Fol. 41r. Kilian an Bertram vom 2. Oktober 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 39r. Kilian an Bertram vom 2. Oktober 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 39r. 322
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unnachgiebige Haltung Schwierigkeiten erzeugen könnte.1202 Selbstverständlich werde sich Hilfrich „ganz deutsch fühlen“1203, wie er am 11. Oktober an Kilian schrieb. Aber wegen der heiklen Situation wolle er „sicher gehen, ob er auch die notwendige Mäßigung und den erforderlichen Takt besitzt, um allenfalls Unannehmlichkeiten zu begegnen“1204. Der Limburger Bischof hielt an der Eignung Hilfrichs fest und glaubte, ihm diese Eigenschaften bescheinigen zu können.1205 Kilian schlug Pacelli vor, mit Hilfrich über die Probleme des neuen Amtes zu reden und ihm zu empfehlen, in wichtigen Angelegenheiten den Rat erfahrener Männer zu konsultieren. Alternativ könne der Nuntius ihn auch uneingeweiht einbestellen, um sich beispielsweise über die Simultanschule in der Diözese Limburg oder über die generelle Situation der Bistümer Mainz und Limburg informieren zu lassen. Dann gewinne er einen persönlichen Eindruck. Oder aber, er selbst lade den Wiesbadener Pfarrer ein und Pacelli komme eigens nach Limburg, um Hilfrich zu treffen.
Brentano gegen Bendix et vice versa und die prekäre Lage des Mainzer Bistums Offenbar gab sich Pacelli mit diesen Hinweisen zunächst zufrieden. Die Personenfrage war ohnehin nicht das einzige Problem, mit dem sich der Nuntius befassen musste. Er wartete seit Mitte September auf eine klärende Entgegnung aus Berlin zur Frage, wie sich die Vergütung des Mainzer Koadjutors gestalten könnte. Unterdessen hatte der hessische Justizminister seinem Ärger über die Mainzer Situation, insbesondere über Bendix, erneut Luft gemacht. Am 29. September berichtete er dem Nuntius von kursierenden Gerüchten über eine bevorstehende römische Intervention in die Mainzer Kirchenverhältnisse und er sei immer mehr zu der Überzeugung gelangt,
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Seit dem Religionsgesetz der französischen Regierung von 1905 war das Verhältnis zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl äußerst gespannt, wenngleich die jüngere Vergangenheit eine leichte Entspannung bewirkte und Frankreich 1921 nach der Rückgewinnung Elsass-Lothringens nach dem Ersten Weltkrieg wieder diplomatische Kontakte zum Heiligen Stuhl anknüpfte. Vgl. zum Verhältnis beider in dieser Zeit Armando, Nuntien; Blet, Kirche. Aufgrund der politischen Verhältnisse bildete die Besetzung des Mainzer Bischofsstuhls einen neuen neuralgischen Punkt, worüber sich Pacelli völlig im Klaren war. Er hatte keineswegs nur die deutsche Seite bei der Koadjutorfrage im Blick, sondern beobachtete auch die Enwicklungen in Frankreich sehr genau. Vgl. auch den von ihm durchgearbeiteten Artikel „Les relations avec le Vatican“, in: „Le Temps“ Nr. 21780 vom 27. März 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 222v. Pacelli an Kilian vom 11. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 43r. Pacelli an Kilian vom 11. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 43r. Vgl. Kilian an Pacelli vom 14. Oktober 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 44r. 323
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„dass dieses Eingreifen allein vor einer Katastrophe bewahren kann“1206. Erst kürzlich habe er Bendix wieder getroffen und sei von dessen Einschätzung der kirchlichen Lage erschüttert: „Wenn er recht hat, erscheinen sämtliche Katholiken, die politisch tätig sind, kirchlich als abgefallen. Allein ich kann mich unmöglich zur Ansicht bekennen, dass ‚alles völlig zu Grunde gehen müsse, um dann eine neue und bessere Ordnung entstehen zu lassen‘. Ich meine immer noch, dass die Männer sicherlich nicht zu verwerfen sind, die redlich unter vielen Opfern und Lasten alles tun, was in ihren Kräften steht, um dem Unglauben und Aberglauben entgegenzutreten, um zu retten, was zu retten ist, um tausende redlicher Männer um sich zu scharen, um ihnen das Licht des Glaubens und der Begeisterung für ihre Kirche zu erhalten.“1207
Konkreter wurde er in seinen Anspielungen nicht. Kurz nach dem Gespräch mit Bendix habe er eine Aussprache mit einem bedeutenden Pfarrer gehabt, der „versicherte, dass, wenn der Einfluss eines gewissen Herrn nicht bald gebrochen würde, … Mainz verloren“1208 sei. Brentano glaubte, dass die Majorität des Klerus – wie er selbst – einen auswärtigen Kandidaten präferiere. Man denke dabei an Ludwig Kaas aus Trier. Die finanzielle Frage wäre allerdings weniger kompliziert, wenn man jemanden aus der Mainzer Bistumsleitung wählen würde. Letztlich müsse aber der Heilige Stuhl den passenden Ausweg finden. Pacelli versuchte Brentano zu beruhigen, indem er versicherte, dass er „die schwierige Lage der Diözese Mainz voll und ganz zu würdigen“1209 vermöge. Ein Eingreifen sei jedoch unmöglich, bevor nicht die Gehaltsfrage geklärt sei. Was ihm der Staatsminister dazu vorgeschlagen hatte, reichte dem Nuntius zur Lösung dieses Problems nicht aus. Die Gegnerschaft von Brentano und Bendix war keineswegs nur einseitig, sondern reziprok. Über das Ausmaß des Konflikts und über die sorgenvolle Lage der Diözese Mainz konnte sich Pacelli ein Bild machen, als Anfang Oktober diesbezüglich ein umfangreiches Gutachten des Generalvikars eintraf.1210 Die behandelten Punkte reichten vom Gesundheitszustand Bischof Kirsteins über die Diözesanverwaltung bis zum Verhältnis von Kirche und Staat in Hessen. Um eine Charakterisierung des letzteren hatte der Nuntius schon im Januar des Jahres gebeten. Bendix entschuldigte seine extrem verspätete Rückmeldung mit Arbeitsüberlastung. Zwei Punkte des Gutachtens sind an dieser Stelle von besonderer Bedeutung. Zunächst einmal konnte der Bericht über die physische und psychische Verfassung Kirsteins den Nuntius davon überzeugen, dass der Bischof nicht 1206 1207 1208
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Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 38rv, hier 38r. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 38r. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 38r-v. Hervorhebung im Original. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 5. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 40r. Vgl. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 96r–116r. Pacelli ließ sich von einem Nuntiaturmitarbeiter eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte anfertigen. Vgl. ebd., Fol. 48r–49v. 324
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mehr in der Lage war, sein Amt adäquat auszufüllen und daher die Bestellung eines Koadjutors sinnvoll erschien.1211 Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis von Staat und Kirche in Bezug auf die kirchliche Ämterbesetzung. Anlässlich der Wiederbesetzung der Domdekanatsstelle – der einzigen Dignität im Mainzer Kapitel und deshalb von herausragender Bedeutung1212 – hatte das Domkapitel laut Bendixʼ Darstellung der Staatsregierung eine Liste von vier Kandidaten eingereicht und die Anmerkung hinzugefügt, dass es die Partizipation des Staates bei der Kandidatenwahl für unvereinbar mit Artikel 137 der WRV halte: „Wenn wir daher in Erwägung der Dringlichkeit der Wahl des Domdekans die Liste vorlegen, so kann das nur geschehen unbeschadet einer späteren anderweitigen, durch die zuständigen kirchlichen und staatlichen Stellen zu vereinbarenden Regelung der Frage der Besetzung der Domkapitelstellen im Sinne der Bestimmungen der neuen Reichsverfassung, namentlich des Art[ikels] 137.“1213
Die Regierung habe dazu bemerkt, dass die Kirchenartikel der Verfassung noch der Durchführung durch die Landesgesetzgebung bedürften – derzeit werde daran gearbeitet – und bis das geschehen sei, gelte die bisherige Rechtslage uneingeschränkt weiter. Bendix bezweifelte die Rechtmäßigkeit dieser Interpretation. Das Domkapitel habe dem entgegengehalten, dass die Umwälzungen der letzten Jahre eine grundlegende Neuregelung der kirchenpolitischen Rechtsmaterie notwendig machen würden. Daher hätten die Domkapitulare – so Bendix – die Anfrage gestellt, ob die hessische Regierung bereit sei, mit dem Heiligen Stuhl in Verhandlungen über die staatskirchlichen Beziehungen einzutreten. Mit diesem Vorstoß griff das Kapitel Pacellis Anliegen vom 15. Januar bis in den Wortlaut hinein auf. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd:
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Seit Ende 1919 habe eine kontinuierliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes stattgefunden. Eine Heilung sei nicht zu erwarten. „Mit den körperlichen Defekten ist eine Abnahme der geistigen Funtionen in langsamer Entwicklung verbunden. Von Unzurechnungsfähigkeit kann keine Rede sein, denn der hohe Kranke ist bei vollem, klarem Bewusstsein mit der Fähigkeit, Mitteilungen entgegenzunehmen, die Einzelheiten zu unterscheiden und seine Zustimmung oder Ablehnung auszusprechen. Allein es fehlt ihm die Leichtigkeit und Beweglichkeit, die zu einer ganz zusammenhängenden, normalen geistigen Tätigkeit notwendig ist ... Es muss jedoch gesagt werden, dass sein allgemeines Interesse an dem Geschäftsgang sehr abgeschwächt ist und dass er offenbar nicht mehr in der Lage ist, einen Überblick über das Ganze zu haben.“ Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 96v–97r. Vgl. auch ebd., Fol. 48r. Zum Beleg fügte Bendix für den Nuntius ein ärztliches Gutachten bei. Vgl. ebd., Fol. 52r–53v. Vgl. Provida solersque, Nr. IV.2, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 252f. Vgl. auch Jürgensmeier, Bistum, S. 273. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 98v–99r. 325
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„Darüber, dass nach dem Erlass der Reichsverfassung eine Änderung der bestehenden Verhältnisse notwendig geworden ist, ist man sich klar. Aber neben den radikal-sozialistischen Tendenzen, die durch die nun vorherrschende Partei vertreten werden, wirken noch die alten staatskirchlichen Ideen und die Furcht des religiös vorherrschenden Protestantismus und verhindern eine ganz klare Anerkennung der Freigabe der Kirche aus den Fesseln der staatlichen Gesetzgebung. Man hat immer noch Angst, das evangelische Bewusstsein der Majorität könne verletzt werden. Man hat daher die Neigung, die Landesgesetzgebung zur Regelung der kirchlichen Angelegenheiten zu verschieben und damit zugleich die Verhandlungen mit dem Apostolischen Stuhl, die man jedoch nicht prinzipiell ablehnt.“1214
Das brachte Bendix zu einer Kritik an der Regierungskoalition des Zentrums mit der SPD.1215 Unter dem Deckmantel, dass man Kompromisse eingehen müsse, würden die kirchlichen Ansprüche vernachlässigt. Das könne nur bedeuten, „dass von dem Wenigen, was wir an Rechten und Freiheiten überhaupt noch besitzen, das meiste infrage gestellt wird oder ganz verloren geht“1216. Deshalb sei er mit dem Verhalten Brentanos auch nicht einverstanden, von dem er wisse, dass er „sehr praktische Ziele auch für die Lösung der augenblicklichen Schwierigkeiten in der Verwaltung der Diözese Mainz verfolgt“ und versuche, seine Auffassungen „an maßgebender Stelle“1217 zur Geltung zu bringen. Offensichtlich hatte Bendix von den Bestrebungen des Justizministers, die Bestellung eines Koadjutors für die Diözese anzustoßen, Kenntnis. Vielleicht vermutete er hier aber auch nur, dass Brentano gegen seine Person agitierte und seine Entfernung aus dem Generalvikariat anstrebte. Jedenfalls mahnte er den Nuntius unter Hinweis auf seine Erfahrung und Kenntnis der Lage, den Anliegen des Justizministers mit Zurückhaltung zu begegnen. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich den Konkordatsverhandlungen in den Weg stellten, zeigte sich Bendix von ihrer Notwendigkeit überzeugt. Denn grundsätzlich herrsche in Hessen immer noch die Vorstellung des Staatskirchentums.1218 Dabei müsse man davon ausgehen, dass für den hessischen Staat das Gesetz über die Anstellung und Vorbildung der Geistlichen von 1887 das bedeutsamste, noch aus der Kulturkampfzeit stammende Gesetz sei.1219 Forderungen des Mainzer Ordinariats, diese rechtlichen Anachronismen aufzugeben, seien bislang – so Bendix – stets 1214 1215
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Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 101r. Vgl. auch ebd., Fol. 48v–49r. Seit Februar 1919 bestand die hessische Regierung unter Staatspräsident Carl Ulrich aus einer Koalition von SPD, Zentrum und DDP. Vgl. dazu Franz/Köhler (Hg.), Parlament, S. 44–47, 56–58; Franz, Hessen-Darmstadt, bes. S. 106f.; Franz, Minister von Hessen-Darmstadt. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 101v. Vgl. auch ebd., Fol. 49r. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 101v. Vgl. auch ebd., Fol. 49r. Vgl. zum hessischen Staatskirchentum des 19. Jahrhunderts und zum Kulturkampf etwa Jürgensmeier, Bistum, S. 281–297; Rivinius, Bistum. Vgl. „Gesetz, die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen betreffend“ vom 5. Juli 1887, in: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 22 vom 15. Juli 1887, S. 129–132. 326
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zurückgewiesen worden, „weil ja auch, wie man mir bei Besprechungen im Ministerium öfter entgegnete, staatliche Leistungen an die Kirche weiter bestehen müssten“1220 und die Regierung „trotz aller neuzeitlicher Errungenschaften auf politischem Gebiete doch immer noch an dem engherzigen staatskirchlichen Standpunkt festhält“1221. Bei einer anzustrebenden Neuregelung der kirchlichen Verhältnisse müssten demgegenüber die Freiheiten der katholischen Kirche zur Geltung gebracht werden. Dazu gehörte für Bendix insbesondere die Angleichung der Landesgesetzgebung an den Artikel 137 Absatz 3 der WRV, wie dies in Baden schon geschehen war.1222 Bendix war der Ansicht, dass staatliche Konzessionen, wie „die Gewährung der Rechtspersönlichkeit an die Kirche, die Zusicherung des Besteuerungsrechtes, die pekuniären Leistungen des Staates an die Kirche“1223 kein staatliches Bevormundungsrecht begründen dürften. Daneben sprach er sich auch für eine Beibehaltung des Bischofswahlrechts des Domkapitels aus, obwohl es für dieses oftmals belastend sei. Eine Beeinträchtigung der kurialen Rechte sah er darin übrigens nicht. Offenbar hielt er eine Mischform des Besetzungsmodus für angemessen: „Eine gute Regelung dieses Wahlrechtes unter richtiger Einstellung zu dem päpstlichen Rechte der Besetzung der höheren Kirchenämter könnte sogar wohl geeignet werden, einen engeren Anschluss der deutschen Kirche an den Heiligen Stuhl zu fördern und so manche Schwierigkeiten vergangener Zeit unmöglich zu machen.“1224 Wie stellte sich der Generalvikar die konkrete Lösung der Probleme der Mainzer Diözese vor? Dieser Frage widmete er abschließend noch einige Seiten und kam dabei zu dem Ergebnis, dass Kirstein von seinem Amt zurücktreten müsse. Der derzeitige Zustand könne so nicht beibehalten werden, denn obwohl die diözesanen Geschäfte weitgehend erledigt würden, sei er sich bewusst, „dass die Mainzer Diözese nach der geordneten, regelmäßigen Leitung des Bischofs verlangt, die durch den jetzigen Zustand nicht ersetzt wird, so sehr ich auch meine ganze Kraft einsetze“1225. Er wisse, dass so manche Namen als Nachfolger für den erkrankten Oberhirten gehandelt würden und „dass sich daraus ein für die Disziplin und das religiöse Leben nicht günstiger Zustand herausbildet“1226. Seine Person stünde einer Neuregelung der Bistumsleitung nicht im Wege, obwohl diese – worüber sich Bendix natürlich bewusst war – seine Entmachtung bedeutete. Er selbst käme nicht für das Bischofsamt infrage, denn es fehle ihm nicht nur an Verschiedenem, was von
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Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 105r. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 105v. Vgl. zur badischen Verfassung Bd. 3, Kap. II.3.1 (Die badische Verfassung von 1919: neue Freiheit für die Kirche). Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 106r. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 106r. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 114r-v. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 114v. 327
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einem Bischof erwartet werde, sondern er sei darüber hinaus zu alt. Alle sonst gemeinhin genannten Kandidaten stellten Bendix aber auch nicht zufrieden, genauso wenig die alternative Lösung, einen Weihbischof oder Koadjutor zu installieren. Besonders die letztere – von Brentano favorisierte – Variante würde zu den schon genannten „ungünstigen Zuständen“ und zu bedeutenden „Hindernissen in persönlicher und pekuniärer Beziehung“1227 führen. Nach Bendix war nur eine definitive Regelung der Situation angemessen, was seiner Überzeugung nach – so schwer es ihm auch falle, es auszusprechen – die Vakanz des Mainzer Bischofsstuhls erforderte. Wie die Resignation Kirsteins im Einzelnen vor sich gehen müsse, sei noch genau zu überlegen und zu durchdenken. Der Domdekan versäumte nicht, seine Vorstellungen darzulegen, wie der neue Bischof beschaffen sein sollte. Vor allem sei es wichtig, dass er die Notwendigkeit sehe und die Energie aufbringe, „die kirchliche Organisation der Diözese auf den rechten Stand zu bringen“1228. Denn seit der Zeit Kettelers, der „die Staatsfesseln zerschlug und in die staatskirchliche Verwaltung eingriff “, sei kein Mainzer Ordinarius mehr in der Lage gewesen, eine Administration aufzubauen, die „ganz nach den kirchlichen Bestimmungen“1229 geordnet war. Daher sei es die oberste Priorität des neuen Bischofs, die Fülle an Missständen, die während des Pontifikats Kirsteins sogar noch gewachsen seien, zu beseitigen. Dazu benötige der künftige Oberhirte eine lange Regierungszeit, müsse „ein wahrer Hirte; Freund der Seelsorge; in theologici versatus und doch nicht Professor“ sein – Kaas war für Bendix demnach keine Option –, „für die Politik soll er ein offenes Auge haben, er soll sich aber nicht in deren Fangeisen festlegen lassen; ein Freund des Volkes, aller Stände, ein moderner Mensch in gutem Sinne, ohne dass er sich durch die Organisationsmanie unserer Tage in seinem bischöflichen Amte festlegen lässt“1230. Außerdem sollte er von außerhalb kommen, also nicht aus der Mainzer Diözese. Obgleich die Deskription der Eigenschaften nahelegt, dass der Domdekan eine konkrete Person im Auge hatte, nannte er keinen Namen.
Ein unerwarteter Kandidatenwechsel Für Pacelli musste das ausführliche Skriptum des Mainzer Domdekans von Bedeutung sein, denn der Verfasser war über die Lage der Mainzer Diözese bestens informiert und konnte sie von innen her beurteilen. Folgerichtig lud er diesen nach München zu einer persönlichen Unterredung
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Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 115v. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 114v. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 114v. Bendix an Pacelli vom 27. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 115r. 328
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vor.1231 Bendix dachte zunächst an den 3. November als Audienztermin, den Pacelli jedoch verschieben musste, weil ihm eine längere Reise nach Berlin bevorstand.1232 Trotz seiner pointiert vorgetragenen Lösungsansätze war es Bendix jedoch nicht gelungen, den Nuntius von der Idee, einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu benennen, abzubringen. Vielmehr nutzte dieser die Gelegenheit des Aufenthalts in der Hauptstadt, um mit der Reichsregierung die schwelende Finanzierungsfrage des Koadjutors zu erörtern. Zu seiner Befriedigung habe er die Versicherung erhalten, „dass man eine gute Lösung der genannten Frage finden werde“1233, schrieb er am 29. November an Kardinal Bertram. Daher hoffte er, dass die Angelegenheit bald in positivem Sinne abgeschlossen werden könne. Hatte Pacelli in Berlin noch die Kandidatur Hilfrichs vertreten und dafür die Zustimmung des Vatikanreferenten des Auswärtigen Amts, Richard Delbrueck, geerntet,1234 so vollzog er nach seiner Rückkehr einen Schwenk in der Kandidatenfrage und sah nun den Regens des Speyerer Priesterseminars, Ludwig Maria Hugo, als Koadjutor für Bischof Kirstein vor. Wie kam der Nuntius auf diesen Namen und wieso gab er die Kandidatur Hilfrichs auf? Ursächlich dafür war Bendix, der den Nuntius kurz nach dessen Eintreffen in München zur erwähnten Besprechung aufsuchte. Über diese Unterredung gibt es keine Aufzeichnung in den vatikanischen Quellen.1235 Allerdings lassen sich aus einem Schreiben Bendixʼ an den Nuntius vom 20. Dezember einige Gesprächsergebnisse rekonstruieren.1236 Demnach überzeugte Pacelli Bendix zunächst einmal von der Idee, einen Koadjutor einzusetzen und unterrichtete ihn auch über die finanziellen Zusagen der Reichsregierung. Entgegen seiner früheren Überzeugung hielt Bendix die Koadjutor-Variante jetzt für eine gute Idee und glaubte, dass weder das Domkapitel noch die hessische Regierung sich dagegen auflehnen würden.1237 Wie Pacelli am 18. Dezember
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Vgl. Pacelli an Bendix vom 20. Oktober 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 120r. Vgl. Bendix an Pacelli vom 27. Oktober 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 117r; Pacelli an Bendix vom 28. Oktober 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 118r. Pacelli an Bertram vom 29. November 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 128r. Auch Brentano war bei den Gesprächen anwesend und mit der Kandidatur Hilfrichs offenbar einverstanden. Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 305. Pacelli war vom 3. bis zum 14. oder 15. November 1920 in Berlin. Vgl. Schlagwort Nr. 13043 (Pacelli-Edition). Da er am 24. November begann, Informationen über Hugo einzuholen (s. u.), fand die Audienz, die bei ihm zum Kandidatenwechsel führte, vermutlich unmittelbar vorher statt. Vgl. Bendix an Pacelli vom 20. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 138r–139r. Anders als bisher angenommen ging es dem Domdekan also nicht ursprünglich darum, „die Voraussetzungen für die Berufung eines bischöflichen Koadjutors mit dem Rechte der Nachfolge für den nicht mehr genesenden und geschäftsunfähigen Bischof zu schaffen und damit zugleich eine eventuell notwendig werdende, in ihrem Ausgange aber kaum abzusehende Bischofswahl zu vermeiden“. Lenhart, Kirstein, S. 184. Vgl. auch Selbach, Katholische Kirche, S. 301f. Vielmehr liefen Bendixʼ frühere Über329
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an den Kardinalstaatssekretär schrieb, habe sich Bendix bereit erklärt, Kirstein zu gegebener Zeit schonend die geplanten organisatorischen Veränderungen in der Bistumsleitung beizubringen.1238 Hinsichtlich der Kandidatenfrage war Bendix allerdings – wie er am 20. Dezember noch einmal bestätigte – nicht zu überzeugen gewesen. Er lehnte die Kandidatur Hilfrichs ab, der ihm völlig unbekannt war: „Jedenfalls fehlt die hervorragende Bedeutung, die es rechtfertigen könnte, einen unmittelbaren Nachbarpfarrer der Stadt Mainz, dem gesamten Klerus der Mainzer Diözese vorzuziehen. Es gäbe eine nicht erfreuliche Lage, auch für mich, der ich die Kandidatur in ihrer Entstehung jetzt verfolgen kann, – nicht zu meiner Beruhigung für das Wohl der Diözese.“1239
Zwar vertrat er noch einmal die Ansicht, dass der Koadjutor nicht aus der Oberrheinischen Kirchenprovinz kommen möge, weil hier der Blick über die eigenen Diözesen nicht hinausreiche. Durch einen auswärtigen Kandidaten könne dem „etwas engen Zug in unserer Provinz“ entgegengewirkt werden, während wiederum – und das war gegen Hilfrich gerichtet – „der bürokratisch-enge Geist aus Limburg1240 für uns nicht passt“1241. Dagegen hielt er den Regens des Priesterseminars von Speyer, Ludwig Maria Hugo, für die Mainzer Diözese passender.1242 Ihn kannte Bendix aufgrund eines engen Kontakts gut, der da herrührte, dass die Alumnen der Diözese Speyer im Mainzer Priesterseminar untergebracht waren.1243 Einen Fürsprecher fand Hugo auch – wie Pacelli am 29. November dem Breslauer Kardinal mitteilte – im früheren Speyerer Bischof Faulhaber, der seinen ehemaligen Sekretär empfahl,
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legungen gerade auf eine Bischofswahl hinaus. Erst nachdem ihm Pacelli dieses Konzept nahe gebracht hatte, „betrieb“ Bendix „dieses Ziel, bei dem das Domkapitel von seinem wichtigsten Recht, der Bischofswahl, ausgeschlossen blieb, mit großer Entschiedenheit und taktisch äußert geschickt.“ Braun, Bistum, S. 1148. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 18. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 2r–4v, hier 3r. Bendix an Pacelli vom 20. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 138v. Damit meinte Bendix vermutlich den „bürokratisch-engen Geist“ Preußens. Limburg, wo Hilfrich geboren war, gehörte seit 1866 zu Preußen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es Hessen eingegliedert. Bendix an Pacelli vom 20. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 138v–139r. Mit Blick auf die vorangegangene Audienz schrieb Bendix zwar lediglich ohne Namensnennung, dass „der von mir gemachte Vorschlag der ganzen Lage und den besonderen Umständen besser entsprechen dürfte“. Bendix an Pacelli vom 20. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 138v. Hervorhebung R.H. Daher schließt Erwin Gatz auch, dass aus den vatikanischen Akten nicht hervorgehe, wer Hugo in die Überlegungen eingebracht habe. Vgl. Gatz, Ringen, S. 111. Doch ergibt sich aus dem Zusammenhang eindeutig, dass es sich bei diesem Vorschlag des Domdekans um den Speyerer Regens handelte. Richtig vermutete dies auch schon Ludwig Lenhart. Vgl. Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 125. Vgl. auch Braun, Bistum, S. 1148; Jürgensmeier, Bistum, S. 307f. Vgl. Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 125. Vgl. allgemein zur historischen Verflechtung der Bistümer Mainz und Speyer ebd., S. 119f. 330
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nachdem Pacelli ihn um seine Einschätzung gebeten hatte.1244 Wahrscheinlich war der Gedankenaustausch mündlich erfolgt, denn ein diesbezüglicher Briefwechsel findet sich in den vatikanischen Unterlagen nicht. Ob Faulhaber zu diesem Anlass genauso wie Bendix Bedenken geltend machte, ob ein preußischer Kandidat – wie der Wiesbadener Pfarrer – in Mainz gut aufgenommen würde, muss daher offen bleiben. Jedenfalls schrieb Pacelli an Bertram, dass er solche Vorbehalte „von mehrfacher Seite“1245 gehört habe. Über Hugo jedoch habe er nur das Beste gehört.
Gutachten über Ludwig Maria Hugo und die Klärung der Finanzfragen Mit dieser Einschätzung spielte Pacelli nicht nur auf das Urteil Faulhabers an, sondern auch auf weitere Gutachten, die er bereits am 24. November in Auftrag gegeben hatte, zum einen beim Pater Guardian des Minoritenklosters in Oggersheim, Amandus Meise, zum anderen beim Speyerer Bischof Ludwig Sebastian, dem Ordinarius Hugos.1246 Beide kamen der Bitte Pacellis nach und meldeten sich schon drei Tage später zurück. Der Franziskanerminorit bescheinigte dem ihm persönlich bekannten Hugo ein profundes Wissen, tiefe Frömmigkeit, Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und freundliche, gewinnende Manieren.1247 Auch Hugos Familie erfreue sich eines sehr guten Rufes in ihrer oberpfälzischen Heimat. Der würdige Kandidat werde als Bischof zweifellos für die Rechte der Kirche einstehen. Sebastian kam in seiner Stellungnahme zum gleichen Ergebnis: Hugo, geboren 1871 in Arzheim in der Diözese Speyer, habe nach dem Abitur seine theologischen Studien in Innsbruck aufgenommen.1248 Mit 20 Jahren sei er dann in das Germanicum eingetreten und drei Jahre später vom römischen Kardinalvikar, Lucido Maria Parocchi, zum Priester geweiht worden. Nach mehreren Kaplanstellen habe ihn Bischof Konrad von Busch – Sebastians Amtsvorvorgänger – zum Domvikar und Privatsekretär ernannt. Von Bischof Faulhaber sei Hugo schließlich 1915 zum Regens des Priesterseminars bestellt worden, „damit die Ausbildung der Geistlichen keine Schäden erleide durch übermäßige Sanftheit oder durch ungenügende
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Vgl. diese Verbindung zu Faulhaber schon bei Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 125 und Ders., Kirstein, S. 187f. Pacelli an Bertram vom 29. November 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 128r. Vgl. Pacelli an Meise vom 24. November 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 123r; Pacelli an Sebastian vom 24. November 1920 (Entwurf), ebd., Fol. 124r. Vgl. Meise an Pacelli vom 27. November 1920 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 127rv. Vgl. Gutachten von Sebastian über Hugo vom 26. November 1920 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 125rv. 331
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Lehre“1249. In Klerus und Volk werde Hugos Wirken als Seelsorger, Lehrer und Gehilfe in der Diözesanverwaltung allenthalben gelobt und honoriert. Nach diesen biographischen Notizen legte Sebastian die Eigenschaften dar, die Hugo seiner Ansicht nach zum Bischofsamt befähigten: „Jenen Priester schmücken nämlich die Tugenden, die der heilige Apostel Paulus und die heiligen Canones der heiligen Mutter Kirche über die Bischöfe festhalten. Wahre und aufrechte Frömmigkeit gegenüber Gott, tiefe Gelehrtheit der heiligsten Theologie und aufgeweckte Kenntnisse treten in ihm hervor, ebenso entschlossene Unterordnung gegenüber der heiligen katholischen Mutter Kirche und gegenüber dem heiligen Apostolischen Stuhl.“1250
Dazu kämen eine gute Rhetorik, Seeleneifer, Verwaltungsgeschick, Bescheidenheit und Sanftmut. Viele Priester und Religiose hätten Hugo als Beichtvater gehabt und so dessen Seeleneifer genossen. Wie bereits der biographische Abschnitt andeutete, habe Hugo die Fähigkeit bewiesen, mit Geschicklichkeit und Strenge die Disziplin im Seminar aufrecht zu erhalten.1251 Auch die weltlichen Güter des Seminars habe er klug und treu verwaltet. Darüber hinaus sei er sittsam, freundlich und leutselig gegenüber arm und reich. Im Anschreiben an Pacelli erklärte Sebastian, bereits im Vorjahr anlässlich des silbernen Priesterjubiläums Hugos prophezeit zu haben, dass dieser künftig das Bischofsamt bekleiden werde.1252 Er habe ihn stets als seinen Nachfolger auf dem Speyerer Bischofsstuhl betrachtet. Die einhellig lobende Resonanz auf Hugo bestärkte Pacelli in der gegenüber Bertram geäußerten Überzeugung, dass „dieser Priester für die Diözese Mainz der geeignetste Kandidat sein dürfte“1253. Gleichwohl bat er den Breslauer Kardinal zusätzlich um seine Meinung. Dieser akzeptierte in seiner Antwort vom 1. Dezember, dass bei Widerständen gegen die preußische Herkunft
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„… ne quid detrimenti caperet instructio clericorum nimia mansuetudine neve haud sufficienti doctrina …“ Gutachten von Sebastian über Hugo vom 26. November 1920 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 125r. „Ornant enim istum sacerdotem virtutes illae, quas S. Paulus Apostolus nec non s. canones S. matris Ecclesiae de episcopis statuunt. Vera et sincera pietas erga Deum, subtili Ss. theologiae doctrina et scientia excitata, in eo eminet, item strenua erga S. Ecclesiam catholicam matrem et S. Apostolicum Sedem devotio.“ Gutachten von Sebastian über Hugo vom 26. November 1920 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 125r-v. Auch Lenhart hebt Hugos Fähigkeiten in der Priesterausbildung sowie sein von Sebastian ebenfalls angesprochenes „außerordentliches Sprachtalent“ besonders heraus. Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 122. Gerade hinsichtlich des letzteren war der Speyerer Regens Hilfrich offenbar überlegen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Schmitt die Defizite des Wiesbadener Pfarrers auf diesem Gebiet expressis verbis benannt hatte. Vgl. Sebastian an Pacelli vom 27. November 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 126rv. Pacelli an Bertram vom 29. November 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 128r. 332
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von Hilfrich als Koadjutor abgesehen werden müsse.1254 Was die Person Hugos betraf, hielt er das Urteil Faulhabers für völlig aussagekräftig. Durch das Einverständnis Bertrams beruhigt,1255 hatte Pacelli damit den gewünschten Kandidaten gefunden. Abzuwarten blieb also nur noch die abschließende Regelung der Gehaltsfrage, die dem Nuntius bei seinem Berlinaufenthalt zugesichert worden war. Mitte Dezember vereinbarte man im Auswärtigen Amt eine Lösung, die Regierungsrat Edgar von Haniel über den Gesandten in Bayern, Graf Zech, dem Nuntius zur Kenntnis brachte.1256 Demnach sollte die hessische Regierung dem neuen Koadjutor einen Sockelbetrag von 10.000 Mark zur Verfügung stellen, der um den Betrag von 24.000 Mark in monatlichen Teilzahlungen von 2.000 Mark durch die Reichsregierung ergänzt wurde.1257 Haniel bat, dass der Nuntius die Überweisung der Gelder des Reiches übernehme, damit die französische Besatzungsmacht keine Kenntnis davon erhielt. Offensichtlich befürchtete man, dass die französische Regierung die Zuwendungen der Deutschen Reichsregierung an einen hohen kirchlichen Würdenträger innerhalb ihres Besatzungsgebiets in ihrem Sinne interpretieren werde. Pacelli erklärte sich mit diesem Vorgehen einverstanden.1258 Dass die genannten Beträge noch nicht in Stein gemeißelt waren, geht aus einer Mitteilung von Kaas an Pacelli zur selben Zeit hervor.1259 Der Prälat hatte von Reichsaußenminister Walter Simons zwar erfahren, dass, was „die finanzielle Sicherung des in Aussicht genommenen Coadjutors für Mainz angeht, … alles geregelt sei“1260. Reich und Land würden sich gleichermaßen an der Finanzierung beteiligen. Doch könnten die Details erst ausgehandelt werden, wenn Delbrueck aus seinem Urlaub zurückgekehrt sei. Dieser wandte sich wenig später an Brentano, sagte zu, 20.000 Mark zur Verfügung zu stellen und bekräftigte die Bitte, dass Hessen auch etwas zur Vergütung des Koadjutors beisteuere.1261 Der hessische Finanzminister Konrad Henrich sei durchaus dazu bereit – wie Brentano dem Nuntius mitteilte –, halte die Finanzierungsfrage jedoch für schwierig. In dieser Zurückhaltung, einen finanziellen Beitrag zu leisten, sah Brentano aber kein Problem, weil aus dem Einzug der Kirchensteuer jeder nötige Betrag zur Verfügung stehen werde. Deshalb war die pekuniäre Frage seines Erachtens gut lösbar.
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Vgl. Bertram an Pacelli vom 1. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 129r–130r. Vgl. Pacelli an Bertram vom 3. Dezember 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 131r. Vgl. Haniel an Zech vom 15. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 132r. Vgl. zur Dotation im Bistum Mainz Aschoff, Staatsleistungen, S. 184f. Vgl. Notiz der Antwort Pacellis an Zech vom 17. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 133r. Vgl. Kaas an Pacelli vom 15. Dezember 1920, ASV, ANB 80, Fasz. 1, Fol. 44r–45r. Kaas an Pacelli vom 15. Dezember 1920, ASV, ANB 80, Fasz. 1, Fol. 44r. Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 23. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 141r–142r (nur r). 333
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Pacellis Berichterstattung an Gasparri und die Ernennung Hugos zum Koadjutor Weil nunmehr alle Voraussetzungen erfüllt waren, verfasste Pacelli am 18. Dezember in dieser Angelegenheit einen Nuntiaturbericht.1262 Er legte Gasparri dar, dass der amtierende Bischof von Mainz aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung nicht mehr fähig sei, sein Amt adäquat auszuüben, und merkte außerdem an, von verschiedenster Seite – von Klerus und Laien, aus Mainz und den übrigen Teilen Deutschlands – gebeten worden zu sein, Maßnahmen in die Wege zu leiten, um sobald als möglich eine angemessene Leitung der Diözese zu gewährleisten. Anschließend präsentierte Pacelli seinen Vorschlag, einen Koadjutor cum iure successionis zu installieren. Dieser barg seines Erachtens zwei Vorteile: Zunächst hätte der Koadjutor die nötige Freiheit, sich der Restauration des Bistums zu widmen, gerade dann, wenn Kirstein im Amt bliebe. Darüber hinaus würde vermieden, dass ein neuer Bischof durch das Domkapitel gewählt werde und der hessische Staat dabei seinen Einfluss geltend machen könne. Die schwierige Gehaltsfrage habe er – so Pacelli weiter – lösen können, indem er dem Reichsminister des Auswärtigen die aktuelle Situation der Mainzer Diözese genau auseinandergesetzt habe. Dieser habe seine „Andeutung“ sofort verstanden und eine Lösung der Problematik versprochen.1263 Pacelli spielte damit offenbar auf die französische Besetzung Hessens an und nutzte die Notlage der deutschen Regierung aus, die einen Mainzer Oberhirten, der Franzose oder zumindest frankophil eingestellt war und womöglich eine Abspaltung des Gebietes vom Deutschen Reich unterstützte, verhindern wollte. Pacelli hatte also einen „Tausch“ durchgesetzt, der darin bestand, dass der Heilige Stuhl einen „deutschen“ Koadjutor – der später Diözesanbischof wurde – ernannte, während sich die hessische beziehungsweise die Reichsregierung um die Bezahlung kümmerten. Auf diese Weise gelang es dem Nuntius, die Regierungsstellen in die Pflicht zu nehmen, obwohl die Zirkumskriptionsbulle Provida solersque eine staatliche Finanzierung von Koadjutoren nicht gewährleistete. Nachdem er dem Kardinalstaatssekretär das Vorhaben auf diese Weise schmackhaft gemacht hatte, kam Pacelli auf die Kandidatenfrage zu sprechen. Um die notwendigen Attribute des künftigen Ordinarius zu profilieren, machte er sich die Geschichtsinterpretation von Bendix zu eigen, 1262
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 18. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 2r–4v. Vgl.: „... egli comprese subito la mia allusione e mi promise senzʼaltro che la detta questione dellʼassegno sarebbe in ogni modo risoluta, come in realtà mi è stato confermato da notizia giuntemi posteriormente.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 3r. Gegenüber Gasparri betonte der Nuntius zudem, dass die Regierung, wenn schon keine juridische, so doch eine moralische Verpflichtung habe, für den Unterhalt des Koadjutors aufzukommen: „Del resto, sebbene nella Bolla di circoscrizione Provida solersque (16 Agosto 1821) non si parli, comʼè naturale, del Coadiutore, credo tuttavia che ben fondatamente possa affermarsi lʼobbligo, almeno morale, del Governo di corrispondere lʼassegno in discorso.“ Ebd., Fol. 3r-v. 334
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die im Anschluss an das leuchtende Vorbild Kettelers keinen weiteren Mainzer Oberhirten kannte, der die Diözese wieder aufzurichten vermochte. Auch der gegenwärtige Bischof habe aus gesundheitlichen Gründen den in ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprechen können. Aus dieser Situation ergebe sich das allgemeine Verlangen nach einem energischen und klugen Hirten, der die nötigen Reformen tatkräftig und klug umsetze. Ein solcher Hirte scheine Hugo zu sein, der von allen Seiten – Pacelli fügte für Gasparri die Gutachten bei und nannte auch die Unterstützung Faulhabers – geschätzt und für würdig befunden werde. Der Nuntius zeigte sich außerdem überzeugt, dass die Mainzer Domherren bei einer etwaigen Kapitelswahl ohnehin Hugo im Blickfeld hätten. Angesichts der Tatsache, dass der Domdekan den Namen des Speyerer Regens ins Spiel gebracht hatte, schien die Vermutung gewiss nicht grundlos. Allerdings hatte Pacelli mit den übrigen Domherren noch keinen Kontakt gehabt. Schließlich prognostizierte er, dass auch die Berliner Regierung keine Einwände erheben werde – der Zustimmung der hessischen Regierung war er sich angesichts seiner Verbindung zum Justizminister offenbar sicher. Grundsätzlich – so Pacelli weiter – sei die Kandidatenfrage jedoch sehr delikat. Denn den französischen Gesandten in München, Émile Dard, habe die Kenntnis, dass der Heilige Stuhl einen Koadjutor ernennen wolle, dazu veranlasst, ihm gegenüber das hohe Interesse der französischen Regierung in dieser Angelegenheit zu bekunden und den von der Kurie ins Auge gefassten Kandidaten zu erfahren. Natürlich – so Pacelli – habe er Dard keine Informationen zukommen lassen und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ihm dafür die römische Autorisation fehle. Pacelli verschwieg seinem Vorgesetzten allerdings, dass der Kontakt zu Dard von ihm selbst hergestellt worden war und er diesem versprochen hatte, die französischen Belange bei der Mainzer Besetzungsfrage zu berücksichtigen.1264 Nun schlug er Gasparri vor, „auf streng inoffiziellem Wege und aus reiner Höflichkeit
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Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 302–307. Wie Hans-Ludwig Selbach aus französischen Quellen herausarbeitet, hatte Pacelli bereits am 11. Oktober auf eigene Faust den französischen Gesandten aufgesucht, „um ihn auf die Notwendigkeit der Ernennung eines Koadjutors in Mainz hinzuweisen“. Ebd., S. 302. Dard bekundete bei diesem Anlass sein Interesse an einem frankophilen Kandidaten und bot sogar an, für die finanzielle Unterhaltung des Koadjutors aufzukommen. Pacelli deutete nämlich seinerseits an, dass die Reichsregierung dieselbe nicht leisten würde. Dem Nuntius muss man zugestehen, dass er Anfang Oktober noch nicht die definitive Zusage der Reichsregierung hatte, für die Bezahlung des Koadjutors aufzukommen. Doch zielten seine Absichten bereits auf diese Lösung. So ging es Pacelli also bei dieser Unterredung mit Dard zunächst einmal um einen diplomatischen Höflichkeitsakt, der zeigen sollte, dass der Heilige Stuhl die französischen Interessen nicht vergessen hatte. Folgerichtig suchte der Nuntius laut Selbach den Franzosen Mitte November erneut auf und gab dabei das Versprechen, „nach Rücksprache mit Generalvikar Bendix sich bezüglich der Nominierung eines Koadjutors mit den französischen Stellen abzustimmen und dem Heiligen Stuhl keinen Kandidaten vorzuschlagen, ohne Dard zu konsultieren“. Ebd., S. 305. Mitte Dezember nahm er schließlich diese Zusage wieder zurück und erklärte, Rom bitten zu wollen, die Kandidatenentscheidung dem französischen Gesandten mitteilen zu dürfen. Vgl. ebd., S. 307. Im Folgenden führte Pacelli diese Absicht aus. 335
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und indem man ausdrücklich jedwedes Recht ausschließt“1265, der Regierung Frankreichs eine Mitteilung über die angedachte Ernennung zu machen. Dadurch könnte sowohl eine Hypothek für die Wiederaufnahme der Beziehungen des Heiligen Stuhls mit Frankreich als auch die Gefahr vermieden werden, dass der neue Koadjutor sein Amt mit Anfeindungen und Beschuldigungen seitens der Besatzungsmacht antreten müsse. Geheimhaltung war für Pacelli sehr wichtig. Doch sollte die Berliner Regierung von einer solchen Mitteilung Kenntnis erlangen, sei – so vermutete er – ihre Missstimmung nur gering, weil es ihr doch lediglich darum gehe, dass der neue Koadjutor ein „deutsch“ gesinnter Prälat sei. Benedikt XV. stimmte Pacellis Überlegungen unumwunden zu. Nachdem Hugo am 29. Dezember noch das Nihil obstat des Heiligen Offiziums bekommen hatte, unterrichtete Gasparri den Nuntius am Folgetag darüber, dass der Papst den Regens zum Koadjutor cum iure successionis von Bischof Kirstein ernannt habe.1266 Der Kardinalstaatssekretär verpflichtete Pacelli, sowohl den Mainzer Oberhirten als auch die Reichsregierung davon in Kenntnis zu setzen. Dies sollte jedoch auf vertraulichem Wege geschehen, genauso wie die Durchführung des Informativprozesses. Was Papst und Staatssekretär allerdings nicht teilten, waren die Sorgen des Münchener Nuntius hinsichtlich der französischen Beziehungen. Da es sich nicht um die Besetzung einer Diözese in Frankreich handle, gebe es für die vorgeschlagene Benachrichtigung – sei sie offiziell oder inoffiziell – keinen Grund. Deshalb antwortete Pacelli auf Nachfrage der französischen Regierung am 5. Januar 1921, dass ihm der Heilige Stuhl verweigert habe, den Namen des Koadjutors vor der offiziellen Bekanntgabe mitzuteilen.1267 Die Franzosen mussten sich also bis zur amtlichen Veröffentlichung gedulden.
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„... in via strettamente privata e per pura cortesia, escludendo espressamente qualsiasi diritto ...“ Pacelli an Gasparri vom 18. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 4v. Vgl. Notiz vom 28. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 9r; Perosi an Cerretti vom 29. Dezember 1920, ebd., Fol. 8r; Gasparri an Pacelli vom 30. Dezember 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 143rv. Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 307. Nach Stehlin habe Pacelli auf die französische Regierung Druck ausüben wollen, wieder diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl anzuknüpfen, indem er ihr den Namen Hugos vor der amtlichen Publikation nicht mitgeteilt und so Einflussmöglichkeiten auf die Personalentscheidung verwehrt habe. Vgl. Stehlin, Weimar, S. 178. Vgl. auch Selbach, Katholische Kirche, S. 307f., 312. Diese These erscheint aber nicht plausibel, wenn man bedenkt, dass 1. Pacelli von Rom aus verwehrt wurde, eine solche Mitteilung zu machen, es also nicht zu seiner Strategie gehörte; 2. Frankreich auch bei voll entfalteten diplomatischen Kontakten zum Heiligen Stuhl zumindest keinen formalen Einfluss auf die Besetzung einer deutschen Diözese hätte geltend machen können und 3. Pacelli die Wünsche Frankreichs sogar in der Kandidatenfindung berücksichtigte, indem er die Kandidatur Hil336
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Die verspätete Reaktion des Mainzer Domkapitels und der Wunschkandidat Ludwig Kaas Bevor Pacelli von der päpstlichen Ernennung Hugos Kenntnis erhielt, hatte er aus dem bereits genannten Schreiben des Domdekans vom 20. Dezember 1920 erfahren, dass sich der Gesundheitszustand Kirsteins seit Ende November weiter verschlechterte. Daher hielt Bendix den Wunsch für gerechtfertigt, die Neuordnung des Mainzer Bistums rasch durchzuführen, bevor der Zustand des Bischofs kritisch werde. Er ging davon aus, dass weder das Domkapitel noch die hessische Regierung gegen die Einsetzung eines Koadjutors opponieren würden. Mit Hessen seien vorerst auch keinerlei Verhandlungen zu führen – er selbst werde sich darum kümmern, sobald ihm die nötigen Informationen über die Einsetzung Hugos vorlägen. Der Nuntius bedankte sich wenige Tage später, dass Bendix im November zur Audienz erschienen war, welche „die so vorteilhafte Klärung der Lage der Diözese Mainz brachte“1268. Ob das Mainzer Domkapitel die „Klärung der Lage“ durch Pacelli und Bendix ebenso „vorteilhaft“ bewertete, steht auf einem anderen Blatt. Überhaupt hatte der Dekan seine Kollegen über die Unterredung mit dem Nuntius bislang im Dunkeln gelassen. Diese wussten lediglich von den Gerüchten um die Bestellung eines Koadjutors für ihre Diözese. Brentano hatte dem Nuntius gegenüber am 29. September behauptet, dass Bendix der Rückhalt des Domkapitels fehlte1269 und auch Pacelli war sich bewusst, dass sich gegen den Domdekan „aufgrund einiger Eigenheiten seines Charakters“1270 Widerstände regten. Diese reichten so weit, dass sich drei Domkapitulare – Joseph Becker, Josef Engelhardt und Georg Lenhart – zu Beginn des neuen Jahres an Bendix vorbei mit einer ausführlichen Denkschrift an Pacelli wandten.1271 Sie äußerten die Befürchtung, dass der Berichterstattung Bendixʼ „nicht jene ruhig abwägende Sachlichkeit und Allseitigkeit eignet, die
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frichs fallen ließ und Hugo unterstützte (vgl. dazu das Folgende). Das Handeln des Münchener Nuntius war also weniger eine Ausübung von Druck, als vielmehr ein ungeschuldetes Entgegenkommen, um die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Frankreich zu entspannen. Folgerichtig wurde Pacellis Haltung von französischer Seite durchaus als „profranzösisch“ eingeschätzt. Vgl. Süss, Rheinhessen, S. 146–148, hier 147. Pacelli an Bendix vom 23. Dezember 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 140r. In diesem Schreiben unterrichtete er den Domdekan auch von den Neuigkeiten zur Finanzierung des Koadjutors und merkte an, dass ein Beitrag aus den Kirchensteuermitteln wohl nicht nötig sein werde. Vgl. Brentano an Pacelli vom 29. September 1920, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 38v. Vgl.: „Gli affari della diocesi sono trattati dal Vicario generale e decano del Capitolo cattedrale, Revmo Ludovico Bendix, ecclesiastico di grande perizia ed abilità, ma anche non gode per alcune singolarità del suo carattere le simpatie di molti.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Dezember 1920, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 2r-v. Vgl. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 144r–149r. 337
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uns in einer so bedeutungsvollen und folgenschweren Angelegenheit unerlässlich erscheint“1272. Auch glaubten die Domherren nicht, dass der Dekan ihre Position, die nur auf das Wohl der Diözese gerichtet sei, vertrete. Sie monierten, dass dieser ihnen keinerlei Informationen geliefert habe, weder über die Relation, die er damals für Pacelli angefertigt habe, noch über die Audienz in München. Daher sei – so die Verfasser – „zu befürchten, dass Herr Domdekan in seiner Vertretung der Rechte und Pflichten des Kapitels, das Kollegium als solches nicht nur tatsächlich übergeht, sondern aus irgendeinem Grunde absichtlich auszuschalten versucht“1273. Dies bewege sie dazu, Pacelli ihre Auffassung zur aktuellen Lage vorzutragen. Wie beurteilten die drei Domherren die anstehende Neubesetzung des Bischofsstuhls? Zunächst begrüßten sie, „dass das zukünftige Oberhaupt des Bistums uns dem Anschein nach durch die Gnade des Apostolischen Stuhles direkt gegeben werden soll“, denn „jene Einigkeit, die eine Grundvoraussetzung zur Tätigung einer gottgesegneten Bischofswahl“1274 sei, fehle dem Domkapitel derzeit.1275 Sie waren demnach ebenso wie Bendix bereit, freiwillig auf das Wahlrecht zu verzichten und glaubten, dass nur ein Bischof, der das Vertrauen des Heiligen Stuhls genoss, in der Diözese von allen wohlgesonnen aufgenommen werden konnte. Daher hielten sie es für ein Werk der Providenz, dass durch die politischen Umwälzungen eine größere Freiheit in der Kandidatenfindung eingetreten sei, insofern der neue Bischof nicht mehr dem heimischen Diözesanklerus entstammen musste, wie es Ad dominici gregis noch vorgeschrieben hatte. Ob es im Mainzer Sprengel taugliche Kandidaten für das fragliche Amt gab, wollten sie nicht ungefragt beantworten und baten diesbezüglich lediglich, dass Pacelli nicht nur auf die Meinung des Domdekans höre. Die nunmehr mögliche Ernennung eines auswärtigen Kandidaten hielten die drei Domherren
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Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 145r. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 145v. Im späteren Verlauf des Schreibens versicherten die Domkapitulare dann allerdings, dass es lediglich sachliche Gründe seien, die sie von Bendix trennen und sie seine Verdienste um das Bistum Mainz anerkennen würden. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 145v. Nach dem Gesagten überrascht nicht, dass sie Bendix als Quelle der Spaltungen ausmachten: „Leider haben diese Dissonanzen im Kapitel, die seit Jahren von der Mehrheit des Diözesanklerus tief beklagt werden, ihren Grund in der eigentümlichen Veranlagung des Herrn Domdekans, seiner geringen Einschätzung anderer und ihrer Arbeit, vor allem aber in dem von ihm höchst einseitig und mit starrer Energie und Beharrlichkeit vertretenen sog[enannten] Integralismus, der ihm höchster Maßstab zur Beurteilung auch hochgestellter und nach allgemeiner Überzeugung segensreich wirkenden Persönlichkeiten ist. Wenn auch in dem Kapitel der wirkliche Anhang des Herrn Domdekans eine Minderheit, im Klerus der Diözese sogar eine verschwindende, leicht zählbare Minderheit bildet, so wäre doch unter diesen Umständen eine einmütige, versöhnliche Bischofswahl kaum zu erwarten. Vielmehr wäre eine Verschärfung und Vertiefung der Gegensätze zu befürchten.“ Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 145v–146r. 338
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ohnehin für die bessere Variante.1276 Offensichtlich ohne es zu wissen, stimmten sie Bendix auch in dieser Forderung zu. Vielleicht fürchteten sie sogar, dass Bendix seine eigene Kandidatur beim Nuntius betrieb und votierten deshalb für einen Geistlichen von außerhalb. Als Beweis für ihr „rein sachliches Interesse“1277 legten sie Pacelli drei Namen vor, die sie als taugliche Persönlichkeiten ins Auge fassten: 1) Sie favorisierten Ludwig Kaas, von dem Brentano schon Ende September gesagt hatte, er werde in Mainz als geeigneter Nachfolger Kirsteins gehandelt. Der Zentrumsprälat sei durch sein Wirken im Reichstag und der Trierer Bistumsleitung weitreichend positiv aufgefallen. Er besitze alle Eigenschaften, um diese schwierige Zeit des Bistums als Nachfolger des heiligen Bonifatius und Bischof Kettelers zu meistern. Deshalb baten die Verfasser „dringend, die Aufmerksamkeit des h[eiligen] Vaters auf diesen vielversprechenden Priester zu lenken“1278, der angesichts seines mittleren Alters – Kaas war in diesem Jahr 40 Jahre alt – der Diözese lange erhalten bleiben könnte. 2) Als nicht ganz ebenbürtige Alternative benannten sie den Regens des Fuldaer Priesterseminars, Christian Schreiber: „Hervorragend in priesterlicher Tugend und Wissenschaft, bewährt in öffentlicher Vertretung der Rechte der Kirche und des katholischen Volkes würde“ auch dieser „eine Zierde des Mainzer Bischofsstuhles“1279 sein. 3) Der letzte Vorschlag entfiel auf den Konstanzer Pfarrer Conrad Gröber, der ebenfalls mit ausgezeichneten Eigenschaften ausgestattet und bei der kürzlichen Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls ein ernsthafter Kandidat gewesen sei.1280 Zwar hätte es nahegelegen, auch an einen Kandidaten aus dem benachbarten Bayern zu denken, doch seien die Unterschiede in den politischen Verhältnissen, diözesanen Problemen, Methoden der Seelsorge und der Lebensart so gravierend, dass die Domherren davon absahen. Entgegen dem Anschein war die Initiative der drei Mainzer Domkapitulare, dem Nuntius die eigenen Kandidatenwünsche darzulegen, letztlich gar nicht von ihnen selbst ausgegangen. Vielmehr hatte Kaas anlässlich eines Besuchs in Mainz gegenüber dem ihm langjährig bekannten Domkapitular Becker seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass das Kapitel nicht bei Pacelli 1276
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Sie erinnerten den Nuntius daran, dass schon häufiger von auswärts stammende Bischöfe segensreich für die Diözese gewirkt hätten, so etwa der Straßburger Joseph Ludwig Colmar zu Beginn und der Münsteraner Wilhelm Emmanuel von Ketteler in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 147r. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 147r. Becker, Engelhardt, Lenhart an Pacelli vom 1. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 147v. Einen tatsächlich „ernsthaften“ Kandidaten neben Karl Fritz gab es beim angesprochenen Freiburger Besetzungsfall eigentlich nicht. Bei der Erzbischofswahl vom 6. September 1920 erhielt Gröber aber immerhin eine Stimme. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.1 (Die Wahl des neuen Erzbischofs). 339
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vorstellig geworden war, sondern Bendix das Feld allein überlassen hatte. So berichtete es der Trierer Prälat in einem Schreiben an den Nuntius vom 7. Januar.1281 Der greise Becker habe diese Passivität damit begründet, dass Bendix eine solche Einmischung für rechtlich unzulässig erklärt habe. Von Kaas über die Haltlosigkeit dieser Behauptung belehrt, sei Becker klar geworden, dass der Domdekan um des größeren Einflusses auf die Apostolische Nuntiatur willen so gehandelt habe. Das Kapitel glaube – so Kaas –, dass Hugo neben Weihbischof Mönch aus Trier der Kandidat sei, den Bendix unterstütze. Und damit hatten sie offenkundig recht behalten. Kaas wusste zwar um den Stand der Personalfrage, durfte aber Becker nicht darüber unterrichten. Wie stand das Kapitel zum Speyerer Regens? „In diesem Zusammenhang erklärte mir dann Dr. Becker, jeder von Dr. Bendix vorgeschlagene Kandidat sei schon aus diesem Grunde allein unmöglich, weil B[endix] niemand vorschlage, den er später nicht zu beherrschen hoffe. Dr. Hugo sei integral und jedenfalls aus diesem Grunde Bendix erwünscht.“1282 Damit Pacelli umfassend über die Mainzer Stimmungen im Bilde sei, habe er – so der Prälat abschließend – Becker geraten, sich schriftlich an die Nuntiatur zu wenden. Er habe nämlich „nicht den Eindruck aufkommen lassen“ wollen, „als ob Herr Dr. Bendix allein das Ohr E[hrwürdiger] Exzellenz habe“1283. Kaas übermittelte Pacelli schließlich noch einen Brief, der dieselbe Intention wie die gemeinsame Bittschrift verfolgte, aber nur den Namen Engelhardt als Absender trug.1284 Er übte harte Kritik an Bendixʼ integralem Habitus, seiner strikten Ablehnung des politischen Katholizismus und seiner Ignoranz gegenüber dem Kapitel. Kaas, dessen enge Verbindung zum Nuntius natürlich bekannt war, sollte die Nuntiatur über den Domdekan umfassend in Kenntnis setzen, „damit jeder Vorschlag in der Kandidatenfrage dem gebührenden Misstrauen begegnet“1285. Mit Besorgnis und „Schrecken“ werde im Kapitel vermutet, dass Bendix dem Nuntius eine Persönlichkeit wie Hugo nahegelegt und „zugleich die Meinung beigebracht hätte, dieselbe besitze auch das Vertrauen des Kapitels“1286. Engelhardt verhehlte nicht, dass man ihn – Kaas – viel lieber auf dem Mainzer Bischofsstuhl sähe und beschwor ihn, den Posten anzunehmen, sollte ihn der Papst dorthin berufen. Der Eindruck scheint nicht aus der Luft gegriffen, dass Kaas seine eigene Kandidatur unterstützen wollte, als er die Domkapitulare dazu anhielt, ihre Vorstellungen gegenüber Pacelli zu äußern, und später das Schreiben Engelhardts weiterleitete. Um diesem Verdacht einen Riegel
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Vgl. Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 155r–156r. Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 155v. Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 155v–156r. Vgl. Engelhardt an Kaas vom 4. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 152r–153v. Engelhardt an Kaas vom 4. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 152v. Engelhardt an Kaas vom 4. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 153r. 340
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vorzuschieben, beschloss er seinen Brief an den Nuntius vom 7. des Monats mit dem Hinweis, dass er es – wie schon häufig betont – entschieden ablehne, „Verantwortungen von solcher Schwere“ auf seine „schwachen Schultern zu laden“1287. Am 7. Januar traf die Bittschrift der Domkapitulare – dieses Gemisch aus Beschwerde und Kandidatenwerbung – in der Nuntiatur ein. Pacelli stand nun vor der Aufgabe, seine Personalentscheidung, die genau dem entsprach, was die Domherren als „Schreckensszenario“ gezeichnet hatten, zu rechtfertigen. Er antwortete am gleichen Tag und wies Domkapitular Becker stellvertretend für die drei Absender darauf hin, dass der Papst bereits einen Koadjutor ernannt habe, ihre Vorschläge also zu spät kamen.1288 Es glich gewissermaßen einer captatio benevolentiae, als Pacelli lobend fortfuhr, dass ihre Überlegungen zur Personenfrage nicht abwegig seien. Er selbst habe ihren Favoriten Kaas als neuen Koadjutor in Erwägung gezogen, dessen hervorragende Qualitäten ihm bekannt seien. Jedoch sei es nicht möglich, ihn von seinen für die gesamte deutsche Kirche so wichtigen Diensten abzuziehen. Damit meinte Pacelli sicherlich nicht nur seine Aufgaben als Zentrumsabgeordneter im Reichstag, sondern auch die Beratertätigkeit für ihn persönlich, die er angesichts der anstehenden Konkordatsverhandlungen nicht missen wollte. Gleicherweise sei auch Schreiber aus Fulda in der engeren Auswahl gewesen, der jedoch für seinen Ordinarius nicht zu ersetzen sei. Diese Begründung erscheint allerdings als vorgeschoben, wenn man bedenkt, dass der Nuntius fast zeitgleich dafür sorgte, Schreiber auf den Meißener Bischofsstuhl zu setzen.1289 Offensichtlich bezweckte Pacelli mit dem Lob auf ihre Kandidatenempfehlungen, die Reaktion der Domherren auf die unliebsame Neuigkeit, mit der er schließlich herausrücken musste, abzufedern: Der Heilige Vater habe sich letztlich entschieden, Hugo zu nominieren. Logischerweise verriet Pacelli nicht, dass er nur diese eine Personalie in Rom vorgeschlagen hatte und ihr Urheber niemand anders als Bendix war, sondern begründete den Entschluss stattdessen mit den äußerst günstigen Urteilen Faulhabers, Sebastians und weiterer Welt- wie Ordenskleriker: „Es lässt sich darum mit festem Vertrauen von der Person des Ernannten erwarten, dass er allgemein gut aufgenommen und ein segensvolles Wirken für die Diözese Mainz entfalten wird.“1290 Mit dem Hinweis, dass Hugo aus der Rheinpfalz stammte, wies Pacelli die Sorge der Domherren vor einem bayerischen Kandidaten zurück. Er schloss sein Schreiben mit der Anweisung, die Ernennung Hugos vorerst noch sub secreto zu behandeln.
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Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 156r. Vgl. zum Bischofskandidaten Kaas unter anderem Bd. 2, Kap. II.1.7 Anm. 129. Vgl. Pacelli an Becker vom 7. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 154rv. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.1 (Votum für Schreiber und ‚Tausch‘ mit dem Staat: Pacellis Bericht für Gasparri). Pacelli an Becker vom 7. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 154v. 341
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Die Bekanntmachung der Ernennung Hugos, der Informativprozess und die Sorge vor dem künftigen Einfluss des Domdekans Bendix hatte es also geschafft, seinen Kandidaten gegen den Willen des Kapitels beim Nuntius durchzusetzen. Daran war für Pacelli praktisch nichts mehr zu ändern, selbst wenn er es gewollt hätte. Wie wäre das der Kurie gegenüber zu vertreten? Immerhin hatte er Gasparri gegenüber bereits behauptet, Hugo sei ein Favorit des gesamten Domkapitels. Um den prinzipiell schon vorprogrammierten Schwierigkeiten zu begegnen, die daraus resultieren mussten, gab Kaas dem Nuntius zwei Empfehlungen: Zum einen sei es sinnvoll, die Mainzer Domkapitulare davon zu überzeugen, „dass unter keinen Umständen an eine Konservierung des in Mainz ungeheuer verhassten Regiments Bendixʼ gedacht wird“1291. Ob sich Hugo gegen Bendix profilieren könne, bleibe abzuwarten und „würde immerhin noch nachzuprüfen sein“1292. Zum anderen sei Vorsorge zu treffen, dass er das Amt des Generalvikars nicht behalte. Wie Pacelli die Verhältnisse im Mainzer Domkapitel genau beurteilte, muss letztlich offen bleiben. Jedenfalls gab er dem Domdekan in einer Audienz Anfang Januar den Auftrag, sowohl dem kranken Bischof als auch dem Kapitel die Entscheidung des Papstes mitzuteilen. Die von Bendix am 10. Januar geplante Unterredung mit Kirstein, habe – so berichtete er dem Nuntius wenig später –, aufgrund dessen akuter gesundheitlicher Verschlechterung ausfallen müssen.1293 Die zweite Anweisung habe er jedoch am 11. Januar ausgeführt. Die Kapitulare hätten die Nachricht „zustimmend“1294 aufgenommen, was angesichts der Klagen von Becker und seiner Kompagnons nicht glaubhaft ist.1295 Vielleicht wunderte sich Bendix auch einfach, dass die Domkapitulare von der Neuigkeit nicht überrascht waren – er wusste ja nicht, dass einige von ihnen mit Pacelli korrespondiert hatten und inoffiziell bereits von der päpstlichen Nomination unterrichtet worden waren. Pacelli hatte Bendix schließlich noch aufgetragen, die hessische Regierung über die strukturelle Veränderung in der Diözesanleitung in Kenntnis zu setzen, was der Domdekan am 14. Januar beim Zuständigen für die katholischen Angelegenheiten im Ministerium des Innern, Ministerialdirektor Daniel Lorbacher, erledigte. Was Bendix hier nicht erfuhr, war, dass sowohl die hessische als auch die Reichsregierung von der Ernennung Hugos unangenehm überrascht waren.1296 Sie
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Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 156r. Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 156r. Vgl. Bendix an Pacelli vom 16. Januar, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 164r–165r. Bendix an Pacelli vom 16. Januar, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 164v. So wurde nach Hermann-Josef Braun das „Befremden“ der Domherren zu Protokoll gegeben, „daß das Domkapitel ohne gehört worden zu sein, vor eine vollendete Tatsache gestellt worden sei“. Braun, Bistum, S. 1149. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch Lenhart, Kirstein, S. 187f. Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 306. 342
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rechneten wohl fest mit der Einsetzung Hilfrichs, über dessen Kandidatur sie Pacelli bei seiner Berlinreise Anfang November informiert hatte. Bendix berichtete dem Nuntius lediglich von seinem Eindruck, dass man von Regierungsseite diesem Schritt keine Steine in den Weg legen wolle. Dieselbe Reaktion erwartete Bendix auch von der französischen Regierung. Zwar war auch er überzeugt, dass ein französischer Rechtsanspruch auf eine irgendwie geartete Einflussnahme nicht bestand. Dennoch sollte seiner Ansicht nach jedweder Anlass zu Konflikten vermieden werden. Gefahr bestehe hier aber nicht, weil die von französischer Seite angelegten Kriterien: kein Preuße, kein deutscher Universitätsprofessor und kein auf einer deutschen Universität Ausgebildeter – es blieb also die Ausbildung in einem Priesterseminar oder in Rom übrig –, auf Hugo zuträfen.1297 Dass Pacelli auf Hugo umgeschwenkt und auf die Kandidatur Hilfrichs verzichtet hatte, war offensichtlich nicht nur dem Zweifel an dessen diplomatischem Umgang mit der Besatzungsmacht geschuldet, sondern ebenso der Tatsache, dass dieser Preuße und allein schon deshalb der französischen Seite non grata war.1298 Genau wie der Nuntius Dard zugesagt hatte, nahm er die Anliegen Frankreichs in der Kandidatenentscheidung ernst. Für die Mainzer Domkapitulare war nicht mehr daran zu rütteln, dass ein Kandidat des Domdekans die Fäden der Bistumsleitung in die Hand bekommen sollte. Es blieb ihnen lediglich die Möglichkeit, den zukünftigen Oberhirten vor dem Einfluss Bendixʼ zu warnen. Dieses Ziel verfolgte Domkapitular Becker in seiner Antwort vom 14. Januar auf die inoffizielle Ernennungsanzeige des Nuntius von einer Woche zuvor.1299 Zwar war Hugo durch die päpstliche Nomination gewissermaßen immunisiert, sodass Becker auch im Namen von Lenhart und Engelhardt versicherte, „dass wir dem Erkorenen des Heiligen Vaters dienen werden, da wir fest überzeugt sind, dass die Weisheit und väterliche Liebe des Heiligen Vaters uns einen frommen und seeleneifrigen, klugen und starken Oberhirten gegeben hat.“1300 Sollte aber der Domdekan auf den neuen Koadjutor einen ähnlichen Einfluss gewinnen wie auf Bischof Kirstein und so die Missstände der Diözese keine Aussicht auf Besserung haben, „dann sähe sich der Klerus wieder um eine Hoffnung betrogen, die durch die bevorstehende Änderung der Dinge zur Zeit befreiend in ihm aufwächst“1301. Um dem vorzubeugen, war es sein Wunsch, dass Pacelli den Speyerer Regens in adäquater Form 1297
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Bendix war über die französischen Interessen gut unterrichtet, da er intensive Kontakte zur französischen Besatzungsmacht unterhielt. Vgl. Selbach, Katholische Kirche, S. 300. Vgl. zur französischen Unterstützung Hugos ebd., S. 305f.; Reimer, Rheinlandpolitik, S. 197. Ebenso urteilt Selbach, dass Frankreich über eine Nomination Hilfrichs „mit ziemlicher Sicherheit verstimmt gewesen [wäre] und … ein antifranzösisches Manöver des Vatikans vermutet [hätte]“. Selbach, Katholische Kirche, S. 306. Becker an Pacelli vom 14. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 162r–163r. Becker an Pacelli vom 14. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 162r. Becker an Pacelli vom 14. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 162v. 343
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über Bendix unterrichte und Hugo davon abrate, jenen in seinem Amt als Generalvikar zu bestätigen. Diese Bitte brachte Pacelli in Verlegenheit. Weil er in einem Antwortschreiben „auf die Frage – Dr. Bendix nicht gut eingehen kann“1302, bat er Kaas, für ihn ein solches zu entwerfen, in der Hoffnung, dass der Trierer Prälat, der besser als er über den Domdekan bescheid wisse, beruhigend auf die Domkapitulare einwirken könne. Seines Erachtens musste die Entgegnung jedoch von sehr allgemeiner Natur sein. Nachdem das Domkapitel über die Entscheidung Benedikts XV. informiert war, stand die Durchführung des Informativprozesses auf der Agenda. Diese Aufgabe subdelegierte Pacelli an den Speyerer Bischof Sebastian, übersandte ihm einen Musterprozess und bat, die Ernennung Hugos noch vertraulich zu behandeln.1303 Der Beauftragte führte den Prozess am 19. Januar durch und sandte die Dokumente zwei Tage später zurück.1304 Über die Nomination Hugos informierte der Nuntius schließlich auch den Metropoliten sowie den Seniorbischof der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Erzbischof Karl Fritz von Freiburg und Bischof Paul Keppler von Rottenburg.1305 Darüber hinaus brachte er sie dem Limburger Bischof Kilian zur Kenntnis und erklärte dabei, dass man auf Hilfrich – für den Kilian sich sehr eingesetzt hatte – „aus verschiedenen Gründen“1306 habe verzichten müssen. Der Wiesbadener Pfarrer sei allerdings für eine äquivalente Stelle in Aussicht genommen.1307 Damit stellte Pacelli klar, dass nicht die Person Hilfrichs, sondern die Umstände in Mainz für den gegenteiligen Entschluss ausschlaggebend gewesen waren. Die Neuigkeit der Ernennung Hugos zum Koadjutor und künftigen Bischof von Mainz verbreitete sich rasch und Hugo selbst hatte sie spätestens zu dem Zeitpunkt erfahren, als Bischof Sebastian ihn zum Informativprozess vorlud. Ausführlich unterhielt sich der Seminarregens mit Kaas in Trier über seine Erwählung, die ihn – wie er Pacelli am 22. Januar gestand – „fast ganz niedergeschmettert hat“1308. Kaas hatte ihn offensichtlich, der Bitte Beckers entsprechend, über die Spannungen in Mainz informiert und ihm nahegelegt, vor Amtsantritt den Nuntius
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Pacelli an Kaas vom 18. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 168r. Vgl. Pacelli an Sebastian vom 12. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 157rv. Vgl. Informativprozessunterlagen vom 19. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 170r–196r; Sebastian an Pacelli vom 21. Januar 1921, ebd., Fol. 203rv. Vgl. Pacelli an Fritz und Keppler vom 12. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 158r. Pacelli an Kilian vom 13. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 159r. Damit meinte Pacelli den Posten des Apostolischen Vikars von Sachsen und Administrators der Lausitz beziehungsweise des Bischofs von Meißen, welches Bistum man zu diesem Zeitpunkt bestrebt war, wiederzuerrichten. An Hilfrichs Stelle wurde letztlich jedoch Christian Schreiber zum Bischof von Meißen ernannt. Vgl. dazu Bd. 4, Kap. II.4.1 (Ein Einflussversuch der sächsischen Regierung und die Endphase von Pacellis Kandidatensondierung). Hugo an Pacelli vom 22. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 204rv, hier 204r. 344
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um eine Audienz zu ersuchen. Hugo kam der Empfehlung nach und erbat von Pacelli eine Besprechung, um „sehr wertvolle Weisungen“1309 zu erhalten. Pacelli lud ihn nach München ein und entgegnete zuversichtlich, dass Hugo die besonders schwierige Situation der Mainzer Diözese, die „gegenwärtig einer besonders kräftigen Hand bedarf “1310, erfolgreich beeinflussen werde. Da die Weisung des Kardinalstaatssekretärs vom 30. Dezember des Vorjahres mittlerweile vollständig ausgeführt war, berichtete Pacelli am 25. Januar wieder nach Rom.1311 Er übersandte die Unterlagen des Informativprozesses und bat Gasparri um eine möglichst zügige Abfassung der Ernennungsbullen, weil die gesundheitliche Situation Kirsteins zunehmend problematischer werde. Im Hintergrund stand anscheinend auch die Sorge, dass das Projekt Koadjutor noch im letzten Moment scheitern könnte, wenn der Bischof starb, bevor Hugo offiziell das Amt bekleidete. Auch sollte Hugo seiner Ansicht nach sofort – über die Befugnisse eines Koadjutors hinaus – die vollständige Leitung der Diözese anvertraut werden, während Kirstein den Titel des Diözesanbischofs mit den dazugehörigen Einkünften behalten könne. Der Nuntius berichtete außerdem, dass er den beteiligten Personen die Nachricht der Ernennung mitgeteilt habe. Obwohl er dabei auf einer strengen Geheimhaltung insistiert habe, sei die Maßnahme des Heiligen Stuhls bis in die Zeitungsberichterstattung durchgesickert.1312 Auch die französische Regierung in Person des Gesandten Dard habe erneut versucht, bei ihm an interne Informationen zu gelangen. Laut eigener Aussage hatte Pacelli alle Versuche mit der Bemerkung zurückgewiesen, zu keinerlei Mitteilungen autorisiert zu sein. Dass rechtlich kein Anspruch darauf bestehe, habe Dard schließlich auch zugegeben. Dennoch seien – so Pacelli mit Blick auf Gasparris Instruktion, Frankreich nicht einzubeziehen – seine Sorgen um ein gutes Auskommen zwischen der französischen Besatzungsmacht und dem neuen Koadjutor nicht unbegründet gewesen. Da der „mit aller Vorsicht“1313 ausgesuchte Hugo jedoch ein Kandidat sei, der dem von Frankreich favorisierten Profil – Pacelli schilderte die Kriterien, die Bendix ihm am 16. Januar genannt hatte – entspreche, könne man keine ernsthaften Schwierigkeiten erwarten. Der Kardinalstaatssekretär äußerte sich zu diesem Thema nicht mehr. Stattdessen sicherte er Pacelli am 4. Februar lediglich eine zügige Anfertigung der Ernen1309 1310 1311
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Hugo an Pacelli vom 22. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 204v. Pacelli an Hugo vom 25. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 208r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 25. Januar 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 11r–12v. Pacelli verwies hier auf die „Augsburger Postzeitung“ sowie die „Kölner Volkszeitung“, die am 23. beziehungsweise 24. Januar jeweils über die bevorstehende Ernennung Ludwig Hugos zum Koadjutor einen Artikel veröffentlichten. „… con ogni precauzione …“ Pacelli an Gasparri vom 25. Januar 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 12v. 345
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nungsbullen durch die Konsistorialkongregation zu, der er zwei Tage zuvor eine entsprechende Anweisung gegeben hatte.1314 Der einzige, der bislang vom neuen Koadjutor noch nichts wusste, war Bischof Kirstein selbst. Am 26. Januar bot sich Bendix endlich eine Gelegenheit, dem Oberhirten davon zu unterrichten. Wie er dem Nuntius anschließend schrieb, habe Kirstein diese Information „ohne allzu große innere Erregung entgegen genommen“1315. Was Bendix darüber hinaus beschäftigte, war die Frage der Indiskretion. Zwar sei es ihm anfänglich ein Rätsel gewesen, woher die Zeitungen von der Novität wissen konnten, jedoch sei ihm dann klargeworden, dass einige Domkapitulare, die in Verbindung mit Kaas stünden, die Ursache dafür seien. Das heimische „Mainzer Journal“ habe er selbst informiert, als er gesehen habe, dass die auswärtige Presse schon darüber berichte.1316 Für ihn persönlich sei die Indiskretion in hohem Maße peinlich, für die Sache selbst schädlich. Nun bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich auch mit Hugo in Verbindung zu setzen. Auch Pacelli wollte nicht, dass die Öffentlichkeit schon frühzeitig von der Ernennung Hugos erfuhr. Daher hatte er – offensichtlich vergeblich – die Domkapitulare am 7. Januar auf das secretum Pontificium verpflichtet. Darüber hinaus war eine weitere Quelle, aus der die Neuigkeit in die Öffentlichkeit gelangte, Speyer gewesen: Unmittelbar nach dem Abschluss des Informativprozesses am 19. Januar war in Speyer bereits ein Nachfolger für den Regens gesucht worden.1317 In seiner Antwort an Bendix vom 29. Januar ging der Nuntius nicht weiter auf diese Sache ein, sondern bedankte sich lediglich, dass der Domdekan seine Anweisungen ausgeführt habe.1318 Zwei Tage später verfasste er das heikle Schreiben an Domkapitular Becker, das – wie er angekündigt hatte – einer allgemeinen Form folgte und geschickt das Thema Bendix umschiffte.1319 Es sprach lediglich von der Überzeugung, dass Hugo sich umfassend über die Mainzer Umstände informieren werde und es für Becker natürlich auch die Möglichkeit gebe, seine Besorgnisse mit dem neuen Koadjutor zu erörtern.
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 4. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 216rv; Gasparri an De Lai vom 2. Februar 1921 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1920, Pos. 1726, Fasz. 906, Fol. 13r–14v. Bendix an Pacelli vom 26. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 211rv, hier 211r. Dem Klerus und Volk der Diözese zeigte Bendix offiziell am 14. März im Amtsblatt die Ernennung Hugos zum Koadjutor mit Nachfolgerecht an. Vgl. „An die hochwürdige Geistlichkeit und die Gläubigen des Bistums“ vom 14. März 1921, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 2 vom 14. März 1921. Vgl. Hugo an Pacelli vom 3. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 215rv. Vgl. Pacelli an Bendix vom 29. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 212r. Vgl. Pacelli an Becker vom 31. Januar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 213r. 346
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Tatsächlich war Hugo daran gelegen, die Verhältnisse in Mainz zu durchschauen. Dem Nuntius kündigte er an, angesichts der gespannten Lage dorthin reisen zu wollen, um sich vor Ort ein Bild zu machen.1320 Er plante anschließend, am 14. Februar, Pacelli zur angesprochenen Audienz aufzusuchen. Dieser bestätigte den von Hugo vorgeschlagenen Termin für die geplanten Instruktionen.1321 Allerdings sollte Hugo nicht vorher nach Mainz reisen, sondern erst hinterher. Pacelli hielt es offensichtlich für nötig, den Ernannten zuerst über die tiefen Diskrepanzen innerhalb des Domkapitels zu instruieren, bevor dieser von einer der beteiligten Parteien ideell geimpft würde. Erst nach der Unterredung in der Münchener Nuntiatur1322 begab sich Hugo also nach Mainz, anschließend auch nach Darmstadt, dem hessischen Regierungssitz. Die beiden letzten Stationen schilderte er Pacelli am 28. Februar.1323 In Mainz hätte Hugo gerne mit den Domkapitularen Einzelgespräche geführt, was Bendix jedoch verhindert habe, indem er ein gemeinsames Treffen aller bei ihm zu Hause organisierte. Hugo qualifizierte die Atmosphäre, in der die wichtigen Angelegenheiten besprochen worden seien, als freundschaftlich, „nur der peinliche Punkt wurde nicht berührt“1324. Dieser sei erst in der anschließenden Unterredung mit Bendix allein zur Sprache gekommen. Dabei habe der Dekan auf der Haltlosigkeit des „Gerede[s] über einen Zwiespalt in der Mainzer Diözesanleitung“1325 insistiert. Angesichts dessen glaubte Hugo, dass Bendix unbedingt Generalvikar bleiben wolle. Offenbar hatte ihm Pacelli vorher davon abgeraten – in Entsprechung der Bitte Beckers –, ihn im Amt zu bestätigen. Durch dieses Gespräch sei in ihm schließlich – so Hugo weiter – die Sorge gereift, dass die exponierte Stellung des Domdekans aus dem Mangel an fähigen Arbeitskräften innerhalb des Mainzer Klerus resultieren könnte. Dass hier Handlungsbedarf bestehe, habe er noch einmal bei seinem Zusammentreffen
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Vgl. Hugo an Pacelli vom 3. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 215rv. Einen Vorgeschmack von der spannungsgeladenen Situation in seinem neuen Bistum bekam Hugo durch ein Schreiben mit der Unterschrift „viele Mainzer Bürger“, das ihn – wie er Pacelli mitteilte – warnen wollte, nicht die gleiche Linie der bisherigen Bistumsleitung weiter zu verfolgen. Vom Justizminister erfuhr Pacelli, dass es in der hessischen Hauptstadt bereits anonyme Intrigen gegen Hugo gab. Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 5. Februar 1921, ebd., Fol. 217rv. Vgl. Pacelli an Hugo vom 5. Februar 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 218r. Über die Audienz und die konkreten Ratschläge des Nuntius existieren keine Aufzeichnungen in den vatikanischen Unterlagen. Die Gesprächsgegenstände können so nur aus den vorangehenden und nachfolgenden Briefwechseln erschlossen werden. Vgl. Hugo an Pacelli vom 28. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 219r–220r. Wenn Hugo erst nach der Audienz vom 14. Februar nach Mainz reiste, kann die Angabe Lenharts, Hugo habe das Domkapitel bereits am 10. des Monats in Mainz aufgesucht, nicht stimmen. Vgl. Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 125. Hugo an Pacelli vom 28. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 219v. Hugo an Pacelli vom 28. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 219v. 347
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mit Reichsaußenminister Simons in Darmstadt am folgenden Tag erfahren. Anwesend sei auch Justizminister Brentano gewesen, der „ziemlich scharfe Klagen über das Mainzer Verwaltungssystem vorbrachte“1326. Hugo referierte dem Nuntius, dass er vieles davon schon zuvor von Kaas gehört habe. In seiner Antwort vom 2. März widersprach Pacelli der Behauptung des Domdekans von einer harmonischen Einvernehmlichkeit innerhalb des Kapitels vehement, bekräftigte aber seine Überzeugung, dass der Koadjutor „alle Schwierigkeiten, die besonders aus dem bekannten unleugbaren Zwiespalt entstehen“1327, werde beheben können. Er bat Hugo, ihn über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Der Nuntius hoffte wohl, auf diese Weise ein Vertrauensverhältnis zum künftigen Mainzer Bischof aufzubauen, das beiden langfristig von Nutzen sein konnte.
Die Kontroverse um die Eidesleistung Im Februar kündigte der Rektor des römischen Priesterkollegs Santa Maria dellʼAnima, Maximilian Brenner, dem neuen Koadjutor an, dass Papst Benedikt XV. ihn im Frühjahrskonsistorium vom 7. März präkonisieren werde.1328 Die Ernennungsbullen seien ungefähr zwei Wochen später fertig, sodass er die Bischofsordination am 3. Sonntag nach Ostern (10. April) empfangen könne. Von römischer Seite ging also alles seinen geordneten Gang. Der Zeitplan hinsichtlich Weihe und Amtsaufnahme des Koadjutors wurde aber von anderer Seite gefährdet. Zwar hatte Bendix am 14. Januar Ministerialdirektor Lorbacher – wie ihm vom Nuntius aufgetragen war – über die organisatorische Veränderung in der Mainzer Bistumsleitung informiert, dabei jedoch versäumt, diese Mitteilung schriftlich nachzuliefern. Erst knapp zwei Monate später – am 17. März – ging die offizielle Anzeige der Ernennung Hugos bei der hessischen Regierung ein, verbunden mit dem Hinweis, dass die Bischofsweihe am 10. April gespendet werden sollte und der Genannte anschließend die Diözesanverwaltung übernehmen werde.1329 Zwar machte die Regierung grundsätzlich keine Einwände gegen die Angelegenheit geltend, wie Brentano am 24. März den Nuntius informierte.1330 Jedoch legte sie eine Erklärung vor, in der sie den Standpunkt vertrat, dass das Kirchengesetz von 1830, das den Treu- und Gehorsams-
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Hugo an Pacelli vom 28. Februar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 219r. Pacelli an Hugo vom 2. März 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 221r. Vgl. AAS 13 (1921), S. 125. Vgl. Bendix an das hessische Innenministerium vom 17. März 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 227rv und 241r. Vgl. Brentano an Pacelli vom 24. März 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 224r. 348
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eid für den neuen Bischof vor der Konsekration vorschrieb,1331 zum einen trotz WRV noch in Kraft sei und zum anderen auch für Koadjutoren mit Nachfolgerecht gelte.1332 Für den Fall, dass die kirchliche Seite die Anwendung dieses Gesetzes auf das Koadjutoramt ablehnte, sicherte sich die Regierung mit dem Hinweis auf das bereits früher genannte Gesetz über die Vorbildung der Kleriker von 1887 ab, das Geistliche vor Übernahme eines Kirchenamtes zum Verfassungseid verpflichtete.1333 Die Schuld, dass der vorgesehene Zeitplan eventuell nicht eingehalten werden konnte, suchte die Regierung bei Bendix, der die schriftliche Anzeige schon im Januar hätte erledigen müssen. Brentano kommentierte die Regierungserklärung mit Bedauern, dass durch das defizitäre Handeln des Domdekans wieder Probleme aufgekommen seien, obwohl sich die hessische Regierung der Sache gegenüber vollkommen kooperativ verhalten habe. Er versuche alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Pacelli sah die Sachlage etwas anders als Brentano und nahm den Domdekan in Schutz.1334 Drei Punkte gab er zu bedenken: 1) Auf Basis der mündlichen Mitteilung am 14. Januar habe die Regierung genügend Zeit gehabt, um die Frage der Eidesleistung zu lösen. 2) Nach der Promulgation der Reichsverfassung habe kein anderer deutscher Staat – auch Preußen nicht – gelegentlich einer Bischofseinsetzung verlangt, dass der in der Landesgesetzgebung vorgeschriebene Eid noch geleistet werde. Daher hielt der Nuntius es für unverständlich, dass Hessen Zeit benötige, um „diese nicht schwierige Frage zu lösen“1335. 3) Schließlich werde Hugo nicht zum Bischof, sondern nur zum Koadjutor ernannt und erhalte vom hessischen Staat seines Wissens keine finanzielle Unterstützung, sodass ein Einspruch oder eine Verhinderung der Amtsübernahme von dessen Seite gänzlich unangebracht sei. Aus diesen Gründen teilte Pacelli die Schuldzuweisung an das Mainzer Ordinariat nicht. Diesem ließ das hessische Innenministerium seine Erklärung in ergänzter Fassung am 30. März zukommen.1336 Es zog jetzt den Schluss, dass der Eid für Hugo den Charakter eines reinen Verfassungseides trage, der folgende Form haben sollte: „Ich schwöre Treue der Reichs- und LanVgl. § 16 der „Verordnung, die Ausübung des oberhoheitlichen Schutz- und Aufsichtsrechts über die katholische Landeskirche betreffend“ vom 30. Januar 1830, in: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 7 vom 30. Januar 1830, S. 35f. 1332 Die Erklärung dieser Regierungsposition ging dem Nuntius durch Brentano am 24. März zu. Vgl. Regierungserklärung zur Eidesfrage vom 24. März 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 225r–226v. 1333 Vgl. § 2 des „Gesetzes, die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen betreffend“ vom 5. Juli 1887, in: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 22 vom 15. Juli 1887, S. 129. 1334 Vgl. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 2. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 228rv. 1335 Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 2. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 228r. 1336 Vgl. Eideserklärung des hessischen Innenministeriums an das Mainzer Ordinariat vom 30. März 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 242r–243r (nur r). Vgl. zu dieser Erklärung und der nachfolgenden Diskussion auch Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 127–129. 1331
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desverfassung und Gehorsam den Gesetzen.“1337 Wenn der neue Koadjutor dieses iuramentum feierlich ablege – so das Papier weiter –, werde befriedigend zum Ausdruck gebracht, dass der künftige Oberhirte wie jeder Staatsbürger gewillt sei, sich den weltlichen Gesetzen zu unterwerfen, und eine friedliche Amtsführung anstrebe. Die Mainzer Bistumsleitung sandte – sicherlich mit Bendix als Hauptverfasser – postwendend eine Erwiderung auf die Anklage der verspäteten offiziellen Ernennungsanzeige und die Eidesforderung.1338 Sie entkräftete die Kritik mit dem Hinweis, dass eine offizielle Mitteilung nach kirchlichem Recht erst möglich gewesen sei, nachdem das Ordinariat von der Präkonisation Hugos im päpstlichen Konsistorium Kenntnis erlangt habe. Unmittelbar danach habe es die schriftliche Bekanntmachung nach Darmstadt auf den Weg gebracht. Ebenfalls wies die Replik die Eidesforderung als unzulässig zurück: Zunächst einmal setze die von der Regierung bemühte rechtliche Grundlage des Gesetzes von 1830 in Verbindung mit der Zirkumskriptionsbulle von 1827 die Sedisvakanz des Bischofsstuhls voraus. Doch die Einsetzung eines Koadjutors werde dieser Prämisse nicht gerecht. Darüber hinaus glaubte man im Mainzer Ordinariat nicht, dass der Artikel 137 Absatz 3 WRV noch in die entsprechende Landesgesetzgebung überführt werden musste, um Geltung zu erlangen.1339 Eine Qualifizierung der Kulturkampfgesetzgebung – in deren Rahmen das Gesetz über die Vorbildung der Geistlichen 1887 erlassen worden war – als „Staatsnotwendigkeit“, die „aufrecht erhalten werden müsse“1340, während die politischen Veränderungen völlig ignoriert würden, lehnte das Gegenschreiben kategorisch ab. Nach seiner Ansicht existierte keine rechtliche Grundlage für die Eidesleistung mehr. Schließlich erregte auch die vorgelegte Formel Widerspruch: Angesichts der politischen und rechtlichen Unsicherheiten, die seit dem staatlichen Umsturz herrschten, könne nicht verlangt werden, dass ein Bischof der katholischen Kirche auf Gesetze verpflichtet werde, die durch viel-
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Eideserklärung des hessischen Innenministeriums an das Mainzer Ordinariat vom 30. März 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 243r. Vgl. Mainzer Ordinariat an das hessische Innenministerium vom 2. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 244r–249r (nur r). Vgl.: „Mit diesen Fundamentalsätzen [sc. Art. 137 Abs. 3 WRV, R.H.] für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat ist es unvereinbar, wenn eine Landesregierung die Auffassung vertritt, zur Ermöglichung ihrer Durchführung bedürfe es eines eigenen Landesgesetzes. Wäre das richtig, dann könnte eine Landesregierung willkürlich die Durchführung dieser Grundsätze unmöglich machen, indem sie kein derartiges Landesgesetz erlässt, was doch eine glatte Verletzung der Reichsverfassung involvierte.“ Mainzer Ordinariat an das hessische Innenministerium vom 2. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 245r. Hervorhebung im Original. Mainzer Ordinariat an das hessische Innenministerium vom 2. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 246r. 350
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leicht religions- und kirchenfeindliche Parteien künftig erlassen werden könnten.1341 Die abschließende Bemerkung der Regierung, dass die Eidesleistung den Willen bezeuge, eine friedliche Koexistenz von Mainzer Kirche und hessischem Staat zu unterstützen, habe man mit Schmerz zur Kenntnis genommen: „Die katholische Kirche und ihre Organe waren und sind der Hort der Autorität auch in diesen autoritätslosen Zeiten. Sollte es da vielleicht erst eines Eides bedürfen, um festzulegen, dass der Bischof seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen werde?“1342 In den vergangenen Jahren sei die Mainzer Kirche sogar immer so weit auf die Staatsregierung zugegangen, wie es ihr nur möglich gewesen sei. Das Schreiben schloss mit der Bitte, die Einwände zu berücksichtigen. Bendix persönlich hielt höchstens eine schriftliche Erklärung Hugos über seine Einstellung zur Regierung für akzeptabel, wie er in einem inoffiziellen Schreiben an den Justizminister bekannte.1343 Er verstehe nicht, wie die Regierung die „höchst einfache Situation durch die sehr unangebrachte Forderung so verwirren kann“1344. Über diese „unangebrachte“ Forderung der Regierung informierte das Ordinariat unverzüglich den neuen Koadjutor, um seine Meinung zu diesem Thema zu erfahren. Obwohl dieser ebenfalls eine solche Eidesverpflichtung ablehnte,1345 enthielt er sich in einem Schreiben an den Nuntius vom 4. April darüber jeden Kommentars.1346 Vermutlich wusste er sich in dieser Auffassung mit Pacelli eins. Er hoffe – so schrieb er –, mit einigen hessischen Parlamentsabgeordneten, deren Teilnahme an den Konsekrationsfeierlichkeiten zu erwarten war – unter anderem Brentano –, darüber ins Gespräch zu kommen. Doch bereits am nächsten Tag meldete sich Ministerialdirektor Lorbacher bei ihm, um über die Eidesfrage zu debattieren. Über dieses Gespräch setzte Hugo
Vgl.: „Dazu kommt, dass die neue Art der Gesetzgebung allein durch die auf Parteimehrheiten eingestellten Volksvertretungen die Unsicherheit über das, was einmal Gesetz werden soll oder kann, zur Regel macht. Für einen Bischof, der für sich und seine Geistlichkeit und für die Regierung seines Sprengels einen festen, auf das kirchliche Dogma und das kirchliche Recht fundierten Standpunkt haben muss, bringen die genannten Umstände, verschärft durch die religionsfeindliche Haltung maßgebender Parteien, eine äußerst erschwerte, vielfach ganz unhaltbare Lage mit sich, die ihm auch die pauschale Festlegung auf alle zu erlassenden Gesetze unmöglich machen muss.“ Mainzer Ordinariat an das hessische Innenministerium vom 2. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 247r–248r. 1342 Mainzer Ordinariat an das hessische Innenministerium vom 2. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 248r. 1343 Vgl. Bendix an Brentano di Tremezzo vom 4. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 230rv. 1344 Bendix an Brentano di Tremezzo vom 4. April 1921 (Abschrift), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 230r. 1345 Dies geht aus einem Schreiben Hugos an Bendix vom 4. April hervor. Auch er sah es als unmöglich an, nicht nur für einen Katholiken, sondern für jeden Bürger, den Gehorsam gegen alle zukünftigen Gesetze zu schwören. Dabei sei ihm der Gehorsam gegenüber den Staatsgesetzen Gewissenspflicht und müsse nicht erst durch einen Eid sichergestellt werden. Vgl. Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 128. 1346 Vgl. Hugo an Pacelli vom 4. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 229r. 1341
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Pacelli sofort ins Bild.1347 Er habe es dem Staatsbeamten gegenüber als Selbstverständlichkeit bezeichnet, dass ein Bischof sich an die Staatsgesetze halte, wie es die Eidesformel garantieren wolle. Wie schon das Mainzer Ordinariat habe er des Weiteren gegen den allgemein gehaltenen Wortlaut opponiert. Laut Hugos Darstellung gab Lorbacher daraufhin zu, dass man in manchen Regierungskreisen einen Bischof noch als Staatsbeamten betrachte. Der Regens versicherte dem Nuntius, umgehend gegen diese Auffassung protestiert zu haben. Lorbachers Hauptargument für die Eidesleistung bestehe in der Stimmung des protestantischen Bevölkerungsteils, die schon aufgrund der freien Koadjutorernennung durch den Heiligen Stuhl gereizt sei. Wohl keiner der Gesprächspartner war sich bewusst, dass mit Brentano ein Staatsminister die Einführung eines Koadjutors und damit die Umgehung der Regierung in der Amtsvergabe angestoßen hatte. Der scheidende Speyerer Regens schilderte Pacelli seinen Eindruck, dass ihm keine Amtshandlungen zugestanden würden, bevor er den Eid abgelegt habe. Nachdrücklich habe er Lorbacher zugesichert, dass er eine friedliche Beziehung mit dem hessischen Staat pflegen wolle, aber zunächst über die Angelegenheit beraten müsse. Den Rat holte sich Hugo nun beim Nuntius. Zwei Tage vor der Bischofsweihe bat dieser ihn, keine Zusage zum Eid zu geben.1348 Pacelli wollte die Frage zunächst einmal genau prüfen. Er betonte, genau wie schon gegenüber Brentano, dass kein anderer deutscher Staat bisher bei der Besetzung eines Bischofsstuhls den Eid verlangt habe: „Sogar die preußische Regierung, um nur diese zu erwähnen, hat, trotzdem auch in Preußen die Beziehungen zwischen Kirche und Staat noch nicht definitiv geregelt sind, schon vor einem Jahr die den jetzigen Verhältnissen nicht mehr entsprechende Eidespflicht der Geistlichen ausdrücklich fallen lassen.“1349 Den Stoff, um über die Eidesfrage nachzudenken, hatte ihm drei Tage vorher, am 5. April, Brentano geliefert.1350 Der hessische Justizminister zeigte sich empört über die Zuschrift des Mainzer Ordinariats an die Regierung – hinter der er den Domdekan ausmachte – und korrigierte auch Pacellis drei Einwände gegen den Eid. Brentano glaubte, dass Pacelli von Bendix über den Sachverhalt falsch informiert worden sei. Zum ersten Punkt, dass die Regierungsstellen genug Zeit gehabt hätten, nach der mündlichen Anzeige der Ernennung Hugos vom 14. Januar, die Eidesfrage zu klären, bemerkte er unverhohlen, dass diese Mitteilung „ohne jeden Belang“1351 gewesen sei und zwar deshalb, weil Bendix sie einem befreundeten Ministerialdirektor, aber nicht dem zuständigen Innen- beziehungsweise Staatsministerium gegenüber getätigt habe. Brentano beharrte Vgl. Hugo an Pacelli vom 5. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 231rv. Vgl. Pacelli an Hugo vom 8. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 237rv. 1349 Pacelli an Hugo vom 8. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 237v. Vgl. zum preußischen Verzicht auf den Eid Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Frage nach der staatlichen Beteiligung bei der Amtseinführung). 1350 Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 5. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 232r–235r. 1351 Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 5. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 232r. 1347
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darauf, dass ein Rechtsakt zur Erledigung der Eidesfrage notwendig sei, der wiederum Zeit benötige, was man in Mainz sehr genau wisse. Die bestehende Rechtslage hingegen fordere die Eidesleistung. Darauf hinzuwirken, sie zu ändern, sei vornehmlich Aufgabe der Zentrumspartei, die Bendix jedoch – womit Brentano zum wiederholten Male auf seine Kritik an der antipolitischen Haltung des Domdekans zurückkam – ablehne. Hätte dieser an der richtigen Stelle angefragt, hätte man die Angelegenheit im verfügbaren Zeitrahmen klären können. Die hessische Regierung sei an und für sich bereit, auf den Eid zu verzichten, jedoch könne sie nicht einfach über die Kammer und die geltenden Gesetze hinweggehen. Vielmehr werde die Angelegenheit durch die Beleidigungen des Domdekans – Brentano monierte einige Äußerungen des Mainzer Schreibens, unter anderem jene über die vermeintliche Aufrechterhaltung der Kulturkampfgesetzgebung seitens der Regierung – außerordentlich erschwert. Der Justizminister sagte sogar eine dauerhafte Schädigung des Verhältnisses von Kirche und Staat durch die jüngsten Ereignisse voraus. Vielleicht gebe es im konkreten Fall noch die Möglichkeit, dass die Regierung zumindest vorerst auf den Eid verzichte und sich nachträglich die Zustimmung des Landtags zu dieser Rechtsänderung besorge. Brentano gab in seiner leidenschaftlich abgefassten Schrift auch seinem großen Missmut darüber Ausdruck, dass niemand von der Regierung durch die Mainzer Bistumsleitung zu den Weihefeierlichkeiten nach Speyer eingeladen worden sei. Hugo hatte allerdings schon davon gesprochen, dass der Justizminister anwesend sein werde. Dieser beruhigte sich dann auch schnell wieder, als er am 6. des Monats eine Einladung vom neuen Koadjutor bekam und entschuldigte sich beim Nuntius für die ins Persönliche übergreifende Beschwerdeschrift.1352 Dennoch hätte er es für guten Takt gehalten, wenn das Mainzer Ordinariat der Regierung als solcher eine Einladung zur Bischofsweihe geschickt hätte, zu der Brentano dann delegiert worden wäre. Alle Sorgen über die Haltung des hessischen Staates gegenüber der Kirche seien unbegründet, weil dieser absolut gewillt sei, die Angelegenheit friedlich zu regeln.
Bischofsweihe, Eidverzicht und Inthronisation Hugos Die Weihe Hugos zum Titularbischof von Bubasti vollzog am 10. April im Speyerer Dom sein Heimatbischof Sebastian unter Mitwirkung der Weihbischöfe Antonius Mönch aus Trier und Adam Senger aus Bamberg.1353 Anwesend waren aus Regierungskreisen neben Brentano auch die Zentrumsabgeordneten Heinrich Wendelin Soherr aus Bingen, August Nuss aus Worms und Wilhelm Knoll aus Mainz. Neben dem Domdekan nahmen aus dem Mainzer Kapitel nur die beiden Kapi1352 1353
Vgl. Brentano di Tremezzo an Pacelli vom 6. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 236rv. Vgl. zu den Weihefeierlichkeiten insbesondere o.V., Festschrift zur Inthronisation Ludwig Maria Hugo, S. 6–13. 353
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tulare Philipp Mayer und Matthäus Kemmerer teil, was die tiefgreifenden Spannungen zwischen Bendix und dem Domkapitel adäquat widerspiegelte: Es „war ein Affront und wurde auch als solcher verstanden“1354. Trotz der Glückwünsche der hessischen Regierung, die der Justizminister im Anschluss an die Ordination überbrachte, war die Eidesfrage nach wie vor ungeklärt. Am Tag nach der Weihezeremonie berichtete Bendix dem Nuntius von einem Gespräch über dieses Thema, das er mit Ministerialdirektor Lorbacher geführt habe.1355 Für ihn, so der Domdekan, habe es die Erkenntnis gebracht, dass „man trotz Revolution, Freiheit und Reichsverfassung auf dem alten Rechtsstandpunkt beharren will: der Staat muss sich Mittel vorbehalten, durch die er sich der übermächtigen Kirche erwehren kann“1356. Auch das Argument des furor protestanticum sei bemüht worden – was Lorbacher schon gegenüber Hugo getan hatte –, der durch die freie Ernennung des Koadjutors durch den Papst entfacht worden sei und sich noch verstärken werde, sollte die Regierung in der Eidesfrage nachgeben. Bendix habe dieses Argument als alte Staatstaktik zurückgewiesen, woraufhin sich Lorbacher wiederum auf die Zustimmung des Zentrums berufen habe. Natürlich verband der Generalvikar diese Schilderung wiederum mit einer Kritik am Justizminister. Das Gespräch zwischen Lorbacher und Bendix, der damit seine Unnachgiebigkeit gegenüber Regierung und Zentrumspartei unter Beweis stellte, endete unversöhnlich: „Zum Schlusse meiner Unterredung sagte ich dem Herrn Referenten, es sei doch, wenn man den katholischen Begriff des Eides zu Grunde lege, nicht möglich, dass ein katholischer Bischof auf die Verfassungen sich festlege, die doch vieles enthielten, was der katholischen Auffassung widerspreche, – und noch weniger auf den Gehorsam gegenüber Gesetzen, von denen viele schon bestehende, und voraussichtlich noch mehr zukünftige sogar direkt kirchen- und religionsfeindlich seien. Aber Herr Referent meinte, so sei das auch nicht zu nehmen. Ich erwiderte ihm, dann handle es sich gar nicht um einen wirklichen Eide, sondern um eine einfache Erklärung der Zustimmung und des Standpunktes des Bischofs dem Staate gegenüber. Ich habe selbstverständlich alles offen gehalten und in keiner Beziehung nachgegeben, vielmehr erklärt, wenn ich den Eid leisten sollte, würde ich lieber alle Konsequenzen auf mich nehmen, als ihn leisten.“1357
Bendix schloss, dass „die Regierung mit Kanonenkugeln auf Sperlinge“1358 schieße und gewiss eine feste, unnachgiebige Haltung keine Gefahr für die salus animarum der Katholiken in Hessen nach sich ziehe, vielmehr ein Zurückweichen ein unangenehmes Präjudiz schaffen könnte.
Jürgensmeier, Bistum, S. 308. Vgl. Bendix an Pacelli vom 11. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 239r–240r. 1356 Bendix an Pacelli vom 11. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 239r. 1357 Bendix an Pacelli vom 11. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 239v–240r. Hervorhebung im Original. 1358 Bendix an Pacelli vom 11. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 240r. 1354 1355
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Am 13. April siedelte Hugo nach Mainz über und wurde Inhaber der vollen Regierungsgewalt als Koadjutor des Bischofs, nachdem er am 14. April dem Domkapitel seine Ernennungsbullen vorgelegt hatte.1359 Man kann sagen, es war in letzter Sekunde, denn am frühen Morgen des nächsten Tages starb Bischof Kirstein.1360 Das Unternehmen Koadjutor war soeben noch geglückt. Wäre Kirstein eher gestorben, wäre eine ordentliche Bischofseinsetzung wohl nicht leicht zu vermeiden gewesen.1361 Konnte er aber die Amtsgeschäfte schon aufnehmen, während die Verhandlungen mit der Regierung über den Verfassungseid noch nicht abgeschlossen waren? Darüber im Unklaren, bat er das Domkapitel, seine Pflichten und Aufgaben zunächst einmal weiterzuführen und ihn über alles zu informieren. Pacelli telegraphierte die Nachricht vom Hinscheiden des Mainzer Oberhirten umgehend an Gasparri.1362 An Hugo übermittelte er sein Beileid mit der Bitte, die Kondolenzbezeugung an das Domkapitel weiterzugeben.1363 Hugo war von nun an sein neuer Ansprechpartner in Mainz, an Bendix wandte er sich nicht mehr. Pacelli setzte ihm mit Rekurs auf Can. 355 § 1 CIC 19171364 auseinander, dass er mit dem Tod Kirsteins ipso facto der neue Diözesanbischof von Mainz sei.1365 Damit sei die angesprochene vorläufige Amtsbestätigung der Domkapitulare hinfällig geworden, sodass Hugo nach seinem Belieben verfahren könne. Pacelli bekundete seine Überzeugung, dass ihm aufgrund „vertraulich gewordenen Mitteilungen“ – womit er womöglich auf die Zusicherungen Brentanos anspielte1366 – „von Seiten des Staates der bereits vollzogenen Amtsübernahme keine Schwierigkeiten Vgl. „Übernahme der kirchlichen Verwaltung des Bistums durch den Hochwürdigsten Herrn Koadjtutor Dr. Ludwig Maria Hugo“ vom 14. April 1921, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 5 vom 15. April 1921. Vgl. auch Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 127. 1360 Vgl. Hugo an Pacelli vom 15. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 250r. Vgl. auch Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 127. Die Angabe bei Jürgensmeier, Bistum, S. 308, der vom 25. April als Todesdatum spricht, ist falsch. 1361 Allerdings hatte der Papst Hugo bereits ernannt, sodass sich der Heilige Stuhl auf die bereits vollzogene Einsetzung hätte berufen können, um eine Bischofswahl zu vermeiden. Ob die hessische Regierung wiederum einen solchen Schritt widerstandslos hingenommen hätte, steht auf einem anderen Blatt. 1362 Vgl. Pacelli an Gasparri vom 16. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 251r. 1363 Vgl. Pacelli an Hugo vom 16. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 252rv. 1364 Vgl.: „Coadiutor cum iure successionis, vacante sede episcopali, statim evadit Ordinarius dioecesis, pro qua fuerat constitutus, dummodo possessionem legitime ceperit, ad normam can. 353.“ Can. 355 § 1 CIC 1917. 1365 So lautete wenige Tage später dann auch die Bekanntmachung im diözesanen Amtsblatt. Vgl. „Die Wiederbesetzung des Bischöflichen Stuhles“ vom 21. April 1921, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 6 vom 22. April 1921. 1366 Zu denken wäre freilich auch an Kaas. Dieser schickte Pacelli am 9. des Monats ein wenig aufschlussreiches Telegramm: „angelegenheit nunmehr in guenstiger entwicklung terminverschiebung kommt nicht in betracht …“ Kaas an Pacelli vom 9. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 238r. Möglich ist, dass der Zentrumsprälat in der Eidesfrage mit der hessischen Regierung verhandelte. Dass Kaas Pacellis Interessen auch in der Mainzer Koadjutorfrage in (Reichs-) Regierungskreisen vertrat, wurde 1359
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gemacht werden“1367. Falls nachträglich eine schriftliche „Erklärung“ anstelle des Eides von ihm gefordert werde, sollte Hugo sie nicht liefern, bevor er sie mit Pacelli abgestimmt habe. Eine grundsätzliche Ablehnung einer solchen „Erklärung“ kam für den Nuntius wohl nicht infrage. Die völlig intransigente Haltung Bendixʼ entsprach nicht seinen diplomatischen Vorstellungen. Dem neuen Bischof von Mainz schärfte er abschließend die Anweisungen ein, die er ihm bei der Audienz in München im Februar erteilt hatte. Diese Andeutung bleibt kryptisch, beinhaltete aber vermutlich eine Warnung vor Bendix. Eine erste Auseinandersetzung zwischen dem Domdekan und Hugo hatte es schon vor dessen Amtsantritt gegeben. Er habe – wie Hugo Pacelli mitteilte – dem katholischen Arbeiter- und Gesellenverein in Mainz zugesagt, ihre Versammlung anlässlich des Schutzfestes des heiligen Josef am 1. Mai zu besuchen.1368 Als der Generalvikar davon gehört habe, habe er sofort sein Missfallen darüber bekundet. Pacelli hingegen hieß die Absicht Hugos gut, mit der katholischen Arbeiterschaft in Kontakt zu treten und setzte sich damit von Bendix ab.1369 Seine Hoffnung, dass die Regierung die Eidesfrage versanden ließ, wandelte Pacelli gewissermaßen in eine Aufforderung um, als er sie Mitte April auch gegenüber Brentano zur Sprache brachte.1370 Sollte die Regierung nach der vollzogenen Amtsübernahme Hugos auf den Eid beziehungsweise die alternative „Erklärung“ verzichten, würden „unerwünschte Erörterungen in der Öffentlichkeit“1371 vermieden. Es nahte mittlerweile der 27. April, der von Hugo als Termin für die Inthronisationsfeierlichkeiten vorgesehen worden war. Vier Tage vorher erklärte er Pacelli, dass er deshalb eine „Erklärung“ an die Regierung als sehr dringlich erachte.1372 Zu diesem Zweck hatte er eine Formel entworfen, die er dem Nuntius vorlegte: „Ich erkläre, dass ich die Autorität der weltlichen Gewalt anerkenne, dass ich an keiner Bestrebung, die gegen das öffentliche Wohl gerichtet ist, mich beteiligen, und die Gesetze des Landes, so wie ich sie vor Gott als verpflichtend erkenne, treu beobachten will.“1373 Mit dieser Formulierung war der Gehorsam gegenüber den Landesgesetzen im Gegensatz zur Regierungsformel nicht absolut verbürgt, sondern nur insofern Hugo sie mit der göttlichen Heils- und Schöpfungsordnung für vereinbar hielt.
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bereits deutlich. Vgl. dazu außerdem Kaas an Pacelli vom 8. Dezember 1920, ASV, ANB 54, Fasz. 2, Fol. 65rv, hier 65r. Pacelli an Hugo vom 16. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 252r. Vgl. Hugo an Pacelli vom 4. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 229v. Vgl. Pacelli an Hugo vom 8. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 237r. Vgl. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 16. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 253r. Pacelli an Brentano di Tremezzo vom 16. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 253r. Vgl. Hugo an Pacelli vom 23. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 254r–255v. Hugo an Pacelli vom 23. April 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 254r-v. 356
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Des Weiteren informierte er den Nuntius darüber, dass er die ersten Tage in Mainz dazu benutzt hatte, um eine Lösung des schwierigen personalen Beziehungsgefüges zu suchen. Das Domkapitel – vornehmlich die drei schon in Erscheinung getretenen Kapitulare Becker, Engelhardt und Lehnhart – habe Vorschläge unterbreitet, wie eine andere Regelung der Bistumsgeschäfte aussehen könnte. Alle jedoch seien in der Bitte um eine Arbeitsentlastung kulminiert. Das machte die Situation für Hugo kompliziert: Auf der einen Seite musste um des Friedens innerhalb der Mainzer Kirche und zwischen dieser und dem hessischen Staat willen der Einfluss des Domdekans beschnitten werden. Auf der anderen Seite mangelte es an alternativen Arbeitskräften, Bendix war schlicht unentbehrlich. Daher beschloss Hugo, ihn an der kurzen Leine zu halten, alle anstehenden Erledigungen mit ihm zu besprechen und sich vor wichtigeren Personalentscheidungen zunächst einmal selbst intensiv in die Sachlage einzuarbeiten. Der neue Bischof erstattete dem Nuntius einen präzisen Bericht über seine Vorstellungen und Absichten, ein Vorgehen, dass Pacelli sehr genau ins Bild über die Mainzer Verhältnisse setzte. Vielleicht spielte hierbei eine Rolle, dass der Papst den neuen Ordinarius eingesetzt hatte und dieser deshalb glaubte, dem römischen Pontifex beziehungsweise dessen Vertreter Rechenschaft schuldig zu sein. Durch die Ratschläge, die Pacelli dem neuen Oberhirten an die Hand gegeben hatte, konnte er die ersten Entscheidungen und die anfängliche Richtung von Hugos Episkopat mit beeinflussen. Darüber hinaus ließ das schwierige Arbeitsumfeld in der Mainzer Bistumsleitung eine Rückversicherung beim päpstlichen Repräsentanten für Hugo als besonders sinnvoll erscheinen. Am 25. April, zwei Tage nach dem Brief Hugos und zwei Tage vor der geplanten Inthronisation, antwortete der Nuntius auf die Berichterstattung des Bischofs.1374 Eigentlich habe er hinsichtlich der „Erklärung“ an die Regierung mit der Kurie Rücksprache halten wollen, aber angesichts der mangelnden Zeit darauf verzichtet. Somit war es seine ganz persönliche Meinung, die er in der Eidesfrage als oberste Direktive ausgab: „Fürs erste muss man immer noch anstreben, diese für den Bischof demütigende, den jetzigen Verhältnissen nicht mehr entsprechende und nach der Revolution von keiner anderen Landesregierung in Deutschland mehr verlangte Erklärung zu vermeiden. Auch ich meinerseits bin in demselben Sinne tätig. Nur dann, wenn dieselbe absolut nicht ohne schweren Nachteil für die h[eilige] Kirche zu vermeiden wäre, können sie Euere Bischöfliche Gnaden gemäß vorgeschlagener Formel abgeben …“1375
Für Pacelli kam die „Erklärung“ einer Subordination der Kirche unter den Staat gleich, eine Demütigung, die für ihn nicht einfach hinnehmbar war. Mit der angesprochenen Tätigkeit meinte der Nuntius gewiss auch seine Ziele im Rahmen der Konkordatsverhandlungen, die kirchlichen Freiheiten durchzusetzen, die der Kirche als societas perfecta zustanden und komfortablerweise 1374 1375
Vgl. Pacelli an Hugo vom 25. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 257rv. Pacelli an Hugo vom 25. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 257r-v. 357
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durch die WRV garantiert wurden. Jedoch wäre Pacelli kein Diplomat gewesen, hätte er nicht auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es unumgänglich sein könnte, die „Erklärung“ dennoch zu leisten. Dies sollte dann allerdings in dreifach modifizierter Form geschehen: 1) Die weltliche Gewalt dürfe nur „in ihrem Bereich“ anerkannt werden. 2) Am Ende sei zur Präzisierung des Gehorsams gegenüber den Landesgesetzen die Klausel „salvis Dei et Ecclesiae legibus“ einzufügen. 3) Schließlich müsse die Wendung „pro hac vice“1376 ergänzt werden, um eine unliebsame Präjudizierung a priori auszuschließen. Wichtig war dem Nuntius noch, dass, sollte diese Formel zur Anwendung kommen, nicht etwa die Nuntiatur als approbierende Instanz genannt wurde. Eine offizielle Äußerung vom Heiligen Stuhl in dieser Angelegenheit wollte Pacelli unbedingt vermeiden. Letztlich war seine Sorge jedoch überflüssig. Ohne Eidesleistung und ohne abgeschwächte „Erklärung“ wurde der neue Diözesanbischof am 27. April inthronisiert.1377 Auch nachher leistete Hugo der Regierung kein Bekenntnis zu Verfassung und Gesetzgebung mehr. Ende Juni berichtete er dem Nuntius, dass er nach der offiziellen Anzeige seiner Ernennung und Inthronisation dem hessischen Ministerpräsidenten Carl Ulrich auch seine Amtsübernahme angezeigt, dabei jedoch die Eidesfrage gänzlich ausgespart habe.1378 Er habe lediglich seinen Wunsch ausgedrückt, mit der Regierung die guten Beziehungen fortzusetzen. Ulrich habe diesen Wunsch seinerseits erwidert. Von Brentano erfuhr Hugo später, dass die Forderung der Regierung zur Abgabe der „Erklärung“ nicht mehr aufrecht erhalten wurde. Domkapitular Lenhart, der im hessischen Landtag saß, wusste zu berichten, dass die Regierung einen Gesetzentwurf erarbeitete, um die eidliche Verpflichtung abzuschaffen. Und tatsächlich wurde dies mit einer Vorlage vom 26. Oktober in die Tat umgesetzt.1379 Damit trug die hessische Regierung den neuen politischen Umständen Rechnung. Der Nuntius war mit dieser Entwicklung hochzufrieden und versicherte, Hugo dankbar zu sein, wenn dieser ihn über die Geschehnisse in 1376 1377
1378 1379
Pacelli an Hugo vom 25. April 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 257v. Der Freiburger Metropolit Fritz zelebrierte das Pontifikalamt im Mainzer Dom, nach dem Domkapitular Lenhart „zuerst in lateinischer, sodann in deutscher Sprache das päpstliche Breve zur Verlesung [brachte], durch das der Diözese die Berufung des bisherigen Speyerer Regens Dr. Ludwig Maria Hugo zum Bischof von Mainz amtlich verkündet wurde. Daran schloß sich sofort die Inthronisation des neuen Bischofs an, den der Metropolit auf den damals noch zur Linken des Hochaltares befindlichen eigenen Thron für die Pontifikalämter geleitete und im Thronsessel Platz nehmen ließ. Damit war die eigentliche Thronbesteigung des neuen Bischofs vollzogen, die durch das vom Metropolitan angestimmte Te Deum ihre liturgische Krönung fand. Während des Gesanges des Domchores schritt aber der neue Mainzer Oberhirte mit den bischöflichen Insignien geschmückt erstmals segenspendend durch die weiten, von vielem Kirchenvolk gefüllten Hallen des Mainzer Domes.“ Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 129. Vgl. zur Inthronisation auch o.V., Festschrift zur Inthronisation Ludwig Maria Hugo, S. 14–27. Vgl. Hugo an Pacelli vom 25. Juni 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 258r–259r. Vgl. „Gesetz, die Aufhebung der Bestimmungen über Eidesleistung durch Geistliche betreffend“ vom 26. Oktober 1921, in: Hessisches Regierungsblatt Nr. 28 vom 6. Dezember 1921, S. 290f. Vgl. auch Lenhart, Ludwig Maria Hugo, S. 127. 358
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Mainz, besonders hinsichtlich der Verwaltungsangelegenheiten, auf dem Laufenden halte.1380 Bereitwillig erteilte ihm der neue Bischof Auskunft und gestand, dass in der Diözesanadministration „keine rechte Ordnung“1381 herrsche. Aus Mangel an Arbeitskräften bestätigte er Bendix als Generalvikar.1382 Während die Aufgabe, Ordnung im Bistum herzustellen, Hugo noch bevorstand, hatte Pacelli seine Aufgabe, einen in seinen Augen geeigneten Nachfolger Kirsteins zu finden und einzusetzen, erfüllt. Auch in der Folgezeit informierte ihn Hugo umfassend über alles, was für die Mainzer Diözese von Bedeutung war und orientierte sich „strengstens an römischen Weisungen“1383.
Ergebnis 1. Für den Mainzer Koadjutorposten favorisierte Pacelli einen auswärtigen Kandidaten, der „durch Ansehen, Gelehrsamkeit und Entschiedenheit fähig wäre, der Leitung der Diözese einen kräftigen Aufschwung zu verleihen“, der aktiv, eifrig und energisch mit Tatkraft und Klugheit auf dieses Ziel hinwirken, der als „neuer“ Ketteler die Mainzer Kirche wieder „aufrichten“ und für die Freiheit und Rechte der Kirche kämpfen sollte. Darüber hinaus sollte dieser sich einerseits „ganz deutsch“ fühlen, um dem deutschen Staat genehm zu sein, allerdings auch die „notwendige Mäßigung und den erforderlichen Takt“ besitzen, um den französischen Besatzern diplomatisch und nicht zu unnachgiebig zu begegnen. Da er selbst keinen Geistlichen kannte, den er für geeignet hielt, griff er auf Vorschläge zurück: Zunächst auf den Wiesbadener Pfarrer Hilfrich, schwenkte dann aber auf den Speyerer Regens Hugo um – beide entstammten mit Limburg und Speyer den unmittelbaren Nachbardiözesen.1384 Dieser Wechsel erfolgte jedoch nicht aufgrund charakterlicher Defizite, sondern 1380 1381 1382
1383 1384
Vgl. Pacelli an Hugo vom 1. Juli 1921 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 260r. Hugo an Pacelli vom 25. Juni 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 258r. Die Alternativlosigkeit dieser Entscheidung belegte er mit einer Einschätzung des Freiburger Erzbischofs: „Ich darf als charakteristisch hier erzählen, dass der Herr Erzbischof von Freiburg, als er das erstemal mit mir sprach, sich äußerte: Bei mir wäre B[endix] nicht acht Tage Generalvikar. Bei seiner zweiten Anwesenheit, nachdem er die Dinge beobachtet hatte, sagte er: Sie können jetzt B[endix] unmöglich entbehren.“ Hugo an Pacelli vom 25. Juni 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 259r. Freilich bekleidete der „präpotente[n] Bendix“ dieses Amt nur noch ein Jahr und wurde dann durch Philipp Jakob Mayer ersetzt. Gatz/Schwerdtfeger, Bistum Mainz, S. 496. Gatz/Schwerdtfeger, Bistum Mainz, S. 496. Vgl. auch Hamers, Konkordatspolitik, S. 124f. Dass Pacelli Hilfrich und (beziehungsweise oder) Hugo bereits persönlich kannte und aus dieser Kenntnis heraus für sie votierte, erscheint unwahrscheinlich, denn 1. brachte er die Namen nicht selbst ins Spiel, sondern entnahm sie eingeholten Vorschlägen; 2. zog er über beide mehrfach Gutachten ein, was zeigt, dass er selbst keine weitgehenden Informationen über die Genannten besaß; 3. wusste er, als er Gasparri die Ernennung Hugos vorschlug, nichts Eigenes über den Regens zu berichten; 4. tauchen weder Hilfrich noch Hugo in den Nuntiaturberichten Pacellis seit 1917 bis zum Mainzer Besetzungsfall auf. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Einzig in seinem Gutachten zu den deutschen Priester359
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weil Hilfrich als preußischer Geistlicher der französischen Regierung unerwünscht war. Darüber hinaus durfte nach französischer Auffassung der Kandidat nicht an einer deutschen Universität ausgebildet noch als Professor an einer solchen tätig sein. Pacelli suchte Hugo ausdrücklich „mit aller Vorsicht“ nach diesen Kriterien aus. Er legte also nicht nur Wert auf die Fähigkeiten des Kandidaten, sondern versuchte dezidiert, den Erwartungen Deutschlands und Frankreichs gerecht zu werden.1385 Deshalb konnte er festhalten, dass Hugo „für die Diözese Mainz der geeignetste Kandidat“ war, hielt Hilfrich aber hinsichtlich der persönlichen Eignung für ebenso episkopabel. Woran Pacelli die Tauglichkeit der beiden nach den oben genannten, recht allgemeinen Kriterien genau festmachte, erläuterte er nicht. Vergleicht man ihre Biographien, so springt jedoch eine zentrale Gemeinsamkeit ins Auge, nämlich dass beide ihre philosophisch-theologische Ausbildung als Alumnen des römischen Germanicums an der päpstlichen Gregoriana erhalten hatten, was auch vor dem Hintergrund des französischen Vorbehalts in der Studienfrage nicht unbedingt notwendig war. Offensichtlich war für Pacelli in seiner Personalentscheidung eine dezidiert römisch ausgerichtete theologische Prägung handlungsleitend, was sich auch darin widerspiegelt, dass er die vorgeschlagenen Kaas und Schreiber, die beide ebenfalls Ex-Alumnen des Germanikerkollegs waren, für per se tauglich betrachtete. Den Zentrumsprälaten, den er als wichtige Vertrauensperson schätzte, wollte er jedoch mit Blick auf die anstehenden Konkordatsverhandlungen nicht missen und Schreiber schließlich war Regens im preußischen Fulda und widersprach damit der französischen Kriteriologie. Das gleiche Argument galt natürlich auch für Kaas.
1385
seminaren von 1919 findet sich eine knappe Bemerkung über Hugo, die jedoch nicht verrät, wie gut er ihn kannte: „Rettore Seminario Maggiore Ludovico Hugo. 46 anni. È coadiuvato dal Vice-Rettore. Cʼè un buon economo.“ Votum Pacellis zum Speyerer Priesterseminar ohne Datum [1919] (Abschrift), ACEC, 1920, Pos. 334/19, S. 14–16, hier 14. Hervorhebung im Original. Dem Fazit Selbachs vermag ich nicht zuzustimmen: „Die Ernennung Hugos zeigte … die selbstbewusste Politik des Heiligen Stuhls, der sich sowohl über die deutschen als auch über die französischen Erwartungen hinwegsetzte …“ Selbach, Katholische Kirche, S. 312. Sicher ist es richtig, dass Pacelli einerseits von der Kandidatur Hilfrichs abrückte, obgleich diese mit der Reichsregierung – in welcher Verbindlichkeit auch immer – besprochen worden war und andererseits der – sicherlich schwer zu rechtfertigenden – Forderung Frankreichs, den Namen des neuen Koadjutors vor der päpstlichen Ernennung zu erfahren, auf römische Anweisung nicht nachkam. Aber es ist ebenfalls deutlich geworden, dass der Nuntius mit dem Speyerer Regens einen Geistlichen auswählte, der sowohl einerseits die separatistischen Bestrebungen im Rheinland nicht unterstützte (Konzession an das Deutsche Reich) als auch andererseits nicht preußischer Herkunft und durchaus zur Kooperation mit den rheinischen Besatzern bereit war (Konzession an Frankreich). Pacelli setzte sich demnach nicht über die Erwartungen beider hinweg, sondern versuchte im Gegenteil beide Erwartungen zu erfüllen. Dass Hugo dies vermochte, gibt Selbach selbst zu: „Der neue Mainzer Bischof pflegte einen unbefangenen Umgang mit den Vertretern der französischen Besatzungsmacht, ohne dass dies von deutschen Stellen als ungebührliche Anbiederung empfunden wurde.“ Ebd., S. 311. Dass beide Seiten mit diesem Kompromiss vielleicht nicht hunderprozentig zufrieden waren, liegt in der Natur desselben. 360
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2. Pacelli folgte nachdrücklich dem Vorhaben, einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu installieren, bot dieser doch in seinen Augen mehrere Vorteile: Neben einer größeren Freiheit für den Koadjutor, sich der Restauration der Diözese widmen zu können, wurde durch diesen Modus vor allem eine Bischofswahl des Domkapitels ausgeschlossen. Deshalb zog Pacelli auch den Vorschlag Brentanos, den Koadjutor von den Domherren wählen zu lassen, nicht in Betracht, zumal laut Kirchenrecht ein Koadjutor nur vom Papst ernannt wurde. Der Heilige Stuhl gewann auf diese Weise ein Höchstmaß an Einfluss auf die Personalentscheidung. Ebenso wenig konnte sich Pacelli daher für den ursprünglichen, radikalen Plan Bendixʼ begeistern, der eine Demission Kirsteins und damit eine ordentliche Bischofswahl vorsah. Entscheidend für die Ausschaltung des Wahlrechts durch den Koadjutorplan war, dass die Protagonisten Brentano, Bendix und die übrigen Domherren ihren Streit selbst nicht lösen konnten. Erst deshalb wurde Pacelli in die Angelegenheit hineingezogen. Andernfalls hätte die Situation an der Spitze der Diözese bis zum Tod Kirsteins leicht unverändert bleiben können. In diesem Fall wäre eine Bischofswahl die wahrscheinliche Konsequenz gewesen, doch angesichts der Dissonanzen waren die Domkapitulare sogar bereit, auf dieses Recht freiwillig (!) zu verzichten. Ein weiterer Vorteil, den Pacelli im Koadjutor-Modus sah, war, dass die weitreichende Einflussnahme durch die hessische Regierung, wie sie Ad dominici gregis für eine Bischofswahl vorsah, verhindert wurde. 3. Den hessischen Einfluss auf die Einsetzung des neuen Bischofs wollte Pacelli unterbinden. Dass die Regierung die alten Privilegien des Streichungsrechts und des Wahlkommissars bei einer ordentlichen Bischofseinsetzung eingefordert hätte, lässt sich aus der Besetzung des Domdekanats Anfang 1920 schließen, die in der bislang üblichen Form abgelaufen war. Pacelli sorgte dafür, dass die hessische Regierung einen auswärtigen Kandidaten akzeptierte, obgleich Ad dominici gregis vorsah, dass der Oberhirte aus dem heimischen Klerus kommen musste. Ebenso wirkte Pacelli auf Brentano ein, dass die Regierung die Einsetzung des Koadjutors (gewiss zähneknirschend, aber) ohne Widerstand hinnahm – rechtlich hatte sie hier ohnehin keine Handhabe. Allerdings versuchte sie durch die Forderung, Hugo müsse einen Treueid leisten, noch einen Strohhalm von Einflussnahme zu retten.1386 In der Ansicht, dass diese Forderung angesichts der WRV unsinnig sei, waren sich Bendix, Hugo und Pacelli einig. Doch während ersterer die Ablegung des Eides schlechtweg ablehnte und Hugo bereit war, ihn mit geringfügigen Änderungen zu leisten, nahm Pacelli hier eine Mittelposition ein: Zunächst musste seiner Ansicht nach unbedingt angestrebt werden, diese „den Bischof demütigende“ und der realpolitischen Situation unangemessene staatliche Forderung zu vermeiden. Doch so 1386
Schlussendlich zog Hessen jedoch praktisch die Konsequenzen aus der WRV, wenn auch die hessische Verfassung die kirchlichen Angelegenheiten ausklammerte: „In Hessen, wo weder die Verfassung noch ein besonderes Gesetz das Verhältnis von Kirche und Staat regelt, hat die Verwaltungspraxis dem badischen Vorgang im Wesentlichen entsprochen.“ Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 106. Ab 1933 galt hier schließlich das Reichskonkordat, das für den Besetzungsfall 1935 maßgeblich werden sollte. 361
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weit wie Bendix ging Pacelli wiederum nicht, da er notfalls die Ablegung des Eides in Erwägung zog, sollte die Weigerung für die Kirche einen „schweren Nachteil“ bringen. Er veranschlagte allerdings umfassendere Modifikationen an der Formel als Hugo, durch die er die Gewalt des Staates auf „seinen“ Bereich einschränkte und ihm damit die Kirche als gleichwertige, autonome und vom Staat unabhängige societas gegenüberstellte. Aufschlussreich ist, dass Pacelli den neuen Koadjutor anwies, bei einer möglichen Eidesleistung bloß nicht zu erwähnen, dass Rom dieselbe in irgendeiner Form gestattet hätte. Ebenso korrespondierte Pacelli nur informell mit dem Justizminister, niemals jedoch in offizieller Form als amtlicher Repräsentant des Heiligen Stuhls im Gegenüber zur hessischen Staatsregierung. Die Nomination Hugos ließ er dieser schließlich durch Bendix mitteilen, nicht offiziell von Seiten der Nuntiatur. Der Heilige Stuhl sollte also so wenig wie möglich als identifizierbare Größe bei dem Besetzungsprozess sichtbar sein, um nicht kompromittiert zu werden und nicht Ziel der negativen Stimmungen zu werden, welche die „staatsfreie“ Bestellung des Koadjutors bei den Anhängern des alten Staatskirchentums und – wie Lorbacher bekannte – auf protestantischer Seite hervorrief. Eine nach Auffassung des Staates „zu intensive Einmischung“ von römischer Seite in den Mainzer Besetzungsfall sollte nicht Pacellis letzte Hoffnung auf ein hessisches Konkordat begraben, das nach Ansicht des Domdekans ohnehin schon in weiter Ferne war. Anders als im Bereich des Besetzungsmodus war Pacelli bereit, der hessischen und insbesondere der Reichsregierung in der Kandidatenfrage entgegenzukommen, allerdings nicht kostenlos: Um das nicht zu unterschätzende Problem der Finanzierung dieses zusätzlichen Amtes in der Mainzer Hierarchie zu lösen, nutzte er die Sorge der Deutschen Reichsregierung vor den separatistischen Bestrebungen im Rheinland aus. Er versprach, dass der Heilige Stuhl einen Koadjutor installieren werde, der in „deutscher“ Gesinnung den Separatismus nicht unterstützte, wenn das Reich im Gegenzug für die Bezahlung sorgte. Die Berliner Regierung spielte dieses quid pro quo mit, Reichsaußenminister Simons reiste sogar eigens nach Darmstadt, um mit Hugo zusammenzutreffen und sich ein Bild von ihm zu machen, was die Bedeutung dieser Angelegenheit für die Reichsregierung unterstreicht. Darüber hinaus wurde deutlich, dass Pacelli seinen Kandidaten auch entsprechend den französischen Interessen auswählte. Damit lagen einerseits die römischen Beziehungen zur ältesten Tochter der Kirche im Fokus Pacellis, wenngleich diese rein rechtlich mit dem Mainzer Besetzungsfall nichts zu schaffen hatte. Andererseits verfolgte Pacelli dabei das Ziel, ein gutes Auskommen zwischen dem neuen Koadjutor und der Besatzungsmacht zu sichern. 4. Zu Pacellis Umgang mit seinen Informanten ist zunächst allgemein zu konstatieren, dass er die Fäden fest in der Hand hielt und sich von jedem Befragten adaptierte, was er brauchte, um eine ihm genehme Wiederbesetzung des Mainzer Bischofsstuhls zu erreichen: insbesondere von Brentano den Besetzungsmodus und von Bendix den Kandidaten, was angesichts des tiefgreifenden Konflikts zwischen beiden nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Dabei wandte sich der Justizminister zunächst aus eigener Initiative an Pacelli. Anschließend benutzte ihn letzterer als 362
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informellen Draht zur hessischen Regierung, während er seine Kandidatenvorschläge ignorierte und nur den Wunsch nach einem externen Geistlichen aufgriff. Vom Domdekan und Generalvikar – also dem in der Hierarchie der Mainzer Kirche höchststehenden Geistlichen abgesehen vom schwerkranken Kirstein – verlangte Pacelli ein Exposé über das Verhältnis von Kirche und Staat in Hessen beziehungsweise über die Konkordatsbereitschaft der hessischen Regierung. Nachdem Bendix dieser Aufforderung verspätet nachgekommen war, konferierte der Nuntius mit ihm über alles, was den Besetzungsfall betraf: den Modus, die Kandidaten, die hessischen, reichsdeutschen und französischen Interessen. Er schätzte ihn als „einen Geistlichen von großem Sachverstand und Geschick“, wenn ihm auch viele „aufgrund einiger Eigenheiten seines Charakters“ keine Sympathie entgegenbrachten. Wie Bendixʼ Durchsetzung der Kandidatur Hugos zeigt, schenkte Pacelli ihm trotz aller Warnungen Brentanos und der übrigen Domherren Gehör. An der Meinung letzterer war dem Nuntius wenig gelegen: So wusste er um die Spannungen innerhalb des Gremiums, machte aber dennoch keine Anstalten, ihre Meinung zu hören. Genauso überging Pacelli bei seiner Entscheidung für den Koadjutor den unmittelbar betroffenen Bischof Kirstein. Der Domdekan war demnach die wesentliche Verbindung des Nuntius zur Mainzer Kirche, was sich in dem Augenblick änderte, als Hugo sein Amt angetreten hatte. Eine nach Quellenlage etwas undurchsichtige Rolle spielte Pacellis enger Vertrauter und Berater Kaas: Einerseits verhandelte dieser für den Nuntius in Regierungskreisen, andererseits veranlasste er eigenständig,1387 dass sich die Domkapitulare um Becker an den Nuntius wandten. Als Pacelli den Domdekan nicht als Vermittler zum Rest des Kapitels benutzen konnte, da Bendix selbst Gegenstand des Gesprächs war, wollte er Kaas als Verbindungsmann einsetzen. Der Trierer Kanonist schien über Pacellis Absichten und Schritte im Mainzer Fall informiert. Wie konstitutiv er aber an der Entscheidungsfindung beteiligt war, beantworten die vatikanischen Quellen nicht. Eine zweite Gruppe von Informanten konsultierte Pacelli nur hinsichtlich der Kandidatenfrage und zwar einige für Kandidatenvorschläge und andere für Kandidatenbeurteilungen: a) In die erste Teilgruppe gehörte Pater Dominikus Schropp, Superior der Kapuziner in Waghäusel. Fragt man sich, warum Pacelli nicht zum Beispiel auf die in Mainz und damit vor Ort befindliche Kapuzinerniederlassung zurückgriff,1388 sondern sich an die noch junge badische Ordensniederlas-
1387
1388
Dies geht aus dem Brief des Prälaten vom Jahresanfang 1921 hervor: „Wie ich E[hrwürdiger] Exzellenz in meinem Schreiben vom 26. Dezember mitteilte, fuhr ich zum Jahreswechsel nach Wiesbaden. Da ich so nahe bei Mainz war, dachte ich die Gelegenheit benutzen zu sollen, um Informationen über die Stimmung im dortigen Domkapitel einzuziehen.“ Kaas an Pacelli vom 7. Januar 1921, ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 155r. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch durch die Kulturkampfzeit hindurch bestanden Kapuzinerniederlassungen in Mainz und Dieburg. Nach der vollständigen Wiederzulassung der Männerorden in Hessen 363
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sung – circa 100 km südlich von Mainz gelegen – wandte, gibt die Biographie Schropps die Antwort. Dieser war bis 1917 15 Jahre lang Guardian des angesprochenen Mainzer Klosters gewesen und übte als erster Definitor von 1918 bis 1919 die Leitung der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz aus, bevor er am 12. Juni 1920 als erster Superior nach Waghäusel ging. Schropp war also nicht nur eine hohe Persönlichkeit innerhalb der provinzialen Ordenshierarchie, sondern auch bestens mit den Mainzer Verhältnissen vertraut. Ihn kannte Pacelli genau, was auch daraus hervorgeht, dass er ihn gegenüber Bertram als „einwandfreie[n]“1389 Geistlichen bezeichnete. Dennoch war er mit seinen Vorschlägen nicht zufrieden, suchte nach auswärtigen Geistlichen und wandte sich deshalb an den Breslauer Fürstbischof. Bertram war zu diesem Zeitpunkt der einzige Kardinal an der Spitze eines deutschen Bistums und in diesem Fall Pacellis erster Ansprechpartner in der kirchlichen Hierarchie Deutschlands. Von ihm übernahm Pacelli nicht nur seinen ersten Favoriten Hilfrich, sondern rückversicherte sich bei ihm auch über den kompletten Prozess der personalen Sondierungen hinweg. An einer Einschätzung Bertrams zum Besetzungsmodus war Pacelli indes nicht interessiert. b) Zur zweiten Teilgruppe zählten fast ausschließlich Diözesanbischöfe: nämlich Kilian aus Limburg, der Ordinarius des Wiesbadener Pfarrers, und Schmitt aus Fulda, auf die Bertram zuvor als Bestätigungsinstanzen für die Beurteilung Hilfrichs verwiesen hatte. Nach Pacellis Wechsel zur Kandidatur Hugos versicherte er sich über dessen Qualitäten mündlich beim Münchener Erzbischof Faulhaber, der als ehemaliger Oberhirte von Speyer Hugo als Regens eingesetzt hatte, und erneut beim Ordinarius des Kandidaten, den Speyerer Bischof Sebastian. Außerdem zog Pacelli noch einen Religiosen zu Rate, nämlich den Guardian der Minoriten in Oggersheim, Amandus Meise. Der Minoritenkonvent lag einerseits relativ nahe an Mainz und dem Geburtsort Hugos Arzheim (Landau), gehörte andererseits aber zum Bistum Speyer, sodass Pacelli vermuten konnte, dass Meise Kenntnisse über den Regens besaß. Addiert man Bertram hinzu, welcher der Eignung Hugos nichts entgegenhalten konnte und den Nuntius damit „beruhigte“, so waren es immerhin vier Informanten, von denen sich Pacelli die Dignität des Regens verifizieren ließ: Blindes Vertrauen in den Proponenten Bendix kann man ihm demnach nicht vorwerfen.
1389
im Frühjahr 1919 kehrten die Kapuziner außerdem in das Kloster in Bensheim zurück. Darüber hinaus war die Zahl der Religiosengemeinschaften im Bistum Mainz zum Zeitpunkt der Sedisvakanz, die Pacelli theoretisch hätte konsultieren können, nicht sehr groß: So existierten lediglich zwei Niederlassungen der Franziskanerbrüder vom Heiligen Kreuz sowie eine der Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria. Vgl. zu den Ordensgemeinschaften im Bistum Mainz im 19. und 20. Jahrhundert Braun, Mainz, S. 943–945; Gatz/Schwerdtfeger, Bistum Mainz, S. 499–501; Jürgensmeier, Bistum, S. 297–299; Rommel, Orden; Dies., Werden und Wirken. Pacelli an Bertram vom 19. August 1920 (Entwurf), ASV, ANB 78, Fasz. 1, Fol. 15r. 364
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5. Auffällig ist, dass Pacelli praktisch völlig unabhängig vom Staatssekretariat agierte und während des kompletten Falls nur zwei (!) Nuntiaturberichte nach Rom schickte (plus einem Telegramm zum Tod Kirsteins). Schon im August 1920 verfolgte er den Koadjutorplan und holte die ersten Kandidatenvorschläge ein, informierte Gasparri aber erst im Dezember über die Mainzer Verhältnisse. Zu diesem Zeitpunkt waren für Pacelli alle wesentlichen Prämissen seines Plans zur Einsetzung des Nachfolgers Kirsteins geklärt: nämlich der Besetzungsmodus, der Kandidat, die Finanzierung und die Duldung der hessischen Regierung. Es war ein fertiges Konzept, das Pacelli seinem Vorgesetzten präsentierte und das keine Alternative zum Koadjutor-Modus oder zum Kandidaten Hugo enthielt. Pacelli wollte von Gasparri also keine Entscheidung über das weitere Vorgehen, sondern nur eine Bestätigung seines Vorgehens. In gewisser Weise stellte er Rom damit vor vollendete Tatsachen, denn wie sollte man in der Kurie ohne zusätzliche Informationen das durchgeplante Konzept des Nuntius ablehnen? Folgerichtig wurde Pacellis Plan von Benedikt XV. und Gasparri (beinahe) uneingeschränkt befürwortet. Widerspruch erhielt Pacelli nur hinsichtlich des Umgangs mit der französischen Regierung: Papst und Staatssekretär lehnten sein Ansinnen, Frankreich die Nomination des Speyerer Regens bereits vor der amtlichen Publikation informell mitzuteilen, ab. An diese Vorgabe hielt sich der Nuntius, beharrte aber gleichzeitig darauf, dass ein „gegen“ Frankreich ausgewählter Koadjutor auf tiefgreifende Schwierigkeiten in seiner Amtsausübung stoßen könnte. Während die römische Kirchenleitung hier nur die rechtliche Grundlage vor Augen hatte, gemäß der Frankreich tatsächlich keine Mitsprache bei der Mainzer Besetzung zukam, fügte Pacelli die realpolitische Situation in die Gleichung ein und dachte dabei auch an die römisch-französischen Beziehungen, die eigentlich in das Aufgabenfeld des Kardinalstaatssekretärs fielen. Dass er Hugo unter Berücksichtigung der französischen Interessen ausgewählt hatte, bekannte er Gasparri erst, nachdem die päpstliche Ernennung vollzogen war. Damit bekräftigte er gleichsam, dass es ihm auch ohne informelle Vorabmitteilung gelungen war, die Problematik zu lösen. Pacellis Behauptung schließlich, Hugo sei auch Favorit des Domkapitels, war offenkundig eine Fehlinformation von Bendix. Hier hatte sich Pacelli vom Dekan blenden lassen, denn obgleich die Domherren ihren Widerstand gegen den Speyerer Regens erst später vortrugen, wusste der Nuntius doch um die Spaltung des Kapitels. Dennoch ging er der Sache nicht nach, sondern akzeptierte die Einseitigkeit seiner Quelle, um die Tauglichkeit Hugos vor Gasparri zu untermauern. Nach Lage der vatikanischen Akten korrigierte Pacelli in seiner Berichterstattung die falsche Einschätzung nicht, sodass man im Staatssekretariat nicht erfuhr, dass die Ernennung Hugos in der Mainzer Kirche auf so viel Gegenwind gestoßen war.
365
II.3.3 Rottenburg 1926/27 II.3.3 Rottenburg 1926/27
II.3.3 Eine Bischofswahl zum Preis von Konkordatsverhandlungen: Rottenburg 1926/27 (Joannes Baptista Sproll)1390 Der staatskirchenrechtliche Vorlauf Vor dem Hintergrund des neuen kirchlichen Gesetzbuches und der politischen Umwälzungen in Deutschland, die in der WRV ihren rechtlichen Niederschlag gefunden hatten, stand eine Neuregelung des Kirche-Staat-Verhältnisses auch in Württemberg auf der Agenda.1391 Diese sollte nach Meinung Pacellis, wie er es für alle deutschen Einzelstaaten beziehungsweise für das Reich insgesamt anstrebte, durch ein Konkordat umgesetzt werden. Im Dezember 1919 – im Anschluss an das Promemoria der preußischen beziehungsweise Reichsregierung über den Eintritt in Konkordatsverhandlungen mit dem Heiligen Stuhl1392 – erklärte Pacelli auch gegenüber dem Rottenburger Bischof, Paul Wilhelm von Keppler, dass der Heilige Stuhl zu Verhandlungen über das Verhältnis von Kirche und Staat in Württemberg bereit sei. Der Rottenburger Bischof erfuhr von der Regierung, dass diese kein Interesse an einem Konkordat hatte, vielmehr an eine unilaterale Regelung per Gesetz dachte. Sie war jedoch bereit, im Geiste der Reichsverfassung auf die bisherige Einflussnahme bei der Besetzung der bischöflichen Stühle zu verzichten und weiterhin die finanziellen Leistungen an die Kirche zu zahlen. Auch ging sie von dem Grundsatz aus, dass die Zirkumskriptionsbulle Ad dominici gregis noch Bestand hatte. Sie wollte lediglich die Beziehung
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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Rottenburg 1926/27 grundlegend Wolf, Affäre, wo beinahe alle vatikanischen Quellentexte abgedruckt sind; Burkard, Sproll, S. 38–47; Gatz, Ringen, S. 128–134; Hagen, Geschichte 3, S. 46–52; Hamers, Beziehungen, S. 113–121; Ders., Konkordatspolitik, S. 119–121; May, Kaas 1, S. 181–184; Plück, Konkordat, S. 35f.; Sailer, Bolz, S. 80–82; Speckner, Wächter, S. 227f. Anders als die am 26. April 1919 verabschiedete württembergische Verfassung enthielt ihre an die Reichsverfassung angepasste Form vom 25. September desselben Jahres keine Artikel zur Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften oder zur Religionsausübung, sondern behandelte vor allem vermögensrechtliche Grundsätze. Die §§ 63–65 betrafen lediglich die finanziellen Leistungen, den Angestelltenschutz der Religionsgemeinschaften und die Aufhebung der Patronate. Vgl. Verfassung Württembergs vom 25. September 1919, in: Regierungsblatt für Württemberg Nr. 30 vom 25. September 1919, S. 281–292 beziehungsweise den Auszug bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 140f. (Nr. 102). Vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 789f.; Sauer, Württemberg, bes. S. 74–84. Vgl. zum Kirche-Staat-Verhältnis in Württemberg in der Weimarer Zeit und den Konkordatsverhandlungen Hagen, Geschichte 3, S. 46–52; Hamers, Beziehungen; Ders., Konkordatspolitik. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Reise Pacellis nach Berlin und Köln). 366
II.3.3 Rottenburg 1926/27
von Kirche und Staat der veränderten Rechtslage anpassen, jedoch keine neuen Verhandlungen führen. Diese Ansichten missbilligte Pacelli vollständig, wie Antonius Hamers zusammenfasst: „In dem Versuch Württembergs, einseitig rechtliche Regelungen zu treffen, sah Pacelli nicht nur einen Angriff auf die kirchliche Autonomie, die nicht nur im Selbstverständnis der Kirche als societas perfecta begründet war, sondern nun auch in der Reichsverfassung garantiert war. Darüber hinaus sah er in dem Vorgehen Württembergs auch eine Gefährdung des angestrebten Reichskonkordates und einer kohärenten Konkordatspolitik, die für etwaige Ausnahmen möglichst wenig Raum bieten sollte. Zugeständnisse an die staatliche Seite durften keinesfalls zur Regel werden und waren insofern zu vermeiden.“1393
Seit dem Frühjahr 1921 versuchte Pacelli, die Verabschiedung des geplanten Kirchengesetzes mit allen Mitteln zu verzögern.1394 Seiner Ansicht nach sollte zuerst ein Reichskonkordat abgeschlossen werden, wodurch die einseitige Gesetzgebung in Württemberg überflüssig würde. Eine einseitige staatliche Regelung wäre ein Präzedenzfall, der – wie Pacelli befürchtete – andere deutsche Staaten zu einem ähnlichen Vorgehen motivieren könnte.1395 Ende des Jahres unterrichtete der Nuntius den Kardinalstaatssekretär erstmals über die rechtliche Situation in Württemberg und von seinem Versuch, über Bischof Keppler den Prozess der Rechtssetzung zu beeinflussen, um „möglichst alles das von dem in Vorbereitung befindlichen Projekt zu entfernen, was der Freiheit der Kirche schaden oder ebenso den Abschluss des künftigen allgemeinen Konkordats für das Reich präjudizieren könnte“1396. Damit sei er zum Teil erfolgreich gewesen.1397 Ihn störte allerdings das neuralgische Grundproblem, dass die Regierung für sich in Anspruch nahm, rechtliche Regelungen über kirchliche Belange zu erlassen. 1393 1394 1395
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Hamers, Beziehungen, S. 103. Hervorhebung im Original. Vgl. zu dem Kirchengesetz ausführlich Hamers, Beziehungen, S. 99–113. Weil die württembergische Regierung unbeirrt weiter an dem Kirchengesetz arbeitete, wandte sich Pacelli auch an Reichskanzler Joseph Wirth: „Mit Rücksicht auf das in Aussicht genommene Reichskonkordat und auf die auch im Reichsinteresse erwünschte möglichst einheitliche Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, wäre ich daher Euer Exzellenz sehr zu Dank verpflichtet, wenn der württembergischen Regierung von Reichswegen nochmals eindringlich nahe gelegt werden könnte, unbeschadet der beschleunigten Neuordnung der Rechtsverhältnisse auf protestantischer Seite die Regelung der Beziehung zur katholischen Kirche bis nach Abschluss des obengenannten Reichskonkordates aufzuschieben.“ Pacelli an Wirth vom 21. August 1921 (Entwurf), ASV, ANB 79, Fasz. 1, Fol. 145rv, hier 145v. „… far possibilmente eliminare dal progetto in preparazione … tutto ciò che potesse nuocere alla libertà della Chiesa od altresì pregiudicare la conclusione del futuro Concordato generale per il Reich.“ Pacelli an Gasparri vom 19. Dezember 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 2r–4r, hier 2r. Die Verhandlungen mit Württemberg wurden in engem Kontakt zu Pacelli durch das Rottenburger Ordinariat geführt und das hieß vor allem durch den Generalvikar und Weihbischof Joannes Baptista Sproll. 367
II.3.3 Rottenburg 1926/27
Das bisher geltende württembergische Kirchengesetz von 1862 verpflichtete die Regierung, die in den Zirkumskriptionsbullen festgeschriebenen staatlichen Rechte bei der kirchlichen Ämterbesetzung und somit auch bei der Besetzung des Rottenburger Bischofsstuhls auszuüben.1398 Der neue Gesetzesentwurf, den Keppler der Nuntiatur zukommen ließ, hob diese Bestimmung in § 68, Absatz 1, auf.1399 Im zweiten Absatz hieß es jedoch: „Durch die Aufhebung des Art[ikels] 4 Abs[atz] 2 des genannten Gesetzes [sc. betreffend die Regelung des Verhältnisses der Staatsgewalt zur katholischen Kirche vom 30. Januar 1862, R.H.] werden die Vereinbarungen mit dem Päpstlichen Stuhl, auf denen die Errichtung des Bistums Rottenburg beruht, im Verhältnis zum Päpstlichen Stuhl nicht berührt.“1400 In der Begründung des Gesetzes erklärte die Regierung dazu: „Die Beteiligung des Staats an der Bestellung des Bischofs und der Domgeistlichen ist bei der Errichtung des Bistums Rottenburg durch Vereinbarung der Regierung mit dem Päpstlichen Stuhl geregelt worden … Nach diesen Vereinbarungen wird der Bischöfliche Stuhl durch Wahl des Domkapitels besetzt …; vor der Wahl oder Ernennung hat das Domkapitel oder der Bischof der Regierung eine Kandidatenliste vorzulegen, aus der die Regierung minder genehme Personen streichen kann. Diese Vereinbarungen sind bei der anerkannten völkerrechtlichen Stellung des Papstes den nach den Regeln des Völkerrechts zu beurteilenden Vereinbarungen zwischen zwei Staaten gleichzuachten. Sie sind somit nach Art. 4 der Reichsverfassung, der die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts für bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts erklärt, durch die Reichsverfassung nicht unmittelbar betroffen worden. Die genannten Vereinbarungen sollen auch durch dieses Gesetz nicht berührt werden (§ 68). Art[ikel] 4 Abs[atz] 2 des Gesetzes vom 30. Januar 1862 hat der Regierung die gesetzliche Pflicht auferlegt, die Rechte des Staats aus diesen Vereinbarungen festzuhalten und durchzuführen. Nach § 68 des Entwurfs, der die Aufhebung des Art. 4 Abs. 2 vorschlägt, soll diese gesetzliche Bindung der Staatsregierung entfallen. Sie wird hiedurch in die Lage gesetzt, neue Vereinbarungen abzuschließen und Abweichungen von den Vereinbarungen zuzulassen, ohne die Gesetzgebung in Anspruch nehmen zu müssen. Wenn die bestehende Vereinbarung abweichend vom gemeinen Recht der Kirche (Codex juris canonici can. 329 § 2 …) die Wahl des Bischofs dem Domkapitel … überlässt, so wird auf die Erhaltung dieses Vorrechts auch künftig Wert zu legen sein, während die Vorlegung der Kandidatenliste unbeschadet 1398
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„In Betreff der Besetzung des bischöflichen Stuhles, der Kanonikate und der Domkaplaneien bleibt es bei dem Verfahren, wie solches in der Bulle Ad dominici gregis custodiam vom 11. April 1827 und in dem dazu gehörigen Erläuterungs-Breve vom 22. März 1828 beschrieben ist, sowie bei den Bestimmungen des Königlichen Fundations-Instrumentes vom 14. Mai 1828 über die Eigenschaften der zu Wählenden.“ Art. 4, Abs. 2 des „Gesetzes, betreffend die Regelung des Verhältnisses der Staatsgewalt zur katholischen Kirche“ vom 30. Januar 1862, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche II, S. 196. Vgl. auch Michel, Gesetz, S. 18. Vgl. „Entwurf des Kultusministeriums, betreffend ein Gesetz über die Kirchen“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 5r–9v; abgedruckt bei Michel, Gesetz, S. 336–345. Vgl. „Entwurf des Kultusministeriums, betreffend ein Gesetz über die Kirchen“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 8v. 368
II.3.3 Rottenburg 1926/27
der rechtlichen Geltung der bestehenden Vereinbarung in der Zwischenzeit bis zur Änderung der Vereinbarung nicht mehr zu verlangen sein wird.“1401
Die hier formulierten Entscheidungen lagen nach Pacellis Ansicht nicht im Kompetenzbereich der württembergischen Regierung. Die Fortgeltungsfrage der Zirkumskriptionsbullen und die Frage nach dem Bischofswahlrecht des Domkapitels waren für ihn nur in Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl und das heißt mit ihm persönlich zu klären.1402 Daher trug er Keppler auf, „ohne sich zur Materie zu äußern und von seiner Seite aus jeden Anschein von Billigung oder Zustimmung zu vermeiden“1403, eine ausdrückliche Verwahrung gegen die genannten Punkte einzulegen. Obwohl das Rottenburger Ordinariat den Wünschen des Nuntius nachkam und in den nächsten Monaten mehrere Denkschriften beim Kultusministerium einreichte, wurde der Entwurf unverändert zur Beratung an die Ausschüsse übergeben. Dort lag es an den Zentrumsabgeordneten, Veränderungen zu erwirken.1404 Am 5. und 6. September 1923 sprach der Vorsitzende der württembergischen Zentrumspartei, der Tübinger Philosophieprofessor Ludwig Baur, in dieser Angelegenheit bei Pacelli vor. Wie dieser einige Monate später nach Rom berichtete, habe Baur deutlich gemacht, dass es keinesfalls möglich sei, das genannte Kirchengesetz bis zur Verabschiedung eines Reichskonkordats aufzuschieben.1405 Ungeachtet dessen halte der Vorsitzende die Gelegenheit für günstig, um die Stellung der Kirche in verschiedener Hinsicht zu verbessern und ein erheblich größeres Maß an Freiheit für sie zu erreichen.1406 Zu diesem Zweck gab ihm Pacelli nach eigener Darstellung drei 1401
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„Entwurf des Kultusministeriums betreffend ein Gesetz über die Kirchen. Begründung“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 10r–27r, hier 12r-v. Dies entsprach auch dem Einwand Kepplers gegenüber der Regierung vom Jahresanfang: „Von unsrer Seite wurde sofort mit allem Nachdruck betont, dass die Frage des rechtlichen Fortbestandes der Bestimmungen der Erektionsbullen und auch die Frage der Bischofswahl durch das Kapitel nur im Benehmen mit dem Heiligen Stuhl gelöst werden könne und wahrscheinlich in einem Reichskonkordat entschieden werde.“ Keppler an Pacelli vom 8. Februar 1921, ASV, ANB 79, Fasz. 1, Fol. 52r–53r, hier 52r-v. „… senza pronunziarsi in materia ed evitando da parte sua qualsiasi apparenza di approvazione o di consenso …“ Pacelli an Gasparri vom 19. Dezember 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 3v. Das Zentrum bildete zusammen mit der DDP und seit Ende 1921 auch mit der SPD die Regierungskoalition. Vgl. zur politischen Entwicklung in Württemberg in diesem Zeitraum Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 789–794, hier 790f.; Schnabel, Württemberg, hier S. 29f.; Weber, Bürgerpartei, bes. S. 36–53. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 15. Februar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1936, Pos. 508 P.O., Fasz. 18, Fol. 3r–6r. Baurs Versuche, der württembergischen Regierung anstatt des Gesetzes noch einmal ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl schmackhaft zu machen, blieben ergebnislos: „Ich hätte es am liebsten gesehen – und habe meine Bemühungen bei den entscheidenden staatlichen Stellen (leider ohne Erfolg) auch darauf gerichtet, dass die Kirchenfrage im weitesten Sinne gestellt u[nd] in Verhandlungen mit 369
II.3.3 Rottenburg 1926/27
Direktiven mit auf den Weg, wie sich die katholischen Abgeordneten im Landtag zu verhalten hatten: 1) jede Gefahr vermeiden, den Heiligen Stuhl zu kompromittieren, „der beabsichtigt, seine volle Freiheit in den Angelegenheiten Seiner ausschließlichen Kompetenz zu erhalten“1407. 2) versuchen, in das Gesetzesvorhaben „alle möglichen Verbesserungen für die Freiheit und Rechte der Kirche“1408 einzuführen. Sollte das fehlschlagen, müsse eine explizite Erklärung und Verwahrung in den Landtag eingebracht werden, „um die Grundsatzfrage zu retten“1409. 3) aus dem Vorhaben alles entfernen, was als eine Konzession des Heiligen Stuhls an die weltliche Macht interpretiert werden könnte – als Beispiel nannte Pacelli die Bestimmungen zur Vorbildung des Klerus1410 –, um den Wert dieser Konzessionen für die künftigen Verhandlungen nicht a priori
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dem Apostolischen Stuhl geregelt werden solle. Da dies nicht geschah u[nd] der Kirchengesetzentwurf der württemb[ergischen] Regierung eine ganz gleichmäßige Regelung für alle Kirchen bzw. Religionsgesellschaften vorsieht, so bleibt nichts anderes für die katholischen Abgeordneten übrig, als zu versuchen, möglichst die Anforderungen des Codex Iuris Canonici zur Geltung zu bringen u[nd] im Übrigen dafür zu sorgen, dass in dem Gesetz nichts behandelt wird, was unzweifelhaft der Kompetenz des Apostolischen Stuhls vorbehalten bleiben muss.“ Baur an Pacelli vom 19. August 1923, ASV, ANB 79, Fasz. 1, Fol. 327r–328v, hier 327r-v. „… la quale intende di mantenere la Sua piena libertà nelle materie di Sua esclusiva competenza.“ Pacelli an Gasparri vom 15. Februar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1936, Pos. 508 P.O., Fasz. 18, Fol. 3v. „… tutti i possibili miglioramenti a favore della libertà e dei diritti della Chiesa …“ Pacelli an Gasparri vom 15. Februar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1936, Pos. 508 P.O., Fasz. 18, Fol. 3v. „… per salvare la questione di principio.“ Pacelli an Gasparri vom 15. Februar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1936, Pos. 508 P.O., Fasz. 18, Fol. 3v. In § 47, Satz 1 legte der Gesetzesentwurf fest: „Wenn ein Geistlicher infolge strafgerichtlicher Verurteilung zur Bekleidung öffentlicher Ämter unfähig wird, verliert er für die Dauer der Unfähigkeit die mit dem Kirchenamt verbundene staatsrechtliche Stellung, sowie die Befugnis zur Beteiligung an der kirchlichen Vermögensverwaltung und Besteuerung. Ein kirchlicher Beamter verliert in demselben Fall dauernd das von ihm bekleidete kirchliche Amt.“ „Entwurf des Kultusministeriums, betreffend ein Gesetz über die Kirchen“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1919–1921, Pos. 1737, Fasz. 910, Fol. 7r. Die Begründung zu diesem Gesetz leitete aus den staatsrechtlichen Befugnissen der Geistlichen ein Mitspracherecht bei der Vorbildung der Kleriker ab: „Der Staat wird sich daher auch künftig auf Grund des Art[ikel] 137 Abs[atz] 5 und 8 der Reichsverfassung das Recht vorbehalten müssen, für die Besetzung der Kirchenämter, soweit erforderlich, gewisse persönliche Voraussetzungen aufzustellen. Da jedoch diese Frage noch nicht allseitig geklärt ist, beschränkt sich der Entwurf darauf, in § 47 eine Lücke auszufüllen, die andernfalls durch die Aufhebung der staatlichen Ernennungs- und Ausschließungsrechte entstehen würde, und sieht im übrigen von einer Regelung ab, indem er hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der Geistlichen und kirchlichen Beamten und der staatlichen Mindestanforderungen an die Vorbildung der Geistlichen das bisherige Recht (Art[ikel] 3 des Gesetzes vom 30. Januar 1862 …) bis zu einer späteren endgültigen Ordnung unverändert bestehen lässt. … Die Vereinbarung mit dem Päpstlichen Stuhl, nach der der Bischof aus dem Diözesanklerus zu wählen ist (vergl[eiche] die Bulle Ad Dominici gregis custodiam …) bleibt nach § 68 unberührt. Eine gesetzliche Verpflichtung der Regierung, an dieser Bestimmung festzuhalten, stellt der Entwurf nicht auf; wenn daher in einem künftigen Fall das Dom370
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zu schmälern. Für Zugeständnisse wollte Pacelli in den Konkordatsverhandlungen Gegenleistungen erzielen. Am 3. März 1924 wurde das Kirchengesetz schließlich promulgiert.1411 Besonders aufgrund Baurs Engagement hatte Pacelli sein Ziel erreicht, dass die Materie, die seiner Überzeugung nach in den Kompetenzbereich des Heiligen Stuhls fiel und Gegenstand eines Reichskonkordats sein sollte, nicht im Gesetz verankert wurde. So sparte das Kirchengesetz wesentliche kirchliche Angelegenheiten aus, darunter auch die Ämterbesetzung und Vorbildung der Geistlichen.1412 Im Gegenteil hob es sogar die Bestimmungen des alten Gesetzes von 1862 ausdrücklich auf.1413 Wie Baur dem Nuntius schon am 10. Februar mitteilte, sei er mit dem Ergebnis des Kirchengesetzes sehr zufrieden, denn fast allen wichtigen Einwendungen Pacellis habe man Genüge tun können.1414 Die Analyse des Abgeordneten zitierte Pacelli in seiner Berichterstattung für den Kardinalstaatssekretär: Baur „stellte fest, dass nach dem neuen Gesetz, ‚die Besetzung der bischöflichen Stühle, der Kanonikate und Pfründe in der Kathedralkirche in Zukunft frei ist, wie die Regierung offiziell zum Ausdruck gebracht hat und sich darüber hinaus in der Begründung des Gesetzes ausgedrückt findet. Die Regierung von Württemberg wird diesbezüglich in Zukunft keinen Einfluss mehr ausüben, auch könnte sie es nicht mehr aus Gründen der Gleichberechtigung [sc. mit den Protestanten, R.H.]. Das Plazet des Staates existiert nicht mehr. Das Patronat des Staates ist abgeschafft; die Kirche ernennt ihre Ämter frei, wie die Reichsverfassung vorschreibt …ʻ.“1415
kapitel einen nicht zum Diözesanklerus gehörigen Reichsdeutschen zum Bischof wählen will, so ist die Regierung gesetzlich nicht gehindert, dieser Abweichung von der Vereinbarung ihre Zustimmung zu geben.“ „Entwurf des Kultusministeriums betreffend ein Gesetz über die Kirchen. Begründung“ ohne Datum, ebd., Fol. 12v. Der angesprochene Artikel 3 des Gesetzes vom 30. Januar 1862 hatte wiederum verfügt, dass die Zulassung zu einem Kirchenamt von der Inhaberschaft der württembergischen Staatsbürgerschaft und einer vom Staat für ausreichend angesehenen wissenschaftlichen Qualifikation abhängig war. 1411 Vgl. „Gesetz über die Kirchen“ vom 3. März 1924, in: Regierungsblatt für Württemberg Nr. 13 vom 11. März 1924; auszugsweise abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 190–198. Vgl. dazu Michel, Gesetz; Sauer, Württemberg, S. 143. 1412 Es legte lediglich in § 56 fest, dass Kirchenämter nur an deutsche Staatsbürger verliehen werden durften. Vgl. „Gesetz über die Kirchen“ vom 3. März 1924, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 196. 1413 Vgl. § 69 Abs. 2 des „Gesetzes über die Kirchen“ vom 3. März 1924, Regierungsblatt für Württemberg Nr. 13 vom 11. März 1924. 1414 Vgl. Baur an Pacelli vom 10. Februar 1924, ASV, ANB 79, Fasz. 1, Fol. 347rv. 1415 „… ed ha osservato che, secondo la nuova legge, ‚la provvista della Sede vescovile, dei Canonicati e delle prebende nella Chiesa cattedrale è libera nellʼavvenire, come il Governo ha dichiarato officialmente e trovasi espresso altresì nella Motivazione della legge. Il Governo del Wuerttemberg non eserciterà più 371
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Das bedeutete also: völlige Freiheit der Ämterbesetzung und keine Vorlage der Kandidatenliste mehr.1416 Grundsätzlich konnte Pacelli zufrieden sein, das „Schlimmste war verhindert worden, dass nämlich der Staat einseitige Regelungen erließ, die in den Bullen geregelte Bereiche beträfen“1417. Kultusminister Johannes von Hieber machte jedoch anschließend keine Anstalten, eine Neuverhandlung dieser Materie mit dem Heiligen Stuhl zu beginnen. Damit bestand nach Ansicht des Heiligen Stuhls eine rechtliche Lücke, die geschlossen werden musste. Auf Veranlassung Pacellis ordnete Gasparri daher in einem Zirkularschreiben an die Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz vom 2. Juni 1926 an, dass hinsichtlich der kirchlichen Ämterbesetzung und vornehmlich der Bestellung der Diözesanbischöfe das ius commune anzuwenden sei und zwar donec aliter disponatur.1418 Die Bischofsstühle sollten künftig also mittels einer freien Ernennung durch den Papst gemäß Can. 329 § 2 CIC 1917 besetzt werden. Das Schreiben argumentierte, dass nach den politischen Umwälzungen in Deutschland 1918/19 eine reine Umsetzung der Zirkumskriptionsbullen nicht mehr statthaft sei. Die Formulierung war allerdings außerordentlich sorgfältig gewählt, damit kein Verdacht einer grundsätzlichen Aufkündigung der Bullen seitens des Heiligen Stuhls aufkommen konnte: „… sodass die in den alten Bullen enthaltenen Rechte nicht länger vollständig ausgeübt werden können.“1419 Wesentlich ist, dass der Entwurf des Schreibens aus Pacellis Feder stammte, der damit auch der Urheber dieser diplomatisch geschickten Formel war.1420 Da sich aber – so folgerte das Zirkularreskript – die Staaten des Oberrheins im Gegensatz
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al riguardo per il futuro alcuna influenza, né potrebbe farlo anche per ragioni di parità. Il Placet dello Stato non esiste più. Il patronato dello Stato è abolito; la Chiesa nomina liberamente ai suoi uffici, come prescrive la Costituzione del Reich …ʻ.“ Pacelli an Gasparri vom 15. Februar 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1936, Pos. 508 P.O., Fasz. 18, Fol. 4v–5r. Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 106. Hamers, Beziehungen, S. 112. Vgl.: „Consequenter Sancta Sedes, quae adhuc in singulis casibus in provisione beneficiorum et officiorum vancantium concesserat ut antiquum ius servaretur, quamvis semper sub clausula ‚pro hac vice et sine praeiudicio futuri temporis‘ neque ulterius eandem sequi viam in praedictis provisionibus, atque declarat in posterum in Tua Archidioecesi, donec aliter disponatur, servandum ius commune.“ Gasparri an Fritz vom 2. Juni 1926 (Abschrift), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 13rv, hier 13r-v. Vgl. die italienische Fassung an Keppler vom 2. Juni 1926 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1932, Pos. 558 P.O., Fasz. 76, Fol. 7r–8r (nur r); deutsche Übersetzung abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 350f. (Nr. 190). Vgl. dazu auch Föhr, Geschichte, S. 9; Grossmann, Besetzung, S. 415–417 und zum weiten Kontext der badischen Konkordatsverhandlungen Bd. 3, Kap. II.3.4 (‚Vorgeschichte‘: Pacellis Ringen um ein Konkordat mit Baden). „… ita ut iura in veteribus Bullis contenta non amplius plene exerceri possint.“ Gasparri an Fritz vom 2. Juni 1926 (Abschrift), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 13r. Hervorhebungen R.H. Vgl. den italienischen Enwurf Pacellis, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1932, Pos. 558 P.O., Fasz. 76, Fol. 5rv; außerdem Pacelli an Gasparri vom 16. Mai 1926, ebd., Fol. 4rv und Gasparri an Pacelli vom 2. Juni 1926, ASV, ANB 82, Fasz. 2, Fol. 253r. 372
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zu Bayern und Preußen dennoch nicht zu Verhandlungen zwecks Neuregelung der staatskirchlichen Beziehungen bereitgefunden hätten, bleibe Rom nichts anderes übrig, als die Normen des CIC umzusetzen.
Der Tod von Bischof Paul Wilhelm von Keppler Kurz vor seinem Tod informierte der Rottenburger Bischof von Keppler seinen Generalvikar und Weihbischof, Joannes Baptista Sproll, sowie den Domdekan, Max Kottmann, über diese römische Maßnahme. Nach seinem Tod am 16. Juli 1926, im 27. Jahr seiner bischöflichen Amtszeit, musste sich zeigen, ob sich diese Anordnung praktisch in die Tat umsetzen ließ. Sofort übermittelte Kottmann dem Nuntius die Trauernachricht.1421 Auf den 20. des Monats waren die Exequien angesetzt.1422 Pacelli kondolierte dem Domkapitel umgehend und drückte dem verstorbenen Bischof mit hohem Lob seine Wertschätzung aus,1423 bevor er die Nachricht an den Kardinalstaatssekretär telegraphierte.1424 Letzteren unterrichtete Weihbischof Sproll über die näheren Umstände des Todes Kepplers: Der Oberhirte habe wegen Unwohlseins die Zelebration einer Heiligen Messe unterbrechen müssen und anschließend einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich nicht mehr erholt habe.1425 Sproll zeigte Gasparri außerdem an, noch am 16. Juli durch die Rottenburger Domherren einstimmig zum Kapitelsvikar gewählt worden zu sein.1426
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Vgl. Kottmann an Pacelli vom 16. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 2r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 89. Vgl. Todesanzeige für Keppler vom Domkapitel vom 16. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 3r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 90. „Das Bistum Rottenburg hat in ihm [sc. Keppler, R.H.] einen treu besorgten, von der schweren Verantwortung seines heiligen Amtes ganz erfüllten Vater, dessen Tätigkeit Gottes reichster Segen begleitete, das katholische Deutschland einen seiner würdigsten Priester, seine Heimat einen ihrer hochsinnigsten Gelehrten und Geistesmänner, verloren. Ich selbst rechne es mir zu besonderem Glücke an, während der langen Jahre amtlichen und persönlichen Verkehrs mit Exzellenz von Keppler in ihm einen der edelsten Menschen und einen Bischof gefunden zu haben, der aus innerster religiöser und katholischer Überzeugung seiner Kirche und ihrem Oberhaupte treu zugetan war.“ Pacelli an Kottmann vom 17. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 7r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 94. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 18. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 8r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 95. Vier Tage später übermittelte der Kardinalstaatssekretär die Anteilnahme des Papstes. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 22. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 15r. Vgl. Sproll an Gasparri vom 17. Juli 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 4r–5r. Gasparri bestätigte die Wahlanzeige kurz vor Monatsende. Vgl. Gasparri an Sproll vom 28. Juli 1926 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 6r. Vgl. auch die Wahlanzeige vom 16. Juli 1926, in: Kirchliches Amts-Blatt für die Diözese Rottenburg Nr. 12 vom 16. Juli 1926. 373
II.3.3 Rottenburg 1926/27
Wahl oder Ernennung? Das Punctum saliens der Frage nach der Wiederbesetzung In dieser Funktion wandte sich Sproll zwei Tage nach der Beerdigung Kepplers an Pacelli, um die Sprache auf die Regelung der Wiederbesetzung des Bischofsstuhls zu bringen.1427 Der Kapitelsvikar erinnerte daran, dass das Kirchengesetz von 1924 die Materie der Ämterbesetzung ausgelassen hatte, damit diese in einem künftigen Konkordat geregelt werden konnte. Wie es um die Reichskonkordatsverhandlungen stand, wusste Sproll nicht und ein Konkordat mit Württemberg schien ihm gegenwärtig unerreichbar. Gerade deshalb hatte der Heilige Stuhl kaum zwei Monate zuvor die Anwendung des allgemeinen Rechts angeordnet. Diese Instruktion habe Keppler kurz vor seinem Tod jedoch kritisch beäugt, wie Sproll berichtete: „Exzellenz hatte aber die Besorgnis, dass die württembergische Regierung und die Volksvertretung sich ihrerseits auch nicht mehr an die Errichtungsbullen gebunden glaube, wenn man diese Bullen – vollends ohne jede vorhergehende Verständigung mit der Regierung – kirchlicherseits außer Kraft setze. Auf diesen Bullen ruht aber die Bistumsdotation und die Unterhaltung (der Konvikte und) des Priesterseminars.“1428
Zwar wolle die Regierung keinen Einfluss auf die Bischofsbestellung ausüben, was ihr die Reichsverfassung auch klar verbiete. Dafür sei sie aber an den übrigen Bestimmungen von Ad dominici gregis interessiert, womit Sproll offensichtlich auf das Wahlrecht des Domkapitels anspielte. Was die Regierung für Konsequenzen aus dem einseitigen Handeln Roms ziehen werde, sei noch offen. Nach Eingang der genannten Weisung des Staatssekretariats vom 2. Juni habe der Diözesanbischof den Domdekan gebeten, nach seinem Tod die Bedenken beim Nuntius in Berlin persönlich vorzubringen. Sproll bat Pacelli daher, Kottmann in Kürze zu empfangen. Der Nuntius war sofort bereit, dem Rottenburger Abgesandten eine Audienz zu gewähren, die auf den 4. August terminiert wurde.1429 Aber hinsichtlich des eigentlichen Anliegens blieb er hart: „Unter Bezugnahme auf den sachlichen Inhalt Ihres geschätzten Schreibens glaube ich jedoch bereits jetzt pflichtgemäß und streng vertraulich darauf hinweisen zu müssen, dass meines Erachtens eine Aussicht auf Abänderung der vom Heiligen Stuhl aus zwingenden Erwägungen allgemeiner und grundsätzlicher Natur erlassenen Instruktion für ein einzelnes Land und somit auch für Württemberg nicht besteht.“1430 Vgl. Sproll an Pacelli vom 22. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 13r–14r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 98f. 1428 Sproll an Pacelli vom 22. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 13v. Vgl. die Festlegung der Dotation des Bistums Rottenburg in Provida solersque, Nr. IV.4, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 253f. 1429 Vgl. Pacelli an Sproll vom 23. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 15r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 101. Vgl. auch Sproll an Pacelli vom 28. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 18r. 1430 Pacelli an Sproll vom 23. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 15r. Hervorhebung im Original. 1427
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II.3.3 Rottenburg 1926/27
Pacelli war sich demnach sicher: Wenn man eine Ausnahme für Württemberg machte, würden sich Baden und Hessen bei den nächsten Sedisvakanzen in ihren Bistümern daran erinnern und auf dasselbe Recht pochen. Für das in Ad dominici gregis verbürgte Wahlrecht des Domkapitels waren das keine guten Aussichten. Am 26. Juli schilderte der Nuntius seinem römischen Vorgesetzten in ausführlicher Form Sprolls Auffassung von der Fortgeltung des Kapitelswahlrechts und wie er selbst darauf reagiert hatte.1431 Dabei rief er Gasparri die Folgen eines solchen Zugeständnisses aus gesamtdeutscher Perspektive in Erinnerung: „Ich werde mich daher darauf beschränken, ehrerbietig anzumerken, dass, falls in Württemberg, das bisher nicht mit dem Heiligen Stuhl verhandeln wollte, die Domkapitelswahl beibehalten werden sollte, man diese (wie mir scheint absurde) Konsequenz erhielte: dass nämlich, während der Heilige Stuhl den Staaten, die einen neuen Vertrag abgeschlossen haben oder vorhaben, einen solchen abzuschließen (Bayern und Preußen), nur sehr begrenzte Zugeständnisse bezüglich der Besetzung der bischöflichen Stühle gewährt, hingegen jene Länder, die nicht die Absicht haben, mit dem Heiligen Stuhl zu verhandeln, sondern einseitig Gesetze erlassen, das Recht der Kapitelswahl unangetastet bewahren würden, für dessen Durchsetzung die Regierungen Bayerns und Preußens so vehement, wenn auch vergeblich eingetreten sind.“1432
Mit anderen Worten: Bayern und Preußen dürften nicht noch dafür bestraft werden, dass sie Kirchenverträge abschlossen, indem man den unwilligen Staaten Rechte einräumte, die den erstgenannten in den Konkordatsverhandlungen nicht oder nur mit Gegenleistungen konzediert wurden. Besonders die laufenden Verhandlungen um ein Preußenkonkordat würden völlig kompromittiert, weil man – so der Nuntius – Preußen nicht verweigern könne, was man Württemberg zugestehe. Da für Pacelli eine Wahl des Nachfolgers Kepplers durch das Domkapitel also unmöglich war, beschäftigte er sich mit den etwaigen Folgen, die aus der Ablehnung resultieren könnten. An erster Stelle stand hier, dass der Staat seine Verpflichtung zur Dotation für aufgehoben betrachtete. Wenn diese Gefahr ernsthaft im Begriff sein sollte, realisiert zu werden, dachte der Nuntius an den Ausweg, den bischöflichen Stuhl von Rottenburg so lange 1431
1432
Vgl. Pacelli an Gasparri vom 26. Juli 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 8r–10v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 102–106. „Mi limiterò quindi ad osservare rispettosamente come, qualora nel Württemberg, che non ha voluto sino ad ora trattare colla Santa Sede, venisse mantenuta la elezione capitolare, si avrebbe questa (sembrami, assurda) conseguenza: che cioè, mentre agli Stati, i quali hanno concluso o si propongono di concludere una nuova Convenzione (Baviera e Prussia), la Santa Sede non accorda se non concessioni assai limitate circa la provvista delle Sedi vescovili, invece quei Paesi, i quali non intendono di negoziare con Essa, ma legiferano unilateralmente, conserverebbero intatto il diritto della elezione capitolare, per il cui conseguimento così fortemente, sebbene invano, hanno insistito i Governi bavarese e prussiano.“ Pacelli an Gasparri vom 26. Juli 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 9v–10r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 103. 375
II.3.3 Rottenburg 1926/27
vakant zu lassen, bis sich die Situation geklärt hatte. Möglich wäre das – so Pacelli – insbesondere deshalb, weil der Kapitularvikar und bisherige Generalvikar Sproll „tatsächlich ein guter Verwalter“1433 sei, sodass der Diözese aus einer längeren Sedisvakanz keine tiefgreifenden Schäden entstünden. Für die Zwischenzeit kündigte er an, geeignete Bischofskandidaten sondieren zu wollen. Als hauptsächliches Kriterium für die Suche formulierte er, „dass der neue Hirte die notwendigen Qualitäten haben soll, um für die Ausbildung des jungen Klerus zu sorgen und sie zu reformieren, insbesondere in Württemberg, wo die künftigen Priester ihre Studien an der Theologischen Fakultät der Universität von Tübingen abschließen müssen“1434. Pacelli sorgte sich also um den geistlichen Nachwuchs, stand doch die der protestantischen Universität eingegliederte Katholisch-Theologische Fakultät besonders in dem Ruf, lehramtsfern, liberal, historisch-kritisch und damit anfällig für modernistisches und protestantisches Gedankengut zu sein.1435 Der Kardinalstaatssekretär stimmte den Überlegungen Pacellis Anfang August vollkommen zu und ließ ihn in seinem Sinne weiter gewähren.1436
Die Suche nach passenden Bischofskandidaten Schon vor Gasparris Erlaubnis begann Pacelli mit der angekündigten Kandidatensuche. In dieser Angelegenheit hatte er bereits wenige Tage nach dem Tod Kepplers Post vom Tübinger Moral-
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„… infatti buon amministratore …“ Pacelli an Gasparri vom 26. Juli 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 10r. „… che il nuovo Pastore abbia le qualità necessarie per curare e riformare la educazione del giovane clero, massime nel Württemberg, ove i futuri sacerdoti debbono compiere i loro studi nella Facoltà teologica della Università di Tübingen.“ Pacelli an Gasparri vom 26. Juli 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 10v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 103. Zwei Jahre später bewertete Pacelli den Zustand von Katholisch-Theologischer Fakultät und Wilhelmsstift folgendermaßen: „Senza dubbio lʼattuale stato dei medesimi, ed in particolar modo del Convitto teologico, è, grazie al Cielo, ben diverso da quello sopra lamentato dei tempi antichi; tuttavia non pochi miglioramenti sembrano ancora necessari od opportuni, affine di consolidare la disciplina, eliminare gli inconvenienti tuttora esistenti, in una parola, attuare praticamente quanto la S. Congregazione dei Seminari e delle Università sapientemente prescriveva al riguardo nella Istituzione segreta ad Germaniae Archiepiscopos et Episcopos de Clericis instituendis del 9 Ottobre 1921 …“ Pacelli an Gasparri vom 26. Juni 1928, S .RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1932, Pos. 558 P.O., Fasz. 76, Fol. 24r–48r, hier 47v–48r. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu etwa mit zahlreichen Beispielen und inkriminierten Theologen Burkard, Theologie; Hagen, Reformkatholizismus; Hülsbömer, Adam; Reinhardt, Fakultät, bes. S. 15–17; Ders., Theologie; Ders., Auseinandersetzungen; Seckler, Gericht. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 3. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 20r. 376
II.3.3 Rottenburg 1926/27
theologen Otto Schilling erhalten.1437 Dieser glaubte, dass unter den Namen für die mögliche Nachfolge des Verstorbenen auch der des Domdekans genannt werden würde. Das war für Schilling Ansporn, „im Interesse des bonum commune“1438 seine Meinung zur Wiederbesetzung kundzutun, die vor allem beinhaltete, die Bestellung von Kottmann zum Diözesanbischof zu verhindern. Zwar sei dieser diplomatisch geschickt und verfüge über eine überdurchschnittliche Geschäftsgewandtheit. Dagegen fehle ihm jedoch eine profunde theologische Ausbildung. Zwar war Kottmann ebenso wie Schilling vormals Theologieprofessor gewesen, vertrat jedoch keinen Thomismus. Schilling gefiel „die ganze liberale und staatskirchliche Richtung nicht, für die Kottmann stand“1439. Darüber hinaus übte er harsche Kritik an dessen Lebenswandel: „Aber das Wichtigste ist, Dr. Kottmann hat sich im gesellschaftlichen Verkehr, genauer gesagt im Besuch von Wirtschaften und im Konsum alkoholischer Getränke etwas zu wenig Reserve auferlegt.“1440 Auch Keppler habe nach und nach eingesehen, sich in Kottmann geirrt zu haben. Laut Schilling monierte der mittlerweile verstorbene Oberhirte „dieses Herumsitzen in den Wirtshäusern“1441 streng, als Kottmann in einer Wirtsschenke Interna über einen auswärtigen Bischof erzählt habe. Nachdem der Moraltheologe auf diese Weise versucht hatte, Kottmann auf dem Gebiet des Lebenswandels zu diskreditieren,1442 kam er auf drei weitere mögliche Kandidaten zu sprechen: Weihbischof Sproll und die Domkapitulare Franz Joseph Fischer sowie Karl Aigeltinger. Sproll sei Fischer unter wissenschaftlich-intellektueller Perspektive überlegen, allerdings gehe ihm „der
Vgl. Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 10rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 96f. 1438 Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 10r. 1439 Wolf, Affäre, S. 40. 1440 Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 10r. Diese Behauptung untermauerte Schilling mit einer Geschichte, die sich vor ungefähr zwei Jahren in einem Wirtshaus zugetragen haben sollte: „… da machten zwei Geistliche, darunter Professor Baur, jetzt in Breslau, ebenfalls von hier den ‚Scherzʻ, dass sie den Herrn Domdekan feierlich mit brennenden Kerzen zum und vom Abort geleiteten; die Wirtsleute nahmen daran, wie mir der Geistliche, mein Gewährsmann, berichtete, schweren Anstoß.“ Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ebd., Fol. 10r-v. Über die damit vermutlich verbundene Anspielung auf die kurz vorher vollzogene Ernennung Kottmanns zum Päpstlichen Thronassistenten (insofern man in vulgärer Sprache „Thron“ für „Toilette“ verwendete) vgl. Wolf, Affäre, S. 40. 1441 Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 10v. 1442 Diese Form der Denunziation war offenbar eine beliebte Methode Schillings. Er benutzte sie ebenso im Jahr 1932, wiederum mit einem Schreiben an Pacelli, während des Inquisitionsverfahrens gegen die Werke des Tübinger Dogmatikers Karl Adam. Schilling versuchte, einen Beitrag zur Verurteilung Adams zu leisten. Dort nahm Pacelli die Informationen gerne auf, ließ sich von ihnen aber nicht übermäßig beeinflussen, da er maßgeblich dafür sorgte, dass Adam einer Indizierung entging. Vgl. dazu die knappen Hinweise bei Hülsbömer, Adam. 1437
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feine Takt“ ab, er sei „mehr ‚Bauernbischofʻ, jedoch, was sonst den Charakter angeht, tadellos“1443. Noch eher als Fischer komme Aigeltinger trotz seiner mittlerweile 60 Jahre infrage. Schilling rechtfertigte diese mehr als deutliche Darstellung mit seiner Liebe zur Wahrheit und zur Kirche. Nicht abwegig ist, dass er sich implizit selbst als episkopablen Geistlichen ins Spiel bringen wollte, offen vorschlagen konnte er sich ja nicht. Mit seiner theologisch-ultramontanen Ausrichtung sah Pacelli in ihm sicherlich einen Gleichgesinnten. Dennoch begegnete er den Anschuldigungen mit Vorsicht und prüfte sie in der Folgezeit nach, während er gleichzeitig weitere Kandidatenvorschläge sammelte. Zur Personengruppe, der Pacelli eine fachkundige Auskunft zutraute, gehörten drei Jesuiten: Rudolf Stiegele, Superior in Stuttgart, Heinrich Bleienstein aus Innsbruck, der von 1921 bis 1925 als Theologenspiritual in Tübingen tätig gewesen war, sowie dessen Nachfolger als Spiritual am Wilhelmsstift, Robert Köppel. Diese Jesuitentrias kontaktierte der Nuntius am 27. Juli sub secreto Sancti Officii mit einem jeweils gleichlautenden Brief.1444 Als Bewertungsgrundlage gab er den Jesuiten an die Hand, dass es „der Wunsch des Heiligen Stuhls“ sei – eigentlich Pacellis Wunsch –, dass „der zukünftige Bischof neben den anderen Eigenschaften, die ihn für sein Amt geeignet erscheinen lassen,1445 vor allem fähig und gewillt sei, die wissenschaftliche Bildung der Priesterkandidaten seiner Diözese den kirchlichen Grundsätzen und den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechend zu gestalten“1446. Was Pacelli unter diesen Zeiterfordernissen verstand, lässt sich an seinem erst knapp zwei Monate zuvor abgefassten Kommentar zur Denkschrift des Jesuiten Augustin Bea über die Lage der deutschen Kirche ablesen:1447 nämlich eine romorientierte Studienreform zugunsten der scholastisch-spekulativen Philosophie und Theologie gemäß dem Geheimerlass der Studienkongregation an den deutschen Episkopat vom 9. Oktober 1921.1448 1443 1444
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Schilling an Pacelli vom 19. Juli 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 10v. Vgl. Pacelli an Stiegele, Bleienstein und Köppel vom 27. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 17rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 107f. Dabei dachte Pacelli vermutlich an den Katalog, den der Can. 331 § 1 des CIC 1917 als Voraussetzung für das Bischofsamt verlangte. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. I.6. Pacelli an Stiegele, Bleienstein und Köppel vom 27. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 17r. Vgl.: „I difetti nella educazione del clero … furono già presi in attento esame dalla S. Congregazione dei Seminari e delle Università, la quale indirizzò in data del 9 ottobre 1921 una Circolare riservata ai Revmi Vescovi della Germania, in cui i punti indicati dal Rev. P. Bea circa la formazione così spirituale come scientifica dei cherici erano ampiamente e sapientemente trattati.“ Pacelli an Gasparri vom 26. Mai 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1933, Pos. 565 P.O., Fasz. 81, Fol. 102r–104v, hier 103v. Beas „Relatio de statu rei catholicae in Germania“ vom Frühjahr 1926 ist abgedruckt, übersetzt und kommentiert bei Unterburger, Gefahren. Vgl dazu Bd. 1, Kap. II.1.3 (Der Kandidat von Ludwig Kaas: Nikolaus Bares). 378
II.3.3 Rottenburg 1926/27
Vor diesem Hintergrund legte der Nuntius seinen Informanten drei konkrete Fragen vor: 1) Welcher Priester aus dem Rottenburger Bistum ließe sich für den Posten des Diözesanbischofs in Betracht ziehen? 2) Was sei von einer Kandidatur Sprolls, Kottmanns, Fischers, Aigeltingers, Baurs und Schillings zu halten? Neben Schilling selbst sprach der Nuntius damit exakt die Personen an, die in der Denunziationsschrift des Moraltheologen genannt wurden. 3) Auf diese bezog er sich auch, als er den Befragten anschließend die Frage vorlegte, ob „die Hochwürdigen Herren Kottmann und Baur durch Unklugheiten beim Besuch öffentlicher Gaststätten Anstoß erregt haben?“1449 Als erster meldete sich Stiegele zurück.1450 Obwohl er sich eine ausreichende Personalkenntnis absprach, weil er erst seit kurzem in der Rottenburger Diözese wohnhaft war, reite er einen völlig neuen Namen in das bisherige Kandidatenkorpus ein: den Ulmer Pfarrer Oskar Gageur. Als frommer und bewährter Priester habe dieser sich zwar wissenschaftlich nicht exponiert, ihm sei aber an der philosophisch-theologischen Ausbildung des Klerus sehr gelegen. Sproll wäre seiner Ansicht nach ein „tüchtiger Diözesanbischof “, ihm fehle jedoch die „Feinheit des Benehmens“1451. Anders als Schilling beurteilte Stiegele den Domdekan schließlich in wissenschaftlicher Hinsicht positiv, jedoch sei er unter aszetischem Gesichtspunkt kein Ansporn für den Klerus. Zwar habe er nichts von irgendwelchen Gaststätten-Exzessen Kottmanns gehört, jedoch pflege dieser Umgang mit „Männern, die wegen ihres Trinkens bekannt sind“1452. Domkapitular Fischer endlich sei in seinem Priesteramt vorbildlich. Über Aigeltinger, Baur und Schilling gestand sich Stiegele kein Urteil zu. Ähnlich wie der Stuttgarter Jesuit äußerte sich am 9. August Pater Köppel.1453 Angesichts seines erst zweijährigen Aufenthalts in Württemberg und des allgemeinen Misstrauens gegen die Gesellschaft Jesu, die ihm weitreichende Zurückhaltung auferlege, habe er nur oberflächliche Informationen zur Verfügung. Er schlug zwei neue Geistliche vor: den Ravensburger Stadtpfarrer Eduard Burkert und den Direktor des Tübinger Wilhelmsstifts, Monsignore Georg Stauber. Ersterer sei „ein guter Redner, wenn auch etwas laut und nach Effekt haschend, aktiv und voll Initiative, ein würdiger Priester“1454. Obwohl es dem Nuntius insbesondere um das Thema der wissenschaftlichen Ausrichtung ging, konnte Köppel hierzu keine Angaben machen. Der Zweitgenannte sei „vor allem echt kirchlich, hält treu zu Rom, mutig, kennt den Klerus und ist der Leiter der Schulorganisation. Er ist ein Freund der Liturgie und Feind aller Halbheit. Bei aller Wissenschaftlichkeit zielt er vor allem auf 1449 1450
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Pacelli an Stiegele, Bleienstein und Köppel vom 27. Juli 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 17v. Vgl. Stiegele an Pacelli vom 4. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 22r–23r (nur r); abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 109f. Stiegele an Pacelli vom 4. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 22r. Stiegele an Pacelli vom 4. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 22r. Vgl. Köppel an Pacelli vom 9. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 24rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 111f. Köppel an Pacelli vom 9. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 24r. 379
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einen frommen Klerus ab.“1455 Für das Wilhelmsstift wäre seine Promotion auf den bischöflichen Stuhl jedoch ein herber Verlust. Sproll und Fischer waren seiner Ansicht nach beide für das Amt geeignet, wobei ersterer eher auf administrativem Gebiet punkte und letzterer unter den Aspekten Seelsorge, Autorität und Ansehen beim Klerus vorne liege. Letztlich schien ihm der Weihbischof am ehesten infrage zu kommen. Schilling, der sein Beichtvater sei, schätze er sehr, nur sei dieser physisch zu labil für die Hirtenaufgabe und scheine „nicht der Mann der Tat und Verantwortungsfreudigkeit zu sein“1456. Ebenso wie Stiegele hatte Köppel von der Wirtshausepisode nichts gehört. Der dritte Jesuit, Pater Bleienstein, antwortete erst am 24. August und entschuldigte sich damit, dass ihm die Anfrage mit großer Verzögerung nach Trier gesandt worden sei, wo er sich derzeit aufhalte.1457 In Bezug auf die erste Frage des Nuntius konnte er keinen weiteren episkopablen Geistlichen nennen. Dafür ging er ausführlicher als seine Ordenskollegen auf die bereits vorhandenen Namen ein: Weihbischof Sproll würde „den Erwartungen des Heiligen Stuhls in jeder Beziehung gerecht werden; nur müssten ihm die Intentionen des Heiligen Stuhls bezüglich der Ausbildung der Priesteramtskandidaten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit klar und deutlich eröffnet werden, da die meisten, die durch die alte Tübinger Schule hindurch gegangen sind, für die großen Schwächen und Unkirchlichkeiten dieser Schule nicht den vollen, katholischen Blick haben“1458.
Insbesondere qualifizierten ihn nach Ansicht Bleiensteins sein mutiges und standhaftes Eintreten für die Interessen der katholischen Kirche gegenüber dem protestantischen Staatskirchentum, dazu seine juristisch-administrativen Fertigkeiten sowie seine Arbeitskraft und Leutseligkeit im Hinblick auf Klerus und Volk. Im Gegensatz zu dieser wohlwollenden Zeichnung Sprolls hielt der Jesuit den Domdekan nicht für tauglich, da ihn seine philologischen und pädagogischen Begabungen sowie seine Prägung durch das württembergische, staatskirchliche Beamtentum schwerlich prädestinieren würden, „für die Ausführung der so notwendigen und begrüßenswerten Reformabsichten des Heiligen Stuhls“1459 entsprechende Sorge zu tragen. Bei Domkapitular Fischer hingegen lobte Bleienstein dessen erzieherische Fähigkeiten in der Priesterausbildung, sodass dieser darin „wie wohl kein zweiter als Bischof ungemein segensreich weiterwirken würde“1460. Der Mangel an wissenschaftlicher Kompetenz könne durch seine tiefe Frömmigkeit wettgemacht werden. So sei
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Köppel an Pacelli vom 9. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 24r-v. Köppel an Pacelli vom 9. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 24v. Vgl. Bleienstein an Pacelli vom 24. und 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 29r und 31r–32v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 117 und 118–120. Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 31r. Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 31v. Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 31v. 380
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er ein „Mann der Praxis, dem das sentire cum ecclesia in Fleisch und Blut übergegangen ist“1461. Über den zweiten in Auswahl stehenden Domkapitular Aigeltinger konnte der Jesuit nichts sagen. Professor Baur schließlich war für ihn trotz hoher Vorzüge keine Idealbild eines Bischofs: „Herr Universitätsprofessor Dr. Baur ist ein Mann von einer ganz strengen, unbeugsamen kirchlichen Grundsatzfestigkeit, außerordentlich begabt und vielseitig gebildet, mit einem scharfen Blick für die kirchlichen Notwendigkeiten und hoch verdient um die kirchenpolitische Lage in der Diözese Rottenburg. Trotzdem kann ich mir ihn wegen seines impulsiven, bisweilen burschikosen Wesens als Bischof nicht gut denken, zumal er als Mensch und Politiker in der Diözese viele Feinde hat. Doch wären alle Interessen des Heiligen Stuhls in seinen Händen wohl geborgen.1462
Wenn der Jesuit also Kottmann die Tauglichkeit für das vakante Bischofsamt absprach und auch Baur nicht vorbehaltlos unterstützte, lag das nicht an Schillings Diffamierungen. Im Gegenteil hielt er dessen Anschuldigungen für übertrieben oder verleumderisch. Beim Tübinger Moraltheologen lobte er zwar die wissenschaftliche Expertise überschwänglich, doch sprach er ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Bischofsamt ab.1463 Aus diesem umfangreichen Kandidatenmaterial kristallisierte sich ein deutliches Übergewicht für den Kapitelsvikar heraus. Besonders Köppel und Bleienstein hatten sich befürwortend über Sproll geäußert.1464 Der Berliner Nuntius besuchte unterdessen den 65. Katholikentag in Bres-
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Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 32r. Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 32r. Hervorhebung im Original. Vgl.: „Herr Universitätsprofessor Dr. Schilling würde die hochstehende, aristokratisch einsame, vornehme Art des verewigten Bischofs von Keppler geradlinig weiterführen. Darum hat ihn Seine Exzellenz in strittigen Angelegenheiten mit der Tübinger Theologischen Fakultät oft und oft ins Vertrauen gezogen. Als Mann tiefbohrender kirchlicher Wissenschaft und still verborgener Heiligkeit, ausgezeichnet durch einen scharfen, unbestechlichen Verstand, begabt mit einer außergewöhnlichen apostolischen Klugheit und Diskretion würde er für die Diözese ein großer Segen sein. Nur zweifle ich daran, ob er gesundheitlich in der Lage ist, die Last eines Bischofsamtes auf sich zu nehmen.“ Bleienstein an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 32r-v. Hervorhebung im Original. Mit großem Nachdruck setzte sich auch ein anonymer Schreiber für die Erwählung Sprolls zum neuen Bischof von Rottenburg ein. Unter dem Pseudonym Philalethes – wohl ein Mann aus der niederen Geistlichkeit der Diözese, wie das Schreiben vermuten lässt – beschwor er den Nuntius, die Vorbehalte, die der deutsche Adel gegen den Bauernsohn Sproll kolportiere, nicht anzunehmen. In der württembergischen Presse war von einer entsprechenden ablehnenden Haltung des Adels die Rede gewesen (vgl. dazu Wolf, Affäre, S. 132 Anm. 1) und womöglich war die Berichterstattung der Anlass für den Schreiber, sich an Pacelli zu wenden. Sehr negativ äußerte sich Philalethes über Professor Baur, der in der Wissenschaft nur seinen eigenen Ruhm suche. Ungeeignet seien ebenfalls Domdekan Kottmann und Domkapitular Fischer. Vgl. Philalethes an Pacelli ohne Datum [wahrscheinlich in der ersten Augusthälfte], ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 25r–26v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 132f. 381
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lau – er dauerte vom 21. bis 25. August,1465 wobei Pacelli nur vom 22. bis 24. dort war1466 – und besprach sich dabei auch mit dem Breslauer Kardinal Bertram über die Sedisvakanz des Rottenburger Bischofsstuhls. Bertram berichtete dem Nuntius anschließend, wie sehr er von der Rede beeindruckt war, die Baur dort gehalten hatte.1467 Er war sicher, dass Keppler als eloquenter Redner und Rhetoriker sie sehr zu schätzen gewusst hätte und empfahl Pacelli eindringlich, sie zu studieren.1468 Für den Breslauer Fürstbischof schien der gelungene Auftritt Baurs ein Indikator für dessen Eignung zu sein, der neue Bischof von Rottenburg zu werden. Daher plädierte er für ihn an erster Stelle, auf dem zweiten Platz sah er Sproll. Aus der Liste der zur Sprache gekommenen Kandidaten strich Pacelli bis auf Sproll und Baur alle heraus. Er ließ also nur die Namen übrig, die für Bertram infrage kamen. Allerdings konnte oder wollte er sich zwischen den beiden noch nicht entscheiden, sondern legte das Duett – natürlich wieder sub secreto und mit dem Bewertungskriterium der Priesterausbildung – Georg Stauber zur Beurteilung vor, der von Köppel selbst als möglicher Bischofsanwärter zur Sprache gebracht worden war.1469 Jenen zur Rate zu ziehen, war dem Nuntius von Bleienstein empfohlen worden, da er eine „ganz ausgezeichnete Kenntnis des Klerus der Diözese Rottenburg und seiner Erziehung“1470 aufweisen könne. Diesen Erfahrungsschatz wollte sich Pacelli nicht entgehen lassen und bat daher um eine ausführliche Berichterstattung. Der Bitte des Nuntius kam Stauber schon wenige Tage später nach.1471 Die Darstellung der positiven Attribute, die der Direktor Weihbischof Sproll zuschrieb, sprach für sich: einen klaren Sinn für die Wirklichkeit, festen Willen, schnelles Auffassungsvermögen, scharfen Verstand, ruhiges und sicheres Urteil, rasche Entschlussfähigkeit, Geschäftsgewandtheit, immense Arbeitskraft gespeist durch eine ausgezeichnete physische Disposition, ein warmes Herz für die Nöte der
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Vgl. dazu: Die Reden gehalten in den öffentlichen und geschlossenen Versammlungen der 65. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Breslau. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 25. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1932, Pos. 559 P.O., Fasz. 76, Fol. 72r–75v. Vgl. Rede „Christus der König im Geistesleben“ von Baur am 23. August 1926 in Breslau gehalten, in: Die Reden gehalten in den öffentlichen und geschlossenen Versammlungen der 65. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Breslau, S. 99–108. Vgl. Bertram an Pacelli vom 25. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 33rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 121f. Vgl. Pacelli an Stauber vom 27. August 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 35r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 123. Bleienstein an Pacelli vom 24. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 29r. Vgl. Stauber an Pacelli vom 30. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 37r–41r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 124–128. Der Nuntius bedankte sich kurz darauf für die umfangreiche Darstellung. Vgl. Pacelli an Stauber vom 2. September 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 44r. 382
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anderen, ein „sanguinisch-cholerisches“1472 Temperament, optimistische Lebenseinstellung und Frohnatur, Schlichtheit und Demut, selbstloser Altruismus, das Fehlen von Menschenfurcht und Angst, Pflichtbewusstsein, das er auch dem Klerus abverlange, ungeheuchelte Frömmigkeit und liturgischer Sinn. Darüber hinaus habe sich Sproll Verdienste um die katholische Erziehung und Katechese erworben, die er auch im Kampf mit dem württembergischen Staat um die Schulfrage verteidigt habe. Überhaupt trete er vehement für die Rechte und Freiheiten der Kirche ein. Als konkretes Beispiel nannte Stauber die Debatte um den § 73 des württembergischen Kirchengesetzes von 1924, in dem es um die Leitung und Verwaltung der katholischen Konvikte ging:1473 „Hier zeigte es sich immer wieder, dass er fähig und gewillt ist, die wissenschaftliche und aszetische Bildung der Priesterkandidaten unserer Diözese den kirchlichen Grundsätzen und den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechend zu gestalten und alles zu tun, um auch finanziell und wirtschaftlich die Bedingungen für die katholischen Konvikte möglichst günstig zu gestalten.“1474
Für alle anstehenden kirchenpolitischen Auseinandersetzungen besitze Sproll die nötigen rechtlichen Kenntnisse, die er sich mitunter durch die Lehre von kirchenrechtlichem Stoff am Priesterseminar erworben habe, sowie die politischen Erfahrungen, die er durch sein Mandat im württembergischen Landtag habe sammeln können. All das Genannte, die guten Beziehungen Sprolls zur Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen und die Verehrung durch das katholische Volk führten Stauber zu dem Schluss, dass „keiner so viele Eignungen mitbringt“1475 für das Amt des Rottenburger Diözesanbischofs wie er. Eine Ansicht, die das Domkapitel übrigens teile. Stauber bewertete auch Baur sehr wohlwollend, zumal er nach eigener Angabe eng mit ihm befreundet war: fein und gewandt, jedoch leicht reizbar und mit impulsiven Zügen, wenngleich in der Öffentlichkeit stets beherrscht, ausgestattet mit einem scharfen Verstand, mit echt kirchlicher Gesinnung und kämpfend für die kirchlichen Rechte, aszetisch mit tiefer Liebe zur liturgischen Frömmigkeit und akribischen Einhaltung der Rubriken. Stauber stellte besonders die wissenschaftlichen Qualitäten des Philosophieprofessors heraus, der „durch und durch Thomist ist“1476. Sehr viel habe dieser auf diesem Gebiet geleistet, seine Rede in der Tübinger Universität anlässlich des Thomasfestes im August 1924 sei unvergessen, wenngleich nur von wenigen genau
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Stauber an Pacelli vom 30. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 37v. Vgl. „Gesetz über die Kirchen“ vom 3. März 1924, § 73 Abs. 1, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 198. Vgl. dazu auch Wolf, Affäre, S. 125 Anm. 2. Stauber an Pacelli vom 30. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 38v. Stauber an Pacelli vom 30. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 39v. Stauber an Pacelli vom 30. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 40r. 383
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begriffen.1477 Auch die Studenten hätten ihn in seiner Zeit in Tübingen für schwer verständlich gehalten, obwohl er außerhalb des Hörsaales als ausgezeichneter Rhetor gewürdigt werde. Davon hatte Bertram noch kürzlich gegenüber Pacelli ein beredtes Zeugnis gegeben. Wenngleich überall geachtet, glaubte Stauber, dass Baur weniger Sympathien beim Klerus besitze als Sproll. Der Direktor des Wilhelmsstifts legte die Reihenfolge also im Vergleich zu Bertram umgekehrt fest: erst Sproll, dann Baur.
Kein Wahlrecht für das Domkapitel: das Bittschreiben an den Papst und Pacellis Ablehnung Bevor jedoch das Augenmerk auf die Personalentscheidung des Nuntius gerichtet werden kann, muss vorher noch einmal die Frage nach dem Besetzungsmodus in den Blick genommen werden. Denn obwohl Pacelli am 23. Juli gegenüber dem Kapitelsvikar deutlich gemacht hatte, dass die Verweigerung des Kapitelswahlrechts eine res iudicata sei, wollte sich die führende Geistlichkeit in Rottenburg nicht damit abfinden. Weil der Nuntius darin hart blieb, wandten sich Sproll und Kottmann in Vertretung des gesamten Kapitels an ihm vorbei direkt an den Papst mit der Bitte, „dass uns das Recht zur Bischofswahl gemäß den üblichen kanonischen Formen gewährt werde, wenigstens für dieses Mal und ohne Präjudiz für die Zukunft“1478. Aus drei Gründen glaubten sie sich der römischen Anordnung vom 2. Juni des Jahres widersetzen zu dürfen: 1) Die Möglichkeit der Bischofswahl durch ein Gremium verbürgte der Can. 329 § 3 des kirchlichen Gesetzbuches. Daher schien es den Bittstellern nicht dem Codex zu widersprechen, wenn sie dem Kapitel auch dieses Mal gewährt wurde. Insbesondere deshalb, weil das Wahlrecht seit seiner rechtlichen Fundierung in Ad dominici gregis immer zum Wohl der Diözese gereicht habe. 2) Inwieweit diese Bulle (zusammen mit Provida solersque) noch gültig war, wollten Sproll und Kottmann nicht entscheiden. Die württembergische Regierung hingegen bezog hier eine eindeutige Position, wie ein Regierungsschreiben vom 23. Juni 1924 an das Rottenburger Ordinariat dokumentierte:
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Vgl. Baur, Thomas von Aquin. „… ut nobis jus elegendi Episcopum juxta consuetas canonicas formas tribuatur, saltem pro hac vice et sine praejudicio futuri temporis.“ Sproll und Kottmann an Pius XI. vom 20. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 13r–14v, hier 13r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 113–116. 384
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„Die Staatsregierung übt ihr Recht der Einmischung in die Wahlen des Bischofs und der Kanoniker nicht weiter aus. Im Übrigen bleiben die in den Gründungsurkunden festgelegten Bedingungen, welche die Finanzierung betreffen, intakt, solange sie sich auf die mit dem Apostolischen Stuhl eingegangenen Vereinbarungen stützen. Die besagten Finanzleistungen des Staates werden demnach nur unter der Bedingung geleistet, dass der Bischof von den Kanonikern des Kapitels gewählt werde.“1479
Nach Ansicht der Bittsteller bestand daher die akute Gefahr, dass die Regierung bei einer Umgehung des Wahlrechts durch eine päpstliche Nomination die finanziellen Leistungen einstellen und darüber hinaus die derzeitige freundschaftliche Beziehung zur Staatsregierung kompromittiert werden könnte. 3) Sicherlich wäre eine definitive Klärung der Frage durch ein Konkordat die beste Lösung. Jedoch seien die Widerstände zu umfangreich, um in Bälde eine Vereinbarung zu erzielen. Außerdem sei es denkbar, dass es einem künftigen Kontrakt schade, falls der Heilige Stuhl das alte Wahlprivileg nicht mehr zugestehe. Sproll und Kottmann wussten natürlich, dass der Kurie an einer solchen Konsequenz nicht gelegen war. Weil dieses Dokument auf direktem Weg nach Rom geschickt wurde, sandte es Gasparri anschließend Pacelli zur Einsichtnahme zu.1480 Dieser hatte bereits am 24. August eine Abschrift von Sproll erhalten, freilich erst vier Tage nachdem das Schreiben nach Rom abgegangen war. Umgehend kommentierte Pacelli die Rottenburger Supplik für den Kardinalstaatssekretär, indem er seine Darlegung vom 26. Juli wiederholte und bekräftigte.1481 Nach wie vor sei es besser, die Erledigung der Sedisvakanz aufzuschieben, bis das Verhältnis der Kirche zum württembergischen Staat geregelt sei. Unterdessen werde er – wie zuvor versprochen – den Markt der Kandidaten sondieren. Wie in seinem letzten Bericht versicherte Pacelli, dass die Diözese unter dem Aufschub nicht leiden werde, „da der besagte Kapitularvikar, Monsignore Sproll, ein guter Verwalter und vielleicht sogar (soweit ich zumindest bisher feststellen konnte), alles in allem betrachtet, der Beste aller infrage kommenden Kandidaten für den dortigen Bischofsstuhl ist“1482. Deshalb 1479
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„Gubernium civile jus interventus in electionibus Episcopi et canonicorum non amplius exercet. De cetero condiciones in Instrumento fundationis latae, quae reditus attingunt, integrae manent, quoad in conventionibus cum Sede Apostolica initis nituntur. Reditus ergo dicti ea condicione praestantur, ut Episcopus a canonicis capituli eligatur.“ Sproll und Kottmann an Pius XI. vom 20. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 14r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 115. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 26. August 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 34r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 31. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 19rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 129–131. „… essendo il sullodato Vicario Capitolare, Monsignor Sproll, buon amministratore, ed anzi (per quanto ho potuto almeno sinora constatare), tutto considerato, forse il migliore dei possibili candidati per quella Sede vescovile.“ Pacelli an Gasparri vom 31. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 19v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 130. 385
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empfahl er, dem Domkapitel die deutliche Antwort zu schicken, „dass es dem Heiligen Stuhl aus dringlichen grundsätzlichen Gründen nicht möglich ist, von der dem betrauerten Monsignore von Keppler bereits unter dem Datum des 2. Juni dieses Jahres mitgeteilten Entscheidung abzuweichen“1483. Die Argumentation des Nuntius fand erneut die Zustimmung Gasparris und wurde auch befürwortend von Pius XI. aufgenommen, als ihm der Staatssekretär die Angelegenheit in einer Audienz am 7. September vortrug.
Sproll oder Baur? Pacellis letzte Sondierungen Obwohl Pacelli die Vermutung geäußert hatte, dass Weihbischof Sproll „alles in allem“ als tauglichster Kandidat für die Nachfolge Kepplers anzusehen war, schien er selbst noch nicht überzeugt davon. Auch Baur hatte er noch nicht abgeschrieben – immerhin kam dieser mit seiner wissenschaftlichen Präferenz für die scholastische Philosophie und Theologie den römischen Instruktionen zur Priesterausbildung, die Pacelli als Leitdirektive aufgestellt hatte, näher als Sproll. Die logische Konsequenz war, weitere Ansichten über die beiden Geistlichen einzuholen. Das unternahm Pacelli Anfang September beim Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz, dem Freiburger Erzbischof Fritz.1484 Dieser hielt beide Kandidaten gleichermaßen für geeignet: „Beide Herren sind einwandfreie Persönlichkeiten und Geistliche, wissenschaftlich sehr gut gebildet, praktisch gewandt, der Kirche und dem Heiligen Stuhl treu ergeben und bieten nach ihrer bisherigen Haltung die Gewähr dafür, dass sie die Rechte der Kirche jedermann, auch der Staatsgewalt gegenüber, geschickt und treu wahren werden.“1485 Ungeachtet ihrer strikten Haltung würde – so Fritz – die württembergische Regierung gegen keinen etwas einwenden. Für Sproll sah der Erzbischof einige Vorteile gegenüber Baur darin, dass er sich als Generalvikar und Weihbischof in der Bistumsadministration etabliert und bewährt habe, den hiesigen Klerus kenne und weitläufiges Vertrauen genieße.1486 1483
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„… non essere alla Santa Sede possibile, per imperiose ragioni di principio, di recedere dalla decisione già comunicata al compianto Monsignor von Keppler in data del 2 giugno corrente anno.“ Pacelli an Gasparri vom 31. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 19r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 129. Vgl. Pacelli an Fritz vom 6. September 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 45r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 137. Fritz an Pacelli vom 11. September 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 47r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 138. Ganz anders sah das wiederum ein Anonymus aus der Diözese. Ein vermutlich im Dekanat Ulm wohnhafter Diözesane deklarierte in einem Brief an den Berliner Nuntius die in der Öffentlichkeit als mögliche Bischofskandidaten gehandelten Kottmann, Sproll und Fischer als völlig unfähig. Der anonyme Schreiber, der mit der Politik des Rottenburger Ordinariates überhaupt nicht zufrieden war, fällte insbesondere über den Weihbischof ein vernichtendes Urteil: „Sproll ist der bestgehasste Geistliche der 386
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Mit dieser Einschätzung hielt Pacelli den Zeitpunkt für gekommen, Gasparri von den Ergebnissen seiner Nachforschungen zu berichten. Am 1. Oktober fasste er für ihn die vielen Stimmen über Sproll und Baur zusammen, auf die sich seine Recherchen konzentriert hatten.1487 Bevor er die beiden vorstellte, rechtfertigte Pacelli, dass gerade sie in die engere Auswahl gekommen waren: „Dies vorausgesetzt, sei es mir gestattet, vor allem zu betonen, dass es angesichts der Schwierigkeit, die diese erste Bischofsernennung, die nach der Abschaffung der Domkapitelswahl direkt und frei vom Heiligen Stuhl durchzuführen ist, mit sich bringt, meiner bescheidenen Ansicht nach notwendig ist, dass sie auf einen Geistlichen falle, gegen den weder die Regierung noch das Kapitel begründete Einwände haben können; daher ist es auch, wenn ich nicht irre, zweckmäßig, dass er dem Klerus von Württemberg angehöre. Leider befindet sich in diesem, soweit ich weiß, kein Kandidat, der seine philosophischen und theologischen Studien in Rom absolviert hätte. Unter Berücksichtigung der oben genannten Informationen [sc. die er eingeholt hatte, R.H.] scheinen es zumindest bisher alles in allem zwei Namen zu sein, die vom Heiligen Stuhl in Betracht gezogen werden könnten.“1488
Bei Sproll hob er als positive Eigenschaften hervor: seine Intelligenz, Verwaltungsfähigkeit, Tüchtigkeit, gute Gesundheit, Bescheidenheit, „ohne Angst oder menschliche Rücksichtnahme“, der „vom Klerus die gewissenhafte Erfüllung der ihm eigenen Verpflichtungen verlangt und wider-
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ganzen Diözese. Er hatte, da seine Beförderung zu rasch ging, keinen Ausgleich finden können zwischen seiner bescheidenen Abstammung und der erstiegenen Würde. Er ist ein grober, derber Charakter – zweideutig, ohne die dazu nötige Schlauheit und Klugheit zu besitzen, und glaubt, ernsten Dingen mit einem faulen Witz begegnen zu können. Dazu kommt ein großes Maß von Machtbewusstsein, das ihn zu den in Württemberg geschehenen großen Torheiten verleiten ließ. Man weiß es: vorzeitige und halbe Auseinandersetzung mit dem Staat, unerhörte Veräußerung von Pfründen und Pfründteilen, schlechte Gehaltsregelung der Geistlichen und vieles andere. So ist er missliebig allenthalben und diese seine Art hat ihn seinem eigenen Herrn völlig entfremdet. Es ist allgemein bekannt gewesen, dass Bischof Keppler selig sich von ihm abgewandt hatte. Wenn man so Kirchengeschichte macht wie Sproll, da muss die Kirche verlieren.“ Der Denunziant schloss mit der Bemerkung, dass es andere, tüchtige, auf rechte Weise religiöse und wissenschaftlich qualifizierte Kandidaten im Rottenburger Diözesanklerus gebe, die geeigneter für den Bischofsstuhl seien als die drei Genannten. Vgl. anonymer Schreiber an Pacelli im September 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 52r–53v, hier 53r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 139–141. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 22r–25r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 142–148. „Ciò premesso, mi sia lecito di rilevare innanzi tutto come, data la difficoltà, che presenta questa prima nomina vescovile, da compiersi, soppressa la elezione capitolare, direttamente e liberamente dalla Santa Sede, occorre, a mio umile avviso, che essa cada sopra un ecclesiastico, contro il quale né il Governo né il Capitolo possano avere fondate obbiezioni; conviene perciò anche, se non mʼinganno, che esso appartenga al clero del Württemberg. Pur troppo non si trova, che io sappia, fra di esso un candidato, il quale abbia fatto i suoi studi filosofici e teologici in Roma. Tenendo conto delle suddette informazioni, due, almeno finora, sembrano, tutto considerato, essere i nomi, che potrebbero venir presi in considerazione dalla Santa Sede.“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 22v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 145. 387
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setzliche und pflichtvergessene Priester mit Strenge zu behandeln weiß, was ihm natürlich nicht immer Sympathien einbringt“1489. Erwähnenswert schienen Pacelli darüber hinaus dessen Verdienste im Kampf um die Konfessionsschule und die juristischen Kenntnisse. Einige Jahre sei er Landtagsabgeordneter für die Zentrumspartei gewesen. Die Zustimmung des Domkapitels sei ihm gewiss, wie Domdekan Kottmann ihm bei seinem Besuch in Berlin am 4. August berichtet habe. Auf der Kontraseite standen der Mangel an Vornehmheit der Umgangsformen und an Takt sowie der Widerstand des Adels und des alten württembergischen Herrscherhauses. Vielleicht das wichtigste Negativkriterium war, dass Pacelli es bezweifelte, „dass er, der an der Schule von Tübingen ausgebildet wurde, ein volles Bewusstsein von der Notwendigkeit der Reformen in den philosophischen und theologischen Studien des Klerus hat sowie eine klare und genaue Vorstellung, wie diese umzusetzen sind“1490. Auf diesem Gebiet bestand Pacellis Ansicht nach der große Vorzug von Baur, der lange Jahre scholastische Philosophie doziert habe und Thomist sei, „etwas in Deutschland nicht Selbstverständliches“1491. Hubert Wolf weist zu Recht darauf hin, dass der Nuntius an dieser Stelle unerwähnt ließ, dass auch Baur seine Ausbildung in Tübingen erhalten hatte.1492 Aber angesichts der identifizierten korrekt-scholastischen Ausrichtung Baurs spielte dies für Pacelli keine wesentliche Rolle mehr. Aus seiner Münchener Zeit erinnerte er sich zudem, dass der bekannte Scholastikforscher Martin Grabmann, der auch in Rom in hohem Ansehen stand und wiederholt für die Kurie gutachterlich tätig war,1493 sich lobend über die thomistische Prägung Baurs geäußert habe.1494 Pacelli glaubte, dass das Ansehen, das Baur durch seine Professur zukomme, die Umsetzung der Reformen an der Theologischen Fakultät in Tübingen erleichtern würde. Die Unverständlichkeit seiner Vorträge auf Seiten der Studenten müsse nicht zwangsläufig sein Verschulden sein, sondern könne – wie Stauber vermutet hatte – aus dem insuffizienten Lehrplan der Philosophie resultieren. Genauso wie Sproll sei Baur Zentrumsabgeordneter im württembergischen Landtag „… senza timore né rispetto umano; egli esige dal clero il conscienzioso adempimento dei propri obblighi e sa trattare con rigore sacerdoti renitenti e dimentichi dei loro doveri, il che naturalmente non gli procura sempre simpatie.“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 23r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 146. 1490 „… che egli, educato alla scuola di Tübingen, abbia una piena coscienza del bisogno di riforme negli studi filosofici e teologici del clero ed una chiara ed esatta visione del modo di effettuarle.“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 23v. 1491 „… cosa non comune in Germania …“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 23v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 146. 1492 Vgl. Wolf, Affäre, S. 47. 1493 Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.2 (Ergebnis Nr. 4). 1494 Später noch hat Grabmann die Leistungen Baurs in der Erforschung der Scholastik und dessen engen Anschluss an Thomas von Aquin gewürdigt. Vgl. Grabmann, Baur. 1489
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gewesen. Der Nuntius lobte Baurs Eloquenz und Rednerfähigkeiten und berichtete von dem guten Eindruck, den dieser bei der Audienz Anfang September 1923 gemacht habe, als beide über das württembergische Kirchengesetz debattiert hätten. Das Malum von Baurs impulsiver Natur versuchte Pacelli zu entkräften, indem er auf dessen – von Stauber berichteten – Fertigkeit verwies, sich in der Öffentlichkeit beherrschen zu können. Der Nuntius gab auch Bleiensteins Einschätzung wieder, dass Baur „im Bistum sowohl als Privatmann als auch als Politiker zahlreiche Feinde“1495 besitze. Blieb noch die Episode aus dem Wirtshaus, an der neben Kottmann auch Baur beteiligt gewesen sein sollte. Auch diese verschwieg der Nuntius nicht, bedeutete Gasparri aber, dafür keine Bestätigung erhalten zu haben, sodass der Vorfall, sollte er tatsächlich der Wahrheit entsprechen, wohl nur ganz wenigen bekannt sei.1496 Der Nuntius beschloss seine Darlegungen über die beiden Amtsanwärter mit den entgegengesetzten Urteilen Bertrams und Fritzʼ, einmal Baur auf Rang eins und Sproll auf zwei und das andere mal umgekehrt. Pacelli stellte auf diese Weise beide Geistliche relativ ausgewogen dar und verschwieg jeweils die Schattenseiten nicht. Dennoch lässt sich an den stringent herausgestellten theologischen Vorzügen eine Präferenz für Baur ablesen. Doch die Entscheidung überließ er Papst und Staatssekretär. Der Nuntius bot an, sollte Pius XI. sich trotz der Unzulänglichkeiten der beiden Kandidaten für einen aussprechen, mit einem Vertreter der württembergischen Regierung die Sachlage zu erörtern. Dabei dachte er an den Zentrumspolitiker und württembergischen Innenminister Eugen Bolz. Ihm wollte er „mit Entschlossenheit die Gründe für die Vorgehensweise des Heiligen Stuhles erklären“1497 und so a priori den Gefahren, die das Rottenburger Domkapitel in seiner Bittschrift vom 20. August prophezeit hatte, begegnen.
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„… nella diocesi, come person privata e come uomo politico, molti nemici.“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 24r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 147. Diese Angelegenheit war für Pacelli damit allerdings noch nicht erledigt. Sollte nach einer eventuellen Ernennung Baurs zum Rottenburger Diözesanbischof der Wirtshausexzess als wahre Begebenheit in die Öffentlichkeit dringen, wäre die Peinlichkeit enorm. Daher befragte er bald darauf mündlich Gabriel Locher OSB, den Sekretär des Benediktinerabtprimas Fidelis von Stotzingen, ob man im Kloster Beuron etwas darüber gehört habe. Nach der Rückkehr Lochers in die Abtei sprach dieser mit Erzabt Raphael Walzer und konnte dem Nuntius daraufhin berichten, dass nichts dergleichen bekannt sei. Weder über Sproll noch über Baur habe man etwas gehört, das ein Hindernis gegen die Besetzung des bischöflichen Stuhls bilden könne. Der Erzabt erinnerte sich aber an einen Besuch der beiden in der Abtei, bei dem sich der Weihbischof sehr zugunsten des Professors geäußert habe. Vgl. Locher an Pacelli vom 12. Oktober 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 2, Fol. 54r–55r (nur r); abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 149f. Der Nuntius gab diese Informationen kommentarlos nach Rom weiter. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 15. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 30rv. „… spiegargli con fermezza i motivi del modo di procedere della Santa Sede …“ Pacelli an Gasparri vom 1. Oktober 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 25r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 147. 389
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Die römische Entscheidung für Sproll Wie bereits deutlich wurde, befürworteten Papst und Staatssekretär die Überlegungen des Nuntius, dem Domkapitel das Privileg zur Wahl des neuen Bischofs zu verweigern. Am 13. Oktober kommunizierte Gasparri diese Entscheidung nach Rottenburg.1498 Zwar seien – so Gasparri – die Argumente in dem Bittschreiben vom 20. August „sehr durchdacht“; dennoch habe der Papst „nach reiflicher Abwägung aller Umstände, mit grundsätzlichem Blick auf das allgemeine Seelenheil“1499 entschieden, dass bei der Ämterbesetzung in der Diözese Rottenburg die Normen des Kirchenrechts anzuwenden seien. Am nächsten Tag informierte Gasparri auch den Berliner Nuntius über die päpstliche Dezision und darüber, diese dem Domkapitel mitgeteilt zu haben.1500 Dass Pius XI. auch hinsichtlich der Personalfrage eine Entscheidung getroffen hatte, erfuhr zunächst nur Pacelli: „Diesbezüglich teile ich Eurer Exzellenz mit, dass, falls die gesammelten Informationen vollständig sind und Sie keine Möglichkeit sehen, bessere Kandidaten als die beiden bisher vorgeschlagenen zu finden, der Heilige Vater entschieden hat, auf den infrage stehenden Stuhl Monsignore Sproll zu befördern, weil er sich als der Geeignetste präsentiert, jene Diözese zu leiten, und um bei dieser ersten frei und direkt vom Heiligen Stuhl durchgeführten Ernennung mögliche Einwände von Seiten des Staates Württemberg zu vermeiden.“1501
Die von Pacelli veranschlagte Rücksichtnahme auf die Regierung sah der Pontifex am ehesten bei Sproll gewährleistet, der mit seiner langjährigen Tätigkeit in der Rottenburger Bistumsleitung auch für die administrativen Herausforderungen gut vorbereitet war. Es ist nicht verwunderlich, dass man in Rottenburg über die kuriale Order frustriert war. Obwohl Sproll das Kapitelswahlrecht gegenüber dem Freiburger Erzbischof als „rettungslos verlo-
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Vgl. Gasparri an Sproll vom 13. Oktober 1926 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 17r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 151f. Vgl.: „Rationes in epistola allatae perpensae fuerunt; attamen Sanctitas Sua, omnibus circumstantiis mature consideratis, censuit bonum animarum omnino requirere ut in provisione officiorum e beneficiorum, etiam in dioecesi Rottenburgensi, normae iuris canonici communis in posterum observentur, iuxta ea quae etiam in litteris ad bonae memoriae Episcopum Keppler die 2 superioris Iunii declarata fuerant.“ Gasparri an Sproll vom 13. Oktober 1926 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 17r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 152. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 14. Oktober 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 29rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 153f. „A questo proposito significo a V. E. che, se le informazioni raccolte sono complete, ed Ella non vede possibilità di trovare candidati migliori oltre dei due per ora proposti, il Santo Padre avrebbe deciso di promuovere alla sede in questione Monsignor Sproll, come quello che si presenta più indicato per reggere quella diocesi e per evitare possibili obbiezioni da parte dello Stato di Württemberg, in questa prima nomina, liberamente e direttamente fatta dalla Santa Sede.“ Gasparri an Pacelli vom 14. Oktober 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 29r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 154. 390
II.3.3 Rottenburg 1926/27
ren“1502 deklarierte, unternahm er einen nochmaligen Versuch, es zu retten. In einer Unterredung des Domkapitels habe sich ergeben, wie Sproll Ende Oktober dem Nuntius mitteilte, „dass wir im Gewissen nicht völlig beruhigt sind, weil wir glauben, dass unser Bittgesuch an den Apostolischen Stuhl wegen seiner gedrängten Kürze vielleicht nicht in seiner ganzen Tragweite gewürdigt werden konnte“1503. Er schlug vor, dass wiederum Domdekan Kottmann mündlich beim ihm vorspreche, um die Gründe weitergehend zu erörtern. Aus Rorschach, wo er sich in Ruhe einiger Arbeiten widmen wollte, schrieb Pacelli eine Woche später zurück, dass er nicht daran zweifle, dass der Heilige Stuhl die Angelegenheit sorgfältig durchdacht habe.1504 Natürlich ging er davon aus, hatte doch er selbst die Denkleistungen für den Entschluss aufgebracht. Daher – so Pacelli weiter – bestehe keinerlei Aussicht auf eine Änderung der angepeilten Regelung. Den Domdekan würde er dennoch in Rorschach empfangen, wenn es nach wie vor gewünscht werde. Von diesem Ansinnen nahmen die Domkapitulare nun jedoch Abstand, als ihnen klar wurde, dass die Meinung Pacellis unverrückbar feststand.1505
Der Disput zwischen Pacelli und Bolz Am 1. Oktober hatte Pacelli seinem römischen Vorgesetzten versprochen, mit Bolz als Repräsentanten der württembergischen Regierung die Wiederbesetzung des bischöflichen Stuhls erörtern zu wollen, sobald der Papst sich für einen Kandidaten entschieden hatte. Dieses Versprechen löste er jetzt ein und lud Bolz nach Rorschach ein, um „über eine sehr wichtige, Württemberg betreffende Angelegenheit zu sprechen“1506. Nach einigem Hin und Her in der Terminplanung sollte das Treffen am 8. November stattfinden.1507 Bereits vorher bekam der Zentrumsprälat und enge Vertraute des Nuntius, Ludwig Kaas, eine Gelegenheit mit Bolz über die Rottenburger Frage zu diskutieren. Sie waren auf dem Reichsparteiausschuss des Zentrums vom 30. bis 31. Oktober in Erfurt gewesen und nutzten die Rückfahrt nach Berlin, um informell ihre Standpunkte in dieser
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May, Kaas 1, S. 182. Sproll an Pacelli vom 31. Oktober 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 36rv, hier 36r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 157. Vgl. Pacelli an Sproll vom 6. November 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 41r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 161. Vgl. Sproll an Pacelli vom 8. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 42r. Pacelli an Bolz vom 26. Oktober 1926 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 32r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 155f. Vgl. die Telegrammwechsel zwischen Bolz und Pacelli vom 27., 29., 30. und 31. Oktober sowie vom 6. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 33r, 34r, 35r, 36rv, 39r und 40r. Vgl. auch Wolf, Affäre, S. 156 Anm. 3. 391
II.3.3 Rottenburg 1926/27
Angelegenheit auszutauschen.1508 Kaas berichtete dem Nuntius am 4. November darüber.1509 Weil der württembergische Innenminister von einer Beunruhigung innerhalb des Rottenburger Domkapitels sprach, die sich aus der fortwährenden Sedisvakanz und der Unklarheit über die künftige Regelung speise, musste es eine Unterredung zwischen Kapitel und Regierung gegeben haben. Kaas vermutete, dass die Domherren versuchten, „auf dem Umwege über die Regierung bei dem Heiligen Stuhl vorstellig zu werden“1510, da die direkte Variante keinen Erfolg gebracht habe. Bolz bekräftigte, dass eine einseitige Änderung des Wahlrechts durch Rom von staatlicher Seite nicht toleriert werden könne. Der Berater des Nuntius glaubte aber, dass bei einer Konvergenz in der Personalfrage zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Kapitel respektive der Regierung, „höchstens ein formeller Protest gegen die Ernennung, nicht aber die Einstellung irgendwelcher finanzieller Leistungen infrage kommen wird“1511. Bolz sprach laut der Darstellung des Prälaten jedoch die Befürchtung aus, „dass in einem späteren Falle, wo auch in Bezug auf die Person selbst die Meinungen zwischen dem Heiligen Stuhl einerseits und dem Kapitel beziehungsweise Regierung andererseits scharf auseinandergehen“1512, die staatlichen Leistungen eingestellt werden könnten. Offenbar war Kaas dabei, die Verständigung mit der württembergischen Regierung über die Wiederbesetzung des Rottenburger Bischofsstuhls, die Pacelli in der vereinbarten Audienz beabsichtigte, bereits unterwegs im Zugabteil zu erledigen. Denn der Zentrumsprälat verteidigte daraufhin – unanimiter mit den Vorstellungen Pacellis – gegenüber seinem Parteikameraden die Position des Heiligen Stuhls, der „im Interesse einer organischen kirchlichen Rechtsentwicklung kein Interesse daran habe, das Bischofswahlrecht in der bisher nur noch in Deutschland geübten Form geradezu versteinern zu lassen und trotz des neuen kirchlichen Gesetzbuchs und des darin enthaltenen ius commune es bei der bisherigen Observanz zu belassen“1513.
Er wies auch auf die Absurdität hin, dass Württemberg, das Verhandlungen mit der Kirche ablehne, besser gestellt werden würde als die konkordatswilligen Länder Bayern und Preußen. Deshalb seien Verhandlungen Württembergs mit Rom um ein Konkordat der einzige Ausweg aus dem Dilemma. Bolz habe dem die gemischt-konfessionelle Struktur des Landes entgegen gehalten, die – wie Kaas anerkannte – die Aufnahme von Verhandlungen mit der katholischen Kirche vehement erschweren würde. Eine von Bolz erwogene Gesamtlösung für die Oberrheinische Kirchen-
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Vgl. May, Kaas 2, S. 505f. Vgl. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 37r–38r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 158–160. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 37r. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 37r. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 37r. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 37v. 392
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provinz, die neben Württemberg auch Hessen und Baden umfasste, beurteilte Kaas skeptisch, weil die Aussichten auf erfolgreiche diplomatische Beziehungen dort ebenfalls trübe seien. Eine übergreifende Organisation zum Schutz des Wahlrechts bahnte sich auch auf kirchlicher Seite an, denn – so Kaas – Domdekan Kottmann sei zu diesem Zweck nach Freiburg gereist. Eine partikularkirchliche Allianz gegen Rom konnte Pacelli logischerweise nicht gefallen, wie auch Kaas diese Bestrebung als „[i]nteressant, wenn vielleicht auch wenig tröstlich“1514, charakterisierte. Womöglich war diese neben der staatlichen Intervention Teil eines zwischen Rottenburger Domkapitel und württembergischer Regierung abgesprochenen Plans. Für ihre bevorstehende Besprechung gab Kaas dem Nuntius mit auf den Weg, dass der dezidiert katholische Bolz „von den besten Absichten geleitet ist“, „volles Vertrauen“ rechtfertige und daher „vermöge seiner untadeligen Persönlichkeit verdient, besonders freundlich und rücksichtsvoll behandelt zu werden“1515. Mit dieser positiven Haltung empfing Pacelli den rechtlich versierten Innenminister am Montagnachmittag, dem 8. November, in Rorschach.1516 Der Nuntius unterrichtete anschließend seinen Vorgesetzten, dass er bei dieser Unterredung ausführlich den Standpunkt des Heiligen Stuhls expliziert habe: dass die Revolution einen radikalen politischen Umsturz in Deutschland nach sich gezogen habe, der eine Neuregelung des Verhältnisses von Kirche und Staat notwendig mache; dass die Reichsverfassung nicht mehr erlaube, die Zirkumskriptionsbullen in ihrer Gesamtheit anzuwenden, vielmehr der neuen Situation angepasste Verträge auszuhandeln seien; dass der Staat Württemberg im Gegensatz zu Bayern und Preußen den Heiligen Stuhl unverblümt ignoriere, jede Art von Verhandlungen ablehne und stattdessen einseitige Kirchengesetze verabschiede.1517 Angesichts dessen sei es doch klar, dass der Heilige Stuhl intendiere, das ius commune anzuwenden und den neuen Diözesanbischof frei zu ernennen. Ungerecht wäre es hingegen, wenn Staaten wie Württemberg günstigere Konditionen erhielten als die konkordatswilligen Länder, „und insbesondere wenn sie das Privileg der Kapitelswahl der Bischöfe behielten, das der Heilige Stuhl trotz allen Drängens aus Gründen allgemeiner und höherer Natur nicht meinte, Bayern oder Preußen gewähren zu können, wobei er jedoch
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Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 38r. Kaas an Pacelli vom 4. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 38r. Vgl. auch Hamers, Beziehungen, S. 95 Anm. 109. Die sittliche Integrität und tiefe Religiosität des Politikers waren gemeinhin anerkannt, auch Ludwig Baur und Heinrich Brüning hoben sie hervor. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. auch Miller, Bolz, bes. S. 520–564. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 32r–38v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 163–173. Pacelli verwies auf die negative Beispielfunktion dieses Vorgehens, das vom „Evangelischen Bund“ für den Kampf gegen Konkordate mit der katholischen Kirche instrumentalisiert werde. Die Verhandlungen über die Beziehung von Kirche und Staat sollten nach dessen Ansicht nicht von Rom, sondern von der jeweiligen Ortskirche geführt werden. Vgl. dazu Fleischmann-Bisten, Bund, bes. S. 107–111. 393
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eine gewisse Beteiligung der Kathedralkapitel an der Wahl der Kandidaten zuließ“1518. Nach Ansicht des Nuntius stand der Regierung auch das Druckmittel der finanziellen Sustentationen nicht zur Verfügung, weil diese auf dem Reichsdeputationshauptschluss und nicht auf der Zirkumskriptionsbulle gründen würden.1519 Dennoch stand die Position der Regierung unverändert. Schon lange bevor die Unterhandlung mit Pacelli anberaumt war, hatte Bolz beim Ministerialrat im württembergischen Kultusministerium, Robert Meyding, Erkundigungen über die staatskirchenrechtliche Situation eingezogen. Dieser fertigte ein Exposé über die Bestimmungen des Bischofswahlrechts in der Oberrheinischen Kirchenprovinz beziehungsweise in Württemberg an, in dem er die juristischen Kerndokumente im chronologischen Kontext darstellte.1520 Der Staatsbeamte kam zu dem Schluss: „Wenn auch eine Vertragsurkunde über das Bischofswahlrecht nicht ausgefertigt, sondern die Willensübereinstimmung der Regierungen und des Päpstlichen Stuhls nur durch Notenwechsel hergestellt worden ist, so ist doch im Einklang mit völkerrechtlichen Grundsätzen anzunehmen, dass das Recht der Bischofswahl, somit insbesondere auch das Wahlrecht der Domkapitel, in rechtlich bindender Weise vereinbart ist.“1521
Von dieser Grundlage gehe auch noch „ohne besondere Erörterung der Frage des Wahlrechts des Kapitels“1522 die Begründung des Kirchengesetzes von 1924 aus. Die hier verbriefte Auffassung von der Fortgeltung der Bulle Ad dominici gregis übergab Bolz dem Nuntius und fügte hinzu, dass die fortwährende Geltung der Zirkumskriptionsbullen allgemein herrschende Ansicht unter den deutschen Juristen sei und der Staat infolge der Reichsverfassung nur auf seine Interventionsrechte verzichtet, aber nicht die generelle Gültigkeit der alten Rechtsgrundlage angetastet habe. Vielmehr sei er seinen Verpflichtungen weiterhin nachgekommen.
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„… ed in particolare se essi mantenessero il privilegio della elezione capitolare dei Vescovi, che la Santa Sede non ha creduto, nonostante tutte le insistenze, per ragioni di ordine generale e superiore, di poter accordare né alla Baviera né alla Prussia, pur concedendo una qualche partecipazione dei Capitoli cattedrali nella scelta del candidato …“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 33r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 169. Vgl. dieselbe Argumentation bereits in den Preußenkonkordatsverhandlungen Bd. 1, Kap. II.1.1 (Das Gutachten von Joseph Hollweck und die Vorstellungen des Nuntius sowie Modifikationen in der Vorgehensweise des Heiligen Stuhls) und Exkurs II (Ein bischöfliches Memorandum und der ‚Konkordatshebel‘ Danzig). Vgl. Meyding an Bolz vom 3. September 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 40r–41v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 134–136. Meyding an Bolz vom 3. September 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 41r. Hervorhebung im Original. Meyding berief sich auch auf die wissenschaftliche Unterstützung dieser Ansicht, die er bei Stutz, Stand, fand. Meyding an Bolz vom 3. September 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 41r-v. 394
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Genau wie gegenüber Kaas kam Bolz laut Pacellis Berichterstattung auf die konfessionelle Zersplitterung Württembergs zu sprechen, die Konkordatsverhandlungen unmöglich machen würde: „Die Protestanten, von denen ein Gutteil oft im Unterschied zu ihren Pastoren gläubig und ihrem Glauben sehr verhaftet ist, schrecken vor dem Gedanken an jedweden Kontakt mit Rom zurück und würden es vorziehen, lieber mit dem Teufel zu verhandeln …“1523 Das oben angesprochene einseitige Gesetz über die Kirchen verzichte auf jede Anordnung über die Besetzung von kirchlichen Ämtern und stehe daher nicht in Konflikt mit Ad dominici gregis. Daher lag der Schwarze Peter nach Ansicht des Ministers beim Heiligen Stuhl, wenn dieser im Widerspruch zur Bulle das Kapitelswahlrecht überging. Ihn würde die protestantische Presse als vertragsbrüchig diffamieren. Der Staats- und Kultusminister, Wilhelm Bazille, sei zwar ein gemäßigter Protestant, würde aber unter dem Druck seiner Partei, der DNVP, die protestantische Position einnehmen. Genau wie es der Zentrumsprälat bereits prognostiziert hatte, kündigte Bolz laut Pacellis Bericht eine Protestnote der Regierung an, falls der Heilige Stuhl eine persona grata ernennen sollte. Bei einer eventuellen späteren Nomination einer persona ingrata jedoch, drohe der Minister, die pekuniären Leistungen einzustellen. Der Nuntius umschrieb die staatlichen Befürchtungen dahingehend, dass Rom einen Nicht-Württemberger oder gar einen Nicht-Deutschen oder – noch schlimmer – einen Jesuiten erwählen könnte. Dieser würde – so die Befürchtung – die Ausbildung des Klerikernachwuchses von der Theologischen Fakultät der staatlichen Universität Tübingen an ein vom Staat völlig unabhängiges Seminar verlegen. Dem Staat liege viel daran, dass so etwas nicht passiere. Zusätzlich zu der genannten Protestnote werde es – so referierte Pacelli den Minister – vermutlich eine Verhandlung im Landtag inklusive einer Ministererklärung geben. Darüber hinaus sei es umstritten, die Fundierung der finanziellen Verpflichtungen im Reichsdeputationshauptschluss zu sehen und mit einer solchen Ansicht stehe die Zentrumspartei völlig allein dar. Daher sei die Sicherheit der fortgesetzten Zahlung nicht gewährleistet. Wie Pacelli dem Kardinalstaatssekretär versicherte, habe er dagegen auf die Konsistorialallokution Benedikts XV. vom 21. November 1921 verwiesen.1524 Die Ansprache deklarierte die alten Konkordate für hinfällig, die mit Staaten geschlossen worden waren, die aufgrund politischer Subversion aufhörten, dieselbe moralische Person zu sein: „Dennoch habe der Heilige Stuhl in Bezug auf Deutschland, da Verhandlungen im Gange waren, die theoretische Frage nicht lösen wollen, son-
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„I protestanti, di cui una buona parte, spesso a differenza dei loro pastori, sono credenti ed attaccati alla loro fede, rifuggono dallʼidea di qualsiasi contatto con Roma e preferirebbero di trattare piuttosto col diavolo (lieber mit dem Teufel); …“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 34r. Hervorhebung im Original. Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 169f. Vgl. dazu Bd. 1, Exkurs I (Wieder die leidige Fortgeltungsfrage: die Konsistorialallokution Benedikts XV.). 395
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dern vielmehr dazu geraten, sie praktisch mit dem schnellen Abschluss neuer Verträge zu lösen.“1525 Pacelli genügte die staatliche Erklärung nicht, auf einige Rechte, die ursprünglich den Herrschern gewährt wurden, zu verzichten. Dadurch wurden die Zirkumskriptionsbullen seiner Ansicht nach nicht einfach wieder anwendbar, sondern mussten vielmehr immer noch durch neue Verträge den veränderten Umständen angepasst werden. Das Verhalten der württembergischen Regierung war für den päpstlichen Diplomaten völlig unbegreiflich und inkonsistent: „… aufgrund alter Vorurteile, die mitten im 20. Jahrhundert unverständlich sind, ignoriert sie den anderen Vertragspartner, das heißt den Heiligen Stuhl, und verweigert jeglichen Kontakt mit ihm; umgekehrt verlangt sie die Anwendung des Abkommens, dessen Ausführung vor allem nach so schwerwiegenden politischen Erschütterungen notwendigerweise eine neue gegenseitige Übereinkunft erfordert, und bezichtigt dann den Heiligen Stuhl selbst der mangelnden Einhaltung der Verträge, wenn er nach einer vergeblichen Wartezeit von mehreren Jahren und nachdem der Staat ein unilaterales Gesetz erlassen hat, selbst auch frei vorgehen will.“1526
Auch das einseitige Kirchengesetz habe etwas über die kirchlichen Ämter bestimmt, nämlich dass diese nur an deutsche Staatsbürger übertragen werden dürften.1527 Im Laufe der Geschichte der katholischen Kirche habe sich – so Pacelli – die Bestellung der Bischöfe weitreichend entwickelt bis zum jetzigen Can. 329 § 2. Daher wäre es untragbar, wenn Württemberg, obwohl die Reichsverfassung der Kirche das Recht auf autonome Selbstverwaltung zugesprochen habe, über das Druckmittel der finanziellen Leistungen die Umsetzung dieser „inneren Entwicklung“1528 zu verhindern suche, abgesehen davon, dass die Protestanten in dieser Hinsicht die völlige Freiheit genießen würden.1529
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„Tuttavia, per ciò che riguarda la Germania, essendo in corso trattative, la Santa Sede non aveva voluto risolvere la questione teorica, consigliando piuttosto di scioglierla praticamente colla rapida conclusione di nuove Convenzioni.“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 35v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 171. „… esso per vieti pregiudizi, incomprensibili in pieno secolo ventesimo, ignora lʼaltra Parte contraente, vale a dire la Santa Sede, e rifiuta qualsiasi contatto con Essa; viceversa, esige lʼapplicazione del trattato, la cui esecuzione, massime dopo così gravi sconvolgimento politici, richiede necessariamente una nuova reciproca intesa, ed accusa poi la Santa Sede medesima di mancanza di fedeltà alle Convenzioni, se, dopo una inutile attesa di vari anni, e dopo che lo Stato ha emanato una legge unilaterale, intende anchʼEssa di procedere liberamente.“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 36r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 171. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.3 Anm. 1412. „… interna evoluzione …“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 36v. Laut Pacellis Darstellung versuchte der Innenminister dies mit dem Hinweis zu rechtfertigen, dass deren Amtsinhaber durch deutsche Körperschaften gewählt und nicht – wie die katholischen Bischöfe – durch eine außerdeutsche Autorität ernannt wurden. 396
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Dieser Kritik fügte Pacelli nach eigenen Angaben die Verteidigungsbereitschaft der katholischen Kirche für den Fall hinzu, dass die Regierung im Landtag „falsche oder auch dem Heiligen Stuhl gegenüber beleidigende Erklärungen (wie die Anschuldigung des Treuebruchs der Verträge) abgeben“1530 sollte. Über die Presse oder vermittelst einer offiziellen Note an die Reichsregierung würde es dann eine Richtigstellung geben. Er habe auf der Verpflichtung der Zentrumspartei insistiert, sich dem angesprochenen Protest des Kultusministeriums oder der Androhung, die finanziellen Mittel zu streichen, trotz ihrer Minderheit entgegenzustellen.1531 Eine Einigung, die nur die Besetzung des bischöflichen Stuhls und die Dotation umfasste, habe er – so Pacelli – mit Verweis auf die negative Präzedenz für das Preußenkonkordat abgelehnt. Die preußische Regierung würde sich bei einer solchen Einigung in Württemberg nie mehr auf den Einbezug der Schulfrage und ähnlicher für die Kirche wichtiger Themen einlassen, wofür er mittlerweile schon viel investiert hatte. Er habe dem Minister zu bedenken gegeben, dass der Heilige Stuhl in viel globalerer und umfassenderer Perspektive denke und dass die Vereinbarungen mit Württemberg Relevanz über die Grenzen des süddeutschen Staates hinaus haben könnten. Bolz habe schließlich versprochen, mit Bazille über diese Angelegenheit sprechen zu wollen. Elf Tage später, am 19. November, meldete er Vollzug: Bazille wolle die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl prüfen, jedoch zuerst den Stand der Preußen- und Reichskonkordatsverhandlungen begutachten.1532 Der Nuntius rekapitulierte die feurige Debatte zwischen ihm und Bolz am 20. November für Gasparri. Was er dem Staatsbeamten jedoch verschwiegen hatte und vor dem Kardinalstaatssekretär beklagte, war, „dass leider hinter dem Ministerium das Domkapitel steht, das aller Wahrscheinlichkeit nach, statt den Gesichtspunkt des Apostolischen Stuhls zu verfechten, die Regierung aufstachelt, für die Beibehaltung des Privilegs der Kapitelswahl des Bischofs zu agieren“1533. Auch von der geplanten gemeinsamen Aktion der Bistümer der Oberrheinischen Kirchenprovinz zur Verteidigung des Kapitelswahlrechts berichtete er. Für das weitere Vorgehen blieb nach Pacellis Ansicht nichts anderes übrig, als die Entscheidung der württembergischen Regierung, die
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„… fare … dichiarazione false od anche offensive per la Santa Sede (come sarebbe lʼaccusa di violazione della fede dei trattati) …“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 37r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 172. Lediglich 17 von insgesamt 80 Abgeordneten konnte das Zentrum nach den Landtagswahlen von 1924 ins Parlament schicken. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 792; Weber, Bürgerpartei, S. 543. Vgl. Bolz an Pacelli vom 19. November 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 45r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 162. „… che, pur troppo, dietro il Ministero vi è il Capitolo cattedrale, il quale, secondo ogni verisimiglianza, invece di sostenere il punto di vista della Sede Apostolica, eccita il Governo ad agire per il mantenimento del privilegio della elezione capitolare del Vescovo.“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 37r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 172. 397
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Bazille angekündigt hatte, abzuwarten. Von ihr werde nämlich der Besetzungsmodus des Rottenburger Bischofsstuhls abhängen. Schließlich thematisierte Pacelli noch einmal die Personalfrage. Er versuchte, an der päpstlichen Entscheidung für Sproll zu rütteln: Geschickt bekräftigte er zunächst, dass sowohl Sproll als auch Baur die geeignetsten Kandidaten unter der württembergischen Geistlichkeit seien und wohl keinen Widerspruch seitens der Regierung zu erwarten hätten. Aber dann wiederholte er den seiner Ansicht nach unwiderlegbaren Vorteil des Philosophieprofessors: „Mir scheint allerdings, dass der Heilige Stuhl in Baur vielleicht einen Prälaten finden würde, der bereitwilliger und geeigneter ist, seine Anordnungen in den Streitfragen und in dem Kampf auszuführen, der mit jener Regierung geregelt oder geführt werden müsste, und auch fähiger, die so sehr notwendigen Reformen in der Lehre und Ausbildung des Klerus zu tätigen.“1534
Sproll stellte sich mit seinen andauernden Widerstrebungen im Verbund mit den übrigen Domherren gegen den römischen Standpunkt aus Pacellis Sicht offensichtlich kein berauschendes Selbstzeugnis aus. Vielleicht hoffte der Nuntius, dass man in Rom deshalb noch einmal umdenken würde. Gasparri stimmte den Ausführungen Pacellis zur Verteidigung des freien päpstlichen Ernennungsrechts der Bischöfe erneut uneingeschränkt zu, ebenso der Ansicht, die Wiederbesetzung bis zur Entscheidung der Regierung über die eventuelle Aufnahme von Verhandlungen hinauszuschieben.1535 Zur Kandidatenfrage äußerte er sich jedoch zunächst nicht.
Quid pro quo: der Tausch von Kapitelswahlrecht gegen staatliche Verhandlungsbereitschaft Eine Woche vor Weihnachten legte Kultusminister Bazille dem Nuntius die erwartete Entscheidung vor.1536 Zwar bekräftigte er in Kontinuität mit der bisherigen Regierungsposition die persistente Geltung der Zirkumskriptionsbullen, anerkannte jedoch die Zweckmäßigkeit, die Kontrakte zu erneuern. Daher sei er bereit, die von Pacelli angeregten Verhandlungen aufzunehmen. Für die Interimszeit verzichte die württembergische Regierung darauf, bei der Besetzung des bischöf1534
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„Sembrami tuttavia che nel Baur la Santa Sede troverebbe forse un Prelato più pronto ed atto ad eseguire le Sue direttive nelle vertenze o nella lotta, che occorresse di regolare o di sostenere con quel Governo, nonché più capace di attuare le tanto necessarie riforme nella istruzione ed educazione del clero.“ Pacelli an Gasparri vom 20. November 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 38v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 173. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 6. Dezember 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 52r. Vgl. Bazille an Pacelli vom 17. Dezember 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 53rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 174f. 398
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lichen Stuhls, der Domdechanei und der Kanonikate eine Kandidatenliste zu verlangen, um minder genehme Geistliche von ihr zu streichen, wobei durch diesen Verzicht die Geltung des Rechts selbst nicht tangiert werde. Dafür sei es ihr aber wichtig, dass die übrigen Normen von Ad dominici gregis über die Ämterbesetzungen umgesetzt würden: „Insbesondere gehe ich davon aus, dass der seit [dem, R.H.] 16. Juli d[es] J[ahres] erledigte bischöfliche Stuhl in Rottenburg in der durch die Bulle gegebenen Zeit durch Wahl des Domkapitels und Päpstliche Bestätigung nach den Bestimmungen der Bulle wieder besetzt werden wird.“1537 Dabei war freilich die von der Bulle gesetzte dreimonatige Frist, innerhalb der die Wahl des neuen Bischofs stattfinden musste, schon um zwei Monate überschritten. Nach erfolgter Besetzung sollten dann zunächst „unverbindliche mündliche Besprechungen über die Erneuerung der bisherigen Vereinbarungen“1538 zwischen dem Nuntius und Vertretern des württembergischen Kultusministeriums stattfinden. Pacelli nahm diese Offerte zwiespältig auf. Zwar konstatierte er gegenüber Gasparri, dem er das Schreiben Bazilles am 22. Dezember zusandte und für den er es ausführlich paraphrasierte, dass die württembergische Regierung nun von ihrer ignoranten Einstellung gegenüber dem Heiligen Stuhl abgewichen sei.1539 Dennoch mahnte er zur Vorsicht, die sich aus der sorgfältigen Lektüre des Schreibens und seines gesamtdeutschen Horizontes speiste: „Wenn man jedoch bedenkt: 1. dass sie [sc. die Verhandlungen, R.H.] erst nach der Neubesetzung des Bischöflichen Stuhls beginnen sollen, 2. dass sie von gänzlich ungewissem Ausgang sind, 3. dass vielmehr der mehrmals wiederholte Ausdruck ‚Erneuerung der Vereinbarungen‘ den Verdacht aufkommen lässt, dass die Regierung sich auf die in den Bullen behandelten Themen beschränken will, und schließlich 4. dass man das bereits mit Bayern abgeschlossene Konkordat und vor allem die schwebenden Verhandlungen mit Preußen vor Augen haben muss; würde es mir, untertänigst, nicht ratsam erscheinen, dem Kapitel, wenn auch nur in vorläufiger Weise, die schlichte und einfache Wahl des Bischofs zu gewähren, sondern es würde mir zweckmäßiger erscheinen, der Regierung ebenfalls pro hac vice eine Formel vorzuschlagen, die derjenigen ähnelt, die, wenn auch noch nicht definitiv, mit dem preußischen Kultministerium vereinbart wurde.1540 Das heißt, dass der Heilige Stuhl, indem er von der Bereitschaft der württembergischen Regierung, in Verhandlungen zu treten, Kenntnis nimmt, pro hac vice dem Kathedralkapitel das Privileg gewähren könnte, den neuen Hirten unter zwei oder drei Kandidaten zu wählen, die von dem Heiligen Stuhl selbst designiert würden, der sich außerdem bereit erklären würde, vor der Bestätigung in offiziö-
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Bazille an Pacelli vom 17. Dezember 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 53v. Bazille an Pacelli vom 17. Dezember 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 53v. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 22. Dezember 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 46r–47v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 176–179. Vgl. zum Stand des Besetzungsmodus in den preußischen Konkordatsverhandlungen zu diesem Zeitpunkt Bd. 1, Kap. II.1.5 (Pacellis Verhandlungsstrategie und ein sich anbahnender Kompromiss sowie das Folgende). 399
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ser Weise die Regierung selbst zu befragen, ob gegen den Gewählten Bedenken politischer Natur bestehen.“1541
Damit schien endlich etwas Bewegung in die Sache zu kommen. Für eine beschleunigte Erledigung der Sedisvakanz sprach sich Anfang Januar 1927 auch Franz Ehrle aus.1542 Der aus dem württembergischen Allgäu stammende Kurienkardinal war durch Briefe aus seiner Heimat – auch mit Kapitularvikar Sproll korrespondierte er1543 – veranlasst worden, Gasparri auf die negativen Pressereaktionen und antirömischen Affekte hinzuweisen, die aus einer verlängerten Vakanz resultieren würden. Auch Papst und Staatssekretär sahen die Zeit des Handelns gekommen. Pius XI. war mit dem Vorschlag Pacellis einverstanden.1544 Unter Kenntnisnahme der Verhandlungsbereitschaft der württembergischen Regierung war er bereit, für dieses Mal dem Rottenburger Domkapitel die Wahl aus zwei vom Heiligen Stuhl bezeichneten Kandidaten zu gestatten. Am 14. Januar erlaubte Gasparri dem Nuntius, eine entsprechende Note an Bazille zu richten. Für den Fall, dass der Kultusminister diesen Modus akzeptierte, sollten die beiden römischen Kandidaten Sproll und Baur sein. Zu diesem Zweck hatte er für den Breslauer Professor das Nihil obstat des Sanctum Officium eingeholt.1545 Für den bisher vom Heiligen Stuhl 1541
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„Considerando, tuttavia 1. che esse dovrebbero cominciare soltanto dopo la nuova provvista della Sede vescovile, 2. che sono di esito del tutto incerto, 3. che anzi la frase più volte ripetuta ‚rinnovazione delle Convenzioni‘ (Erneuerung der Vereinbarungen) fa sospettare che il Governo voglia restringerle alle materie contemplate nelle Bolle, e finalmente 4. che occorre tener presente il Concordato già concluso colla Baviera e sopratutto i negoziati pendenti colla Prussia; mi parrebbe subordinatamente non consigliabile di concedere, sia pure soltanto in via provvisoria, al Capitolo la elezione pura e semplice del Vescovo, ma sembrerebbemi più opportuno di proporre al Governo, sempre pro hac vice, una formula simile a quella già convenuta, sebbene in modo non ancora definitivo, col Ministero del Culto prussiano. La S. Sede, cioè, nel prendere atto della disposizione del Governo württemberghese di entrare in trattative, potrebbe concedere pro hac vice al Capitolo cattedrale il privilegio di eleggere il nuovo Pastore fra due o tre candidati designati dalla S. Sede medesima, la Quale si dichiarerebbe altresì pronta ad interrogare, prima della conferma, ufficiosamente il Governo medesimo, se contro lʼeletto vi siano obbiezioni di ordine politico.“ Pacelli an Gasparri vom 22. Dezember 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 47r-v. Hervorhebungen im Original. Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 179. Vgl. Ehrle an Gasparri vom 3. Januar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 44r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 180f. Am 14. Oktober 1926 hatte Ehrle Sproll in einem Schreiben zu überzeugen gesucht, „dass in der Geschichte der Besetzung der Bischofsstühle stets dem Papst das entscheidende Wort zugekommen sei und deshalb die freie päpstliche Ernennung das wahre kirchliche Modell sei“. In einem weiteren Brief vom 1. Februar 1927 forderte der Kardinal den Weihbischof auf, bei allen Beteiligten auf die Akzeptanz einer Lösung nach dem Vorbild des bayerischen Konkordats hinzuwirken. Wolf, Affäre, S. 33f. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 14. Januar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 58r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 182f. Vgl. Gasparri an Canali vom 11. Januar 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 50r; Canali an Gasparri vom 11. Januar 1927, ebd., Fol. 51r. 400
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präferierten Kandidaten, Sproll, war das Plazet der Suprema Congregatio nicht nötig, weil er die Bischofsweihe bereits empfangen hatte. Schließlich wies Gasparri Pacelli an, das Domkapitel zum gegebenen Zeitpunkt zur kanonischen Wahl zwischen den Genannten aufzufordern und zwar mit dem ausdrücklichen Vermerk, dass diese sub secreto Sancti Officii stattzufinden habe, auch weil vor der päpstlichen Approbation das staatliche Nihil Obstat eingeholt werden müsse.
Verhandlungen um die Spezifika des Wahlmodus Pacelli setzte den Auftrag sofort in die Tat um. Gegenüber dem Kultusminister brachte er am 19. Januar die Befriedigung des Heiligen Stuhls über die Bereitschaft der Regierung zum Ausdruck, „in Verhandlungen über eine neue Regelung der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat einzutreten“1546. Der Nuntius sprach offensichtlich bewusst von einer neuen Regelung des Kirche-Staat-Verhältnisses, um die kuriale Auffassung über die Natur der Verhandlungen direkt zu profilieren. Der Heilige Stuhl sei bereit – so Pacelli weiter –, dem Wunsch der Regierung nach der Kapitelswahl entgegenzukommen. Zwar erklärte er, dass die Wahl aus zwei von Rom vorgelegten Kandidaten zu treffen sei, jedoch verschwieg er die Intention, die Regierung nach erfolgter Wahl zwecks etwaige politische Bedenken anzugehen. Diesen Bestandteil des Besetzungsmodus strich der Nuntius aus dem Entwurf des Schreibens wieder heraus, wohl nicht, weil er grundsätzlich dagegen war – er hatte ihn ja selbst am 22. Dezember des Vorjahres vorgeschlagen –, vielmehr wollte er ihn offenbar als weitere Verhandlungsmasse in der Hinterhand behalten. Als Reaktion auf die Note des Nuntius sprach der württembergische Gesandte in Berlin, Staatsrat Otto Bosler, am 10. Februar bei Pacelli vor. Darüber setzte Pacelli den Kardinalstaatssekretär eine Woche später in Kenntnis.1547 Bosler habe noch einmal die Fortgeltungsfrage aufgegriffen und erneut die Regierungsposition in dieser Angelegenheit bekräftigt. Außerdem habe er eine – offensichtlich weniger eingeschränkte – Kapitelswahl für den gegenwärtigen Besetzungsfall verlangt. Dem habe er – so Pacelli – entgegengehalten, dass der Heilige Stuhl sich dazu bereits in der genannten Note geäußert habe. Außerdem sollte man die theoretische Frage nach der Fortgeltung auf sich beruhen lassen und stattdessen möglichst bald eine neue Vereinbarung abschließen. Sicherlich habe die Kurie bei den Besetzungen der Bistümer Köln, Paderborn, Trier und Freiburg 1546
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Pacelli an Bazille vom 19. Januar 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 59rv, hier 59r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 184f. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 18. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 54r–57r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 188–193. Bosler war von Bazille als Vermittler für die ersten Besprechungen benannt worden. Vgl. Bazille an Pacelli vom 17. Dezember 1926, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 53v. 401
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nach der Revolution den jeweiligen Kapiteln das Wahlrecht konzediert. Doch das war für Pacelli nun Vergangenheit: „Diese Beispiele gehen aber auf eine inzwischen weit zurückliegende Zeit zurück, da die letzte der erwähnten Besetzungen, nämlich die von Trier, im Februar 1922 stattfand, also vor nunmehr fünf Jahren. Es war ganz natürlich, dass der Heilige Stuhl in jener Zeit derart tiefgreifender Erschütterung des Gemeinwesens in Deutschland auf eine solche provisorische Maßnahme zurückgriff; aber das könne man heute, da die Situation sich konsolidiert und stabilisiert hat, nicht mehr verstehen.“1548
Wiederum beklagte er die Ignoranz Württembergs gegenüber dem Heiligen Stuhl und beschuldigte die Regierung, mit ihrer diplomatischen Unwilligkeit für die gegenwärtige Lage verantwortlich zu sein.1549 Er habe Bosler gebeten, sich bei seiner Regierung dafür einzusetzen, die vorgeschlagene Lösung zu akzeptieren, damit die schon viel zu lang währende Sedisvakanz endlich zu einem Ende komme. Als zusätzliches Signum der „Nachgiebigkeit“1550 sei der Heilige Stuhl bereit, sich bei der Regierung vor der päpstlichen Approbation nach eventuellen Bedenken politischer Natur zu erkundigen. Damit „verkaufte“ Pacelli diplomatisch geschickt etwas, das von vornherein vorgesehenen war, als einen Extrabonus. Bazille war mit dem Wahlmodus, den Rom – vielmehr Pacelli – in Vorschlag gebracht hatte, unter zwei Bedingungen einverstanden. Dies geht aus seiner Antwort auf das Schreiben Pacellis vom 19. Januar hervor, die Bosler dem Nuntius am 17. Februar persönlich übergab.1551 Der Minister verschwieg allerdings nicht, dass er lieber „aus rechtlichen und praktischen Erwägungen die unveränderte Anwendung des bisherigen Wahlverfahrens vorgezogen“1552 hätte. Seine Bedingungen formulierte er in Anlehnung an die Rechte, die das bayerische Konkordat den Domkapiteln und der 1548
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„… ma questi esempi risalgono a tempo ormai remoto, avendo lʼultima delle menzionate provviste, vale a dire quella di Treviri, avuto luogo nel Febbraio 1922, ossia or sono cinque anni. Era ben naturale che la Santa Sede in quel periodo di così profondo sconvolgimento della cosa pubblica in Germania ricorresse a tale provvedimento provvisorio; ma ciò non si comprenderebbe più ora che la situazione si è consolidata e stabilita.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 54v–55r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 191. Was Pacelli an dieser Stelle nicht erwähnte, aber womöglich im Hinterkopf hatte, war ein weiteres Gespräch mit Bolz vom 20. Januar, in dem dieser erneut erklärt hatte, dass Stuttgart nicht in Konkordatsverhandlungen eintreten werde. Allerdings hatte Bolz bekräftigt, mit Baden und Hessen Kontakt aufznehmen, um eventuell eine gemeinsame Regelung des Kirche-Staat-Verhältnisses in die Wege zu leiten. Vgl. Sailer, Bolz, S. 81. Vgl. zum Versuch eines gemeinsamen Vorgehens der Staaten der Oberrheinischen Kirchenprovinz auch Bd. 3, Kap. II.3.4 Anm. 1632. „… condiscendenza …“ Pacelli an Gasparri vom 18. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 55r. Vgl. Bazille an Pacelli vom 15. Februar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 60rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 186f. Bazille an Pacelli vom 15. Februar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 60r. 402
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Regierung zusprach: Das bedeutete für Bazille zum einen, dass der Heilige Stuhl die zur Wahl bestimmten Kandidaten einer Vorschlagsliste des Domkapitels entnehmen sollte. Dabei wünschte er mit Rekurs auf die „öffentliche Meinung des Landes“1553, dass die von Rom zur Wahl gestellten Geistlichen von zwei auf drei Namen aufgestockt würden. Zum anderen forderte Bazille für den Staat das politische Bedenkenrecht, das Pacelli zuvor als weiterführendes Zugeständnis präsentiert hatte. Wiederum sprach er unbeirrt von einer „Erneuerung der älteren Vereinbarungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Württembergischen Staat“1554 und nicht von einem gänzlich neuen Vertrag. Laut seinem Referat für Gasparri vom 18. Februar eröffnete der Nuntius dem Boten umgehend seine Kritik am Versuch des Kultusministers, das Bayernkonkordat von 1924 als Referenzquelle geltend zu machen. Zweierlei habe er dazu bemerkt: 1) schreibe dieses nicht nur, wie hier gewünscht, eine einzige Liste vor, nämlich die des Domkapitels der vakanten Diözese, sondern neben dieser noch die Triennallisten der bayerischen Bischöfe und der übrigen bayerischen Kapitel, sodass dort der Kandidatenpool für den Heiligen Stuhl erheblich größer sei. 2) könne gemäß dem Bayernkonkordat der Papst den Bischof aus allen vorgeschlagenen Namen frei auswählen, während hier die Regierung dem Heiligen Stuhl nur das Recht zugestehen wolle, eine einzige Liste auf eine Dreiergruppe zu reduzieren. Außerdem benötige das Listenverfahren einen erheblichen Zeitaufwand, der dem beiderseitigen Wunsch nach einer raschen Beendigung der Sedisvakanz abträglich wäre und ebenfalls den Start der Verhandlungen um die Kirche-Staat-Beziehungen hinauszögern würde. Positiver stand Pacelli der Aufstockung des Kandidatenkorpus auf drei Personen gegenüber, ein Vorschlag, den er Gasparri als überlegenswert vorlegte. Die Begründung dafür lieferte ihm der Gedankengang einer politischen Kontinuität des Heiligen Stuhls. Denn bei den Verhandlungen um die Zirkumskriptionsbullen im Zuge der Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe der damalige Kardinalstaatssekretär, Ercole Consalvi, stets auf der Notwendigkeit insistiert, dass die staatlichen Streichungen noch wenigstens drei bis vier Namen auf der Kandidatenliste beließen, um eine wirkliche Kapitelswahl zu ermöglichen. Wenn daher vom Heiligen Stuhl nur zwei Geistliche zur Wahl gestellt würden, könnte dies, „wenn auch zu Unrecht“1555, als Selbstwiderspruch der Kurie deklariert und als solcher gegen den Heiligen Stuhl in Parlament und Presse geltend gemacht werden. Einen dritten Kandidaten hatte Pacelli auch gleich parat: Er plädierte für Stauber, der ihm „als ein vorzüglicher und frommer Priester, dem Heiligen Stuhl treu ergeben, fest in den katholischen Prinzipien und ein guter Kenner des Klerus“1556 empfohlen worden sei, womit er auf die Zeugnisse 1553 1554 1555
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Bazille an Pacelli vom 15. Februar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 60v. Bazille an Pacelli vom 15. Februar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 60v. Hervorhebung R.H. „… per quanto a torto …“ Pacelli an Gasparri vom 18. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 56v. „… come ottimo e pio sacerdote, fedele alla Santa Sede, fermo nei principi cattolici e buon conoscitore del clero.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 57r, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 193. 403
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der beiden Jesuiten Köppel und Bleienstein anspielte. Jedoch hielt Pacelli diese Kandidatenergänzung letztlich für irrelevant, denn er glaubte, genau zu wissen, dass das Domkapitel Sproll wählen werde. Eben deshalb schien es auch bedeutungslos, ob ein Name mehr oder weniger auf der Liste stand. Nun musste für Pacelli, der ursprünglich für einen Aufschub der Angelegenheit optiert hatte, alles ganz schnell gehen, denn die Verzögerung der Besetzung rief in Württemberg zunehmend Unruhe hervor.1557 Daher bat er Gasparri, möglichst bald zu antworten. Nachdem Bosler den württembergischen Kultusminister von seinem Gespräch mit Pacelli vom 17. Februar unterrichtet hatte, kam der Gesandte vier Tage später erneut in die Berliner Nuntiatur und überbrachte die staatliche Erwiderung.1558 Sie enthielt den Verzicht auf die ursprüngliche Forderung, dass der Heilige Stuhl eine Kandidatenliste vom Domkapitel einholen sollte, die als Vorlage für die schließlich zur Wahl gestellten Geistlichen zu gelten habe. Jedoch geschehe dies nur unter den Prämissen, dass die Kapitelswahl aus drei Personen erfolge und vor der römischen Bestätigung des Erwählten staatlicherseits politische Bedenken vorgebracht werden könnten.1559 Das politische Bedenkenrecht war bereits mit Rom abgesprochene Sache und hatte der Nuntius auch Bosler gegenüber schon in Aussicht gestellt. Aber auf die Vorgabe einer Kandidatentrias hatte Pacelli noch keine kuriale Dezision erhalten. Dass darin die einzige noch anzunehmende Bedingung der Regierung bestand, telegraphierte er noch am selben Tag an Gasparri, verbunden mit der Bitte um eine rasche Entgegnung.1560 Weil diese zunächst ausblieb, telegraphierte er am 4. März noch einmal, dass eine Antwort eile.1561 Diese kam drei Tage später. Pius XI. erlaubte, den 1557
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So erhielt Pacelli beispielsweise ein anonymes, undatiertes Schreiben, das ihn auf ein pamphletisches Inserat in der „Gmünder Zeitung“ aufmerksam machte. Dort hieß es: „Ein Bischof wird gesucht, der möglichst wieder von Naze-Reth sein sollte. Anstellung in Gehaltsklasse XIII zugesichert. Meldungen, auch von Laien, schleunigst an die verwaiste Diözese Lotterburg.“ ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 77r. Der Briefschreiber anerkannte zwar die Frechheit einer solchen Anzeige, führte sie aber auf die andauernde Sedisvakanz zurück, die ohne jede öffentliche Begründung in weiten Kreisen Anstoß hervorrufe. Vgl. anonymer Schreiber an Pacelli ohne Datum, ebd., Fol. 75r. Vgl. Bosler an Pacelli vom 21. Februar 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 66r–67r (nur r); abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 194. Zudem sollte keine dieser Bestimmungen künftige Regelungen präjudizieren. Der päpstliche Gesandte gab Bosler diesbezüglich schon einmal präventiv zu verstehen, dass der Heilige Stuhl Württemberg niemals mehr zugestehen werde, als er Bayern zugestanden hatte oder im Begriffe sei, Preußen zu gewähren. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 21. Februar 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 61r. Über den normalen Postverkehr sandte er gleichzeitig einen ausführlicheren Bericht über das Treffen mit Bosler an das römische Staatssekretariat. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 21. Februar 1927, ebd., Fol. 63rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 195–197. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 4. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 67r. 404
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Direktor des Wilhelmsstiftes als dritte Person mit auf die Wahlliste zu setzen,1562 nachdem das Heilige Offizium ihn zuvor durchgewunken hatte.1563 Der Nuntius sollte der Regierung die Genehmigung kommunizieren.
Die Wahl Sprolls zum Bischof von Rottenburg Gemäß dieser Anordnung teilte Pacelli dem württembergischen Gesandten in Berlin mit, dass der Heilige Stuhl aufgrund der signalisierten Verhandlungsbereitschaft und dem Bestreben, die Sedisvakanz schnell zu beenden, „bereit ist, dem Wunsch der württembergischen Regierung zu entsprechen und deshalb pro hac vice dem Hochwürdigsten Domkapitel dortselbst drei Kandidaten zu bezeichnen, aus denen es den neuen Bischof zu wählen ermächtigt ist“1564. Weil der Heilige Stuhl beabsichtigte, vor der kanonischen Bestätigung der Wahl die Regierung über politische Bedenken zu befragen, zeigte sich Pacelli überzeugt, „dass damit den in Aussicht genommenen Verhandlungen zur Neuregelung der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staate in Württemberg die Wege geebnet sind“1565. Entsprechend der Weisung Gasparris vom 14. Januar 1562
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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 7. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 74r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 200. Vgl. Gasparri an Canali vom 7. März 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 68r; Canali an Gasparri vom 7. März 1927, ebd., Fol. 69r. Pacelli an Bosler vom 10. März 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 79r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 201. Pacelli an Bosler vom 10. März 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 79r. Bosler kündigte noch am selben Tag eine Pressemitteilung „über Inhalt und Ergebnis der Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl“ an. Bosler an Pacelli vom 10. März 1927, ebd., Fol. 80r–81r (nur r), hier 80r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 203. Der württembergische Gesandte schickte Pacelli den Entwurf dieser Mitteilung zur Durchsicht. Er lautete: „Entwurf einer Veröffentlichung der Pressestelle anläßlich der im Kirchlichen Amtsblatt erscheinenden Aufforderung des Kapitularvikars zu Gebeten wegen der Bischofswahl. Von zuständiger Seite wird mitgeteilt: Wie wir erfahren, wird das Domkapitel in Rottenburg demnächst die Wahl des Bischofs vornehmen. Das Domkapitel wählt aus einer von dem Päpstlichen Stuhl übermittelten Liste, die drei Namen enthält. Vor der Bestätigung der Wahl wird der Päpstliche Stuhl mit der Regierung in Verbindung treten, um sich zu vergewissern, dass gegen den Gewählten Erinnerungen politischer Natur nicht zu machen sind. Über dieses Verfahren hat sich der Päpstliche Stuhl mit Rücksicht auf die Vereinbarung, die die württembergische Regierung und die Kurie in den Jahren 1825/27 über die Bischofswahl abgeschlossen haben, für den jetzigen Besetzungsfall mit der Regierung verständigt. Die Erneuerung der alten Vereinbarung über die Bischofswahl ist späteren Verhandlungen nach Wiederbesetzung des bischöflichen Stuhls vorbehalten.“ Entwurf der Pressemitteilung, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 82r. Pacelli verlangte drei Veränderungen: 1) die Formulierung der politischen Klausel sollte der Formel, die er in seinem Schreiben vom 10. März gebraucht hatte, angepasst werden („Außerdem wird der Heilige Stuhl vor der kanonischen Bestätigung der Wahl in offiziöser Weise bei der württembergischen Regierung anfragen, ob gegen den Gewählten Bedenken politischer Natur obwalten.“); 2) „Kurie“ sollte mit „Heiliger Stuhl“ ersetzt werden; 3) für „Erneuerung der alten 405
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informierte der Nuntius umgehend auch den Domdekan, dass dem Domkapitel für dieses Mal das Wahlrecht zwischen den Kandidaten Sproll, Baur und Stauber zugestanden werde.1566 Der Wahlakt müsse sub secreto Sancti Officii und gemäß den kanonischen Vorschriften vorgenommen werden. Der Name des Gewählten sei anschließend sofort der Nuntiatur mitzuteilen. Eine Begründung allerdings, warum auf einmal die Kapitelswahl möglich sein sollte, was er und die Kurie vorher strikt abgelehnt hatten, lieferte Pacelli nicht. Das Rottenburger Domkapitel führte die Wahl bereits zwei Tage später, am 12. März, durch.1567 Morgens um 9 Uhr trafen sich die Domkapitulare1568 zunächst im bischöflichen Palais, um die ersten Vorbesprechungen vorzunehmen. Domdekan Kottmann rief sie am Nachmittag um 16 Uhr wieder zusammen und las den Brief Pacellis mit der Erlaubnis zur Bischofswahl vor. Nach der Epiklese wurden der Kanoniker Augustinus Dannecker zum Protokollant und die Domherren Karl Stofer und Franz Joseph Fischer zu Wahlprüfern bestellt. Sie leisteten zusammen mit dem Vorsitzenden den Amtseid und versprachen, das Geheimnis zu wahren. Anschließend übergaben sie den Wählern die Stimmzettel, die ihre Voten der Reihe nach in ein Gefäß legten. Die folgende Auszählung ergab, dass die Anzahl der Zettel der Anzahl der Wahlberechtigten entsprach. Sechs der sieben Stimmen entfielen auf Sproll, „ein anderer bekam die siebte Stimme“1569. Dabei handelte es sich um die eigene Stimme des Kapitularvikars, die er sich nicht selbst geben durfte. Nachdem Sproll seine einstimmige Wahl akzeptierte hatte, wurden die Wahlzettel vernichtet. Die Wähler beauftragten den Vorsitzenden abschließend, Pacelli unverzüglich über die Wahl zu unterrichten. Damit war der Wahlakt sub secreto und genau nach den Vorgaben des kirchlichen Gesetzbuches abgelaufen, wie Kottmann noch am selben Tag in seiner Wahlanzeige für die Nuntiatur versicherte.1570
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Vereinbarung über die Bischofswahl“ sollte „Neugestaltung der alten Vereinbarungen“ geschrieben werden. Vgl. Notiz über die Bosler gemachten Anmerkungen vom 12. März 1927, ebd., Fol. 83r. Bosler übernahm sämtliche Anmerkungen des Nuntius. Vgl. Bosler an Pacelli vom 16. März 1927, ebd., Fol. 90r und 91r. Die Pressemitteilung erschien in verschiedenen württembergischen Zeitungen mit zum Teil ausführlichen Kommentaren, zum Beispiel unter dem Titel „Lösung der Bischofsfrage“, in: „Deutsches Volksblatt“ Nr. 61 vom 15. März 1927, ebd., Fol. 88; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 208–210. Vgl. Pacelli an Kottmann vom 10. März 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 78r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 202. Vgl. Documentum electionis vom 12. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 86rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 205–207. Alle Domkapitulare waren anwesend: Neben Sproll und Kottmann Friedrich Laun, Augustinus Dannecker, Karl Aigeltinger, Karl Stofer und Franz Joseph Fischer. „Septimum suffragium retulit alius.“ Documentum electionis vom 12. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 86v. Vgl. Kottmann an Pacelli vom 12. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 84r–85r (nur r); abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 204. 406
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Der Nuntius telegraphierte die Wahl Sprolls am 15. des Monats an das römische Staatssekretariat und bat um die Erlaubnis, bei der württembergischen Regierung nach politischen Bedenken anzufragen.1571 Die gewünschte Autorisierung traf prompt am Morgen des 17. März bei Pacelli ein.1572 Dieser ging sofort zum württembergischen Gesandtschaftsgebäude in der Voßstraße, um Bosler über den Wahlausgang zu benachrichtigen. Der württembergische Gesandte holte auf telefonischem Weg das Plazet des Staatspräsidenten ein und gab dieses noch am Abend der Nuntiatur bekannt. Der Nuntius berichtete Gasparri am nächsten Tag darüber und übersandte ihm das Wahlinstrument sowie die Pressemitteilung der württembergischen Regierung, in der – was Pacelli wichtig war, zu betonen – „ausdrücklich auch auf die bevorstehenden Verhandlungen hingewiesen wird“1573. Da die Regierung den sehnlichsten Wunsch hege, sehr bald den Namen des electus öffentlich zu machen, erbat er eine eilige Zusendung der päpstlichen Approbation.
Die päpstliche Bestätigung und die Ernennungsbullen Noch innerhalb der dafür vorgeschriebenen achttägigen Frist, nämlich am 19. März, ersuchte der künftige Rottenburger Bischof Papst Pius XI. um die Bestätigung seiner Wahl.1574 Sproll erklärte, diese nur ungern und nach anfänglichem Zögern angenommen zu haben: „Auf die Frage, ob ich die Wahl annähme, hätte ich es vorgezogen, auf die Wahl zu verzichten, wobei ich in Betracht zog, eine wie große und wie beschaffene Bürde sich auf meine Schultern legen würde. Ich, der ich vierzehn Jahre lang im Amt des Generalvikars und elf Jahre lang im Amt des Weihbischofs arbeitete, lernte zur Genüge, wie viel Arbeit und Sorgen das bischöfliche Amt mit sich bringt, welche Masse an abzulegender Rechenschaft es besonders in diesen Zeiten auferlegt, wie viel Gelehrsamkeit und Nächstenliebe, wie viel Sanftheit und Langmütigkeit, wie viel Eifer und Liebe zu den Seelen es erfordert. Deshalb fragte ich, der ich mich für unzureichend hielt, dieses Amt löblich zu erfüllen und die Diözese fruchtbringend zu regieren, meine Wähler, ob sie einen anderen, besseren und würdigeren als mich wählen wollten. Als die Wähler auf ihrem Votum beharrten und einzelne offen erklärten, warum sie mir ihre Stimme gegeben hatten und meine Zustimmung mit aller Macht erbaten, sprach ich zu meinen Wählern mit dem heiligen Apostel Deutschlands, Bischof Bonifatius,
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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 15. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 71r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 16. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 92r. „… si accenna espressamente anche alle prossime trattative …“ Pacelli an Gasparri vom 18. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 74rv, hier 74v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 211f., Übersetzung zitiert nach ebd., 212. Vgl. Sproll an Pius XI. vom 19. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 81rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 213f. 407
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und sagte: Herr, wenn ich für dein Volk nötig bin, lehne ich keine Mühe ab, und ich gab zum Ausdruck, dass ich die Wahl annehme.“1575
Jedoch wusste man im Domkapitel nicht so recht, ob diese Bestätigungsbitte, wie sie der Can. 177 § 1 des CIC vorschrieb, angesichts der besonderen Umstände wirklich nötig war.1576 Daher übersandte Sproll das Schreiben an Pacelli, um ihm anheimzustellen, es nach Rom weiterzuleiten oder gegebenenfalls zurückzuhalten.1577 Der Nuntius entschied, der Bestimmung des Canons zu folgen und sandte die Supplik an das Staatssekretariat.1578 Gasparri genehmigte daraufhin am 26. März, dass die Regierung den Wahlausgang der Öffentlichkeit bekannt machen könne.1579 Drei Tage später wies er Erzbischof Rossi, den Assessor der Konsistorialkongregation, an, die Ernennungsbullen anzufertigen,1580 was er Pacelli unter dem gleichen Datum kommunizierte.1581 Daher datiert das offizielle Ernennungsdatum in den Akten des Heiligen Stuhls auf diesen Tag.1582 Zur selben
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„Interrogatus de electioni acceptatione maluissem electioni renuntiare considerans, quantum et quale onus humeris meis sit imponendum. Per quattuordecim annos Vicarii generalis et per undecim annos Episcopi Auxiliarii munere functus sat bene intellexi, quantum laboris et curae munus episcopale afferat, quantam rationis reddendae molem praesertim his temporibus imponat, quantam doctrinam et pietatem, quantam mansuetudinem et longanimitatem, quantum fervorem et animarum studium exigat. Quamobrem imparem me huic muneri laudabiliter adimplendo et dioecesi fructuose gubernandae existimans electores meos rogavi, ut alium meliorem et digniorem me eligerent. Persistentibus vero electoribus in eorum voto et singulis, quibus rationibus permoti mihi suffragium dederint, aperte declarantibus et assensum meum enixe poscentibus cum Germaniae apostolo sancto praesule Bonifatio electores meos allocutos dixi: Domine, si populo tuo sum necessarius, non recuso laborem, et me electioni consentire manifestavi.“ Sproll an Pius XI. vom 19. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 81r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf, Affäre, S. 214. Vgl. zum Besetzungsmodus gemäß CIC 1917 Bd. 1, Kap. I.6. Vgl. Sproll an Pacelli vom 20. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 95r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 22. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 80r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 26. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 103r. Vgl. Gasparri an Rossi vom 29. März 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 82rv. Weil man in der Konsistorialkongregation nicht so genau über die rechtlichen Umstände der Besetzung informiert war, erkundigte sich Rossi bei Borgongini Duca, dem Sekretär der AES, ob die Ernennungsdokumente die Klausel „pro hac vice et sine praeiudicio quoad futuras provisiones“ enthalten sollten. Vgl. Rossi an Borgongini Duca vom 31. März 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 85r. Nuntius und Kardinalstaatssekretär lag verständlicherweise viel an dieser Einschränkung, sodass die Antwort positiv lautete. Vgl. Borgongini Duca an Rossi vom 2. April 1927 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 566 P.O., Fasz. 82, Fol. 85v. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 29. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 106r. Vgl. AAS 19 (1927), S. 137. Die Präkonisation erfolgte im Geheimen Konsistorium am 20. Juni 1927. Vgl. ebd., S. 242. 408
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Zeit ließ Gasparri die Ernennung Sprolls zum neuen Bischof von Rottenburg auch im „Osservatore Romano“ publizieren.1583 Pacelli ließ es sich nicht nehmen, dem neuen Oberhirten am 29. März seine Glückwünsche zu entrichten.1584 Die Inthronisationsfeierlichkeiten wurden kurz danach auf den 21. April terminiert,1585 doch das Datum verstrich, ohne dass sie stattfanden und ohne dass es eine öffentliche Begründung dafür gab. Sproll bedankte sich beim Nuntius erst vier Wochen nach dessen Gratulation am 29. April.1586 Er entschuldigte die Verspätung mit dem Hinweis, dass er mit dem Dank ursprünglich bis zum Eintreffen der Ernennungsbullen warten wollte. Außerdem sei er krankheitsbedingt für drei Wochen ans Bett gefesselt gewesen, was offenbar nach seinem Dafürhalten eine kurze Dankadresse unmöglich machte. Nun müsse er sich – so Sproll – vor der Inthronisation erst noch vier Wochen im Schweizerischen Lugano erholen. Am 20. April schließlich sandte Rossi die Ernennungsdokumente an die Berliner Nuntiatur mit der Bitte, sie an Sproll weiterzuleiten.1587 Der Nuntius jedoch behielt die Dokumente bis zum 23. Mai ein und übermittelte sie erst dann nach Rottenburg.1588 Er wusste, dass der neue Bischof sich innerhalb dieses Zeitraums nicht in seiner Bistumsstadt befand und die päpstlichen Dokumente daher nicht vermisste. Doch war das nicht der Grund für die so späte Weiterleitung. Wie kam es zu diesen merkwürdigen Verzögerungen am Ende des Besetzungsverfahrens?
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Vgl. die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 73 vom 30. März 1927. Vgl. Pacelli an Sproll vom 29. März 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 105r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 218. Er verschaffte sich nach den vielen kritischen Pressestimmen über die knapp achtmonatige Sedisvakanz einen Überblick, wie die Zeitungen die Wahl Sprolls aufnahmen. Zum Beispiel „Ein neuer Bischof für Rottenburg“, in: „Deutsche Zeitung“ Nr. 75a vom 30. März 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 107 oder „Der neue Bischof von Rottenburg“, in: „Germania“ Nr. 149 vom 30. März 1927, ebd., Fol. 108. Vgl. „Inthronisation des Bischofs Dr. Sproll am 21. April. Bestätigung der Wahl durch den Heiligen Vater“, in: „Deutsches Volksblatt“ Nr. 78 vom 5. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 112. Vgl. Sproll an Pacelli vom 29. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 146rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 233. Vgl. Rossi an Pacelli vom 20. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 114r. Die Taxe für die Ausstellung der Bullen betrug 9.800 Mark, konnte jedoch den Umständen der bischöflichen Mensa angepasst werden. Vgl. Pacelli an Sproll vom 23. Mai 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 116r. Der Nuntius überließ es dem neuen Bischof, die Höhe der Kanzleigebühren festzulegen. Sproll ließ der Konsistorialkongregation schließlich 2.500 Mark zukommen. Vgl. Pacelli an Rossi vom 17. September 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 120r; Pacelli an Sproll vom 17. September 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 121r; Cicognani (Konsistorialkongregation) an Pacelli vom 8. Oktober 1927, ebd., Fol. 123r. Dass der kanonische Prozess circa promovendos ad Episcopatum seit 1924 nicht mehr durchgeführt wurde, merkte Pacelli in einem zweiten Schreiben vom 23. Mai an. Vgl. Pacelli an Sproll vom 23. Mai 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 115r. Die für diesen Prozess anfallenden Gebühren, die sich auf die Summe von 1.000 Mark beliefen, wurden aber weiterhin erhoben. 409
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Eine unvorhergesehene Verzögerung: der Beleidigungsprozess1589 Nachdem der Tübinger Moraltheologe Schilling von der Wahl Sprolls zum neuen Bischof von Rottenburg erfahren hatte, wandte er sich ein zweites Mal innerhalb des Besetzungsverfahrens an den Nuntius. War es ihm am 19. Juli des Vorjahres daran gelegen, Domdekan Kottmann als neuen Oberhirten zu verhindern, so denunzierte er nun – am 19. April 1927 – Bischof Sproll und revidierte damit sein Urteil aus dem ersten Schreiben.1590 Dort hatte er ihm einen tadellosen Charakter bescheinigt. Jetzt beschuldigte er ihn nicht nur, die total verweltlichte Katholisch-Theologische Fakultät Tübingen mit ihrer langen Reihe von unmoralisch lebenden Professoren gewähren zu lassen, sondern vielmehr, selbst nicht den lupenreinen Ruf zu besitzen, der nötig sei, um Ordnung in das unangemessene und heterodoxe Treiben der Fakultät zu bringen.1591 Damit rekurrierte Schilling auf eine Verleumdungsverhandlung vor dem Schöffengericht in Ulm vom 23. März des Jahres. Ausgangspunkt war das Gerücht gewesen, Sproll habe ein Kind gezeugt. Mitte Februar hatte der Weihbischof erfahren, dass diese Behauptung in seiner früheren Pfarrei Kirchen kolportiert wurde. Umgehend hatte er das Domkapitel darüber informiert und Strafanzeige gegen die Urheber der Verleumdung erstattet. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt, weil man sich auf einen gütlichen Vergleich geeinigt hatte: „Zwei Lehrer und ein Bierbrauereibesitzer aus dem Oberamt Ehingen hatten sich gestern [sc. am 23. März, R.H.] in Ulm vor Gericht wegen Beleidigung des Kapitularvikars Dr. Sproll von Rottenburg zu verantworten. Nach Vernehmung der Angeklagten machte der Vorsitzende den Vorschlag, die Sache durch eine Erklärung der Angeklagten aus der Welt zu schaffen. Der Vertreter des Kapitularvikars betonte, dass der Antragsteller gar keinen Wert auf eine Verurteilung lege, sondern nur festgestellt wissen wollte, dass an dem ganzen ehrenrührigen Gerede kein wahres Wort ist. Es wurde dann von der Vernehmung der Zeugen abgesehen und vom Vorsitzenden, Amtsgerichtsdirektor Rücker, eine Erklärung abgefasst, in der zum Ausdruck kommt, dass die Angeklagten lebhaft bedauern, dass das Gerede entstanden ist. Zwei der Angeklagten bedauern ferner, dass sie zur Weiterverbreitung desselben beigetragen haben. Sämtliche drei Angeklagten sind überzeugt und von jeher überzeugt gewesen, dass an dem Gerede kein wahres Wort ist und verpflichten sich zum Zeichen ihres Bedauerns, wenn Weihbischof Dr. Sproll seinen Strafantrag zurückzieht, die vollen Kosten des Verfahrens zu übernehmen … Der Vertreter des Kapitularvikars erklärte sich mit dieser Art der Erledigung einverstanden, worauf die Verhandlung geschlossen wurde. – Damit ist eine Angelegenheit aus 1589
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Vgl. die Darstellung dieser Ereignisse um den Beleidigungsprozess in entsprechender Ausführlichkeit bei Wolf, Affäre, S. 55–66 und den entsprechenden Quellentexten im Anhang. Vgl. Schilling an Pacelli vom 19. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 126r–139v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 219–227. Die Kritik Schillings richtete sich insbesondere gegen den Dogmatikprofessor Karl Adam, dessen Reputation und Einfluss ihm seit langer Zeit ein Dorn im Auge war. Darauf, dass er auch ihn später noch einmal gesondert denunzierte, als ein Verfahren des Heiligen Offiziums gegen Adam anhänglich war, wurde schon hingewiesen. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.3 Anm. 1442. 410
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der Welt geschafft, die von Anfang an in allen Kreisen größte Entrüstung den Verleumdern gegenüber hervorgerufen hat.“1592
Der Moraltheologe wollte sich nicht festlegen, ob das Gerücht der Wahrheit entsprach oder nicht. Jedoch habe sich der Weihbischof mindestens schuldig gemacht, so ein Gerede provoziert zu haben und dieses stehe nun der Inthronisation im Weg, weil ihm viele Menschen Gehör und Glauben schenken würden. Schilling wollte nichts anderes als die Einsetzung Sprolls zum Rottenburger Oberhirten verhindern. Der Moraltheologe war über Jahre der geheime Berater und „Schützling“1593 des verstorbenen Bischofs Keppler gewesen, Sproll jedoch habe ihn – so Schilling – „vollkommen ausgeschaltet“1594 und sein Rat werde nicht mehr benötigt. Diese Anschuldigungen konnte Pacelli nicht ignorieren und suchte, ihnen auf den Grund zu gehen. Das erledigte er nicht bei Sproll persönlich, vor dem er kein Wort über diese Angelegenheit verlor, sondern zunächst wiederum beim Jesuitenspiritual des Wilhelmsstifts Köppel und dann – von diesem weiterverwiesen – beim dortigen Direktor Stauber.1595 Beide nahmen Sproll in Schutz. Köppel hielt die von Schilling dargestellte Tragweite des Gerüchts für maßlos übertrieben und auch für Stauber war die Anschuldigung haltlos.1596 Das Domkapitel sah das ganz genauso und hatte Sproll ja auch in voller Kenntnis des Geredes einstimmig zum Diözesanbischof gewählt.1597 Abschließend ließ sich Pacelli von Fritz noch die amtlichen Prozessakten besorgen, die dieser am 20. Mai mit der Bemerkung übersandte: „Die üble Nachrede … gegen den Herrn
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„Beleidigungsprozess des Weihbischofs“, in: „Tübinger Chronik und Steinlachbote. Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Tübingen“ Nr. 70 vom 25. März 1927; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 216 und zitiert nach ebd. Hervorhebungen ebd. Burkard, Theologie, S. 58. Schilling an Pacelli vom 19. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 138v. Vgl. Pacelli an Köppel vom 21. April 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 140rv und Pacelli an Stauber vom 27. April 1927 (Entwurf), ebd., Fol. 145rv; beide abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 228 und 232. Vgl. Köppel an Pacelli vom 24. April 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 141r–143r und Stauber an Pacelli vom 29. April 1927, ebd., Fol. 147r–148v; beide abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 229–231 und 234–236. So schrieb Domdekan Kottmann an den Freiburger Erzbischof in dieser Angelegenheit: „Zu der Sache selbst erlaube ich mir zu bemerken, dass, wovon das Domkapitel von vornherein felsenfest überzeugt war, an der Verleumdung gegen unserern hochwürdigsten Bischof auch nicht ein wahres Wort ist, was ja auch die [Prozess-]Akten klar erweisen. Welches die erste Quelle des verleumderischen Geredes ist, wissen wir nicht sicher, aber wir dürfen annehmen, dass es seine Quelle hat in einer Untersuchung, die der hochwürdigste Bischof seinerzeit schon vor ungefähr fünf Jahren gegen einen Kaplan zu führen hatte, der beschuldigt war, Vater eines Kindes zu sein. Dieser Kaplan tat auf der Untersuchung in einem engen befreundeten Kreis den Ausspruch: Wenn ich ein Kind haben soll, so hat der Bischof Keppler auch eines und der Weihbischof zwei. Nachher allerdings leugnete dieser Kaplan hartnäckig, diesen Ausspruch getan zu haben.“ Kottmann an Fritz vom 19. Mai 1927 (Abschrift), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 160rv, hier 160v; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 240f. 411
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Weihbischof Dr. Sproll in Rottenburg ist ein völlig unbegründetes Wirtshausgeschwätz.“1598 Die Aussagen der Genannten überzeugten Pacelli davon, dass das Gerücht keinerlei Wahrheitsgehalt besaß. Deshalb kommunizierte er dieses Thema auch gar nicht erst nach Rom, sondern ließ es dabei bewenden. Nun endlich schickte er die Ernennungsbullen nach Rottenburg.
Die Inthronisation Sprolls Als die Unterlagen dort eintrafen, war Bischof Sproll noch nicht aus seinem Erholungsurlaub zurückgekehrt.1599 Kottmann verständigte ihn aber sofort, damit er von der Diözese bald Besitz ergreifen und inthronisiert werden konnte. Am 1. Juni legte Sproll dem Domkapitel die päpstlichen Dokumente vor und reiste anschließend nach Freiburg zu Erzbischof Fritz, um den Amtseid zu leisten.1600 Am 14. des Monats stand dieser den Inthronisationsfeierlichkeiten in Rottenburg vor. In der Anzeige seiner Amtsübernahme für den Nuntius resümierte Sproll vier Tage später: „Damit hat endlich die schreckliche Zeit der Sedisvakanz ein Ende.“1601 Diese hatte fast ein Jahr gedauert. Pacelli teilte diese Ansicht, jedoch mit einer besonderen Perspektive: „An Ihrer Freude über den endlichen Schluss der Sedisvakanz nehme ich aufrichtig Anteil, ganz besonders, weil die Besetzung des Bischöflichen Stuhls von Rottenburg den Beziehungen der katholischen Kirche zum Württembergischen Staat, soweit man sehen kann, eine günstige Wendung gegeben und in der Person Eurer Bischöflichen Gnaden eine glückliche Lösung gefunden hat.“1602
Unter diesem Blickwinkel konnte er mit dem Ausgang des Falls also gut leben. Obwohl Pacelli hier noch von einer günstigen Entwicklung des Verhältnisses von katholischer Kirche und württembergischen Staat auf dem Weg zu einem Konkordat ausging, sollte diese Ansicht bald als Illusion entlarvt werden. Trotz mehrerer zaghafter Versuche und scheinbar günstiger Anläs-
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Fritz an Pacelli vom 20. Mai 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 151r–152r (nur r), hier 151r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 242. Vgl. auch Pacelli an Fritz vom 2. Mai 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 149rv und Fritz an Pacelli vom 6. Mai 1927, ebd., Fol. 150r; beide abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 237f. und 239. Vgl. Sproll an Pacelli vom 18. Juni 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 166rv; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 250f. Vgl. Sproll an Pacelli vom 9. September 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 117r. Vgl. auch die öffentliche Anzeige der päpstlichen Approbation und der Ankündigung der Inthronisation vom 1. Juni, in: Kirchliches Amts-Blatt für die Diözese Rottenburg Nr. 8 vom 3. Juni 1927. Sproll an Pacelli vom 18. Juni 1927, ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 166v. Pacelli an Sproll vom 21. Juni 1927 (Entwurf), ASV, ANB 52, Fasz. 1, Fol. 169r; abgedruckt bei Wolf, Affäre, S. 252. 412
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se, um Konkordatsverhandlungen zu führen, wurde dieses Ziel nicht erreicht.1603 Es scheiterte an protestantischen Ressentiments, an den parlamentarischen Widerständen, aber auch daran, dass der Heilige Stuhl sich mehr auf Vereinbarungen mit den größeren deutschen Ländern wie Preußen und Baden konzentrierte. So lief letztlich die von Pacelli erhoffte Gegenleistung ins Leere.
Ergebnis 1. Pacellis Präferenz für die Nachfolge Kepplers schwankte zwischen zwei Kandidaten: auf der einen Seite der geistlichen Autorität des Bistums, den Weihbischof, General- und schließlich Kapitularvikar Sproll; auf der anderen Seite den Breslauer Professor für Philosophie Baur, ein Vertreter des Thomismus und damit – wie Pacelli anerkennend feststellte – eine Seltenheit in Deutschland. Seine Ausführungen erwecken den Eindruck, dass er sich zwischen den beiden nicht so richtig entscheiden konnte, denn zunächst deklarierte er Sproll als „alles in allem“ tauglichsten Kandidaten, später überlegte er, ob eine Nomination Baurs nicht doch besser wäre. Auf welcher Basis kam er zu diesen Urteilen? Als Grundprinzip für Pacellis Kandidatenwahl galt: War der Geistliche fähig und gewillt, die Priesterausbildung entsprechend den kirchlichen Grundsätzen durchzusetzen. Mit den kirchlichen Grundsätzen hatte er eine römisch-scholastische Durchformung des philosophisch-theologischen Lehrbetriebs im Sinn, wie es der Geheimerlass der Studienkongregation an den deutschen Episkopat von 1921 verlangt hatte. Insbesondere in Württemberg hielt er diese Maxime für maßgeblich, da die Alumnen die Tübinger Katholisch-Theologische Fakultät besuchten und dort – wie man Pacellis Auffassung rekonstruieren kann – mit einer positiven, für Protestantismus und Modernismus anfälligen Theologie konfrontiert wurden. Wer war aber nach Pacelli fähig und gewillt diese Reformen anzugehen? Jemand, der selbst eine solche Ausbildung genossen und das heißt in Rom studiert hatte. Das war sein Ideal, nur musste er erkennen, dass es „leider“ im württembergischen Klerus niemanden gab, auf den dies zutraf. Dennoch kam Pacelli nicht auf die Idee einen auswärtigen Geistlichen, der in Rom studiert hatte, nach Rottenburg zu promovieren. Denn gegen einen einheimischen Kleriker könnten „weder Regierung noch das Kapitel begründete Einwände haben“ und dies war ihm gerade wichtiger als die römischen Studien. Sproll und Baur (auch der spätere Ergänzungs1603
Zum Beispiel besetzte der Heilige Stuhl im Mai 1932 ein vakantes Kanonikat in Rottenburg gemäß CIC ohne Rücksprache mit der Regierung und nicht nach der Zirkumskriptionsbulle Ad dominici gregis. Aber auch die daraus resultierenden Gespräche zwischen den staatlichen Stellen und der Berliner Nuntiatur, welche die Notwendigkeit einer Neuregelung des Staat-Kirche-Verhältnisses thematisierten, führten nicht zu ernsthaften Verhandlungen. Vgl. dazu Hamers, Beziehungen, S. 128–130. 413
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kandidat Stauber) hatten in Tübingen studiert, doch nur ersterem kreidete Pacelli dies als Malum an: Bei ihm bezweifelte er, dass er „ein volles Bewusstsein von der Notwendigkeit der Reformen in den philosophischen und theologischen Studien des Klerus hat und eine klare und genaue Vorstellung, wie diese umzusetzen sind“. Da der „Thomist“ Baur offenkundig die Scholastik vertrat, spielte seine Tübinger Ausbildung für Pacelli nur noch eine untergeordnete Rolle. Für den Nuntius war damit das römische Studium kein kriteriologischer Selbstzweck, sondern ein Indikator für das Verständnis der römischen Reformen, das per se auch ohne römisches Studium gegeben sein konnte. Dies erklärt, warum Pacelli dem Philosophieprofessor schließlich den Vorzug gab. Noch ein weiterer Grund war für den Vorzug ausschlaggebend: Er glaubte, dass Baur eher den notwendigen „Kampf “ mit der württembergischen Regierung führen werde. Hier konnte Pacelli auf die positiven persönlichen Impressionen zurückgreifen, die Baur bei ihm angesichts der Auseinandersetzungen um das württembergische Kirchengesetz von 1924 hinterlassen hatte. Den Weihbischof beschuldigte er hingegen, gemeinsam mit den übrigen Domherren die Regierung zugunsten des Wahlrechts gegen Rom „aufzustacheln“. Eine solche „Koalition“ mit dem Staat gegen Rom widersprach Pacellis Bischofsbild, das im Gegenteil die Treue und Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl vorsah: Nur dann würde ein Bischof auch die Studienreformen umsetzen. Nicht zufällig attestierte der Nuntius dem nachträglich in die episkopablen Kandidaten eingefügten Stauber, „dem Heiligen Stuhl treu ergeben zu sein“.1604 Dass er Sproll dennoch als persona grata deklarierte, hing besonders an dessen administrativer Begabung, die Pacelli vorbehaltlos anerkannte. Außerdem schrieb er ihm Verdienste im Ringen mit dem Staat um die Konfessionsschule zu – dass Pacelli schließlich nicht mehr von der Bereitschaft des Weihbischofs überzeugt war, mit der Regierung die nötigen Auseinandersetzungen zu führen, war ein späteres Resultat seiner Erfahrungen während des Besetzungsfalls. Diese für ihn entscheidenden Kriterien ergänzte Pacelli mit einer Reihe von Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, mit denen er dem Kardinalstaatssekretär zwar die Eignung Sprolls, Baurs und Staubers untermauerte, von denen aber letztlich nicht klar wird, welche Relevanz er ihnen realiter beimaß: Intelligenz, Bescheidenheit, Tüchtigkeit, rechtliche Kenntnisse, keine falsche Rücksichtnahme, strenge Einforderung der priesterlichen Standespflichten, gute Gesundheit (Sproll), rhetorische Fähigkeiten (Baur), Frömmigkeit, katholische Prinzipientreue, Kenntnis des Diözesanklerus (Stauber, wobei letztere natürlich auch Sproll zukam).
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Anders als Sproll und Baur schien Pacelli Stauber nicht näher zu kennen. Bischof Keppler hatte ihn in einem Schreiben an die Nuntiatur im Frühjahr 1925 einmal beiläufig erwähnt. Vgl. Keppler an Pacelli vom 12. Februar 1925, ASV, Segr. Stato, Anno 1925, Rubr. 88, Fasz. 1, Fol. 16r–17v. Offenbar verließ er sich hier weitgehend auf die jesuitischen Informanten. Von der römischen reverentia Staubers hatte Köppel Zeugnis abgelegt. 414
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Schließlich bleibt noch zu konstatieren, dass Negativa, wie mangelnde Vornehmheit, der Widerstand des Adels (Sproll) oder ein zu impulsives Wesen (Baur) für Pacelli eine untergeordnete Rolle spielten und die grundsätzliche Episkopabilität der Geistlichen nicht aufhoben. Wenn der Nuntius auch am liebsten Baur als neuen Rottenburger Oberhirten gesehen hätte, so darf man nicht übersehen, dass er alle drei Kandidaten ausgesucht hatte, unter denen das Domkapitel Sproll wählte. Von daher konnte letztlich kein Wahlausgang für Pacelli in personeller Hinsicht ein Scheitern bedeuten. Dazu kommt, dass er die Kapitelswahl nicht verhinderte, obwohl er den Ausgang derselben antizipierte: Mit der Wahl Sprolls konnte er also weitaus besser leben, als mit den Konsequenzen, die sich aus der Änderung des Besetzungsmodus ergeben hätten. 2. Als unantastbarer Modus für die Besetzung des vakanten Bischofsstuhls galt Pacelli lange Zeit die freie päpstliche Nomination gemäß Can. 329 § 2 des CIC, wie es das von Pacelli selbst entworfene Zirkularschreiben an die oberrheinischen Bischöfe vom 2. Juni 1926 angeordnet hatte. Ursache für diesen radikalen Schritt war die Konkordatsunwilligkeit Württembergs (sowie Badens und Hessens) und da diese Unwilligkeit anhielt, sah Pacelli keine Veranlassung dem von Regierung und Domkapitel geäußerten Wunsch nach einer Bischofswahl gemäß Ad dominici gregis nachzukommen. Er erblickte in der Geschichte der Besetzungsverfahren der Bischofsstühle eine innerlich determinierte Entwicklung bis zur freien päpstlichen Nomination des CIC, die er damit gewissermaßen als Idealform deklarierte. Daher verurteilte er es als unerhört, wenn Württemberg diesen Prozess gleichsam künstlich aufzuhalten versuchte, indem es die finanziellen Leistungen als Druckmittel verwendete. Eine Präzedenz der Besetzungsfälle in Köln, Paderborn, Freiburg (1920) und Trier (1922), wo jeweils eine (Erz-) Bischofswahl stattgefunden hatte, wollte Pacelli nicht anerkennen: „Es war ganz natürlich“ – so bewertete er aus der Retrospektive –, „dass der Heilige Stuhl in jener Zeit derart tiefgreifender Erschütterung des Gemeinwesens in Deutschland auf eine solche provisorische Maßnahme zurückgriff; aber das könne man heute, da die Situation sich konsolidiert und stabilisiert hat, nicht mehr verstehen“. Nachdem Pacelli später wiederum aus politischen Motiven pro hac vice eine Bischofswahl durch das Domkapitel als opportun einstufte, erschien es ihm sinnvoll, auf den Modus zurückzugreifen, der zu diesem Zeitpunkt dem Stand der preußischen Konkordatsverhandlungen entsprach:1605 Das Kapitel sollte aus zwei oder drei vom Heiligen Stuhl bezeichneten Geistlichen den neuen Bischof wählen; im Anschluss sollte die Regierung gegenüber dem Nuntius etwaige politische Bedenken gegen den Gewählten geltend machen können. Dieser Modus war dem Nuntius erheblich „ratsamer“ als eine „schlichte und einfache Wahl“, was nicht überrascht, gewährte er doch Rom massiven und 1605
Letztlich war also nicht die Rottenburger Wahl Vorbild für die Regelungen im preußischen und badischen Konkordat, wie Antonius Hamers annimmt (Hamers, Beziehungen, S. 131, 134), sondern umgekehrt waren die preußischen Verhandlungen die Grundlage für die Rottenburger Besetzung. 415
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den letztlich entscheidenden Einfluss auf die Wiederbesetzung des Bischofsstuhls. Ob von kurialer Seite zwei oder drei Namen zur Wahl gestellt wurden, war zweitrangig und konnte die römische Freiheit nicht essentiell einschränken, ganz im Gegensatz zu der von Bazille verlangten Vorschlagsliste des Domkapitels. Daher lehnte Pacelli letztere Forderung ab, während er sich für eine Wahl aus einer Kandidatenterna empfänglich zeigte. Hierbei dachte er auch taktisch: Da Rom im 19. Jahrhundert regelmäßig von staatlicher Seite verlangt hatte, wenigstens drei Kandidaten auf der Wahlliste des Domkapitels zu belassen, damit eine reale Wahl möglich war, fürchtete Pacelli den Vorwurf eines kurialen Selbstwiderspruchs, wenn man nun auf einer Wahl aus zwei Namen insistieren würde. Anders etwa als in Paderborn oder Freiburg sorgte Pacelli dafür, dass in Rottenburg keine freie Wahl des Domkapitels stattfand, sondern eine Wahl, die durch eine römische Terna konditioniert war. Abgesehen von den Vorschlagslisten des Kapitels und des Episkopats fand hier also erstmals der Modus Anwendung, der schlussendlich im Preußenkonkordat festgelegt werden sollte. 3. Sowohl Pacellis Kandidatenwahl als auch insbesondere sein angestrebter Besetzungsmodus hingen wesentlich mit der staatlichen Haltung zusammen. Zwar zog die württembergische Regierung die Konsequenz aus den staatspolitischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg und reklamierte keinen aktiven Einfluss mehr auf die Bischofseinsetzungen wie etwa das Streichungsrecht von Kandidaten. Aber gleichzeitig ging sie von der grundsätzlichen Weitergeltung von Ad dominici gregis aus, verlangte daher eine Bischofswahl und weigerte sich, neue Verhandlungen mit Rom zu führen. Bolz prophezeite Pacelli, dass die protestantische Presse den Heiligen Stuhl als vertragsbrüchig hinstellen würde, wenn dieser das Bischofswahlrecht überginge. Bei der Ernennung eines dem Staat nicht genehmen Kandidaten drohe zudem die Einstellung der Dotationen. Pacelli reagierte darauf mit Empörung: Die Zirkumskriptionsbulle sei nach dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik nicht mehr insgesamt anwendbar – sorgsam vermied er es, die prinzipielle Geltung der Bulle zu negieren. Der staatliche Verzicht auf die aktive Einflussnahme reiche da nicht aus. Er erinnerte daran, dass der Heilige Stuhl die müßige Frage der Fortgeltung nicht auf theoretischer Ebene habe klären wollen, sondern bestrebt gewesen sei, neue Verträge abzuschließen, die der veränderten politische Situation Rechnung trugen. Doch Württemberg habe sich dem versperrt und „bezichtigt dann den Heiligen Stuhl selbst der mangelnden Einhaltung der Verträge, wenn er nach einer vergeblichen Wartezeit von mehreren Jahren und nachdem der Staat ein unilaterales Gesetz erlassen hat, selbst auch frei vorgehen will“. Gerade mit Blick auf die in der WRV verbürgte Autonomie kirchlicher Ämterbesetzung hielt Pacelli es für skandalös, wenn die württembergische Regierung eine freie römische Bischofsernennung mit Einstellung der finanziellen Leistungen bestrafen würde. In diesem Fall votierte Pacelli – in „guter“ Kulturkampfmentalität – dafür, den Bischofsstuhl eher eine Zeit lang vakant zu lassen, als dem Staat nachzugeben. Falsche Anschuldigungen wie die des Treuebruchs werde sich die Kirche nicht gefallen lassen und den Sachverhalt öffentlich richtigstellen. 416
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Bei all dem verlor Pacelli nie die gesamtdeutsche Perspektive aus dem Blick. Allein schon deshalb schien ihm eine ausnahmsweise Konzession der Kapitelswahl inopportun, weil es „absurd“ sei, dass konkordatswillige Staaten wie Bayern und Preußen geringere Zugeständnisse bei den Bischofseinsetzungen erhielten als das verhandlungsresistente Württemberg. Vor allem die Konkordatsverhandlungen mit Preußen sah Pacelli in Gefahr, da man diesem nicht verweigern könne, was man im Rottenburger Fall erlaube. Daraus erklärt sich der harte Kurs, den Pacelli einschlug: Nur mit Preußen stand er nach Abschluss des bayerischen Konkordats in Verhandlungen, ein Scheitern oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung durfte er nicht riskieren. Nur unter der conditio sine qua non, dass die württembergische Regierung Verhandlungsbereitschaft signalisierte, war Pacelli bereit, ihr beim Besetzungsmodus entgegenzukommen. Er benutzte also die Sedisvakanz als Druckmittel und Katalysator für die erhofften Konkordatsverhandlungen mit Württemberg. Der Kultusminister lenkte ein und überbrachte das Angebot, nach der Bischofswahl unverbindliche Unterredungen über die Erneuerung des alten Vertrags zu führen. Trotz der klar diagnostizierten Gefahr, die aus dieser Formulierung resultierte, deduzierte Pacelli, dass der Staat nunmehr von seiner Ignoranz gegenüber Rom abgewichen sei. Aufgrund der vielfachen Ungewissheit, wie ernst die Regierung diese Zusage nehmen würde, setzte der Nuntius den „preußischen“ Wahlmodus durch. Für das Domkapitel, das von diesem Tausch profitierte, machte die Einschränkung durch die Terna keinen wesentlichen Unterschied: Es konnte dennoch seinen großen Favoriten Sproll wählen. Doch dem Staat gegenüber signalisierte Pacelli, dass der Heilige Stuhl sich nicht so leicht „an der Nase herumführen“ ließ, sondern Konzessionen nur für ernste Gegenleistungen zu erwarten waren. Bazilles Forderung, dass der Staat politische Bedenken gegen den Gewählten vorbringen durfte, machte Pacelli überhaupt keine Schwierigkeit, wenngleich er dieses Recht als besondere „Nachgiebigkeit“ des Heiligen Stuhls kennzeichnete.1606 Beurteilt man das skizzierte quid pro quo mit dem Wissen, dass ein württembergisches Konkordat nicht zustande kam, könnte man folgern, dass Pacellis Politik letztlich scheiterte. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, dass Pacelli mit dem zugunsten Roms modifizierten Wahlmodus nur ein eingeschränktes Zugeständnis machte, da er ja genau wusste, wie vage die Chance auf einen Erfolg der Verhandlungen war. Außerdem war seine Konzession für den Ausgang des Besetzungsfalls – die Promotion Sprolls auf den Rottenburger Bischofsstuhl – unerheblich: Einerseits wäre Sproll auch ohne Wahl der Nachfolger Kepplers geworden (Pius XI. hatte ihn schon zuvor ernannt), andererseits erwartete Pacelli, dass der Weihbischof als Sieger aus der Kapitelswahl hervorgehen würde. Kurzum: Der Heilige Stuhl gewann im Vergleich zu früher erheblich an Einfluss auf die Bischofseinsetzung und an der Person des neuen Bischofs änderte sich nichts. Damit hatte Pacelli bei dem Tausch letztlich nichts zu verlieren.
1606
Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 (Ergebnis Nr. 3). 417
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4. Als Vertrauensperson Pacellis in staatskirchenrechtlicher Sicht tritt in diesem Fall einzig Kaas hervor. Zwar lässt sich quellenmäßig nicht belegen, inwieweit der Nuntius mit dem Zentrumsprälaten über die Rottenburger Besetzung konferierte. Aber das inoffizielle „Vorgespräch“ des Trierer Kanonisten mit Bolz auf der Zugfahrt von Erfurt legt nahe, dass jener über den Stand des Verfahrens von Pacelli informiert worden war – Kaas und Pacelli brachten dieselben Argumente. Dies überrascht insofern nicht, als die konkordatsrechtliche Materie genau das Metier war, in dem Kaas als Berater Pacellis fungierte. Aus Kaasʼ Schreiben geht hervor, dass die Zugunterredung nicht geplant war, also kein dementsprechender Auftrag vom Nuntius vorangegangen war. Da der Prälat diesen aber sofort von der Diskussion unterrichtete, konnte Pacelli sich für die anstehende Besprechung gezielt auf die Argumente des Innenministers vorbereiten. Umfangreich dagegen war das Informantenspektrum, das Pacelli für seine Kandidatensondierungen einsetzte. Den ersten Anstoß gab er jedoch nicht selbst, sondern Schilling, der sich ungefragt an den Nuntius wandte.1607 Obwohl Pacelli damit nicht auf die Vorschläge des Moraltheologen aus gewesen war, bildeten alle fünf von Schilling im Hinblick auf das Bischofsamt genannten Namen – plus Schilling selbst – den Ausgangspunkt für seine Kandidatensuche. Auch für weitere Vorschläge aus dem Rottenburger Klerus war er offen. Pacelli hatte also keine klar vorgefasste Vorstellung, wer Keppler nachfolgen sollte und fügte auch keinen Geistlichen aus eigenem Repertoire dem Kandidatenkorpus bei. Dass Pacelli auch Kottmann nicht von vornherein ausschloss, zeigt, dass er Schillings Denunziation nicht vorbehaltlos vertraute und ein umfassenderes Bild für nötig hielt. Als erste Ansprechpartner sowohl für neue Vorschläge als auch für die Bewertung der bereits vorliegenden Namen erscheinen drei Jesuiten mit jeweils enger Verbindung zur Diözese Rottenburg: der Stuttgarter Superior Stiegele, der in Innsbruck weilende ehemalige Tübinger Spiritual Bleienstein sowie der ihm nachfolgende Spiritual am Wilhelmsstift Köppel.1608 Während sich trotz einiger negativer Bemerkungen aus ihren Voten ein klares Plus für Sproll herauskristallisierte, optierte Bertram für Baur. Dabei erfolgte dessen Meinungsbekundung mehr 1607
1608
Zwar hatte sich der Nuntius schon am 16. Juni, knapp vier Wochen vor dem genannten Schreiben Schillings, an den Moraltheologen gewandt. Der Brief Pacellis ist in den Quellen nicht auffindbar. Da Keppler zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht verstorben war, gab es für Pacelli damals keinen Grund, nach etwaigen Nachfolgern zu fragen. Daher ist anzunehmen, dass Schilling die Vorschläge ohne vorherigen Auftrag Pacellis vorbrachte. Vgl. zum angesprochenen Schreiben Pacellis an Schilling Wolf, Affäre, S. 96 Anm. 1. Alle drei finden in Pacellis Nuntiaturberichterstattung an dieser Stelle das erste Mal Erwähnung. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Ein weiterer Religiose, den Pacelli im Rottenburger Fall als Informationsquelle heranzog, war Pater Locher OSB, der Sekretär des Benedikinerabtprimas. Allerdings ging es hier nicht um Kandidatenvorschläge oder -beurteilungen, sondern um den von Schilling behaupteten „Wirtshausexzess“, an dem Baur beteiligt gewesen sein sollte. Der Benediktiner erscheint allerdings nur als eine letzte Versicherung Pacellis, da ihm alle früheren Informanten nichts zu der fraglichen Begebenheit berichten konnten. 418
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oder weniger zufällig: Bertram hatte Pacelli auf den Breslauer Katholikentag eingeladen, wo sich die Gelegenheit ergab, über die Rottenburger Sedisvakanz zu sprechen. Obwohl er von der Ansicht des Fürstbischofs also nur anlässlich des zweckfremden Zusammentreffens erfuhr, war dieselbe nicht unerheblich, da sie – anders als die Jesuiten – Baur dem Rottenburger Weihbischof vorzog, was schlussendlich auch Pacellis Präferenz entsprach. Zugunsten des Philosophieprofessors führte Pacelli aus seiner Erinnerung nicht nur die persönliche Begegnung von 1923 an, sondern außerdem eine positive Wertung des bedeutenden Münchener Scholastikforschers Grabmann. Damit schrumpfte zwar der Kandidatenpool auf Sproll und Baur zusammen, doch keiner der Gefragten hatte Pacelli für einen der beiden überzeugen können. Daher suchte der Nuntius nach einem weiteren Informanten, um das Patt aufzulösen. Um einen solchen zu finden, war er auf die Empfehlung Bleiensteins angewiesen: Dessen Rat, den Direktor des Wilhelmsstifts Stauber, zu befragen, leistete er Folge. Obwohl dieser wiederum dem Kapitelsvikar den Vorzug gab – wenngleich er auch den Philosophieprofessor als qualifiziert einstufte – reichte das für Pacelli immer noch nicht aus, um sich vorbehaltlos für Sproll zu entscheiden. Als letzte Adresse fiel ihm noch der Freiburger Erzbischof ein, der Metropolit des Rottenburger Bistums, dessen Antwort mit der Staubers im Wesentlichen konform ging. Lässt man Grabmann beiseite, waren es nicht weniger als sieben Personen, die Pacelli ihre Meinung eröffneten: Dabei waren die drei Jesuiten sowie der Freiburger Erzbischof die einzigen, die er von sich aus als Informanten heranzog. Die anderen waren entweder ungefragt (Schilling), zufällig (Bertram) oder empfohlen (Stauber). Fragt man, wer von ihnen bei Pacelli am meisten Gewicht hatte, fällt die Antwort schwer. Berücksichtigt man, dass er in seiner Berichterstattung die von der Mehrheit der Befragten vorgenommene Priorisierung Sprolls nicht mit vollzog, muss man konstatieren, dass weder die Jesuiten, noch Stauber, noch Fritz den maßgeblichen Einfluss auf Pacelli ausübten. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch nicht, dass der Nuntius mehr auf Bertram hörte, der als einziger Baur an die Spitze seiner Überlegungen stellte. Denn wären ansonsten Pacellis anschließende Befragungen Staubers und Fritzʼ noch nötig gewesen? Man bekommt insgesamt den Eindruck, dass der breite Zuspruch der Informanten für Sproll sich mit Pacellis Ideal der scholastischen Priesterausbildung, das er in Baur eher verwirklicht sah, die Waage hielt und ihn letztlich veranlasste, die Entscheidung Rom zu überlassen. 5. Pacelli agierte den gesamten Fall über in enger Abstimmung mit Gasparri. Schon unmittelbar nach dem Tod Kepplers unterrichtete er den Kardinalstaatssekretär über den Versuch des Domkapitels, eine Erlaubnis für das Wahlrecht zu erhalten. Dabei kommentierte er das Gesuch sofort als undurchführbar und wusste sich damit auf dem Boden der erst wenige Wochen zuvor erfolgten Anordnung des ius commune in der Oberrheinischen Kirchenprovinz. Folgerichtig stimmte Gasparri den Überlegungen Pacellis uneingeschränkt zu und ließ ihm völlig freie Hand. Das änderte sich auch nicht, als Sproll und Kottmann mit einem Schreiben direkt an den Papst an der 419
II.3.4 Freiburg 1931/32 II.3.4 Freiburg 1931/32
Nuntiatur vorbei die Bitte wiederholten: Pacelli bekräftigte erneut seine Argumente, nachdem er von der Supplik erfahren hatte, und wieder folgten Papst und Staatssekretär seiner Strategie. Eine Entscheidung am Nuntius vorbei kam für die römische Kirchenleitung nicht infrage. Gleiches galt schließlich von dem Wahlmodus, den Pacelli im Gegenzug für die württembergische Verhandlungsbereitschaft vorgeschlagen hatte. Auf der Ebene des Verfahrens konnte er sich demnach auf ganzer Linie durchsetzen – er war der klare Strippenzieher der römischen Politik.1609 Von den Kandidatensondierungen berichtete Pacelli erst, nachdem er intensive Nachforschungen angestellt hatte und Ergebnisse präsentieren konnte. Seine Informanten legte er Gasparri gegenüber vollständig offen. Ebenso zeichnete er entsprechend den eingeholten Gutachten ein umfassendes und ausgewogenes Bild der beiden Kandidaten Sproll und Baur, die für Pacelli in die engere Auswahl gekommen waren. Selbst den „Wirtshausvorfall“, welcher die Kandidatur Baurs nicht gerade stützen konnte, verschwieg er nicht. Ungeachtet einer womöglich leicht durchscheinenden Präferenz für den Philosophieprofessor überließ Pacelli dem Heiligen Stuhl damit die freie Option, was gewissermaßen seiner eigenen Schwierigkeit entsprach, eine Entscheidung zu treffen. Die darauffolgende päpstliche Ernennung Sprolls war für Pacelli dann aber die schlechtere Wahl. Er scheute sich nicht, dieselbe in Zweifel zu ziehen und vorsichtig anzumerken, dass Baur vielleicht der geeignetere Kandidat wäre. Ob er sich mit dieser Anfrage, zu der sich Gasparri nicht mehr äußerte, durchgesetzt hätte, muss offen bleiben. Denn da sich nun die Bischofswahl des Domkapitels anbahnte, war eine päpstliche Nomination nicht mehr erforderlich. Abgesehen davon verlief das Zusammenspiel von Kurie und Nuntiatur völlig harmonisch und transparent.1610
II.3.4 Im Angesicht des badischen Konkordats: Freiburg 1931/32 (Conrad Gröber)1611 ‚Vorgeschichte‘: Pacellis Ringen um ein Konkordat mit Baden Bevor das Augenmerk auf das eigentliche Besetzungsverfahren gerichtet werden kann, müssen einige Vorbemerkungen zur Frage nach den Konkordatsverhandlungen zwischen dem Heiligen 1609 1610
1611
Vgl. dazu auch Wolf, Affäre, S. 38. Was Pacelli in seiner Berichterstattung schließlich noch ausließ, war der Beleidigungsprozess gegen den Gewählten. Da er die Gerüchte aber offensichtlich als völlig haltlos auffasste, hielt er diese Angelegenheit für eine unnütze Information und nicht wert, um seinen Vorgesetzten damit zu konfrontieren. Vgl. zur Besetzung des erzbischöflichen Stuhls von Freiburg 1931/32 Beer, Gröber, S. 55–57; Föhr, Geschichte, S. 23–29; Keller, Gröber, S. 129–137; Plück, Konkordat, S. 78–86, 94f.; Schmider, Bischöfe, S. 147; Scholder, Kirchen 1, S. 194–196; Schwalbach, Erzbischof (1986), S. 13f.; Speckner, Wächter, S. 211f. 420
II.3.4 Freiburg 1931/32
Stuhl und Baden vorangestellt werden.1612 In den allgemeinen Bestrebungen des Heiligen Stuhls beziehungsweise des Apostolischen Nuntius Pacelli, neue Verträge mit dem Deutschen Reich oder alternativ mit den einzelnen Teilstaaten angesichts der politischen Umwälzungen der Jahre 1918/ 19 zu schließen, war Baden nicht ausgenommen. Schon zu Beginn der 1920er Jahre sondierte Pacelli, wie günstig die Lage in Baden für Konkordatsverhandlungen war. Nachdem er mit Bayern sein „Musterkonkordat“ ausgehandelt hatte, nahm er das Vorhaben erneut in Angriff. Doch seine Verhandlungsofferten bei der badischen Regierung und beim Freiburger Erzbischof Fritz am Jahresende 1925 stießen auf wenig Gegenliebe. Fritz analysierte in einem Schreiben vom 30. Januar 1926, dass der Zeitpunkt „ungünstig und nicht geeignet“1613 sei, im Gegenteil: in die kirchliche Ämterbesetzung habe sich der Staat im Anschluss an die WRV und die badische Verfassung nicht mehr eingemischt;1614 ein aus kirchlicher Sicht optimales Kirchenvermögensgesetz sei auf dem Weg; ebenso bestehe Anlass zur Hoffnung, dass konfessionelle Lehrerbildungsanstalten gesetzlich verankert werden könnten. Besseres sei durch ein Konkordat nicht zu erreichen, zumal bei Aufnahme der Verhandlungen – wie Susanne Plück zusammenfasst – „der Staat – und besonders Sozialisten, Liberale und Protestanten als traditionelle Gegner der katholischen Kirche – für jede Verbesserung Konzessionen fordern“1615 würden. Dieselbe Auffassung werde von den meisten Zentrumsprälaten geteilt, wie zum Beispiel Staatspräsident Gustav Trunk und Zentrumsführer Joseph Schofer. Pacelli gab sich mit dieser Einschätzung des Erzbischofs nicht zufrieden. Als er dieselbe seinem römischen Vorgesetzten, Kardinalstaatssekretär Gasparri, referierte, nahm er die skizzierten Schwierigkeiten für die Verhandlungen zwar zur Kenntnis, erinnerte jedoch daran, dass diese auch in Bayern bestanden hätten.1616 Wenn der Freiburger Erzbischof nur genügend Willen zeige, ebenfalls das Zentrum, das im badischen Landtag immerhin die stärkste Kraft bilde, sei ein erfolgreicher Konkordatsabschluss nicht unwahrscheinlich. Hinter der Argumentation Fritzʼ glaubte der Nuntius vielmehr eine andere Motivation auszumachen: „Aber leider ist bei nicht wenigen Regierungen und sogar einigen Bischöfen in Deutschland die Tendenz vorhanden, dem Heiligen 1612
1613
1614
1615 1616
Vgl. zum badischen Konkordat grundlegend Plück, Konkordat, mit umfangreichen Quellenanhang; darüber hinaus Deuerlein, Reichskonkordat, S. 85–87; Föhr, Geschichte; Hollerbach, Streiflichter; May, Kaas 2, S. 455–474; Will, Konkordat. Vgl. gesondert zum Besetzungsmodus des erzbischöflichen Stuhls Grossmann, Besetzung, S. 417–424; Hartmann, Bischof, S. 74–76; Link, Besetzung, S. 255– 263; Listl, Besetzung, S. 51f.; Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 161–164; Ders., Stand, S. 726–729. Fritz an Pacelli vom 30. Januar 1926, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 202–204 (Nr. 1), hier 204. Vgl. auch ebd., S. 31f. Vgl. dazu die Nichteinmischung der Regierung in die Bischofswahl von 1920 Bd. 3, Kap. II.3.1 (Die päpstliche Wahlerlaubnis und Freiheit von staatlicher Ingerenz). Plück, Konkordat, S. 32. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 8. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 5r–7v. 421
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Stuhl auszuweichen und die Fragen bezüglich der Beziehungen zwischen Kirche und Staat direkt zu verhandeln und zu lösen.“1617 Wenn Fritz also behaupte, dass die „aktuelle Situation“ für Konkordatsverhandlungen nicht geeignet sei, so müsse man annehmen, dass auch künftig keine Hoffnung dazu bestehe. Deshalb sei die Zeit gekommen, dem Erzbischof zu signalisieren, dass die Besetzung der Kirchenämter von nun an gemäß dem ius commune erfolgen müsse. Laut Pacelli hatte die badische Regierung seit den politischen Umwälzungen 1918 nur Desinteresse gezeigt, was die Neuordnung der staatskirchlichen Materie anging, wenngleich sie der Kirche mehr Freiheiten zugestanden habe als andere Staaten. Außerdem seien die Bestimmungen der Bulle Ad dominici gregis von 1827 nach dem Fall der Monarchie faktisch ohnehin nicht mehr angewandt worden, vor allem die darin vorgeschriebene Partizipation der staatlichen Autorität an der Besetzung des erzbischöflichen Stuhls. Von daher könne die badische Regierung dem Heiligen Stuhl auch nicht vorwerfen, die alte Konvention zu brechen, wenn er nun, nach sieben Jahren vergeblichen Wartens, die kirchlichen Ämter nach dem Kirchenrecht besetze. Zwar übersah Pacelli die Gefahr nicht, dass die Regierung daraufhin die in der Bulle verbrieften finanziellen Staatsleistungen an die Kirche einstellen könnte, doch hielt er diese Befürchtung nicht für ernst, da er die kirchlichen Ansprüche auf der Säkularisation gegründet und in der WRV verankert betrachtete. Außerdem glaubte er, einen Rückhalt in den konfessionellen Paritätsbestrebungen zu finden.1618 Ein weiteres Argument für die vollständige Applikation des CIC in der Ämterbesetzung sah Pacelli schließlich in der über Baden hinausgehenden Tragweite der Angelegenheit: „Wenn der Heilige Stuhl aber nun, vom Wegfall des staatlichen Einflusses absehend, erlaubte, dass auch in Baden, sogar ohne eine neue Vereinbarung, das Recht zur Kapitelswahl des Erzbischofs … in Kraft bleibt, würde das ein sehr gefährliches Vorbild für Preußen schaffen.“1619 Wenn also – so Pacellis Gedankengang – in Baden kein Konkordat zu erreichen war, dann konnte man die Situation zumindest dafür benutzen, die preußische Verhandlungsbereitschaft zu befeuern. Demgemäß
1617
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„Ma pur troppo in non pochi Governi, ed anche in alcuni Vescovi, della Germania, vi è la tendenza di scansare la S. Sede e di trattare e risolvere direttamente le questioni concernenti i rapporti fra Chiesa e Stato.“ Pacelli an Gasparri vom 8. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 5v. Art. 138, Satz 1 WRV bestimmte die Ablösung der Staatsleistungen durch die Ländergesetzgebung. Vgl. Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 130. Was das Paritätsargument anbelangte, so baute Pacelli darauf, dass man den Katholiken nicht verweigern konnte, was man der protestantischen Kirche gewährte. Die Staatsleistungen für die Evangelisch-protestantische Landeskirche regelte der Art. IV des „Vertrages zwischen dem Freistaat Baden und der Vereinigten Evangelisch-protestantischen Landeskirche Badens“ vom 14. November 1932, abgedruckt ebd., S. 727–730 (Nr. 316), hier 728f. „Se ora invece, prescindendo dal cessato intervento governativo, la S. Sede concedesse che nel Baden, pur senza un nuovo accordo, rimangono in vigore il diritto di elezione capitolare dellʼArcivescovo …, ciò costituirebbe un pericolosissimo precedente nei riguardi della Prussia.“ Pacelli an Gasparri vom 8. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 6v. 422
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prophezeite er Gasparri, dass das badische Vorbild, sollte man die Ämter hier rein nach Kirchenrecht besetzen, „ein wirksames Druckmittel wäre, um der preußischen Regierung die Notwendigkeit von Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl zu beweisen“1620. Kurz darauf, am 19. Februar 1926, führte Pacelli eine zwanglose Unterredung mit Staatspräsident Trunk, in der er – so unterrichtete er Gasparri – „mit fester Höflichkeit das Dilemma“ klargestellt habe: „entweder Konkordat oder allgemeines Recht“1621. Zwar nahm Trunk letztlich die gleiche Haltung zum Konkordat ein wie Erzbischof Fritz, dennoch war Pacelli mit der Unterredung zufrieden, wie er abschließend urteilte: „Das Anliegen auf diese Weise eingeführt, scheint mir, wenn ich mich nicht irre, dass es auf jeden Fall einen zufriedenstellenden Ausgang nehmen wird. Tatsächlich erreicht man entweder ein Konkordat, das zwar verschieden vom bayerischen, aber in seiner Art gut ausfällt, da es, soweit man hoffen kann, keine Spur von staatlicher Einflussnahme in die kirchlichen Angelegenheiten enthalten wird. Oder es wird in Baden das allgemeine Recht in Kraft gesetzt und das wird, während dem Heiligen Stuhl die volle Handlungsfreiheit besonders in der Ernennung des Erzbischofs garantiert wird, als heilsames Beispiel und als wirksames Druckmittel für Preußen dienen.“1622
War Pacelli hier noch der Ansicht, dass ein Konkordat zumindest im Bereich des Möglichen schien, musste er in der Folgezeit einsehen, dass weder der Freiburger Oberhirte noch das badische Zentrum sich dafür gewinnen ließen. Am 5. März führte er eine längere Aussprache mit Fritz, über die er anschließend spürbar verärgert nach Rom berichtete: Fritz verharre auf seinem bisherigen Standpunkt und halte ein Konkordat aus den schon früher genannten Gründen für unnütz und sogar schädlich.1623 Die derzeitige Praxis der Ämterbesetzung – hinsichtlich des erzbischöflichen Stuhls also eine Kapitelswahl ohne „… ciò sarebbe un valido mezzo di pressione per mostrare al Governo prussiano la necessità di trattative colla S. Sede.“ Pacelli an Gasparri vom 8. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 7r. 1621 Vgl.: „Da parte mia, gli ho posto con cortese fermezza il dilemma: o Concordato o diritto comune, escludendo qualsiasi possibilità di altra soluzione.“ Pacelli an Gasparri vom 19. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 19r–20v, hier 19r. Vgl. zum Gespräch auch die Aufzeichnung Trunks ohne Datum, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 205–211 (Nr. 2) sowie ebd., S. 32f. 1622 „Impostata così la questione, parmi, se pur non mʼinganno, che essa avrà in ogni ipotesi un esito soddisfacente. Infatti, o si giungerà ad un Concordato, ed esso riuscirà diverso bensì da quello bavarese, ma del tutto buono nel suo genere, giacchè non conterrà, per quanto si può sperare, alcuna traccia di ingerenza governativa nelle cose ecclesiastiche. Ovvero sarà dichiarato vigente nel Baden il diritto comune, e ciò, mentre assicurerà alla S. Sede piena libertà di azione, massime nella nomina dellʼArcivescovo, servirà di salutare esempio e di mezzo efficace di pressione nei riguardi della Prussia.“ Pacelli an Gasparri vom 19. Februar 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 20r-v. 1623 Vgl. Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 22r–24v. 1620
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staatliche Einflussnahme – finde nach Ansicht des Erzbischofs „auf vollkommene Weise“1624 statt. Pacelli erkannte darin ein höchst fragwürdiges ekklesiologisches Verständnis und beurteilte dessen Ausführungen als reine Anmaßung: „Monsignore Fritz zeigte in seiner ganzen Rede, dass er sich gleichsam in gewisser Weise (sit venia verbo) als Papst in seiner Erzdiözese versteht: dem Römischen Pontifex bleibe nur, so kann man sagen, zu segnen, Kreuze und andere Ehren zu verleihen, in üblicher Weise die Bullen für die Ernennung des Erzbischofs zu senden, an deren Wahl Er keinerlei Anteil hat.“1625
Dies ließ Pacelli nach eigener Darstellung nicht auf sich beruhen, sondern sah sich gezwungen, den Erzbischof zur Räson zu rufen: Er habe ihm höflich „ein sehr klares Bild von der begrenzten bischöflichen Gewalt und den höheren Rechten des Heiligen Stuhls“1626 gezeichnet; er habe darauf hingewiesen, dass die Streitfrage von grundsätzlicher Natur sei und die badischen Grenzen überschreite und dass die Vollmacht zur Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche dem Heiligen Stuhl obliege; er habe deutlich gemacht, dass Baden neben Bayern das Land sei, in dem ein Konkordat am ehesten möglich sei, da die Zentrumspartei die Majorität im Parlament besitze. Da sich Fritz aber offensichtlich nicht überzeugen ließ, präsentierte er die Konsequenzen: „Ich fügte hinzu, dass, wenn die Regierung (ich müsste genauer sagen: der Erzbischof) dennoch nicht beabsichtigt, ein Konkordat zu schließen, bleibe dem Heiligen Stuhl nichts anders übrig, als für die Besetzung der Kirchenämter in der Erzdiözese Freiburg das allgemeine Recht für verbindlich zu erklären.“1627
Fritz habe sogar nicht einmal geleugnet, dass in diesem Fall keinerlei Gefahr für die Staatsleistungen an die Kirche bestehe, was ihn – so Pacelli – darin bestärke, dass die diesbezüglichen, vom Erzbischof früher geäußerten Befürchtungen „nichts anderes waren als ein reiner Vorwand, um vom Heiligen Stuhl die Fortgeltung des Rechts zur Kapitelswahl des Erzbischofs zu erhal-
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„… in modo perfetto …“ Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 23r. „Mons. Fritz in tutto il suo discorso mostrò quasi di credersi in certo modo (sit venia verbo) il Papa nella sua archidiocesi: al Romano Pontefice rimarrebbe, si può dire, soltanto di dare benedizioni, conferire croci ed altre onorificenze, spedire nei modi dʼuso le Bolle per la nomina dellʼArcivescovo, alla cui elezione Egli non ha avuto alcuna parte.“ Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 23v. „… una più chiara visione della limitata potestà vescovile e dei superiori diritti della S. Sede.“ Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 23v. „Aggiunsi che, se, nondimeno, il Governo (avrei dovuto dire più esattamente: lʼArcivescovo) non intende di concludere un Concordato, non resterebbe alla S. Sede …, se non di dichiarare vigente per la provvista degli offici ecclesiastici nellʼArchidiocesi di Friburgo il diritto comune.“ Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 24r. 424
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ten“1628. Das Gespräch endete schließlich mit der Ankündigung des Erzbischofs, über die schwerwiegende Konkordatsfrage ein Exposé an Pius XI. senden zu wollen. In diesem Gutachten, das er am 10. April nach Rom übermittelte, legte er seine Position unverändert noch einmal ausführlich dar1629 und bekundete dabei auch, dass der Heilige Stuhl ihm gegenüber notfalls „das Inkrafttreten des ius commune in bezug auf die Erzbischofswahl erklären“1630 möge, wenn eine Hinauszögerung des Verhandlungsangebots nicht möglich sein sollte. Genau dies setzte Pacelli schließlich durch, als er sich im April 1926 in Rom aufhielt, indem er das Zirkularschreiben Gasparris vom 2. Juni an die (Erz-) Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz veranlasste, das bereits für die Wiederbesetzung des Rottenburger Bischofsstuhls 1926/27 virulent geworden war.1631 Damit war die Konkordatsdebatte für die nächsten Jahre im Wesentlichen erledigt.1632 Erst nach Abschluss des Preußenkonkordats Mitte Juni und nach den badischen Landtagswahlen Ende Oktober 1929, aus denen die Zentrumspartei als große Gewinnerin hervorging,1633 richtete sich Pacellis Blick wieder auf ein Konkordat mit dem zu zwei Dritteln katholischen Staat. Am 18. November, ein Tag bevor das badische Zentrum mit der SPD die Regierungskoalition bildete, traf Pacelli in Konstanz mit seinem engen Vertrauten Ludwig Kaas sowie den badischen Zentrumspolitikern Joseph Schofer und Ernst Föhr zusammen, um inoffiziell die Möglichkeiten für ein Konkordat auszuloten.1634 Schofer erläuterte hierbei, dass ein Staatskirchenvertrag Aussicht auf Erfolg hätte, wenn der Heilige Stuhl auf die Behandlung der Schulfrage verzichten und außerdem keine, über den bisherigen Status
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„… non erano se non un puro pretesto per ottenere dalla S. Sede il mantenimento del diritto della elezione capitolare dellʼArcivescovo …“ Pacelli an Gasparri vom 6. März 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 121, Fol. 24v. Vgl. Fritz an Pius XI. vom 10. April 1926, Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 211–216 (Nr. 3). Fritzʼ Argumentation gegen ein Konkordat kulminierte letztlich in der Feststellung, dass ein solches nur mit den Stimmen der Sozialisten im Landtag angenommen werden könnte. Diese würden eine solche Gelegenheit jedoch nicht ungenutzt verstreichen lassen, um dadurch ihre Vorstellungen kirchlich zu sanktionieren. Plück, Konkordat, S. 34. Vgl. zum Reskript Gasparris Bd. 3, Kap. III.3.3 (Der staatskirchenrechtliche Vorlauf). Zwar formierte sich im Frühjahr 1927, katalysiert durch die Rottenburger Sedisvakanz, ein zaghafter Versuch zu einem gemeinsamen Vorgehen der Staaten der Oberrheinischen Kirchenprovinz Baden, Hessen und Württemberg in der Konkordatsangelegenheit. Doch eine entsprechende Anfrage des hessischen Innenministers, Otto von Brentano di Tremezzo, vom 1. April beim badischen Kultusministerium scheiterte am politischen Widerstand der Konkordatsgegner. Eine weitere Anfrage Hessens im Januar 1928 erhielt ebenfalls keine positive Rückmeldung. Am 28. Februar 1929 stellte Kultusminister Otto Leers noch einmal klar, dass in Baden keine Konkordatsverhandlungen stattgefunden hätten beziehungsweise stattfinden würden. Vgl. Plück, Konkordat, S. 39–42. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 796f. Vgl. Protokoll Föhrs über das Konstanzer Gespräch vom 18. November 1929, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 216f. (Nr. 4). Das Freiburger Ordinariat war nicht vertreten. Schofer erklärte sich aber bereit, den Erzbischof über die Unterredung zu unterrichten. 425
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hinausgehenden finanziellen Nachforderungen stellen würde. Im Gegenzug werde das Zentrum alles daran setzen, die Freiheit der Kirche vertraglich in größtmöglichem Umfang sicherzustellen. Daraufhin signalisierte Pacelli der badischen Regierung am 29. November offiziell die Bereitschaft des Heiligen Stuhls zu Konkordatsverhandlungen,1635 welche durch Staatspräsident Josef Schmitt im Namen der Regierung am 24. Dezember positiv erwidert wurde. Bereits zwei Wochen zuvor war Pacelli aus der Berliner Nuntiatur abberufen worden, um im Februar 1930 als Nachfolger Gasparris die Leitung des römischen Staatssekretariats zu übernehmen. Die soeben initiierten Verhandlungen konnte er demnach nicht mehr auf deutschem Boden führen. In den nächsten zwei Jahren entstanden mehrere Konkordatsentwürfe innerhalb des badischen Zentrums beziehungsweise des badischen Kultusministeriums, die auch den Weg auf Pacellis Schreibtisch fanden. Insgesamt verliefen die Verhandlungen jedoch schleppend: zum einen weil in einigen Streitpunkten – vor allem „politische Klausel, Religionsunterricht, Orden und Kongregationen, Garantie des finanziellen Status quo“1636 – zwischen den beteiligten Parteien – Freiburger Ordinariat, Zentrum, SPD und Heiliger Stuhl (Pacelli) – keine Einigung erzielt werden konnte; zum anderen, weil eine Erweiterung der Regierungskoalition um die DVP im Sommer 1931 sowie Kabinettsumbildungen im Herbst des Jahres eine Weiterarbeit erschwerten.1637 Die Verhandlungen befanden sich in einer Sackgasse. Die Phase der direkten Gespräche zwischen Regierung und Kurie war noch nicht erreicht. Mit Eugen Baumgartner übernahm Mitte September 1931 ein Zentrumspolitiker das Kultusministerium, was dem Konkordatsprojekt nur zuträglich sein konnte. Föhr bekleidete von da an den Partei- und Fraktionsvorsitz, wodurch ihm die Aufgabe zuwuchs, „die verschiedenen Vorstellungen des Hl. Stuhls und der Koalitionspartner auf einen Nenner zu bringen. Er leitete einen Ausschuß, in dem Zentrum, SPD und DVP gemeinsam mit den Kabinettsmitgliedern die Vertragsentwürfe erarbeiteten und konnte dabei die Vorstellungen der Sozialdemokraten und der Volkspartei erfahren. Die Forderungen des Hl. Stuhls erkundete er in einem privaten Briefwechsel mit Kardinalstaatssekretär Pacelli.“1638
In diese Ausgangslage hinein wurde der Stuhl des heiligen Konrad vakant.
Der Tod von Erzbischof Fritz Fritz, der die Freiburger Erzdiözese seit 1920 leitete, starb am 7. Dezember 1931. In der Kurie erfuhr man davon durch die Todesanzeige, die das Metropolitankapitel umgehend nach Rom 1635 1636 1637 1638
Der Text ist abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 50 Anm. 144. Plück, Konkordat, S. 70. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 797f. Plück, Konkordat, S. 75. 426
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schickte und dadurch die im CIC vorgeschriebene Meldepflicht erfüllte.1639 Maurilio Silvani, ehemals Auditor der Münchener Nuntiatur und nun Mitarbeiter im Staatssekretariat, nahm die Trauernachricht in Empfang und erinnerte den Staatssekretär daran, dass die damalige Besetzung des erzbischöflichen Stuhls durch Kapitelswahl zustande gekommen war, die Benedikt XV. seinerzeit „für jenes Mal und mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass dies nicht eine Präzedenz schaffen könne“1640, erlaubt habe. Damit deutete Silvani an, dass für die anstehende Besetzung neue Instruktionen zu geben waren, wenn man die päpstliche Sondergenehmigung von einst nicht stillschweigend zur Regel werden lassen wollte. Dass Gasparri zwischenzeitlich das ius commune – also die päpstliche Nomination des neuen Erzbischofs – vorgeschrieben hatte und damit eine stillschweigende neuerliche Erzbischofswahl durch das Metropolitankapitel ohne Weiteres ausgeschlossen war, nahm Silvani nicht zur Kenntnis. Allerdings brauchte Pacelli an diesen Umstand nicht erinnert zu werden, da er die „Androhung“ einer päpstlichen Bischofsernennung in Freiburg wiederholt als Druckmittel genutzt hatte. Da eine neue konkordatäre Vereinbarung inklusive Besetzungsmodus noch ausstand, war von kurialer Seite entsprechend Gasparris Zirkularschreiben von 1926 der Can. 329 § 2 CIC die rechtliche Ausgangsposition für die Wiederbesetzung des Erzbistums. Das Freiburger Metropolitankapitel wählte am Morgen des 10. Dezember 1931, drei Tage nach dem Tod des Erzbischofs, Generalvikar Josef Sester zum Kapitularvikar, wie dieser umgehend dem Kardinalstaatssekretär berichtete.1641 Dabei kam er auf die Agonie des Erzbischofs zu sprechen, der einem Herzversagen erlegen sei, nachdem er die Schmerzen „wie ein Held“1642 ertragen habe. Sester zog über dessen Episkopat eine positive Bilanz, was sich seiner Ansicht nach in der Anteilnahme über die Diözesangrenzen hinaus widerspiegelte: „Es wird allgemein anerkannt, dass er sich restlos und rastlos für Gott und die Kirche geopfert hat.“1643 Pacelli bedankte sich kurz darauf für die Wahlanzeige und die amtliche Benachrichtigung vom Ableben des Erzbischofs, den er als „sehr klugen Hirten“1644 lobte, der sein Leben dem Heil der Seelen gewidmet habe. Dass er ihre ekklesiologische 1639
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Vgl. Todesanzeige des Domkapitels vom 7. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 80v. „… pro illa vice e con lʼespressa riserva che non dovesse costituire un precedente …“ Notiz Silvanis vom 10. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 81r. Hervorhebungen im Original. Vgl. Sester an Pacelli vom 10. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 82rv. Sester an Pacelli vom 10. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 82r. Sester an Pacelli vom 10. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 82v. „… sollertissimi Pastor …“ Pacelli an Sester vom 15. Dezember 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 83rv, hier 83r. 427
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Kontroverse und dessen Widerstand gegen seine Konkordatsbemühungen jedoch nicht vergessen hatte, belegt Pacellis Abschlussbericht über die Lage der Kirche in Deutschland von Mitte November 1929.1645 Am 15. Dezember fanden die Beisetzungsfeierlichkeiten im Freiburger Münster statt, die – nach Darstellung Sesters für den Kardinalstaatssekretär vom 28. des Monats – „so überwältigend groß“ waren, dass „nach allgemeinem Urteil Freiburg etwas Ähnliches noch nicht gesehen hat“1646. Alle wichtigen politischen Autoritäten seien nach der Begräbnisfeier bei Sester vorstellig geworden, um die Anteilnahme ganz Badens zu bekunden. Ob bei diesem Anlass bereits über die Frage der Wiederbesetzung diskutiert worden war, erwähnte der Kapitelsvikar nicht.
Die Wiederbesetzung des erzbischöflichen Stuhls als Katalysator für die Konkordatsverhandlungen Nicht erstaunlich ist, dass die Debatte über die Notwendigkeit eines Vertrags zwischen Baden und dem Heiligen Stuhl durch die Sedisvakanz einen neuen Schub erhielt. Sester bereitete Pacelli in seinem Schreiben vom 28. Dezember darauf vor, in Kürze Post von Baumgartner zu erhalten, die die aktuelle Regierungsposition zur staatskirchenrechtlichen Situation in Baden entfalte. Der Kapitelsvikar kannte den Text durch Föhr, mit dem er am zweiten Weihnachtstag dieses Thema durchgesprochen hatte. Ohne Näheres zum Inhalt zu sagen, erklärte Sester dem Kardinalstaatssekretär, dass das Schreiben „der Freiheit der Kirche leider nicht gerecht“ werde und „auch die langen Verhandlungen, welche die Kirchenbehörde seit 1919 um die Freiheit der Kirche geführt hat“1647, übersehe. 1645
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Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 40v–41v; Wolf/Unterburger (Bearb.), Lage, S. 226–229. Insgesamt bewertete Pacelli den Freiburger Oberhirten ambivalent: „Von etwas kühlem und autoritärem Charakter, vielleicht übertrieben bürokratisch …, ist er im allgemeinen eher gefürchtet als geliebt; er ist gewissenhaft, eifrig und emsig und gegenüber dem Päpstlichen Repräsentanten voller Achtung und Ehrerbietung. Für die Theologiestudenten, welche die Universität Freiburg besuchen, hat Erzbischof Fritz jetzt ein neues und großartiges Konvikt errichten lassen …“ Übersetzung zitiert nach ebd., S. 229. Sester an Pacelli vom 28. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 92r–93r, hier 92r-v. Der Kapitelsvikar fügte seinem Bericht einige Unterlagen bei, so das im Amtsblatt der Erzdiözese abgedruckte Testament des Erzbischofs. Vgl. Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 27 vom 22. Dezember 1931, ebd., Fol. 95r. Das von ihm darin gewünschte „einfache[s] Begräbnis ohne jeden Pomp“ hatte Fritz offenbar nicht erhalten. Das Testament bezeugt darüber hinaus, dass Fritz keinen Nachruf wünschte, den Sester jedoch in der Sitzung des Erzbischöflichen Kapitelsvikariats am 13. Dezember bereits verkündet hatte. Auch diesen Text erhielt Pacelli. Vgl. „Dem in Gott ruhenden Oberhirten zum Gedächtnis“, ebd., Fol. 94rv. Sester an Pacelli vom 28. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 93r. 428
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Schon zwei Tage vor der Mitteilung Sesters hatte sich Föhr in dieser Angelegenheit bereits an Pacelli gewandt.1648 Der Zentrumsvorsitzende und Mittelsmann Pacellis in der badischen Konkordatsfrage berichtete von einer Aussprache der Regierungsparteien – Zentrum, SPD und DVP – zum Kirche-Staat-Verhältnis, bei der „die Meinung dahin kundgetan [wurde], dass durch den Wechsel in der Staatsform für die badische Regierung sich nichts an den bestehenden Verträgen zwischen Staat und Kirche geändert hat“1649. Diese Meinung beinhaltete also den Weiterbestand der Bullen Provida solersque und Ad dominici gregis nach dem Fall der Monarchie und der Gründung der Weimarer Republik, was immerhin schon weit über zehn Jahre Geschichte war. Die Sozialdemokraten würden allerdings – so Föhr weiter – auf die Auflösung der alten Vereinbarungen drängen, um den Staat von den darin festgesetzten finanziellen Leistungen an die Kirche zu befreien. Deshalb hielt er es „für im Interesse der Kirche dringend geboten, dass beiderseits die Rechtsgültigkeit der vertraglichen Vereinbarungen anerkannt und lediglich eine Ergänzung beziehungsweise eine Klärung der strittig gewordenen Fragen verlangt wird“1650. Unter dieser Prämisse stünden die Chancen auf erfolgreiche Konkordatsverhandlungen günstig. Sollte dagegen der Heilige Stuhl die alten Konventionen aus dem 19. Jahrhundert für nichtig erachten, bestehe die dringende Gefahr, dass Baden einen Vertragsbruch seitens Rom feststelle und die finanziellen Leistungen beende. Föhr kündigte dem Kardinalstaatssekretär ebenfalls das von Sester erwähnte Schreiben des Kultusministers an, das einerseits das Bischofswahlrecht des Freiburger Metropolitankapitels reklamieren, dafür aber jede staatliche Einmischung in den Prozess ausschließen werde.
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Vgl. Föhr an Pacelli vom 26. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 85r–88r (nur r); Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 230–232 (Nr. 18). Föhr an Pacelli vom 26. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 85r. Föhr an Pacelli vom 26. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 86r. Der Zentrumsvorsitzende untermauerte diese rechtliche Überlegung durch die Anmerkung, dass von Seiten der Sozialdemokraten bereits der Versuch gemacht worden sei, den Heiligen Stuhl des Vertragsbruchs zu bezichtigen. Dafür hätten sie sich auf die Wiederbesetzung des Kanonikats berufen, das erst kürzlich durch die Erhebung Conrad Gröbers auf den bischöflichen Stuhl von Meißen vakant geworden war. Die Nr. IV der Bulle Ad dominici gregis sah die Ernennung des Domherrn durch den Erzbischof respektive das Kapitel aus einer Viererliste vor, welche zuvor dem Landesherrn zur Prüfung der Genehmheit vorgelegt werden musste. Vgl. Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 270f. Das vakante Kanonikat war in diesem Falle jedoch durch Nomination des Heiligen Stuhls besetzt worden. Dies entsprach dem kirchlichen Gesetzbuch, das eine päpstliche Besetzung des Benefiziums vorsah, da Gröber zum Zeitpunkt seines Amtsverlusts Mitglied der päpstlichen Familie war. Dieser Umstand war von Nuntius Orsenigo und Pacelli beim Transfer Gröbers nach Meißen explizit mitbedacht worden. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.2 Anm. 378. Föhr bemerkte dazu, dass eine Beschwichtigung der Sozialdemokraten nur durch den Hinweis möglich gewesen sei, dass der Heilige Stuhl mit der Besetzung den personellen Vorschlag von Fritz realisiert habe. 429
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Pacelli reagierte empört auf die Rechtsauffassung der badischen Regierung und sprach in seiner Antwort an Föhr von einem „Befremden“1651. Er erinnerte daran, dass der Heilige Stuhl mit Bayern und Preußen gänzlich neue Verträge geschlossen habe. Darüber hinaus habe er ihm und Baumgartner bei ihrer Zusammenkunft im Schweizerischen Rorschach im Vorjahr ausgiebig die Position des Heiligen Stuhls dargelegt.1652 Vor diesem Hintergrund hätte es doch klar sein müssen, „dass bei dem von Ihnen angegebenen gegenwärtigen Standpunkt der Regierung ein glückliches Ergebnis nicht zu erwarten ist“1653. Eine zufriedenstellende Regelung sei nur zu erzielen, wenn man die theoretische Frage nach der Fortgeltung der alten Rechtsgrundlage beiseite schiebe und stattdessen „nach über zwölf Jahren!“1654 möglichst schnell ein neues Konkordat abschließe. Über dessen Grundzüge sei bei dem angesprochenen Treffen in Rorschach schon diskutiert worden. Wenn die Regierung akzeptiere, Unterhändler nach Rom zu entsenden, könnte der Vertrag in kürzester Zeit unterzeichnet und im Anschluss an die Ratifikation – so Pacelli abschließend – die Wiederbesetzung der Cathedra nach dem neu vereinbarten Modus vorgenommen werden. Kurz darauf traf das erwartete Schreiben des badischen Kultusministers in Rom ein, das letztlich aus Angst, der Heilige Stuhl könnte von sich aus die Besetzung gemäß dem kirchlichen Gesetzbuch vornehmen, entstanden war.1655 Gemäß der Vorankündigung Föhrs erklärte Baumgartner 1651
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Der Entwurf sprach noch von einem „starkem“ Befremden, was Pacelli wieder abschwächte. Pacelli an Föhr vom 29. Dezember 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 89r; Ausfertigung abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 232 (Nr. 19). Das hier angesprochene Treffen, an dem über die Genannten hinaus auch Kaas und der Freiburger Domkustos, Anton Retzbach, teilnahmen, fand am 16. Oktober 1930 statt. Vgl. dazu Plück, Konkordat, S. 63. Pacelli an Föhr vom 29. Dezember 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 89r. Pacelli an Föhr vom 29. Dezember 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 89r. Vgl. Baumgartner an Pacelli vom 31. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 97Br–97Cr. Dieser Schrift war am 17. Dezember, zehn Tage nach dem Tod Fritzʼ, ein Auftrag des Staatsministeriums an den Kultusminister vorausgegangen, die Rechtslage für die Wiederbesetzung des erzbischöflichen Stuhls zu sondieren. Dieser kam der Aufforderung drei Tage später nach, indem er ein Gutachten einreichte, das in dem Antrag kulminierte, die staatliche Position zu diesem Thema dem Kardinalstaatssekretär in Rom vorzulegen und auf die Bereitschaft zu Konkordatsverhandlungen hinzuweisen. Die staatliche Rechtsauffassung umriss Baumgartner in dieser Denkschrift folgendermaßen: „Auch die Staatsumwälzung des Jahres 1918 und die neuen Verfassungen hatten auf den Fortbestand des Konkordats keinen Einfluss. Der Vertrag wurde seinerzeit nicht mit dem badischen Landesfürsten als solchem, sondern mit dem Lande geschlossen, sodass die Änderung der Regierungsform bedeutungslos ist. Für die Verbindlichkeit von völkerrechtlichen Verträgen ist nicht die Staatsform entscheidend, sondern nur die Identität und Kontinuität des Staates. Die neuen Verfassungsbestimmungen wirken nur auf innerstaatlichem Gebiet und sind ohne Einfluss auf die Abmachungen des Landes mit dem Papste … Anders verhält es sich mit der sog[enannten] Gesetzeskraft des Konkordats, d[as] 430
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seine Intention, dem badischen Staatsministerium vorzuschlagen, von seinem in Ad dominici gregis verbürgten Einflussrecht bei der Bischofswahl zu verzichten. Mit Rekurs auf den Can. 3 des neuen Gesetzbuches, nach dem die vor Promulgation des CIC geschlossenen Verträge weiter bestanden, „unterstellte“ er jedoch, dass das Domkapitel den Erzbischof wählen werde. Zwar ergebe sich aus dem Artikel 137 der WRV „im innerdeutschen Verhältnis zwischen dem badischen Staat und dem Erzbischöflichen Stuhle in Freiburg die Nichtausübung des Rechtes des Staates auf die in der Bulle vorgesehene Mitwirkung oder Einwirkung auf die Wahl des Erzbischofs …, nicht dagegen der Verzicht auf die in der Vereinbarung von 1827 ausdrücklich vorgesehene Wahl des Erzbischofs durch das Metropolitankapitel aus dem Diözesanklerus“1656.
Das Kapitelswahlrecht sei ein „völkerrechtlich begründete[r] Anspruch des badischen Staates“1657, der nach wie vor rechtmäßig sei, weil ein Verzicht seitens des letzteren nicht stattgefunden habe.1658
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h[eißt] mit seiner Wirkung nach innen im Verhältnis zu den badischen Landesangehörigen … In dieser Beziehung sind durch die neuen Verfassungen des Reiches und der Länder wesentliche Änderungen eingetreten … Die früher durch den Staat in weitem Umfang in ihrer Freiheit beschränkten Religionsgesellschaften wurden durch die neuen Verfassungen (Landes- und Reichsverfassung) auf innerkirchlichem Gebiet frei. Dieser Tatsache hat die badische Regierung bei der Wahl des verstorbenen Erzbischofs Dr. Fritz im Jahre 1920 Rechnung getragen und von ihrem Rechte bei der Wahl des Erzbischofs … keinen Gebrauch gemacht. Einen Verzicht dieser Rechte gegenüber dem H[eiligen] Stuhl hat aber die Regierung nicht ausgesprochen. Nach außen, insbesondere gegenüber dem päpstlichen Stuhl, hat die im Regierungsblatt am 16. Oktober 1827 veröffentlichte Übereinkunft zwischen Papst und Regierung [sc. Ad dominici gregis, R.H.] noch volle Rechtskraft. Wenn also die Regierung im Jahre 1920 auch von ihrem Rechte auf Vorlegung einer Kandidatenliste bei der Besetzung des bischöflichen Stuhles, auf die Beeidigung des Erzbischofs und die Ausstellung eines Reverses, … keinen Gebrauch gemacht hat, so hat sie auf diese Rechte gegenüber der Kurie doch nicht verzichtet, und es besteht kein Anlass, von der Vereinbarung, wonach der Erzbischof vom Domkapitel aus dem Diözesanklerus zu wählen ist, abzugehen.“ Die klare Gegenüberstellung von unzweifelhafter äußerer Gültigkeit der Zirkumskriptionsbullen und eingeschränkter innerer Gesetzeskraft, war für Baumgartner das zentrale Unterscheidungskriterium. Vgl. Baumgartner an das badische Staatsministerium vom 20. Dezember 1931 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 19r–21r, hier 20r–21r. Es ist davon auszugehen, dass Sester dem Kardinalstaatssekretär dieses innerstaatliche Dokument zukommen ließ. Baumgartner an Pacelli vom 31. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 97Bv. Hervorhebung R.H. Baumgartner an Pacelli vom 31. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 97Bv. Diese Sicht hatte er bereits 1927 in einer ausführlichen Denkschrift für das badische Staatsministerium entwickelt, die damals das Ziel verfolgte, für gemeinsame Konkordatsverhandlungen von Hessen, Württemberg und Baden mit dem Heiligen Stuhl zu werben. Dieses umfassende Dokument übermittelte Sester dem Kardinalstaatssekretär am 2. Januar 1932. Vgl. Baumgartner an das badische Staatsministerium vom Juni 1927 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 22r–28v. Anlass dieser Denkschrift war ein Vorstoß der württembergischen Regierung im Anschluss an die Besetzung des Rottenburger Bischofsstuhls 1926/27 gewesen, die – so die Denkschrift – nach Ansicht 431
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Seine Darlegung beschloss der Kultusminister mit dem Hinweis, dass man sich im Staatsministerium in Kürze mit einem Konkordatsentwurf aus seiner Feder beschäftigen werde.1659 Damit deutete er gleichzeitig an, dass eine einseitig von der Kurie vorgenommene Besetzung des Erzbischofsstuhls unbeschadet der Rechtslage auch gar nicht notwendig war, sondern wieder Bewegung in die Konkordatsfrage kam. Dass Pacelli diese von Baumgartner skizzierte Position nicht gefiel, hatte er Föhr gegenüber schon zum Ausdruck gebracht. Nachdem er den Inhalt des Schreibens nun aus erster Hand kannte, stimmte er der negativen Wertung des Kapitularvikars zu, der von einer mangelnden Berücksichtigung der kirchlichen Freiheit gesprochen hatte. Diesem gegenüber brachte er am 2. Januar 1932 zum Ausdruck, dass die Anteilnahme der Staatsbeamten bei der Beisetzung Fritzʼ zwar angenehm berühre, er die rechtliche Haltung jedoch nicht billigen wolle und sich „leider veranlasst [sehe], eine entsprechende Antwort zu geben“1660. Bevor er diese jedoch formulierte, erhielt er von Sester eine umfassende Berichterstattung über die Voraussetzungen und Umstände der Verhandlungen mit der badischen Regierung. Der Kapitelsvikar versicherte Pacelli seine unbedingte
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Württembergs zwar gemäß der alten Vereinbarungen stattgefunden, aber gleichwohl im Hinblick auf Artikel 137 WRV eine besondere Verständigung mit dem Heiligen Stuhl notwendig gemacht habe. Die unzweifelhafte Änderung der Rechtsverhältnisse durch das badische Kirchengesetz von 1860 (vgl. Bd. 3, Kap. II.3.1 (Die badische Verfassung von 1919: neue Freiheit für die Kirche)) und die WRV, mit denen einige Normen der oberrheinischen Zirkumskriptionsbullen nicht in Einklang stünden, bei gleichzeitiger grundsätzlicher Fortgeltung dieser Rechtsgrundlagen, würden dem Staat – so Baumgartner damals – die Pflicht auferlegen, „die äußere Vertragskraft mit der inneren Gesetzeskraft des Konkordats in Übereinstimmung zu halten“ und „dann, wenn durch innerstaatliche Gesetze auf die Ausübung konkordatsmäßiger Rechte verzichtet wird, diesem Verzicht auch außerstaatliche Wirkung zu verschaffen“. Ebd., Fol. 24v. Hervorhebungen im Original. Das könne auf zweifache Weise geschehen: Zum einen auf dem Wege der Änderung und Anpassung des Konkordats an die erneuerte Rechtslage (wofür Baumgartner in dieser Schrift noch plädierte), zum anderen durch eine Verzichterklärung der genannten konkordatsmäßigen Rechte, die im Widerspruch zur neuen Rechtssituation stünden, gegenüber dem Heiligen Stuhl. Während Konkordatsänderungen in den Bereichen der kirchlichen Zirkumskription oder Dotation nicht notwendig seien, sei im Kontext der Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls eine staatliche Ingerenz nicht mehr statthaft. Weil eine vertragsmäßige Modifikation dieser Regelung bis zur aktuellen Sedisvakanz 1931/32 noch nicht erfolgt war, wählte Baumgartner jetzt – wie er gegenüber Pacelli deutlich machte – die zweite Variante des staatlichen Verzichts auf sein altes Einflussrecht. Da aber die bisherige Rechtsgrundlage grundsätzlich noch in Geltung sei, betrachtete er auch das Bischofswahlrecht noch für aktuell, insofern dieses seiner Meinung nach der veränderten innerstaatlichen Rechtssituation nicht widersprach. Es handelte sich um Baumgartners Konkordatsentwurf vom 11. Februar 1932, der am 19. des Monats dem badischen Staatsministerium zuging. Vgl. dazu Plück, Konkordat, S. 86–90. Vgl. auch die Darstellung unten in diesem Kapitel (Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen). Pacelli an Sester vom 2. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 97r. 432
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Loyalität, erwies sich so als dessen Auge und Ohr in Baden1661 und „verfocht die Vorstellungen des Staatssekretariats mit bemerkenswertem Eifer“1662.
Die Beurteilung der Position Baumgartners durch Kapitelsvikar Sester Nachdem Sester gehört hatte, dass Baumgartners Exposé nach Rom abgesandt worden war und bevor ihn die Reaktion Pacellis darauf erreicht hatte, spezifizierte er diesem gegenüber die Vorbehalte, die er gegen die staatliche Auffassung geltend machte. Zu den monierten Inhalten gehörte für Sester nicht, dass die Regierung sich gemäß Artikel 137 der WRV und § 18 der badischen Verfassung jeder Ingerenz auf den Besetzungsvorgang enthalten wollte. Nicht berücksichtige die Darstellung des Kultusministers jedoch, dass „schon das frühere Wahlrecht des Domkapitels auf einem päpstlichen Privileg beruhte, und dass es nicht mehr der geltenden Disziplin der Kirche entspreche“1663. Die Anwendung dieser aktuellen Disziplin – die Ämterbesetzung gemäß dem CIC – sei durch das Rundschreiben des ehemaligen Kardinalstaatssekretärs Gasparri von 1926 als für das Erzbistum Freiburg maßgeblich angeordnet worden. Vor diesem Hintergrund hielt Sester die staatliche Forderung nach dem Kapitelswahlrecht für unzulässig. Darüber hinaus monierte der Kapitelsvikar die von Baumgartner nebenbei erwähnte Beschränkung der Erzbischofswahl aus dem Freiburger Diözesanklerus. Dies sei „in den für die Erzdiözese Freiburg geltenden päpstlichen Bullen nicht vorgesehen“1664. Sester unterschied hier zwischen der eigentlichen Wahl und der vom Kapitel aufgestellten Wahlliste, insofern Ad dominici gregis ausdrücklich nur für die Liste vorschrieb, dass sie ausschließlich Personen aus dem Diözesanklerus
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Nachdem er Angriffe von „Kommunisten, Sozialisten und Nationalsozialisten“ auf die Kirche geschildert hatte, versprach er Pacelli: „Darum halte ich es für meine Pflicht, E[hrwürdige] Eminenz genau über alle Vorgänge zu informieren, die für das Zustandekommen einer glücklichen Vereinbarung zwischen dem H[eiligen] Stuhl und dem badischen Staat unter dem Gesichtspunkt der kirchlichen Freiheit und Selbständigkeit von Bedeutung sind. Ich werde mich dabei nicht nur aus Pflicht, sondern auch aus persönlicher Überzeung restlos auf den Standpunkt der heiligen Kirche stellen und die Rechte der Kirche wissenschaftlich zu vertreten suchen.“ Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 6r–10r, hier 7r; Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 233–237 (Nr. 20). Plück, Konkordat, S. 82. Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 7r. Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 6v. 433
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enthalten durfte.1665 Die Wahl selbst konnte demnach sehr wohl auch zwischen Geistlichen anderer Provenienz erfolgen. Als Präzedenzfälle führte er die Freiburger Erzbischofswahlen von Christian Roos 1886 und Georg Komp 1898 an, die zuvor Bischöfe von Limburg beziehungsweise Fulda – also Suffragane der Freiburger Kirchenmetropole – gewesen waren, jedoch nicht aus Baden beziehungsweise der Freiburger Erzdiözese stammten.1666 Allerdings waren damals beide – was zur Argumentation Sesters nicht so recht passen mag – von den Domkapitularen nicht nur gewählt, sondern ebenfalls auf die Wahlliste gesetzt worden und zwar nachdem sich die Domherren „zuvor bei der Regierung in Karlsruhe darüber versichert hatten, dass auch Kandidaten, die nicht badische Staatsangehörige waren, dort platziert werden durften, solange sie Deutsche seien“1667. Letztlich belegten die Beispiele also nur, dass im Einvernehmen mit der badischen Regierung eine Listenplatzierung und damit auch die Wahl von außerdiözesanen Geistlichen möglich war. Immerhin bewertete Sester die Konkordatsofferte der badischen Regierung grundsätzlich als erfreulich.1668 Im Anschluss an das Reskript Gasparris ging er davon aus, dass die alten Vereinbarungen grundsätzlich noch in Kraft seien, aber nicht alle in ihnen enthaltenen Bestimmungen noch vollständig ausgeübt werden könnten.1669 Aufgehoben seien vor allem die Regelung der Erzbischofs- und Kanonikatseinsetzungen. Andere Normen seien anpassungs- und ergänzungsbedürftig.1670 Daher sei der Abschluss des Kirchenvertrags absolut nötig, zumal Gasparri die Applikation des ius commune damals „donec aliter disponatur“ vorgeschrieben habe. Darüber hinaus müssten der katholische Religionsunterricht und die finanziellen Leistungen des Staates gegenüber der Kirche sichergestellt werden.1671 Schließlich sei auch die Lage für Verhandlungen günstig, 1665
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Vgl. Ad dominici gregis, Nr. I, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 269f. Dass Sester hier tatsächlich an die skizzierte Unterscheidung von Wahl und Vorschlagsliste dachte, geht klarer aus dem Entwurf seines Schreibens als aus der an Pacelli gesandten Ausfertigung hervor. In jenem schrieb er ausdrücklich: „Nur die Vorschlagsliste soll sich auf den Diözesanklerus beschränken.“ Plück, Konkordat, S. 233. In der endgültigen Fassung wurde dieser Satz herausgestrichen. Vgl. zu diesen Besetzungsfällen Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 576–612. Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 583. Als prekär bewertete er dagegen die antikonkordatäre Presse, die von liberalen und sozialistischen Zeitungen geführt würde. Sester fürchtete, dass durch von ihnen gemachten Falschaussagen die Öffentlichkeit nicht recht über die der Kirche auf Basis der WRV zustehenden Freiheiten im Bilde sei und sich so vehementer Widerstand gegen den etwaigen Vertragsabschluss aufbauen könnte. Sester legte sich damit eng an den Wortlaut des Zirkularschreibens an, in dem es hieß, die „iura in veteribus Bullis contenta non amplius plene exerceri“. Darunter subsumierte er „die Ausstattung der Erzdiözese, die Erziehung des Klerus und die Sicherung des Religionsunterrichtes“. Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 9r. Als weiterhin gültig sah er die Diözesanzirkumskription an. Gerade weil die kirchenfeindlichen Elemente im Staat diese Sustentationen abschaffen wollten, seien – so Sester – die „kirchentreuen Mitglieder der badischen Staatsregierung … voller Sorge und befürchten eine schwere Schädigung der kirchlichen Interessen … Darum stellen sie sich jetzt auf den Standpunkt, 434
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„da Baden jetzt zum ersten Mal einen treuen Katholiken als Kultusminister hat und die badische Staatsregierung den aufrichtigen Willen kundgegeben hat, eine Vereinbarung mit dem H[eiligen] Stuhle zustande zu bringen“1672. Das war seine erste Einschätzung zur Konkordats- und Bischofsfrage in Baden. Er fügte noch hinzu, an einem Gutachten zu arbeiten, das die Freiheit der Kirche bei der Bischofseinsetzung herausstellen sollte. Dieses Dokument übermittelte er am 7. Januar 1932 an den Kardinalstaatssekretär. In seinem Anschreiben gab er einen doppelten Zweck seiner Untersuchung an: Einerseits „sollte die Freiheit der Kirche in der Besetzungsfrage und andererseits die Gültigkeit des Konkordats, soweit die Umschreibung und innere Organisation der Erzdiözese in Frage kommt, wissenschaftlich erörtert werden“1673. Dabei beabsichtigte Sester, die Abhandlung der badischen Regierung vorzulegen, die danach „ihre Auffassung als unhaltbar wird aufgeben müssen“1674. Da sein Gutachten die zentrale Frage des rechtlichen Status von Kapitelswahl oder päpstlicher Nomination hinsichtlich der Nachfolge von Fritz ausgiebig beleuchtet, lohnt ein Blick in den Argumentationsgang.1675
Wahl oder Ernennung? Die Auffassung von Josef Sester Zunächst rekapitulierte Sester noch einmal die Position des Heiligen Stuhls und die Haltung der badischen Staatsregierung: Päpstliche Nomination und Kapitelswahlrecht standen unversöhnt gegenüber. Um die römische Sicht zu untermauern, zog er eine Kontinuitätslinie vom Besetzungsfall 1920 zu Gasparris Reskript: Zwar sei Fritz damals gemäß Can. 329 § 3 CIC vom Kapitel gewählt worden, doch – und das war für ihn entscheidend – sei die Wahl nicht „in der alten Form bestätigt“1676 wor-
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das ganze Konkordat sei noch in Kraft und in allen Punkten verbindlich.“ Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 7v. Wie gesehen hob sich Baumgartner davon ab, der zwar die grundsätzliche Fortgeltung proklamierte, aber dennoch die Notwendigkeit der Anpassung an die veränderten Verhältnisse sah. Sester an Pacelli vom 2. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 9r-v. Sester an Pacelli vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 17r–18r, hier 17r. Sester an Pacelli vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 17r. Vgl. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 11r–16r. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 12r. 435
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den, was sich deutlich aus der Ernennungsbulle vom 12. Oktober 1920 ergebe.1677 Diese erwähne den Wahlvorgang nämlich überhaupt nicht, sondern erblicke im „Wahlakt lediglich einen Vorschlag eines von dem Domkapitel für den Erzbischöflichen Stuhl für geeignet erachteten Domherrn“1678. Demnach habe Benedikt XV. seinerzeit nicht die Wahl gemäß Can. 177 § 3 „konfirmiert“, sondern Fritz qua Ernennungsbulle nach Can. 329 § 2 frei ernannt. Aus diesem Grund hielt Sester die damaligen entsprechenden Verlautbarungen des Metropolitankapitels, die von einer römischen Wahlapprobation ausgingen, für unzutreffend.1679 Damit war seiner Ansicht nach die Identität der Stellungnahmen des Heiligen Stuhls zu diesem Thema von 1920 und 1926 offensichtlich. Weiterhin betonte er, dass die alten Zirkumskriptionsbullen als Konkordate – und das bedeutete als zweiseitige Verträge1680 – zu betrachten seien und ihnen darüber hinaus ein völkerrechtlicher1681 Status zukomme. Darum gelte für sie auch die juristische Klausel rebus sic stantibus.1682 Mit dieser Rechtsformel versuchte der Kapitelsvikar die Argumentation Gasparris – beziehungsweise Pacellis – von 1926 zu legitimieren, dass angesichts der veränderten (kirchlichen und) staatlichen Verfassungssituation gewisse Rechte der alten Bullen nicht mehr ausgeübt werden könnten. Das bedeute aber nicht – so Sester –, dass der Heilige Stuhl die alte Rechtsgrundlage als solche nicht mehr für gültig erachte. Der Staat könne sich demnach nicht aus seinen Verpflichtungen entlassen fühlen, wenngleich die Normen zu „Bildung, Begrenzung, Ausstattung und Einrichtung der Bistümer“1683 der Ergänzung und Anpassung bedürften. Dass die genannte Klausel aber wirklich im vorliegenden
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Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.3.1 (Zum Abschluss: zwei Fragen der Forschung), wo auf den Umstand bereits eingegangen wurde. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/ Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 12r-v. Sester dachte an die Bekanntmachungen im Amtsblatt. Vgl. Kap. II.3.1 Anm. 1127 und 1128. Die Belege für den Vertragscharakter der Konkordate und damit der alten Bullen suchte Sester freilich erst in jüngster Vergangenheit, so im Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Lettland vom 30. Mai 1922, das beiden Parteien ein für Verträge übliches Kündigungsrecht zugestand, oder im Preußenkonkordat vom 14. Juni 1929, wo in der Präambel von einem „förmlichen Vertrag“ die Rede war. Vgl. Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 322. Den völkerrechtlichen Status des Heiligen Stuhls begründete Sester nach der jüngsten Lösung der Römischen Frage mit dem 2. Artikel des italienischen Konkordats von 1929, der die Souveränität des Heiligen Stuhls als eine ihm wesensmäßige Eigenschaft anerkannte: „LʼItalia riconosce la sovranità della Santa Sede nel campo internazionale come attributo inerente alla sua natura, in conformità alla sua tradizione ed alle esigenze della sua missione nel mondo.“ Mercati (Hg.), Concordati II, S. 84. Vgl. zu den Lateranverträgen beziehungsweise zum italienischen Konkordat zum Beispiel Coppa, Mussolini; Hollerbach, Lateranverträge; Kent, Pope; Morgante, Concordato. Vgl. dazu Sägmüller, Lehrbuch I, S. 90f. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 14r. 436
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Falle griff, also die politischen Veränderungen ausreichend schwerwiegend waren, stützte Sester mit dem mittlerweile schon häufig herangezogenen Argument, dass sich die von der Kirche dem Monarchen gewährten Rechte „in der Hand einer demokratischen Republik wesentlich ungünstiger auswirken können“1684, umso mehr, weil auch religionsfeindliche politische Kräfte – also Sozialisten, Kommunisten oder Nationalsozialisten – maßgeblichen Einfluss auf die kirchlichen Belange erlangen könnten. Vor diesem Hintergrund hielt Sester es für vollkommen klar, dass die durch badische und Reichsverfassung entstandene Rechtslücke in der bisherigen Regelung der kirchlichen Ämterbesetzung durch die Bestimmungen des kirchlichen Gesetzbuches aufgefüllt wurde. Damit glaubte er die Wahlnormen von Ad dominici gregis als nicht mehr maßgeblich erwiesen und daher die diesbezügliche Forderung der badischen Regierung entkräftet zu haben. Im Anschluss daran versuchte er auf direkte Weise, die staatliche Position zu destruieren. Als Basis dafür galt ihm die der Kirche verbürgte Autonomie der Selbstverwaltung und Ämterbesetzung durch Artikel 137 Absatz 3 der WRV. Diese Vorgaben seien unter die Gruppe von Normen zu subsumieren, „die unmittelbar und sofort anzuwenden sind“, also keine bloße Direktive für die Landesgesetzgebung aufstellten, sondern „sofort und unmittelbar geltendes Recht“1685 schufen.1686 Eigentlich brauchte Sester dieses Thema gar nicht so stark zu akzentuieren, weil die badische Verfassung bereits die autonome Ämtervergabe durch die Kirche festgeschrieben hatte. Der Kapitelsvikar zeigte auf, dass die hier gefällte staatliche Entscheidung kein Novum sei, sondern das Kirchengesetz von 1860 die freie Verleihung von Kirchenämtern durch die Kirche bereits akzeptiert habe, wenngleich mit Einschränkungen, wie etwa dem Patronatsrecht. Zu diesen Einschrän-
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Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 13v. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 14v. Zur Stützung der unmittelbaren Rechtsrelevanz des Artikels 137 führte Sester zwei Präzedenzfälle an. Zum einen hatte das Reichsgericht unter Rekurs auf diesen Kirchenartikel der WRV am 26. Oktober 1921 das braunschweigische Gesetz vom 20. Juni 1919 bezüglich der Änderung des bestehenden Gesetzes zur Landessynode und zum Synodalausschuss der evangelisch-lutherischen Landeskirche gekippt. Die hierin getroffenen staatlichen Anordnungen hatten nach Ansicht des Reichsgerichts keine rechtliche Bestandsgrundlage mehr. Vgl. Beschluss des Zivilsenats vom 26. Oktober 1921. Zum anderen führte Sester eine Grundsatzentscheidung des Reichsschiedsgerichts vom 9. September 1924 an, die feststellte, dass „eine Religionsgesellschaft bei Verleihung ihrer Ämter an die ‚Schranken des für alle geltenden Gesetzes nicht gebunden sei, wenn die Anwendung eines Gesetzes zu einer Mitwirkung des Staates bei der Ämterverleihung im Sinne einer auch nur mittelbaren Beeinflussung des Rechts der Religionsgesellschaften zu solcher Verleihung führen würdeʻ“. Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 14v–15r. Hervorhebung im Original. 437
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kungen habe auch die durch Ad dominici gregis dem Staat eingeräumte Befugnis gehört, minder genehme Personen von der Erzbischofswahl auszuschließen. Konträr dazu habe jedoch die Weimarer Verfassungskommission mit ausdrücklicher Zustimmung des badischen Justizministers, Ludwig Marum, beschlossen, dass – wie Sester aus dem Kommissionsbericht des badischen Zentrumspolitikers Johann Anton Zehnter zitierte – „sich aus dem Rechte der Kirche, die Kirchenämter selbst zu verleihen, auch das Recht ergibt, die obersten Kirchenämter ohne Mitwirkung der staatlichen Behörde zu besetzen, dass also insbesondere auch die dem Staat nach … Ad Dominici gregis custodiam bisher zustehende Beteiligung an der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles und des Domkapitels fortan in Wegfall kommt … Diese Meinung wurde im Plenum der Nationalversammlung nicht bestritten, wenn auch nicht durch einen ausdrücklichen Beschluss gebilligt.“1687
Von hier führe eine Linie zur staatlichen Praxis beim Freiburger Besetzungsfall 1920, wo man sich jeder Ingerenz enthalten habe. Die Erklärung der Verfassungskommission habe der Geheimrat Franz Schmidt, vormals Ministerialdirektor im Kultusministerium, folgerichtig als „einen rechtsgültigen Verzicht des Staates auf das ihm durch eine ‚Indulgentiaʻ des H[eiligen] Stuhls eingeräumte Recht der Mitwirkung bei Besetzung der kirchlichen Diözesanämter“1688 betrachtet.1689 Vor den skizzierten Hintergründen müsse die Forderung Baumgartners als ungerechtfertigt abgetan werden. Der Verzicht auf die staatlichen Mitwirkungsrechte einerseits und das Beharren auf dem – wie der Kultusminister geschrieben hatte – „völkerrechtlich begründeten Anspruch des Staates auf die Form der Wahl des Erzbischofs“ andererseits gehe nicht zusammen. Die hier vorliegende zumindest „mittelbare Beeinflussung“1690 des kirchlichen Besetzungsrechts widerspreche der Reichs- und Landesverfassung. Insofern stehe es der badischen Regierung nicht zu, die Wahl des Erzbischofs durch das Metropolitankapitel zu verlangen.
Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 15r-v. 1688 Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 15v. Hervorhebung im Original. Die Meinung des Geheimrats findet sich in Schmidt, Kirche und Staat in Baden, Sp. 245f. 1689 Einen analogen Willen des Staates zum Verzicht fand Sester in dem Umstand, dass die badische Regierung die Änderung der Zirkumskription, konkret die Herauslösung der Diözesen Fulda und Limburg aus dem oberrheinischen Kirchenverband und ihre Eingliederung in die Kirchenprovinzen Paderborn und Köln, die durch das Preußenkonkordat realisiert wurde, anstandslos akzeptiert und damit eine Veränderung der Bestimmungen von Provida solersque hingenommen habe. 1690 Gutachten Sesters über „Die Freiheit der Kirche in der Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg/Br.“ vom 7. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 16r. 1687
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Pacellis Direktive: Konkordat oder päpstliche Ernennung des neuen Erzbischofs Pacelli wartete mit der von ihm angekündigten „entsprechenden Antwort“ an Baumgartner bis er das Gutachten des Kapitelsvikars in den Händen hielt. Dass er mit dessen Überlegungen weitestgehend zufrieden war, zeigt sich daran, dass er Sester sein Entgegnungsschreiben an den Kultusminister vertraulich übersandte und die Bemerkung hinzufügte, es „dürfte sich auch, jedenfalls im Wesentlichen, mit der Auffassung treffen, die Euer Gnaden in Ihrem Gutachten … vertreten“1691. Konkreter wurde Pacelli nicht, an einer inhaltlichen Debatte mit dem Kapitelsvikar hatte er offensichtlich kein Interesse. Wie sah seine Antwort an den badischen Kultusminister aus? Zunächst einmal fällt auf, dass sein Schreiben, das auf den 9. Januar datierte, ohne Protokollnummer blieb und demnach keinen offiziellen Charakter hatte.1692 Damit folgte er Baumgartner, der in seinem Brief vom 31. Dezember 1931 um eine private Replik gebeten, und nicht Föhr, der am 26. Dezember eine offizielle Antwort an das Staatsministerium empfohlen hatte, „um so dieses für das Schreiben des Unterrichtsministers haftbar zu machen und die Verhandlungen offiziell in ein akutes Stadium zu bringen“1693. Formal agierte Pacelli also vorsichtig, inhaltlich jedoch trat er bestimmt auf. Zuallererst räumte er die Frage aus dem Weg, „ob und inwieweit die (auf alle Fälle in wesentlichen Bestimmungen nicht mehr anwendbaren) konkordatären Zirkumskriptionsbullen auch nach der Umwälzung in Deutschland und unter der Weimarer Reichsverfassung ihre Rechtsgültigkeit weiterhin bewahrt haben“, indem er feststellte, dass die Meinungen darüber auseinandergingen und daher „die theoretische Frage im vorliegenden Falle nicht zweckdienlich“1694 sei. Abgesehen davon
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Pacelli an Sester vom 10. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 47r. Hervorhebung R.H. Zunächst hatte der Terminus „decken“ im Text gestanden, den Pacelli mit „treffen“ ersetzte. Vgl. Pacelli an Baumgartner vom 9. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 99r–100r. Die genaue Datierung dieses Schreibens war in der Forschung bislang ungewiss. Föhr datierte es später auf den 8. Januar 1932. Vgl. Föhr, Geschichte, S. 25f. Plück lässt diese Frage offen. Vgl. Plück, Konkordat, S. 81 Anm. 27. Die erste Fassung wurde vermutlich am 8. Januar aufgesetzt. Auf dem vatikanischen Entwurf findet sich die Notiz, dass Pizzardo das Schreiben am 9. Januar nach 20 Uhr absandte. Föhr an Pacelli vom 26. Dezember 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 88r. Susanne Plück geht davon aus, dass Pacelli einen Mittelweg zwischen offiziellem und privatem Schreiben wählte, insofern er Baumgartner mit „Kultusminister“ ansprach. Vgl. Plück, Konkordat, S. 81. Nach meinem Dafürhalten spricht jedoch nichts dagegen, in einem privaten Brief den Amtstitel des Adressaten zu verwenden. Der Verzicht auf die Protokollnummer zeigt deutlich, dass Pacelli der Bitte Baumgartners entsprechen wollte. Pacelli an Baumgartner vom 9. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 99v. 439
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„wäre der Heilige Stuhl aus schwerwiegenden Gründen nicht in der Lage“1695 der Regierungsposition zuzustimmen, so wenig wie er es gegenüber Bayern und Preußen getan habe. Die einzig akzeptable Lösung bestehe in dem Abschluss eines neuen Konkordats, das den schon vor über zwölf Jahren ergangenen politischen Umwälzungen Rechnung trage. Pacelli zeigte sich überzeugt, dass ein solcher Vertrag mit geringem Aufwand abzuschließen war, zumal er mit Baumgartner dieses Thema schon – wie bereits angeklungen – erörtert hatte. Wie früher dachte er an eine badische Delegation in Rom, mit der er verhandeln konnte. Nach Konkordatsabschluss könne dann auch der vakante Erzbischofsstuhl gemäß dem im Vertrag vereinbarten Modus wiederbesetzt werden. Im Folgenden kam der Kardinalstaatssekretär auf die Kapitelswahl von 1920 zu sprechen. Diese sei damals schon unter Auslassung der Gültigkeitsfrage der alten Rechtsgrundlage eine besondere, präzedenzlose Erlaubnis des Heiligen Stuhls gewesen. Die Interpretation des Kapitelsvikars, dass es sich bei der damaligen Wahl nur um einen Vorschlag zur päpstlichen Nomination gehandelt habe, machte sich Pacelli nicht zu eigen, was auch taktisch unklug gewesen wäre. Ob er ihr überhaupt Gültigkeit beimaß ist mindestens fraglich, zumal sich in den Quellen zum 1920er- Verfahren kein Anhaltspunkt für eine in diese Richtung gehende Lesart Pacellis findet. Eine erneute Kapitelswahl im gegenwärtigen Fall – so Pacelli weiter – „ist aber dem Heiligen Stuhl schon durch die Länge der inzwischen verstrichenen Zeit und die erfolglos gebliebenen wiederholten Anregungen zu Konkordatsverhandlungen unmöglich gemacht“1696. Von dieser Hoffnung konnte sich die badische Regierung also verabschieden, da Pacelli nicht bereit war, das Reskript Gasparris von 1926 außer Kraft zu setzen. Dieses ende mit der Formel „donec aliter disponatur“ – wie Pacelli vielleicht im Anschluss an Sester, der darauf eingegangen war, handschriftlich im Entwurf ergänzte – und beanspruche daher, bis zum Abschluss eines neuen Vertrags zu gelten. Sollte die badische Regierung nicht bereit sein, die rechtliche Neuregelung in Angriff zu nehmen, „bliebe dem Heiligen Stuhl kein anderer Weg, als zur Ernennung des neuen Oberhirten der Erzdiözese Freiburg entsprechend Can. 329 § 2 … zu schreiten“1697.
Widerstand und Einlenken im Freiburger Metropolitankapitel Wie dachten eigentlich die Freiburger Domherren über die Frage der Wiederbesetzung? Der aus ihren Reihen zum Interimsadministrator gewählte Sester legte ihnen Anfang Januar 1932 anhand 1695
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Pacelli an Baumgartner vom 9. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 99v. Pacelli an Baumgartner vom 9. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 99r. Pacelli an Baumgartner vom 9. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 135, Fol. 100r. 440
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Gasparris Zirkularschreiben und des vorangegangenen Briefs von Erzbischof Fritz die rechtliche Situation dar.1698 Nach Sesters Angaben hatte das Kapitel von diesem normativen Text bislang keine Ahnung.1699 Über den Briefwechsel mit Pacelli und insbesondere dessen Antwort an Baumgartner ließ er die Kapitulare im Dunkeln. Eine Kapitelssitzung über die Bestimmungen von Ad dominici gregis folgte am 9. Januar. Wie Sester Pacelli eine Woche später berichtete, habe sich der Domdekan, Weihbischof Wilhelm Burger, gegen die Geltung von Gasparris Anweisung mit der Begründung gewehrt, das Dokument sei dem Kapitel damals nicht zugegangen.1700 Diese Ansicht hielt der Kapitelsvikar für hochbrisant: „Wenn diese Auffassung durchgedrungen wäre, so hätte es in der Öffentlichkeit das größte Aufsehen erregen müssen, dass das Domkapitel eine von der klaren Erklärung des h[eiligen] Vaters abweichende Auffassung vertrete und sich damit den Anschauungen der Staatsregierung anschließe.“1701 Sester konnte den Kardinalstaatssekretär jedoch beruhigen: In einer weiteren Kapitelssitzung am 13. Januar hätten die Kapitulare „eingesehen, dass ihre ursprüngliche Stellungnahme eine Unmöglichkeit sei“1702 und garantiert von keiner kirchlichen Stelle mehr vertreten werde. So reibungslos, wie hier geschildert, gaben die Domherren jedoch nicht nach. In der ersten Sitzung vom 9. des Monats war vereinbart worden, sich an den Berliner Nuntius Orsenigo zu wenden und eine Verhaltensanweisung zu erbitten. Nach der Darstellung Sesters schickte Burger jedoch eigenmächtig und ohne Kapitelsbeschluss ein Schreiben nach Berlin. In dieser Anfrage, die auf den 12. Januar datierte, äußerte sich Burger zurückhaltend.1703 Aus ihr geht eher implizit hervor, dass er die klare Position Sesters zum Kapitelswahlrecht nicht teilte. Der Weihbischof stellte fest, dass es dem Metropolitankapitel unbekannt sei, ob in naher Zukunft eine konkordatäre Lösung der Besetzungsfrage erfolgen werde und dass ihm darüber hinaus als bisherigem Wahlgremium aufgrund des Can. 161 CIC die Pflicht zukomme, mit der Erzbischofswahl nicht länger als drei Monate nach Kenntnis der Sedisvakanz zu warten. Aus Sicht 1698
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Vgl. Sester an das Metropolitankapitel vom 2. Januar 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 3r. Er vermutete, Fritz habe es den Domherren damals nicht mitgeteilt, weil er gehofft habe, dass eine konkordatäre Regelung erfolge, bevor der erzbischöfliche Stuhl durch seinen Tod vakant würde. Vgl. Sester an Orsenigo vom 13. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 55rv. Vgl. Sester an Pacelli vom 16. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 52r–53r. Sester an Pacelli vom 16. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 53r. Sester an Pacelli vom 16. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 53r. Vgl. Burger an Orsenigo vom 12. Januar 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 49rv. 441
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der Domherren war der erzbischöfliche Stuhl mittlerweile über vier Wochen vakant, ohne dass sie einen Fortschritt in der Lösung der Wiederbesetzungsfrage ausmachen konnten. Diese angesprochene „Pflicht“ setzte natürlich voraus, dass eine Wahl gestattet wurde. Das entgegenstehende Zirkularschreiben Gasparris erwähnte Burger überhaupt nicht. Stattdessen wies er auf das seit 1827 bestehende Wahlprivileg hin, „wovon das Kapitel in allen bisherigen Erledigungsfällen Gebrauch gemacht hat“1704. Der Weihbischof rief Orsenigo zudem die Wahlerlaubnis in Erinnerung, die der damalige Nuntius Pacelli Mitte August 1920 vorgelegt hatte. Da diese durch eine Präzedenzklausel eingeschränkt gewesen sei und die endgültige Regelung des Besetzungsmodus durch ein Konkordat noch ausstehe, schloss der Dekan mit der Bitte, „uns darüber gütigst Weisung zukommen lassen zu wollen, wie das Erzbischöfliche Metropolitankapitel in der Frage der Wiederbesetzung des Freiburger Erzstuhles sich verhalten soll“1705. Als Sester am nächsten Tag vom eigenmächtigen Vorgehen Burgers erfahren und dessen Brief gelesen hatte, schickte er ein eigenes Schreiben an Orsenigo hinterher, um die Umstände, wie der Brief des Domdekans zustande gekommen war, zu schildern.1706 Demgemäß habe er den Domherren am 9. Januar Gasparris Anordnung vorgelegt und auf der Verpflichtung insistiert, „sich rückhaltlos auf den Boden des päpstlichen Reskripts zu stellen“1707. Gegen den unautorisierten Brief Burgers habe er sofort Verwahrung eingelegt, weil zum einen die Zustimmung der übrigen Kapitulare gefehlt habe und zum anderen, „weil es unmöglich sei, die feierliche Erklärung des H[eiligen] Vaters einfach zu ignorieren“1708. Zur Klärung habe er – so Sester weiter – für den 13. Januar eine zweite Kapitelssitzung anberaumt, in der zu seiner „großen Befriedigung“ eine „volle Übereinstimmung“1709 darin bestanden habe, dass Burgers Darlegung in dieser Form nicht hätte abgesandt werden dürfen und das Kapitel Gasparris Reskript vorbehaltlos unterstützen müsse. Nur so, in völliger Einigkeit, könne ein Konkordat mit Baden zustande kommen.
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Burger an Orsenigo vom 12. Januar 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 49r. Burger an Orsenigo vom 12. Januar 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 49v. Vgl. Sester an Orsenigo vom 13. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 55rv. Sester an Orsenigo vom 13. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 55r. Sester an Orsenigo vom 13. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 55v. Sester an Orsenigo vom 13. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 55v. 442
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Der Nuntius erteilte Burgers Wunsch nach dem Wahlrecht umgehend eine klare Absage.1710 Mit Rekurs auf das Zirkularschreiben von 1926 erwiderte er, dass Can. 329 § 2 angewendet werde bis eine endgültige Regelung vereinbart worden sei. Dies ergebe sich implizit auch aus der damaligen Wahlerlaubnis Pacellis. Daher greife der Can. 161 in diesem Fall nicht. Sofort gab Orsenigo seinem römischen Vorgesetzten Kenntnis von diesem Briefwechsel1711 und erklärte dabei auch, warum er nicht erst Rücksprache über das Vorgehen genommen habe: „Ich habe es für angemessen gehalten, nahezu so schnell wie ein Eilbote zu antworten, damit auch eine kurze Verzögerung keine Gelegenheit zum Vorwand [sc. für das Kapitel, R.H.] biete, zur Ernennung [sc. zur Wahl, R.H.] zu schreiten, welche – obwohl klar ungültig – ein bedauerlicher Unfall wäre.“1712 Für diese Sorgfalt erntete der Nuntius Lob von Pacelli. Er selbst habe diese Sachlage in „analogen Worten“1713 auch dem badischen Kultusminister sowie dem Freiburger Kapitularvikar dargestellt. Erst jetzt erfuhr Orsenigo, der bislang nicht in die Freiburger Angelegenheit eingebunden war, dass Pacelli sich darum kümmerte. Überraschend ist jedenfalls, dass der Nuntius für das Deutsche Reich anlässlich der Sedisvakanz nicht nach Rom berichtet beziehungsweise Instruktionen verlangt hatte, was durchaus seine Aufgabe gewesen wäre.
Pacellis Kandidat für Freiburg: Conrad Gröber Das Schreiben Pacellis vom 9. Januar 1932, das die Position des Heiligen Stuhls in der Besetzungsfrage klargestellt hatte, reichte Baumgartner an seinen Parteikollegen Föhr weiter, der es wiederum Sester vorlegte. Dieser kannte das Dokument durch Pacellis persönliche Mitteilung bereits. Ob er das dem Vorsitzenden des badischen Zentrums gegenüber offenlegte, muss unbeantwortet bleiben. Mit Föhr hatte Sester in der vorangegangenen Woche drei Gespräche geführt, das nächste sollte am 18. Januar stattfinden. Sein Ziel war, ihn davon zu überzeugen, dass die rechtliche Auffassung des Kultusministers unhaltbar war. Die Aussichten, dass ihm dies gelingen würde, schätzte Sester in seinem Bericht an den Kardinalstaatssekretär zwei Tage vorher zuversichtlich ein. Wenn
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Vgl. Orsenigo an Burger vom 14. Januar 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 50r. Auch Sester übermittelte Pacelli Abschriften der Korrespondenzen, sodass dieser über die Geschehnisse voll im Bilde war. „Ho creduto opportuno rispondere quasi a volta di corriere, affinché anche un breve ritardo non fosse occasione di pretesti per procedere alla nomina, la quale – sebbene chiaramente invalida – sarebbe un incidente increscioso.“ Orsenigo an Pacelli vom 14. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 48r. „… termini analoghi …“ Pacelli an Orsenigo vom 18. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 51r. 443
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Föhr „einmal den kirchlichen Standpunkt restlos anerkannt hat“ – prophezeite er – „wird er als Parteiführer bald in der Lage sein, auch weitere Kreise für diese Auffassung zu gewinnen“1714. Da Baumgartner seine an Pacelli gesandte Erklärung allen Kabinettsmitgliedern unterbreitet habe, sei es für ihn logischerweise schwierig, wenn er eingestehen müsste, dass seine Darlegung aus kirchenrechtlicher Sicht verkehrt und nur durch politische Erwägungen motiviert gewesen sei. Aber auch die Regierungsmitglieder würden schließlich einsehen – so Sester –, dass der Kirche angesichts der WRV die völlige Freiheit in der Ämterbesetzung zustehe. Pacelli war jedoch nicht so optimistisch, weder dass die badische Regierung bald von ihrer Forderung nach dem Kapitelswahlrecht Abstand nehmen, noch dass sie die Konkordatsverhandlungen in eine entscheidende Phase bringen werde. Wie seine Stellungnahme für den Kultusminister hinreichend deutlich machte, wollte er nicht mehr lange warten, bis von staatlicher Seite eine seiner Ansicht nach akzeptable Verhandlungsbasis geschaffen war. Da verwundert es nicht, dass er schon einen Kandidaten für die Nachfolge von Fritz präsentieren konnte, der auch die Zustimmung Piusʼ XI. fand: Am 23. Januar schrieb er an Orsenigo, dass „der Heilige Vater im Sinn habe, Seine Exzellenz, den Ehrwürdigen Herrn Conrad Gröber, Bischof von Meißen, der aus diesem Staat stammt, auf den erzbischöflichen Stuhl von Freiburg in Baden zu befördern“1715. Die „angedrohte“ päpstliche Nomination sollte also tatsächlich realisiert werden. Der Nuntius beurteilte die Kandidatenwahl als ausgezeichnet: Gröber, ehemals Freiburger Domkapitular, biete die größte Gewähr, sowohl hinsichtlich seiner Person als auch hinsichtlich der Schwierigkeiten, welche die Besetzung des Metropolitanstuhls mit sich bringen könnte.1716 Schon in der kurzen Zeit, in der Gröber das komplizierte Bistum Meißen leite, habe er es verstanden, „sich glänzend die Liebe seines gesamten Klerus und die Achtung seines Volkes zu erwerben“1717. Auch die zahlreichen Nichtkatholiken der sächsischen Diaspora würden ihn schätzen aufgrund „seiner feinen Kultur, seiner Liebenswürdigkeit der Umgangsformen und seiner vornehmen Zu-
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Sester an Pacelli vom 16. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 52v. „… il Santo Padre avrebbe in animo di promuovere alla Sede Arcivescovile di Friburgo nel Baden, Sua Eccellenza Rev.ma Monsignor Corrado Gröber Vescovo di Meissen, oriundo di quello Stato.“ Pacelli an Orsenigo vom 23. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 56r. Eine Audienznotiz Pacellis, welche die Absprache zwischen Papst und Staatssekretär zur Kandidatur Gröbers dokumentiert, konnte in den Quellen nicht gefunden werden. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 57rv. „… conquistarsi magnificamente lʼamore di tutto il suo clero e la stima del suo popolo …“ Orsenigo an Pacelli vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 57r. 444
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rückhaltung“1718. Eindruck auf Orsenigo hatte zudem das von Gröber im Vorjahr publizierte Buch „Christus Pastor“1719 gemacht. Dieses zeige „den gesunden Geist des guten Seelenhirten“1720. Besonders wichtig erschien ihm darüber hinaus nicht nur, dass Gröber gebürtiger Badener, sondern auch ein im besten Wortsinne sehr bekannter und populärer Mann sei. Daher könne man damit rechnen, dass „seine Rückkehr nach Freiburg eine wahre Einstimmigkeit der Freude auslösen wird, die leicht … die kleinen Schwierigkeiten des Besetzungsmodus durchbricht, die irgendjemand vielleicht noch als möglich erträumt“1721. Ein in Baden allseits genehmer Kandidat sollte also die reibungslose Umsetzung des Can. 329 § 2 ermöglichen. Dass keine Kapitelswahl oder gar staatliche Einflussnahme mehr zugestanden wurde, war für die in dieser Hinsicht Benachteiligten sicherlich leichter zu akzeptieren, wenn der Kandidat das vollste Wohlwollen genoss. Man wird nicht fehlgehen, hierin die handlungsleitende Intention Pacellis zu sehen.
Pacelli und Baumgartner: eine fruchtlose Grundsatzdebatte Der Kandidat stand also fest. Dennoch wartete der Kardinalstaatssekretär mit der Einsetzung. Baumgartner stufte die angekündigte päpstliche Nomination des neuen Erzbischofs im Fall eines verzögerten Konkordatsabschlusses Sester gegenüber als Katastrophe ein.1722 Um sie abzuwenden,
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„… la sua fine cultura, … la soavità dei modi e la sua signorile riservatezza …“ Orsenigo an Pacelli vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 57r. Vgl. Gröber, Christus Pastor. In diesem Büchlein, das auf Anregung des Diözesanrats der Priesterkongregation des Freiburger Erzbistums entstand, zeichnete Gröber ein breites Bild des vollkommenen Seelsorgers Christus. Sein Vorbild sei für Klerus und Laien nachzuahmen und zu verwirklichen: „Dazu stellen wir uns selber in der Gegenwart wieder hirtenmäßiger und seelsorgerlicher ein. Wir erleben langsam das Wesen der katholischen Aktion und erkennen deutlicher unsere natürliche Haftpflicht dem Mitmenschen gegenüber. Wir begreifen tiefer das apostolische Gepräge, das nicht nur der Priester, sondern jeder Katholik durch das Sakrament der Firmung und die christliche Bruderliebe empfängt.“ Ebd., S. 1. Seine Ausführungen verstand der neue Meißener Diözesanbischof als Abschiedsgeschenk an den Freiburger Klerus und als Ermutigung für die Seelsorger des sächsischen Diasporabistums. „… il sano spirito del buon pastore di anime.“ Orsenigo an Pacelli vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 57v. Ähnlich urteilte später eine Kurzrezension in der „Civiltà cattolica“ über die 1932 erschiene italienische Übersetzung des Buches: „È quindi questo libro sommamente utile ai parroci, ai sacerdoti ed anche ai laici, che per ufficio o per vocazione debbono condurre anime a Dio.“ O.V., Rez. zu Groeber, Christus Pastor. „… il suo ritorno a Friburgo susciterà un vero plebiscito di gioia, sfondando facilmente … le piccole difficoltà di procedura, che qualcuno forse sogna ancora possibili.“ Orsenigo an Pacelli vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 57v. Vgl. Plück, Konkordat, S. 84. 445
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wandte er sich am 26. Januar erneut brieflich an Pacelli.1723 Er bekräftigte, den bereits erwähnten Konkordatsentwurf fast fertiggestellt zu haben und in Kürze dem Regierungskabinett vorlegen zu wollen. Dort werde dieser allerdings erhebliche Widerstände auslösen, die durch ein einseitiges Handeln der Kurie noch verstärkt würden: „Jedenfalls aber würde eine vor Abschluss des Konkordats erfolgende Neubesetzung des Erzbischöfl[ichen] Stuhles in Freiburg lediglich auf dem Wege der Ernennung gemäß dem kanonischen Recht mir die Verhandlungen im Kabinett und danach im Landtag ganz außerordentlich erschweren und verschiedene, sehr wichtige Bestimmungen ernstlich gefährden.“1724
Die von Baumgartner gewünschte Beschleunigung der Verhandlungen, die er persönlich zu führen beabsichtigte, begrüßte Pacelli in seiner Antwort vom 31. Januar.1725 Er wiederholte seinen Vorschlag, eine badische Abordnung zur Verhandlung und Unterzeichnung nach Rom zu entsenden, betonte aber auch, dass die Zeit drängte, da die Freiburger Sedisvakanz „nicht ohne empfindlichen Schaden für die Erzdiözese zu sehr in die Länge“1726 gezogen werden könne. Am 4. Februar erwiderte Baumgartner, dass er Pacellis inoffizielles Schreiben vom 9. Januar hinzufügen müsse, wenn er seinen Entwurf im Kabinett einreiche.1727 Dabei plagten ihn „lebhafte Bedenken im Hinblick auf die grundsätzliche Stellungnahme Euer Eminenz zur Frage der Geltung der konkordatären Vereinbarung des H[eiligen] Stuhles mit dem badischen Staate von 1821 bez[iehungsweise] 1827“1728. Um die nötige Zustimmung zu erreichen, müsse er unbedingt die prinzipielle Gültigkeit der bisherigen Verträge bejahen, wenn sie auch in manchen konkreten Bestimmungen überholungsbedürftig seien. Die politischen Gegner würden ansonsten die der Kirche gezahlten Leistungen als unrechtmäßig einstufen. Außerdem wäre es für das etwaige neue Konkordat „geradezu verhängnisvoll“1729, wenn der Heilige Stuhl die grundsätzliche Fortgeltung negieren wür1723
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Vgl. Baumgartner an Pacelli vom 26. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 31r–33r. Baumgartner an Pacelli vom 26. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 31v. Hervorhebung im Original. Vgl. Pacelli an Baumgartner vom 31. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 32r. Pacelli an Baumgartner vom 31. Januar 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 33r. Vgl. Baumgartner an Pacelli vom 4. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 35r–36v; auszugsweise abgedruckt bei Föhr, Geschichte, S. 26f. sowie Huber/ Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 351f. (Nr. 191). Baumgartner an Pacelli vom 4. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 35r. Baumgartner an Pacelli vom 4. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 35v. 446
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de. Mit anderen Worten: „Die Verneinung würde Folgen haben, die das Zustandekommen eines neuen Konkordates unmöglich machen, da man dann von anderer politischer Seite auch an der künftigen Rechtsbeständigkeit eines neuen Konkordates voraussichtlich zweifeln … würde.“1730 Daher bat Baumgartner um ein erneutes Schreiben Pacellis, das sich zur prinzipiellen Geltung der alten Verträge bekannte, ungeachtet der Tatsache, dass die Ansichten, welche Einzelbestimmungen überholt und welche noch in Geltung seien, auseinandergingen. Deshalb – so sollte Pacelli schreiben – sei ein baldiger Konkordatsabschluss, auch für die Wiederbesetzung des vakanten Erzbischofsstuhls, dringend erforderlich. Zum Leidwesen des Kultusministers lehnte Pacelli das gewünschte offizielle Bekenntnis am 9. Februar ab: „Es ist schon deshalb nicht möglich, weil der Heilige Stuhl auch Bayern und Preußen gegenüber in dieser Frage die gleiche Stellung genommen hat, die ich im Schreiben vom 8. Januar1731 an Euer Exzellenz zum Ausdruck brachte. Die der von Euerer Exzellenz vertretenen entgegenstehende Rechtsauffassung geht von der Ansicht aus, dass konkordatäre Abmachungen, die der Heilige Stuhl vor hundert Jahren mit den alten Souveränen getroffen hat, durch so tiefgehende Entwicklungen und so grundlegende Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Staat, wie sie diese hundert Jahre und vor allem die Staatsumwälzung von 1918/1919 gebracht haben, sehr wohl auch in ihrer prinzipiellen Geltung betroffen werden und dass Zugeständnisse, die der Heilige Stuhl in ihnen machte, nicht ohne Weiteres auf die Regierung einer in religiös-kirchlichen Fragen grundsätzlich neutralen Republik übergehen.“1732
Die etwas umständliche Formulierung: „Die der von Euerer Exzellenz vertretenen entgegenstehende Rechtsauffassung“ war wohl dem Umstand geschuldet, dass Pacelli diese Ansicht nicht vertreten wollte. Stattdessen leitete er lediglich aus der Tatsache, dass es unterschiedliche Vorstellungen über die Frage der Fortgeltung gab, die praktische Notwendigkeit von Neuverhandlungen ab. Die diesbezüglichen Offerten des Heiligen Stuhls habe Baden jedoch wiederholt ausgeschlagen. Hinsichtlich der finanziellen Leistungen des Staates bleibe festzuhalten, dass sie letztlich auf der Tatsache der Säkularisation beruhen würden und in den alten Zirkumskriptionsbullen nur ein kleiner Teil der kirchlichen Ansprüche erfasst sei. Pacelli blieb daher in seiner Position unerbittlich: „Wenn ich die zuversichtliche Hoffnung ausspreche, dass von der umstrittenen Rechtsfrage der Geltung der alten Zirkumskriptionsbullen Abstand genommen werde und ein neues Konkordat in kürzester Zeit zum Abschluss komme, so darf ich doch noch einmal darauf 1730
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Baumgartner an Pacelli vom 4. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 36v. Vgl. zur Datierung Bd. 3, Kap. II.3.4 Anm. 1692. Pacelli an Baumgartner vom 9. Februar 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 37r–39r (nur r), hier 37r–38r; Ausfertigung abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 237f. (Nr. 21), auszugsweise auch bei Föhr, Geschichte, S. 27f. 447
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hinweisen, dass der Heilige Stuhl andernfalls genötigt sein wird, zur Ernennung des neuen Erzbischofs zu schreiten. Die Größe und die ganzen Verhältnisse der Erzdiözese Freiburg dulden eine lange Vakanz nicht ohne beträchtlichen Schaden.“1733
Die Verantwortung dafür müsse jedoch dann die Regierung übernehmen, weil sie es seit zwölf Jahren versäumt habe, einer Neuordnung der staatskirchlichen Materie zuzustimmen. Pacellis Brief an den Kultusminister war eine letzte Warnung, die noch ein kurzes Ultimatum gewährte bis das Zeitfenster geschlossen werden und eine römische Bischofsernennung erfolgen sollte.
Verzögerungen: ein unzureichender Konkordatsentwurf und Sesters Intrige So zügig wie von Pacelli verlangt schritt die Konkordatsangelegenheit innerhalb der badischen Regierung jedoch nicht fort. Baumgartner legte seinen Entwurf am 19. Februar dem Staatsministerium vor. Auch Pacelli konnte sich ein Bild über den Text machen, den ihm Sester mit einer ausführlichen und letztlich vernichtenden Stellungnahme am 15. März nach Rom übersandte.1734 Insbesondere die Schulfrage hielt der Kapitularvikar für völlig unzureichend gelöst, während grundsätzlich „die Badische Staatsregierung der Kirche sehr wenig anbieten will und ängstlich bestrebt ist, die Rechtslage der Kirche nicht zu verbessern“1735. Daher sei es für letztere nicht dramatisch, wenn das Konkordat momentan noch nicht zustande käme, wiewohl Sester es bedauerte,
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Pacelli an Baumgartner vom 9. Februar 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 38r–39r. Vgl. Gutachten Sesters vom 14. März sowie das Begleitschreiben an Pacelli vom 15. März 1932, S .RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 92r–98v sowie 85r–87r; Entwürfe abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 244–251 (Nr. 23) und 252–254 (Nr. 24). Im Februar hatte ihn Sester schon zweimal über die neuesten Entwicklungen der Konkordatsfrage ins Bild gesetzt. Vgl. Sester an Pacelli vom 4. Februar sowie vom 22. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 42r–44r sowie 67r–72r; letztgenannter Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 238–243 (Nr. 22). Pacelli replizierte jeweils knapp. Vgl. Pacelli an Sester vom 16. Februar sowie vom 3. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 66r sowie 83r. Gutachten Sesters vom 14. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 98v. Baumgartner hatte immerhin in Artikel XII seines Entwurfs festgeschrieben, dass Religion ordentliches Unterrichtsfach an allen öffentlichen, mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen sein sollte. Sester hielt jedoch die kirchliche Akzeptanz von bekenntnisfreien Schulen für unmöglich. Zwar existiere in Baden klassisch die christliche Simultanschule, doch faktisch sei eine sehr große Zahl der Volksschulen konfessionell, da der § 34 des badischen Schulgesetzes eine Besetzung der Lehrerstellen entsprechend dem religiösen Bekenntnis der Schüler vorschreibe. Insofern sei der von Baumgartner entworfene Artikel XII lediglich eine Verschlechterung für die Kirche. Dennoch glaubte Sester, dass nicht einmal diese Formel im Landtag akzeptiert würde. Vgl. dazu auch Plück, Konkordat, S. 48. 448
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dass das überwiegend katholische Baden „seinen Verpflichtungen gegenüber der katholischen Kirche nicht besser nachgekommen“1736 sei. Zu den inhaltlichen Defiziten des Entwurfs traten nach Sester noch politische Unwegsamkeiten. Föhr nämlich, mit dem er in letzter Zeit mehrere vertrauliche Unterredungen geführt habe, sei der Überzeugung, dass die aus der Reichspräsidentenwahl vom 13. März gestärkt hervorgehende NSDAP eine Auflösung des Landtags erzwingen wolle.1737 Dies hätte eine erneute Verzögerung der Konkordatsangelegenheit zur Folge. Außerdem – so berichtete der Freiburger Kapitularvikar abschließend – habe er soeben erfahren, dass sich das Staatsministerium mit dem Konkordatsentwurf bislang noch nicht befasst habe und dass dies in nächster Zeit auch nicht zu erwarten sei. Diese rundweg negative Einschätzung Sesters verfehlte seine Wirkung bei Pacelli nicht. Gerade mit der Lösung der Schulfrage, die er wiederholt als wichtigsten Aspekt des neuen Konkordats deklariert hatte,1738 konnte er ebenso wenig zufrieden sein, wie mit den düsteren Aussichten für einen baldigen Konkordatsabschluss.1739 Hatte er den Entwurf des Kultusministers noch abgewartet, war seine Geduld nun am Ende. Am 21. März telegraphierte er an den Berliner Nuntius folgende Order: Da eine konkordatäre Abmachung mit Baden in naher Zukunft nicht wahrscheinlich sei und weil es nicht möglich erscheine, die Sedisvakanz noch weiter hinauszuzögern, glaube der Heilige Vater, zur Ernennung des neuen Erzbischofs in der Person Conrad Gröbers schreiten zu müssen.1740 Wenn der Nuntius nicht irgendeine besondere Problematik sehe, möge er den Genannten sub secreto Sancti Officii nach seinem Einverständnis befragen. Bei einer positiven Antwort könne die Neuigkeit sofort veröffentlicht werden. Erst nachdem Pacelli dieses Telegramm auf den Weg gebracht hatte, nahm er eine Nachricht zur Kenntnis, die Orsenigo bereits vier Tage zuvor nach Rom gedrahtet hatte: „Herr Kaas bittet, die gefallene Entscheidung bezüglich Freiburg zu verschieben bis weitere Mitteilungen eintreffen.“1741 Kaas war als kanonistischer Berater und enger Vertrauter Pacellis über den Stand und Verlauf der badischen Vertragsverhandlungen informiert. Schon beim Konstanzer Sondierungsgespräch im November 1929 war er entscheidend beteiligt gewesen und fungierte auch in der Folgezeit
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Sester an Pacelli vom 15. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 87r. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 934–938; Plück, Konkordat, S. 89f. So etwa im Oktober 1930 bei den Gesprächen in Rorschach (vgl. Bd. 3, Kap. II.3.4 Anm. 1652) oder in einem Schreiben an Fritz vom 28. Februar 1931, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 228 (Nr. 14). Seine Antwort gibt darüber freilich keinen Aufschluss. Sie bestand lediglich in einem Dank für das Gutachten ohne jeden sachlichen Kommentar. Vgl. Pacelli an Sester vom 30. März 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 113r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 21. März 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 61r. „Monsignor Kaas prega differire decisione circa Friburgo Brisgovia fino arrivo ulteriori notizie.“ Orsenigo an Pacelli vom 17. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 60r. 449
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als „Mittelsmann der badischen Zentrumspartei gegenüber dem Heiligen Stuhl“1742, das heißt als Bezugsinstanz sowohl für Föhr als auch Pacelli.1743 Der Zentrumsvorsitzende wusste genau, dass die Publikation der Ernennung Gröbers unmittelbar bevorstand. Offenbar hatte der Kardinalstaatssekretär dem Prälaten diese Entscheidung vor dem Hintergrund von Sesters Gutachten mitgeteilt. Kaas weilte gerade in der Reichshauptstadt und hegte Vorbehalte gegen Pacellis Vorhaben, sodass er über den schnellen Weg der Nuntiatur einen Aufschub erreichen wollte. Sofort nachdem Pacelli die Bitte seines Vertrauten gelesen hatte, telegraphierte er an Orsenigo, seine vorangegangene Weisung auszusetzen.1744 Was allerdings Kaas bewog, um eine Verzögerung der Ernennung zu bitten, geht aus den vatikanischen Quellen nicht hervor. Man muss wohl davon ausgehen, dass es sich um verhandlungsstrategische Gründe handelte. Denkbar wäre aber auch, dass Kaasʼ Bitte mit einem Verdikt des Freiburger Kapitularvikars gegen Gröber zusammenhing. Dass Sesters Schreiben an Pacelli einen hartnäckigen Zug von „beflissenen Selbstanpreisungen als Ideal an Pflichterfüllung und Kirchentreue“1745 trugen, wurde bereits angesprochen. Von daher ist die Annahme nicht unberechtigt, dass er sich selbst Chancen auf die Nachfolge Fritzʼ ausrechnete.1746 Jedenfalls erfuhr er von der Absicht des Heiligen Stuhls, Gröber von Meißen nach Freiburg zu transferieren und verfasste daraufhin am 18. März eine Anklageschrift mit dem Ziel, diesen Transfer zu verhindern – inhaltlich ging es um einen vermeintlichen Zölibatsbruch Gröbers mit einer verheirateten Frau.1747 Der Kardinalstaatssekre1742 1743
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May, Kaas 2, S. 459. Aufschlussreich sind zum Beispiel zwei von Kaas aus Rom an Föhr gerichtete Schreiben vom März 1930, in denen er Pacellis Position unterstützte. Vgl. Kaas an Föhr vom 8. und 13. März 1930, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 219f. (Nr. 6) und 220f. (Nr. 7). Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 21. März 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 63r. Plück, Konkordat, S. 89. So ebenfalls Keller, Gröber, S. 131; Plück, Konkordat, S. 82 Anm. 31. Einige Jahre später bemerkte der Karlsruher Generalstaatsanwalt, Emil Brettle, in seinen „zweimonatlichen Lageberichten aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe“ an das Berliner Justizministerium vom 30. Juli 1936, dass Sester es nicht überwinden könne, nicht Nachfolger Fritzʼ auf dem Freiburger Erzbischofsstuhl geworden zu sein. Vgl. Schwalbach, Erzbischof (1986), S. 91. Vermutlich aufgrund seines sittlichen Gegenstands wurde das Schreiben Sesters vom 18. März 1932 aus der Akte des Besetzungsfalls entfernt. Auch im erzbischöflichen Archiv Freiburg konnte ein Entwurf nicht gefunden werden. Der Inhalt ergibt sich jedoch aus einem autoapologetischen Brief Sesters von 1938, in dem er sich gegen Diffamierungsvorwürfe Gröbers verteidigte. Vgl. Sester an das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg vom 7. Januar 1938, EAF, Personalakte Sester, Vol. 2, Nr. 28, S. 1–7. Sester rekapitulierte, dass eine Frau Karoline Wiedenmaier aus Freiburg Gröber „gewisser Intimitäten“ (ebd., S. 1) beschuldigt und dieser sich unglücklich durch zwei Schreiben an den Ehemann, Herrn Wiedenmaier, verteidigt habe. Er habe – so Sester – am 28. Februar 1932 erfahren, dass Herr Wiedenmaier einen Ehescheidungsprozess anstrebe, in dem auch Gröber hätte aussagen müssen: „Ich war deshalb von Amtswegen als Kapitelsvikar der Erzdiözese verpflichtet, die kirchlichen Belange zu wahren.“ Ebd., S. 2. 450
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tär legte dem Papst dieses Schreiben in einer Audienz am 22. März vor, einen Tag, nachdem er die Anweisung zur Veröffentlichung der Ernennung Gröbers erteilt und wieder zurückgezogen hatte.1748 Ergebnis der Unterredung war, dass dem Meißener Oberhirten die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den Anschuldigungen zu erklären. Orsenigo sollte dies in die Wege leiten. Auf Basis der vatikanischen Quellen lässt sich nur festhalten, dass sehr zügig ein Verteidigungsschreiben Gröbers in der Kurie vorlag, über das sich Pacelli am 1. April mit Pius XI. beriet und von beiden als überzeugend eingestuft wurde.1749 Auch der Nuntius sollte sich noch einmal zur geplanten Promotion Gröbers nach Freiburg äußern. Wie das Ergebnis zeigt, hatte Orsenigo erneut nichts gegen den Genannten einzuwenden. Die Intrige Sesters prolongierte die Sedisvakanz wiederum um mehrere Wochen.
Gröbers Ernennung zum Erzbischof von Freiburg Anfang April vereinbarte man schließlich im badischen Staatsministerium, dass ein Koalitionsausschuss die Konkordatsfrage weiter behandeln sollte. Föhr kam dabei die Aufgabe zu, mit den Fraktionsführern der SPD und DVP Kontakt aufzunehmen. Am 15. April berichtete er dem Kardinalstaatssekretär, dass er von der SPD-Fraktion die Einwilligung erhalten habe, das Konkordat im Anschluss an den Parteitag vom 24. April ohne weitere Verzögerung abzuschließen.1750 Er versicherte darüber hinaus, sich so rasch wie möglich um eine Einigung über einen Verhandlungsentwurf zu bemühen, damit Baumgartner die mündlichen Verhandlungen mit Pacelli beginnen könne. Die Angelegenheit müsse mit „Rücksicht auf die Sedisvakanz des Erzbischöflichen Stuhles“1751 bis zur Sommerpause im Juli abgeschlossen sein. Entgegen dieser zuversichtlichen Einstellung führte Sester dem Kardinalstaatssekretär am 26. April noch einmal die Probleme vor Augen, die sich seiner Überzeugung nach einem aus kirchlicher Sicht guten beziehungsweise guten und
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Schließlich sei auch noch Schweigegeld geflossen. All dies habe er in seinem Bericht vom 18. März 1932 dargelegt. Für die freundliche Auskunft und eine Kopie dieses Dokuments danke ich dem Erzbischöflichen Oberarchivdirektor Freiburg, Herrn Dr. Christoph Schmider, sehr herzlich. Vgl. zu Sesters Anklage auch knapp Keller, Gröber, S. 130f.; Schwalbach, Erzbischof (1986), S. 91f. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 22. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 345, Fol. 22r. Vgl.: „Sembra che si difenda bene.“ Audienznotiz Pacellis vom 1. April 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 345, Fol. 30v. Vgl. Föhr an Pacelli vom 15. April 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 7r–8r; Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 254f. (Nr. 25). Föhr an Pacelli vom 15. April 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 7v. 451
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baldigen Konkordatsabschluss in den Weg stellten.1752 Baumgartner habe ihm soeben noch mitgeteilt, dass eine für die Kirche verbesserte Rechtslage durch das Konkordat nicht zu erwarten sei. Neben parteilichen Zwistigkeiten über die Materie würden Uneinigkeiten über den protestantischen Staatskirchenvertrag, der parallel zum katholischen Konkordat geschlossen werden sollte, ein neues Hindernis für die Verhandlungen bilden.1753 Auf der Grundlage dieser Einschätzung konferierten am 30. April Papst und Staatssekretär erneut und trafen endgültig den Entschluss, mit der Wiederbesetzung nicht mehr länger zu warten. Pacelli notierte sich: „In Anbetracht der langen Dauer, welche diese Verhandlungen erfordern, bestätigt der Heilige Vater, den badischen Kultusminister anzuschreiben und zu erklären, dass es nicht möglich ist, die Sedisvakanz der Erzdiözese noch zu verlängern und dass der Heilige Stuhl sich vornimmt, Monsignore Gröber, den Bischof von Meißen, zu ernennen.“1754 Der Name des Bischofsanwärters war zu diesem Zeitpunkt schon kein Geheimnis mehr. Bereits Mitte April kündigte die katholische Wochenzeitung „Der Sonntag“ an, dass der Papst für das fragliche Amt den Meißener Oberhirten Gröber auserkoren habe.1755 Zur selben Zeit machte die „Germania“ in Form eines Telegramms ihres römischen Korrespondenten, des Freiherrn Edmund Raitz von Frentz, die gleiche Ankündigung.1756 Darüber unterrichtete Orsenigo seinen Vorgesetzten am 3. Mai.1757 Den Nuntius interessierte das Echo, das die Personalie in Freiburg und Karlsruhe auslöste, wenngleich es aufgrund der Entfernung nicht leicht festzustellen sei. Erst durch eine zufällige Begegnung mit Geistlichen habe er erfahren, dass der Freiburger Klerus begeistert sei. Darüber hinaus war Föhr nach Darstellung Orsenigos am 2. Mai anlässlich einer Sitzung in Berlin gewesen, eine Gelegenheit, die Kaas sofort genutzt habe, um wichtige Aussagen aus ihm herauszubekommen und zwar ohne dass kompromittierende Fragen nötig gewesen seien: Vor 1752
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Vgl. Sester an Pacelli vom 26. April 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 2r–4v. Vgl. auch Plück, Konkordat, S. 91f. „In considerazione del tempo ancor lungo che richiederanno tali trattative, il S. Padre approva che si scriva al Ministero del Culto del Baden, dicendo che non è possibile prolungare più oltre la vacanza dellʼArchidiocesi e che la S. Sede si propone di nominare Mgr. Gröber, Vescovo di Meissen.“ Audienznotiz Pacellis vom 30. April 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 345, Fol. 52r. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 68r. Vgl.: „Wie von gut unterrichteter Seite verlautet, beabsichtigt der Heilige Stuhl, den Bischof Gröber von Meißen zum Erzbischof von Freiburg zu ernennen.“ Telegramm Raitz von Frentzʼ vom 15. April 1932, abgedruckt unter dem Titel „Dr. Gröber Erzbischof von Freiburg“, in: „Germania“ Nr. 107 vom 17. April 1932. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 3. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 65r–66r. 452
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allem habe der badische Zentrumsvorsitzende die Annahme vertreten, dass es für den Heiligen Stuhl unmöglich sei, die Wiederbesetzung des Erzbistums noch länger bis zum Konkordatsabschluss hinauszuzögern. Angesichts der von Föhr bislang gehegten Hoffnung, das Konkordat bis zum Sommer abschließen zu können und erst dann die Sedisvakanz zu erledigen, erscheint der Sinneswandel überraschend, zumal er in diesem Fall mit verstärkten politischen Widerständen gegen das Konkordat rechnen musste. Unverändert war jedenfalls seine Meinung zum Besetzungsmodus: Ein einseitiges Vorgehen Roms halte Föhr – so Orsenigo – für unzulässig angesichts der Tatsache, dass zwischen Karlsruhe und dem Heiligen Stuhl Konkordatsverhandlungen im Gange seien. Außerdem trage ein noch jüngerer Brief Pacellis dazu bei, eine solche Absicht Roms auszuschließen. Damit spielte Föhr vermutlich auf das Schreiben vom 29. Dezember des Vorjahres an, in dem Pacelli die Besetzung gemäß dem im auszuhandelnden Konkordat vereinbarten Modus in Aussicht gestellt und noch kein einseitiges kuriales Handeln angekündigt hatte, wie er es später wiederholt gegenüber Baumgartner tat. Trotz seiner klaren Haltung äußerte sich Föhr auch dazu, wie die Regierung im Falle einer einseitigen päpstlichen Einsetzung des neuen Oberhirten reagieren würde. Alles hing seiner Ansicht nach von der Person des Ernannten und dessen Popularität in Baden ab. Die Gerüchte einer wahrscheinlichen Wahl Gröbers hätten eine generelle Begeisterung ausgelöst, wobei Föhr vermute – wie der Nuntius berichtete –, das in der „Germania“ publizierte Telegramm stamme nicht von Frenz, sei sogar nicht einmal von Rom ausgegangen, sondern habe seine Quelle in Freiburg. Nur ein oder zwei Personen seien aus persönlichen Motiven gegen Gröber, was aber nicht ins Gewicht falle. Der Heilige Stuhl müsse vor der öffentlichen Ernennung den badischen Kultusminister informieren und zwar „freundschaftlich und mit einer Formel, die keine rechtliche Verpflichtung beinhaltet“, dass nämlich „aufgrund der Notwendigkeit der besonderen Umstände die Besetzung eines so wichtigen erzbischöflichen Stuhls nicht mehr länger aufzuschieben“1758 sei. Unmittelbar danach müsse die Ernennung notifiziert werden. Föhr selbst schrieb später aus der Retrospektive über dieses Berliner Gespräch, dass Pacelli ihm über Kaas dezidiert die Intention des Papstes habe mitteilen lassen, Gröber auf die Freiburger Cathedra zu setzen.1759 Ziel des Kardinalstaatssekretärs sei gewesen – so Föhr –, die zu erwartende Reaktion der badischen Regierung auf die Ernennung zu sondieren. Seine eigene Resonanz schilderte Föhr überschwänglicher, als es Orsenigo in seinem Bericht getan hatte. Gröber sei „zweifellos der richtige Mann“, der „in seiner Heimatdiözese Freiburg mit Jubel und Begeiste-
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„… amichevolmente e con una formula non implicante obbligo giuridico, data la necessità per speciali circonstanze di non differire più a lungo la provvista di una Sede arcivescovile tanto importante …“ Orsenigo an Pacelli vom 3. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 65v–66r. Vgl. Föhr, Geschichte, S. 28. 453
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rung aufgenommen würde“1760. Die Regierung „werde sicher gegen die Person Gröbers keinerlei Einwendungen machen und deswegen sicherlich für dieses Mal diese Form der Besetzung ohne Einspruch hinnehmen“1761. Dennoch habe er sich – wie bereits angesprochen – Sorgen gemacht, dass die anderen Parteien mit dem Ende der Sedisvakanz auch die Berechtigung eines neuen Konkordats in Abrede stellen könnten. Zwar lässt sich aus den vatikanischen Akten nicht bestätigen, dass Pacelli Kaas den ausdrücklichen Auftrag gegeben hatte, die Reaktion der badischen Regierung auf die Personalie Gröber in Erfahrung zu bringen. Dennoch ist dies wahrscheinlich, denn obwohl der Papst schon am 30. April zugestimmt hatte, der badischen Regierung die Nomination Gröbers zu kommunizieren, wartete Pacelli mit diesem Schritt bis ihm Orsenigo das Ergebnis des Gesprächs zwischen Kaas und Föhr mitgeteilt hatte. Dies zeigt eindrücklich, wie vorsichtig der Kardinalstaatssekretär vorging, um einerseits die „angedrohte“ Anwendung des ius commune in die Tat umzusetzen und andererseits dadurch den Verhandlungspartner nicht in einer Weise gegen den Heiligen Stuhl aufzubringen, die einen Konkordatsabschluss grundlegend gefährdete. Jetzt konnte er endgültig hoffen, dass die breite Akzeptanz des Kandidaten die staatlichen Widerstände gegen ein einseitig kuriales Vorgehen bremste. Folgerichtig stellte er den Kultusminister am 7. Mai mit dem aus der päpstlichen Audienz hervorgegangenen pastoralen Argument vor vollendete Tatsachen: „Nachdem jetzt eine Reihe von Monaten ohne die Hoffnung auf einen baldigen Konkordatsabschluss verstrichen sind, glaubt der Heilige Vater, die Verantwortung für eine weitere Vakanz auf unbestimmte Zeit nicht mehr tragen zu können.“1762 Daher habe er sich entschlossen, Gröber zum Erzbischof von Freiburg zu ernennen, „der sicher das volle Vertrauen von Regierung und Volk in Baden genießt“1763. Anschließend folgte Pacelli inhaltlich genau der Formel, die Föhr empfohlen hatte: „Der H[eilige] Stuhl hält es für diesen Fall den freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen ihm und dem Lande Baden bestehen, entsprechend, Ihrer verehrten Regierung von seinem Entschluss im voraus vertraulich Kenntnis zu geben, ohne damit in Betracht kommende grundsätzliche Rechtsfragen berühren zu wollen.“1764
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Föhr, Geschichte, S. 28. Föhr, Geschichte, S. 28. Pacelli an Baumgartner vom 7. Mai 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 72r–74r, hier 72r; Ausfertigung auszugsweise abgedruckt bei Föhr, Geschichte, S. 28f. Pacelli an Baumgartner vom 7. Mai 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 74r. Pacelli an Baumgartner vom 7. Mai 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 74r. 454
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Am nächsten Tag erteilte er Orsenigo zum zweiten Mal die Anweisung, den Meißener Oberhirten nach seinem Einverständnis zu befragen.1765 Bereits am darauffolgenden Tag telegraphierte der Nuntius lapidar nach Rom zurück: „Monsignor Gröber accetta.“1766 Dem fügte er die Frage an, ob er auch das Freiburger Metropolitankapitel und den Kapitelsvikar über die päpstliche Nomination informieren sollte. Wieder drei Tage später drahtete er an Pacelli, dass Kaas eine wohlwollende Antwort der badischen Regierung auf die Aktion des Heiligen Stuhls erwarte und daher rate, die Ernennung noch nicht zu veröffentlichen.1767 Drohende Verstimmungen in den badischen Regierungskreisen, falls der Heilige Stuhl ihrer Antwort zuvorkommen sollte, wollte er möglichst vermeiden. Die Antwort erhielt Pacelli unverzüglich in Form eines auf den 13. Mai datierten Schreibens des badischen Staatspräsidenten, Josef Schmitt.1768 Dieser erklärte, dass das badische Staatsministerium den Entschluss des Papstes, Gröber zum Freiburger Erzbischof zu nominieren, zur Kenntnis nehme und insistierte auf Pacellis Zusicherung, dass mit der päpstlichen Einsetzung nicht auf indirektem Wege Rechtsfragen vorentschieden werden sollten. Die Ernennungsanzeige des Kardinalstaatssekretärs, die nur als eine einfache Mitteilung gedacht war, interpretierte Schmitt nun im Rahmen einer politischen Klausel: „Im Hinblick auf die gegenwärtige Lage und im Hinblick auf den in Aussicht genommenen Kandidaten hat das Badische Staatsministerium ‚pro hac vice et sine praeiudicio futuri temporisʻ keine Bedenken.“1769 Wie erwartet akzeptierte man das einseitige Vorgehen Roms, weil Gröber eine persona gratissima war. Schmitt schloss mit der Feststellung, dass die badische Auffassung zur Rechtslage und insbesondere zum Bischofswahlrecht des Domkapitels bestehen bleibe. Nach einer kurzen Absprache mit dem Papst1770 telegraphierte Pacelli dem Berliner Nuntius am 18. Mai, dass die badische Regierung keine Einwände gegen die Ernennung Gröbers vorbringe und es daher „keinen Grund mehr zu geben scheint, die Veröffentlichung zu verzögern“1771. Am 1765
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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 8. Mai 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 71r. Orsenigo an Pacelli vom 9. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 76r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 12. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 77r. Vgl. Schmitt an Pacelli vom 13. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 78r–79r (nur r). Schmitt an Pacelli vom 13. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol.78r. Hervorhebung R.H. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 17. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 345, Fol. 66v. „… sembra non esservi più alcuna ragione per ritardarne pubblicazione.“ Pacelli an Orsenigo vom 18. Mai 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 80bisr. 455
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nächsten Tag erwiderte Orsenigo: „Ich stimme Eurer Ehrwürdigen Eminenz zu.“1772 Noch einmal hatte er eine vergewissernde Rücksprache mit den beiden vertrauten Zentrumspolitikern gehalten: „Föhr befürchtet schädliche Auswirkungen für das Konkordat; Kaas prognostiziert hingegen gegenteilige Konsequenzen. Auch die allgemeine politische Situation rät, schnell vorzugehen.“1773 Das genügte dem Kardinalstaatssekretär. Am Freitag, dem 20. Mai, kündigte er Orsenigo an, die Translation Gröbers am folgenden Montag im „Osservatore Romano“ publizieren zu lassen.1774 Es bleibe dem Nuntius daher noch Zeit, das Metropolitankapitel zu informieren, damit es die Neuigkeit nicht aus der Presse erfahren müsse. Gröber sollte darüber hinaus bis zur Wahl eines Nachfolgers als Apostolischer Administrator von Meißen fungieren. Am nächsten Tag bat Silvani den Sekretär der Konsistorialkongregation, die Ernennungsdokumente anfertigen zu lassen.1775 Damit stand als Datum für die amtliche Nomination der 21. Mai fest.1776 Ebenfalls an diesem Tag informierte der Nuntius Bischof Gröber von der Entscheidung des Papstes. Seinem römischen Vorgesetzten berichtete Orsenigo zeitgleich, dass er auch das Freiburger Domkapitel offiziell über die Ernennung des neuen Erzbischofs in Kenntnis gesetzt habe und zwar so, dass die Nachricht am Montagmorgen – erst abends erschien der „Osservatore Romano“ – ihr Ziel erreichen sollte.1777 Dem Kapitel habe er aufgetragen, so umsichtig zu sein, das Geheimnis bis zur eigentlichen Veröffentlichung zu wahren. Er wisse aber – so Orsenigo weiter –, dass Kapitelsdekan Burger dem Designierten schon einige private ehrerbietige Zeilen geschickt habe, als von der wahrscheinlichen Ernennung Gröbers in der Presse zu lesen war. Auch davon, dass Gröber temporär die Verwaltung des Meißener Bistums weiterführen werde, habe er das Freiburger Kapitel unterrichtet. Gröber selbst sehe darin eine schwere Last, insbesondere wegen der erheblichen Entfernung zwischen Freiburg und Bautzen. Diesen Einwand hatte der neue 1772
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„Convengo con V.E.R.“ Orsenigo an Pacelli vom 19. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 82r. „Foehr teme ripercussioni nocive Concordato; Kaas pronostica invece effetti opposti. Anche situazione politica generale consiglia procedere rapidamente.“ Orsenigo an Pacelli vom 19. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 82r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 20. Mai 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 84r. Vgl. den Entwurf ebd., Fol. 86r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 120 vom 23.–24. Mai 1932. Vgl. Silvani an Rossi vom 21. Mai 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 85r. Noch vor Monatsende gab Benedetto Renzoni, Substitut in der Konsistorialkongregation, Bescheid, dass das Ernennungsdekret Gröbers schon an die Apostolische Kanzlei gesandt worden war, damit diese die dazugehörigen Bullen erstellen konnte. Silvani versicherte, bei der Kanzlei darauf dringen zu wollen, dass die Dokumente so bald wie möglich zur Verfügung stünden. Vgl. Notiz Silvanis vom 28. Mai 932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 87r. Vgl. AAS 24 (1932), S. 238. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 21. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 100r–101r. 456
II.3.4 Freiburg 1931/32
Erzbischof formuliert, als der Nuntius bei ihm um das Einverständnis zur Amtsübernahme nachsuchte. Nach eigenen Angaben hielt Orsenigo entgegen, dass die Sedisvakanz in Meißen sicher nicht lange andauern werde, zumal die Besetzungspraxis dort „ziemlich einfach“1778 sei. Dieser Trost musste Gröber genügen.
Die Resonanz auf die Translation Eine Woche später berichtete Orsenigo über die „sehr gute Aufnahme“1779, welche die Ernennung Gröbers in der katholischen Presse, aber auch im Freiburger Klerus und Volk gefunden habe. Damit bezog er sich vor allem auf einen Artikel der Zentrumszeitung „Germania“ vom Dienstagmorgen, dem 24. Mai, der – wie „ordnungsgemäß vorauszusehen“1780 – als Anstoß für die übrigen Zeitungen fungiert habe. Darin hieß es: „Die Berufung Konrad Gröbers auf den Erzbischofsstuhl in Freiburg kommt nicht unerwartet. Schon die Nachricht, die wir vor einigen Wochen hier veröffentlichen konnten, daß der jetzige Bischof von Meißen zum Nachfolger des verstorbenen Erzbischofs Dr. Karl Fritz ausersehen sei, hatte in der oberrheinischen Kirchenprovinz große Hoffnungen und allgemeine freudige Zustimmung erweckt … Im badischen Land darf man sich freuen. Der Heilige Stuhl hat eine hervorragende Wahl getroffen, denn hier kehrt nicht nur ein mit den seelsorglichen und organisatorischen Verhältnissen von Grund aus vertrauter Bischof in seine Heimat zurück. Mit ihm gehen vielmehr die reichen vielfach auch harten Erfahrungen, die der Diasporabischof Gröber im Meißener Lande gesammelt hat. Sie werden dem Leiter des Erzbistums Freiburg und der oberrheinischen Kirchenprovinz eine der wertvollsten Gaben für seine neue, noch größere Verantwortung sein.“1781
Der Verfasser sparte die Frage nach dem Besetzungsmodus gänzlich aus, was Orsenigo gewiss nicht ungern zur Kenntnis nahm. Bislang war er nicht sicher gewesen, ob von irgendeiner der Kirche grundsätzlich wohlgesonnenen Seite das Kompetenzthema angesprochen und die autonome 1778
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„… piuttosto semplice.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 100v. Da keine staatskirchenrechtliche Abmachung mit Sachsen existierte, erfolgte die Besetzung nach den Normen des CIC und war daher nach Orsenigos Ansicht unproblematisch. Der Nuntius stellte an dieser Stelle bereits Überlegungen für die Nachfolge Gröbers in Meißen an. Vgl. dazu Bd. 4, Kap. II.4.3 (Die Suche nach dem neuen Oberhirten: Pacellis Kandidatentrias und die Entscheidung für Petrus Legge). „… unʼottima accoglienza …“ Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 88r–89r, hier 88r. „… debitamente previsto …“ Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 88r. „Gröber zum Erzbischof von Freiburg ernannt“, in: „Germania“ Nr. 144 vom 25. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 90r. 457
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päpstliche Einsetzung kritisiert werden würde. Die „gute Aufnahme“ Gröbers belegte Orsenigo außerdem mit einem Schreiben Burgers, das die Ernennungsanzeige des Nuntius beantwortete. Trotz der zeitlichen Planung des Nuntius hatte Burger die Notifikation erst später erhalten, weil er zum entsprechenden Zeitpunkt auf Firmreise war. Daher konnte er die Domkapitulare auch erst verspätet über die offizielle Mitteilung unterrichten, sodass diese von der Nomination dann doch aus der Presse erfuhren. Ungeachtet dessen bedankte sich der Domdekan „für die freundliche Bekanntmachung“ und freute sich, „versichern zu können, dass die Wahl Seiner Heiligkeit auf einen Bischof gefallen ist, der, gebürtig aus der Erzdiözese Freiburg, sowohl beim Klerus als auch beim Volk hoch geachtet ist“1782. Angesichts dieser positiven Äußerung glaubte Orsenigo, dass das Kapitel keinerlei Widerstand leiste, „nicht einmal gegen die Form“1783. Auch Sester telegraphierte schließlich seine Glückwünsche zur Kandidatenwahl an die Berliner Nuntiatur, nachdem er am 24. Mai die Nomination in der Presse gelesen hatte. Nach seiner gescheiterten Intrige konnte dies allerdings nicht mehr als ein durchschaubarer Höflichkeitsakt sein. Orsenigo ergänzte für Pacelli abschließend ohne detaillierte Angaben, dass auch einige Mitglieder der badischen Regierung ihre Glückwünsche geäußert hätten. Der Kardinalstaatssekretär freute sich über die zufriedenstellende Resonanz und leitete sie an den Papst weiter.1784 Das vom Nuntius überaus positiv gezeichnete Bild der innerkirchlichen Reaktionen auf die Einsetzung Gröbers war jedoch fragmentarisch. Es meldeten sich nämlich auch ablehnende Stimmen – über die des Kapitelsvikars hinaus – zu Wort, wie insbesondere die der ehemaligen Karlsruher Mitkapläne Gröbers: des angesehenen Karlsruher Stadtpfarrers August Stumpf, des Geistlichen Rats und Konstanzer Münsterpfarrers Ernst Kuenzer und des geistlichen Schriftstellers Heinrich Mohr.1785 Entweder hatte der Nuntius davon keine Kenntnis oder er wollte darüber nicht nach Rom berichten. Immerhin verschwieg er die mitunter harsche Kritik am römischen Vorgehen beziehungsweise an der Person Gröbers aus dem außerkirchlichen Lager nicht:
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Vgl.: „Mi onoro di ringraziare Vostra Eccellenza per la cortese notificazione e godo poterla assicurare che la scelta di Sua Santità è caduta su di un Vescovo, che, originario dalla Archidiocesi di Friburgo, è altamente stimato sia dal Clero che dal popolo.“ Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 88v. „… neppure di forma …“ Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 88v. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 1. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 91r. Vgl. Keller, Gröber, S. 130; Schmider, Bischöfe, S. 147; Schwalbach, Erzbischof (1986), S. 91. Dass Gröber Sester nicht wieder zum Generalvikar ernannte, ist logisch. Ihm wies er nur den Posten des Kanzleidirektors zu. Zum neuen Generalvikar machte er Domkapitular Adolf Rösch. Weihbischof Burger hatte Gröber schon nach den ersten Pressemitteilungen im April zur Translation gratuliert. In seiner Antwort spielte Gröber auf die Intrige des Kapitularvikars an: „Ich kann es dem Papier nicht anvertrauen, was man von einer gewissen Seite schon gegen mich unternommen hat. Auch das wird zu Ende 458
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„Es fehlten in diesen Tage keine Versuche von Seiten gegenüber der Kirche notorisch feindlichen Zeitungen, die bekannte Frage des traditionellen Rechts der Kapitelswahl hervorzuheben, das jetzt vom Heiligen Stuhl unrechtmäßig aberkannt worden sei, indem man auch die Apostolische Bulle ‚Ad dominici gregis custodiamʻ mit der anderen vorangegangenen ‚Provida solersqueʻ zu verbinden sucht, um daraus den Wegfall der Verpflichtung abzuleiten, der vereinbarten Dotation der Diözese zu entsprechen.“1786
Nach dieser Ansicht brauchte sich der Staat an die Bestimmungen von Provida solersque, in der er sich zu finanziellen Leistungen an die Kirche verpflichtet hatte, nicht mehr zu halten, weil die Kirche sich ihrerseits nicht an das in Ad dominici gregis verbürgte Kapitelswahlrecht gehalten hatte. Einen „Kampf zwischen Kurie und Domkapitel“ diagnostizierte ein Artikel der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. Juni, den Orsenigo nach Rom sandte. Durch die Ernennung sei „ein stiller Kampf, der in den letzten Monaten zwischen Domkapitel, dem badischen Zentrum und der badischen Regierung auf der einen, der Kurie auf der anderen Seite geführt worden war, zunächst einmal zwangsmäßig zugunsten der Kurie entschieden worden; die Kurie hat mit einem Federstrich eine vollendete Tatsache geschaffen, die von den badischen Instanzen hingenommen, die aber vermutlich nicht ohne Konsequenzen von dieser Seite bleiben wird. … Als hier der Erzbischof Fritz im vergangenen Dezember starb, wollte sich die Kurie offenbar gegen eine Wiederholung der mit Württemberg gemachten Erfahrung sichern, indem sie das vorherige Zustandekommen eines Konkordats zur Voraussetzung der Wahl des Bischofs durch das Domkapitel machte.1787 Es sah damals so aus, als werde die Frage der Neubesetzung des Bischofsstuhls tatsächlich den beschleunigten Abschluss eines Konkordats mit Baden bewerkstelligen. Die Verhandlungen verzögerten sich dann aber besonders deshalb, weil die Kurie ein Konkordat erstrebte, das über das preußische Vorbild beträchtlich hinausging … Auf diese Verzögerung reagierte dann der Staatssekretär Pacelli mit der einseitigen Ernennung des Bischofs Gröber; er vollzog die Ernennung mit einer Plötzlichkeit, die nicht gerade von übermäßigem Respekt vor der Bedeutung des Landes Baden zeugt.“1788
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gehen.“ Gröber an Burger vom 21. April 1932, zitiert nach ebd., S. 210 Anm. 301. Das erhoffte Ende des Widerstands kam jedoch zunächst nicht. Sester und Mohr kollaborierten in den folgenden Jahren sogar mit dem NS-Regime, um Erzbischof Gröber zu stürzen. Vgl. dazu ebd., S. 90–104; Keller, Gröber, S. 131–133. „Non è mancato in questi giorni qualche tentativo, da parte di giornali notoriamente ostili alla Chiesa, di sollevare la nota questione del diritto tradizionale del Capitolo alla nomina, ora ingiustamente disconosciuto dalla Santa Sede, cercando anche di collegare la Bolla Apostolica ‚Ad dominici gregis custodiamʻ con lʼaltra precedente ‚Provida solersqueʻ, per dedurne il cessato obbligo di corrispondere la dotazione convenuta alla diocesi.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931– 1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 102v. Tatsächlich hatte Pacelli dem Rottenburger Domkapitel 1926/27 das Bischofswahlrecht in der Hoffnung eingeräumt, die Bereitschaft des Landes Württemberg für Konkordatsverhandlungen zu fördern, was aber misslang. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.3.3 (Quid pro quo: der Tausch von Kapitelswahlrecht gegen staatliche Verhandlungsbereitschaft). „Um den Erzbischof von Freiburg. Der Kampf zwischen Kurie und Domkapitel. – Rückwirkungen auf das Konkordat“, in: „Frankfurter Zeitung“ Nr. 410 vom 4. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 104r. 459
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Außerdem sei das kuriale Vorgehen innerhalb des badischen Katholizismus in Wahrheit „mit recht gemischten Gefühlen aufgenommen worden“1789, was allerdings nicht so recht nach außen dringe. Diese fundamentale Kritik relativierte Orsenigo mit einem seiner Ansicht nach gewichtigen Artikel des Ministerialdirektors Franz Schmidt aus Karlsruhe, der am 19. des Monats in der „Kölnischen Volkszeitung“ erschienen war.1790 Dieser stelle einerseits „die Rechtmäßigkeit und das gute Recht des Heiligen Stuhls“1791, den Erzbischof zu ernennen, klar heraus.1792 Andererseits betone er, dass der Staat nach wie vor verpflichtet sei, die Erzdiözese finanziell auszustatten. Es sei zu hoffen – so der Nuntius –, dass diese Klarstellung auch „einen wohltuenden Einfluss“1793 auf die anderen beiden Diözesen der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Mainz und Rottenburg, ausübe, die sich in einer ähnlichen Situation wie Freiburg befänden. Einige Zeit später wurde schließlich noch eine ausgesprochen polemische und heftige Kritik sowohl an der Person Gröbers als auch am Besetzungsmodus geübt, die gleichwohl aus dem innerkirchlichen Lager stammte. Kurt Leopold Grünkorn, ein katholischer Laie aus Freiburg, sandte dem neuen Erzbischof am 6. Juli ein Pamphlet, das sogar den Weg auf den Schreibtisch des Kardi-
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„Um den Erzbischof von Freiburg. Der Kampf zwischen Kurie und Domkapitel. – Rückwirkungen auf das Konkordat“, in: „Frankfurter Zeitung“ Nr. 410 vom 4. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 104r. Vgl. Schmidt, „Baden und sein neuer Erzbischof. Die Frage seiner Ernennung und das neue Konkordat“, in: „Kölnische Volkszeitung“ Nr. 169 vom 19. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. [ohne Nummer]. „… la correttezza e il buon diritto della Santa Sede …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 102v–103r. Vgl.: „Die Absicht der [badischen, R.H.] Verfassung geht sonach dahin, jegliches Eingreifen des Staates in die Besetzung der Kirchenämter für die Zukunft auszuschließen. Die Besetzung dieser Ämter sollte lediglich Sache der Kirche sein. Die für die katholische Kirche in dieser Beziehung ausschließlich zuständige Instanz aber ist der Papst. Lediglich seiner Entscheidung untersteht es, ob und welchen untergeordneten Behörden er eine Mitwirkung einräumen will.“ Schmidt, „Baden und sein neuer Erzbischof. Die Frage seiner Ernennung und das neue Konkordat“, in: „Kölnische Volkszeitung“ Nr. 169 vom 19. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. [ohne Nummer]. Klaus Mörsdorf als strenger Verfechter des Vertragscharakters der Zirkumskriptionsbullen des 19. Jahrhunderts kritisierte Schmidts Artikel als „völlig unhaltbaren Rechtfertigungsversuch“ des kurialen Vorgehens. Schmidt sei der Ansicht, dass Ad dominici gregis kein zweiseitiger Vertrag, sondern eine einseitige, vom Staat angenommene Kundgebung des Heiligen Stuhls gewesen sei. Aus diesem Grund sowie den kirchlichen Autonomiebestimmungen der WRV beziehungsweise der badischen Verfassung erkläre Schmidt das Erzbischofswahlrecht unrechtmäßigerweise für erloschen. Vgl. Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 144f. Anm. 526, hier 144. „… unʼinfluenza benefica …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 103r. 460
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nalstaatssekretärs fand.1794 Grünkorn unterstellte Gröber ein radikales Karrierestreben, zunächst zu seiner Zeit als Pfarrer von Konstanz bevor er die vakante Domherrenstelle bekam, sodann bei der jetzigen Vergabe des Freiburger Erzbischofsstuhls: „Im Innern jubelten Sie! Keine Pensionierung mehr! Stadtluft-Domherr-Einkommen alles keine unwesentlichen Dinge. Erzbischof Fritz hat Sie nicht berufen! … Das Domkapitel hatte gerade Wahlrecht! Hätte es jetzt bei der Bischofswahl das Wahlrecht gehabt – auf Ihren Namen wäre es bestimmt nicht gefallen!“1795 Der Verfasser paarte diesen Vorwurf mit einer negativen Wertung über Gröbers Ausbildung im römischen Germanicum, die ihm neben seiner „Bauernschlauheit“ auch noch die „Jesuitenschlauheit“1796 eingebracht habe. So vermöge er öffentlich aufzutreten und auf sich aufmerksam zu machen – „Stille opfervolle Arbeit liegt Ihnen nicht“1797 –, freilich häufig mit dem Mittel der Täuschung. Hier klang eine grundsätzliche Kritik an der kurialen Politik an: „Sie wissen, Exzellenz, dass Rom gegenwärtig auf den Bischofsstühlen nur Germaniker haben will. Die Jesuiten spielen ja bei dem jetzigen Papste eine unheilvolle Rolle. Die Germaniker als Bischöfe sollen die Konkordate abschließen und alles Recht, z[um] B[eispiel] die Ernennung der Bischöfe, der Domherren, ja sogar der Theologie-Professoren an den Universitäten, an Rom ausliefern.“1798
Von Gröber verlangte Grünkorn, nicht noch mehr Rechte Rom zu übereignen und weitere Zentralisierungen nicht zu dulden. Er unterstellte ihm außerdem, das Diasporabistum Meißen im Stich zu lassen, weil er seinen eigenen Vorteil suche: „Man weiß auch, dass man Sie nicht hätte zwingen können, das Bistum Meißen zu verlassen. Wenn Ihr Herz, wie Sie [sc. bei den Inthronisationsfeierlichkeiten, R.H.] sagten, brannte wegen der Not der armen Diasporakatholiken. Exzellenz – wenn dies Brennen echt war, dann hätten Sie die arme Braut nicht verlassen dürfen, wenn eine schöne Breisgau-Braut Ihnen winkte! Sie hätten als echter Nachfolger der Apostel bei den Lieblingen Gottes, bei den Armen in der Diaspora bleiben müssen. … Exzellenz, es war nicht klug zu sagen: ‚Die Weisheit des Heiligen Vaters hat mich Unwürdiger auf den Erzstuhl von Freiburg berufen.ʻ Wenn eine 1794
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Vgl. Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 109r–113r (nur r). Wie Pacelli das Schriftstück erhielt, ob Gröber es auf direktem Wege oder über die Nuntiatur verschickte, und mit welcher Absicht er das tat, geht aus den vatikanischen Quellen nicht hervor. Gleiches gilt für die Reaktion des Staatssekretärs. Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 109r. Hervorhebungen im Original. Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 110r. Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 110r. Hervorhebung im Original. Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 110r. Hervorhebungen im Original. Dabei sei insbesondere Kaas der verlängerte römische Arm in Deutschland. 461
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Weisheit einen Unwürdigen beruft, dann ist es eben keine Weisheit mehr. Vielmehr wollten Sie damit sagen ‚Der Heilige Vater hätte keinen bessern als mich berufen können.ʻ“1799
Nicht nur versuche er erfolglos, Pacellis erhabenen Habitus zu imitieren,1800 vielmehr lebe er als Erzbischof in reichsten Verhältnissen, während der durchschnittliche Klerus verarmt sei. Mit dem warnenden Appell, sich nicht von dem allseitigen Zuspruch täuschen zu lassen, beschloss Grünkorn sein Schreiben, mit dem er seiner Verbitterung über die Person des neuen Erzbischofs und die Art seiner Einsetzung Luft gemacht hatte. Spätestens jetzt konnte man also auch in der Kurie die ambivalente Aufnahme ihrer Bischofspolitik nicht mehr übersehen.
Gröbers Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und seine Einsetzung in Freiburg Noch Ende Mai sandte der neue Erzbischof zwei Dankes- und Ehrerbietungsschreiben an das Staatssekretariat. Das eine war für Pius XI. bestimmt, das andere für Pacelli. Dem Papst bekannte Gröber drei Gefühlsregungen, die ihm bei seiner Translation erfüllten: Schmerz, weil er die Diözese Meißen verlassen müsse, die er trotz der schwierigen Diasporasituation lieb gewonnen habe; Vertrauen, weil er den erzbischöflichen Thron Freiburgs nicht angestrebt habe, sondern im Gehorsam gegenüber dem Papst und mit seinem Segen das Amt antrete; schließlich Freude, weil er in sein Heimatland zurückkehre, in dem er dreißig Jahre gearbeitet habe und das er sehr gut kenne.1801 Er habe aus dem Klerus, von den Regierenden und aus allen Volksschichten Briefe be-
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Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 110r–111r. Hervorhebungen im Original. Vgl.: „Pacelli haben Sie begleitet als er in Freiburg war. Dieser römische Diplomat u[nd] Grandseigneur – wenn der sich huldvollst zum Volke herniederneigt, dann ist es eben Pacelli – wenn aber ein anderer dieses nachmachen will, dann ist es eben Bluff. Briefträger auf dem Münsterplatz huldvollst begrüßen – Dienstmänner am Bahnhof kollegial zuwinken – während des Segens huldvollst lächeln, um die Volksgunst zu erhaschen – das täte Pacelli nicht!“ Grünkorn an Gröber vom 6. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 112r. Hervorhebungen im Original. Vgl. „Dolore, quia dioecesis Misnensis est relinquenda, paupercula quidem et difficilis, sed facta mihi cara, quia devota Sanctae Sedi et in medio haereticorum et infidelium catholicae ecclesiae deditissima. Fiducia, cum archiepiscopatum Friburgensem non ambitiose quaesivi, sed ex debita oboedientia versus mittentem me Patrem omnium christianorum gratiam et benedictionem coelestem laetanter expecto. … Gaudeo denique ex corde, quia missus sum a Summo Pastore ex terra aliena, quamvis mihi facta in Christo patria, in terram naturaliter paternam, in qua triginta annos laboravi, in educandis juvenibus, in parochiis administrandis et in consilio clarissimi et prudentissimi archiepiscopi Caroli p.m. Est ergo terra mihi undique cognita, quae exonerat laborem, etsi nullus propheta in patria.“ Gröber an Pius XI. vom 29. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 92r–94r (nur r), hier 92r–93r. Hervorhebungen im Original. 462
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kommen, die ihm zeigten, dass er von den meisten als neuer Oberhirte gewünscht sei. Anschließend legte er sein Amtsverständnis dar: „Die Sendung des Heiligen Vaters und das Vertrauen der Christen verpflichten mein Gewissen, dass ich dem Heiligen Stuhl und der Stadt, der Mutter aller christlichen Städte, die mich selbst zum Priester gebar, dankbar und ergeben bin, und dass ich im Apostolat arbeite wie ein guter Krieger Christi. Auch die Stunde, in welcher Eure Heiligkeit mich in die Heimat schickte, drängt mich Schwachen, dass ich die schwachen Menschen unablässig sammle und ganz und gar zubringe, die Seelen zu suchen, zu lehren, zu trösten und in Christus und in der Kirche zu retten. Das Leben hat mich gelehrt, dass nicht ein ehrenvolles Amt den Menschen ehrt, sondern die Mühen. Christus hat es mich gelehrt, der nicht zugelassen hat, dass die Mühseligen außerhalb des Weges ihr Leben als ein verdienstvolles Leben zurückgeben, sondern der auf dem steilen Weg des Kreuzes gelitten hat. Die Göttliche Demut hat mich gelehrt, dass ich ein unnützer Knecht bin, wenn ich auch alles machte.“1802
Ganz ähnlich äußerte sich Gröber auch gegenüber Pacelli, dem er sich „in inniger Dankbarkeit und höchster Verehrung verpflichtet“1803 fühlte. Ihm versprach er, sein Amt treu und hingebungsvoll auszuüben sowie seine „Herde durch Glauben und Liebe in Treue mit dem h[eiligen] Vater zu verbinden, der der Stellvertreter des göttlichen Guten Hirten auf Erden ist“1804. Den beiden Adressaten gefiel die von Gröber stark betonte Anhänglichkeit an den vicarius Christi genauso sehr wie dessen freundliche Aufnahme in Freiburg, wie Pacelli einige Tage später erwiderte.1805
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„Missio Beatissimi Patris et fiducia populi christiani conscientiam meam obligant, ut sim gratus et addictissimus Sanctae Sedi et Urbi, omnium urbium christianarum matri, quae me ipsum genuit sacerdotes [sic, R.H.], et ut laborem in apostolatu sicut bonus miles Christi. Hora etiam, in qua Beatitudo Vestra me misit in patriam, senescentem me compellit, ut debiles vires assidue colligam et prorsus consumam in animabus quaerendis, docendis, confortandis et in Christo et ecclesia salvandis. Docuit me vita, non ministerium honoratum hominem honorare sed labores. Docuit me Christus non passus operosos praeter viam reddituros esse vitam meritoriam, sed passus in ardua via crucis. Docuit me Divina Humilitas inutilem servum me esse, etsi omnia fecerim.“ Gröber an Pius XI. vom 29. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 93r. Seine Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl bekräftigte Gröber noch einmal am Ende seines Schreibens: „Da mihi, Beatissime Pater, benedictionem benignam et copiosam, ut, quod recte volo, gratia perficiam, quod promitto, fideliter observem, quod verbis doceo, apostolica vita illustrem et quod scripsi in stemmate meo, in opere demonstrem: Quos Fides adunat, Fides conservat! fides [sic, R.H.] illa catholica, quae in Sede Apostolica semper et sancte est conservata, intrepide pronunciata et definita sine errore.“ Ebd., Fol. 93r–94r. Gröber an Pacelli vom 29. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 95rv, hier 95v. Gröber an Pacelli vom 29. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 95v. Vgl.: „Eadem epistola, tua cum Petri Sede arcta coniunctio incensumque, quo flagras, studium pro novo tibi grege commisso toto opere temet dicandi Sanctitati Suae liquido patuit atque id cognovisse pergratum fuit. Nec minus iucundidatis Eidem indidit quod ibidem renuntias, scilicet Magistratus populumque 463
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Am 20. Juni wurde Gröber in Freiburg inthronisiert.1806 Orsenigo berichtete am Folgetag, dass sich dem Einzug des neuen Erzbischofs nicht „das geringste Hindernis“ entgegengestellt habe, sondern die Feierlichkeiten „zwischen dem Jubel des Volkes und dem Enthusiasmus des Klerus“1807 stattgefunden hätten. Anwesend waren neben anderen Staatsvertretern auch Staatspräsident Schmitt und Kultusminister Baumgartner. Vollauf zufrieden war der Nuntius zudem mit der Konsistorialkongregation, die – „dem weisen Rat“ Pacellis folgend – die Ernennungsbullen mit einer Geschwindigkeit geschrieben und übersandt habe, die „allen Lobes würdig“1808 sei. Schon am 3. des Monats habe Gröber die Dokumente erhalten.1809 Am 8. Juni habe er sie dem erzbischöflichen Domkapitel vorgelegt und damit vom Erzbistum Besitz ergriffen. Am darauffolgenden Tag habe er schließlich bei der badischen Regierung in Karlsruhe vorgesprochen, „empfangen mit allen Ehren und mit aller Hochachtung“1810. Die Inthronisation bildete daraufhin den – von römischer Seite als gelungen bewerteten – Abschluss des Besetzungsverfahrens und das endgültige Ende der Sedisvakanz.1811
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Friburgenses unanimi plausu et consentione ad id muneris te elatum esse percepisse.“ Pacelli an Gröber vom 10. Juni 1932 (Reinschrift des Entwurfs), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 97r–98r (nur r), hier 97r–98r. Vgl. „Die Inthronisation des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs“, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 17 vom 25. Juni 1932. „… il minimo ostacolo … fra il giubilo del popolo, e lʼentusiasmo del clero.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 102r–103r, hier 102r und 102v. Vgl.: „La Sacra Congregazione Concistoriale, seguendo il provvido consiglio di Vostra Eminenza, inviò le Bolle Apostoliche di nomina con una sollecitudine degna dʼogni encomio.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 102r. Die Ernennungsbulle wurde schließlich Ende Juni im Diözesanamtsblatt publiziert. Vgl. Ernennungsbulle Gröbers vom 21. Mai 1932, in: Anzeigeblatt für die Erzdiözese Freiburg Nr. 17 vom 25. Juni 1932. „… accolto con tutti gli onori e con ogni deferenza …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 102v. Orsenigo machte darauf aufmerksam, dass noch die Ernennungsurkunde Gröbers zum Administrator von Meißen fehlte. Obwohl Silvani Kardinal Rossi am 21. Mai darauf hingewiesen hatte, dass die zwischenzeitliche Administration in Gröbers Händen bleiben sollte, hatte man versäumt, das Dokument auszustellen. Daher hakte der Sekretär der AES Ende Juni beim Assessor der Konsistorialkongregation diesbezüglich nach. Vgl. Pizzardo an Santoro vom 26. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 106rv. Darüber unterrichtete Pacelli den Berliner Nuntius am gleichen Tag. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 26. Juni 1932 (Entwurf), ebd., Fol. 107r. Santoro entschuldigte sich wenig später bei Pizzardo mit dem Hinweis, dass man die Mitteilung am 21. Mai nur als eine eben solche und nicht als eine Aufforderung verstanden habe, das Dokument zu erstellen. Nach der Anfrage des Sekretärs der AES war man aber sofort an die Arbeit gegangen. Vgl. Santoro an Pizzardo vom 30. Juni 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1932–1939, Pos. 628 P.O., Fasz. 146, Fol. 7r. Am 9. 464
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Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen Obwohl mit dem Ende der Sedisvakanz die unmittelbare Triebfeder für die Konkordatsverhandlungen weggefallen war, wurden diese von beiden Seiten zu Ende geführt.1812 Am 12. Oktober 1932 unterzeichneten Pacelli und Baumgartner den neuen badischen Staatskirchenvertrag im Kloster Hegne bei Konstanz.1813 An dieser Stelle bleibt noch ein Blick auf die Genese des Artikels III über den Modus zur Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls zu werfen.1814 Der „Zentrumsentwurf I“, bei dem Baumgartner federführend war und den auch Erzbischof Fritz durchgesehen hatte, wurde um die Jahreswende 1929/30 in einer vom Domkapitel und den Parteiführern überarbeiteten Fassung – dem „Zentrumsentwurf II“ – nach Rom übermittelt. Der Besetzungsartikel lautete wie folgt: „Nach Erledigung des Erzbischöflichen Stuhles reicht das Domkapitel dem Heiligen Stuhl eine Liste kanonisch geeigneter Kandidaten ein. Unter Würdigung dieser Liste benennt der Heilige Stuhl dem Domkapitel drei, aus denen es in freier geheimer Abstimmung den Erzbischof zu wählen hat. Unter den drei Kandidaten muss mindestens ein Badener sein. Bei
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Juli übersandte Santoro das Dekret schließlich an Orsenigo, der es an Gröber weitergab. Vgl. Santoro an Pizzardo vom 9. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 108r. Einige Wochen später wurde es im Kirchlichen Amtsblatt für das Bistum Meißen abgedruckt. Vgl. Ernennungsdekret Gröbers vom 21. Mai 1932, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Meißen Nr. 7 vom 27. Juli 1932. Dass SPD und DVP nach dem Ende der Sedisvakanz zunächst drohten, das Interesse an einem Konkordat zu verlieren oder zumindest nicht mehr so leicht zu Konzessionen an den Heiligen Stuhl bereit waren, ist nicht überraschend. Föhr erläuterte Pacelli diese Situation. Vgl. Föhr an Pacelli vom 25. Mai 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 10rv; Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 256f. (Nr. 28). Pacelli hingegen verteidigte sein Vorgehen kurz darauf nachdrücklich, indem er vor allem bemerkte, dem Kultusminister nicht weniger als dreimal einen zügigen Verhandlungsabschluss angeboten zu haben, der durch mündliche Verhandlungen in Rom leicht zu erreichen gewesen sei. Er fügte hinzu, dass Gröber erst nach Verständigung mit der Regierung ernannt worden sei, die keine Bedenken geäußert habe. Dieses Argument war korrekt, aber insofern interessant, als dass Pacelli dem badischen Staat zunächst gar kein Bedenkenrecht eingeräumt hatte. Schließlich – so Pacelli – müsse die Besetzung nicht Hemmnis, sondern vielmehr Ansporn für die staatliche Seite sein, die staatskirchenrechtliche Materie endlich verbindlich zu regeln. Vgl. Pacelli an Föhr vom 31. Mai 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 11rv; Ausfertigung abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 257 (Nr. 29). Vgl. Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Baden vom 12. Oktober 1932, abgedruckt bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 354–360 (Nr. 193) sowie das Schlussprotokoll ebd., S. 359f. (Nr. 194). Die folgende Darstellung orientiert sich neben den vatikanischen Quellen im Wesentlichen an Plück, Konkordat. 465
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der Aufstellung der Kandidatenliste und bei der Wahl wirken die ehrenamtlichen Kapitulare gleichberechtigt neben den residierenden Kapitularen mit.“1815
Man hatte demnach das Preußenkonkordat als Vorlage benutzt, wobei hier anders als dort nur eine einzige Vorschlagsliste, die des Freiburger Metropolitankapitels, vorgesehen war. Im „Zentrumsentwurf I“ hatte es noch geheißen, dass der Heilige Stuhl „aus dieser Liste“ drei Namen benennen müsse. Aber wohl in dem Bewusstsein, dass Rom sich niemals darauf einlassen würde, war man in der zweiten Fassung wieder zur preußischen Variante, „unter Würdigung dieser Liste“, zurückgekehrt. Dafür enthielt sie eine Sonderbestimmung, die an die Regelung in Ad dominici gregis1816 erinnerte: „Unter den drei Kandidaten [sc. auf der römischen Terna, R.H.] muß mindestens ein Badener sein“. Eine politische Klausel kannte der Text noch nicht. Über Kaas sandte der Kardinalstaatssekretär seine Anmerkungen zu diesem Entwurf am 8. März 1930 an Föhr.1817 Dabei war ihm das Bischofswahlrecht des Metropolitankapitels grundsätzlich kein Stein des Anstoßes. Stattdessen müsse jedoch – so Kaas – unbedingt die Einengung der römischen Kandidatentrias mit mindestens einem badischen Kandidaten entfallen. Zwar werde Rom faktisch danach handeln, doch formell dürfe dies nicht festgelegt werden. Der „Zentrumsentwurf III“, den Staatspräsident Schmitt am 16. Mai Kultusminister Adam Remmele vorlegte, entsprach diesem Anliegen jedoch nicht: Aus der Bestimmung, dass die römische Liste mindestens „einen Badener“ enthalten musste, wurde ein „Angehöriger der Erzdiözese Freiburg“. In dem genannten Schreiben fuhr Kaas fort, dass Pacelli „angesichts der Kleinheit des Badischen Staates und mit Rücksicht auf den Metropolitancharakter des dortigen Bistums“1818 außerdem verlange, dass auch die Suffraganbischöfe in Rottenburg und Mainz beteiligt würden. Diese sollten also ebenfalls Kandidatenlisten einreichen, was verständlicherweise – wie Pacelli und Kaas genau wussten – im Freiburger Domkapitel nicht gern gesehen wurde. Die Intention des Kardinalstaatssekretärs war klar: Eine Erweiterung des Kandidatenpools und vor allem die Schaffung einer Intransparenz, sodass keine der drei Vorschlagsinstanzen überprüfen konnte, ob die Geistlichen der römischen Terna tatsächlich vorgeschlagen worden oder nicht vielmehr ein rein kuriales Produkt waren. Dies musste die Freiheit des Heiligen Stuhls in der Aufstellung der Dreierliste beträchtlich erhöhen. Doch auch diese Forderung nahm der dritte Zentrumsentwurf nicht auf, sondern beließ es
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1816 1817 1818
Zentrumsentwurf II, Art. III, zitiert nach Plück, Konkordat, S. [Anhang]. In Art. II, Abs. 4 legte das Konkordat die Zahl der residierenden Domherren auf sieben fest (in zwischenzeitlichen Entwürfen bestand es aus einem Domdekan und sechs Domkapitularen, in der Endfassung aus beiden Dignitäten der Propstei und des Dekanats plus fünf weiteren residierenden Kapitularen). Vier Ehrendomherren sollten den Wahlkörper vergrößern. Vgl. dazu oben Bd. 3, Kap. II.3.4 (Die Beurteilung der Position Baumgartners durch Kapitelsvikar Sester). Vgl. Kaas an Föhr vom 8. März 1930, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 219f. (Nr. 6). Kaas an Föhr vom 8. März 1930, Plück, Konkordat, S. 219. 466
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abgesehen von der genannten Änderung bei der Formel des Entwurfs II. Die dritte Version lag bis zum Oktober 1930 undiskutiert beim Kultusminister. Unterdessen legte Pacelli bei einer Besprechung mit Baumgartner – damals noch Landtagspräsident – am 8. Oktober in Rorschach seine Prioritäten hinsichtlich der Konkordatsmaterie offen, wie Susanne Plück zusammenfasst: „Als conditio sine qua non und Mindestforderung Roms bezeichnete er die Gewährleistung des katholischen Religionsunterrichts in allen öffentlichen Schulen und die Garantie der staatlichen Dotation im bisherigen Umfange; die Bestimmungen der Erzbischofswahl und der Besetzung der Kanonikate dürften sich im Vergleich zum bisher gültigen Recht nicht verschlechtern.“1819
Die Frage nach dem Bischofswahlrecht der Domherren spielte gegenüber den Themen Schule und Dotation eine klar untergeordnete Rolle. Unter den status quo der Erzbischofswahl, der sich nicht verschlechtern durfte, subsumierte Pacelli gewiss nicht das nach den politischen Umwälzungen völlig abwegige staatliche ius exclusivae, das Ad dominici gregis verbürgt hatte und von dem die Regierung bereits „freiwillig“ Abstand genommen hatte. Doch auch seinen abgeschwächten „Nachfolger“, das politische Bedenkenrecht, wollte der Kardinalstaatssekretär laut einer Rorschacher Gesprächsaufzeichnung des Freiburger Domcustos, Anton Retzbach, vom 16. Oktober des Jahres nicht zugestehen.1820 Dies überrascht, zumal der Heilige Stuhl in sämtlichen Nachkriegskonkordaten dem Staat eine politische Klausel zugestand, selbst in Pacellis „Idealvertrag“ mit Bayern.1821 Wahrscheinlich intendierte Pacelli, die Klausel als Verhandlungsmasse einzusetzen und nahm daher in diesem Punkt zunächst eine ablehnende Haltung ein. In enger Anlehnung an das Preußenkonkordat fertigte Kultusminister Remmele einen eigenen Entwurf an, den „Remmele-Entwurf I“ vom 20. Oktober 1930, der hinsichtlich des Artikels III mit dem „Zentrumsentwurf III“ identisch war. Neu fügte er aber die politische Klausel in der Formulierung des preußischen Konkordats hinzu: „Der Heilige Stuhl wird zum Erzbischof niemand bestellen, von dem nicht das Domkapitel nach der Wahl durch Anfrage bei der Badischen Staatsregierung festgestellt hat, daß Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen.“1822 Obwohl sich Erzbischof Fritz und mit ihm die Zentrumsfraktion im Folgenden gegen diese Formel aussprachen, weil sie ihrer Meinung nach mit der verfassungsmäßig gesicherten Autonomie der Kirche in der Ämterbesetzung kollidierte, behielt der „Remmele-Entwurf II“ vom 7. Februar 1931
1819 1820 1821 1822
Plück, Konkordat, S. 62. Vgl. Protokoll Retzbachs vom 16. Oktober 1930, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 221f. (Nr. 8). Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 (Ergebnis Nr. 3). Remmele-Entwurf I, Art. III, Abs. 1, Satz 4, zitiert nach Plück, Konkordat, S. [Anhang]. 467
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die Klausel bei.1823 Dramatischer war jedoch, dass Bestimmungen über den Religionsunterricht in den Vorlagen des Kultusministers fehlten, die für Pacelli „unerläßliche Bedingung“1824 waren, um überhaupt ernsthafte Verhandlungen zu führen. Nachdem Baumgartner das Kultusministerium übernommen hatte, legte er einen Entwurf vor, der auf den 11. Februar 1932 datiert. Dieser basierte auf dem „Zentrumsentwurf III“, hatte jedoch Modifikationswünsche des verstorbenen Fritz, des Kapitularvikars Sester und des Zentrumsvorsitzenden Föhr übernommen. Zentral für den III. Artikel war, dass ihm wieder die politische Klausel fehlte. Wie schon an früherer Stelle erwähnt, übersandte Sester den Entwurf mit einer vernichtenden Kritik Mitte März an Pacelli, die sich jedoch vornehmlich auf Schulfrage und Dotation, nicht auf den Besetzungsmodus des erzbischöflichen Stuhls bezog.1825 Im Mai beriet der von Föhr geführte Koalitionsausschuss über den Entwurf, aus dem nach zwei Korrekturläufen schließlich eine neue Fassung hervorging, der „Koalitionsentwurf II“ vom 4. Juni 1932. Der Artikel III besaß nun folgende Form: „Nach Erledigung des Erzbischöflichen Stuhles reicht das Domkapitel dem Heiligen Stuhl eine Liste kanonisch geeigneter Kandidaten ein. Aus dieser Liste benennt der Heilige Stuhl dem Domkapitel drei Kandidaten, aus denen es in freier geheimer Abstimmung den Erzbischof zu wählen hat. Unter den drei Benannten muß mindestens ein Angehöriger der Erzdiözese Freiburg i. Br. sein. Vor der Benennung dieser drei Kandidaten an das Domkapitel wird der Heilige Stuhl beim Badischen Staatsministerium sich vergewissern, ob gegen dieselben seitens der Staatsregierung Bedenken allgemeinpolitischer Art bestehen. Ein staatliches Einspruchsrecht wird aber hierdurch nicht begründet. Bei der Aufstellung der Kandidatenliste und bei der Wahl wirken die in Artikel II genannten außerordentlichen Mitglieder des Wahlkapitels gleichberechtigt neben den residierenden Kapitularen mit.“1826
„Unter Würdigung“ war wieder durch „aus dieser Liste“ ersetzt, die politische Klausel auf Drängen der Koalitionsparteien von Baumgartner in den Text eingefügt worden. Sie sah nicht mehr vor, dass das Domkapitel nach der Wahl den Gewählten, sondern der Heilige Stuhl vor der Wahl die drei zur Auswahl stehenden Geistlichen der Regierung vorlegte. Außerdem wurde die Art der Bedenken, welche die Regierung geltend machen durfte, spezifiziert: Es waren nicht mehr „politische“, sondern enger gefasst „allgemeinpolitische“ Einwände, sodass etwaige „parteipolitische“ Beweggründe gegen Kandidaten ausgeschlossen waren.
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Fritz informierte Pacelli über seine Korrekturen am ersten Remmele-Entwurf. Vgl. Fritz an Pacelli vom 9. Dezember 1930, Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 223–226 (Nr. 10). Pacelli an Föhr vom 24. Februar 1931, abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 227f. (Nr. 13), hier 228. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.4 Anm. 1734. Koalitionsentwurf II ohne Datum [4. Juni 1932], Art. III, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 37r–49r (nur r), hier 40r; abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. [Anhang]. 468
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Am 23. Juni wurde schließlich der „Koalitionsentwurf III“ im Kabinett einstimmig als staatliche Grundlage für die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl bestimmt. Der zweite Satz der politischen Klausel, dass ein staatliches Einspruchsrecht nicht begründet werde, wurde wieder gestrichen. Föhr übermittelte den offiziellen Verhandlungstext der badischen Regierung noch am 23. Juni an Pacelli, der bereits vier Tage später das Ergebnis seiner Prüfung an Baumgartner übersandte.1827 Wie zu erwarten und von Kaas bereits früher kommuniziert, kritisierte der Kardinalstaatssekretär am III. Artikel zunächst das veranschlagte Listenverfahren. In Preußen (ähnlich auch in Bayern) würden dem Heiligen Stuhl Kandidatenvorschläge vom betreffenden Domkapitel und allen Landesbischöfen vorgelegt. Wenn es auch „selbstverständlich“ sei, dass Rom „diesen Vorschlägen größtmögliche Würdigung und Berücksichtigung“ entgegenbringe, so sei der Heilige Stuhl „in Preußen nach gegenseitigem Einvernehmen“1828 dennoch nicht auf sie beschränkt. Der badische Konkordatsentwurf binde ihn jedoch bei Aufstellung der Terna an die einzige Liste des Freiburger Wahlkapitels. Was dieser Modus offenkundig für die Freiheit Roms bedeutete, entfaltete Pacelli nicht. Stattdessen zeigte der Vergleich mit Preußen schlicht, dass die Kirche – richtiger müsste man sagen die Kurie – im zu zwei Dritteln katholischen Baden in eine schlechtere Situation gestellt wurde als im großteils protestantischen Staat. Was der Heilige Stuhl – so der Kardinalstaatssekretär – in den preußischen Verhandlungen ebenfalls nicht habe akzeptieren können, sei eine politische Klausel, die der Regierung die Terna schon vor der Wahl zur Kenntnis gebe.1829 Auch hier war eine also eine Änderung angebracht. Daher schlug Pacelli dem Kultusminister für die ersten beiden Absätze des Artikels folgende Neuformulierung vor: „Nach Erledigung des Erzbischöflichen Stuhles reichen sowohl die Suffraganbischöfe des Freiburger Metropolitansitzes als auch das Freiburger Metropolitankapitel dem Heiligen Stuhle Listen kanonisch geeigneter Kandidaten ein. Unter Würdigung dieser Listen benennt der Heilige Stuhl dem Kapitel drei Personen, aus denen es in freier, geheimer Abstimmung den Erzbischof zu wählen hat. Der Heilige Stuhl wird zum Erzbischof niemand bestellen, von dem Er nicht nach der Wahl durch Anfrage bei der Badischen Staatsregierung festgestellt hat, dass Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen …“1830
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Vgl. Koalitionsentwurf III ohne Datum [23. Juni 1932], S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 94r–107r (nur r); Föhr an Pacelli vom 23. Juni 1932 sowie Pacelli an Baumgartner vom 27. Juni 1932 (Entwurf), ebd., Fol. 66r sowie 89r–92r (nur r); Koalitionsentwurf, Föhrs Entwurf beziehungsweise Pacellis Ausfertigung abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. [Anhang], 260f. (Nr. 33) sowie 261–263 (Nr. 34); letztere auszugsweise auch bei Föhr, Geschichte, S. 36–38. Pacelli an Baumgartner vom 27. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 89r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 (Die Verhandlungen der Jahre 1928/29: keine Schulfrage, aber Erfolge im Modus der Bischofseinsetzungen) u. ö. Pacelli an Baumgartner vom 27. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 90r. 469
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Die Annehmbarkeit dieser Fassung für Baden untermauerte Pacelli mit der Konzession einer Sonderbestimmung, die es weder in Preußen noch in Bayern gab, nämlich dass die Terna wenigstens einen Geistlichen aus der Freiburger Erzdiözese enthalten müsse. Diese Selbstverpflichtung des Heiligen Stuhls hielt Pacelli für „ein großes Entgegenkommen“1831. Auch zu zwei weiteren Artikeln verlangte er wesentliche Modifikationen, die beide letztlich die Priesterausbildung betrafen: Zu Artikel VII über die Vorbildung der Geistlichen bemerkte er, dass die Alumnen des Erzbistums in der Wahl ihres Studienortes frei sein müssten, also die Freiheit besitzen sollten, nicht nur an deutschen staatlichen und päpstlichen römischen, sondern auch an deutschen kirchlichen Hochschulen zu studieren – gemeint war St. Georgen; in Artikel X über die Zulassung zum Lehramt an der Freiburger Katholisch-Theologischen Fakultät verlangte er mehr Autonomie und Schutz des Erzbischofs in Fragen der Lehrbeanstandung von Professoren.1832 Diesen drei Änderungen müsse die Regierung zustimmen, andernfalls dürften – so Pacelli abschließend – die mündlichen Verhandlungen in Rom „nicht zu einem abschließenden Erfolg führen“1833. Er ergänzte außerdem noch weniger gewichtige und insofern mündlich zu klärende Kritikpunkte. Unter anderem hielt er die in Artikel II, Absatz 7 fixierte testamentarisch vom Erzbischof vorzunehmende Erweiterung des Domkapitels zur Erzbischofswahl für ein merkwürdiges rechtliches Konstrukt, das auch leicht zu Streitigkeiten führen könne. Zu erwägen sei aber, ob nicht die Inhaber besonderer Dekanatsstellen als Ehrendomherren das Wahlgremium verstärken könnten. Diesen letzten Vorschlag wollten sich die Vertreter der Koalitionsparteien Baumgartner (Z), Finanzminister Wilhelm Mattes (DVP) und Staatsrat Leopold Rückert (SPD) gefallen lassen, als sie am 16. Juli Pacellis Änderungen berieten. Was jedoch die Veränderungen des III. Artikels anbelangte, so sollten diese höchstens akzeptiert werden, wenn eine gleiche Regelung auch für Mainz und Rottenburg veranschlagt werde. Diese durchaus nachvollziehbare Forderung verlangte natürlich ein Konkordat mit Hessen und Württemberg. Baumgartner schlug Pacelli schließlich vor, alle Punkte mündlich zu verhandeln und kündigte an, Anfang August nach Rom zu kommen. Auf Wunsch des Kultusministers nahm auch Gröber an den Verhandlungen teil. Am 1. Juli rief dieser im erzbischöflichen Ordinariat ein Sitzung zusammen, um über den letzten badischen Koalitionsentwurf zu debattieren. Den Modus der Erweiterung des Gremiums zur Erzbischofswahl hielten die Domherren für inakzeptabel. Stattdessen veranschlagten sie, die mitwirkenden Eh-
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Pacelli an Baumgartner vom 27. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 90r. Vgl. die Artikel VII und X im Koalitionsentwurf III bei Plück, Konkordat, S. [Anhang]. Pacelli an Baumgartner vom 27. Juni 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 92r. 470
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rendomherren abwechselnd durch Ernennung des Oberhirten nach Anhörung des Kapitels beziehungsweise durch Kapitelswahl vorbehaltlich der Bestätigung des Oberhirten zu bestimmen. Dass die Domkanoniker sich darüber hinaus für die Beibehaltung des Wahlmodus in Artikel III aussprachen, ist einleuchtend, immerhin gewährte dieser ihnen über die einzige, Rom bindende Vorschlagsliste einen massiven Einfluss auf die Besetzung des Erzbischofsstuhls. Gröber hingegen präferierte die preußische Wendung „unter Würdigung“ der Liste, um dem Heiligen Stuhl mehr Freiheit zu sichern. Außerdem lehnte er die Vorgabe, dass zumindest ein in Freiburg inkardinierter Kleriker auf der Terna stehen musste, ab. Die politische Klausel sollte seiner Ansicht nach in der preußischen Form verankert werden, also insbesondere erst nach und nicht schon vor der Wahl Anwendung finden. Seine Anmerkungen übersandte Gröber am 7. Juli an Pacelli, der ihn schon am Folgetag über seine eigenen Abänderungen informierte, die im Wesentlichen mit den Vorstellungen des neuen Erzbischofs übereinstimmten.1834 Am 5. August traf Baumgartner in Begleitung von Gröber und Föhr, der auf Wunsch des Erzbischofs mit verhandelte, in Rom ein. Die Verhandlungen dauerten bis zum 11. des Monats und verliefen damit so zügig, wie Pacelli zuvor prognostiziert hatte.1835 Indirekten Aufschluss über die Gespräche gibt ein vom Staatssekretär persönlich korrigierter Konkordatsentwurf.1836 Aus ihm geht hervor, dass Pacelli im Listenverfahren zunächst die essentielle Wendung „unter Würdigung“ durchsetzte. Gleichzeitig, womöglich im Gegenzug, gab er seinen früheren Vorschlag auf, dass auch die beiden Suffraganbischöfe Kandidaten vorschlagen sollten. Um dennoch einen über die Vorschläge der Freiburger Domherren hinausgehenden Kandidatenfundus sicherzustellen, konnte er sich mit Baumgartner auf eine zusätzliche Vorschlagsliste einigen, die der Freiburger Erzbischof einreichen sollte und zwar in jährlicher Frequenz.1837 Durch diesen Modus gewann der Freiburger Erzbischof Einfluss auf das Besetzungsverfahren, der vorher nicht vorhanden war, während andererseits die Kapitelsliste erheblich relativiert wurde. Der Heilige Stuhl erhielt seinerseits nicht nur umfangreiches „Material“ für die Terna, zumal die erzbischöflichen Listen mit keinem „Haltbarkeitsdatum“ versehen waren, sondern das Kapitel besaß auch keine Übersicht mehr, ob die römische Terna die vorgeschlagenen Geistlichen wirklich „würdigte“. 1834
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Vgl. Gröber an Pacelli vom 7. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 111r–112r; Pacelli an Gröber vom 8. Juli 1932 (Entwurf), ebd., Fol. 113r. Noch am 21. Juli hatte Pacelli auf die Vorzüge mündlicher Verhandlungen hingewiesen. Vgl. Pacelli an Baumgartner vom 21. Juli 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 123, Fol. 119rv. Laut Föhr habe man nur an zwei Vormittagen eigentlich verhandelt. Der Rest der Zeit sei für Formulierungs-, Übersetzungs- und Druckarbeiten verwendet worden. Vgl. Föhr, Geschichte, S. 39. Vgl. Konkordatsentwurf mit handschriftlichen Korrekturen Pacellis ohne Datum [August 1932], S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 4r–16r (nur r), im Folgenden jeweils 7r. Pacelli fügte das Adjektiv „jährlich“ nachträglich in den Text ein. 471
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Hinsichtlich des politischen Bedenkenrechts setzte der Kardinalstaatssekretär durch, dass die Anfrage des Heiligen Stuhls an die badische Regierung erst nach der Wahl erfolgte – ein Punkt, in dem Pacelli wie schon in den preußischen Konkordatsverhandlungen unnachgiebig blieb. Die Natur der Bedenken wurde näher spezifiziert, indem der Text um die Formel „allgemein-politischer, nicht aber partei-politischer Art“ ergänzt wurde. Die vielleicht weitreichendste Änderung bestand darin, dass die strenge Formulierung aus dem Preußenkonkordat, Rom werde zum Erzbischof „niemand bestellen“, mit einer wesentlich schwächeren Wendung ausgetauscht wurde: Der Heilige Stuhl brauchte sich jetzt nur noch zu „vergewissern, ob“ staatlicherseits Bedenken bestanden. Was im positiven Fall passieren würde, blieb völlig offen. Hier erreichte Pacelli sogar mehr, als er in seinem Gegenentwurf Ende Juni verlangt hatte. Im Gegenzug konzedierte er, dass auf der Terna ein Freiburger Diözesankleriker stehen musste, was er zuvor bereits in Aussicht gestellt hatte. Schlussendlich gelang es ihm, eine „aufgeweichte“ Definition dieser Klausel im Schlussprotokoll zu Artikel III, Absatz 1 zu verankern: Ein Angehöriger der Freiburger Erzdiözese sei auch ein Geistlicher, der aus dem Erzbistum stamme und zumindest teilweise dort studiert und in Diensten gestanden habe.1838 Innerhalb der Regierungskoalition erhob sich hinsichtlich des Artikels III Widerstand nur gegen das politische Bedenkenrecht, dessen mangelnde Verbindlichkeit man offensichtlich klar erkannte. In der Sitzung vom 25. August – so schrieb Baumgartner am Folgetag an Pacelli – sei ein diplomatischer Notenwechsel oder eine feierliche Erklärung verlangt worden, dass im Falle von staatlichen Bedenken der Versuch gemacht werden sollte, sich entsprechend Artikel XII – dem Artikel über die möglichst freundschaftliche Klärung von unvorhergesehenen Meinungsverschiedenheiten – zu einigen.1839 Föhr empfahl dem Kardinalstaatssekretär, diesbezüglich eine briefliche Erklärung abzugeben, dass im Fall von Bedenken gegen den erwählten Kandidaten der Heilige Stuhl den Versuch unternehmen werde, eine Einigung zu erzielen.1840 Dadurch – so glaubte er – würden die Probleme mit der politischen Klausel ausgeräumt. Aus verhandlungstaktischen Gründen sollte Pacelli jedoch neue Gegenforderungen stellen. Genau dies griff der Kardinalstaatssekretär in seiner Ant-
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Den aus den römischen Gesprächen hervorgehenden Konkordatstext übersandte Pacelli am 18. August zur Kenntnisnahme an den Berliner Nuntius. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 18. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 45rv. Orsenigo beantwortete die Mitteilung mit seinen „più fervide congratulazioni per il lungo lavoro così tenacemente e saggiamente compiuto e per il lieto esito di cui fu coronato“. Orsenigo an Pacelli vom 9. September 1932, ebd., Fol. 61rv, hier 61r-v. Vgl. Baumgartner an Pacelli vom 26. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 47r. Vgl. Föhr an Pacelli vom 27. August 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 50rv; Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 265f. (Nr. 38). 472
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wort an Baumgartner vom 31. August auf.1841 Der Heilige Stuhl sei bereit, den von Regierungsseite geäußerten Wunsch anzunehmen, „wobei Einverständnis sein soll, dass, falls der vorgesehene Versuch keine Einigung herbeiführen würde, der Heilige Stuhl frei ist, die Besetzung des erzbischöflichen Stuhles zu vollziehen“1842. Als neue Forderungen beantragte Pacelli die Installation von „Weltanschauungsprofessuren“ an der Universität Heidelberg sowie der Technischen Hochschule in Karlsruhe sowie einen Zusatz, der bestimmte, dass die Glaubensüberzeugung und das religiöse Empfinden der katholischen Schüler im Unterricht nicht verletzt und dieselben in der Schule nicht nachteiliger Beeinflussung ausgesetzt werden dürften. Föhr teilte ihm am 6. September mit, dass laut Stellungnahme des sozialdemokratischen Fraktionsführers Rückert der die politische Klausel betreffende Wunsch der Regierung durch Pacellis Schreiben „zur Befriedigung erledigt“1843 sei – die Gegenforderungen hatten also Wirkung gezeigt. Drei Tage später erwiderte Pacelli, dass die gewünschte „Erklärung“ des Heiligen Stuhls „nur in dem in meinem Brief an den Herrn Kultusminister Dr. Baumgartner vom 31. August dargelegten Sinne“1844 akzeptiert werden könne. Diese Interpretation – ohne Einigung sei der Heilige Stuhl in der Ernennung des Erzbischofs frei – war einschneidend. Dennoch entschied man nach dem Vortrag Baumgartners am 16. September im Staatsministerium, die gegen die Formulierung der politischen Klausel geäußerten Bedenken zurückzuziehen, „angesichts der Erklärung“, dass „der Hl. Stuhl bei der Bestellung des Erzbischofs jedenfalls den Versuch einer Verständigung unternehmen werde“1845. Auf diese Weise gelangte die „Erklärung“ in das Zusatzprotokoll des Konkordats. Was sie für den Kardinalstaatssekretär nach eigener Aussage bedeutete, wird im Kontext der abschließenden Gespräche deutlich, für die sich Pacelli im Zeitraum von Ende September bis zur Unterzeichnung des Vertrags am 12. Oktober in Rorschach aufhielt. Hierfür ist noch ein kleiner Umweg zu nehmen. Als einen Erfolg seiner persönlichen Verhandlungen in Rom im August konnte der Kultusminister die Bestimmung des Schlussprotokolls verbuchen, dass im Fall der Installation eines Koadjutors mit Nachfolgerecht, „der Heilige Stuhl im Benehmen mit der Badischen Staatsregierung vorgeht“1846. Im Benehmen hieß es im endgültigen Konkordatstext. Bei den römischen Ver-
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1845 1846
Vgl. Pacelli an Baumgartner vom 31. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 52r. Vgl. auch Plück, Konkordat, S. 115–120. Pacelli an Baumgartner vom 31. August 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 52r. Föhr an Pacelli vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 58rv, hier 58r; Entwurf abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 266f. (Nr. 39). Pacelli an Föhr vom 9. September 1932 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 60r; Ausfertigung abgedruckt bei Plück, Konkordat, S. 268f. (Nr. 40). Plück, Konkordat, S. 123. Schlussprotokoll zu Art. III, Abs. 1 des Badenkonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 359. 473
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handlungen hatte es noch im Einvernehmen mit der Regierung geheißen.1847 Diese keineswegs nur kosmetische Änderung, die unbestimmt nicht mehr eine Übereinkunft mit der Regierung implizierte, sondern nur eine nicht weiter spezifizierte Absprache mit der staatlichen Seite vorschrieb, setzte Pacelli bei den letzten Gesprächen mit Baumgartner in Rorschach durch.1848 Seine Begründung für diese Modifikation schilderte er anschließend seinem „Vertreter“ während seiner Absenz im Staatssekretariat, Giuseppe Pizzardo: „Im Schlussprotokoll über Artikel III, Absatz 1 habe ich darauf bestanden, dass die Worte ‚im Einvernehmen‘ mit den anderen ‚im Benehmen‘ ausgetauscht werden. Jene ersten Worte werden nämlich von den Juristen gemeinhin wie ‚unter Zustimmung‘ verstanden: der Heilige Stuhl könnte also keinen Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge ernennen, ohne die Zustimmung der Regierung. Diese scheint mir wahrlich ein zu großes Zugeständnis zu sein. Dagegen bezeichnen die Worte ‚im Benehmen‘ nur, dass der Heilige Stuhl mit der Regierung Kontakt aufnehmen muss; sie bedeuten daher das gleiche wie ‚unter Anhörung der Regierung‘. Auch wenn diese nicht zustimmt hat der Heilige Stuhl das Recht, gleich zur genannten Ernennung zu schreiten.“1849
Baumgartner war zu dieser Textänderung zugunsten des Heiligen Stuhls offenbar nur bereit, weil Pacelli folgende Erklärung beifügte: „Die in meinem Schreiben vom 31. August 1932 … zu Artikel III Ziffer 2 abgegebene Erklärung des Heiligen Stuhls gilt sinngemäß auch für den in Ziffer 1 des Schlussprotokolls zu Artikel III Absatz 1 vorgesehenen Fall der Bestellung eines Coadiutors c[um] i[ure] s[uccessionis].“1850 Diese Ergänzung anerkenne damit zwar – so Pacelli an Pizzardo –, dass Rom dem badischen Staat auch bei Einsetzung eines Koadjutors das politische Bedenkenrecht zugestehe. Aber andererseits „stellt sie außerdem fest … dass, falls der Versuch, eine Einigung mit der Regierung zu erreichen, nicht erfolgreich sei, der Heilige Stuhl die Freiheit besitzt, zur Ernennung zu schreiten. Diese Interpretation, die dem Heiligen Stuhl in dieser Hinsicht die volle Freiheit lässt, auch 1847
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1849
1850
Vgl. Konkordatsentwurf mit handschriftlichen Korrekturen Pacellis ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 16r. Vgl. Pacelli an [Pizzardo] vom 22. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 82r. Die Anrede lautete „Carissima Eccellenza“, eine Wendung, die Pacelli für Schreiben an Pizzardo verwendete. „Nel Protocollo finale circa lʼart. III capoverso 1 ho insistito perché le parole ‚im Einvernehmen‘ fossero sostituite colle altre ‚im Benehmen‘. Quelle prime parole vengono infatti dai giuristi comunemente interpretate come ‚de consensu‘: la S. Sede quindi non avrebbe potuto nominare un Coadiutore con diritto di successione dellʼArcivescovo di Friburgo senza il consenso del Governo. Ciò mi pareva che fosse veramente un concedere troppo. Invece le parole ‚im Benehmen‘ significano soltanto che la S. Sede deve prendere contatto col Governo; equivalgono quindi allʼ‚audito Gubernio‘. Anche se questo non consente, la S. Sede ha diritto di procedere egualmente a detta nomina.“ Pacelli an [Pizzardo] vom 27. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 91r–92v, hier 91r-v. Hervorhebungen im Original. Pacelli an Baumgartner vom 25. September 1932 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 93r. 474
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angesichts eventueller politischer Einwände von Seiten der Regierung, die Er beurteilt, nicht stattgeben zu können, gilt nicht allein für die Ernennung des Koadjutors, sondern auch für die Wahl des Erzbischofs, wie aus dem Text meiner Erklärung hervorgeht.“1851
Durch die staatliche Akzeptanz von Pacellis Erklärung vom 31. August, die Rom bei Uneinigkeit eine freie Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls ermöglichte, war also in den Augen des Staatssekretärs nicht weniger passiert, als dass es dem Heiligen Stuhl völlig frei stand, ob er den vorgesehenen Kandidaten trotz staatlicher Einwände auf den Bischofsthron erhob. Theoretisch konnte er die politischen Bedenken schlicht ignorieren und vollkommen unbeeindruckt mit Verweis auf Pacellis Erklärung zur Einsetzung des „minder genehmen“ Geistlichen schreiten.1852 Wie gut sich diese faktische Aushöhlung der politischen Klausel praktisch in die Tat umsetzen lassen würde, stand dabei natürlich auf einem anderen Blatt. Die letzten Textänderungen akzeptierte das Kabinett am 6. Oktober. Nicht ganz eine Woche später wurde das Konkordat von Baumgartner und Pacelli unterzeichnet, am 9. Dezember vom badischen Landtag angenommen und am 11. März 1933 ratifiziert. Damit galt für die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls – ein halbes Jahr später durch das Reichskonkordat auch auf die übrigen konkordatsfreien deutschen Bistümer erweitert – fortan folgender Modus: „1. Nach Erledigung des Erzbischöflichen Stuhles reicht das Domkapitel dem Heiligen Stuhl eine Liste kanonisch geeigneter Kandidaten ein. Unter Würdigung dieser sowie der durch den Erzbischof jährlich einzureichenden Listen benennt der Heilige Stuhl dem Domkapitel drei Kandidaten, aus denen es in freier geheimer Abstimmung den Erzbischof zu wählen hat. Unter den drei Benannten wird mindestens ein Angehöriger der Erzdiözese Freiburg i. Br. sein. 2. Vor der Bestellung des vom Domkapitel zum Erzbischof Erwählten wird der Heilige Stuhl beim Badischen Staatsministerium sich vergewissern, ob gegen denselben seitens der Staatsregierung Bedenken allgemeinpolitischer, nicht aber parteipolitischer Art bestehen. 3. Bei der Aufstellung der Kandidatenliste und bei der Wahl wirken die in Art. II genannten Ehrendomherren gleichberechtigt neben den residierenden Kapitularen mit.“1853
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1853
… si riconosce bensì che anche per il Coadiutore cum iure successionis la S. Sede si assicurerà presso il Ministero di Stato, se contro il candidato esistano obbiezioni di carrattere politico generale; ma si stabilisce inoltre … che, qualora il tentativo di giungere ad una intesa col Governo non riuscisse, la S. Sede è libera di procedere alla nomina. Questa interpretazione, che lasica in tal guisa piena libertà alla S. Sede, anche di fronte ad eventuali obbiezioni politiche da parte del Governo, che Essa giudicasse di non poter ammettere, vale non solo per la nomina del Coadiutore, ma anche per la elezione dello stesso Arcivescovo, come apparisce dal testo della mia dichiarazione.“ Pacelli an [Pizzardo] vom 27. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 124, Fol. 91v. Hervorhebung R.H. Klaus Mörsdorf sprach deshalb von einem lediglich „moralisch-tatsächlichen Einfluß“ der badischen Regierung durch die politische Klausel. Mörsdorf, Besetzungsrecht, S. 164. Vgl. auch Kaiser, Klausel, S. 186f. Art. III des Badenkonkordats. Vgl. auch das Schlussprotokoll zu Art. III, Abs. 1: „1. Für den Fall der Bestellung eines Coadjutors cum iure successionis für den Erzbischof von Freiburg wird der Heilige Stuhl im Benehmen mit der Badischen Staatsregierung vorgehen. 2. Als Angehöriger der Erzdiözese Freiburg 475
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Ergebnis 1. Die Kandidatenfrage trat für Pacelli im vorliegenden Besetzungsfall hinter die formalen Fragen nach Besetzungsmodus und Badenkonkordat zurück. Dennoch bildete sie für letztere einen wichtigen Baustein, da sie auf die unvollendeten Konkordatsverhandlungen mit der badischen Regierung rückwirken musste. Die vatikanischen Quellen geben über die Kriterien des Kardinalstaatssekretärs für die Personalwahl nur geringen Aufschluss. Sichtbar wird aber, dass Gröbers Provenienz aus Baden beziehungsweise aus dem Freiburger Erzbistum ausschlaggebend war. Weil der Meißener Oberhirte der Regierung in höchstem Maße genehm war, nahm es Pacelli in Kauf, ihn nach kaum einem Jahr aus der sächsischen Diaspora wieder abzuziehen. Mit der Ernennung eines „Einheimischen“ berücksichtigte Pacelli gleichzeitig die von Regierungsseite verlangte Sonderbestimmung bei der Erzbischofswahl. Dem Staatssekretär ging es in der Kandidatenfrage also darum, der Regierung so weit als möglich entgegen zu kommen, um sich – trotz der römischen Nomination – einen erfolgreichen Konkordatsabschluss nicht zu verbauen. Dieser war Pacellis zentrale Direktive bei der Kandidatensuche, wobei er jedoch nicht so weit ging, das Konkordat als einziges Kriterium zu betrachten. Ansonsten hätte er – überspitzt gesagt – jeden beliebigen, der Regierung genehmen Freiburger Kleriker auf den Erzstuhl des heiligen Konrad promovieren können. Mit Gröber stand ihm aber jemand zur Verfügung, der zugleich seinen Ansprüchen an die persönlichen Fähigkeiten und an die kirchliche Ausrichtung gerecht wurde – nicht zufällig nahm Gröber anders etwa als Fritz in der Diskussion um den im Konkordat zu normierenden Besetzungsmodus vorbehaltlos Pacellis Position ein. Ihn kannte Pacelli persönlich gut und schätzte ihn aus Gründen, die bei der Besetzung des Bistums Meißen 1931 deutlich wurden.1854 Auffällig ist, dass gerade einmal drei Wochen bevor Pacelli den Nuntius von der Absicht unterrichtete, Gröber zu ernennen, dieser eine Bilanz über sein bis dato einjähriges Wirken in Meißen nach Rom geschickt hatte, mit der Papst und Staatssekretär hochzufrieden waren.1855 Es ist wohl nicht vermessen anzunehmen, dass Pacelli bereits an Weihnachten 1931, als er Gröber mit der
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gilt auch ein aus der Erzdiözese stammender Geistlicher, der in derselben seine Studien ganz oder teilweise absolviert und wenigstens zeitweise im Dienste der Erzdiözese gestanden hat.“ Vgl. darüber hinaus das Zusatzprotokoll zu Art. III, Abs. 2: „Für den Fall eines seitens der Badischen Staatsregierung geltend gemachten Bedenkens allgemeinpolitischer Art soll der Versuch gemacht werden, gemäß Artikel XII des Konkordats zu einer Einigung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Badischen Staatsregierung zu gelangen; führt aber der vorgesehene Versuch zu keiner Einigung, dann ist der Heilige Stuhl frei, die Besetzung des Erzbischöflichen Stuhles in Freiburg zu vollziehen. Entsprechendes gilt auch für die im Schlussprotokoll Ziffer 1 zu Artikel III, Absatz 1 des Konkordats vorgesehene Bestellung eines Coadjutors cum iure successionis für den Erzbischof von Freiburg.“ Zitiert nach Plück, Konkordat, S. [Anhang]; leichte Textabweichungen bei Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 355, 359f. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.2 (Ergebnis Nr. 1). Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.2 (Bilanz nach einem Jahr: Gröber, ein umsichtiger Oberhirte). 476
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Bilanzierung beauftragte, mit dem Gedanken spielte, ihn nach Freiburg zu transferieren. Dessen autographisches Arbeitszeugnis bestand die Prüfung. Es bleibt zu konstatieren: Durch Gröbers Translation erreichte Pacelli seine Ziele in Bischofs- und Konkordatspolitik gewissermaßen in „Personalunion“. 2. Es ist nicht erstaunlich, dass Pacelli das ius commune als ideale Besetzungsvariante betrachtete, die päpstliche Ernennung gemäß Can. 329 § 2 CIC 1917, die durch Gasparris Reskript von 1926 für die Oberrheinische Kirchenprovinz vorgeschrieben wurde. Ungeachtet der Fortgeltungsfrage von Ad dominici gregis konnte Pacelli allein schon wegen dieser, von ihm selbst initiierten Anordnung das frühere Erzbischofswahlrecht als nicht mehr geltend ansehen. Die päpstliche Vollmacht verteidigte er gegen die „dezentrale“ Ekklesiologie von Erzbischof Fritz, der das Bischofswahlrecht als „vollkommene“ Besetzungsform ansah. Ähnlich lobte er später Orsenigo dafür, das Wahlgesuch von Domdekan Burger mit Verweis auf die Zuständigkeit des Heiligen Stuhls abgeschmettert zu haben. Ungeachtet dieses idealen Modells war Pacelli durchaus bereit, das Bischofswahlrecht, das ja keineswegs dem kanonischen Recht widersprach, sondern als Sonderform in § 3 des genannten Canons möglich war, für den Freiburger Besetzungsfall zu erlauben: Diese Erlaubnis sollte als Konzession an den Staat fungieren, um im Gegenzug den zügigen Abschluss eines akzeptablen Konkordats zu erhalten – es ging hier also nicht um einen Gunsterweis für die Domherren. Wenn er den Regierungsvertretern in Aussicht stellte, dass nach Vertragsabschluss die Sedisvakanz gemäß dem neu zu bestimmenden Besetzungsmodus erledigt würde, dann bedeutete dies nichts anderes als durch eine Kapitelswahl. Folgerichtig akzeptierte er das Wahlrecht ebenfalls in den Konkordatsverhandlungen und zwar vom ersten Konkordatsentwurf an! Von Anfang an war ihm klar, dass er den Modus des bayerischen „Musterkonkordats“ in Baden nicht würde installieren können, er versuchte es nicht einmal. Vorbild war vielmehr der preußische Besetzungsmodus. Um dem Heiligen Stuhl trotz Kapitelswahlrecht dauerhaft einen größtmöglichen Einfluss auf die Bestellung der Freiburger Erzbischöfe zu gewährleisten, konfigurierte er das Listenverfahren an zwei Stellen in Richtung römische Freiheit: 1) Er lehnte eine Bindung des Heiligen Stuhls an die Vorschlagslisten ab, was eine fundamentale Einschränkung bedeutet hätte. Jetzt konnte die Kurie nach eigenem Gutdünken jeden beliebigen Geistlichen zur Wahl stellen, der den Bedingungen der Amtsübernahme entsprach. 2) Er erreichte mit der Vorschrift einer jährlichen Vorschlagsliste des Freiburger Erzbischofs, dass sich die Gruppe der Geistlichen, die die Kurie zwecks Aufstellung der Terna zu „würdigen“ hatte, erheblich vergrößerte. Doch der Hauptgrund für das doppelte Listenverfahren war ein anderer: Es schuf Intransparenz. Da zwei verschiedene Instanzen Namen vorschlugen, war es für niemanden außer den kurialen Verantwortlichen möglich, zu überprüfen, ob die römische Terna die Vorschläge aufgegriffen hatte oder nicht. Dieses Ziel hatte Pacelli im analogen Kontext innerhalb der preußischen Konkordatsverhandlungen erläutert. Damit ist frei477
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lich noch nicht gesagt, dass Pacelli tatsächlich intendierte, die Kapitelslisten nicht zu „würdigen“, sondern zunächst nur, dass er dem Heiligen Stuhl formal mehr Handlungsspielraum ermöglichen wollte. Dieser war allerdings klar gegen das Domkapitel gerichtet, das im Extremfall, bei einer absoluten Interessendivergenz mit der Kurie, nicht einmal gegen die römische Terna protestieren konnte. Um diese wichtigen Postulate samt der gewünschten unverbindlichen Fassung der politischen Klausel (vgl. Nr. 3) durchzusetzen, konzedierte er im Gegenzug die Sonderbestimmung, dass die Terna einen „Angehörigen“ der Erzdiözese beinhalten musste. Diese Einschränkung betrachtete er als „ein großes Entgegenkommen“, das er einerseits durch die Definition des Schlussprotokolls noch „aufweichte“ und andererseits angesichts des Erreichten als kleinen Preis einstufte. Er schien sich sicher, regelmäßig einen Freiburger „Angehörigen“ zu finden, der das gewünschte Bischofsprofil besaß – mit Gröber war ihm das bereits ein erstes Mal gelungen. Man kann festhalten: Pacelli stellte alle Schrauben, um im Konkordat einen ausgeklügelten Besetzungsmodus festzuschreiben, der dem Heiligen Stuhl ein hohes Maß an Freiheiten ließ. In der skizzierten „abgeschwächten“ Form war das Kapitelswahlrecht für ihn ein kleines „Übel“, das an Relevanz anderen Themen wie der Dotation oder der Schulfrage nicht gleichkam. Doch ohne akzeptables Konkordat war er nicht bereit, von der Idealform des CIC abzuweichen. Um Entschlossenheit zu demonstrieren, entschied er mit Pius XI., im aktuellen Fall den neuen Erzbischof via römische Ernennung ins Amt zu bringen. Als Begründung diente das pastorale Argument, dass die verwaiste Erzdiözese nicht länger ohne Schaden auf ihren Hirten verzichten konnte. Das war gewiss nicht nur vorgeschoben, doch ebenso ging es darum, durch die Nomination erneuten Druck auf die badische Regierung auszuüben. Wie die Kandidatenwahl, so machte Pacelli auch den konkreten Modus zur Erledigung der Sedisvakanz dezidiert von den Konkordatsverhandlungen und den Reaktionen der staatlichen Seite abhängig. Diese Ausrichtung ist noch einmal genauer in den Blick zu nehmen. 3. Die Sedisvakanz führte zu einer erneuten Diskussion über das Kirche-Staat-Verhältnis in Baden, deren Ausgangspunkt die leidige Frage nach der Fortgeltung der alten Zirkumskriptionsbullen bildete. Kultusminister Baumgartner trug Pacelli von sich heraus – aus Sorge, der Heilige Stuhl könnte einseitig einen neuen Erzbischof einsetzen – die Regierungsposition vor: Die Bullen seien als völkerrechtliche Verträge gemäß Can. 3 CIC 1917 auch nach den Staatsumwälzungen von 1918/1919 rechtskräftig. Zwar verzichte die Regierung angesichts von badischer beziehungsweise Weimarer Verfassung auf ihre alten Mitwirkungsrechte, doch bedeute dies keinen Verzicht auf das damals vereinbarte Erzbischofswahlrecht des Metropolitankapitels. Der Kardinalstaatssekretär reagierte mit „Befremden“ und war dieser verspäteten Grundsatzdiskussion überdrüssig: Immerhin war die seit über zehn Jahren schwelende Frage in Bayern und sogar im protestantischen Preußen mittlerweile erledigt. 478
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Wie Pacelli im Einzelnen zu den rechtlichen Grundfragen stand, ergibt sich nur andeutungsweise: So bemerkte er, mit Sesters rechtlicher Auffassung in zentralen Punkten übereinzustimmen. Das implizierte neben der Ablehnung der staatlichen Ingerenz in die kirchliche Ämterbesetzung sicherlich auch, dass Pacelli – ungeachtet einzelner Bestimmungen – von der prinzipiellen Fortgeltung der Zirkumskriptionsbullen ausging. Sesters Herleitung dieser Meinung aus der Wortwahl von Gasparris – oder vielmehr Pacellis – Reskript von 1926 war gewiss nicht unsachgemäß. Wichtiger jedoch war, dass er anders als der Kapitularvikar diese Frage theoretisch nicht beantworten wollte: Bei Ablehnung der Fortgeltung wären die staatlichen Leistungen zumindest gefährdet gewesen – wenn er diese Gefahr auch nicht mehr als akut ansah – und die Vertragstreue Roms in ein schlechtes Licht gerückt. Dies musste sich negativ auf einen neuen Kontrakt auswirken. Bei Bejahung der Fortgeltung hingegen wäre nicht nur die Notwendigkeit eines neuen Konkordats in Zweifel gezogen, sondern wohl auch ein fruchtloser Streit um die Gültigkeit der einzelnen Konkordatsbestimmungen unumgänglich geworden. Daher bestand seine Lösung darin, die Frage in der Schwebe zu lassen und durch einen neuen Vertragsabschluss zu klären. Daraus erklärt sich die Vorsicht, die Pacellis Wortwahl bestimmte: So sprach er in einem bewusst inoffiziellen Schreiben von „auf alle Fälle in wesentlichen Bestimmungen nicht anwendbaren konkordatären Zirkumskriptionsbullen“ oder später von der von Baumgartner „vertretenen entgegenstehende[n] Rechtsauffassung“. Inhaltlich jedoch trat er bestimmt auf und lehnte es ab, das 1926 offiziell in der Oberrheinischen Kirchenprovinz abgeschaffte Kapitelswahlrecht erneut zu erlauben, was „schon durch die Länge der inzwischen verstrichenen Zeit und die erfolglos gebliebenen wiederholten Anregungen zu Konkordatsverhandlungen unmöglich“ sei. Nur ein neues Konkordat konnte ihn davon abbringen. Den starke Wunsch der staatlichen Seite nach dem Erhalt des Bischofswahlrechts in Baden nutzte Pacelli aus. Er instrumentalisierte die Sedisvakanz als Druckmittel, um die badische Konkordatsbereitschaft anzutreiben. Schon die Konkordatsofferten des Nuntius Pacelli seit Mitte der 1920er Jahre zeigten die gleiche Grundsignatur wie jene des Kardinalstaatssekretärs Pacelli während der Sedisvakanz: Entweder ließ sich die badische Regierung auf ernste Konkordatsverhandlungen ein oder der Heilige Stuhl würde den Freiburger Erzbischofsthron ohne Beteiligung von Staat und Metropolitankapitel durch päpstliche Nomination besetzen. An dieser Stelle lohnt ein Seitenblick auf den Rottenburger Besetzungsfall 1926/27: Damals hatte sich Pacelli darauf eingelassen, die Konkordatsverhandlungen nach der Bischofswahl zu führen. Doch im Anschluss an die Wahl Sprolls verpuffte die Verhandlungsbereitschaft der württembergischen Regierung. Offenbar wollte Pacelli diesen Fehler nicht wiederholen. Während er argumentierte: ohne Konkordat keine Erzbischofswahl, sondern römische Ernennung, versuchte Baumgartner den Spieß umzudrehen: Bei einer kurialen Bischofseinsetzung drohe das Konkordat zu scheitern, weil die politischen Widerstände erheblich anwachsen würden. Um diese Widerstände nicht zu fördern und um den eigenen Hebel für die Forcierung der badischen Konkordatsbereitschaft nicht zu verlieren, warteten Pacelli und Pius XI. zunächst zwei, schließlich sogar vier Mona479
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te mit der Einsetzung des neuen Oberhirten, obwohl der Kandidat bereits feststand. Nach diesem Zeitraum, der für Pacelli die erhofften Fortschritte in der Konkordatsfrage nicht erbracht hatte, musste die „angedrohte“ päpstliche Nomination erfolgen, um nicht die eigene Glaubwürdigkeit einzubüßen und auf diese Weise erneuten Druck auf die Regierung auszuüben – der Heilige Stuhl machte ernst. Um die Verhandlungen dadurch jedoch nicht ernsthaft zu beschädigen, nahm Pacelli die Wiederbesetzung fast schon behutsam vor und kam der Regierung in mehrfacher Hinsicht entgegen: Zunächst wählte er mit Gröber eine aus staatlicher Sicht persona gratissima, ließ dessen Genehmheit sogar informell bei Föhr verifizieren,1856 kommunizierte die geplante Ernennung dem Kultusminister in der von Föhr präsentierten Formulierung und akzeptierte schließlich, dass diese Notifikation staatlicherseits in ein politisches Bedenkenrecht „transformiert“ wurde. Er konzedierte der Regierung damit indirekt mehr Einfluss, als er ihr formal-rechtlich zuzugestehen bereit war. Diese diplomatische Nachgiebigkeit bei gleichzeitiger Festigkeit in den Grundanliegen war von Erfolg gekrönt: Die Regierung schloss das gewünschte Konkordat ab und akzeptierte „nebenbei“ die römische Ernennung eines Kandidaten, der ganz nach den Vorstellungen Pacellis ausgesucht war. Bleibt noch ein Blick auf die politische Klausel des Konkordats zu werfen, die Pacelli der Regierung zuerkannte. Während die ersten Zentrumsentwürfe ebenso wie Baumgartners Fassung auf diese Klausel verzichteten, da man in ihr eine Kollision mit der badischen beziehungsweise Weimarer Verfassung sah, hatte Pacelli keine prinzipiellen Schwierigkeiten mit ihr. Wenngleich er zu Verhandlungsbeginn eine solche Klausel ablehnte, ist es doch Tatsache, dass der Heilige Stuhl dieselbe in allen Nachkriegskonkordaten konzedierte, weil er die staatsbürgerliche Autorität eines Diözesanbischofs und damit auch das legitime staatliche Interesse an dessen Person anerkannte. Insofern war die anfängliche Ablehnung für Pacelli wohl ein strategisches Moment und das Bedenkenrecht als solches Verhandlungsmasse. Die konkrete Ausformulierung war freilich von erheblicher Relevanz, um den staatlichen Einfluss möglichst gering zu halten. Auf drei Punkte legte Pacelli besonderen Wert:
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Angesichts dieses Vorgehens erscheint sogar der Gedanke nicht völlig abwegig, dass die verfrühte Publikation von Gröbers Ernennung in der „Germania“ vom 17. April 1932 von Pacelli selbst lanciert worden sein könnte. Zwar glaubte Föhr an eine Quelle aus Freiburg, doch ebenso denkbar ist, dass Pacelli die Nominationsabsicht dem römischen Korrespondenten Raitz von Frentz, der immerhin als Verfasser des Artikels genannt wurde, tatsächlich kommunizierte, um die Reaktion in Baden zu beobachten und auf dieser Grundlage über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Dass der Kardinalstaatssekretär mit dem Freiherrn hinsichtlich der badischen Angelegenheit in Verbindung stand, geht aus einer handschriftlichen Notiz auf einem Zeitungsartikel in den vatikanischen Quellen eindeutig hervor. Vgl. „Die deutschen Bischofsstühle“, in: „Kölnische Volkszeitung“ Nr. 29 vom 29. Januar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1931–1939, Pos. 620 P.O., Fasz. 136, Fol. 58r. Dies würde die vorsichtige Vorgehensweise Pacellis noch einmal zusätzlich untermauern. 480
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a) Die Art der erlaubten staatlichen Bedenken sollte von „allgemeinpolitischer“ Natur sein. Damit konnten sich seiner Ansicht nach die Einwände nur auf Inhalte beziehen, die mit der staatsbürgerlichen Loyalität zusammenhingen, nicht aber aus parteipolitischen Interessen gespeist wurden. Welche Kriterien unter das politische Bedenkenrecht fielen, hatte kurienintern die AES im Kontext der bayerischen Konkordatsverhandlungen geklärt.1857 b) Die Anfrage durfte erst nach der Erzbischofswahl über den Gewählten und nicht schon vor der Wahl über alle drei zur Auswahl stehenden Kandidaten erfolgen. Diese Diskussion hatte es bereits in den preußischen Verhandlungen gegeben, in denen Pacelli stringent an seiner Lösung festgehalten hatte. Er fürchtete, dass ansonsten der ungebührlichen Einflussnahme auf den Wahlakt Tür und Tor geöffnet würden. Ergänzen könnte man an dieser Stelle noch die Frage nach der kirchlichen Instanz, welche mit der Regierung Kontakt aufnehmen sollte. Im Preußenkonkordat musste Pacelli zugestehen, dass das Domkapitel diese Aufgabe übernahm. Diese Konzession brauchte er in Baden nicht zu machen, da die Zentrumspartei dafür sorgte, dass die staatliche Verhandlungsgrundlage den Heiligen Stuhl als Urheber der Anfrage bestimmte – anders als etwa noch der „Remmele-Entwurf I“. Die Interaktion mit dem Staat oblag seiner Ansicht nach nur der Spitze der Hierarchie – dies hatte er gegenüber Fritz in der Unterredung vom März 1926 nachdrücklich eingeschärft. c) Schließlich mussten die etwaigen vom Staat vorgebrachten Bedenken gegen den gewählten Kandidaten bewertet werden, was die Frage der Verbindlichkeit eines Einspruchs aufwarf. In dieser Hinsicht sicherte Pacelli dem Heiligen Stuhl die volle Freiheit, übrig blieb nur die moralische Verpflichtung, sich mit der Regierung zu einigen. Diese Interpretation der Klausel bereitete er in den römischen Verhandlungen vor, indem er die strenge preußische Formel: der Heilige Stuhl werde „niemand bestellen“ in das erheblich schwächere: „vergewissern, ob“ Bedenken bestanden, umwandelte. Pate stand hierbei vermutlich die bayerische Form der Klausel, die allerdings einen höheren Grad an Verbindlichkeit besaß, insofern sie Rom vorschrieb, sich zu „vergewissern, dass“ keine staatlichen Einwände existierten. Ausdrücklich thematisiert wurde die Verbindlichkeitsfrage aufgrund des Widerstands der Regierungskoalition gegen die in den römischen Verhandlungen vereinbarte Fassung der Klausel. Das Staatsministerium wünschte im Ernstfall eine freundschaftliche Einigung. Als der Kardinalstaatssekretär jedoch weitergehende Forderungen aufstellte, gab sie sich damit zufrieden, dass der Heilige Stuhl lediglich versuchen werde, eine Einigung herbeizuführen. Der Staat stimmte damit einer letztendlich völligen Freiheit des Heiligen Stuhls im Umgang mit den staatlichen Bedenken zu. Diese Gelegenheit ließ sich Pacelli nicht entgehen und fixierte die günstige Interpretation im Zusatzprotokoll. Wie geschickt er verhandelte, zeigt sich schließlich noch bei der Bestimmung über die Koadjutoren mit Nachfolgerecht. In den römischen Verhandlungen im August 1932 gestand er Baumgartner zunächst zu, dass der Heilige Stuhl bei Einsetzung eines Koadjutors einvernehmlich mit der Regie1857
Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Klärung der politischen Klausel). 481
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rung vorgehen werde. Dies konnte der Kultusminister gegenüber der Regierung als Verhandlungserfolg anpreisen, um im Gegenzug die Zustimmung nicht zuletzt zu Pacellis Forderungen zum III. Konkordatsartikel zu gewinnen. Nachdem diese gewährleistet war, nahm Pacelli sich die Koadjutorbestimmung in den Rorschacher Gesprächen noch einmal vor und erreichte die Substitution von „Einvernehmen“ mit „Benehmen“ im Vertragstext, wobei er unter letzterem nichts weiter als eine unverbindliche Anhörung der Regierung verstand. Auf diese Weise hatte er den vorigen Erfolg des Kultusministers wieder zunichte gemacht. Zwar akzeptierte er im Gegenzug, dass die politische Klausel auch für die Installation des Koadjutors galt, doch wie wirksam oder vielmehr unwirksam diese im Zweifelsfall war, wurde bereits deutlich. Den impliziten oder indirekten Einfluss, den Pacelli der Regierung bei der Einsetzung Gröbers zuteil werden ließ, münzte er schlussendlich in ein Konkordat um, in dem er das formale Mitspracherecht der Regierung bei der Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls auf ein nicht mehr unterbietbares Minimum reduzierte. 4. Für seine Kandidatenwahl kontaktierte Pacelli, soweit quellenmäßig nachvollziehbar, keinen Informanten. Dass er keine Gutachten über Person und Charakter Gröbers bedurfte, ist vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bekanntschaft einleuchtend. Um jedoch die vermeintliche Reaktion bei der badischen Regierung auf dessen Ernennung zu sondieren, wandte er sich über die Vermittlung seines langjährigen Vertrauten Kaas an Föhr (Mai 1932). Diese beiden Zentrumspolitiker waren zusammen mit Sester die wichtigsten Ansprechpartner für den Kardinalstaatssekretär in den Konkordatsverhandlungen und damit auch für die Abwicklung des Besetzungsverfahrens. Föhr war sein halboffizieller Kontaktmann in der badischen Regierungskoalition, der ihm die neuesten konkordatsrelevanten Entwicklungen berichtete und bewertete. Seine Ratschläge nahm Pacelli durchaus ernst, wie insbesondere die getreue Übernahme von Föhrs Notifikationsformel beweist (Mai 1932). Auch den wirkungsvollen Vorschlag, mit Zusatzforderungen auf die staatlichen Einwände gegen die in Rom vereinbarte politische Klausel zu reagieren, adaptierte Pacelli (August 1932), während er seinem Schreiben vom 9. Januar 1932, mit dem er auf Baumgartners Rechtsauffassung antwortete, entgegen Föhrs Empfehlung einen inoffiziellen Charakter gab. Er folgte dem badischen Zentrumsführer also nicht vorbehaltlos. Insbesondere sein Zutrauen zu Kaas war größer, der seine Position zu hundert Prozent unterstützte: Auf ihn hörte Pacelli nicht nur „blind“, die Publikation der Einsetzung Gröbers zu verschieben (März 1932) und akzeptierte nicht nur dessen Rat, auf eine staatliche Antwort nach der Notifikation des Ernannten zu warten, wodurch diese Mitteilung letztlich in eine „aktive“ Beteiligung der Regierung umgewandelt wurde (Mai 1932). Sondern bei einer Meinungsverschiedenheit der beiden Zentrumspolitiker – namentlich hinsichtlich der Auswirkung der Wiederbesetzung des vakanten Erzbischofsstuhls auf die Konkordatsverhandlungen – entschied er sich für Kaasʼ Ansicht (wiederum Mai 1932). Der Prälat trat mehrfach als Pacellis informelles Sprachrohr in Erscheinung, wobei die vatikanischen Quellen letztlich nur vermuten lassen, was zwischen den 482
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beiden an Absprachen und Korrespondenzen stattgefunden hat, aber nicht überliefert worden ist – hier bleibt einiges im Dunkeln.1858 Die dritte zentrale Figur war schließlich der Freiburger Kapitularvikar, der sich zunächst vorbehaltlos auf Pacellis Seite schlug und dessen Anliegen sowohl im Metropolitankapitel als auch im badischen Zentrum verfocht. Einerseits nahm der Kardinalstaatssekretär die Gutachten, die Sester für ihn anfertigte, durchaus mit Interesse zur Kenntnis und ging inhaltlich weitgehend mit ihm konform. Diese Nähe wird durch die Beobachtung gestützt, dass Pacelli ihm vertrauliche Schreiben vorlegte, die an den Kultusminister gerichtet waren.1859 Andererseits jedoch fällt auf, dass der Kardinalstaatssekretär kein einziges Gutachten von Sester angefordert hatte. Es war also dessen Eigeninitiative, welche die Verbindung zu Pacelli herstellte und aufrecht erhielt. Offenkundig speiste sie sich aus seinen persönlichen Ambitionen auf den Posten des Erzbischofs. Ob Pacelli das hohe Engagement Sesters, das dieser in seiner regelmäßigen Berichterstattung demonstrierte, entsprechend durchschaute, sei dahingestellt. Interessanter ist, dass er ab Mitte Januar 1932 lediglich mit Dankschreiben auf Sesters Lageberichte antwortete, ohne eigene Gedanken preiszugeben oder gar den ins Auge gefassten Bischofskandidaten zu verraten. Da Sester schließlich auch mit seiner Intrige bei Pacelli scheiterte, blieb sein Einfluss letztlich gering. Seine düsteren Prognosen über die Fortschritte in der Konkordatsfrage bestärkten Pacelli sicherlich darin, den Vertragsabschluss vor Erledigung der Sedisvakanz nicht mehr abwarten zu wollen. Doch seine Selbstanpreisung sanktionierte Pacelli nicht, was dazu führte, dass sich Sester nach Gröbers Nomination nicht mehr meldete. Die Berichterstattung über die Reaktionen in Baden auf das Ende der Sedisvakanz übernahm nun der Berliner Nuntius (vgl. Nr. 5). Einen Vertrauten für die letzte Phase der Konkordatsverhandlungen fand Pacelli schließlich noch in Gröber selbst, den Erzbischof nach der Intention Pacellis, der sich notfalls auch für ihn gegen das Metropolitankapitel stellte, wie er es bei der Diskussion um den III. Konkordatsartikel tat. 5. Die Politik des Heiligen Stuhls im Besetzungsfall und den damit eng verwobenen Konkordatsverhandlungen bestimmte ausschließlich Pacelli. Das zeigt sich bereits daran, dass die Strategie, die er schon als Nuntius verfolgte, nämlich das Erzbischofswahlrecht gegen die badische Konkordatsbereitschaft zu tauschen, in Kontinuität zu jener stand, die er als Kardinalstaatssekretär umsetzte. Seine Behörde und andere Kongregationen spielten offensichtlich keine maßgebliche Rolle. Abgesehen von der Korrespondenz mit der Konsistorialkongregation, die reine Formalitäten behandelte, existieren in den Akten keine innerkurialen Briefwechsel. Das Sanctum Officium wurde
1858 1859
Vgl. zur Rolle, die der Prälat für Pacelli in den Verhandlungen spielte, May, Kaas 2, S. 459–461, 465. Das betraf nicht nur seine Stellungnahme vom 9. Januar 1932, sondern auch seine „letzte Warnung“ vier Wochen später. Vgl. Pacelli an Sester vom 16. Februar 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1933, Pos. 609 P.O., Fasz. 122, Fol. 66r. 483
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zur Personalie Gröbers nicht konsultiert, da dieser bereits Diözesanbischof war. Die AES scheint in der Konkordatsfrage nicht konferiert zu haben. Pacellis engere Mitarbeiter im Staatssekretariat treten höchstens als Zuarbeiter in Erscheinung – wie zum Beispiel laut Föhrs Erinnerungen der damalige Substitut, Alfredo Ottaviani, bei den Redigierungsarbeiten am Konkordatstext half1860 oder etwa Sekretär Silvani, der für Pacelli eine – die rechtliche Situation aus Sicht Roms nur unvollständig darstellende – Notiz zu Anfang der Sedisvakanz anfertigte (Dezember 1931). Seine zentralen kurialen Bezugsgrößen waren also ausschließlich der Papst und der Berliner Nuntius. Vier Audienzen mit Pius XI. zum Besetzungsfall lassen sich durch Pacellis Notizen nachweisen – in den ersten beiden ging es um Sesters Intrige, in den letzten beiden um die Opportunität der Veröffentlichung von Gröbers Nomination. Offenbar war Achille Ratti also über die zentralen Weichenstellungen des Falls im Bilde. Die ausgeklügelte Wahl Gröbers setzte genaue Kenntnisse der deutsch-badischen Verhältnisse voraus. Von daher wird man davon ausgehen können, dass die Kandidatur Gröbers von Pacelli ausging, dieser die Beweggründe mit dem Papst erörterte und der Pontifex die Personalie in voller Zustimmung zur Strategie absegnete. Während Pacelli dem Papst also genaue Rechenschaft über sein Handeln ablegte, ließ ihm dieser freie Hand. Zunächst in keiner Weise im Bilde war schließlich Orsenigo. Nicht nur, dass der Kardinalstaatssekretär die Konkordatsverhandlungen und die Zügel für die Wiederbesetzung selbst führte. Er kommunizierte auch lieber auf direktem Weg mit seinen badischen Gesprächspartnern vor Ort als über die Berliner Nuntiatur. Orsenigo gab in seinem Bericht vom 3. Mai 1932 selbst zu, dass eine Einschätzung der Situation in Freiburg und Karlsruhe von Berlin aus sehr schwierig sei. Doch dass dieses strukturelle Moment nicht der einzige Grund dafür war, dass Pacelli an ihm vorbei agierte, wird aus der Tatsache deutlich, dass er später Kaas und nicht etwa Orsenigo den Auftrag gab, mit Föhr die vermeintliche Reaktion der badischen Regierung auf eine Ernennung Gröbers zu sondieren – ein Gespräch, das in der Reichshauptstadt stattfand und daher auch leicht von Orsenigo hätte geführt werden können. Dieser wurde zunächst nicht einmal informiert, dass Pacelli in den Vorgängen um die Freiburger Sedisvakanz tätig war. Involviert wurde Orsenigo von dritter Seite, nämlich vom Metropolitankapitel. Die Domherren wussten nicht um die informelle Kommunikation zwischen Pacelli und Sester (obwohl dieser Kapitelsvikar war). Daher nahm Burger den formalen Weg zum Nuntius. Merkwürdig bleibt, dass Orsenigo sich erst als Reaktion darauf in Rom wegen der Sedisvakanz meldete – vier Wochen nach Fritzʼ Tod – und nicht schon direkt, obwohl dies seine Aufgabe gewesen wäre. Vor der amtlichen Nomination Gröbers erteilte Pacelli dem Nuntius nur zwei Arbeitsaufträge: Mitte Januar 1932 verlangte er eine Beurteilung des designierten Gröber, Anfang April sollte sich Orsenigo noch einmal zur geplanten Einsetzung äußern. So lautete zumindest das Ergebnis der Audienz Pacellis beim Papst – ein Schreiben, mit dem dies umgesetzt worden wäre, findet sich in den Quellen freilich nicht. Geht man davon aus, 1860
Vgl. Föhr, Geschichte, S. 39f. 484
II.3.5 Mainz 1935 II.3.5 Mainz 1935
dass Ratti diese Kontaktaufnahme mit dem Nuntius anordnete, so war er es vermutlich auch, der den ersten Arbeitsauftrag initiierte.1861 Jedenfalls schien Pacelli von sich aus an Orsenigos Urteil recht wenig interessiert, wenngleich er ihm dafür Lob zollte, auf Burgers Anfrage zur Kapitelswahl prompt abweisend reagiert zu haben. Die Kommunikation intensivierte sich erst, nachdem Sester als Pacellis Informant ausschied. Abgesehen von der formalen Pflicht, Gröbers Einverständnis einzuholen, beschränkte sich Orsenigos Tätigkeit dann jedoch darauf, über Resonanz und Pressestimmen zu berichten. Eine konstitutive Rolle gestand ihm Pacelli nicht zu.
II.3.5 Ein beinahe konfliktfreies und ‚minimalistischesʻ Verfahren: Mainz 1935 (Albert Stohr)1862 Der Tod von Ludwig Maria Hugo und eine vergessene Konkordatsbestimmung Die seit dem Frühjahr 1924 periodisch und zaghaft auftretenden Konkordatsofferten seitens der staatlichen und kirchlichen Autoritäten führten aufgrund der innenpolitischen Machtverhältnisse in Hessen und der untergeordneten Rolle, die ein hessischer Kirchenvertrag im Gegensatz zu den Verhandlungen mit den wichtigeren deutschen Staaten wie Bayern, Preußen und Baden in der Politik des Heiligen Stuhls spielte, nicht zu einem Konkordatsabschluss.1863 Erst das Reichskonkordat von 1933 regelte hier die staatskirchenrechtliche Materie neu. Der Artikel 14 gewährte dem Domkapitel im Anschluss an das badische Konkordat von 1932 das Recht, aus einer römischen Terna von Kandidaten den neuen Oberhirten zu wählen.1864 Der Heilige Stuhl sollte die Dreierliste für die Bischofswahl wiederum „unter Würdigung“ der Sedisvakanzliste des örtlichen Domkapitels und der jährlich vom Oberhirten des Bistums einzureichenden Kandidatenaufstellung anfertigen. Dieser badische Modus fand in dem hier behandelten Zeitraum das erste (und einzige) Mal Anwendung, als mit dem Tod Ludwig Maria Hugos am 30. März 1935
1861
1862
1863 1864
Genauso war es wenige Monate früher im Aachener Besetzungsfall 1930/31 gewesen. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.11 (Ergebnis Nr. 5). Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Mainz 1935 Heim, Bischöfe, S. 145–156; ansonsten die äußerst knappen Hinweise bei Braun, Albert Stohr, S. 42–44; Lehmann, Bischof Dr. Albert Stohr, S. 17– 19; Lenhart, Bischof Dr. Albert Stohr, S. 479. Ähnliches galt auch für Württemberg. Vgl. dazu Hamers, Konkordatspolitik. Vgl. Art. 14 des Reichskonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. Vgl. zur Regelung des badischen Konkordats Bd. 3, Kap. II.3.4 (Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen). 485
II.3.5 Mainz 1935
der Mainzer Bischofsstuhl vakant wurde.1865 Politisch gesehen stand die Wiederbesetzung unter dem Vorzeichen einer Zeit, in welcher die Pressionen der Nationalsozialisten auf die Kirche zunehmend offener und offensiver wurden. Ob man in der Kurie von dem Ableben Hugos, der die rheinische Diözese etwa 14 Jahre regierte, durch eine Nachricht des dortigen Domkapitels, vom Berliner Nuntius Orsenigo oder aus einer anderen Quelle erfuhr, geht aus den vatikanischen Akten nicht hervor. Jedenfalls gab Kardinalstaatssekretär Pacelli dem Nuntius bereits drei Tage nach Hugos Tod den Auftrag, „die angemessenen Maßnahmen für die Besetzung desselben [sc. des Mainzer, R.H.] Bischofsstuhls einleiten zu wollen“1866. Orsenigo sollte demnach das Mainzer Domkapitel auffordern, gemäß der angesprochenen Norm des Reichskonkordats sub secreto Sancti Officii eine Liste mit kanonisch tauglichen Bischofskandidaten aufzustellen. Überflüssig sei es hinzuzufügen – so der von Minutant Silvani verfasste Weisungsentwurf –, dass das gleiche Geheimnis nicht nur für die Namen der benannten Kandidaten, sondern auch für das Faktum der Kandidatenanzeige als solches gelte. Ursprünglich endete die Instruktion mit diesem Arbeitsauftrag. Aber dann strich Silvani die Schlussformel wieder und ordnete nachträglich an, auch den Freiburger Erzbischof Gröber zu bitten, künftig jedes Jahr eine Aufstellung episkopabler Geistlicher einzusenden, wie es der Artikel 3 des badischen Konkordats vorsah. Weil das Reichskonkordat diese Vorgabe außerdem auf alle deutschen Länder ausgeweitet hatte, die bislang keine konkordatäre Regelung besaßen, war sie ebenfalls für die Bischöfe von Rottenburg, Meißen und – sobald einer ernannt sein würde – Mainz relevant. Bislang war die Umsetzung dieser Konkordatsvorgabe, die in Freiburg bereits seit drei Jahren, im Reich seit zwei Jahren offiziell galt, jedoch vernachlässigt worden. Sollten auch die übrigen Oberhirten auf ihre Pflicht, einzeln und alljährlich dem Heiligen Stuhl Geistliche anzuzeigen, die sie für episkopabel erachteten, aufmerksam gemacht werden? Silvani war sich diesbezüglich nicht sicher und notierte: „Ich bin mir nicht bewusst, dass man bislang diese Vorschriften der beiden Konkordate befolgt hätte. Muss man irgendeinen Hinweis geben?“1867 Offenbar fiel Silvani das Versäumnis auf, als er im Konkordatstext blätterte, um dem Auftrag des Kardinalstaatssekretärs entsprechend die Weisung für Orsenigo zu entwerfen. Es ist davon auszugehen, dass er die Zweifelsfrage Pacelli vorlegte, der ihm wiederum auftrug, die angesprochene
1865
1866
1867
Alle übrigen Besetzungsfälle nach Konkordatsabschluss 1933 fanden in Bayern oder Preußen statt, das heißt nach den vom Reichskonkordat bestätigten Länderkonkordaten. In Meißen schließlich, wo ebenfalls der badische Modus griff, wurde 1936/37 ein Koadjutor mit Nachfolgerecht eingesetzt. „… a voler iniziare la pratiche opportune per la provvista della Sede medesima.“ Pacelli an Orsenigo vom 2. April 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 3rv, hier 3r. „Non mi risulta che finora si sia eseguita tale prescrizioni del due concordati. Si deve fare qualche richiamo?“ Notiz Silvanis ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 4r. 486
II.3.5 Mainz 1935
Aufforderung für die genannten Bischöfe zu ergänzen. Auch der Kardinalstaatssekretär hatte sich bislang um die Umsetzung des konkordatären Listenverfahrens nicht gekümmert. Silvani überlegte sogar, ob man für den aktuellen Mainzer Fall ersatzweise zusätzliche Kandidatenvorschläge von den (Erz-) Bischöfen von Freiburg und Rottenburg einfordern sollte. Wie die schließlich von Pacelli abgesegnete Weisung zeigt, ging dieser nicht darauf ein, sondern begnügte sich damit, die entsprechenden Oberhirten auf ihre Konkordatspflicht einer jährlichen Kandidatenliste hinzuweisen. Damit fungierte formal lediglich die Sedisvakanzliste, die das Mainzer Domkapitel aufstellen musste, als Grundlage für die römische Terna. Pacelli wartete also auf die Mainzer Vorschläge, um die Dreierliste anzufertigen.
Die Vorschläge des Mainzer Domkapitels: sechs Kandidaten für den Bischofsthron Das Mainzer Domkapitel wählte in einer Sitzung vom 1. April 1935 den bisherigen Generalvikar, Philipp Jakob Mayer, zum Kapitelsvikar, was dieser am darauffolgenden Tag der Berliner Nuntiatur meldete. Von dort gab Auditor Carlo Colli – Orsenigo trat am 2. April eine Reise nach Italien an und war daher nicht in Berlin1868 – diese Information am 3. des Monats an den Kardinalstaatssekretär weiter.1869 Unter dem Datum des 9. April schließlich, eine Woche nach Pacellis Weisung, erhielt das Domkapitel den Auftrag aus dem Büro des Nuntius, die Kandidatenliste aufzustellen, zu welchem Zweck es wiederum eine Woche später am 16. April zusammentrat.1870 Laut Wahlprotokoll wählten die Domherren, nachdem das Nuntiaturschreiben feierlich verlesen worden war, sechs Geistliche auf die Liste. Allerdings vermerkte man nicht, wie das Wahlprozedere abgelaufen war, wie viele Stimmen für einen Listenplatz gefordert waren und wer wie viele Voten auf sich vereinen konnte. Da die Namen, denen jeweils eine Kurzbiographie beigefügt war, außerdem
Vgl. den Hinweis in der Aufzeichnung Bülows vom 2. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 82f. (Nr. 80). 1869 Vgl. Colli an Pacelli vom 3. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 5rv. Colli fügte hinzu, dass der Kanoniker Georg Lenhart zum Ökonom für die Zeit der Sedisvakanz gewählt worden war. Der Kardinalstaatssekretär bestätigte wenig später den Empfang dieses Schreibens. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 9. April 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 6r. Vgl. dazu auch „Die Verwaltung der Diözese und der Bischöflichen Dotation während der Erledigung des Bischöflichen Stuhles“ vom 1. April 1935, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 5 vom 5. April 1935. 1870 Vgl. May an Orsenigo vom 23. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 1r–2v. Aus diesem Schreiben, das die Kandidatenliste des Mainzer Domkapitels vom 16. April enthielt, geht hervor, dass die Nuntiatur am 9. des Monats die Anordnung zur Aufstellung der Liste erteilte. Anwesend waren: Dompropst Jakob May, Kapitelsvikar Philipp Jakob Mayer, Georg Lenhart, Jakob Schmidt, Joseph Schneider, Karl Rauch, Nikolaus Schumacher und Ehrenkanoniker Johannes Bayer. 1868
487
II.3.5 Mainz 1935
alphabetisch angeordnet waren, schien es sich bei der Reihenfolge nicht einmal um eine Präferenzhierarchie zu handeln: 1) Zunächst benannten die Domherren den Freiburger Weihbischof und Doktor der Theologie, Wilhelm Burger: 1880 geboren, mit 23 Jahren zum Priester geweiht, 1924 ins Freiburger Domkapitel aufgenommen und zum Weihbischof erhoben. Im Sommer 1933 habe er das Amt des Dompropstes übernommen. 2) Sodann dachten die Kapitulare an den 49-jährigen Laurentius Eckstein, der 1908 in Mainz ordiniert worden sei. Den Ausschlag, ihn auf die Liste zu setzen, gab wohl seine ihrer Meinung nach bravouröse Leitung der Pfarrei Heppenheim, der er seit 1933 vorstand: „Im Amt des Seelenhirten, das er bald in einer kleineren Pfarrei, gegenwärtig in einer größeren Pfarrei ausübt, zeichnete er sich durch Klugheit und Seeleneifer aus.“1871 3) Des Weiteren proponierten sie den in der Theologie und Philosophie promovierten Wendelin Rauch, der im August sein 50. Lebensjahr vollendet habe. Nach den Studien an der Universität Freiburg und an der Gregoriana in Rom als Alumne des Germanicums sei er – so die Kapitulare – 1910 zum Priester geweiht worden. Anschließend habe Rauch den Dienst als Feldkaplan im Ersten Weltkrieg angetreten, bevor er später – obwohl Priester der Freiburger Erzdiözese1872 – zum Professor für Moraltheologie am Mainzer Priesterseminar ernannt worden sei. Als „ausgezeichnetes Werk“1873 deklarierten die Domkapitulare Rauchs Buch „Das Gesetz Gottes in der Ehe“1874, das von sämtlichen deutschen Bischöfen nachdrücklich empfohlen und zur Belehrung der Beichtväter bestimmt sei. 4) Aus dem eigenen Gremium schlugen die Kanoniker Nikolaus Schumacher vor: geboren 1882, Studium in Mainz, 1905 Priesterweihe und 1932 schließlich Mainzer Domkapitular. „Nachdem er das Pfarramt hervorragend ausgeübt hatte, machte er sich als Präses der Diözesanverbände junger Männer und Jugendlicher um die Förderung des frommen und religiösen Lebens der Jugend wohl verdient.“1875 5) Den nächsten Listenplatz bekam ein weiteres Mainzer Eigengewächs: der 45-jährige Albert Stohr. Nach seinen Studien in Mainz und Freiburg, seiner Promotion zum Doktor der Theologie
1871
1872
1873 1874 1875
„Munere pastoris animarum fungens tum in paroecia minus ampla, tum in paroecia actuali ampliore prudentia et zelo animarum excellebat.“ May an Orsenigo vom 23. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 1v. Hierbei handelte es sich um eine wichtige Information, da zumindest einer der drei von Rom zur Wahl gestellten Kandidaten in der Diözese Mainz inkardiniert sein musste. „… praeclarum opus …“ May an Orsenigo vom 23. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 2r. Vgl. Rauch, Gesetz. Im Jahr 1935 erschien die 2. Auflage dieses Büchleins. „Munere parochiali egregie functus uti praeses Dioecesanus Associationum virorum juniorum et adolescentium bene meritus est pietatem et vitam religiosam juventutis promovendo.“ May an Orsenigo vom 23. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 2r. 488
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sowie seiner Priesterweihe 1913, sei er 1925 zum Dogmatikprofessor im Mainzer Priesterseminar ernannt worden. Für erwähnenswert hielten die Domkapitulare, dass Stohr für einige Jahre Abgeordneter für die hessische Zentrumsfraktion im Landtag gewesen sei und derzeit dem Mainzer Katholischen Akademikerverband vorstehe. 6) Der letzte Geistliche war schließlich kein Freiburger oder Mainzer Weltkleriker, sondern der Erzabt der Erzabtei St. Martin zu Beuron, Raphael Walzer OSB. Seine Geburt 1888, seine Priesterweihe 1913, sein theologischer und philosophischer Doktorgrad sowie seine Erhebung zum Erzabt 1918 waren die knappen Angaben, die das Domkapitel zu ihm notierte.
Der Favorit Orsenigos: Wendelin Rauch Am 23. April sandte Dompropst Jakob May den Syllabus des Mainzer Kapitels an die Berliner Nuntiatur. Orsenigo, der zwei Tage später von seiner Reise zurückkehrte,1876 übermittelte eine Kopie dieser Liste am 28. des Monats an das Staatssekretariat. In dem dazugehörigen Bericht kommentierte er diejenigen Kandidaten, die er kannte.1877 Dazu gehörten nur vier der vorgeschlagenen Personen, über Eckstein und Schumacher wusste der Nuntius keine Angaben zu machen. Weihbischof Burger hielt Orsenigo für ungeeignet. Bereits früher habe er – so der Nuntius – Pacelli über Vorbehalte gegen Burger informiert, die der Freiburger Erzbischof Gröber geschildert habe:1878 ihm fehle der nötige „Opfergeist“1879. Ausführlicher äußerte sich Orsenigo über Rauch, über den er nur Gutes gehört habe: „… er ist geachtet von allen, die ihn kennen; ich hoffe, er wird auch wissen, ein Mann der Tat zu sein, falls der Herr ihn an der Spitze einer Diözese möchte: Er hat auch den Vorteil, dank seiner Lehrtätigkeit, einen großen Teil des Mainzer Klerus zu
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Vgl. den Hinweis in der Aufzeichnung Bülows vom 26. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 86f. (Nr. 84). Am 25. des Monats wickelte er bereits wieder die Amtsgeschäfte der Nuntiatur ab. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 28. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 7r–8r. Damit spielte Orsenigo offenbar auf das Urteil an, das Gröber im Kontext der Besetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls 1934 über einen „Msgr. B.“ gefällt hatte. Dort hieß es unter anderem: „Gegen ihn spricht eine gewisse Bequemlichkeit, eine leichte Oberflächlichkeit, eine gewisse Schwerfälligkeit in der Anpassung, was namentlich zur Zeit seine Stellung sehr erschweren könnte, und endlich die Tatsache, dass er politisch etwas belastet ist.“ Gröber an Orsenigo vom 15. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 6r. Vgl. dazu auch Bd. 2, Kap. II.1.14 (Orsenigos Kandidatenüberlegungen). „… spirito di sacrificio …“ Orsenigo an Pacelli vom 28. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 7v. 489
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kennen.“1880 Falls Rauch auf die römische Terna gelange – so Orsenigo –, müsse jedoch noch ein Kandidat aus der Mainzer Kirche hinzugefügt werden, um die Bestimmung des Reichskonkordats zu erfüllen. Hinsichtlich einer Nominierung Stohrs hegte Orsenigo Bedenken angesichts dessen politischer Tätigkeit. Übrigens sei er kaum 45 Jahre alt und könne sich eventuell zukünftig noch als nützlich erweisen. Weitaus negativer bewertete er schließlich den letzten Kandidaten: „Auch hinsichtlich der Kandidatur von Pater Walzer, Erzabt von Beuron, bin ich nicht ohne Furcht: Sein Ruf ist nicht so rein, wie man es für einen so hohen Posten verlangen würde, und auch sein Verhalten, in einigen Fällen etwas schwierig, hat bei ihm nicht viel Takt gezeigt.“1881 Als Favorit für die vakante Cathedra kristallisierte sich in der Darstellung des Berliner Nuntius also am ehesten der Mainzer Moraltheologe heraus.
Die römische Terna Die Kandidatensondierungen innerhalb der Kurie bleiben dunkel.1882 Fakt ist, dass Pizzardo, der Sekretär der AES, dem Heiligen Offizium am 10. Mai zwei Namen vorlegte, die das Staatssekretariat – und das bedeutete letztlich der Kardinalstaatssekretär – als mögliche Bischofsanwärter für Mainz in Betracht zog. Dabei handelte es sich zum einen um den Rektor des Würzburger Knabenseminars, Philipp Kaiser, zum anderen um Albert Stohr, der auf der Vorschlagsliste des Mainzer Domkapitels stand.1883 Nicola Canali, der Assessor der Höchsten Kongregation, fand in seinen Unterlagen gegen den Erstgenannten keine Einwände und sandte daher die Unbedenklichkeitserklärung noch am selben Tag zurück.1884 Der Name Stohr hingegen ergab einen Treffer, wie Canali erst Ende des Monats zurückschrieb. Auf einer Karteikarte im Archiv des Sanctum Officium stand
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„… stimato da tutti per il suo sapere, io spero saprà essere anche uomo di azione, qualora il Signore lo voglia a capo di una diocesi: egli ha anche il vantaggio di conoscere, grazie al suo insegnamento, gran parte del clero moguntino.“ Orsenigo an Pacelli vom 28. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 7v. „Anche per la candidatura di Padre Walzer, arciabbate di Beuron, non sono senza timore: la sua fama non è cosi limpida, come si richiederebbe per cosi alto posto, ed anche il suo procedere, in certi casi lievemente complicati, non ha dimostrato in lui molto tatto.“ Orsenigo an Pacelli vom 28. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 8r. Auch Audienznotizen Pacellis über etwaige Absprachen mit Pius XI. zur Mainzer Sedisvakanz konnten nicht gefunden werden. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 351/352. Vgl. Pizzardo an Canali vom 10. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 11r und 13r. Vgl. Canali an Pizzardo vom 10. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 12r. 490
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Folgendes zu lesen: „Prof. Stohr (senza nome) di Rottemburgo: indiziato di Modernismo.“1885 Weitere Recherchen jedoch – die offenbar für die späte Antwort verantwortlich waren – hätten keine näheren Informationen über diese Person erbracht, nicht einmal den Vornamen. Daher konnte Canali die Identität des inkriminierten Stohr mit dem Mainzer Albert Stohr nicht verifizieren und überließ diese Aufgabe Pizzardo. Diesem gab er darüber hinaus den Auftrag, sich um die Klärung der Frage zu bemühen, ob der Modernismusverdacht in der Vita des Mainzers irgendwelche Anhaltspunkte habe. Die einzige zusätzliche Angabe, die Provenienz aus Rottenburg, traf auf diesen jedenfalls nicht zu.1886 Handschriftlich vermerkte Canali auf dem Blatt für Pizzardo, dass die angesprochene Karteikarte auf das Jahr 1911 datiere und der Name Stohr mit aller Wahrscheinlichkeit von Kardinal De Lai indiziert worden sei.1887 Dieser ließ sich freilich nicht mehr über die causa Stohr befragen, da er bereits 1928 gestorben war. Vermutlich weil er seit 1908 bis zu seinem Tod als Sekretär der Konsistorialkongregation vorgestanden hatte, schickte man aus dem Staatssekretariat den Minutanten Primo Principi in das dortige Archiv, um Nachforschungen anzustellen.1888 Einträge über Stohr konnte man ihm hier jedoch nicht vorlegen. Principi begab sich daher zusätzlich in die Kongregation für die Seminare und Studieneinrichtungen, um gegebenenfalls dort vorhandene Informationen über Stohr zu erbitten. Hier hatte er mehr Glück: Überraschenderweise konfrontierte man ihn mit „hervorragenden Empfehlungen“ über Stohrs „Fähigkeiten als Professor“1889 – nichts also, was den Vorwurf des Heiligen Offiziums stützten konnte. Angesichts dieses Ergebnisses ignorierte Pacelli den Modernismusverdacht, den das Archiv der Suprema Congregatio für Stohr dokumentierte, weil er ihn entweder für haltlos erachtete oder weil er nicht davon überzeugt war, dass es sich bei dem dort genannten Stohr um den Mainzer Seminarprofessor Albert handelte. Bei näherem Hinsehen konnte der Vorwurf auch überhaupt keinen Sinn ergeben, denn im Jahre 1911, in dem die Denunziation laut Aussage Canalis erfolgt sein sollte, war Stohr mitten in seinen theologischen Studien an der Philosophisch-Theologischen Hochschule des Mainzer Priesterseminars: Wie sollte sich der damalige Student Stohr – zehn Jahre vor seiner Promotion zum theologischen Doktor in Freiburg – den 1885
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Canali an Pizzardo vom 28. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 14r. Wohl deshalb wurde die Ortsangabe „Rottemburgo“, vermutlich von Pizzardo, unterstrichen. De Lai war damals ein strenger Verfechter des Antimodernismus Piusʼ X. gewesen. Vgl. dazu etwa Azzolin, De Lai; Bedeschi, Curia, S. 109–121, 140–167. Vgl. Notiz vom 3. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 15r. Vgl.: „… ottime referenze per le sue doti di professore.“ Notiz vom 3. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 15r. 491
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Modernismusvorwurf zugezogen haben?1890 Allein diese biographischen Hinweise genügen, um zu erklären, warum Pacelli keine Zeit mehr verstreichen ließ und dem Berliner Nuntius am 3. Juni die Terna für die Mainzer Bischofswahl übersandte, auf der sich an zweiter Position Albert Stohr wiederfand.1891 Der Drittplatzierte war Philipp Kaiser, während ganz vorne Wendelin Rauch rangierte. Da Rauch bereits am 2. April des Jahres im Kontext des Berliner Besetzungsfalls dem Heiligen Offizium zur Prüfung vorgelegt worden war, brauchte dieser Verfahrensschritt für ihn nicht noch einmal wiederholt zu werden.1892 Pacelli gab dem Nuntius die Anweisung, die Terna sub secreto Sancti Officii dem Mainzer Domkapitel zugehen zu lassen, das wiederum unter demselben Geheimnis die Wahl entsprechend den kanonischen Vorgaben vorzunehmen habe. Anschließend sollte Orsenigo den Namen des erwählten Bischofs gemäß Artikel 14 Absatz 2 des Reichskonkordats dem zuständigen Reichsstatthalter mitteilen, um sich zu versichern, dass gegen ihn keine Bedenken allgemeinpolitischer Natur bestanden. Danach sei der Heilige Stuhl zu informieren.
Reibungslos: die Wahl Stohrs und das hessische Plazet Getreu Pacellis Anweisung übermittelte Orsenigo dem Dompropst am 8. Juni die Dreierliste und fügte die strikte Anordnung bei, sowohl über die römischen Kandidaten als auch über den Wahlakt selbst das Geheimnis des Heiligen Offiziums zu wahren.1893 Der Name des Gewählten müsse anschließend umgehend der Nuntiatur mitgeteilt werden. Obwohl das Reichskonkordat eindeutig – ebenso wie Pacelli in seiner Weisung – den Reichsstatthalter als Ansprechpartner für die politische Klausel deklarierte, war sich Orsenigo zunächst nicht sicher, mit welcher staatlichen Stelle er diesbezüglich Kontakt aufnehmen sollte. Um diese Frage zu klären, hatte er bereits unmittelbar vor seiner Italienreise am 2. April Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow vom Auswärtigen Amt aufgesucht.1894 Nach Aufzeichnung des Staatsbeamten stellte der Nuntius damals die Frage, ob er den neuen Bischof von Mainz gemäß Artikel 14, Absatz 2 des Reichskonkordats dem Reichsinnen- beziehungsweise Reichskultusministerium oder stattdessen der hessischen Regierung notifizieren sollte. Eine Klärung erachtete er laut Bülow für wichtig, damit nicht durch
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Vgl. zu Stohrs akademischem Werdegang und seinen theologiegeschichtlichen Arbeiten über die Trinitätslehre Bonaventuras beziehungsweise Ulrich von Straßburgs Walter, Auch heute. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 6rv. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15 (Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin). Vgl. Orsenigo an May vom 8. Juni 1935 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 6, Fol. 8r–9r (nur r). Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 2. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 82f. (Nr. 80). 492
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einen falschen Adressaten ein Großteil der 20-tägigen Frist eingebüßt würde, innerhalb derer die Regierung ihre politischen Bedenken vorbringen musste.1895 Orsenigo war offensichtlich bestrebt, neue Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsbehörden und dem Heiligen Stuhl, die es in den vorangegangenen Besetzungsfällen angesichts staatlicher Fristüberschreitungen regelmäßig gegeben hatte, zu vermeiden.1896 Nach eigenen Angaben lehnte Bülow eine Kontaktaufnahme des Nuntius mit der hessischen Regierung ab, konnte aber keine endgültige Antwort geben. Daher trug er die Angelegenheit dem Vatikanreferenten des Auswärtigen Amtes, Fritz von Menshauen, vor. Dieser verständigte wenige Tage später den Privatsekretär des abwesenden Nuntius, Pater Eduard Gehrmann SVD, dass die Anfrage ausschließlich an den hessischen Reichsstatthalter zu stellen sei.1897 Damit schien diese Angelegenheit geklärt, als Orsenigo vom Mainzer Domkapitel erfuhr, dass es Stohr zum neuen Diözesanbischof gewählt hatte – vom Wahldatum, dem 10. Juni, oder gar von der genauen Stimmenverteilung erhielt der Nuntius übrigens keine Kenntnis.1898 Allerdings war der Nuntius darüber im Zweifel, ob man „angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der preußischen Regierung … bei der Mitteilung an den Statthalter in Hessen auch das badische Konkordat Artikel 3, Nummer 2 anwenden“1899 sollte. Diese Frage legte er dem Kardinalstaatssekretär telegraphisch am 15. Juni vor, nachdem er ihm vom Wahlausgang berichtet hatte. Bei dem angesprochenen Konflikt ist vermutlich an die seit März des Jahres anhänglichen Devisenprozesse gegen katholische Klöster und kirchliche Einrichtungen zu denken, an die Maßnahmen der NS-Regierung gegen katholische Jugendverbände1900 und ihren Kampf gegen die Konfessionsschulen. Erst weni-
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Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. Vgl. insbesondere Bd. 2, Kap. II.1.14 (Die Kontroverse um die staatliche Einspruchsfrist und das Plazet für Machens sowie Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist). Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 5. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 83–85 (Nr. 81). Staatssekretär Bülow wiederholte diese Antwort am 26. April noch einmal gegenüber Orsenigo persönlich, nachdem dieser sich aus dem Urlaub zurückgemeldet hatte. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 26. April 1935, abgedruckt ebd., S. 86f. (Nr. 84). Ein Wahlinstrument konnte in den vatikanischen Unterlagen nicht gefunden werden. Vermutlich übermittelte das Domkapitel keines an die Nuntiatur, da Orsenigo den Dompropst expressis verbis nur aufgefordert hatte, den Namen des Erwählten mitzuteilen. „… riguardo attuale contesa col Governo Prussiano … citare nella comunicazione al luogotenente in Hessen anche Concordato Baden art. 3° n. 2.“ Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 18r. Zum Beispiel wurde eine Gruppe von 1.800 katholischen Jugendlichen auf der Rückfahrt von einer Pilgerreise zum Osterfest nach Rom an der Grenze durch deutsche Zollbeamte, SS-Truppen und Beamten der Gestapo durchsucht und verhört, die Verbandsfahnen und -abzeichen wurden beschlagnahmt. Die Jugendlichen waren zuvor von Pius XI. in einer Sonderaudienz empfangen worden, in welcher der 493
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ge Wochen zuvor, am 5. Mai des Jahres, hatte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sogar den Hirtenbrief der preußischen Bischöfe zur Schulfrage beschlagnahmt.1901 Was aber hatte das mit dem badischen Konkordat zu tun? Der genannte Konkordatsartikel – der durch das Reichskonkordat bekanntlich auch für Mainz galt – sah vor, dass der Heilige Stuhl sich über die politische Genehmheit des Kandidaten vergewisserte. Das Preußenkonkordat normierte im Gegensatz dazu eine Anfrage durch das entsprechende Domkapitel.1902 Anscheinend hielt es Orsenigo angesichts der gespannten Lage für besser, wenn das Mainzer Domkapitel und nicht der Heilige Stuhl die Notifikation beim hessischen Reichsstatthalter vornahm. In diesem Sinne verstand man offenbar die Anfrage des Nuntius auch im Staatssekretariat, wie eine handschriftliche Notiz Silvanis dokumentiert.1903 Sie schloss mit der Frage: Im Fall der Notifikation durch den Heiligen Stuhl gemäß badischem Konkordat, „soll man den Nuntius anweisen, diese vorzunehmen, sobald die Ernennung [nomina] des Kapitels erfolgt ist?“1904 Für Pacelli gab es in dieser Angelegenheit nichts zu diskutieren. Er hielt die letztgenannte Variante für maßgeblich, schließlich entsprach sie geltendem Recht. Auf den preußischen Modus umzuschwenken, entbehrte für ihn offenbar jeder Grundlage. Daher instruierte er Orsenigo am 22. Juni, dass es keinen Zweifel daran gebe, sich bei der Mitteilung an Reichsstatthalter Jakob Sprenger in Darmstadt an den entsprechenden Artikel des badischen Konkordats zu halten.1905 Aus Orsenigos Anfrage nach politischen Bedenken erwuchsen dann auch, anders als er vermutet hatte, keine Schwierigkeiten. So konnte er bereits am 10. Juli nach Rom telegraphieren: „Die hessische Regierung schreibt, dass keine politischen Schwierigkeiten bei der Ernennung des neuen Main-
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Papst „die in schweren Bedrängnissen stehenden deutschen Katholiken gelobt und ermuntert“ hatte. Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 89 Anm. 1. Orsenigo sprach wegen dieses Zwischenfalls im April und Mai mehrfach im Auswärtigen Amt vor. Vgl. die Aufzeichnungen ebd., Nr. 86, 88 und 89. Gleiches gilt für die zur antikatholischen Propaganda benutzten Devisenprozesse. Vgl. ebd., u. a. Nr. 97. Vgl. zum Thema der Sittlichkeits- und Devisenprozesse gegen Geistliche im Dritten Reich Hockerts, Sittlichkeitsprozesse; Hoffmann/Janssen, Wahrheit; Rapp, Devisenprozesse. Vgl. Hirtenbrief des deutschen Episkopats vom 5. Mai 1935, abgedruckt bei Stasiewski (Bearb.), Akten II, S. 177–181 (Nr. 215) und das Protestschreiben Bertrams gegen die Beschlagnahmung an Rust und Frick vom 7. Mai 1935, abgedruckt ebd., S. 181–183 (Nr. 216). Vgl. Art. 6, Abs. 1, Satz 3 des Preußenkonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Vgl. Notiz Silvanis „Provvista di Magonza“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 17r. „In questa seconda ipotesi, si deve interessare il Nunzio ad effettuarla non appena avvenuta la nomina del capitolo?“ Notiz Silvanis „Provvista di Magonza“ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 17r. Vgl.: „… non sembra dubbio che nella communicazione possa citarsi disposizione Concordato Baden.“ Pacelli an Orsenigo vom 22. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 19r. 494
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zer Bischofs bestehen.“1906 Während man in Darmstadt den Namen des neuen Oberhirten also schon durchgewunken hatte, erklärte der Nuntius am selben Tag gegenüber Bülow lediglich unbestimmt, dass „Vorschläge für die Neubesetzung des Bischofsstuhles in Mainz nunmehr erfolgen würden“1907. Vier Tage später schließlich gab der Kardinalstaatssekretär dem päpstlichen Gesandten in Berlin den Auftrag, den Erwählten selbst nach seiner Zustimmung zu befragen.1908 Bereits drei Tage darauf drahtete Orsenigo knapp zurück, dass Stohr mit seiner Erhebung zum Bischof von Mainz einverstanden sei.1909 Der Kardinalstaatssekretär ließ sofort beim Sekretär der Konsistorialkongregation die Ernennungsdokumente für Stohr in Auftrag geben.1910 Damit stand der 17. Juli als offizielles Nominationsdatum fest.1911 Die Wiederbesetzung des bischöflichen Stuhls konnte nun in die Öffentlichkeit getragen werden. Auf Veranlassung des Staatssekretariats publizierte der „Osservatore Romano“ die Ernennung in der Sonntagsausgabe vom 21. Juli.1912 Am Vortag hatte Pacelli dem Berliner Nuntius via Telegramm bereits angekündigt, die Ernennung in der vatikanischen Zeitung zu lancieren.1913 In mündlicher Form informierte Orsenigo am Montag schließlich auch den
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„Governo dellʼHessen scrive che non esistono difficoltà politiche alla nomina nuovo Vescovo Magonza.“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 20r. Der innerstaatliche Umgang mit dem Erinnerungsrecht lässt sich aufgrund fehlender staatlicher Quellenüberlieferung nicht nachzeichnen. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 145. Dass weder die Akten des Kirchenministeriums noch des Auswärtigen Amtes diesbezüglich etwas vorweisen, liegt wahrscheinlich daran, dass der Reichsstatthalter die Anfrage nicht an die Berliner Behörden weiter kommunizierte. Aufzeichnung Bülows vom 10. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 100– 102 (Nr. 97), hier 102. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 14. Juli 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 21r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 17. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 22r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 17. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 24rv. Für die nötigen biographischen Kenntnisse erhielt Rossi einen Exzerpt des entsprechenden Passus aus der Mainzer Vorschlagsliste. Vgl. Curriculum vitae Albert Stohrs, ebd., Fol. 23r. Vgl. AAS 27 (1935), S. 306. Im Geheimen Konsistorium vom 16. Dezember des Jahres wurde Stohr präkonisiert. Vgl. ebd., S. 464. Vgl. die Ernennungsnotiz, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 26r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 169 vom 21. Juli 1935. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 19. Juli 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 25r. Nach der Veröffentlichung denunzierte Dr. Klaus Reischmann aus Bingen den neuen Oberhirten beim Reichskultusminister Bernhard Rust: Stohr habe als Zentrumsabgeordneter den Nationalsozialisten eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Konkordaten unterstellt und den Nationalsozialismus damit verleumdet. „Dr. Reischmann, der gegenüber Kultusminister Rust seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß in der Mainzer Bischofsfrage mit der Ernennung Albert Stohrs noch nicht das letzte Wort gesprochen sei, vertrat die Ansicht, der neue Staat müsse ein großes Interesse daran 495
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Staatssekretär des Auswärtigen Amtes darüber, dass der Mainzer Professor die Nachfolge Hugos antrete.1914 Laut den Notizen Bülows benutzte er die Gelegenheit, um die Ablegung des Treueids anzusprechen, die der Artikel 16 des Reichskonkordats den neuen Bischöfen vor Inbesitznahme ihrer Diözesen vorschrieb.1915 Da diese Norm ausdrücklich den Reichsstatthalter als Instanz nannte, vor welcher der Eid zu leisten war, schien Orsenigo klar, dass Stohr von Sprenger vereidigt werden musste. Bülow gab diesbezüglich jedoch keine definitive Antwort, sondern versprach eine spätere Stellungnahme. Am Nachmittag des Tages konferierte der Nuntius mit Menshausen, der die Zustimmung der Reichsregierung zur Ansicht des Nuntius zum Ausdruck brachte.1916 Menshausen stellte zudem formal fest, dass die Notifikation des Gewählten beim hessischen Reichsstatthalter stattgefunden hatte. Auf sein Bitten – so notierte sich der Vatikanreferent – habe Orsenigo zugesagt, in zukünftigen Fällen gleichzeitig das Auswärtige Amt über den Namen des gewählten Oberhirten in Kenntnis zu setzen. Dies holte der Nuntius zwei Tage später nach mit einer offiziellen Ernennungsanzeige an Reichsaußenminister Konstantin von Neurath.1917
Stohrs Einsetzung zum Bischof von Mainz und Disharmonien über den Treueid Das von Pacelli unterzeichnete Ernennungsschreiben wurde am 14. August im Amtsblatt der Diözese publiziert und vier Tage später von den Kanzeln des Bistums verlesen.1918 In Entsprechung zum Besetzungsmodus hieß es darin, Pius XI. habe „die Wahl unseres geliebten Sohnes Albertus Stohr … zum Bischof an Eurer z[ur] Z[eit] ihres Oberhirten beraubten Kathedralkirche, die vom Domkapitel dieser Kirche nach den Bestimmungen des Konkordats aus der Zahl von drei von Uns bezeichneten Kandidaten in recht- und gesetzmäßiger Weise vorgenommen wurde, kraft unserer Apostolischen Voll-
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haben, ‚die Bischofsstühle mit Männern besetzt zu sehen, die ihm [sc. dem Nationalsozialismus, R.H.] unvoreingenommener als Dr. Stohr gegenüberstehen.ʻ“ Heim, Bischöfe, S. 149. Allerdings bewirkte die verspätete Eingabe im neuerrichteten Kirchenministerium, das mit dem politischen Bedenkenrecht in diesem Fall überhaupt nicht befasst war, nichts. Vgl. ebd., S. 149f. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 22. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 104f. (Nr. 100). Vgl. Art. 16 des Reichskonkordats, Huber/Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 509. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 22. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 106f. (Nr. 102). Vgl. Orsenigo an Neurath vom 24. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 108 (Nr. 103). Vgl. Ernennungsbulle Stohrs vom 17. Juli 1935, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 10 vom 14. August 1935. 496
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macht anerkannt und bestätigt … und denselben Albertus zum Bischof und Oberhirten der genannten Kathedrale ernannt“1919.
Stohr plante seine Bischofsweihe und feierliche Inthronisation in der alten rheinischen Bistumsstadt für den 24. August, dem Fest des heiligen Apostels Bartholomäus.1920 Am 5. des Monats bat er über Kapitelsvikar Mayer den hessischen Reichsstatthalter, einen Termin für die Eidesleistung anzugeben.1921 Die nötigen Vorbereitungen für die Zeremonie waren bereits getroffen, die Einladungen verschickt, als acht Tage nach der Anfrage das Büro des Reichsstatthalters meldete, Sprenger sei den August über im Urlaub und könne die Vereidigung daher nicht vornehmen. Über diese Problematik unterrichtete Orsenigo Staatssekretär Bülow am 14. August und „wies auf die Unzuträglichkeiten hin, die sich aus einer Verschiebung der Inthronisation ergeben müßten, vor allen Dingen, wenn sich die Presse des Falles bemächtige, was er durchaus zu verhindern wünsche“1922. Laut Aufzeichnung des Staatsbeamten bat er ihn, sich zu kümmern, dass der ins Auge gefasste Termin eingehalten werden konnte. Beide diskutierten drei Optionen, wie das zu erreichen sei: Man könne erstens übereinkommen, dass ausnahmsweise die Vereidigung erst nach der Inthronisation stattfinde, was beide jedoch als nicht opportun bewertet hätten. Zweitens gäbe es die Möglichkeit – nach einem Vorschlag Orsenigos –, dass Stohr den Eid am Urlaubsort des Reichsstatthalters ablege, vorausgesetzt dieser befinde sich nicht im Ausland. Drittens schließlich könne man die Pflicht Sprengers, den Eid abzunehmen, an einen anderen Reichsminister delegieren, sodass die Prozedur dann in Berlin erfolgen würde.1923 Bevor man sich aber auf eine Variante verständigte, wollte Bülow zunächst eruieren, wo der hessische Reichsstatthalter seinen Urlaub verbrachte und „warum er anscheinend die Eidesleistung nicht während seines Urlaubs vornehmen will“1924. Als Reaktion auf ein Telefongespräch zwischen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und der Darmstädter Behörde am folgenden Tag übersandte letztere eine Stellungnahme ihres Büroleiters, des Regierungsrats Heinrich Reiner. Dieser bemängelte, dass Kapitularvikar Mayer in seinem Schreiben vom 5. August, in dem er die Frage der Vereidigung gestellt hatte, versäumt habe, den 1919
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Ernennungsbulle Stohrs vom 17. Juli 1935, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 10 vom 14. August 1935. Vgl. die amtliche Bekanntmachung „Die Konsekration und Inthronisation des Hochwürdigsten Herrn Bischofs“ vom 20. August 1935, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 11 vom 20. August 1935. Laut Can. 1006 § 1 CIC 1917 musste die Weihe an einem Sonntag oder einem Apostelfest erfolgen. Vgl. zum Folgenden Heim, Bischöfe, S. 150–154. Aufzeichnung Bülows vom 14. August 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 116f. (Nr. 114), hier 116. Bülow dachte dabei an Wilhelm Frick (Reichsminister des Innern), Bernhard Rust (Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung) oder Hanns Kerrl (hier schon Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten). Eine Delegation an einen Beamten aus dem Darmstädter Büro Sprengers hielt der Staatssekretär für unzweckmäßig. Aufzeichnung Bülows vom 14. August 1935, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 117. 497
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ins Auge gefassten Weihetermin zu erwähnen.1925 Erst durch den Anruf aus dem Auswärtigen Amt habe man ihn erfahren. Reiner fuhr fort, dass man Sprenger im Urlaub von der Situation unterrichtet habe. Dieser bedaure, nicht rechtzeitig von kirchlicher Seite informiert worden zu sein. Jetzt sei es jedoch zu spät, um den Urlaub zu unterbrechen, sodass Stohr einen neuen – und damit späteren – Termin benennen möge, an dem er bereit sei, den Eid abzulegen. Angesichts dieser unkooperativen Replik wandte sich Bülow am 16. des Monats an das Reichskirchenministerium und äußerte die Hoffnung, dass der angedachte Weihetermin doch noch eingehalten werden könne. Im gegenteiligen Fall befürchtete er, dass „durch das offenbar vorliegende Mißverständnis bestehende Spannungen verschärft werden und dem Ausland ein erneuter unerwünschter Anlaß geboten wird, kritisch zur deutschen Kirchenpolitik Stellung zu nehmen“1926. Das Kirchenministerium maß diesem Argument offenbar Gewicht zu, denn am nächsten Tag kontaktierte es Regierungsrat Reiner in Darmstadt und erklärte, dass eine baldige Vereidigung trotz des Urlaubs des Reichsstatthalters wünschenswert sei. Reiner versprach, Sprenger die Sache noch einmal vorzulegen. Als das Kirchenministerium in den nächsten Tagen keine Antwort erhielt, erkundigte es sich am 22. August über den Stand der Dinge. Reiner erklärte, das Domkapitel sei kurz zuvor noch einmal vorstellig geworden und habe darauf beharrt, dass der Weihetermin unmöglich verschoben werden könne. Jedoch hätten die Kapitulare angemerkt, dass eine Vereidigung auch problemlos später möglich sei, ohnehin wolle sich Stohr nach der Weihe für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Dies war schließlich auch der Modus, mit dem sich die staatlichen Stellen wohl oder übel abfanden. Die feierliche Weihe- und Inthronisationszeremonie erfolgte wie geplant am 24. August im Mainzer Dom und zwar ohne dass die Vereidigung vorausgegangen wäre. Unter der Assistenz der Bischöfe Sproll von Rottenburg und Sebastian von Speyer konsekrierte Erzbischof Gröber Stohr zum Bischof. Den Eid legte der Neubischof erst am 21. September ab.1927 1925
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Dass dieses Versäumnis gewiss nicht glücklich war, ist einsichtig. Aber daraus wie Bernd Heim eine „totalitäre Erwartung des Kapitels“ abzuleiten, „nach der sich die Urlaubspläne hoher Reichsfunktionäre an den Erfordernissen kirchlicher Weihehandlungen zu orientieren hatten“ und diese „totalitäre Erwartung“ des Domkapitels dann auch noch der „totalitären Einstellung des Reichsstatthalters“ gegenüberzustellen, erscheint überzogen. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 156. Bülow an das Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten vom 16. August 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 152. Schon im Anschluss an das Gespräch mit dem Nuntius vom 14. August hatte sich Menshausen mit dem Kirchenministerium diesbezüglich in Verbindung gesetzt. Dieses hatte ihn jedoch zunächst an das Büro des Reichsstatthalters in Darmstadt beziehungsweise an das Reichsinnenministerium verwiesen. Vgl. ebd., S. 151. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 152–154. Diese Reihenfolge – erst Weihe sowie Inthronisation und danach Eidesleistung – missfiel der staatlichen Seite, zumal man erfuhr, dass Stohr nach seiner Einsetzung sich nicht nur „zurückziehen“ – wie das Domkapitel dem Büro des Reichsstatthalters mitgeteilt hatte –, sondern nach Rom zu Pius XI. reisen wollte. Dies verstand man als einen symbolischen Ausdruck der Ergebenheit Stohrs gegenüber dem Papst vorgängig zu der gegenüber dem deutschen Staat. Eine solche unerwünschte Situation, die aus „zufälligen Umständen“ (ebd., S. 152) resultiere, durfte sich nach An498
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Mehr als zwei Monate waren seit der letzten Korrespondenz vergangen, die zwischen Staatssekretariat und Nuntiatur in der Mainzer Besetzungsfrage gewechselt wurde, als Auditor Colli in Vertretung des Nuntius, der soeben einen weiteren Urlaub antrat,1928 am 24. September einen abschließenden Bericht in dieser Angelegenheit an Pacelli übermittelte.1929 Er erwähnte nur knapp das Faktum der Eidesleistung am genannten Datum, sodass Pacelli zumindest über den offiziellen Kanal der Berliner Nuntiatur von dem Chaos um den Bischofseid nichts mitbekam. Colli fügte zwei Zeitungsausschnitte bei, von denen der erste – eine kurze Notiz aus der Sonntagsausgabe der „Germania“ vom 22. September – feststellte, dass Stohr, nach der Vereidigung am Samstagmorgen im Amtsgebäude des hessischen Reichsstatthalters, den Wunsch „auf ein herzliches Zusammenarbeiten zwischen Kirche und Staat“1930 ausgedrückt habe. Nach der Berichterstattung des zweiten Artikels, welcher der „Frankfurter Zeitung“ vom selben Tag entnommen war, bekräftigte Sprenger, alles zu tun, um das Verhältnis beider Gewalten „gut zu erhalten“, jedoch mit der Einschränkung:
1928
1929
1930
sicht des Reichskirchenministeriums nicht wiederholen, wie es am 26. August dem hessischen Reichsstatthalter gegenüber betonte. Es erwartete daher auch, dass bis zur Vereidigung nicht mehr viel Zeit verstrich. Das Berliner Auswärtige Amt war grundsätzlich damit zufrieden, dass dem Mainzer Bischof trotz der Abwesenheit Sprengers die Inthronisation ermöglicht worden war. Dennoch fügte Bülow in einem Schreiben vom 4. September an das Kirchenministerium hinzu, dass die Abweichung von der im Konkordat vereinbarten Praxis nicht sachgerecht erfolgt sei. Vielmehr hätte sie zwischen den Vertragspartnern, und das bedeutete zwischen der Nuntiatur und dem Kirchenministerium, ausgehandelt werden müssen. Bülow plante zu diesem Zeitpunkt, dem Heiligen Stuhl eine Note zukommen zu lassen, in der man die umgekehrte Abfolge von Einsetzung und Eidesleistung als Ausnahme qualifizieren und ihr so jeden Präzedenzcharakter nehmen wollte. Bevor das Ministerium für kirchliche Angelegenheiten diesem Plan zustimmte, wandte sich Ministerialrat Johannes Schlüter am 17. September erneut an den Reichsstatthalter in Darmstadt. Dieser sollte untersuchen, ob die kirchliche Seite gegen den Artikel 16 des Reichskonkordats verstoßen habe. Das wäre dann der Fall, wenn Stohr vor der Vereidigung bereits von seiner Diözese Besitz ergriffen – man wusste in Berlin nicht, ob am 24. August nur die Bischofsweihe oder auch die Inthronisation samt vorangegangener Inbesitznahme stattgefunden hatte – sowie bereits Amtshandlungen vorgenommen hätte. Am 27. September antwortete Sprenger, dass er Stohr am 21. des Monats „in schlichter Form vereidigt habe“. Ebd., S. 154. Darüber hinaus sei bei der Bischofsweihe erklärt worden, dass Stohr bis zur Ablegung des Treueids nicht als Diözesanbischof agieren würde. Da er – so Sprenger zu Schlüter abschließend – von gegenteiligen Tatsachen nichts gehört habe, bestehe kein Anlass, „am korrekten Verhalten Bischof Stohrs zu zweifeln“. Ebd., S. 154. Schlüter informierte Mitte Oktober das Auswärtige Amt von dieser Einschätzung und empfahl erfolgreich, unter diesen Umständen von der angedachten Eingabe an den Heiligen Stuhl abzusehen. Vgl. die Hinweise in den Aufzeichnungen Menshausens vom 16. September 1935 beziehungsweise Neuraths vom 17. September 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 125 (Nr. 125) beziehungsweise S. 128f. (Nr. 128). Vgl. Colli an Pacelli vom 24. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 28r–29r. „Vereidigung des Bischofs von Mainz“, in: „Germania“ Nr. 264 vom 22. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 30r. 499
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„wie es vertraglich festgelegt ist, und wie insbesondere der Führer und Reichskanzler zu wiederholten Malen die Richtlinien gegeben hat“1931. Von Meyer habe er schließlich erfahren – so der Auditor abschließend –, dass Stohr das Bistum noch am Tag der Eidesleistung in Besitz genommen habe. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Besitzergreifung keineswegs durch die feierliche Inthronisation erfolgte, sondern durch die Vorlage der päpstlichen Ernennungsdokumente beim Domkapitel. Daher konnte sich die ungewöhnliche Konstellation ergeben, dass Stohr zum Zeitpunkt der Eidesleistung zwar schon inthronisiert war, aber das Bistum noch nicht formal-rechtlich übernommen hatte. Erst nachdem er im Anschluss an die Vereidigung den Domherren das apostolische Schreiben vorgelegt hatte, war er tatsächlich Bischof von Mainz und konnte die diözesanen Amtsgeschäfte führen.1932 Pacelli schließlich ging auf diesen Sachverhalt nicht ein und nahm die vom Auditor übermittelten Informationen kommentarlos zur Kenntnis.1933
Ergebnis 1. Da die vatikanischen Quellen in diesem Besetzungsfall keinen ausdrücklichen Hinweis liefern, welchen Motiven Pacelli bei der Suche nach dem Nachfolger des verstorbenen Bischofs Hugo folgte, bleibt man auf eine Analyse der Ternakandidaten angewiesen. Die Kandidatur Rauchs und Stohrs lässt sich leicht erklären: Beide Namen konnte Pacelli auf der Mainzer Vorschlagsliste lesen. Außerdem hatte Pacelli den Erstgenannten erst wenige Wochen zuvor bereits auf der Berliner Terna platziert – der Berliner Besetzungsfall lief mit dem Mainzer nahezu parallel –, das heißt, Rauch lag ohnehin gerade im Fokus des Kardinalstaatssekretärs. Doch woher nahm er den Namen Kaiser? Zunächst ist zu konstatieren, dass die Mehrheit des bayerischen Episkopats Kaiser für einen tauglichen Geistlichen hielt: Auf den Triennallisten vom 6. September 1932 und 20. März 1935 – also unmittelbar vor Aufstellung der Mainzer Terna – hatte Kaiser jeweils vier positive Voten (bei drei Enthaltungen) der bayerischen Bischöfe auf sich vereinen können.1934 Mit diesem Ergebnis belegte er auf der letztgenannten Triennalliste den zweiten Platz. Die Frage, wie er es von dort in die enge Auswahl Pacellis schaffte, lässt sich lösen, wenn 1931
1932
1933
1934
„Vereidigung des Bischofs von Mainz“, in: „Frankfurter Zeitung“ Nr. 485 vom 22. September 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 31r. Eine Bekanntmachung im Amtsblatt bestätigt Collis Bericht, dass Stohr am 21. September dem Domkapitel die Ernennungsurkunde vorlegte. Vgl. „Übernahme der Regierung der Diözese durch den neuen Bischof von Mainz“ vom 21. September 1935, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz Nr. 13 vom 10. Oktober 1935. Vgl. Pacelli an Colli vom 1. Oktober 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 32r. Vgl. die Triennallisten im Bd. 4, Anhang 1.2.1. 500
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man die Liste der „Sacerdoti ex-germanici episcopabili“ hinzuzieht, die Pacelli sich im März 1933 vom Rektor des Germanicums, Constantin Noppel SJ, hatte anfertigen lassen.1935 Kaiser war einer der dort aufgelisteten episkopablen Ex-Germaniker und mit der knappen Charakterisierung versehen: „Regens d[es] bisch[öflichen] Knabenseminars, langjähr[iger] bisch[öflicher] Sekretär, n[atus] [18]86 Würzburg“1936. In ihm bestand die einzige „Schnittmenge“ der Triennalliste von 1935 und der Germanikerliste von 1933, sodass seine Kandidatur von hier aus an Plausibilität gewinnt. Durch den Bezug zum Germanicum ergibt sich darüber hinaus als zentrales Kriterium für Pacellis Kandidatensondierung die „gesunde“, scholastische philosophisch-theologische Ausbildung des Geistlichen. Daher überrascht es nicht, dass der Kardinalstaatssekretär mit Rauch den einzigen Kleriker der Mainzer Kapitelsliste herausgriff, der ebenfalls als Alumne des Germanicums an der römischen Gregoriana seine Studien absolviert hatte. Schon im Jahr 1928, als er dem damaligen Kardinalstaatssekretär Gasparri erklärte, dass Germanicum und Gregoriana „zu aller Zeit die besten Professoren und Apologeten von tiefer und gesunder Lehre“1937 hervorgebracht hätten, nannte er neben anderen auch Rauch als vorzügliches Beispiel. Womöglich erklärt sich aus dieser theologischen Hochschätzung sogar die Favoritenrolle, die Rauch als Erstplatzierter der Dreierliste bei Pacelli einnahm. Bei Stohr schließlich ist das theologische Kriterium nicht so leicht einsehbar: Er hatte neben kurzen Aufenthalten in Münster und Gießen vor allem – wie die Mainzer Domherren auf ihrer Liste notierten – in Mainz und Freiburg studiert. Aber nach seiner Promotion über die Trinitätslehre Bonaventuras unter Aufsicht des Freiburger Dogmatikers Engelbert Krebs besuchte Stohr als Kaplan der römischen Anima in den Jahren 1921/22 Veranstaltungen über die Geschichte der scholastischen Philosophie beziehungsweise Theologie, die der spätere Jesuitenkardinal Franz Ehrle innerhalb des damals gerade erst eingerichteten „cursus pro magisterio“ leitete.1938 Er habilitierte schließlich beim berühmten Münchener Scholastikforscher Martin Grabmann, der auch bei Pacelli in sehr hohem Ansehen stand.1939 Es finden sich also in der Vita Stohrs durchaus Ansatzpunkte, die den Kardinalstaatssekretär von dessen theologischer Orthodoxie und Tauglichkeit überzeugen konnten, sofern er von diesen Zusammenhängen wusste. Spätestens nach der Empfehlung Stohrs durch die Studienkongregation wird man davon ausgehen 1935
1936
1937
1938 1939
Vgl. Liste episkopabler Geistlicher Noppels vom März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1950, Pos. 644 P.O., Fasz. 162, Fol. 4r–5r. Vgl. dazu auch Bd. 2, Kap. II.1.12 (Ergebnis Nr. 1). Liste episkopabler Geistlicher Noppels vom März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1950, Pos. 644 P.O., Fasz. 162, Fol. 4r. Hervorhebung im Original. „… in ogni tempo ottimi professori ed apologisti di profonda e sana dottrina.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Februar 1928, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1935, Pos. 579 P.O., Fasz. 88, Fol. 36r–39v, hier 38r. Vgl. Walter, Auch heute, S. 45f. Vgl. dazu etwa die kurzen Hinweise in Bd. 3, Kap. II.2.2 (Ergebnis Nr. 4). 501
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können. Nach Pacellis Ansicht konnte man demnach auch ohne formal Alumne des Germanicums und Student der Gregoriana gewesen zu sein, durchaus einwandfreier Theologe werden, was noch einmal besonders daran ersichtlich wird, dass der Nicht-Germaniker Stohr auf der Terna vor dem Germaniker Kaiser rangierte. Eng mit dem theologischen Kriterium verbunden ist ein weiterer Aspekt, der für Pacelli offensichtlich wesentlich war, nämlich die Umsetzung und Manifestierung der theologischen Prägung in der Priesterausbildung. Es kann kein Zufall sein, dass alle drei Ternakandidaten in gewisser Weise mit der Ausbildung des geistlichen Nachwuchses befasst waren, Rauch und Stohr als Professoren am Mainzer Seminar und Kaiser als Regens zumindest des Würzburger Knabenseminars, das wenigstens im Idealfall für viele Jugendliche eine Vorstufe für das Priesterseminar werden sollte. Kaiser war schließlich auch der einzige Name auf der Germanikerliste Noppels, der in die Priesterausbildung – im weiteren Sinne – involviert war und gleichzeitig nicht aus Preußen kam.1940 Damit kommt noch ein weiteres Kriterium in den Blick, nämlich das der Provenienz der Kandidaten. Die konkordatäre Vorgabe, dass zumindest ein Geistlicher aus dem vakanten Bistum auf der römischen Dreierliste stehen musste, war mit der Kandidatur Stohrs erfüllt. Ebenso wie er war auch Rauch Seminarprofessor in Mainz selbst, wenngleich im Freiburger Erzbistum inkardiniert, dem Mainz wiederum als Suffraganat unterstand. Kaiser endlich stammte aus dem unterfränkischen Hammelburg in der Nähe von Würzburg, gehörte demnach zwar nicht zur Oberrheinischen Kirchenprovinz, kam aber in geographischer Hinsicht aus nächster Nähe. Eine lokale Kompatibilität war für den Kardinalstaatssekretär also durchaus Prinzip. Nimmt man besonders die beiden ersten Ternakandidaten in den Blick, scheint für Pacellis Personalentscheidung darüber hinaus eine nachdrückliche und öffentlich geäußerte Ablehnung der NS-Ideologie maßgeblich gewesen zu sein, denn sowohl für Rauch als auch für Stohr lässt sich eine solche Haltung konstatieren: Ersterer hatte sich etwa zwei Jahre zuvor durch eine Publikation gegen die von NS-Seite propagierten Zwangssterilisationen „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ gewandt, was ihm die Feindschaft der Parteifunktionäre einbrachte.1941 Letzterer schließlich war nicht nur von 1931 bis 1933 Zentrumsabgeordneter im hessischen Landtag gewesen, was ihn bei den NS-Behörden bereits non grata machen konnte – wie Orsenigo befürchtete –, sondern hatte sich in dieser Zeit auch sehr kritisch zum Nationalsozialismus geäußert. Zum Beispiel hatte er im Frühjahr 1932 im „Mainzer Journal“ eine Artikelreihe unter den Titeln „Wollt
1940
1941
Als preußische Geistliche standen mit Johannes Lenz und Matthias Wehr als Professoren des Trierer Priesterseminars sowie Josef Wilhelm Pappert als Regens des Limburger Seminars immerhin drei Kandidaten aus diesem Metier zur Verfügung. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.16 (Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung). 502
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Ihr den Hitler?“ sowie „Warum wir den Hitler nicht wollen“ veröffentlicht und dabei sehr deutlich gegen Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ Position bezogen.1942 Geht man davon aus, dass der Kardinalstaatssekretär darüber Bescheid wusste, dann war er offensichtlich bereit, die Auseinandersetzungen mit dem Regime, die sich aus dieser stringenten Haltung seiner Kandidaten im Besetzungsverfahren hätten ergeben können, in Kauf zu nehmen. Bleibt abschließend die Frage, ob Pacelli die drei Geistlichen näher, womöglich noch aus seiner Zeit als Nuntius in München und Berlin, kannte. Hinsichtlich des Mainzer Moraltheologen Rauch ist sie durch den Nuntiaturbericht von 1928 bereits positiv beantwortet worden. Anders als dieser finden Stohr und Kaiser in Pacellis Nuntiaturberichterstattung keine Erwähnung.1943 Dennoch darf man bedenkenlos annehmen, dass beide für den damaligen Nuntius zumindest ein Begriff waren: Kaiser, der 1932 Rektor des Würzburger Kilianeums wurde, war zuvor immerhin Domvikar und Sekretär von Bischof Ehrenfried gewesen. Dadurch rückte er zwangsläufig – mit welcher Intensität auch immer – in Pacellis Blickfeld. Ebenso konnte ihm der Name Stohr nicht verborgen geblieben sein, da dieser seit 1924 durchgängig im Mainzer Priesterseminar lehrte, gerade wenn man bedenkt, welches Augenmerk Pacelli auf den priesterlichen Nachwuchs legte. Stohr hatte sogar unmittelbar vor seinem Antritt als Dozent im Mainzer Seminar kurzzeitig eine Privatdozentur an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München inne gehabt und Anfang Juli 1924 dort seine Probevorlesung gehalten1944 – zu einer Zeit also, als Pacelli noch in der bayerischen Hauptstadt residierte. All dies macht die Annahme zumindest wahrscheinlich, dass sich der Kardinalstaatssekretär bei allen drei Kandidaten nicht nur auf Kapitels-, Triennal- und Germanikerliste verließ, sondern ihre Kandidatur auch aus eigener Personenkenntnis stützen konnte. Dafür spricht schließlich auch, dass er – zumindest nach Quellenlage – keinerlei zusätzliche Gutachten über sie einholte (vgl. Nr. 4). 2. Die Wiederbesetzung des Mainzer Bischofsstuhls erfolgte gemäß dem durch das Reichskonkordat auf Mainz ausgedehnten Modus des badischen Konkordats. Eine Besonderheit bestand allerdings in dem „verkürzten“ Listenverfahren: Die Vorgabe für die (Erz-) Bischöfe von Freiburg, Rottenburg, Meißen und auch Mainz, jährlich eine Liste geeigneter Kandidaten in Rom einzureichen, war bislang nicht umgesetzt worden. Pacelli hatte seit Abschluss der beiden Konkordate 1932 beziehungsweise 1933 offenbar keine Anstalten gemacht, die Oberhirten zur Erfüllung ihrer Verpflichtung zu bewegen. Denkbar wäre, dass er die Konkordatsnorm selbst aus den Augen verloren hatte – immerhin war die Mainzer Sedisvakanz der erste Fall, in dem die bischöflichen Listen formal benötigt wurden. Wahrscheinlicher scheint jedoch, dass ihm die Nachlässigkeit der 1942 1943 1944
Vgl. Lehmann, Bischof Dr. Albert Stohr, S. 17. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Vgl. Walter, Auch heute, S. 51. 503
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fraglichen Bischöfe letztlich gleichgültig war und er es in ihre Verantwortung verwies, die Vorgabe von badischem respektive Reichskonkordat umzusetzen. Aus römischer Perspektive konnte er ohnehin schlimmstenfalls auf die Vorschlagslisten verzichten, da der Heilige Stuhl im Unterschied etwa zu den bayerischen Triennallisten nicht an dieselben gebunden war. Folgerichtig hatte er dort unmittelbar nach Abschluss des bayerischen Konkordats gemeinsam mit Gasparri für ein klares Reglement des Listenverfahrens gesorgt.1945 In der Oberrheinischen Kirchenprovinz jedoch bedeutete es keine Einschränkung der römischen Freiheit in der Kandidatenwahl, wenn die bischöflichen Vorschlagslisten fehlten. Das ihnen von Pacelli offensichtlich entgegengebrachte Desinteresse zeigt, dass die Stimme des Episkopats auch in „materialer“ Hinsicht für ihn von untergeordneter Bedeutung war: Wen dieser sich als neuen Konbischof wünschte, war für Pacelli zweitrangig. Jedenfalls wurde die Mainzer Sedisvakanz zum Anlass, die entsprechenden Oberhirten nun doch an ihre Verpflichtung zu erinnern, wobei die Initiative dazu anscheinend nicht von Pacelli selbst, sondern von Silvani ausging.1946 Im aktuellen Fall konnte der Kardinalstaatssekretär allerdings nur auf den Syllabus der Mainzer Domherren zurückgreifen und nicht auf die zwei oder drei Listen, die Hugo seit Abschluss des Reichskonkordats hätte vorlegen müssen. Die 1945 1946
Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens). Getreu Pacellis Weisung vom 2. April 1935 forderte Orsenigo neben dem Mainzer Domkapitel auch die Oberhirten von Freiburg, Rottenburg und Meißen auf, ihre vom badischen respektive Reichskonkordat vorgeschriebenen jährlichen Kandidatenlisten anzufertigen. Angesichts der ausdrücklichen Anordnung des Kardinalstaatssekretärs kamen ihr jetzt alle nach. Am 15. Mai entschuldigte sich der Meißener Oberhirte, Petrus Legge, bei Pacelli für seine irrige Auffassung, dass die fragliche Liste von ihm nicht gefordert sei. Vgl. Legge an Pacelli vom 15. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1937, Pos. 682 P.O., Fasz. 249, Fol. 64r. Er versprach, sie künftig jeweils pünktlich einzureichen. Aktuell benannte er nur einen einzigen Geistlichen: seinen Generalvikar Wilhelm Soppa (geboren 1888). Eine Reihe von Charakterzügen hielt Legge für dessen Episkopabilität ausschlaggebend: Er sei „ein sehr frommer Priester, ein feiner Charakter, ein tüchtiger Verwaltungsmann, ein gründlicher Wissenschaftler, ein Kenner der Diözese, ein edler Mensch“. Ebd., Fol. 64r. Zu diesem Zeitpunkt war Soppa freilich im Zuge der Devisenprozesse der Nationalsozialisten gegen die katholische Kirche im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit interniert. Von seiner Unschuld war Legge jedoch überzeugt. Ohne auf diesen Sachverhalt einzugehen, bestätigte der Kardinalstaatssekretär neun Tage später, Legges Schreiben erhalten zu haben. Vgl. Pacelli an Legge vom 24. Mai 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 65r. Johannes Baptista Sproll ließ seine Aufstellung episkopabler Geistlicher am 23. Mai über die Berliner Nuntiatur zur Kurie gelangen. Vgl. Kandidatenliste Sprolls vom 23. Mai 1935, ebd., Fol. 69r sowie Orsenigo an Pacelli vom 26. Mai 1935, ebd., Fol. 67rv. Sie umfasste fünf Rottenburger Geistliche und führte für jeden Kandidaten eine kurze Biographie an, die jeweils das Geburtsdatum, den Termin der Priesterweihe und die Ämterlaufbahn enthielt. Es handelte sich in entsprechender Reihenfolge um Domkapitular Georg Stauber, Seminarregens Thaddäus Koch, die Pfarrer Hermann Mager und Karl Anker sowie den Direktor des Wilhelmsstifts, Wilhelm Sedlmeier. Der am 20. Juli des Jahres an Pacelli übermittelte Syllabus Conrad Gröbers zählte ein halbes Dutzend Namen, die jeweils nur durch das gegenwärtig ausgeübte Amt charakterisiert waren. Vgl. Kandidatenliste Gröbers vom 20. Juli 1935, ebd., Fol. 74r. Sie lauteten in originaler Abfolge: Wendelin Rauch – Pacellis 504
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von Silvani vorgeschlagene Ausnahmeregelung, Gröber und Sproll mit einzubeziehen, stieß bei Pacelli auf keine Resonanz. Abgesehen davon, dass es dafür rechtlich keine Grundlage gab und das Verfahren wohl noch erheblich verzögert hätte, schien Pacelli nicht an weiteren Vorschlägen interessiert. Eine zweite verfahrenstechnische Besonderheit dieses Falls bestand darin, dass die Weihe und Inthronisation Stohrs schon vor seiner Vereidigung und seiner Inbesitznahme des Bistums erfolgte. In Übereinstimmung mit Artikel 16 des Reichskonkordats wurde letztere bis nach dem Termin beim Reichsstatthalter verschoben. Dieses merkwürdige Konstrukt hatte mehrere Ursachen: die Nachlässigkeit der Domherren, den Inthronisationstermin den Staatsbehörden nicht ordnungsgemäß mitgeteilt zu haben; die „Starrköpfigkeit“ des Reichsstatthalters, seinen Urlaub der Vereidigungszeremonie vorzuziehen; und schließlich die Sorge des Auswärtigen Amtes vor einer kritischen internationalen Presse, die dazu führte, die kirchlichen Feierlichkeiten vor der Ablegung des Eides zu gestatten. Nach Lage der Quellen war Pacelli in die Kontroverse um den Treueid aber nicht involviert, erfuhr sogar über die offizielle Nuntiaturkorrespondenz nicht einmal davon. Da er jedoch von der Nuntiatur über die terminliche Divergenz von Inthronisation und Vereidigung, die ihm doch auffallen musste, keine nähere Stellungnahme verlangte, ist davon auszugehen, dass er auf informelle Weise, zum Beispiel mündlich durch den in Rom Station machenden Nuntius, über die konkreten Ereignisse ins Bild gesetzt wurde. 3. Aus Angst vor einer Verschärfung der Spannungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der preußischen beziehungsweise Reichsregierung überlegte der Nuntius, ob es nicht besser sei, für die Anfrage nach politischen Bedenken dem preußischen Konkordatsmodus anstatt dem vorgeschriebenen badischen zu folgen. Konkret: Wäre es nicht sinnvoller, wenn das Domkapitel und nicht der Heilige Stuhl bei der Regierung vorstellig wurde? Pacelli wiegelte diesen Vorschlag umgehend Favorit in Mainz –, Otto Schöllig, der Subregens des Freiburger Priesterseminars, Domkapitular Bernhard Jauch, Weihbischof Wilhelm Burger, Domkapitular Wilhelm Reinhard und schließlich der Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs. Für die Zusammenstellung der Kandidaten bedankte sich Pacelli eine Woche später. Vgl. Pacelli an Gröber vom 27. Juli 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 75r. Die (Erz-) Bischöfe beschränkten sich also nur auf Geistliche aus dem jeweiligen Heimatbistum. Im römischen Staatssekretariat wurden die insgesamt vier Listen (inklusive Mainzer Kapitelsliste) zu einer einzigen für die vier Bischofsstühle der Oberrheinischen Kirchenprovinz und Sachsens zusammengefasst. Vgl. interne Liste des Staatssekretariats „Candidati Vescovili per le sedi di Friburgo, Rottenburgo, Magonza e Misnia“ ohne Datum, ebd., Fol. 70r–71v. Dabei kamen von den 16 vorgeschlagenen Namen (Wilhelm Burger und Wendelin Rauch waren jeweils doppelt genannt worden) nur zwölf auf die interne Gesamtliste der Kurie. A priori sortierte Pacelli die von Gröber vorgeschlagenen Otto Schöllig, Bernhard Jauch, Wilhelm Reinhard und Engelbert Krebs aus, ergänzte jedoch wiederum den Namen des Rektors des Würzburger Knabenseminars, Philipp Kaiser, den er schon in Mainz auf der Terna platziert hatte. Von all diesen Geistlichen sollte später nur Rauch einen Bischofsstuhl besteigen, im Jahr 1948 folgte er Gröber als Freiburger Erzbischof nach. 505
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ab: Ein solches „Entgegenkommen“ an die Regierung durch ein freiwilliges Selbstbeschneiden der Rechte des Heiligen Stuhls und dann noch im Widerspruch zur geltenden Rechtslage kam für ihn nicht infrage. Er hielt diese Idee offenbar für eine übertriebene Vorsicht, an der ihm bei dieser Bischofseinsetzung nicht gelegen war. Bereits die Auswahl der Ternakandidaten zeigte (vgl. Nr. 1), dass er keinesfalls gewillt war, Rücksicht auf die staatlichen Interessen zu nehmen, und im Gegenteil einen Oberhirten wünschte, der fest auf dem Fundament der kirchlichen Lehre gegen die nationalsozialistische Ideologie stand und diese Haltung sogar schon demonstriert hatte. Davor tritt letztlich in den Hintergrund, dass er zwei Jesuitenschüler und Germaniker nominierte, wohingegen der NS-Regierung in Darmstadt beziehungsweise Berlin ein Kandidat mit einer akademischen Schulung in Deutschland erheblich wünschenswerter sein musste.1947 Die Zusammenstellung der Terna zeigt, dass der Kardinalstaatssekretär bereit war, einen etwaigen Widerspruch gegen den gewählten Bischof mit der NS-Regierung auszutragen. Immerhin wusste er sich hier im Recht: Die Publikationen Rauchs und Stohrs etwa konnten gewiss keine allgemeinpolitischen Bedenken begründen, die das Reichskonkordat für legitime Einwände gegen einen Kandidaten erklärt hatte, sondern lediglich parteipolitische. Ob er diese Differenz einer totalitären Regierung, für die beide Seiten zunehmend verschmolzen, hätte begreiflich machen könnten, steht auf einem anderen Blatt. Es ist durchaus überraschend, dass der hessische Reichsstatthalter das Nihil obstat für Stohr schließlich problemlos und sogar rechtzeitig erteilte, sodass sich Pacelli weder mit einem Einspruch der Regierung noch einer Verletzung der 20-tägigen Einspruchsfrist auseinanderzusetzen brauchte. Die Gründe dafür waren vermutlich vielfältig.1948 Denkbar ist auch, dass die hessische Reichsstatthalterbehörde von der Vita Stohrs und seinen Publikationen schlicht unzureichende Kenntnisse besaß. Jedenfalls reizte der Kardinalstaatssekretär das Konkordatsrecht voll aus und schien auf die stetig zunehmende Unterdrückung der Kirche in Deutschland durch den NS mit einer festen Hand in der Bischofspolitik antworten zu wollen. 4. Informelle Informanten und Ratgeber konsultierte Pacelli in diesem Fall nicht. Eine Rolle spielte für ihn aber die formal vom Reichskonkordat vorgeschriebene Kandidatenliste der Mainzer Domherren – mit Rauch und Stohr platzierte er zwei der sechs dort genannten Geistlichen auf der Terna. Da Pacelli Rauch ohnehin gerade im Blick hatte, wie die kurz zuvor für Berlin angefertigte Terna belegt, war es für dessen Nominierung wohl nicht entscheidend, dass er auf der Vorschlagsliste stand. Vielmehr lag es nahe, den Mainzer Moraltheologen für den Mainzer Bischofsstuhl in Erwägung zu ziehen, nachdem die Berliner Wahl nicht auf ihn gefallen war. Anders bei Stohr:
1947
1948
Das Studium an einer päpstlichen Hochschule war allerdings in der Bestimmung des Reichskonkordats über die Vorbildung der Geistlichen anerkannt. Vgl. Art. 14, Abs. 2, c des Reichskonkordats, Huber/ Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. Vgl. dazu etwa die analoge Situation im Eichstätter Besetzungsfall Bd. 3, Kap. II.2.6 (Ergebnis Nr. 3). 506
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Wenn dieser für Pacelli zuvor auch kein Unbekannter gewesen war, so muss man doch davon ausgehen, dass seine Nennung durch die Domherren den Anstoß gab, ihn zur Wahl zu stellen. Immerhin zählte der zu diesem Zeitpunkt allerdings noch recht junge Stohr bislang nicht zu den Bischofskandidaten, die er bei früheren Besetzungsfällen in Betracht gezogen hatte. Insofern kam dem Votum des Mainzer Kapitels für den Kardinalstaatssekretär faktisch zentrale Bedeutung zu. Schließlich darf man auch die indirekten Grundlagen für Pacellis Kandidatenfindung nicht aus den Augen verlieren: Dies waren zum einen der bayerische Episkopat in Form der für den Mainzer Fall eigentlich nicht gedachten Triennallisten, zum anderen der Rektor des Germanicums Noppel, der mit seiner Auflistung der Ex-Alumnen für Pacelli eine Quelle allgemein tauglicher Bischofskandidaten erschlossen hatte.1949 5. Die vatikanischen Quellen geben keinen detaillierten Aufschluss, wie die Kandidatensondierungen in der Kurie vonstatten gingen. Auch wenn sich das Zusammenspiel zwischen Pacelli und Pius XI. nicht genau bestimmen lässt, wird man davon ausgehen müssen, dass ersterer die Terna aufstellte. Insbesondere die Kandidatur Kaisers, die sich aus der Kombination der bayerischen Triennalliste von 1935, also einer für den Mainzer Fall an und für sich irrelevanten Liste, und vor allem der informellen Germanikerliste herleiten lässt (vgl. Nr. 1), die ein für Pacelli angefertigtes Dokument war, identifiziert den Urheber deutlich. Auch sonst hielt der Kardinalstaatssekretär die Zügel der Entscheidungen fest in den Händen: Schon drei Tage nach Hugos Tod initiierte er von Rom aus das Listenverfahren zur Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls; Silvanis Zweifelsfragen, ob man die entsprechenden Bischöfe an ihre jährliche Vorschlagspflicht erinnern und in den Mainzer Fall involvieren sollte, entschied er einmal positiv und einmal negativ; nach Pizzardos Recherchen in den Archiven der Konsistorial- und Studienkongregation schob Pacelli ohne – zumindest nachweisbare – Rücksprache mit der Suprema Congregatio den Modernismusverdacht gegen Stohr beiseite und stellte diesen kurzerhand zur Wahl; Orsenigos Überlegung schließlich, die Notifikation des Gewählten durch das Domkapitel erfolgen zu lassen, wiegelte er bestimmt ab. Die Rolle des Nuntius ist damit bereits angesprochen, der insgesamt eine eher konfliktscheue Haltung der staatlichen Seite gegenüber offenbarte. Dementsprechend suchte er hinsichtlich des Adressaten der Anfrage nach politischen Bedenken eine Verständigung mit dem Auswärtigen Amt – zwar bevor Pacelli ihm diesbezüglich eine genaue Anweisung erteilte, aber doch außer Acht lassend, dass das Reichskonkordat darauf eine konkrete Antwort gab. Orsenigo sorgte sich vor einer erneuten Verletzung der Einspruchsfrist seitens der Regierung(en) und der damit verbundenen Auseinandersetzungen, die gerade angesichts der grundlegenden Debatte im Anschluss an den Hildesheimer 1949
Im weitesten Sinne könnte man auch Erzbischof Gröber noch hinzuzählen, da der Nuntius dessen früheres, negatives Urteil über Weihbischof Burger dem Kardinalstaatssekretär in Erinnerung rief und damit für den Mainzer Fall aktualisierte. 507
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Besetzungsfall ein Jahr zuvor leicht hätten eskalieren können. Vielleicht fürchtete er auch, dass er als Gesandter des Papstes diesen Konflikt dann im Wesentlichen auszufechten hätte und womöglich lag hier auch ein Grund für seinen Vorschlag, die Anfrage nach politischen Bedenken in die Verantwortung des Domkapitels zu legen. Er war für einen reibungsloseren Umgang mit dem Staat demnach bereit, notfalls von den klaren rechtlichen Vorgaben abzusehen – anders Pacelli, der strikt an den konkordatären Normen festhielt und Abweichungen nicht zuließ. Anmerken könnte man, dass der Kardinalstaatssekretär zumindest auf die Vorsondierungen des Nuntius in der Kandidatenfrage vom 28. April baute, denn immerhin war Rauch ihr gemeinsamer Favorit. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Pacelli kurz zuvor am 7. April die Terna für die Berliner Bischofswahl an die Nuntiatur übermittelt hatte, welche den Mainzer Seminarprofessor bereits als episkopablen Kandidaten des Kardinalstaatssekretärs auswies. Von daher stützte dieser seine Kandidatenwertung wohl weniger auf die Einschätzung des Nuntius als vielmehr der Nuntius sein Urteil auf das seines römischen Vorgesetzten. Orsenigos Meinung zu den vom Mainzer Kapitel vorgelegten Geistlichen war demnach für Pacelli nicht wesentlich, wie schließlich auch die Personalie Stohr zeigt. Anders als der Kardinalstaatssekretär hielt Orsenigo dessen Wahl für inopportun, da wegen des früheren Zentrumsmandats mit politischen Bedenken zu rechnen seien – übrigens wieder ein Argument, das in die schon fast ängstliche Zurückhaltung des Nuntius gegenüber der Regierung passt, wobei er die angesprochenen und als viel gravierender einzustufenden Artikel Stohrs im „Mainzer Journal“ nicht zu kennen schien. Darüber hinaus hätte Orsenigo bei einer Ablehnung Stohrs aufgrund dessen Vergangenheit als Zentrumsabgeordneter erst recht eine Nominierung Rauchs ablehnen müssen, der sich durch seine moraltheologischen Publikationen auf NS-Seite diskreditiert hatte und bei dem man vielleicht noch eher mit einem staatlichen Widerspruch rechnen konnte. Entweder war das Urteil des Nuntius über die beiden Kandidaten also nicht konsistent oder ihm gingen die nötigen Informationen ab. Auffällig bleibt schließlich noch, dass Pacelli nach der päpstlichen Bestätigung der Wahl keinen Bericht über den Verfahrensabschluss anforderte, obwohl er zwei Monate lang keine – zumindest offiziellen und nachweisbaren – Informationen zur Eidesleistung oder Inthronisation aus der Berliner Nuntiatur erhielt. Abgesehen davon, dass diese Verfahrensschritte nicht zum Kern des Falls gehörten, wird man einen Grund dafür in den parallel verlaufenden causae Eichstätt und Berlin sehen müssen, wobei gerade letzterer für Pacelli von hervorgehobener Bedeutung war. Es entsteht durchaus der Eindruck, dass der Mainzer Fall angesichts dessen bei ihm etwas in den Hintergrund trat und vielleicht auch von hier einige „minimalistische“ Entscheidungen – wie zum Beispiel die Beschränkung auf die Mainzer Kapitelsliste oder der Verzicht auf weitere Informanten – verstanden werden müssen.
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