Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 9783534402588, 9783534402595, 9783534402601

Wie werden zentrale Personalentscheidungen in der katholischen Kirche getroffen? Die Antwort auf diese Frage bleibt meis

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German Pages 1732 [408] Year 2020

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Titel
Impressum
Inhalt
II.1.7 „Eine wahrhaft gute Wahl“ für den neu errichteten Bischofsstuhl, aber kein Bischofswahlrecht für das Domkapitel: Berlin 1929/30 (Christian Schreiber)
Der rechtliche Status vor der Errichtung des Bistums Berlin 1930
Die Initiative Kardinal Bertrams
Die Suche Pacellis nach dem künftigen Diözesanbischof von Berlin
Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur
Pacellis abwartender Kurs und die gegenteilige Intervention Bertrams in Rom
Von Ludwig Kaas zu Christian Schreiber und die Bestellung eines Administrators
Die Kontroverse um das staatliche Plazet
Die Ernennung Schreibers zum Apostolischen Administrator
Schreibers Amtsantritt als Administrator und seine Erhebung zum Diözesanbischof
Ergebnis
II.1.8 Ein Bischof im Sinne St. Georgens: Limburg 1929/30 (Antonius Hilfrich)
Ein Weihbischof für Augustinus Kilian?
Pacellis Lösung: ein Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge
Kandidatensondierungen in St. Georgen
Pacellis Plan für Limburg: Hilfrich als Koadjutor mit Nachfolgerecht
Praktische Hindernisse bei der Umsetzung des Vorhabens und der ‚Widerstandʻ Kilians
Pacellis praktische Lösung und der Vorschlag Hilfrichs
Die offizielle Supplik Kilians um einen Koadjutor, das Plazet der Regierung und die Einsetzung Hilfrichs
Ergebnis
II.1.9 Zweisprachigkeit, Diaspora und Priesterausbildung – Die erste Bischofswahl nach dem Preußenkonkordat: Ermland 1930 (Maximilian Kaller)
Der Tod von Bischof Augustinus Bludau
Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels
Informelle Petitionen aus Ermland
Die römische Terna
Die Wahl Maximilian Kallers zum Bischof von Ermland
Weihe und Inthronisation
Ergebnis
II.1.10 Zwei Anläufe in der Kandidatensuche: Schneidemühl 1930/31 (Franz Hartz)
Pacellis Kandidatenerkundigungen und die Kandidatur Paul Webers
Das Plazet der preußischen Regierung und das Non-plazet Webers
Pacellis Alternativkandidat: Franz Hartz
Die Ernennung Hartzʼ zum Prälaten von Schneidemühl
Ergebnis
II.1.11 Ein unberücksichtigtes Listenverfahren und eine überraschende Terna: Aachen 1930/31 (Joseph Vogt)
Römische Ernennung oder Bischofswahl? Orsenigos Plan und Pizzardos Fehler
Die Kandidatenvorschläge des Aachener Domkapitels und der preußischen Bischöfe
Orsenigos Kandidatenüberlegungen: Berning oder Sträter?
Die römische Terna
Die Wahl Joseph Vogts zum Bischof von Aachen
Vogts Einsetzung zum Bischof von Aachen
Ergebnis
II.1.12 Zwei Bischofswahlen und ein Nachzügler: Münster 1933 (Clemens August Graf von Galen)
Der Tod von Bischof Johannes Poggenburg, politische Umwälzungen und eine geheime Kandidatenliste
Die Kandidatenlisten Kardinal Schultes und des Münsteraner Domkapitels
Pacellis eigene Kandidatensondierungen
Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats
Die Vorsondierungen des Nuntius
Die römische Terna
Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil eins: Heinrich Heufers
Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil zwei: Adolf Donders
Abt Albert Schmitt versus Clemens August Graf von Galen
Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil drei: Clemens August Graf von Galen
Die Frage der Eidesleistung
Besitzergreifung, Bischofsweihe und Inthronisation
Ergebnis
II.1.13 Mit „ausgesprochen nationalsozialistischer Gesinnung“? Der Bischof als Politikum: Berlin 1933/34 (Nikolaus Bares)
Der Tod von Christian Schreiber
Die Kandidatenvorschläge der preußischen Bischöfe und des Berliner Domkapitels
Die Analyse der Kandidatenvorschläge durch Nuntius Orsenigo
Die Sondierung der Kandidaten im Staatssekretariat und die römische Dreierliste
Die Bischofswahl des Berliner Domkapitels
Das innerstaatliche Ringen um die politische Klausel und die Geduld des Vatikans
Der Treueid und Baresʼ Einsetzung zum Bischof von Berlin
Ergebnis
II.1.14 Ein Nebenschauplatz im Streit zwischen Berlin und Rom? Die leidige Einspruchsfrist des Staates: Hildesheim 1934 (Joseph Machens)
Vorbereitende Maßnahmen zur Wiederbesetzung
Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Hildesheimer Domkapitels
Orsenigos Kandidatenüberlegungen
Pacellis Terna: Unterstützung für Machens und Francken vor Algermissen
Die Wahl von Joseph Machens zum Bischof von Hildesheim
Die Kontroverse um die staatliche Einspruchsfrist und das Plazet für Machens
Die Einsetzung Machensʼ als Bischof von Hildesheim
Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist
Ergebnis
II.1.15 Zwei Ternen und ein Kandidat: Berlin 1935 (Konrad Graf von Preysing)
Der Tod von Bischof Nikolaus Bares
Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Berliner Domkapitels
Orsenigos Votum für Preysing und die Nachzügler Kaller und Klein
Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin
Das Nihil obstat der preußischen Regierung und die Kontroverse um das Innsbrucker Studium
Die Einsetzung Konrad Graf von Preysings zum Bischof von Berlin
Ergebnis
II.1.16 Dem „Nationalsozialismus gegenüber systematisch feindlich eingestellt“ – Einspruch der NS-Regierung: Fulda 1936/39 (Johann Baptist Dietz)
Ein Koadjutor für Fulda und Pacellis Wunschkandidat Wendelin Rauch
Die Klärung des Einsetzungsmodus und Schmitts Zustimmung zum Koadjutorplan
Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung
Der römische Alternativkandidat Johann Baptist Dietz und die Not von Bischof Schmitt
Der zweite Versuch: das Nihil obstat für Johann Baptist Dietz
Ein erneutes Hindernis? Dietzʼ zögerliche Annahme des Koadjutoramtes
Dietzʼ Amtsantritt als Koadjutor und Diözesanbischof
Ergebnis
II.1.17 Diplomatisch geschickt – Ein Administrator gegen das ‚Veto‘ der Regierung: Aachen 1937/38 (Hermann Joseph Sträter)
Der Tod von Bischof Joseph Vogt und die Kandidatenvorschläge von Episkopat und Domkapitel
Orsenigos Votum für Wienken und die römische Terna
Die Wahl Wilhelm Holtmanns und der Einspruch der Staatsregierung
Staatliche Intransigenz und der Nullpunkt des Verfahrens
Die römische Lösung: neuer Modus und neuer Kandidat
Pacellis geheimer Auftrag für Bischof Galen und dessen Lösung der Aachener Frage
Die Einsetzung Sträters zum Apostolischen Administrator des Bistums Aachen
Ausblick
Ergebnis
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Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939
 9783534402588, 9783534402595, 9783534402601

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Raphael Hülsbömer

Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939

Raphael Hülsbömer

Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 Teil 2

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt II.1.7 „Eine wahrhaft gute Wahl“ für den neu errichteten Bischofsstuhl, aber kein Bischofswahlrecht für das Domkapitel: Berlin 1929/30 (Christian Schreiber).........9 Der rechtliche Status vor der Errichtung des Bistums Berlin 1930............................9 Die Initiative Kardinal Bertrams...................................................................................10 Die Suche Pacellis nach dem künftigen Diözesanbischof von Berlin.......................12 Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur......................14 Pacellis abwartender Kurs und die gegenteilige Intervention Bertrams in Rom...............................................................................................................................20 Von Ludwig Kaas zu Christian Schreiber und die Bestellung eines Administrators.................................................................................................................22 Die Kontroverse um das staatliche Plazet....................................................................28 Die Ernennung Schreibers zum Apostolischen Administrator.................................31 Schreibers Amtsantritt als Administrator und seine Erhebung zum Diözesanbischof...............................................................................................................33 Ergebnis...................................................................................................................................35 II.1.8 Ein Bischof im Sinne St. Georgens: Limburg 1929/30 (Antonius Hilfrich)...............42 Ein Weihbischof für Augustinus Kilian?......................................................................42 Pacellis Lösung: ein Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge..................................44 Kandidatensondierungen in St. Georgen.....................................................................46 Pacellis Plan für Limburg: Hilfrich als Koadjutor mit Nachfolgerecht....................52 Praktische Hindernisse bei der Umsetzung des Vorhabens und der ‚Widerstandʻ Kilians........................................................................................................55 Pacellis praktische Lösung und der Vorschlag Hilfrichs............................................57 Die offizielle Supplik Kilians um einen Koadjutor, das Plazet der Regierung und die Einsetzung Hilfrichs......................................................................60 Ergebnis...................................................................................................................................64 II.1.9 Zweisprachigkeit, Diaspora und Priesterausbildung – Die erste Bischofswahl nach dem Preußenkonkordat: Ermland 1930 (Maximilian Kaller)......................................69 Der Tod von Bischof Augustinus Bludau.....................................................................69 Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels.................................................................................................70 Informelle Petitionen aus Ermland...............................................................................78 Die römische Terna.........................................................................................................84 5

Die Wahl Maximilian Kallers zum Bischof von Ermland..........................................88 Weihe und Inthronisation..............................................................................................93 Ergebnis...................................................................................................................................94 II.1.10 Zwei Anläufe in der Kandidatensuche: Schneidemühl 1930/31 (Franz Hartz)..............................................................................................................................101 Pacellis Kandidatenerkundigungen und die Kandidatur Paul Webers..................101 Das Plazet der preußischen Regierung und das Non-plazet Webers.....................108 Pacellis Alternativkandidat: Franz Hartz...................................................................112 Die Ernennung Hartzʼ zum Prälaten von Schneidemühl........................................114 Ergebnis.................................................................................................................................116 II.1.11 Ein unberücksichtigtes Listenverfahren und eine überraschende Terna: Aachen 1930/31 (Joseph Vogt).................................................................................................122 Römische Ernennung oder Bischofswahl? Orsenigos Plan und Pizzardos Fehler.............................................................................................................122 Die Kandidatenvorschläge des Aachener Domkapitels und der preußischen Bischöfe....................................................................................................126 Orsenigos Kandidatenüberlegungen: Berning oder Sträter?...................................133 Die römische Terna.......................................................................................................135 Die Wahl Joseph Vogts zum Bischof von Aachen.....................................................140 Vogts Einsetzung zum Bischof von Aachen...............................................................142 Ergebnis.................................................................................................................................144 II.1.12 Zwei Bischofswahlen und ein Nachzügler: Münster 1933 (Clemens August Graf von Galen)..........................................................................................153 Der Tod von Bischof Johannes Poggenburg, politische Umwälzungen und eine geheime Kandidatenliste..............................................................................153 Die Kandidatenlisten Kardinal Schultes und des Münsteraner Domkapitels...................................................................................................................155 Pacellis eigene Kandidatensondierungen...................................................................160 Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats..........................................163 Die Vorsondierungen des Nuntius..............................................................................169 Die römische Terna.......................................................................................................173 Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil eins: Heinrich Heufers............................174 Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil zwei: Adolf Donders................................180 Abt Albert Schmitt versus Clemens August Graf von Galen...................................183 Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil drei: Clemens August Graf von Galen...............................................................................................................187 6

Die Frage der Eidesleistung..........................................................................................190 Besitzergreifung, Bischofsweihe und Inthronisation................................................195 Ergebnis.................................................................................................................................197 II.1.13 Mit „ausgesprochen nationalsozialistischer Gesinnung“? Der Bischof als Politikum: Berlin 1933/34 (Nikolaus Bares).....................................................................211 Der Tod von Christian Schreiber................................................................................211 Die Kandidatenvorschläge der preußischen Bischöfe und des Berliner Domkapitels...................................................................................................................213 Die Analyse der Kandidatenvorschläge durch Nuntius Orsenigo..........................219 Die Sondierung der Kandidaten im Staatssekretariat und die römische Dreierliste.......................................................................................................................222 Die Bischofswahl des Berliner Domkapitels..............................................................226 Das innerstaatliche Ringen um die politische Klausel und die Geduld des Vatikans....................................................................................................................228 Der Treueid und Baresʼ Einsetzung zum Bischof von Berlin..................................234 Ergebnis.................................................................................................................................239 II.1.14 Ein Nebenschauplatz im Streit zwischen Berlin und Rom? Die leidige Einspruchsfrist des Staates: Hildesheim 1934 (Joseph Machens)......................................249 Vorbereitende Maßnahmen zur Wiederbesetzung...................................................249 Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Hildesheimer Domkapitels...........................................................................................250 Orsenigos Kandidatenüberlegungen..........................................................................255 Pacellis Terna: Unterstützung für Machens und Francken vor Algermissen....................................................................................................................259 Die Wahl von Joseph Machens zum Bischof von Hildesheim................................262 Die Kontroverse um die staatliche Einspruchsfrist und das Plazet für Machens........................................................................................................263 Die Einsetzung Machensʼ als Bischof von Hildesheim............................................271 Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist...............................273 Ergebnis.................................................................................................................................278 II.1.15 Zwei Ternen und ein Kandidat: Berlin 1935 (Konrad Graf von Preysing)............289 Der Tod von Bischof Nikolaus Bares..........................................................................289 Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Berliner Domkapitels...................................................................................................................291 Orsenigos Votum für Preysing und die Nachzügler Kaller und Klein...................296 Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin.............299 7

Das Nihil obstat der preußischen Regierung und die Kontroverse um das Innsbrucker Studium.............................................................................................305 Die Einsetzung Konrad Graf von Preysings zum Bischof von Berlin....................314 Ergebnis.................................................................................................................................318 II.1.16 Dem „Nationalsozialismus gegenüber systematisch feindlich eingestellt“ – Einspruch der NS-Regierung: Fulda 1936/39 (Johann Baptist Dietz)...............................328 Ein Koadjutor für Fulda und Pacellis Wunschkandidat Wendelin Rauch.............328 Die Klärung des Einsetzungsmodus und Schmitts Zustimmung zum Koadjutorplan................................................................................................................330 Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung..................................................332 Der römische Alternativkandidat Johann Baptist Dietz und die Not von Bischof Schmitt......................................................................................................340 Der zweite Versuch: das Nihil obstat für Johann Baptist Dietz...............................345 Ein erneutes Hindernis? Dietzʼ zögerliche Annahme des Koadjutoramtes..........348 Dietzʼ Amtsantritt als Koadjutor und Diözesanbischof...........................................352 Ergebnis.................................................................................................................................354 II.1.17 Diplomatisch geschickt – Ein Administrator gegen das ‚Veto‘ der Regierung: Aachen 1937/38 (Hermann Joseph Sträter).......................................................366 Der Tod von Bischof Joseph Vogt und die Kandidatenvorschläge von Episkopat und Domkapitel...........................................................................................366 Orsenigos Votum für Wienken und die römische Terna.........................................372 Die Wahl Wilhelm Holtmanns und der Einspruch der Staatsregierung...............375 Staatliche Intransigenz und der Nullpunkt des Verfahrens.....................................380 Die römische Lösung: neuer Modus und neuer Kandidat.......................................383 Pacellis geheimer Auftrag für Bischof Galen und dessen Lösung der Aachener Frage.......................................................................................................387 Die Einsetzung Sträters zum Apostolischen Administrator des Bistums Aachen.............................................................................................................390 Ausblick..........................................................................................................................393 Ergebnis.................................................................................................................................395

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II.1.7 Berlin 1929/30

II.1.7 Berlin 1929/30

II.1.7 „Eine wahrhaft gute Wahl“ für den neu errichteten Bischofsstuhl, aber kein Bischofswahlrecht für das Domkapitel: Berlin 1929/30 (Christian Schreiber)1 Der rechtliche Status vor der Errichtung des Bistums Berlin 1930 Die preußische Zirkumskriptionsbulle De salute animarum von 1821 läutete einen neuen Abschnitt für die katholische Kirche in Brandenburg und Pommern ein.2 Sie ordnete die Pfarreien der Städte Berlin, Potsdam, Spandau, Frankfurt an der Oder, Stettin und Stralsund dem Breslauer Fürstbischof unter, wobei die Verwaltung dem Propst von St. Hedwig in Berlin als Delegat des Fürstbischofs oblag. Propst- und Delegatenamt wurden damit in der Person des Propstes vereinigt.3 Die so in der Diaspora entstandene Delegatur, die im 19. Jahrhundert spannungsreiche Zeiten – sowohl in ihrem Verhältnis zum Staat als auch innerkirchlicher Art, nämlich zwischen dem Delegaten und dem Fürstbischof – durchlebt hatte, feierte 1921 ihr 100-jähriges Bestehen. Von da an mehrten sich die Bestrebungen zur Errichtung eines eigenen Bistums Berlin, die im weiteren Verlauf nicht nur vom Berliner Nuntius Pacelli unterstützt, sondern mit den preußischen Konkordatsverhandlungen verknüpft wurden. Schließlich wurde die Forderung nach der Errichtung einer Berliner Diözese aus Pacellis wie aus Piusʼ XI. Sicht die conditio sine qua non für das Zustandekommen des Kirchenvertrags und die „Hauptforderung der Kurie“4. Als am 16. Januar 1929 der Propst von St. Hedwig und Delegat für den Delegaturbezirk Berlin, Josef Deitmer, verstarb, stand bereits fest, dass das kurz vor dem Abschluss stehende Konkordat die Aufrichtung des Bistums beinhaltete.

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Berlin 1929/​30 Banasch, Delegaturbezirk, S. 99f.; Gatz, Besetzung, S. 212f.; Hartelt, Piontek, S. 161; Höhle, Gründung, S. 203–212, 217–220; Ders., Berliner Bischöfe, S. 99–101; Knauft, Bistum Berlin, S. 1f.; Strehler, Schreiber, S. 68–72. Vgl. zur Gründung des Bistums Berlin mit der entsprechenden Vorgeschichte maßgeblich Höhle, Gründung. Vgl. auch Banasch, Delegaturbezirk; Bischöfliches Ordinariat Berlin (Hg.), Glaube, S. 21–48; Golombek, Vorgeschichte, S. 69f., 92f.; Stasiewski, Bischofssitze, S. 168–172; Ders., Errichtung, S. 85–91. Vgl. De salute animarum, Nr. XXXIII, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche I, S. 214. Ein Statut des Breslauer Fürstbischofs von 1870 wiederholte diese Bestimmung noch einmal. Vgl. Daumert, Statut, S. 84. Höhle, Gründung, S. 188. 9

II.1.7 Berlin 1929/30

Die Initiative Kardinal Bertrams Die Nachfolgefrage Deitmers stellte sich daher unter der Prämisse, dass sich der rechtliche Status der Delegatur durch das in absehbarer Zeit abgeschlossene Konkordat entscheidend verändern würde. Deshalb wandte sich Bertram am 1. Februar an Pacelli, um seine Ansichten in dieser Sache vorzutragen.5 Er erklärte, dass bislang die Ernennung des Propstes von St. Hedwig und damit des fürstbischöflichen Delegaten entsprechend der Konvention zwischen dem Breslauer fürstbischöflichen Ordinariat und dem preußischen Kultusministerium von 1854 erfolgt sei: nämlich durch eine freie Amtsübertragung durch den Breslauer Fürstbischof („beneficium liberae collationis“6) nach vorhergehender Verständigung mit dem Kultusminister.7 Auf diese Weise hatte Bertram nach eigenen Angaben auch Deitmer 1920 nach einer Rückversicherung bei der preußischen Regierung, dass keine Einwände gegen ihn bestanden, ernannt.8 Bertram glaubte, dass mittlerweile jedoch eine „erhebliche Änderung in den Verhältnissen“9 stattgefunden habe, insofern nämlich Deitmer am 19.  Februar 1923 auf sein Bitten von Pius XI. zum Weihbischof erhoben worden sei. Pacelli hatte das Anliegen damals unterstützt.10 Mit dieser Statusaufwertung  – so folgerte Bertram – habe der Heilige Stuhl signalisiert, das Amt des Delegaten dauerhaft mit der episkopalen Würde verbinden zu wollen. Daraus sowie aus den bevorstehenden Veränderungen innerhalb der preußischen Diözesanordnung leitete Bertram ab, bei der Wiederbesetzung des vakanten Delegatenamtes nicht in derselben Weise wie bei der Ernennung Deitmers vorgehen zu können. Deshalb nahm er an, „dass Eure Exzellenz die einschlägige Verhandlung de modo designandi

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Vgl. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1r–2r. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1r. Das genannte Statut von 1854 bestimmte, dass „unbeschadet des landesherrlichen Patronatsrechts über die St. Hedwigskirche bei jedem eintretenden Erledigungsfalle der Propstei zu St. Hedwig die Wiederbesetzung derselben zum Gegenstande einer besonderen, auf Verständigung über die am meisten geeignete Persönlichkeit gerichteten Communication zwischen dem Minister der geistlichen Angelegenheiten und dem fürstbischöflichen Stuhle gemacht und dem in Betracht gezogenen Candidaten Seitens des Fürstbischofs die kirchliche Investitur auf die Pfarrei und die canonischen Vollmachten für das Delegatenamt erst ertheilt werden sollen, nachdem derselbe Seitens des Ministers auf Grund der in jedem einzelnen Falle zuvor eingeholten besonderen Allerhöchsten Ermächtigung für annehmbar erklärt worden ist.“ Daumert, Statut, S.  79. Vgl. auch Heckel, Besetzung, S.  160–164; Höhle, Gründung, S. 36. Vgl. dazu Pruss, Deitmer, S. 36f., wo die staatliche Beteiligung allerdings nicht erwähnt wird. Ebenso bei Banasch, Delegaturbezirk, S. 90. Erwin Gatz spricht davon, dass Deitmer erstmals ohne Mitwirkung der preußischen Regierung Propst und Delegat geworden sei. Vgl. Gatz, Deitmer, S. 120. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 26. Januar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1932, Pos. 526 P.O., Fasz. 51, Fol. 3rv. Vgl. auch Höhle, Gründung, S. 89 Anm. 127. 10

II.1.7 Berlin 1929/30

successorem mit dem Heiligen Stuhle selbst zu führen für gut halten, falls nicht andere Mitteilung mir zugeht“11. Die Kandidatenfrage hielt Bertram für schwierig, weil man sie behandeln müsse wie die Bestellung des künftigen Berliner Diözesanbischofs. Indem er aber auf eine 14-jährige Vertrautheit mit den Erfordernissen von Klerus und Volk in Berlin sowie der Delegatur pochte, wies er sich als qualifiziert aus, um sich dazu äußern zu können.12 Seiner Ansicht nach seien insbesondere „die von den Behörden gemäß der Eigenart der Anschauungen der Beamtenwelt so oft überschätzten repräsentativen Vorzüge, so schön die denselben entspringende Dekoration ist, doch nur von sekundärer Bedeutung“13. Der Bischof sollte es also all den Äußerlichkeiten und Inszenierungen der deutschen Reichs- und preußischen Landeshauptstadt mit ihren Regierungsinstitutionen und ihrem Beamtentum nicht gleichtun. Vielmehr wünschte sich Bertram einen Oberhirten von tief innerlicher und aszetischer Prägung, „von gewinnender Herzlichkeit“14, der keine anderen Anliegen als die salus animarum der ihm anvertrauten Herde im Sinn habe.15 Mit dieser dezidiert unpolitischen Ausrichtung müsse sich eine tatkräftige und kluge Leitung der vielen neuen diözesanen Einrichtungen verbinden. Auch die antikirchlichen Kräfte würden einem solchen Charakter Achtung entgegenbringen. Immunität gegen den weltlichen Glanz der Reichshauptstadt, inmitten „den religiös und sittlich zerfahrenen Verhältnissen des Geisteslebens in Berlin“16, und Organisationsgeschick für den Aufbau des neuen Bistums waren also die Kriterien, auf die es Bertram vornehmlich ankam. Für den Fall, dass man einen Priester ernennen wollte, der in der Diasporasituation der Delegatur und der Diözesanverwaltung samt Bonifatiusverein bewährt sei, dachte der Kardinal zuerst an den Breslauer Domkapitular Ferdinand Piontek. Der zweite Geistliche, den er vorschlug, war der fürstbischöfliche Kommissar und Propst in Stettin, Paul Steinmann, obwohl man bei ihm Opportunitätsvorbehalte haben könne, die Bertram nicht näher erläuterte. Als dritten geeigneten Geistlichen nannte er den Tützer Administrator Maximilian Kaller, wobei es eigentlich zu wünschen sei, dass dieser nicht so früh von seiner aktuellen Aufgabe – der Administratur Tütz beziehungsweise Schneidemühl stand er seit 1926 vor – abgezogen werde. Alle drei Genannten spielten bereits bei der erwähnten Tützer Besetzung eine Rolle. Insbesondere von Piontek und Kaller war damals die Rede gewesen, deren Kandidatur Bertram jedoch mit der Begründung abgelehnt hatte, dass sie für den Bonifatiusverein und für die Berliner Delegatur unentbehrlich seien. Nun ging es aber nicht mehr um die – weniger bedeutende – ostdeutsche 11 12

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Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1r. Vgl. zu den pastoralen Nöten der Berliner Delegatur, die insbesondere in der mangelnden kirchlichen Infrastruktur bestanden, Aschoff, Berlin; Escher, Pfarrgemeinden; Höhle, Gründung, S. 42–61. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1v. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1v. Dieses Anliegen verfolgte Bertram nach eigener Aussage auch als Leitprinzip bei allen früheren Überlegungen zur jurisdiktionellen Zukunft der Berliner Delegatur. Vgl. Höhle, Gründung, S. 174. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 1v. 11

II.1.7 Berlin 1929/30

Administratur, sondern um Berlin selbst, das als neues Reichshauptstadtbistum im Begriff war, für die deutsche Kirche zentral zu werden. Damit waren die beiden Geistlichen in den Augen des Breslauer Oberhirten für den neuen Bischofsstuhl gewissermaßen prädestiniert, wobei er sich wohl durch seine Beziehung zu jedem der Vorgeschlagenen (inklusive Steinmann) einen zumindest mittelbaren Einfluss auf die Regierung der neuen Diözese gesichert hätte. Alle stammten aus seinem Diözesanklerus. Bertram war sich seiner lokalen Personenwahl durchaus bewusst und überließ daher eine etwaige gesamtdeutsche Perspektive dem Nuntius. In der Liste des Kardinals fehlte der Delegaturrat Eduard Cortain, der von Bertram mit der interimistischen Verwaltung der Delegatur betraut worden war: Für eine dauerhafte Bewältigung der Aufgabe verfügte er nach Ansicht des Breslauer Oberhirten nicht mehr über die nötigen physischen Kräfte.

Die Suche Pacellis nach dem künftigen Diözesanbischof von Berlin Es verstrichen fast drei Wochen bevor der Nuntius der Frage nachging. Er dachte für die Nachfolge Deitmers und, „wie zu hoffen steht, späteren Bischof von Berlin“17, anders als Bertram zunächst an einen Kandidaten westdeutscher Provenienz, nämlich seinen langjährigen Vertrauten, Berater und Freund Kaas. Obwohl er den Trierer Domkapitular natürlich sehr gut kannte, ersuchte er im Februar dessen Diözesanbischof Bornewasser sub secreto Sancti Officii um eine Einschätzung. Pacelli hielt streng an seinem gewöhnlichen Vorgehen fest, obgleich dies im vorliegenden Fall an sich nicht nötig gewesen wäre. Der Trierer Oberhirte war mit dem Plan des Nuntius völlig einverstanden und sprach sich über Kaas vorbehaltlos positiv aus.18 In der siebenjährigen Zusammenarbeit habe er ihn immer mehr schätzen gelernt. Durch sein profundes theologisches und kanonistisches Wissen sei er eine „Zierde der deutschen Wissenschaft“19, besitze darüber hinaus eine klare Sicht auf die Bedürfnisse des kirchlichen Lebens und der pastoralen Notwendigkeiten. Seine hohe Befähigung im Umgang mit den Menschen jeden Standes und insbesondere sein Verhandlungsgeschick mit den staatlichen Behörden seien Pacelli wohlbekannt. Diese Aufzählung der Qualitäten des Domkapitulars erweiterte Bornewasser um seine „warme Liebe zum h[eiligen] katholischen Glauben und zu unserer h[eiligen] Mutter der Kirche, sein tadelloses priesterliches Leben, sein rastloses Arbeiten und sein tiefes, warmes Interesse für die Not unseres Volkes“20, die ihm ein beachtliches Ansehen im Klerus und Volk der Diözese Trier eingebracht hätten. Einen solchen Mann in seine Reihen zu bekommen, sei für den deutschen Episkopat ein „großer Ge17 18 19 20

Pacelli an Bornewasser vom 19. Februar 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 5r. Vgl. Bornewasser an Pacelli vom 26. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 6rv. Bornewasser an Pacelli vom 26. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 6r. Bornewasser an Pacelli vom 26. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 6v. 12

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winn“21, die Kenntnisse, Klugheit und Erfahrung des Prälaten vor allem für die Beratungen auf der Fuldaer Konferenz nützlich.22 Trotz des wohlwollenden Urteils Bornewassers hatte Pacelli als fraglichen Kandidaten nicht nur Kaas im Sinn, sondern wollte offenbar eine Alternative. Dafür griff er auf die Nummer zwei Kardinal Bertrams zurück, den Stettiner Propst Steinmann. Noch im Februar verlangte er über den Genannten ein vertrauliches Exposé vom Meißener Bischof Christian Schreiber, da er – so Pacelli – gehört habe, dass ihm der fragliche Kandidat „seit Jahren bekannt ist“23. Schreiber kam der Bitte umgehend nach und erklärte, dass seine Bekanntschaft mit Steinmann aus seiner römischen Studienzeit stamme, als er selbst im Germanicum und dieser in der Anima seine philosophisch-theologische Ausbildung absolviert habe.24 Seitdem habe er ihn persönlich nicht mehr getroffen, aber seine Karriere aufmerksam beobachtet. War der Eindruck in der Studienzeit schon gut, so habe er über Steinmanns vergangenes Wirken im Bistum Breslau ebenfalls nur positive Resonanz vernommen, sowohl in persönlicher als auch seelsorglicher Perspektive. Freilich gebe es eine Ausnahme: Steinmann sei wiederholt mit dem Militärpfarrer Paul Anton Josef Schwamborn „in Angelegenheiten von Militär-Seelsorgern“25 aneinandergeraten. In einer privaten Unterredung habe Schwamborn daher ihm gegenüber – so Schreiber – dem Stettiner Propst „ein herrisches Wesen“26 zugeschrieben. Der Meißener Bischof hielt die Anschuldigung aber nur teilweise für berechtigt und kam zu folgender Gesamtbeurteilung: „Ich halte Herrn Dr. Paul Steinmann alles in allem genommen für sehr geeignet, den ihm etwa zugedachten Posten eines Weihbischofs (und später Bischofs) von Berlin zu bekleiden. Er wird nach meiner Überzeugung für diesen Posten folgende Eigenschaften mitbringen: treukirchlichen Sinn, starke Arbeits- und Tatkraft, große Erfahrung sowohl in Berlin, wo er längere Zeit gewirkt hat, wie auch im Delegaturbezirk, ein besonderes Verständnis für die

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Bornewasser an Pacelli vom 26. Februar 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 6v. Wenige Tage später sandte Bornewasser ein zweites Schreiben an den Nuntius, das die Bitte äußerte, die eventuelle Ernennung von Kaas (zunächst) zum Weihbischof der Delegatur Berlin und seine Installation möge in einem geraden Monat erfolgen, damit das dadurch am Trierer Dom vakant werdende Kanonikat ohne staatlichen Einfluss besetzt werden könne. Diese freie Besetzung sei deshalb besonders wichtig, weil er mit dem Prälaten seinen „unersätzlichen Canonisten“ verlöre und der Nachfolger so gewählt werden müsse, dass er ihn „wenigstens in etwa … ersetzen könne“. Bornewasser an Pacelli vom 2. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 10r–11v, hier 10v. Hervorhebung im Original. Der Nuntius sagte ihm zu, die Trierer Verhältnisse zu berücksichtigen, sollte die Entscheidung auf Kaas fallen. Vgl. Pacelli an Bornewasser vom 11. März 1929 (Entwurf), ebd., Fol. 12r. Pacelli an Schreiber vom 28. Februar 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 7r. Vgl. Schreiber an Pacelli vom 2. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 8r–9r. Schreiber an Pacelli vom 2. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 8v. Schreiber an Pacelli vom 2. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 8v. 13

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schwierigen Aufgaben der Diaspora, gewandte Umgangsformen und eine bemerkenswerte Repräsentationsfähigkeit.“27

Über das Verhältnis Steinmanns zum Klerus und über seine Gesundheit konnte Schreiber kein qualifiziertes Urteil treffen, jedoch habe er über das erste nichts Negatives gehört und hinsichtlich des zweiten schloss er aus dem Umstand, dass der Propst trotz seiner endfünfziger Jahre die arbeitsreiche Aufgabe in Stettin gut bewältige, auf eine starke physische Verfassung. Da der Nuntius die Frage nach Steinmanns Umgänglichkeit, gerade angesichts des angerissenen Konflikts, noch nicht für ausreichend beantwortet hielt, ließ er sich von seinem Privatsekretär Gehrmann ein Urteil anfertigen, das dezidiert auf dieses Thema zugeschnitten war.28 Gehrmann erklärte, den Propst aus seiner Zeit als Militärgeistlicher zu kennen, in der er sich über einen längeren Zeitraum bei Stettin aufgehalten habe. Dort habe er die Erfahrung gemacht, dass Steinmann sehr um ein gutes Verhältnis zu seinen Confratres bemüht sei, enge Verbindungen zu den Geistlichen unterhalte, bei seelsorglichen Schwierigkeiten und Verwaltungsangelegenheiten ihre Meinung einbeziehe sowie den jüngeren und schwächeren Priestern tatkräftig zur Seite stehe. Eine Auseinandersetzung habe es mit zwei Militärkaplänen gegeben – ob es sich um dieselbe Angelegenheit handelte, die Schreiber angesprochen hatte, muss offen bleiben –, die aber nach Meinung des Steyler Missionars gänzlich im Unvermögen der letzteren ihren Grund gehabt, jedoch dem Ruf Steinmanns geschadet habe. Damals habe sich auch Bertram in die Sache eingemischt, Steinmann in Schutz genommen und den beiden Kaplänen Ungehorsam vorgeworfen. Vermutlich deshalb hatte der Breslauer Fürstbischof dem Nuntius von dieser Episode nicht berichtet. Dieser gab sich mit den Hinweisen zufrieden und sah sich nun in der Lage, die Thematik der Berliner Besetzung in Rom vorzutragen. Um Gutachten über Bertrams Favoriten Piontek oder dessen Nummer drei Kaller bemühte er sich nicht mehr.

Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur Seit dem Tod Deitmers waren genau zwei Monate vergangen. Am 16. März unterrichtete Pacelli Kardinalstaatssekretär Gasparri über den Tod des Delegaten, der „die sehr schwierige Frage seiner Nachfolge in der Hauptstadt“29 aufgeworfen habe. Pacelli berichtete von der Anfrage des Breslauer Fürstbischofs und der Doppel-Natur des freigewordenen Amtes, wie Bertram sie be-

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Schreiber an Pacelli vom 2. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 8v. Vgl. Votum Gehrmanns für Pacelli vom 14. März 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 19r–20v. „… la assai difficile questione della di lui successione in questa Capitale.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 4r–6v, hier 4r. 14

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schrieben hatte.30 Zunächst erläuterte er seinem Vorgesetzten die Rechtsnatur des ersten Amtes, der Propstei von St. Hedwig: Die Konvention von 1854 zwischen der Breslauer Kurie und der preußischen Regierung habe bestimmt, dass die Ernennung des Propstes nach vorheriger Verständigung zwischen dem Fürstbischof von Breslau und dem Kultusministerium vorgenommen werde. Bei dieser Regelung habe es sich um einen Kompromiss gehandelt, um die strittige Frage des staatlichen Patronatsrechts zu lösen.31 Der Staat habe dabei allerdings seine hohen Forderungen erfolgreich aufrecht erhalten, weil man in den „Statuten der katholischen Pfarrei St. Hedwig in Berlin“ ausdrücklich eine Präzedenzklausel zum Schutz des staatlichen Patronats eingefügt habe.32 Wenn daher Bertram von einer „freien Ernennung“ des Propstes spreche, so beziehe sich dies zweifellos auf seinen eigenen Standpunkt, aber nicht auf die Ansicht der staatlichen Seite.33 Außerdem – Pacelli fügte seine römische Perspektive hinzu – sei die Konvention seinerzeit vom Breslauer Oberhirten abgeschlossen worden, ohne eine vorhergehende oder nachfolgende Bestätigung durch den Heiligen Stuhl. Weil diese Tatsache in seinen Augen offenbar die Valenz der Vereinbarung erheblich minimierte, hielt Pacelli es für angemessen, dass Bertram im aktuellen Fall nicht die Zustimmung der Regierung für die Wahl des neuen Propstes einholte, höchstens in Verbindung mit der Präzedenzklausel für künftige Besetzungen. Nützlich sei außerdem die Kenntnis, dass Deitmer vor seiner Erhebung zum Weihbischof bereits Apostolischer Protonotar ad instar participantium gewesen sei.34 Falls nämlich Zweifel aufträten, ob die Besetzung der Propstei im aktuellen Fall dem Heiligen Stuhl reserviert sei, könne man sich auf Can. 1435 berufen. Dieser Canon behielt dem Papst die Besetzung jener Benefizien vor, die vor der Vakanz von einem Ehrenfamiliar des Pontifex – beispielsweise einem Protonotar – bekleidet wurden.35 30

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Pacelli hielt Bertrams Ausführungen für so wichtig, dass er sie in italienischer Übersetzung seinem Bericht beifügte. Vgl. Bertram an Pacelli vom 1. Februar 1929 (ital. Übersetzung), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 7r–8r. Pacelli vergewisserte sich über die maßgebliche Bestimmung der Konvention und wie man sie bewerten müsse bei Heckel, Besetzung, bes. S. 160–164. Wie oben bereits gesehen (Bd. 2, Kap. II.1.7 Anm. 7) hieß es in dem Statut, dass die Verständigung zwischen dem Breslauer Fürstbischof und dem preußischen Kultusminister „unbeschadet des landesherrlichen Patronatsrechts über die St. Hedwigskirche“ stattfinden sollte. Daumert, Statut, S. 79. Tatsächlich wurde aus der Vereinbarung anschließend von staatlicher Seite „das Recht abgeleitet, in dem revidierten Statut dem Staat ausdrücklich das Patronatsrecht über St. Hedwig vorzubehalten“, sodass laut Heckel „trotz der scheinbaren Einigung von 1854 doch noch der alte Gegensatz zwischen kirchlicher und staatlicher Auffassung in aller Schärfe“ fortbestand. Heckel, Besetzung, S. 162f., hier 163. Vgl. zum Institut des Apostolischen Protonotars participans beziehungsweise wie in diesem Fall non participans Micke, Protonotare, bes. S. 227–233. Vgl. Can. 1435 § 1 N. 1: „§1. Praeter omnia beneficia consistorialia et omnes dignitates ecclesiarum cathedralium et collegiatarum ad normam can. 396, §1, sunt reservata Sedi Apostolicae, quanquam vacanti, sola beneficia quae infra memorantur: 1º Omnia beneficia, etiam curata, quae vacaverint per obitum, promotionem, renuntiationem vel translationem S.  R. E. Cardinalium, Legatorum Romani Pontificis, 15

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Wie aus seiner rechtlichen Interpretation ersichtlich, votierte Pacelli für eine freie Besetzung der Propstei durch den Heiligen Stuhl.36 In Bezug auf das zweite Amt, das des Delegaten und Weihbischofs, sei es nötig festzuhalten – wie Pacelli erklärte –, dass angesichts der bevorstehenden Errichtung des Bistums Berlin, „der zu wählende Kandidat auch befähigt sein muss, der künftige Bischof von Berlin zu sein“37. Damit kam Pacelli auf die von Bertram verlangten Fähigkeiten zu sprechen, die der künftige Oberhirte besitzen müsse. Diese seien – der Breslauer Kardinal hatte von Innerlichkeit, Priorität der Seelsorge und administrativem Geschick gesprochen – „gewiss von essentieller Wichtigkeit“38. Doch die von Bertram als zweitrangig klassifizierten repräsentativen Qualitäten, eine „gewisse Feinheit des Umgangs“39, stufte der aristokratische Diplomat ganz anders ein: Auch sie seien alles andere als unnütz in einem solchen Zentrum wie Berlin. So sei der Einfluss Deitmers auf die kultivierten Kreise – wie Pacelli nicht unkritisch resümierte – sehr begrenzt gewesen, weil er diesen Habitus nicht besessen habe. Freilich war ein anderer Aspekt für Pacelli noch viel bedeutender: die Priesterausbildung in der neuen Diözese. Wie schon im angesprochenen Tützer Besetzungsfall ging Pacelli mit der theologischen Lehrsituation in Breslau – der alten Wirkungsstätte Joseph Wittigs40 –, wo die Berliner Alumnen studierten, hart ins Gericht: „Tatsächlich ist, wie leider die Erfahrung zeigt, die Bildung und Erziehung, welche die Aspiranten auf das Priestertum an der theologischen Fakultät und im Konvikt von Breslau erhalten, unter verschiedenen Aspekten ziemlich mangelhaft; daher scheint es mir unerlässlich, dass, sobald das Gebiet von Brandenburg und Pommern einmal getrennt ist, der neue Bischof die Studenten der heiligen Theologie prinzipiell an das Kollegium Germanicum-Hun-

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officialium maiorum Sacrarum Congregationum, Tribunalium et Officiorum Romanae Curiae et Familiarium, etiam honoris tantum, Summi Pontificis tempore vacationis beneficii.“ Vgl. auch Mörsdorf, Lehrbuch II, S. 432f.; Sipos, verba „tempore vacationis beneficii“. Zugunsten der Festigung dieses Ansinnens las der Nuntius gewiss gerne die Ausführungen Johannes Heckels, dass die Breslauer Fürstbischöfe im Delegaturbezirk „nicht etwa proprio iure als Breslauer Bischöfe [handelten und handeln], sondern auctoritate apostolica, nämlich kraft eines ihnen ein für allemal in der Bulle [sc. De salute animarum, R.H.] gesetzlich erteilten Amtsauftrags. Demzufolge hatten und haben sie zwar in der Delegatur die Gewalt eines Bischofs, aber sie waren und sind nicht Bischöfe dieses Gebiets, sondern Stellvertreter des zuständigen Oberhirten, nämlich des Papstes. … Obgleich sie in weiterem Sinne und in ungenauer Ausdrucksweise häufig zur Diözese Breslau gerechnet wird, ist sie doch in Wirklichkeit durch die Bulle ein päpstlicher Verwaltungsbezirk eigener Art geworden und ist das bis heute geblieben.“ Heckel, Besetzung, S. 147–149. „… il candidato da eleggersi dovrà essere pure atto quale futuro Vescovo di Berlino.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5r. „… certamente di importanza essenziale …“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5r. „… qualche finezza di modi …“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5r. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.4 (Das Einlenken Roms und Pacellis Kandidat Maximilian Kaller). 16

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garicum in Rom oder an das Philosophisch-Theologische Institut von Frankfurt oder auch, wenn man will, zum Teil in ein bischöfliches Seminar (zum Beispiel nach Trier oder Fulda), welche größere Garantien in dieser Hinsicht bieten, entsendet.“41

Nachdem damit das zentrale Kriterium des Kandidatenprofils aufgestellt war, kam Pacelli auf die drei Personenvorschläge Bertrams zu sprechen: Dessen Favorit Piontek habe sich zwar – so urteilte der Nuntius – um den schlesischen Bonifatiusverein verdient gemacht, sei aber ansonsten – wie er aus verschiedenen, namentlich nicht genannten Quellen erfahren habe – „von mäßiger Qualität“42. Außerdem würde dieser die Alumnen zweifellos weiterhin die Universität in Breslau besuchen lassen. Also stand der Genannte nicht ernsthaft zur Disposition. Ähnliches diagnostizierte Pacelli für Kaller. Zwar sei dieser sehr eifrig, dem Heiligen Stuhl treu ergeben und erledige seine Aufgabe in Schneidemühl sehr gut, aber es sei doch sehr zu bezweifeln, dass er einer so wichtigen Diözese vom Kaliber Berlin ebenso gewachsen wäre. Abgesehen davon sei es auch ziemlich schwierig, ihn dort zu ersetzen, wo doch die Einsetzung des Schneidemühler Administrators so vielen Hindernissen begegne.43 Damit spielte Pacelli wohl besonders auf das spannungsgeladene Zusammentreffen von preußischen und polnischen Interessen in diesem Grenzgebiet an, welches die Kandidatenfindung bei der vergangenen Besetzung 1925/26 erheblich kompliziert hatte. Etwas besser war es nach Ansicht des Nuntius um Steinmann bestellt. Aus dem Gutachten Schreibers, das Pacelli seinem Bericht beifügte, könne Gasparri ersehen, dass „dieser ziemlich bemerkenswerte Qualitäten der Tätigkeit, der Geschicklichkeit und der Erfahrung besitzt, auch hinsichtlich Berlin“44. Seine Treue zum Heiligen Stuhl nähre die Hoffnung, dass Steinmann auch dessen Instruktionen zur Ausbildung des Klerus umsetzen werde. Diese Instruktionen, an die Pacelli hier dachte, sind mit den Vorgaben zu entschlüsseln, welche der Geheimerlass der Studienkongregation bereits 1921 dem deutschen Episkopat an die Hand 41

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„Infatto, come pur troppo dimostra lʼesperienza, la istruzione ed educazione, che gli aspiranti al sacerdozio ricevono presso la Facoltà teologica ed il Convitto di Breslavia, è sotto vari aspetti assai difettosa; sembra quindi indispensabile che, una volta seperato il territorio del Brandenburgo e della Pomerania, il nuovo Presule procuri di inviare gli studenti di sacra teologia principalmente al Collegio Germanico-Ungarico in Roma od allʼIstituto filosofico-teologico di Francoforte, od anche, se si vuole, in parte in qualche Seminario vescovili (ad es. a Treviri od a Fulda), che dia maggiori garanzie a tale riguardo.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5r. „… di qualità mediocri …“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5v. Diese „schwere Ersetzbarkeit“ hinderte Pacelli freilich nicht daran, Kaller wenig später auf den ersten Platz der römischen Terna für die Bischofswahl des Ermländer Domkapitels zu setzen. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die römische Terna). „… egli possiede assai notevoli doti di attività, di abilità e di esperienza anche per ciò che concerne Berlino.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 5v. 17

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gegeben hatte.45 Auf jeden Fall – so der Nuntius weiter – sei es nötig, „über diesen fundamentalen Punkt“46 auf geheimem Wege Zusicherungen einzuholen, weil auch die Gefahr bestehe, dass er seine Alumnen, wenn nicht nach Breslau, so an die staatliche theologische Akademie Braunsberg entsende, da dort sein Bruder, Alfons Steinmann, die Professur für Neutestamentliche Exegese bekleide. Auch das war für Pacelli zu verhindern, denn in Braunsberg waren die Verhältnisse seiner Ansicht nach nicht besser als in Breslau.47 Doch das war nicht das einzige Negativargument: „Einigen Zweifel hinterlässt auch der Charakter des Kandidaten, der nämlich von etwas herrischer Natur ist und der daher keine besondere Sympathie in der Geistlichkeit zu genießen scheint.“48 Dieses Urteil Pacellis macht einen harten Eindruck: Das Gutachten Gehrmanns hatte doch eine ganz andere Sprache gesprochen und die vielen Sympathien, die der Klerus dem Stettiner Propst entgegenbrachte, luzide herausgestellt. Auf das Votum des Steyler Missionars ging Pacelli aber mit keinem Wort ein. Aus welchem Grund hielt er das überaus positiv wertende Exposé zurück? Sinn machte dieses Vorgehen nur, wenn er Steinmanns Kandidatur letztlich nicht für wünschenswert hielt. Folgerichtig war sein abschließendes Votum über den Propst nicht überzeugend: „Alles in allem aber scheint mir, dass er als eine geeignete Person betrachtet werden kann.“49 Damit hatte Pacelli in seinem Bericht nicht nur alle Kandidaten, die der Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz in Vorschlag gebracht hatte, mehr oder weniger abgelehnt. Darüber hinaus hatte er auch den Boden bereitet, um in gekonnt schulmäßiger Argumentationsdramaturgie seinen eigenen, eigentlichen Kandidaten einführen zu können: Kaas.50 Seiner Ansicht nach hatte Bertram mit seinem Hinweis, dass Pacelli seinen Blick vielleicht auch über die Grenzen 45 46

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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.3 (Der Kandidat von Ludwig Kaas: Nikolaus Bares). „… su questo punto fondamentale …“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 6r. In seiner Schlussrelation führte der Nuntius diese Kritik näher aus, indem er monierte, dass „einige Professoren“ – damit meinte er unter anderem den Lehrstuhlinhaber für Philosophie und Ermländer Domkapitular Wladislaus Switalski – „falsche oder zumindest missverständliche Meinungen“ verträten, während der Diözesanbischof, Augustinus Bludau, diesen Missständen nur tatenlos zusehe. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 233. Vgl. dazu auch Bd. 2, Kap. II.1.9 Anm. 345. „Qualche dubbio lascia anche il carattere di questo candidato, che si dice di natura alquanto imperiosa, e che quindi non sembra godere speciali simpatie nel clero.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 6r. „Ma, tutto sommato, parmi che egli possa essere riguardato come un soggetto idoneo.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 6r. Zwar fügte Pacelli das Votum Bornewassers zur Illustration bei, doch hatte dieser so gut wie keine biographischen Angaben zum Zentrumsprälaten gemacht. Deshalb verwies der Nuntius Gasparri auf den Lebenslauf, den er Ende 1920 nach Rom gesandt hatte, damals mit der Bitte verbunden, Kaas zum Päpstlichen Hausprälaten zu ernennen. Die wesentlichen Stationen dieser von Pacelli selbst verfassten Vita waren: Kaas sei 1881 geboren, mit 19 Jahren zum philosophisch-theologischen Studium in 18

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Ostdeutschlands hinaus bewegen wollte, sogar auf den Trierer Kanoniker angespielt, denn über diesen habe Bertram noch kürzlich mit ihm gesprochen, als er anlässlich der Beerdigung Deitmers nach Berlin gekommen sei. Wenngleich der Zentrumsprälat dem Kardinalstaatssekretär ein Begriff sein musste, hob Pacelli die seiner Ansicht nach wichtigsten Attribute noch einmal hervor: „Ehemals Alumne des Kollegium Germanicum-Hungaricum, ist er ein Mann von hohen und außergewöhnlichen Qualitäten, der überall geschätzt wird und in sich alle notwendigen Anforderungen für einen Bischof vereint, der in der Reichshauptstadt residiert.“51 Bemerkenswerterweise machte Pacelli aber auch hier gewichtige Vorbehalte, die zumindest momentan die Wahl seines Vertrauten erschweren würden: Zum einen sei Kaas erst kürzlich – gegen seinen eigenen Willen, wie Pacelli betonte – zum Vorsitzenden der Deutschen Zentrumspartei gewählt worden und es

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das Trierer Priesterseminar eingetreten. Bereits ein Jahr später sei er nach Rom übergesiedelt, um als Alumne des Kollegium Germanicum an der päpstlichen Gregoriana das Laureat in der Philosophie und Theologie zu erwerben. 1906 habe er die Priesterweihe empfangen. Dem Rat des Rektors des Germanicums gehorchend (obtemperans) und mit Einverständnis Bischof Korums sei Kaas noch ein weiteres Jahr in Rom geblieben, vor allem um kanonisches Recht zu studieren und als Kaplan der Anima zu wirken. Die Leistungen auf kirchenrechtlichem Gebiet hob Pacelli eingehend hervor: „Mense Junii huius anni [sc. 1909, R.H.] R. D. Kaas a professoribus Facultatis iuris canonici electus est, ut in publica disputatione, tunc temporis in Universitate Gregoriana iterum introducta, theses doctorales defenderet. Quo examine publice superato iuris canonici doctor ‚summa cum laude‘ creatus est.“ Wieder zurück im Bistum Trier habe Kaas verschiedene Tätigkeiten ausgeführt: in der Seelsorge, als Rektor des Waisenhauses in Kemperhof bei Koblenz und als Rektor der dortigen Höheren Schule, wo er durch acht Jahre hindurch von kirchlicher wie staatlicher Seite höchstes Lob geerntet habe. Daneben habe Kaas – wieder mit Zustimmung seines Ordinarius, wie Pacelli nicht zu erwähnen vergaß – seine Studien des kanonischen sowie des bürgerlichen Rechts in Bonn fortgesetzt und ein ausgezeichnetes Werk über „Die geistliche Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche in Preußen“ geschrieben. 1918 habe ihm Korum die neu errichtete Professur für kanonisches Recht am Trierer Priesterseminar übergeben. Im nächsten Jahr habe Kaas einen Ruf der Universität Bonn abgelehnt und zwar – so stellte es Pacelli dar – dem Urteil seines Ordinarius gehorchend (obtemperans), der ihn in Trier habe behalten wollen. In der Folgezeit seien noch weitere Ämter und Ehrungen dazugekommen, so die Ernennung zum Geistlichen Rat und zum Kirchenanwalt. Im September 1918 habe er schließlich sehr erfolgreich die Trierer Diözesansynode vorbereitet und an ihr auch lenkend teilgenommen. 1919 sei Kaas mit Einverständnis Korums (consentiente et libenter annuente) als Abgeordneter der Zentrumspartei in die Verfassunggebende Nationalversammlung und im nächsten Jahr in den Reichstag gewählt worden. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 5. Dezember 1920, ASV, Segr. Stato, Anno 1921, Rubr. 255, Fasz. 1, Fol. 16rv; die Biographie ebd., Fol. 17r–18r, hier 17r. Es sticht sofort ins Auge, dass Pacelli dem Trierer Prälaten ein sehr gutes Zeugnis ausstellte, insbesondere dessen Leistungen auf kanonistischem Gebiet hervorhob und stets dessen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie betonte. „Antico alunno del Collegio Germanico-Ungarico, è uomo di doti superiori ed eccezionali, universalmente stimato, e riunirebbe in sé tutti i requisiti necessari per un Vescovo residente nella capitale del Reich.“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 6r-v. 19

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sei nicht einsichtig, wie er dort so schnell ersetzt werden könnte.52 Zum anderen hegte der Nuntius gesundheitliche Bedenken, insofern sich Kaas aufgrund exzessiver Arbeit, den fortwährenden Strapazen seiner vielen Amtsgeschäfte und den Folgen einer Operation im November 1927 regelmäßig erholen müsse. Pacelli hatte also für den Moment keinen opportunen Kandidaten anzubieten. Wenn man auf den tauglichsten Geistlichen Kaas zurückgreifen wollte, musste man seiner Ansicht nach also noch etwas warten. Von daher überrascht es nicht, wenn ihm im Folgenden daran lag, die Dringlichkeit der Wiederbesetzung des vakanten Amtes zu relativieren, indem er auf den Umstand hinwies, dass es bis 1923 – also bis zum Zeitpunkt der Erhebung Deitmers in den episkopalen Ordo – in Berlin keinen Weihbischof gegeben habe. Daher sei es wichtiger, „eine wahrhaft gute Wahl“53 zu treffen, als eine schleunige Entscheidung zu fällen. Mehr könne er bislang zu diesem Thema nicht sagen, behalte sich jedoch vor, darauf zurückzukommen.

Pacellis abwartender Kurs und die gegenteilige Intervention Bertrams in Rom Gasparri war mit der abwartenden Haltung, die der Nuntius empfahl, einverstanden. Zwar ließ er vom Heiligen Offizium sofort für alle vier von Pacelli beigebrachten Kandidaten  – wohlgemerkt auch für die, die dieser für ungeeignet erklärt hatte – das Nihil obstat ausfertigen.54 Aber für das weitere Vorgehen erteilte er zunächst keine Weisung. Pacelli wiederum hatte offenbar ebenso wenig auf das Initiativschreiben Bertrams vom 1. Februar geantwortet. Dessen ungeachtet ergänzte der Breslauer Kardinal am 9. April seine frühere Darstellung mit Überlegungen zur Situation der Berliner Delegatur, die ihm vom Interimsdelegaten Cortain zugegangen waren.55 Prälat Cortain identifizierte in der fehlenden Seelsorgsinfrastruktur ein Hauptproblem, weshalb die kirchliche Verwaltung in Berlin künftig von einem Mann geführt werden müsse, „der von vornherein diese systematische 52

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Nach dem schwachen Ergebnis für die Deutsche Zentrumspartei in der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 und dem Rücktritt ihres Vorsitzenden Wilhelm Marx am 6. Oktober desselben Jahres, suchte man nach einer Parteispitze, welche die verschiedenen Richtungen und Flügel der Partei zu neuer Geschlossenheit führen sollte. Aus dieser Motivation heraus wählte man am 8. Dezember 1928 auf dem Kölner Parteitag Kaas zum neuen Vorsitzenden, der das Amt zwar nicht angestrebt hatte, aber einsah, „sich angesichts einer echten Notsituation dem Ersuchen einer Mehrheit der Delegierten nicht versagen zu dürfen“. Vgl. May, Kaas 2, S. 612–630, hier 619. „… una scelta veramente buona …“ Pacelli an Gasparri vom 16. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 6v. Vgl. die Schriftwechsel zwischen Borgongini Duca und Canali vom 21. respektive 23. März 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 12r und 13r über Piontek, 14r und 15r über Kaller, 16r und 17r über Steinmann sowie 18r und 19r über Kaas. Vgl. Bertram an Pacelli vom 9. April 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 23rv. 20

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und organisierte Tätigkeit als seine Aufgabe erkennt und dieselbe mit ruhiger, zielbewusster Hand … in die Tat umsetzt“56. Nach anderen Äußerungen aus dem Delegaturamt sei – so Bertram – neben dem administrativen Geschick zum Ausbau der Pfarrstrukturen auch eine stringentere und tatkräftigere Leitung durch den neuen Weih- beziehungsweise Diözesanbischof vonnöten. Bertram hoffte, dass dies Urteil von vor Ort bei der Kandidatenwahl des Heiligen Stuhls berücksichtigt werde, zumal vielleicht schon bald eine Entscheidung aus Rom zu erwarten sei. Dort standen die Zeichen aber auf Stillstand. Pacelli dachte gar nicht daran, die Angelegenheit voranzutreiben, sondern kümmerte sich stattdessen um die preußischen Konkordatsverhandlungen, die nun in ihre allerletzte Phase eintraten. Daran änderte auch die Eingabe eines anonymen Katholiken von Anfang Mai nichts, die einen Diözesanbischof von Berlin nach der Art des neuen Hildesheimer Oberhirten, Nikolaus Bares, forderte.57 Eine Persönlichkeit wie diese sei nötig, um das Übel des deutschen Katholizismus, den „Interkonfessionalismus mit seiner systematischen Propaganda von der ‚Eigengesetzlichkeit‘ wichtiger Lebensbezirke, mit seinem leidenschaftlichen Eintreten für einen falsch verstandenen ‚Gemeinschaftsgedanken‘“58, zu bekämpfen. Weil die katholische Aktion von dezidierten Vertretern dieser Denkweise unterwandert werde, liege es an den Bischöfen, die sich „durch eine klare Einstellung und eine feste Führung des katholischen Volkes“59 auszeichnen würden, ihr Absinken aufzuhalten. Einen solchen glaubte der Verfasser auch zu kennen, nämlich den Geistlichen Rat in Berlin Lichterfelde, Maximilian Beyer. Es ist anzunehmen, dass der anonyme Schreiber, der offenbar einer integralistischen Richtung nahe stand, aus Beyers näherem Umfeld stammte. Pacelli freilich ließ sich von diesem Brief überhaupt nicht beeindrucken. Weil daher keine Veränderung und kein Fortschritt in der Berliner Besetzungsfrage auszumachen war und der Nuntius auf das zweite Schriftstück Bertrams wiederholt nicht reagierte, wandte sich dieser am 24. Mai schließlich an den Papst.60 In seiner Eingabe trat er für die Einsetzung des Delegaten nach dem Modus der Konvention von 1854 ein, ergänzte ihn allerdings um eine vorige Abstimmung mit dem Heiligen Stuhl. Prinzipiell – so Bertram – sei es ihm auch möglich, eigenmächtig einen Delegaten zu ernennen, „aber weil der, dem jetzt die bischöfliche Verwaltung des Delegaturbezirks überantwortet würde, schon bald nach der Errichtung der Diözese Berlin, die im Konkordat vorgesehen 56 57 58

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Cortain an Bertram vom 8. April 1929 (Abschrift), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 25rv, hier 25v. Vgl. anonymer Katholik an Pacelli vom 9. Mai 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 27r–29r. Anonymer Katholik an Pacelli vom 9. Mai 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 27v. Hervorhebung im Original. Anonymer Katholik an Pacelli vom 9. Mai 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 28r. Hervorhebungen im Original. Vgl. Bertram an Pius XI. vom 24. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 24r–25r. 21

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ist, nicht leicht bei der Ernennung des Bischofs der neuen Diözese übergangen werden kann, liegt diese Angelegenheit jetzt beim Heiligen Stuhl“61.

Nachdem er – so der Breslauer Kardinal weiter – den mit Rom vereinbarten Kandidaten zum Delegaten ernannt haben würde, könne der Heilige Stuhl diesen – genau wie damals Deitmer – zum Weihbischof erheben. Nach Abschluss des Preußenkonkordats wäre der neue Delegat schon gut eingearbeitet und könne daher leichter den anstehenden Aufbau der Bistumsstrukturen bewältigen. Bertram warnte hingegen eindringlich vor der – wie er vermutete – in Rom verfolgten Taktik, die Stelle bis nach Inkrafttreten des Konkordats vakant zu lassen. In Berlin seien unablässig weitreichende Entscheidungen zu treffen, insbesondere im Bereich der Finanzverwaltung. Mit den Behörden müssten Verhandlungen geführt werden über Angelegenheiten, die das kirchliche Leben, die Schulen und das öffentliche Leben beträfen, ganz abgesehen von den übrigen Aufgaben, die ein guter Hirte zu erledigen habe. Der Interimsdelegat Cortain sei von den Belastungen und Mühen schwer gezeichnet und müsse ein Sanatorium aufsuchen. Die übrigen Pfarrer Berlins seien den Herausforderungen nicht gewachsen. Kurzum: „Die Stadt Berlin mit dem Gebiet der Delegatur benötigt die starke Hand eines klugen Hirten.“62 Sicherlich nicht unkritisch bemerkte Bertram abschließend, dass er seine Gedanken „über die Qualitäten einiger Personen“63 dem Berliner Nuntius schon vor langem dargelegt habe – und man kann in Gedanken hinzufügen: ohne, dass dieser darauf reagiert hätte.

Von Ludwig Kaas zu Christian Schreiber und die Bestellung eines Administrators Bertrams Eingabe erreichte ihren Zweck. Pius XI. kam zu der Ansicht, „dass nicht bis zur absoluten Dringlichkeit zu warten ist, sondern dass die aktuelle Notwendigkeit ausreicht, um für das geistliche Wohl der Katholiken Berlins zu sorgen“64, wie Gasparri am 2. Juni an die Berliner Nuntiatur telegraphierte. Der kürzeste Weg für Pacelli bestehe nach Ansicht des Papstes darin, sich direkt mit Bertram zu verständigen, um eine der Situation gerechte Lösung zu erzielen, insbesondere, „wenn man eine vorläufige Maßnahme finden kann, um den Weg frei zu halten für

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„Sed quia is, cui nunc delegetur episcopalis administratio districtus Delegaturae, jam mox post Dioecesis Berolinensis constitutionem in Concordato provisam non poterit facile praeteriri in Episcopi novae Dioecesis nominatione, res jam nunc apud S. Sedem pendet.“ Bertram an Pius XI. vom 24. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 24v. „Urbs Berlin cum Delegaturae districtu poscit manum fortem prudentis pastoris.“ Bertram an Pius XI. vom 24. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 25r. „De personarum aliquot qualitatibus …“ Bertram an Pius XI. vom 24. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 25r. „… che non sia da aspettare una urgenza assoluta ma basta il bisogno attuale per provvedere al bene spirituale dei cattolici di Berlino.“ Gasparri an Pacelli vom 2. Juni 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 31r. 22

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die Wahl von Kaas, wenn sie in ziemlich naher Zukunft absehbar ist“65. Man freundete sich also in der Kurie mit Pacellis Favoriten an, wenngleich der Nuntius keinen Geistlichen als völlig opportun deklariert und man zunächst für alle vorgetragenen Kandidaten das Plazet des Heiligen Offiziums besorgt hatte. Von der angedachten provisorischen Lösung, um Kaas zu einem späteren Zeitpunkt auf den bischöflichen Stuhl zu transferieren, erfuhr Bertram nichts. Ihm gegenüber versicherte der Kardinalstaatssekretär am nächsten Tag lediglich, dass die Verzögerung einzig aus der Langwierigkeit der preußischen Konkordatsverhandlungen resultiere und er wünsche, dass die fragliche Besetzung bald erledigt werden könne.66 Auf Anweisung des Heiligen Vaters habe er das Bittschreiben an Pacelli weitergereicht. Dieser war gerade dabei, die Konkordatsverhandlungen endgültig abzuschließen. Am 14. Juni erfolgte bereits die Unterzeichnung des neuen Kirchenvertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Preußen, die endgültige Abstimmung im Landtag stand am 9.  Juli auf dem Programm.67 Doch entgegen der Vorgabe Piusʼ XI. korrespondierte Pacelli zunächst nicht mit Bertram. Erst wollte er die Personalfrage zu einer definitiven Entscheidung führen. Um also „auf beste Art“ die römischen Anordnungen auszuführen – so versicherte er dem Kardinalstaatssekretär am 18. Juni –, habe er sich vergewissert, ob eine „ziemlich kurzfristige“68 Ernennung des Zentrumsvorsitzenden möglich sei. Leider sei festzustellen, dass dessen angeschlagene Gesundheit es nicht erlaube, in naher Zukunft ein so bedeutendes und mühseliges Amt zu übernehmen. Obwohl man daher von seiner Wahl absehen müsse, glaubte Pacelli, dass nicht nur eine provisorische Übergangslösung, sondern sogar eine endgültige Regelung der Angelegenheit machbar war. Dabei dachte er aber keineswegs an die Kandidatentrias Bertrams, nicht einmal an Steinmann, den er im März noch als im Allgemeinen akzeptabel hingestellt hatte. Stattdessen nominierte er den Bischof von Meißen, Christian Schreiber: „Als ehemaliger Alumne des Kollegiums Germanicum-Hungaricum, von gesunder Lehre und anhänglich an den Heiligen Stuhl kann man nicht zweifeln, dass er jede Zuverlässigkeit im Hauptpunkt der Klerusausbildung bietet. Er ist außerdem von tadellosem Leben, sehr

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„… se si potesse trovare una misura interinale da lasciare libera la via alla elezione di Kaas, quando sia prevedibile in un termine abbastanza breve.“ Gasparri an Pacelli vom 2. Juni 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 31r. Vgl. Gasparri an Bertram vom 3. Juni 1929 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 27r. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.5 (Der Konkordatsabschluss und die Diskussion über die „Würdigung“ der Vorschlagslisten). Vgl.: „Allo scopo di eseguire nel miglior modo gli ordini ivi [sc. im Telegramm Gasparris vom 2. Juni, R.H.] impartitimi, mi è sembrato innanzi tutto necessario di accertare, se fosse possibile di procedere in un termine abbastanza breve alla nomina del Revmo Mons. Kaas.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Juni 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 27bisrv, hier 27bisr. 23

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angesehen, kultiviert, energisch, aktiv und eifrig, wenn er auch manchmal den Eindruck macht, dass er ein bisschen zu viel von sich selbst denkt.“69

Ein Problem darin, dass Schreiber von einem amtierenden Diözesanbischof zu einem Weihbischof „degradiert“ werden würde, sah Pacelli nicht, weil nach der Veröffentlichung des Konkordats die baldige Errichtung der Berliner Diözese publik und die Übergangszeit nur kurz andauern werde. Seine abschließende Bitte um diesbezügliche Instruktionen wurde Anfang Juli erhört: Gasparri meldete knapp, dass der Papst bereit sei, Schreiber zum Weihbischof von Berlin zu ernennen.70 Pacelli sollte dafür das opportune Prozedere vorgeben. Plötzlich jedoch schien das Bild, das Pacelli von Schreiber gezeichnet hatte, Kratzer zu bekommen. Gerade hinsichtlich des wesentlichen Kriteriums, das er für die Eignung eines Geistlichen zur Bischofswürde veranschlagte, erhielt er am 2. Juli – einen Tag bevor ihn die kurze telegraphische Nachricht von der Bereitschaft des Papstes zur Ernennung Schreibers erreichte – ernüchternde Neuigkeiten. Damit diese in die päpstliche Entscheidung noch einfließen konnten, legte Pacelli sie am 4. des Monats in einem erneuten Bericht für Gasparri schriftlich nieder.71 Darin lenkte der Nuntius die Sprache auf das Jesuitenkolleg St. Georgen in Frankfurt, von dem Gasparri wisse, wie wichtig es für den Papst sei. Es bestehe die Hoffnung, dass von dort die in Deutschland so dringend benötigten Geistlichen ausgingen, die fest in der gesunden katholischen Lehre ausgebildet wurden.72 Der Meißener Bischof sende seine Alumnen jedoch nicht in das genannte Jesuitenkolleg, sondern in das Seminar nach Fulda. Das war für Pacelli freilich noch nicht die bedenkliche Novität, er wusste davon bereits aus der jungen Gründungsgeschichte St. Georgens.73 69

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„Antico alunno del Collegio Germanico  –  Ungarico, di sana dottrina, attacato alla S.  Sede, non può dubitarsi che egli offra ogni garanzia nel punto capitale della formazione del clero. È inoltre di vita irreprensibile, assai stimato, colto, energico, attivo e zelante, sebbene faccia qualche volta lʼimpressione che senta un poʼ troppo di sé stesso.“ Pacelli an Gasparri vom 18. Juni 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 27bisv. Abgesehen von der negativen Bemerkung beurteilte Pacelli den Meißener Oberhirten wenige Wochen später in seinem Abschlussbericht mit fast identischem Wortlaut: „È Prelato esemplare, di sana dottrina, attaccato alla S.  Sede, assai stimato, colto, energico, attivo e zelante.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 45v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 242. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 3. Juli 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 33r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 4. Juli 1929 (nicht versandte Ausfertigung), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 34rv. Vgl.: „È noto a Vostra Eminenza lʼinteresse, che porta il S. Padre allʼIstituto filosofico-teologico dei RR. PP. della Compagnia di Gesù in Francoforte, dal quale si spera – come ve ne è così urgente bisogno – che escano in buon numero ecclesiastici solidamente formati nella sana dottrina.“ Pacelli an Gasparri vom 4. Juli 1929 (nicht versandte Ausfertigung), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 34r. Schon 1920 berichtete Pacelli dem Präfekten der Studienkongregation, Gaetano Kardinal Bisleti, dass Schreiber die Gründung einer Jesuitenhochschule in Frankfurt ablehnte und stattdessen die Errichtung einer katholischen Universität in Fulda befürwortete. Vgl. Unterburger, Lehramt, S. 358. 24

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Nicht ohne Grund hatte er in seiner Berichterstattung vom März die bischöflichen Seminare in Trier und Fulda als zwar auf unterster Stufe stehende, aber nichtsdestotrotz akzeptable Ausbildungsstätten für Priesteranwärter bezeichnet. Weil Schreiber vor seiner Erhebung zum Meißener Diözesanbischof Rektor des dortigen Seminars gewesen sei, könne man – so Pacelli weiter – diese Ausrichtung auf Fulda „bis zu einem gewissen Punkt auch verstehen, obwohl die Studien dort, jenen, die man in Frankfurt absolviert, weit unterlegen sind“74. Doch das eigentlich Prekäre war für ihn etwas anderes: „Aber der Ehrwürdige Monsignore Schreiber, und das ist weniger verständlich, scheint sogar noch weiter zu gehen, nämlich, wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, sendet er selbst die Jugendlichen nicht nur nicht in das genannte Institut, sondern hat sogar einem Studenten verboten dort hinzugehen, der darum gebeten hatte.“75

So unzweifelhaft war die Zuverlässigkeit Schreibers hinsichtlich der Klerusausbildung also gar nicht, wie Pacelli Mitte Juni noch behauptet hatte. Logischerweise befürchtete der Nuntius, dass Schreiber diesen – seiner Ansicht nach – schädlichen Weg auch in Berlin weiterverfolgen könnte. Daher hielt er es für angemessen, dieses Thema vor der Ernennung vertraulich mit dem Kandidaten zu erörtern, um dessen Ansichten diesbezüglich besser kennen zu lernen und eventuell die Vorstellungen des Heiligen Stuhls klarzustellen. Merkwürdig ist aber nun, dass Pacelli diesen Bericht mit dem für ihn fundamental wichtigen Inhalt nicht nach Rom abschickte. Der Grund dafür kann nicht in dem tags zuvor erhaltenen Telegramm Gasparris liegen. Man könnte ja denken, dass er nach der erklärten päpstlichen Ernennungsabsicht nicht noch einmal einen Kandidaten zurückziehen wollte. Aber warum sollte er dann diesen Bericht – den er am 4. Juli verfasste – überhaupt noch schreiben, wenn die Weisung – die er am 3. Juli erhielt – ihn von der Absendung abgehalten hätte? Eine kurze Anmerkung, die Pacelli am 5. des Monats auf seinem Bericht notierte, gibt Aufschluss, dass dem Nuntius noch ein weiteres Mal aus anonymer Quelle76 Informationen zugetragen wurden, die das schlechte

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„… ad un certo punto comprendersi, quantunque gli studi colà siano molto inferiori a quelli che si compiono in Francoforte.“ Pacelli an Gasparri vom 4. Juli 1929 (nicht versandte Ausfertigung), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 34r. „Ma il Revmo Mons. Schreiber, e ciò pare men comprensibile, sembra che vada anche più oltre, giacchè, come ho appreso da fonte sicura, non solo non invia egli stesso i giovani nel sullodato Istituto, ma ha proibito di andarvi ad uno studente, che lo aveva domandato.“ Pacelli an Gasparri vom 4. Juli 1929 (nicht versandte Ausfertigung), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 34r-v. Die Informationen aus den beiden namentlich nicht näher genannten Quellen waren dem Nuntius wahrscheinlich mündlich zugekommen, jedenfalls finden sich keine schriftlichen Zeugnisse darüber im Nuntiaturarchiv. Man ist versucht, zumindest einen dieser anonymen Informanten mit Kaas zu identifizieren, mit dem Pacelli über die Berliner Besetzungsfrage zwangsläufig im Gespräch war und der daher vermutlich auch von der angedachten Kandidatur Schreibers wusste. 25

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Licht, in das Schreiber gerückt worden war, relativierten und ein günstigeres Bild zeichneten.77 Pacelli schien demnach überzeugt, dass die frühere distanzierte Haltung Schreibers gegenüber der Frankfurter Jesuitenhochschule überwunden war oder zumindest leicht überwunden werden konnte. Vor diesem Hintergrund konnte der Nuntius knapp ein halbes Jahr später in seiner Finalrelation folgende ungetrübte Hoffnung ausdrücken: „Es ist zu wünschen, dass Bischof Schreiber, der die Mängel der theologischen Fakultäten gut kennt, als Ordinarius von Berlin die Kraft haben möge, nach und nach, wenn auch mit der notwendigen Umsicht, seine Theologieschüler von der Universität Breslau zu entfernen und sie anderen philosophisch-theologischen Instituten mit einer sichereren und solideren Ausbildung zuzuführen.“78

Ungeachtet der kurzen Phase des Zweifels befürwortete Pacelli also Anfang Juli 1929 unverändert, Schreiber zum Weihbischof und künftigen Diözesanbischof von Berlin zu ernennen. In verspäteter Umsetzung der päpstlichen Instruktion kommunizierte er diesen Plan schließlich auch dem Breslauer Oberhirten und zwar noch am selben Tag, an dem er sich entschloss, seinen letzten Bericht nicht nach Rom zu übermitteln.79 Bertram zeigte sich von der Personalie hocherfreut: „Den Katholiken des Bistums Berlin kann man innig gratulieren zu einem so musterhaften Oberhirten, dessen Manneskraft, Vielseitigkeit, Schaffensfreude und geziemendes Auftreten zu den besten Hoffnungen berechtigt.“80 Direkt im Anschluss an dieses zustimmende Urteil bat der Nuntius den Meißener Diözesanbischof, ihn „zwecks einer wichtigen Mitteilung“81 in Berlin aufzusuchen. Pacelli präferierte das Vier-Augen-Gespräch, um die binnenkirchlich wie kirchenextern weittragende Entscheidung zu kommunizieren und möglicherweise auf besondere persönliche Empfehlungen und Schwerpunkte hinzuweisen – zu denken ist hier an die von Pacelli selbst angekündigte Diskussion über die Ausbildung der Priesteramtskandidaten. Doch darüber bemerkte 77

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Vgl. handschriftliche Bemerkung: „non più inviato in seguito ad ulteriori più favorevoli informazioni – 5.7.29“. Pacelli an Gasparri vom 4. Juli 1929 (nicht versandte Ausfertigung), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 34r. „È da augurare che Mons. Schreiber, il quale ben conosce i difetti delle Facoltà teologiche, abbia, come Ordinario di Berlino, la forza di allontanare, pur colla necessaria prudenza, pian piano i suoi alunni di teologica dalla Università di Breslavia, avviandoli ad altri Istituti filosofico-teologici di più sicura e solida formazione.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 46v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 247. Zu diesem Zeitpunkt konnte Pacelli übrigens bereits die ersten Erfolge vermelden: „Jedenfalls gibt er [sc. Schreiber, R.H.] bereits, wie mir bekannt ist, im Unterschied zum Verhalten Seiner Eminenz Bertram, ohne Schwierigkeiten denen, die sie erbitten, die Erlaubnis, sich an das Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom zu begeben.“ Ebd., S. 247. Vgl. Pacelli an Bertram vom 5. Juli 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 35r. Bertram an Pacelli vom 6. Juli 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 36r. Pacelli an Schreiber vom 7. Juli 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 38r. 26

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Pacelli nichts, als er knapp eine Woche nach der Audienz, die am 12. Juli stattfand,82 Gasparri informierte.83 Stattdessen berichtete er, seinem Gesprächspartner verdeutlicht zu haben, dass die päpstliche Anordnung, als Bischof nach Berlin zu gehen, angesichts der exponierten Wichtigkeit des dortigen Bischofsstuhls für Schreiber als „ein Beweis des besonderen Vertrauens und Wohlwollens von Seiten Seiner Heiligkeit“84 gelten könne. Schreiber sei sofort bereit gewesen, dem Willen des Papstes Folge zu leisten, habe aber auch die Nachteile angesprochen, die sich aus seinem Transfer für die Diözese Meißen ergäben. Dort habe er verschiedene Projekte initiiert, die seine Gegenwart noch für einige Jahre erfordern würden. Laut eigener Darstellung entgegnete Pacelli, dass der Heilige Stuhl gewiss für einen Nachfolger sorgen werde, der die begonnenen Unternehmungen vollende. Daraufhin habe Schreiber seiner Nomination zugestimmt.85 Dieser Punkt war damit geklärt. Pacelli überlegte weiter, welche Vorgehensweise bei der konkreten Einsetzung am praktikabelsten sei. Nach dem einmütigen Urteil „von sachkundigen Personen“86, die er vertraulich befragt habe  – wiederum mündlich ohne schriftliche Belege im Nuntiaturarchiv –, sei es klug, bis nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 13. August und damit bis zum letzten Akt der Verabschiedung des Preußenkonkordats zu warten. Auf diese Weise würden irgendwelche verhängnisvollen Auswirkungen und Polemiken in letzter Sekunde zulasten des Vertrags ausgeschlossen. Weil allerdings in Berlin noch kein Domkapitel existiere, sei eine Bischofswahl, wie im Preußenkonkordat vorgesehen,87 nicht möglich. Vielmehr müsse die Einsetzung Gegenstand einer „besonderen Vereinbarung“88 werden. Deshalb schlug Pacelli vor, die Regierung direkt nach der Übergabe der Ratifikationsdokumente von der Absicht des Heiligen Stuhls in Kenntnis zu setzen, Schreiber an die Spitze des neuen Bistums zu stellen und ihr umgehend die Möglichkeit zu geben, Einwände politischer Natur gegen den Erwählten vorzubringen. Es sei allerdings nicht davon auszugehen, dass sie Einspruch erheben werde. Da jedoch die Diözese nicht ohne dazugehörige Zirkumskriptionsbulle kanonisch errichtet werden könne, sei es wiederum nicht möglich, den Bischof sofort zu ernennen. Daher schwebte Pacelli als Lösung vor, dass Schreiber in 82

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Das Datum ergibt sich aus einem Telegramm Schreibers an Pacelli vom 10. Juli 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 39r. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 21. Juli 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 29r–30r. „… una prova di specialissima fiducia e benevolenza da parte di Sua Santità.“ Pacelli an Gasparri vom 21. Juli 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 29r. Bereits am nächsten Tag kümmerte sich Pacelli um Schreibers Nachfolge in Meißen. Vgl. dazu Bd. 4, Kap II.4.2 (Pacellis Vorausschau: Antonius Hilfrich für den Meißener Bischofsstuhl?). „… di personaggi competenti …“ Pacelli an Gasparri vom 21. Juli 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 29v. Vgl. Art. 6 des Preußenkonkordats von 1929, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. „… accordo speciale …“ Pacelli an Gasparri vom 21. Juli 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929– 1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 29v. 27

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der Zeit zwischen der Mitteilung an die Regierung und der Promulgation der Bulle provisorisch das Amt eines Apostolischen Administrators des Gebiets der aktuellen Delegatur von Berlin mit allen Vollmachten eines Diözesanbischofs übernehmen könnte. In diesem Fall würde bereits in angemessener Weise für die geistlichen Bedürfnisse der Gläubigen in diesem Gebiet gesorgt. Wie bisher war Gasparri mit den Überlegungen des Nuntius zufrieden. Auf Pacellis Bericht notierte er lapidar: „Sta bene“. Am 31. Juli bekannte er Pacelli, besonders gerne die – ihm ebenfalls von Pacelli referierte – wohlgesonnene Einschätzung Bertrams zur Kenntnis genommen zu haben.89 Der Papst sei vollkommen mit dem empfohlenen Besetzungsmodus einverstanden, insbesondere mit der Variante, die geistliche Führung des Delegaturbezirks Schreiber als Administrator mit den Rechten eines Diözesanbischofs zu übertragen. Die Ernennung desselben werde vorgenommen, sobald der Kirchenvertrag mit Preußen durch die reziproke Übergabe der ratifizierten Urkunden in Kraft getreten sei und Pacelli mitgeteilt habe, dass von Regierungsseite keine politischen Einwände gegen Schreiber vorgebracht würden. Damit ruhte die Besetzungsfrage für die kommenden zwei Wochen.

Die Kontroverse um das staatliche Plazet Von der Regierung hing nun ab, ob der ausgeklügelte Plan bloße Theorie blieb oder Realität wurde. Unmittelbar nach dem Austausch der ratifizierten Urkunden eröffnete Pacelli sowohl dem Ministerpräsidenten Braun als auch dem Kultusminister Becker die römische Intention, den Bischof von Meißen zum künftigen Oberhirten der zu errichtenden Berliner Diözese zu erheben. Beide hätten – wie Pacelli am 23. August nach Rom schrieb – grundsätzlich keine Einwände gehabt, wenngleich sie sich eine endgültige Entscheidung vorbehielten.90 Dieser Vorbehalt überrascht sicher nicht, wenn man bedenkt, dass sie die Mitteilung Pacellis völlig unvorbereitet traf. Leider sei es aber nicht bei der anfänglichen Zustimmung geblieben, wie der Nuntius kritisch hinzufügte: „… aber natürlich, als die Sache durch die Büros des Kultusministeriums ging, fingen die engstirnigen Bürokraten an, Einwände gegen den Besetzungsmodus und die Person des Kandidaten zu erheben.“91 Damit spielte er auf eine Unterredung mit Professor Friedrich Heyer vom 16. August an, der im Auftrag des Kultusministers forderte, dass 89 90

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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 31. Juli 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 42rv. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 23. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 33rv. „… ma naturalmente, allorchè la cosa passò negli Uffici del Ministero del Culto, i pedanti burocratici cominciarono a sollevare eccezioni sia circa il modus procedendi, come intorno alla persona del candidato.“ Pacelli an Gasparri vom 23. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 33r. 28

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„vor Beantwortung der gestellten Anfrage die Art der ersten Besetzung des künftigen Bischöflichen Stuhles von Berlin feststehen müsse; der Vertrag enthalte zwar keine ausdrückliche Bestimmung darüber, der Herr Minister sei aber der Auffassung, daß die Besetzung im Sinne und unter möglichster Anwendung des Artikels 6 zu geschehen habe; insbesondere müsse man hiernach wenigstens die Einreichung einer Kandidatenliste durch die preußischen Bischöfe erwarten, wenn auch die des ja noch nicht vorhandenen Domkapitels ausfallen müsse“92.

Laut der Aufzeichnung des Ministerialbeamten ließ sich Pacelli erst nach einer längeren Auseinandersetzung darauf ein, diese staatliche Ansicht an die Kurie weiterzuleiten, tat dies aber dann doch nicht. Stattdessen suchte er Kardinal Bertram auf, um mit ihm den Fall zu besprechen. Im Anschluss daran bekräftigte er gegenüber Heyer telefonisch seine ablehnende Haltung mit der Bemerkung, dass er „die Einforderung einer Kandidatenliste in diesem Falle als eine für die Bischöfe unwürdige Farce ansehen [müsse], da … von vornherein feststehe, wen der Papst zum Bischof von Berlin ernennen wolle“93. Natürlich wollte der Episkopat keine Kandidatenlisten aufstellen, wenn diese vollkommen überflüssig waren und nur eine formale Funktion erfüllten. Der Nuntius war aber versiert genug, die Regierung mit den eigenen Waffen zu schlagen. Wenn also die Normen des 6. Artikels des Konkordats über die Bischofseinsetzungen möglichst getreu umgesetzt werden sollten, dann war es eigentlich Aufgabe des Domkapitels, die Regierung um politische Bedenken hinsichtlich des vorgesehenen Kandidaten anzugehen. Da aber das Kapitel noch nicht errichtet war, müsse  – wie Pacelli Heyer vorhielt – die Anfrage zwecks der politischen Einwände entfallen.94 In Rom sei man derselben Ansicht, sodass sich eine Anfrage in dieser Angelegenheit erübrige. Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts erwartete Pacelli eine definitive Entscheidung des Kultusministeriums und betrachtete „bis dahin seine Anfrage nach der politischen Unbedenklichkeit des Kandidaten als nicht gestellt“95. Wohl nicht verwunderlich ist, dass man in Regierungskreisen nicht bereit war, auf die Anwendung der politischen Klausel zu verzichten, und daher einlenkte. Ein Tag nach dem angesprochenen Telefonat, am 17. August, erklärte Heyer dem Nuntius, dass „der Herr Minister zwar nach wie vor der Auffassung sei, daß die Besetzung des künftigen bischöflichen Stuhles von Berlin nach Einreichung einer Kandidatenliste des Episkopats hätte erfolgen sollen, daß er aber, vorbehaltlich der Stellungnahme des Staatsministeriums,

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Aufzeichnung Heyers vom 17. August 1929, zitiert nach Höhle, Gründung, S. 205. Aufzeichnung Heyers vom 17. August 1929, zitiert nach Höhle, Gründung, S. 205. Vgl. Höhle, Gründung, S. 205. Aufzeichnung Heyers vom 17. August 1929, zitiert nach Höhle, Gründung, S. 206. 29

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bereit sei, die bestehende Meinungsverschiedenheit im Sinne des Artikels 13 des Vertrags96 zu beseitigen; er werde daher dem Staatsministerium vorschlagen, für diesen Fall sich mit der Einhaltung der sog[enannten] politischen Klausel zu begnügen“97.

Pacelli versicherte im Gegenzug, sich hinsichtlich der ebenfalls nach Inkrafttreten des Konkordats anstehenden Besetzung des bischöflichen Stuhls der neuen Diözese Aachen für eine Anwendung des im Vertrag vorgesehenen Modus einzusetzen.98 Der Kultusminister befürwortete also am 23. August gegenüber Braun den von Pacelli vorgetragenen Besetzungsmodus und auch den Kandidaten, mit dem Hinweis: „Schreiber gilt als einer der hervorragendsten und gelehrtesten Mitglieder des deutschen Episkopates. Er ist auch Andersgläubigen gegenüber stets duldsam gewesen und bereits im Jahre 1914 als Kandidat für den bischöflichen Stuhl in Hildesheim für genehm erklärt worden.“99 Schon am Vorabend des 23.  August erhielt Pacelli das staatliche Plazet für den Verfahrensmodus und die Person Schreibers, woraufhin er sofort den angesprochenen Bericht an Gasparri verfasste. Diesen informierte er nicht nur über die erwähnten Widerstände gegen den Besetzungsmodus, sondern auch darüber, dass die Person des Kandidaten auf Vorbehalte gestoßen sei. Offenbar hatte Becker zunächst nicht seine eigentlich positive Meinung über Schreiber zugegeben, womöglich mit der Idee, den Nuntius zum Zugeständnis beim Verfahren bewegen zu können, wenn er dafür – gespielt widerwillig – auf den kurialen Kandidaten einginge. Jedenfalls habe der Kultusminister – so Pacelli – zunächst die Wahl eines Geistlichen für Berlin kritisiert, „der seine philosophisch-theologischen Studien in Rom absolviert hatte“100. Ohne genauer auf die Lösung dieses Problems einzugehen, drückte er Gasparri gegenüber seine Erleichterung aus, dass es ihm gelungen war, beide Einwendungen zu entkräften: „Der Heilige Stuhl kann daher jetzt ohne Weiteres den genannten Bischof zum Apostolischen Administrator des Gebiets der Delegatur von Berlin ernennen und vielleicht könnte er provisorisch den Titel und die Leitung der Diözese Meißen behalten.“101 96

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Der Artikel 13 sah vor, bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Staat und Kirche bei der Vertragsauslegung eine freundschaftliche Lösung anzustreben. Vgl. Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 237. Aufzeichnung Heyers vom 17. August 1929, zitiert nach Höhle, Gründung, S. 206. Vgl. Höhle, Gründung, S. 206 Anm. 22. Becker an Braun vom 23. August 1929, zitiert nach Höhle, Gründung, S. 206. Vgl. zur Hildesheimer Bischofswahl von 1914/​15 Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 219–224. „… il quale aveva fatto i suoi studi filosofico – teologici in Rom.“ Pacelli an Gasparri vom 23. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 33v. „La S. Sede può quindi ora senzʼaltro nominare ad Amministratore Apostolico del territorio della Delegazione di Berlino il sullodato Vescovo, il quale forse potrebbe conservare provvisoriamente il titolo ed il governo della diocesi di Meißen.“ Pacelli an Gasparri vom 23. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 33v. 30

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Die Ernennung Schreibers zum Apostolischen Administrator Gasparri war sich jedoch nicht sicher, ob er der Konsistorialkongregation neben der Anweisung, die nötigen Schritte für die Ernennung Schreibers zum Administrator von Berlin vorzunehmen, auch den Auftrag geben sollte, die Errichtungsbulle für die neue Diözese auszustellen.102 Pacelli vertrat die Meinung, dass prinzipiell nichts gegen die sofortige Bistumserrichtung spreche, nachdem das Konkordat nun abgeschlossen war.103 Es sei schließlich Brauch, dass der Heilige Stuhl nach Verabschiedung von Staatskirchenverträgen, die Änderungen der Zirkumskription beinhalteten, eine Bulle erlasse, um die neuen Grenzen festzulegen. Genauso habe man es nach dem Polenkonkordat mit der Konstitution Vixdum Poloniae unitas vom 28. Oktober 1925 gehandhabt.104 Allerdings habe es nach der Publikation des preußischen Konkordatstextes viele Anfragen an die Nuntiatur und den Kölner Erzbischof Schulte über die Veränderungen der Diözesangrenzen zwischen Köln-Münster, Köln-Paderborn und Köln-Aachen gegeben.105 Daher habe er Schulte beauftragt, die Angelegenheiten mit allen Beteiligten schnellstmöglich zu klären. Eine Bulle vor dieser Lösung anzufertigen, schien Pacelli weniger sinnvoll, weil sie dann eventuell direkt wieder modifiziert werden müsste. Deshalb plädierte er dafür, „zu warten bis alles für eine sichere und endgültige Ordnung bereit ist und in der Zwischenzeit für die Leitung des Gebiets der Berliner Delegatur mittels der vorgeschlagenen Ernennung eines Apostolischen Administrators zu sorgen“106. Es blieb also dabei: Schreiber wurde nicht direkt zum Berliner Diözesanbischof ernannt, weil die kanonische Bistumsgründung noch etwas warten musste. Keine zwei Wochen, nachdem Gasparri Carlo Perosi, dem Sekretär der Konsistorialkongregation, den Auftrag gegeben hatte, das Ernennungsdekret für Schreiber zu erstellen, übersandte Assessor Raffaello Rossi das fertige Dokument an die Berliner Nuntiatur.107 Es datiert auf den 10. September und nominierte Schreiber – wie vorgesehen – zum Apostolischen Administrator 102 103

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Vgl. Gasparri an Pacelli vom 26. August 1929, ASV, ANB 87, Fasz. 4, Fol. 120r. Vg. Pacelli an Gasparri vom 27. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 37r–38r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.4 Anm. 1117. Die genannten Diözesen waren von den größten Änderungen der Bistumsgrenzen betroffen. Vgl. Art. 2 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 323. „… di attendere che tutto sia pronto per una sistemazione sicura e definitiva, provvedendo intanto al governo del territorio della Delegazione di Berlino mediante la proposta nomina di un Amministratore Apostolico.“ Pacelli an Gasparri vom 27. August 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 37v. Vgl. Gasparri an Perosi vom 30. August 1929 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 39rv; Rossi an Pacelli vom 11. September 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 44r. Der Nuntius bedankte sich bei Rossi am 21. des Monats für die Übersendung des Dekrets (Entwurf), ebd., Fol. 46r. 31

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ad nutum Sanctae Sedis108 für das bisherige Delegaturgebiet mit allen Rechten, Privilegien und Vollmachten eines Residentialbischofs.109 Der Titel und die Verwaltung der Diözese Meißen blieb aber in seinen Händen, worauf ihn Pacelli noch einmal ausdrücklich hinwies, als er ihm das Dekret am 22. September aus Rorschach übersandte.110 Am nächsten Tag übermittelte er eine Abschrift auch an Bertram, dessen Verwaltungsbefugnis über den Delegaturbezirk damit endete.111 Wieder einen Tag später unterrichtete er den preußischen Ministerpräsidenten offiziell von der Ernennung, sodass nun alle maßgeblichen Beteiligten amtlich informiert waren.112 Die Öffentlichkeit las den Namen des künftigen Berliner Oberhirten bereits am 20. August in der „Berliner Morgenpost“, obwohl die staatliche Zustimmung zu diesem Zeitpunkt offiziell noch nicht gegeben war. Einem Artikel des Berliner Studienrates Felix Langer über die Erstbesetzung des Bistums Berlin, der durchaus im kirchlichen Sinne gehalten war,113 war ein redaktioneller Abschnitt beigegeben, der die baldige Bischofsernennung Schreibers ankündigte.114 In den übrigen 108 109

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Vgl. zum Administratoramt Bd. 1, Kap. II.1.4 Anm. 1046. Vgl. Berolinensis Administrationis Apostolicae Decretum vom 10. September 1929 (Abschrift), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 45r; abgedruckt in: Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin Nr. 1 vom 23. Oktober 1929. Vgl. Pacelli an Schreiber vom 22. September 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 49r. Vgl. Pacelli an Bertram vom 23. September 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 50r. Vgl. auch Höhle, Gründung, S. 207 Anm. 25. Vgl. Pacelli an Braun vom 24. September 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 51r. So hieß es darin beispielsweise: „Zwar haben nach der Reichsverfassung die Kirchen ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen, so daß die Kurie ohne Befragung des Staates das Bistum Berlin hätte errichten können, doch liegt in dem Abschluß des Konkordates und in dem Zugeständnis der Mitwirkung bei Besetzung der Bischofsstühle neben diplomatischer Klugheit auch ein gewisser Akt der Courtoisie für das umgestellte Staatswesen. Das dem früheren Landesherrn zugestandene Mitwirkungsrecht bei Bischofswahlen war allerdings stärker und wurde kirchlicher Bestimmung zuwider mitunter derart ausgeübt, daß eine wirkliche Bischofswahl eigentlich nicht stattfand, sondern nahezu eine königliche Ernennung, die nicht immer seelsorglichen und geistlichen Interessen entsprach. In eingeweihten Kreisen laufen über wilhelminische Bischofswahlen böse Worte herum.“ Langer, Felix, „Bistum Berlin. Erster Bischof: Dr. Schreiber, Bischof von Meißen“, in: „Berliner Morgenpost“ Nr. 198 vom 20. August 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 48r. Der Verfasser sandte dem Nuntius den Artikel einen Monat später zu, als die Personalentscheidung im Begriff war, allgemein publik zu werden. Vgl. Langer an Pacelli vom 21. September 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 47r. Wie der Kontakt zu Pacelli zustande kam, wird aus den vatikanischen Unterlagen nicht ersichtlich. Langer erwähnte in seiner Korrespondenz ein weiteres Schreiben, von dem unklar ist, ob es eventuell von Pacelli stammte. Denkbar, aber eher unwahrscheinlich wäre, dass der Nuntius den Artikel lancierte, um die Bistumsgründung in das für ihn rechte Licht zu stellen. Ob er freilich den Namen Schreibers dabei herausgegeben hätte, wo die staatliche Zustimmung zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht feststand, ist mehr als fraglich. Prinzipiell mochte es Pacelli nicht, wenn vor dem Abschluss von Vereinbarungen Informationen in die Öffentlichkeit sickerten. Wie die „Berliner Morgenpost“ also letztlich an den Namen Schreibers gelangte und ob womöglich die staatliche Seite dafür verantwortlich war, muss offen bleiben. 32

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Zeitungen erfolgte die Berichterstattung erst nach der amtlichen Nomination, so am 24. September in der „Germania“ oder am Folgetag in der „Schlesischen Volkszeitung“.115

Schreibers Amtsantritt als Administrator und seine Erhebung zum Diözesanbischof Nicht nur Gasparri bat den Berliner Nuntius um Rat, wie die Bistumsgründung näherhin umzusetzen war. Auch Schreiber suchte den Ratschlag des Nuntius, in dem er „einen wahren Freund“116 erblickte. In einem ehrerbietigen Brief, in dem er sich für seine Ernennung bedankte, seine Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl bekräftigte und die gefundene rechtliche Lösung als für Berlin und Meißen klug und weitblickend bewertete, fragte er, ob ihm als Administrator auch die Quinquennalfakultäten117 zur Verfügung stünden, die er für dringende Dispensen benötige, und wann er mit seiner definitiven Übersiedlung nach Berlin rechnen könne. Für die erste Frage besorgte sich Pacelli von der Konsistorialkongregation eine Liste mit den entsprechenden Vollmachten, die er Schreiber zur Verfügung stellte.118 Hinsichtlich der zweiten Frage vertröstete ihn der Nuntius mit den gleichen Hinweisen, die er auch Gasparri vorgelegt hatte: Erst müsse die Ausgestaltung der neuen Zirkumskription abgeschlossen sein, bevor die Ernennungsbulle zum ersten Bischof von Berlin promulgiert werden könne.119 Am 7. Oktober führte Schreiber seinen Antrittsbesuch in Berlin durch und übernahm damit die Amtsgeschäfte. Eine Woche später zeigte er dem preußischen Kultusministerium die rechtlichen Änderungen an: „Andurch beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, dass ich durch Dekret der h[eiligen] Konsistorial-Kongregation in Rom vom 10. September 1929 zum Apostolischen Administrator des bisherigen Delegaturbezirkes für Berlin, Brandenburg und Pommern mit allen Rechten, Privilegien und Vollmachten, die den Residential-Bischöfen zustehen, ernannt worden bin und am 7. d[es] M[onats] die Amtsgeschäfte übernommen habe. Durch dieses Dekret ist der bisherige Delegaturbezirk aus dem Verwaltungsbereich des Fürstbischofs von Breslau ausgeschieden.

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Vgl. „Der erste Bischof von Berlin. Bischof Dr. Christian Schreiber-Meißen zum Apostolischen Administrator ernannt“, in: „Germania“ Nr. 445 vom 24. September 1929 und „Der Bischof von Berlin. Bischof Dr. Schreiber als Administrator“, in: „Schlesische Volkszeitung“ vom 25. September 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 52r und 54r. Schreiber an Pacelli vom 28. September 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 57r–58r, hier 57v. Vgl. dazu Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 170f. Vgl. Pacelli an Rossi vom 2. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 60r; Rossi an Pacelli vom 7. Oktober 1929, ebd., Fol. 61r; Pacelli an Schreiber vom 12. Oktober 1929 (Entwurf), ebd., Fol. 62r; Pacelli an Rossi vom 12. Oktober 1929 (Entwurf), ebd., Fol. 63r; Schreiber an Pacelli vom 5. November 1929, ebd., Fol. 65r. Vgl. Pacelli an Schreiber vom 1. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 59rv. 33

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Als Bischof von Meißen behalte ich bis auf weiteres meinen Wohnsitz in Bautzen. Die kirchliche Verwaltungsbehörde in Berlin führt von jetzt an den Namen ‚Bischöfliches Ordinariat‘. Die bisherigen Delegaturräte sind bis auf weiteres mit der Fortführung der laufenden Geschäfte beauftragt in gleichem Umfange wie bisher.“120

Am nächsten Tag, dem Fest der heiligen Hedwig, publizierte Schreiber seinen ersten Hirtenbrief,121 zu dem Michael Höhle bemerkt: „Dieses Schreiben ist ein dankender Rückblick auf die vergangenen 100 Jahre: auf die Sorge Breslaus, auf den apostolischen Einsatz von Priestern und Laien, die Verdienste des Bonifatiusvereins und schließlich auf die gelungenen Bemühungen um die Bistumserrichtung.“122 Letztere fand ihren Abschluss erst fast ein Jahr später in der Apostolischen Konstitution Pastoralis officii nostri Pius XI.ʼ vom 13. August 1930, welche die neue Zirkumskription der preußischen Diözesen festschrieb.123 Berlin wurde als Suffraganbistum der Breslauer Kirchenprovinz eingegliedert. Am 29. August bekam Schreiber die Ernennungsurkunde zum ersten Bischof von Berlin von Nuntius Cesare Orsenigo, dem Nachfolger Pacellis, überreicht. Sie löste ihn von der Bindung an die Diözese Meißen und transferierte ihn auf den Berliner Bischofsstuhl.124 Zwei Tage später fand die feierliche Inthronisation in St. Hedwig statt.125 Während des Pontifikalamts verlas Prälat Cortain als rangältester Geistlicher des Bistums die Ernennungsbullen. Nach einer Ansprache des neuen-alten Oberhirten erfolgte die Huldigung durch den Klerus. Ähnlich wie bei seiner Einführung als Bischof von Meißen verzichtete Schreiber auf weltliche Feier-

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Schreiber an Becker vom 14. Oktober 1929 (Abschrift), ASV, ANB 49, Fasz. 1, Fol. 64r. Vgl. auch Höhle, Gründung, S. 207. Am 19. November stattete er dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, dem Reichskanzler Hermann Müller sowie dem preußischen Ministerpräsidenten Braun einen Antrittsbesuch ab. Vgl. Strehler, Schreiber, S. 70f. Hirtenbrief Schreibers vom 15. Oktober 1929, abgedruckt in: Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin Nr. 1 vom 23. Oktober 1929. Höhle, Gründung, S. 207. Vgl. Konstitution Pastoralis officii nostri vom 13. August 1930, in: AAS 23 (1931), S. 34–41; deutsche Übersetzung bei Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 339–345 (Nr. 188). Die Ernennungsbullen datieren wie die Apostolische Konstitution auf den 13. August. Vgl. AAS 22 (1930), S.  393; Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin Nr.  11 vom 13. September 1930. Im Amtsblatt wurde nicht nur die an Schreiber persönlich, sondern auch die an die Berliner Diözesanen gerichtete Ernennungsbulle publiziert. Beide sind auch abgedruckt bei Banasch, Delegaturbezirk, S.  107f. Gleichzeitig erhielt Schreiber das Ernennungsdekret zum Apostolischen Administrator ad nutum Sanctae Sedis für die Diözese Meißen und auf seine Bitte wenig später noch die üblichen Quinquennalfakultäten. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 30. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 34rv; Pacelli an Orsenigo vom 3. September 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 36r. Vgl. „Mitteilung betr. Inthronisation Sr. Bischöflichen Gnaden“, in: Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin Nr. 11 vom 13. September 1930. 34

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lichkeiten mit Rücksicht auf die Nöte der Zeit.126 Am 2.  September zeigte er seine Erhebung zum Diözesanbischof dem preußischen Kultusministerium an. Dass Schreiber noch für das folgende Jahr als Administrator der Oberhirte der Diözese Meißen blieb, ging auf die Initiative Pacellis zurück.127 Mittlerweile war dieser als Nachfolger Gasparris Kardinalstaatssekretär geworden. Die entscheidenden Schritte zur Errichtung des Bistums Berlin und zur Besetzung des bischöflichen Stuhls hatte er jedoch noch vor seiner Abberufung aus der Hauptstadt vollständig erledigt.

Ergebnis 1. Hinsichtlich des Profils des Berliner Diözesanbischofs hatte Pacelli eine klare Vorstellung. Er hielt die von Bertram herausgestellte, auf Innerlichkeit und Administration zielende Leitlinie zwar durchaus für „essentiell wichtig“, doch maß er ihr nicht den Status einer hinreichenden Bedingung zu.128 Der künftige Oberhirte sollte auch in der Lage sein, sich auf diplomatischem Parkett zu bewegen und die „Feinheiten der Umgangsformen“ zu beherrschen: Anders als der Breslauer Fürstbischof beurteilte er diese nicht nur als „sekundäre Dekoration“, sondern als bedeutenden Bestandteil, um die deutsche Kirche in der politischen Schaltzentrale Preußens und des Reichs zu vertreten. Ein weiteres, noch darüber gelagertes Kriterium, den „punto capitale“, sah Pacelli in der Frage der Priesterausbildung: Seiner Überzeugung nach musste der künftige Oberhirte unbedingt den Missstand abstellen, dass die Alumnen der Berliner Delegatur beziehungsweise des neuen Bistums ihre philosophisch-theologischen Studien an der seiner Meinung nach defizitären und häresieverdächtigen staatlichen Katholisch-Theologischen Fakultät Breslau absolvierten. Stattdessen müssten die Studenten zu den Jesuiten an die päpstliche Gregoriana oder nach St. Georgen entsandt werden, notfalls auch in die Priesterseminare von Trier oder Fulda. An diesen Orten sah Pacelli die römischen Anweisungen, wie sie der Erlass der Studienkongregation von 1921 an die deutschen Bischöfe formuliert hatte, am ehesten umgesetzt: den Unterricht der – wie Pacelli sagte – „gesunden“ Lehre, der scholastisch-spekulativ durchformten Philosophie und Theologie. Der neue Bischof hatte die Notwendigkeit einer solchen Prägung des jungen Klerus zu erkennen und 126 127

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Vgl. Strehler, Schreiber, S. 72. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.2 (Pacellis neuer Kandidat: die Ernennung Conrad Gröbers zum Bischof von Meißen). Für Pacelli war also nicht entscheidend – wie Adolf Strehler durchaus verständlicherweise anzunehmen schien –, dass Schreiber durch seine administrativen Erfahrungen, die er „beim Aufbau des neuen Meißener Bistums gesammelt hatte“, besonders qualifiziert war, um sie nun wiederum „für die Grundlegung eines Bistums, diesmal in der Reichshauptstadt, einzusetzen“. Strehler, Schreiber, S. 69. 35

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sich als Handlungsdirektive aufzuerlegen. Als Indikator, der die Hoffnung rechtfertigte, dass der in Aussicht genommene Geistliche diese Sicht teilte, galt dem Nuntius vorzugsweise das Faktum, dass jener selbst eine solche Ausbildung, zum Beispiel als Alumne des Germanicums, erhalten hatte (so Kaas und Schreiber) oder aber treu und anhänglich dem Heiligen Stuhl – und damit dessen Anweisungen – ergeben war (so bei Steinmann, Schreiber und Kaas). Notfalls hielt Pacelli dafür, „auf geheimen Wege Zusicherungen“ von den potentiellen Kandidaten einzuholen – diese sollten also im Vorhinein ein entsprechendes Regierungsprogramm gewissermaßen als Wahlkapitulation unterzeichnen. In das skizzierte Profil passte nach Ansicht des Nuntius zunächst und vor allem sein langjähriger Vertrauter Kaas. Als Ex-Alumne des Germanicums, als „ein Mann von hohen und außergewöhnlichen“ sowie überall anerkannten Qualitäten, insbesondere im Bereich der Kanonistik, gehorsam gegenüber den kirchlichen Autoritäten, erkannte er in ihm eine personifizierte Synthese aller Anforderungen eines Oberhirten der Reichshauptstadt. Man kann sich die Frage stellen, warum Pacelli nun auf einmal den Prälaten, den er seit bereits immerhin zehn Jahren kannte und schätzte, als Bischofskandidaten in Erwägung zog und nicht schon anlässlich früherer Sedisvakanzen. Die Antwort liegt auf der Hand: Bislang wollte Pacelli dessen kanonistische Beratung, insbesondere in den Konkordatsangelegenheiten, nicht missen. Nun stand das Preußenkonkordat kurz vor seinem Abschluss und Pacelli wusste, dass sich seine Zeit in Deutschland dem Ende zuneigte. Er benötigte daher die Dienste des Prälaten in der bisherigen Form nicht mehr und wollte womöglich die Zusammenarbeit unter geändertem Vorzeichen – nämlich vom Kurialen in Rom zum Bischof der Reichshauptstadt – fortsetzen.129 Auch der Ersatzkandidat für Kaas, Schreiber, entsprang nach Lage der Quellen Pacellis eigener Überlegung. Der ehemalige Germaniker fügte sich haargenau in sein veranschlagtes Profil, wobei allgemeine Attribute wie „tadelloses Leben“ sowie energisches, aktives und eifriges Wirken das Bild komplettierten. Wie Pacelli letztlich darauf kam, ihn nach Berlin zu berufen, beantworten die Quellen nicht. Wenn die Berufung von Kaas schon nicht möglich war, so suchte Pacelli offenbar nach einem bereits erfahrenen Oberhirten, der seinen Sinn für die Priestererziehung bereits unter Beweis gestellt hatte. Genau dies attestierte der Nuntius dem Meißener Bischof in seiner Abschlussbeurteilung der deutschen Kirche, die er wenige Wochen nach dessen interimistischer Einsetzung zum Berliner Administrator verfasste:

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Damit ist die Vermutung von Georg May über den Bischofskandidaten Kaas zumindest hinsichtlich der Besetzung des Bistums Berlin 1930 widerlegt: „Nichts spricht dafür, daß die Beteiligten, also in erster Linie Pacelli, Orsenigo und Papst Pius XI., Kaas als Kandidaten in Erwägung gezogen hätten.“ May, Kaas 3, S. 453–459, hier 459. May widerspricht den Darstellungen von Arthur Wynen, der von Kaas die Aussage berichtet, er habe mehrfach Bischofsstühle ausgeschlagen, und Karin Schauff, die eine Kandidatur des Prälaten für die Berliner Cathedra erwähnt. Vgl. Wynen, Kaas, S. 15; Schauff, Erinnerung, S. 19. 36

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„In der Leitung der Diözese Meißen, Diasporagebiet, hat er eine große Arbeitsamkeit entwickelt. Die Priesteramtskandidaten, die vorher in Prag ausgebildet wurden, erfüllen nun die ersten vier Jahre der philosophischen und theologischen Ausbildung in Fulda (einige auch in Innsbruck oder am Collegium Germanicum und Hungaricum in Rom) und die letzten zwei Jahre im Priesterseminar, das von Bischof Schreiber in Schmochtitz bei Bautzen errichtet wurde.“130

Darüber hinaus war Schreiber gerade für Berlin auch durch seine Erfahrungen in der Diaspora und an der Spitze eines ostdeutschen Bistums prädestiniert. Anzunehmen ist also, dass Pacelli ihn als adäquatesten Amtsanwärter ausmachte, als er kurz vor seiner Rückbeorderung aus Deutschland über den Episkopat Bilanz zog.131 Obwohl sich also sein ursprünglicher Plan, seinen engen Vertrauten Kaas an die Spitze der Berliner Hierarchie zu transferieren, nicht realisieren ließ, gelang Pacelli durch die Ernennung Schreibers ein seiner Auffassung nach erfolgreicher Abschluss des Besetzungsfalls. 2. Der Besetzungsmodus stand ganz im Zeichen des kurz vor dem Abschluss stehenden Preußenkonkordats und der damit verbundenen „Aufwertung“ der Berliner Delegatur zum Bistum. Dadurch bekam für Pacelli das Propst- und Delegatenamt eine völlig neue Bedeutung, insofern der Inhaber das Format des künftigen Diözesanbischofs besitzen musste. Zwar unterlag die Ernennung des Propstes von St. Hedwig rechtlich einer Konvention zwischen preußischer Staatsregierung und Breslauer Fürstbischof, der sogar die Bereitschaft signalisierte, die Personalentscheidung mit dem Heiligen Stuhl abzustimmen. Doch Pacelli wollte die Einsetzung des Propstes und damit des fürstbischöflichen Delegaten von Rom vornehmen lassen, Bertram die Verwaltungsbefugnis entziehen und dafür notfalls den Can. 1435 anwenden.

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„Nel governo della diocesi di Meißen, territorio di diaspora, egli ha spiegato grande operosità. I candidati al sacerdozio, i quali prima erano formati in Praga, ora compiono i primi quattro anni di studi filosofici e teologici in Fulda (alcuni anche in Innsbruck o nel Collegio Germanico-Ungarico in Roma) e gli ultimi due anni nel Seminario clericale (Priesterseminar) eretto da Mons. Schreiber in Schmochtitz presso Bautzen.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 45v. Hervorhebung im Original. Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 243. Aufschlussreich ist, dass Pacelli in seiner Finalrelation beim von Bertram als potentiellen Kandidaten für Berlin vorgeschlagenen Tützer Administrator Kaller in ähnlicher Weise lobend hervorhob, dass dieser viele seiner Alumnen zum Studium nach St. Georgen schicke. Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 49r-v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 254f. Dennoch kam Kaller für den Nuntius als Bischofskandidat der Reichshauptstadt nicht in Frage, obwohl er relativ sicher sein konnte, dass der Genannte als Oberhirte von Berlin diese Praxis beibehalten würde. Stattdessen urteilte Pacelli gegenüber Gasparri, dass Kaller dieser Aufgabe nicht gewachsen sei. 37

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Anders als Bertram trieb den Nuntius keine Eile in der Kandidatenwahl, denn wichtiger als eine schnelle Amtsbesetzung schien ihm „eine wahrhaft gute Wahl“. Während Bertram und Interimsdelegat Cortain die Dringlichkeit der Besetzung am geistlichen und administrativen Wohl der Delegatur festmachten, ordnete Pacelli diese unmittelbare pastorale Notwendigkeit einer seinem Ideal entsprechenden Personenwahl und dem Preußenkonkordat unter. Denn er sorgte sich darum, dass eine Besetzung kurz vor Konkordatsabschluss sich in letzter Sekunde noch negativ auf den Kontrakt auswirken konnte – insbesondere wenn ein in Rom geschulter Theologe erster Bischof der preußischen Hauptstadt werden sollte. Daher terminierte Pacelli die römische Ernennung Schreibers auf den Zeitpunkt unmittelbar nach Austausch der ratifizierten Urkunden. Andererseits war es auch nicht in seinem Interesse, dass der neue Oberhirte gemäß dem in diesem Augenblick an sich rechtlich gültigen Konkordatsmodus bestellt würde. Ein Aufschub der Besetzung bis zur kanonischen Errichtung des Bistums Berlin und der Einrichtung des Domkapitels, wodurch eine Kapitelswahl unumgänglich geworden wäre, kam für ihn nicht in Frage. Dies hätte die Besetzung nicht nur weiter wesentlich verzögert, sondern auch die gewünschte Einsetzung Schreibers gefährdet – wer konnte voraussagen, wie die Kapitelswahl ausging? Stattdessen plädierte Pacelli für eine „besondere Vereinbarung“ mit der preußischen Regierung: Diese sah eine römische Nomination Schreibers zum provisorischen Administrator ad nutum Sanctae Sedis des Berliner Delegaturbezirks mit allen Vollmachten eines Diözesanbischofs vor. Ein ordentlicher Diözesanbischof konnte erst nach der kanonischen Zirkumskription der Diözese bestellt werden. Durch dieses rechtliche Konstrukt sicherte Pacelli also sowohl einen ungefährdeten Konkordatsabschluss als auch – gewissermaßen durch ein erstes „Aussetzen“ des soeben geschlossenen Vertrags – eine ungefährdete, das heißt durch keine Kapitelswahl bedingte Einsetzung seines idealen Kandidaten. 3. Pacelli sprach der preußischen Staatsregierung bei der Nomination Schreibers zum provisorischen Administrator von Berlin das politische Bedenkenrecht zu, das faktisch identisch mit der Klausel war, die ihr das Preußenkonkordat zugestand. Zu weitergehenden Konzessionen an den Staat war der Nuntius nicht bereit. Nachvollziehbarerweise wünschte der Kultusminister eine möglichst getreue Umsetzung des im Konkordat vereinbarten Besetzungsmodus: Zwar sah er ein, dass eine Bischofswahl ohne Domkapitel nicht möglich war, doch zumindest das Listenverfahren sollte seiner Ansicht nach Anwendung finden. Nach einer Auseinandersetzung mit Professor Heyer, einer kurzen Bedenkzeit und einer Rücksprache mit Bertram blieb Pacelli hart und lehnte die Idee der „engstirnigen Bürokraten“, den preußischen Episkopat Kandidaten vorschlagen zu lassen, obwohl der electus bereits feststand, als „unwürdige Farce“ ab. Diplomatisch geschickt holte er zum Gegenschlag aus und erklärte, dass bei einer so weit als möglichen Umsetzung des Konkordatsmodus die Anfrage nach politischen Bedenken entfallen müsse: Das dafür zuständige Domkapitel existierte nämlich noch nicht. Diese Argumentation war von den Staatsbeamten 38

II.1.7 Berlin 1929/30

nicht zu widerlegen, die auf keinen Fall auf ihre einzige und zentrale Einflussoption bei der Besetzung der Bischofsstühle verzichten wollten und konnten. Sie hatten versäumt, sich im Konkordat für die Erstbesetzung der neuzuumschreibenden Diözesen Zusicherungen geben zu lassen. Somit setzte sich der Nuntius mit seinen Vorstellungen zum Modus genauso gegen die staatliche Seite durch wie mit seinem Kandidaten – ganz gleich, ob die Vorbehalte Beckers gegen Schreiber real oder nur strategisch waren. Hatte Pacelli im Hildesheimer Besetzungsfall wenige Monate zuvor noch aus verhandlungstaktischen Gründen auf die Einsetzung eines Germanikers verzichtet, so wiederholte er diese Rücksichtnahme an dieser Stelle nicht. Das lag gewiss daran, dass das Konkordat soeben erfolgreich ratifiziert worden war, demonstriert aber gleichzeitig, welche Bedeutung Pacelli der Besetzung des Berliner Bistums zumaß. Nach diesen wesentlichen Erfolgen zeigte er sich dann wieder nachgiebig, indem er versprach, sich bei der Besetzung des ebenfalls neuen Bistums Aachen für die Umsetzung des 6. Konkordatsartikels einzusetzen. Dies war jedoch zunächst einmal ein Versprechen auf Zukunft. Auf diese Weise wollte der geschulte Diplomat den Fall offensichtlich in einem versöhnlichen Klima zum Abschluss bringen, ohne substantielle Konzessionen zu machen. 4. Nicht weniger als an vier Stellen des Falls tauchen anonyme Informanten Pacellis auf, was deutlich zeigt, welch begrenztes Bild die vatikanischen Quellen vom skizzierten Fall zeichnen.132 Die Identitäten dieser Anonymitäten lassen sich wohl nicht vorbehaltlos aufdecken, zumal man nicht einmal klären kann, ob es sich jeweils um verschiedene Informationsquellen oder vielleicht sogar jeweils um dieselbe handelte. Sicherlich muss man davon ausgehen, dass einer dieser Informanten Kaas war, der nicht nur ex professo als kanonistischer Berater des Nuntius am Besetzungsfall interessiert sein musste – immerhin hatte dieser erhebliche konkordatäre Relevanz –, sondern darüber hinaus eo ipso als Bischofskandidat beteiligt war. Daher wird man nicht fehlgehen in der Annahme, dass Pacelli sowohl Modus als auch Kandidatenfrage mit dem Prälaten erörterte. Darüber hinaus gilt die Überlegung, dass das Fehlen von schriftlichen Zeugnissen innerhalb des sehr vollständigen Nuntiaturarchivs es zumindest wahrscheinlich macht, dass Pacelli die anonymen Personen mündlich und das heißt (wenn nicht telefonisch) vor Ort befragte. Daher kommen vor allem Berliner Geistliche in Betracht, wo sicher an den Jesuitenpater Franz Rauterkus zu denken ist, der als Superior und Kurat von St. Clemens seit vielen Jahren in der Hauptstadt weilte. Pacelli betrachtete ihn als absolut vertrauenswürdig und suchte bei ihm häufiger Rat, wenn es um ostdeutsche Besetzungen ging.133 Von daher wäre es

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Eingeschlossen ist der anonym schreibende Katholik, der den Geistlichen Rat Beyer als Kandidaten für das Amt ins Spiel brachte, jedoch bei Pacelli auf taube Ohren stieß. Vermutlich war er bereits bei der Tützer Besetzung 1925/​26 involviert gewesen. Pacelli befragte ihn außerdem bei der Besetzung der Schneidemühler Prälatur 1930/​31. 39

II.1.7 Berlin 1929/30

zumindest nicht überraschend, wenn der Nuntius den Berlinkenner Rauterkus auch im Berliner Besetzungsfall konsultiert und etwa über Schreiber und die aufgeworfene Problematik der Priesterausbildung befragt hätte.134 Sieht man von Kaas ab, so war Bertram der einzige, mit dem sich Pacelli hinsichtlich des Besetzungsmodus nachweislich auseinandersetzte. Michael Höhle vermutete, dass Bertram erst in die Ernennung des Administrators mit einbezogen wurde, als mit Schreiber der Kandidat feststand und der Streit um das staatliche Plazet entbrannte.135 Diese Vermutung ist teils richtig, teils falsch: richtig, insofern Pacelli sich erst zu dem angesprochenen Zeitpunkt an den Breslauer Kardinal wandte, und falsch, insofern dieser zuvor schon mehrfach beim Nuntius in dieser Angelegenheit brieflich und mündlich (nämlich anlässlich der Exequien Deitmers) vorstellig geworden war. Hatte ihn der Nuntius zuvor zwar nicht befragt, so kam er mit ihm zumindest in der grundlegenden Perspektive überein, dass die Besetzung der Propstei und der Delegatur bereits auf die künftige Bistumserhebung gemünzt sein musste. Alle anderen Vorstellungen Bertrams lehnte Pacelli in seiner Berichterstattung gegenüber Gasparri ab: die (mit Rom abgestimmte) Bestellung des Delegaten und damit künftigen Oberhirten durch den Fürstbischof, den Rat einer zügigen Wiederbesetzung des vakanten Amtes, die Relativierung der repräsentativen Fähigkeiten des Kandidaten und nicht zuletzt die drei Kandidatenvorschläge, woran auch Pacellis differenziertere Sicht auf Steinmann nichts änderte. Hatte Bertram in Meißen 1921, wo er Schreiber für den neu errichteten Bischofsstuhl vorgeschlagen hatte, noch Einfluss auf die Personalentscheidung gehabt, war dies jetzt wie schon in Hildesheim 1928/29 anders. Nach Lage der Quellen trat Pacelli von seiner Seite aus mit Bertram erst in Kontakt, als er dazu die Anweisung aus Rom erhielt. Als das preußische Kultusministerium die Kandidatenlisten einforderte, besprach sich Pacelli ebenfalls mit Bertram, konnte sich allerdings in diesem Fall dessen Zustimmung sicher sein. Überblickt man die Meinungsverschiedenheiten, wie auch die Tatsache, dass Pacelli nicht auf Bertrams Eingaben reagierte, so lässt sich der Eindruck nicht leugnen, dass der Nuntius den Breslauer Kardinal bewusst so weit als möglich aus dem Entscheidungsprozess heraushielt. Das gespannte Verhältnis zwischen den beiden Kirchenfürsten, das sich im Laufe der 1920er Jahre entwickelt hatte, wird hier offenkundig.136 Zu konstatieren ist schließlich, dass Pacelli sich aktiv keine Kandidatenvorschläge einholte, sondern lediglich Beurteilungen über von ihm vorgegebene Geistliche einforderte. Obwohl er Kaas sehr gut kannte, ließ er sich von dessen Diözesanbischof Bornewasser ein Gutachten an134

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Zumal sich der Jesuitenpater im Kontext der causa Schneidemühl wiederum über Interna des hiesigen Berliner Falls informiert zeigte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.10 (Pacellis Kandidatenerkundigungen und die Kandidatur Paul Webers). Vgl. Höhle, Gründung, S. 205 Anm. 18. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 (Die Wiederaufnahme der Konkordatsverhandlungen 1926 und Pacellis Dilemma beim Besetzungsmodus der Bischofsstühle). 40

II.1.7 Berlin 1929/30

fertigen. Nach dem Gesagten ist es wenig überraschend, dass Pacelli diese Ordinarius-Diözesanpriester-Beziehung bei dem von Bertram proponierten Steinmann nicht genügte. Zwar hatte der Fürstbischof dem Nuntius keine längere Beurteilung des Genannten geliefert, sodass es nachvollziehbar erscheint, wenn Pacelli noch ein genaueres Votum wünschte. Darum hätte er Bertram jedoch nachträglich noch bitten können. Stattdessen befragte er Schreiber über den Breslauer Domkapitular und zwar aus dem einfachen Grund, dass der Meißener Oberhirte letzteren „seit Jahren“ kannte. Wenngleich der Nuntius seinem positiven Eignungsurteil über Steinmann letztlich nicht folgte, erscheint Schreiber damit als Vertrauensperson noch bevor Pacelli ihn selbst als Amtsanwärter deklarierte. Nachdem im Anschluss an Schreibers Gutachten noch eine Zweifelsfrage über die Umgänglichkeit Steinmanns verblieben war, wandte sich Pacelli an seinen langjährigen Privatsekretär Gehrmann. Als „Ostexperte“ und aufgrund persönlicher Bekanntschaft war er in der Lage, sich zur angesprochenen Frage zu äußern.137 Eine schriftliche Anfrage Pacellis an den Steyler Missionar ist nicht überliefert – es ist davon auszugehen, dass der Nuntius sein Ansinnen mündlich überbrachte. Ohne die schriftliche Antwort Gehrmanns wäre dieser Informationsaustausch daher gar nicht zu fassen gewesen. Möglich ist daher auch, dass der Steyler einer der eingangs angesprochenen anonymen Quellen war. 5. Die römische Politik im Berliner Besetzungsfall war einzig und allein die Politik Pacellis. Er bestimmte den Modus, den Zeitplan, die Kandidaten, traf alle relevanten Entscheidungen und erhielt von Gasparri für alles einen Freifahrtschein. Nicht etwa der Nuntius holte sich Rat und Order beim Kardinalstaatssekretär, sondern umgekehrt letzterer holte sich diese bei ersterem, was die Frage zur Promulgation der neuen Zirkumskriptionsbulle augenfällig zeigt. Dabei war die Weise der Berichterstattung von Pacelli wohl überlegt: So bestand sein erster Bericht vom 16. März – knapp zwei Monate nach dem Tod Deitmers – letztlich in einem Referat abgeschlossener Überlegungen, der den weiteren Kurs des Handelns des Heiligen Stuhls klar absteckte. Darin gab Pacelli auch Bertrams Eingabe wieder, freilich nur, um sie in allen wesentlichen Punkten direkt zu destruieren. Bertrams Kandidaten, die er als untauglich ausgewiesen hatte, stellte Pacelli dann in geschickter Argumentation seinen eigenen Favoriten Kaas gegenüber. Dabei überließ er seinem Vorgesetzten gewissermaßen den „Schein“ einer Personalwahl, insofern er Steinmann zwar sehr mäßig, aber immerhin als tauglich deklarierte: Das heißt, dieser war formaliter wählbar, aber realiter gab es bessere Kandidaten – nämlich insbesondere Kaas. Daher ist es auch bemerkenswert, dass Pacelli das positiv über Steinmann urteilende Votum Gehrmanns nicht erwähnte, geschweige denn nach Rom übermittelte. Ebenso verzichtete Pacelli darauf, die „neuen“ Erkenntnisse über Schreibers Priesterausbildungspraxis mitzuteilen. Allerdings muss davon ausgegangen 137

Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.4 (Ergebnis Nr. 4). 41

II.1.8 Limburg 1929/30 II.1.8 Limburg 1929/30

werden, dass er es getan hätte, wenn er keine weiteren, die früheren Angaben relativierenden Informationen erhalten hätte – immerhin hatte er den Nuntiaturbericht zu diesem Zeitpunkt bereits verfasst. Dessen Inhalt war jedoch dann überflüssig geworden und daher für das Staatssekretariat in Pacellis Augen nicht relevant. Die einzige römische „Weisung“ im Wortsinn erhielt Pacelli, als Bertram – gewiss verärgert darüber, von Pacelli weithin ignoriert worden zu sein – sich auf direktem Weg an Pius XI. wandte. In diesem Augenblick war die zielgerichtete Berichterstattung Pacellis nicht mehr die exklusive Informationsquelle der Kurie. Prompt machte sich der Papst die Warnung, die vakante Delegatenstelle noch länger unbesetzt zu lassen, zu eigen und gab über Gasparri den Auftrag, eine kurzfristige Lösung zu suchen sowie sich mit Bertram darüber zu verständigen. Diese erste Vorgabe erfüllte Pacelli, die zweite führte er offenbar nur teilweise aus, denn ohne mit dem Breslauer Oberhirten zu sprechen erwählte er Schreiber als Kandidaten. Erst nachdem er die römische Zustimmung in den Händen hielt, teilte er ihm die Personenwahl mit. Auch den Übergangsmodus des provisorischen Administrators für Berlin überlegte sich der Nuntius ohne vorhergehende Rücksprache mit Bertram. Damit blieb Pacelli die allein maßgebliche Instanz, die den Verlauf des Besetzungsfalls bestimmte.

II.1.8 Ein Bischof im Sinne St. Georgens: Limburg 1929/30 (Antonius Hilfrich)138 Ein Weihbischof für Augustinus Kilian? Nur wenige Wochen nach Abschluss des Preußenkonkordats vom 14. Juni 1929, das die Diözese Limburg aus der Oberrheinischen Kirchenprovinz herauslöste und dem Kölner Metropolitanverband inkorporierte, bahnte sich für den Sprengel eine weitere Veränderung an.139 Im Herbst 1929

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Limburg 1929/​30 nur die knappen Hinweise bei Gatz, Besetzung, S. 213; Kampe u. a. (Hg.), Weg, S. 23; Pappert, Hilfrich, S. 352f.; Schatz, Limburg, S. 224f.; Speckner, Wächter, S. 173. Vgl. Art. 2, Nr. 5 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 323. Vgl. auch den Vollzug in der Nr. II der Apostolischen Konstitution Pastoralis officii nostri vom 13. August 1930, ebd., S. 340. Das 1821 in der Bulle Provida solersque umschriebene und 1827 aufgerichtete Bistum Limburg gehörte politisch ursprünglich zum Herzogtum Nassau und zur Freien Stadt Frankfurt. 1866 fiel das Gebiet an Preußen. Vgl. zur Geschichte des Bistums Burkard/​Leuninger/​Schatz, Bistum Limburg; Schatz, Limburg. 42

II.1.8 Limburg 1929/30

war Augustinus Kilian 16 Jahre Diözesanbischof von Limburg. Dem 74-jährigen schwanden zunehmend die Kräfte, um den bischöflichen Verpflichtungen gewachsen zu sein.140 Seit gut einem Jahr litt er unter einer Herzschwäche, zu der sich im Frühjahr 1929 noch eine Lungenentzündung gesellt hatte. Zwar war er nach eigenen Angaben geistig noch völlig klar, konnte aber aufgrund seiner körperlichen Labilität weder die Firmung noch das Weihesakrament spenden, geschweige denn Kirchen und Altäre benedizieren. Für diese dem Bischof ureigensten Aufgaben fand er Hilfe bei benachbarten Episkopen, die diese Obliegenheiten ersatzweise übernahmen. Dass darin keine dauerhafte Lösung bestehen konnte, war Kilian klar. Daher richtete er am 25. September ein Gesuch an Papst Pius XI., in dem er um Unterstützung bei der Verwaltung seines Bistums bat. Der Pontifex möge prinzipiell – so Kilian – einen modus vivendi anordnen, wie es ihm am sinnvollsten erscheine.141 Falls die päpstliche Regelung seine Emeritierung zur Folge haben sollte, so wünsche er sich lediglich eine genügende Pension, um ein der bischöflichen Würde angemessenes Leben führen zu können. Freilich hatte sich der Oberhirte schon eine eigene Lösung des Problems zurechtgelegt: Opportun sei, dass einer der jüngeren Kanoniker seines Domkapitels zum Weihbischof erhoben werde und somit die Pontifikalhandlungen übernehmen könne, zu denen er selbst nicht mehr in der Lage sei.142 Zwei Vorteile ergäben sich aus dieser Regelung: Zunächst könnte der Domherr in seiner Wohnung bleiben und es müsste keine neue, adäquate Unterkunft gefunden werden, was im Augenblick schwierig sei. Zum anderen behielte der Genannte den Grundstock seines Gehalts. Das Verdienst eines Weihbischofs übersteige das eines Domherrn nach den neuen Konkordatsbestimmungen jährlich lediglich um 3.000 Reichsmark.143 Angesichts der im Konkordat vereinbarten Möglichkeit, dass allen Diözesen Weihbischöfe zugewiesen werden konnten, glaubte Kilian,

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Vgl. Kilian an Pius XI. vom 25. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 7r–9r (nur r). Vgl.: „Quare conscientiae meae esse duco, Sanctitatem Vestram rogare, ut necessitatibus dioecesis meae provideat, eo modo, quem meliorem esse duxerit …“ Kilian an Pius XI. vom 25. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 7r. Einen Weihbischof gab es zu dieser Zeit in Limburg nicht. Auch der Art. 2, Nr. 10 des Preußenkonkordats sah lediglich vor, dass für die (Erz-) Diözesen Köln, Breslau, Paderborn, Trier, Münster und Aachen ein Weihbischof bestellt werden sollte. Freilich bestimmte er auch die Möglichkeit, dass den genannten und ebenfalls den übrigen preußischen Bistümern weitere Weihbischöfe zugeteilt würden. Vgl. Huber/​ Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 324. Den ersten Weihbischof für Limburg ernannte Pius XII. allerdings erst 1952 in der Person Walther Kampes. Vgl. Schatz, Limburg, S. 315. Vgl. die Dotation, ihre Verteilung auf die Diözesen und die Gehälter des höheren Klerus in der „Regierungsbegründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag des Freistaates Preußen mit dem Heiligen Stuhle“ vom 28. Juni 1929, in: Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 328–336 (Nr. 184), hier 336. Vgl. auch Aschoff, Staatsleistungen, S. 178f., 184. 43

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dass der preußische Staat die Zahlung dieser Differenzsumme übernehmen würde. Andernfalls sei er bereit, den Betrag selbst zu zahlen. Die jüngeren Kanoniker, die für das neue Amt nach Ansicht Kilians in Frage kamen, waren Hendrik Fendel (51 Jahre) und Berthold Merkel (41 Jahre). Die Designierten, deren Lebensstationen Kilian seit der Priesterweihe tabellarisch auflistete, hatten lange Zeit in der Seelsorge gewirkt.144 Angaben wie Studienorte oder Charaktereigenschaften machte er nicht. Beide Kandidaten waren ihm gleichermaßen genehm. Schließlich gab Kilian zu, dass er auch andere Kandidaten anerkennen würde, wenn der Heilige Stuhl sie wünsche, und sogar auch ein gänzlich anderes Prozedere zur Lösung der prekären Situation akzeptieren wolle.145 Er konnte sich also durchaus vorstellen, dass Rom seiner Bitte um einen Weihbischof für seine verhältnismäßig kleine Diözese nicht zwingend entsprechen würde.

Pacellis Lösung: ein Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge Dieses offene Eingeständnis, seine oberhirtlichen Aufgaben nicht mehr allein bewältigen zu können, sandte Kilian durch Vermittlung der Berliner Nuntiatur nach Rom. Oder vielmehr war dies seine Absicht gewesen, denn faktisch vermittelte der scheidende Berliner Nuntius Pacelli, der sich momentan im Schweizerischen Rorschach aufhielt, das Dokument zunächst nicht an die Kurie weiter. Er hatte andere Pläne, wie die Unterstützung Bischof Kilians aussehen sollte. Weil Kilian selbst geschrieben hatte, dass der Papst für die Notwendigkeiten der Diözese sorgen möge, wie es ihm am besten schien, fühlte sich Pacelli berechtigt,

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Vgl.: „1. Henricus Fendel, natus die 17. februarii 1878 Laureaci in diocesi Limburgensi, sacerdotio initiatus die 21. novembris 1901, qui sequentia officia successive explevit: a. vicarii cooperatis in paroecia oppidi Limburgi a die 1. decembris 1901, b. vicarii capituli ecclesiae cathedralis Limburgensis a die 19. junii 1905 ad diem 30. septembris 1914, c. cancellarii episcopalis a die 10. decembris 1909 ad diem 30. septembris 1914, d. parochi oppidi Bad Homburg v. d. H. a die 1. octobris 1914 ad diem 31. octobris 1916, e. canonici ecclesiae cathedralis et oppidi Limburgi parochi, necnon consiliarii Episcopi a die 16. novembris 1916, quod munu adhuc retinet. 2. Bertholdus Merkel, natus die 31. maii 1888 Aquis Mattiacis, sacerdotio initiatus die 22. februarii 1912, qui sequentia officia successive explevit: a. vicarii cooperatis in Flörsheim a die 1. martii 1912, b. vicarii cooperatoris Altae Villae a die 16. augusti 1913, c. vicarii cooperatoris ad ecclesiam principalem in urbe Francofurto a die 16. aprilis 1917, d. rectoris ecclesiae hospitalis maioris publici Francofurtensis a die 1. octobris 1919, e. parochi ad S. Mariam in Biebrich a die 1. martii 1926, f. canonici ecclesiae cathedralis et consiliarii Episcopi a die 1. septembris 1928, quod munus adhuc retinet.“ Kilian an Pius XI. vom 25. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 8r–9r. Hervorhebungen im Original. Vgl.: „Sanctitas Vestra vero eligat, quem maluerit ex his vel etiam alium, vel alio modo, quo maluerit, necessitatibus dioecesis provideat …“ Kilian an Pius XI. vom 25. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 9r. 44

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„zu erwägen, ob es im Hinblick auf die Lage der dortigen Lehranstalt und um etwaigen Schwierigkeiten für die Zukunft vorzubeugen, zweckmäßiger wäre, Seiner Heiligkeit die Ernennung eines Koadjutors mit dem Recht der Nachfolge gemäß Artikel 7146 des Preußischen Konkordates vorzuschlagen“147.

Also keine Bestellung eines Weihbischofs, was nicht mehr als eine provisorische Lösung gewesen wäre, sondern eine definitive Regelung, indem man bereits den künftigen Diözesanbischof als Koadjutor installierte. Ziel dieses Unterfangens sollte es sein, etwaige künftige „Schwierigkeiten“ für die Limburger Priesterausbildungsstätte, die Philosophisch-Theologische Hochschule St. Georgen, zu vermeiden. Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass diese Jesuitenanstalt, die 1926 ihren Betrieb aufgenommen hatte, ein ureigenstes Anliegen Pacellis war: eine Institution zu schaffen, die von der Gesellschaft Jesu, dem papst- und romtreuen Orden par excellence, geführt, die „gesunde“ scholastische Philosophie und Theologie lehrte. Sie sollte für Pacelli eine Oase innerhalb der deutschen Landschaft von staatlichen Universitäten mit ihren Katholisch-Theologischen Fakultäten sein, die weithin vor allem positive Theologie mit historischem Schwerpunkt lehrten und der spekulativ-scholastischen Durchdringung des depositum fidei seiner Ansicht nach viel zu wenig Bedeutung beimaßen. Als Nuntius hatte er die Einrichtung der Hochschule nach Kräften gefördert, weil er in ihr den Rückhalt für die deutsche Priesterausbildung sah. Deshalb war sein Interesse an ihrer Entwicklung dementsprechend groß.148 Welche „Schwierigkeiten“ befürchtete Pacelli „für die Zukunft“ von St. Georgen? Gemäß dem genannten Artikel 7 des Preußenkonkordats konnte der Heilige Stuhl einen Koadjutor ernennen – nur eingeschränkt durch die politische Klausel –, ohne dass das Domkapitel dabei zu hören war oder gar ein Wörtchen mitzureden hatte. Rom konnte also durch die Einsetzung eines Koadjutors cum iure successionis viel sicherer einen bestimmten Kandidaten  – und das bedeutete eine Person, welche die systematisch-scholastische Ausrichtung von St. Georgen zu fördern bereit war – auf den bischöflichen Stuhl von Limburg bringen, als es im Falle einer „ordentlichen“ Bistumsbesetzung durch Kapitelswahl nach Artikel 6 des Preußenkonkordats möglich war.

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Vgl.: „Zum Praelatus nullius und zum Koadjutor eines Diözesanbischofs mit dem Rechte der Nachfolge wird der Heilige Stuhl niemand ernennen, ohne vorher durch Anfrage bei der Preußischen Staatsregierung festgestellt zu haben, daß Bedenken politischer Art gegen den Kandidaten nicht bestehen.“ Huber/​ Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Hervorhebung im Original. Pacelli an Klein vom 5. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 6r. Vgl. zur Jesuitenhochschule St. Georgen Schatz, Limburg, S. 236–244; Ders., Gründungsgeschichte. Die Rolle Pacellis bei der Genese und seine Haltung zur Lehranstalt beleuchtet etwa Unterburger, Lehramt, S. 354–362. 45

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Kandidatensondierungen in St. Georgen Folgerichtig legte der Nuntius seinen Plan – zusammen mit Kilians Supplik an den Papst – am 5.  Oktober dem Rektor der Hochschule St. Georgen, Pater Wilhelm Klein SJ, zur Beurteilung vor.149 Er bat ihn ebenfalls, die Eignung der vom Limburger Bischof vorgeschlagenen Kandidaten Fendel und Merkel für das Amt des Weihbischofs einzuschätzen. Da Kilian nicht nur von der Möglichkeit einer anderen Regelung, sondern auch von ganz anderen Kandidaten gesprochen hatte, fühlte sich Pacelli auch hier wieder befugt, Rektor Klein um Mitteilung zu bitten, „ob in der Diözese Limburg andere Geistliche sind, die den Vorgeschlagenen vorzuziehen wären“150. Außerdem erlaubte er ihm, die Anfrage, die unter dem secretum Sancti Officii stehe, mit Pater Ludwig Kösters SJ zu diskutieren – Kösters war der unmittelbare Amtsvorgänger Kleins und von 1926 bis 1929 erster Rektor der Jesuitenhochschule gewesen. Schon wenige Tage später meldete sich Klein zurück und referierte das Ergebnis seiner Unterredung mit Kösters.151 Die Jesuiten beurteilten Fendel und Merkel wie von Pacelli gewünscht streng ausgerichtet auf ihr Verhältnis zur Hochschule. Der Erstgenannte sei für das von Kilian vorgeschlagene Amt des Weihbischofs durchaus geeignet. Zwar gelte er nicht als „übermäßig bedeutend“152, sei aber angesehen und durch seine bisherigen seelsorglichen Ämter für die Aufgabe disponiert. „Uns [sc. den Jesuiten, R.H.] und unserer Anstalt gegenüber ist er wohlwollend, wenn auch innerlich nicht so nahestehend wie unten noch zu nennende Kandidaten. Er ist konziliant in seinem Wesen, vielleicht auch bei Gelegenheit zu unserm Nachteil. Als Bischof käme er wohl nicht in Betracht, wie auch nicht der an zweiter Stelle genannte Kandidat, H[err] H[ochwürden] Merkel.“153

Letzterer sei ihnen kaum bekannt und man müsse abwarten, welchen Einflüssen er sich einmal öffnen werde. Genau wie der Nuntius hielten die beiden Jesuiten die Variante, einen Koadjutor zu installieren, für die weitaus bessere Lösung als die Option, einen Weihbischof zur Aushilfe einzusetzen. Für den Posten des künftigen Diözesanbischofs hatten sie vier Geistliche im Auge: den Wiesbadener Pfarrer, Antonius Hilfrich, den Subregens des Limburger Priesterseminars, Wilhelm Pappert, den Frankfurter Pfarrer, Prälat Jakob Herr, und den Dekan in Höchst (Frankfurt), Friedrich Wolf. Über alle vier fertigte Klein nicht nur eine kurze Vita an, die auch die Studienorte berücksichtigte, sondern skizzierte ebenfalls pointiert die spezifischen Qualitäten, was Kilian 149 150 151 152 153

Vgl. Pacelli an Klein vom 5. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 6r. Pacelli an Klein vom 5. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 6r. Vgl. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 7r–9r. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 7r. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 7r. 46

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beides nicht getan hatte. Pacelli hingegen war dies so wichtig gewesen, dass er die „genaue[r] Angabe ihrer Personalien und Eigenschaften“154 von Klein im Vorhinein ausdrücklich verlangt hatte. 1) Hilfrich (56-jährig), promoviert in Philosophie und Theologie, sei ehemaliger Germaniker und 1898 zum Priester geweiht worden. Nach zwei Kaplansstellen in Weilburg und Frankfurt sei er 1902 Regens und 1911 Rektor des bischöflichen Konvikts in Hadamar geworden, bevor er schließlich 1914 das Pfarramt in Wiesbaden übernommen habe. 1920 sei er außerdem zum Synodalrichter berufen worden. Das Urteil der Jesuiten über ihn war durchwachsen: „Streng kirchlich gesinnt. Sankt Georgen aufrichtig gewogen. Er scheint aber bei seinen Confratres nicht sehr beliebt zu sein. Man nennt ihn Theoretiker. Auch glaubt man, dass er einseitig die Seelsorge bei den Gebildeten bevorzugt. Trotz des Wohlwollens für St. Georgen wird er möglicherweise versucht sein, in die inneren Angelegenheiten, Studienordnung usw. sich einzumischen.“155

2) Pappert (39-jährig), in den gleichen Fächern promoviert, ebenfalls im römischen Germanicum ausgebildet und im Jahr 1915 zum Priester ordiniert, sei daraufhin Kaplan in Schlossborn, Marienhausen und Frankfurt gewesen. Danach habe er das Amt des Subregens am Limburger Priesterseminar bekleidet, 1922 dort außerdem eine Professur erhalten. Pappert war der eindeutige Favorit der beiden Gutachter: „Ihn bezeichnet P. Kösters, der wichtige Verhandlungen in Fragen unserer Anstalt mit ihm als Vertreter des Bischofs zu führen hatte … als für unser Kolleg ohne allen Zweifel besten Kandidaten. Er ist ein warmer und aufrichtiger Freund von St. Georgen, der auch die Selbständigkeit nicht antasten wird. Ich selbst kenne ihn persönlich sehr gut aus den Jahren im Germanicum, wo er in seinem Priesterjahr die höchste Vertrauensstelle hatte, die dort Alumnen gegeben wird.“156

Die damals vorhandenen ausgezeichneten Eigenschaften habe er seit dieser Zeit weiterentwickelt: „Klugheit, solide theologische Bildung, treukirchliche Gesinnung, Seeleneifer, Einfachheit.“157 Doch auch auf der Contraseite standen vier Punkte: Pappert sei etwas übereifrig und müsse mehr Milde und Diskretion üben. Freilich sei ihm – so Klein – dieser Fehler im Gegensatz zu Kösters nicht aufgefallen. Möglicherweise sei der Genannte zu jung, aber – so beeilte sich Klein zu ergänzen – auch der von Kilian genannte Merkel sei mit seinen 41 Jahren nicht wesentlich älter. Negativ sei weiterhin seine geringe Stellung zu verbuchen, aufgrund der man in der Öffentlichkeit nicht

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Pacelli an Klein vom 5. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 6r. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 8r. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 8r. Bei der genannten „Vertrauensstelle“ handelte es sich wohl um die Präfektur der Philosophenkammer, der auch der Meißener beziehungsweise Berliner Bischof Schreiber vorgestanden hatte. Vgl. Strehler, Schreiber, S. 15. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 8r. 47

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an seine Kandidatur denken würde, sodass seine Ernennung „verstimmen“158 könnte. Schließlich stellte Klein die offene Besoldungsfrage, die allerdings nicht nur beim Subregens, sondern bei allen vier Vorschlägen beantwortet werden müsse. Eine Lösung könne darin bestehen, dass Pappert das Gehalt und die Wohnung der vakanten Regensstelle erhalte. Schlussendlich hielt Klein die aufgezählten Einwände nicht für entscheidend. 3) Herr (62-jährig), mit den gleichen akademischen Titeln wie die vorigen ausgestattet, wiederum Germaniker, hatte eine längere Laufbahn hinter sich, wie Klein skizzierte: 1892 Priesterweihe, darauffolgende Kaplanszeiten in Montabaur und Wiesbaden, 1901 schließlich Pfarrer in Schlangenbad, 1906 Regens und Professor am Limburger Seminar, außerdem Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine. In Kriegszeiten sei er als Stadtpfarrer und bischöflicher Kommissar nach Frankfurt gekommen, später mit einem Ehrenkanonikat und dem Prälatentitel ausgezeichnet worden. Das Urteil lautete knapp: „Er hat die angesehenste Stelle in Frankfurt a[m] M[ain]. Sehr eifrig. Sehr kirchlich gesinnt. Der Gesellschaft Jesu und St. Georgen aufrichtig gewogen. Einfach und anspruchslos. Beim Klerus leider, wie es scheint, im Allgemeinen sehr unbeliebt wegen etwas schroffen, unfeinen Wesens.“159 4) Wolf (45-jährig) habe nach dem Empfang des Weihesakraments  – so die Darstellung des Jesuiten weiter – seine Kaplanszeit in Hofheim, Rüdesheim und Frankfurt absolviert. Nach einem Jahr als Subregens (1913) habe er den gesamten Krieg über als Feldgeistlicher gewirkt, anschließend sei er als Pfarrverweser in Eppstein und Kransberg tätig gewesen. Seit 1923 sei er Stadtpfarrer und seit 1925 Dekan in Höchst. Was ihm nach Ansicht Kleins fehlte, war die profunde wissenschaftliche Ausbildung. Angesichts des Faktums, dass Wolf nicht in Rom, sondern in deutschen Lehranstalten studiert hatte, überrascht nicht, dass der Jesuit bei ihm auf die Nennung seines Studienortes verzichtete. Jedoch werde er – so Klein weiter – gemeinhin als episkopabel gehandelt, sei guten Willens, im Bereich der Praxis allseitig geachtet und unter dem Klerus beliebt. Selbst kurzzeitig Mitglied der Societas Iesu gewesen – Klein erklärte, dass Wolf als Student eingetreten sei und den Orden dann aber wieder verlassen habe, was sich später allerdings noch als Fehlinformation herausstellen sollte –, sei er dem Orden gegenüber wohlwollend eingestellt. „St. Georgen wird er vielleicht nicht so viel inneres Verständnis wie die vorigen Herren, aber doch Interesse entgegenbringen, u[nd] sich wohl nicht in die innern Angelegenheiten, Studienordnung usw. hemmend einmischen.“160 Das abschließende Votum der beiden Informanten fiel auf Pappert. Doch Pacelli folgte ihrer Empfehlung keineswegs. Aus seinem Antwortschreiben vom 18. Oktober geht hervor, dass er vielmehr 158 159 160

Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 8v. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 8v. Klein an Pacelli vom 10. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 9r. 48

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„auch im Interesse der Phil[osophisch-] theol[ogischen] Lehranstalt St. Georgen, und um jedem möglichen Verdacht vorzubeugen“161 für den einzigen Nicht-Germaniker unter dem Quartett plädierte: Dekan Friedrich Wolf. Diese Entscheidung hatte offensichtlich eine dezidiert taktische Motivation, doch welchem „Verdacht“ wollte der Nuntius vorbeugen? Sein Bericht, den er knapp zwei Wochen später für Gasparri verfasste, gibt Aufschluss:162 Pacelli wollte nicht, dass nach der kürzlichen Ernennung Schreibers zum Oberhirten von Berlin sofort ein weiterer „Römer“ einen Bischofsstuhl bestieg.163 Er sah die Gefahr, dass in der deutschen Öffentlichkeit der Vorwurf aufkommen beziehungsweise genährt werden könnte, der Heilige Stuhl benutze die im Konkordat gewonnenen Freiheiten ausschließlich dazu, um in Rom ausgebildete Geistliche an die Spitzen der Diözesen zu bringen. Deshalb schien es dem Nuntius klüger, die römisch-theologische Ausrichtung des Kandidaten nicht formaliter zu offenbaren, sondern einen Geistlichen zu wählen, der gleichwohl die Affinitäten zum Jesuitenorden, zum Heiligen Stuhl und zur römischen Theologie besaß, dem man diese jedoch nicht sogleich an der Biographie ablesen konnte. Zunächst blieben ihm jedoch offene Fragen über Wolf, die er Klein zur Beantwortung vorlegte: Zum einen interessierte ihn, warum Wolf nicht in den Jesuitenorden ein- beziehungsweise aus ihm wieder ausgetreten sei. Zum anderen wollte er wissen, wo und mit welchem Erfolg er seine Studien vorgenommen habe.164 Genau diese beiden vom Nuntius angesprochenen Punkte seien – so der Rektor von St. Georgen in seiner Entgegnung fünf Tage später – der Grund gewesen, warum er Wolf an die letzte Stelle der Vorschläge gesetzt habe.165 Seine weiteren Recherchen und die erneute Absprache mit seinem Amtsvorgänger hätten seine Ansicht verstärkt, dass der Dekan „sicher ein guter Priester“ sei, „aber man kann vielleicht gerade wegen dieser beiden Punkte … etwas zweifeln, ob er unter den gegebenen Verhältnissen der rechte Mann ist“166. Nachdem Wolf immerhin zuvor von ihm als grundsätzlich geeignet vorgeschlagen war, kam diese Aussage nun 161 162 163

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Pacelli an Klein vom 18. Oktober 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 10r. Vgl. zu dem hier angesprochenen Bericht das Folgende. Anlässlich seiner Einsetzung zum Bischof von Berlin sorgte es zumindest kurzzeitig auf Seiten der preußischen Regierung für Missfallen, dass Schreiber seine Studien in Rom absolviert hatte. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.7 (Die Kontroverse um das staatliche Plazet). Pacelli vermutete, dass der Kandidat im Fuldaer Priesterseminar studiert haben könnte, was sich für ihn wohl daraus ergab, dass die Limburger Alumnen für gewöhnlich dort hingingen. Vgl. Schatz, Limburg, S. 238. Dabei hielt der Nuntius das Fuldaer Seminar noch für eine einigermaßen solide Ausbildungsstätte. Vgl. dazu seine Aussage in Bd. 2, Kap. II.1.7 (Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur). Vgl. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 11r–13r. Wobei zu ergänzen ist, dass Klein die Hierarchie der vier Kandidaten nicht streng nach Wertung sortierte, denn obwohl Pappert der Wunschkandidat war, stand er nur auf Rang zwei. Von daher macht das Argument mehr den Eindruck einer nachträglich konstruierten Entschuldigung. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 11r. 49

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einem Rückzieher gleich. Hinsichtlich der Zugehörigkeit zur jesuitischen Ordensgemeinschaft bemerkte der Rektor, dass Wolf mit seiner früheren Absicht, der Gesellschaft anzugehören, heute sehr diskret umgehe. Von einem Freund habe er erfahren, dass der Dekan von Höchst sogar mittlerweile der Ansicht sei, dass es besser gewesen sei, diesen Schritt damals nicht gegangen zu sein. Novize sei er nie gewesen und der Grund dafür sei schwer zu eruieren. Sicherlich sei dafür ein inneres Unverständnis und eine „innere Disharmonie“167 verantwortlich. Wohl deshalb habe er kürzlich den Besuch einiger Jesuitenpatres, die regelmäßig in Höchst Vorträge halten würden, abbestellt. Die wissenschaftliche Ausbildung schließlich habe Wolf einerseits in Fulda erhalten, wo er – wie Klein explizierte – Philosophie und zwei Semester Dogmatik studiert sowie die praktischen Inputs bekommen habe, andererseits in Freiburg, wo er zwei weitere Semester Dogmatik bei Professor Carl Braig gehört habe. Dass letzterer gegenüber der Neuscholastik durchaus kritisch eingestellt war, sagte Klein zwar nicht, war aber sicherlich der Grund für diese Nennung.168 Zwar sei Wolf stets fleißig gewesen und habe als begabt gegolten. Doch könne das nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eine „gründliche systematische Schulung in Philosophie und besonders Theologie … nicht bekommen [hat]. Hieraus  – und aus seinem Charakter?  – erklären sich wohl auch manche, fast unreife, stürmische Auffassungen – ‚krause Ansichtenʻ sagte ein guter Freund und Bekannter von ihm –, die auch heute noch hervortreten. Für scholastischen Studienbetrieb hat er kaum Sinn.“169

Seine Stärke liege mehr auf seelsorglichem und zwischenmenschlichem Gebiet, wenngleich er auch im Umgang mit den staatlichen Behörden nicht als gewandt bezeichnet werden könne. Summa summarum schloss Klein, dass die günstige Zukunft für die Jesuitenhochschule eher ungewiss sei, wenn Wolf der künftige Bischof von Limburg würde. Für diese Zukunft wäre Pappert unfraglich der beste Kandidat. Doch mittlerweile – so Klein weiter – seien er und Kösters der Meinung, dass aufgrund der im vorigen Schreiben angeführten Einwände auch vom Subregens abgesehen werden müsse. Diese würden jedoch auf Hilfrich nicht im gleichen Maße zutreffen, den Klein nun ins beste Licht rückte. Zwar sei auch er Ex-Germaniker: „Aber er ist schon jetzt in der Diözese sehr angesehen und gilt in der Öffentlichkeit als Bischofskandidat. Auch steht er offenbar in gutem Verhältnis zu den weltlichen Behörden, mit denen er gewandt verhandelt, auch zu dem weltanschaulich entgegengesetzten Regierungs-

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Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 11v. Der Freiburger Dogmatiker, obwohl dezidierter Antimodernist, geriet nicht zuletzt deshalb in den Verdacht einer grundsätzlichen Opposition zur (Neu-) Scholastik, weil er gegenüber der aristotelisch-thomistischen Tradition den Platonismus priorisierte. Vgl. dazu Leidlmair, Braig. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 11v. 50

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präsidenten.170 Dass er Sankt Georgen und der Gesellschaft Jesu aufrichtig gewogen ist, und dass bei ihm der Bestand und die glückliche Entwicklung von Sankt Georgen unvergleichlich besser gesichert sein würden als bei Herrn Wolf, kann keinem Zweifel unterliegen.“171

Im Folgenden entkräftete Klein der Reihe nach die Schwächen, die er im ersten Brief dem Wiesbadener Pfarrer zugewiesen hatte. Die „selbständige Stellung“ Hilfrichs der Hochschule gegenüber, die Klein mit der Vermutung angesprochen hatte, dass dieser sich in die internen Angelegenheiten des Studienbetriebs einmischen werde, sei nur eine relative Einschätzung im Vergleich zu Pappert und Herr gewesen. Außerdem – so führte der Rektor an – würde Hilfrich jedem Wunsch Pacellis bezüglich St. Georgen Folge leisten. Auch das vormals angesprochene Negativum der mangelnden Beliebtheit im Klerus entkräftete der Jesuit. Denn er vermutete, dass diese aus seiner „überragenden Persönlichkeit“172 resultiere. „Jedenfalls wäre er nach Erscheinen und Benehmen, nach echt priesterlichem Denken und Leben ein würdiger, kirchlich unbedingt treuer Bischof. Seine Pfarrkirche ist, wie ich vorgestern hörte, die am meisten besuchte Kirche in der Diözese. Ich muss übrigens gestehen, dass ich nach der früher gehörten Äußerung über die ‚Bevorzugung der Gebildetenseelsorgeʻ überrascht war, als ich auf einem ziemlich langen Gange mit ihm durch Wiesbaden sah, mit welcher Verehrung die Vorübergehenden, Arm und Reich, Jung und Alt ihn grüßten. Ich hatte unwillkürlich den Eindruck, ob nicht am Ende doch invidia jene Fama über ihn veranlasst habe.“173

Weitere Informationen könne sich Pacelli von den Diözesanbischöfen Matthias Ehrenfried in Würzburg und Christian Schreiber in Meißen und Berlin besorgen, mit denen Hilfrich gut befreundet sei. Ebenfalls optimal sei sein Verhältnis zu Bischof Kilian, der ihn erst im Vorjahr zum Geistlichen Rat ernannt habe.174 Mit diesen Präferenzverschiebungen zugunsten Hilfrichs auf Kosten Papperts und zu völligen Ungunsten Wolfs überholten Klein und Kösters ihr erstes Votum. Die veränderten Ansichten waren nach eigenen Angaben aus einem Besuch Kleins bei Hilfrich – den der genannte Spaziergang mit Hilfrich durch Wiesbaden bereits andeutete – sowie einem Zusammentreffen beider Jesuiten mit Wolf hervorgegangen. Ob Klein und Kösters die Genannten bei diesen Gelegenheiten bloß

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Regierungspräsident in Wiesbaden war in der Zeit von 1925 bis 1933 der Sozialdemokrat Fritz Ehrler. Über ihn: Ehrler, Fritz, in: Akten der Reichskanzlei; Müller, Adler, S. 417 u. ö. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 12r. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 12v. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 12v. Abschließend überlegte der Jesuit, dass „vielleicht dann am Ende doch Herr Fendel“ noch besser als Wolf geeignet sei, wenn „die Wahl eines ehemaligen Germanikers bedenklich scheinen sollte“ und von Hilfrich aufgrund dieser Prämisse abgesehen werden müsse. Klein an Pacelli vom 23. Oktober 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 12v. 51

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kritisch prüften und die Bischofsfrage gemäß dem secretum Sancti Officii nicht ausdrücklich erörterten, muss offen bleiben.

Pacellis Plan für Limburg: Hilfrich als Koadjutor mit Nachfolgerecht Diese Darlegung überzeugte den Nuntius. Nachdem nun Modus und Kandidat bereitlagen, wandte er sich mit der Bittschrift Kilians nach Rom.175 Erst jetzt, am 1. November, kam er der Bitte des Limburger Bischofs von Ende September nach, der nichts davon wusste, dass sein Schriftstück die römische Kurie noch gar nicht erreicht hatte.176 Seinen Bericht an Gasparri konzipierte Pacelli stringent auf seine eigenen Vorstellungen zu der prekären Situation Kilians hin. Dementsprechend resümierte er zwar kurz dessen Wunsch nach der Erhebung Fendels oder Merkels zu seinem Weihbischof. Jedoch fügte er unmittelbar die von Kilian selbst gemachten Einschränkungen hinzu, nämlich dass dieser die Art der Lösung und die Kandidatenwahl letztlich in die Hände des Papstes lege. Der greise Kilian hatte am Schluss seiner Supplik innig darum gebeten, „dass die Bestellung eines neuen Weihbischofs auch in kleineren Diözesen, wie Limburg, aufgrund der geringen Zahl der gegenwärtigen Bischöfe in Deutschland nicht inopportun erscheine“177. Doch genau diesen Grund, die verhältnismäßig geringe Größe des Bistums, gab Pacelli nun dafür an, dass es sinnvoller sei, auf einen Weihbischof zu verzichten und stattdessen einen Nachfolger Kilians zu installieren. Die Problematik der Nachfolge des Oberhirten sei deshalb so heikel, weil man sie im Hinblick auf die Jesuitenhochschule St. Georgen angehen müsse. Diese Beziehung – wie Pacelli dem Kardinalstaatssekretär entfaltete  – diktiere die Direktive bei der Personalfrage, insofern „es daher notwendig erscheint, dass der künftige Bischof solcher Art ist, dem genannten Institut keine Schwierigkeiten zu machen, von dem man so sehr eine bessere Bildung des Klerus in Deutschland erwartet“178. Angemessen sei deshalb die Nomination eines Koadjutors mit dem Recht der Nachfolge. 175

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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 4r–6r. Damit Kilian nichts von der Verzögerung erfuhr, schrieb Pacelli später ihm gegenüber in unbestimmter Diktion: „Seinerzeit habe ich nicht verfehlt, das dem verehrten Schreiben Euer Bischöflichen Gnaden … vom 25. September d[es] J[ahres] beigelegte Bittgesuch an den Heiligen Vater weiterzuleiten.“ Pacelli an Kilian vom 17. November 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 17rv, hier 17r. Hervorhebung R.H. „… quod constitutio novi episcopi auxiliaris etiam in dioecesi minori, sicut Limburgensi, non inopportuna videatur propter parvum numerum Episcoporum in Germania existentium.“ Kilian an Pius XI. vom 25. September 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 9r. „… parrebbe quindi necessario che il futuro Vescovo sia tale da non creare difficoltà allʼIstituto medesimo, da cui tanto bene si attende per una miglior formazione del clero in Germania.“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 4v. 52

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Unter dieser Richtlinie diskutierte Pacelli die Kandidatenfrage. Der von Kilian vorgeschlagene Kanoniker Fendel habe zwar das Zeug zum Weihbischof, aber nicht gleichermaßen zum Diözesanbischof, „weil es scheint, dass er nicht die außergewöhnlichen Fähigkeiten besitzt und ziemlich schwach ist“179 – damit verstand Pacelli unter der von Klein Fendel zugeschriebenen Konzilianz nichts anderes als Schwäche. Auch bei der Bewertung Merkels folgte der Nuntius der Analyse Kleins, indem er erklärte, dass man dessen Qualität und Haltung noch nicht absehen könne. Er hingegen könne einen anderen Geistlichen von „unzweifelhaft außergewöhnlicher Begabung“180 bieten, womit Pacelli auf Hilfrich zu sprechen kam. Wert legte er darauf, sein Alter (56), sein römisches Studium als Germaniker, sein Doktorat in Philosophie und Theologie und sein gegenwärtiges Pfarramt in Wiesbaden anzusprechen. Als besondere Kennzeichen Hilfrichs müssten seine unbedingte Treue zum Heiligen Stuhl, seine hohe Reputation in der Diözese, sein gewandtes Umgehen mit den weltlichen Autoritäten und seine tadellose Lebensführung gelten. Über das Urteil Kleins und Köstersʼ hinausgehend berichtete Pacelli, dass kürzlich der Meißener Bischof Schreiber ihm gegenüber ein hohes Lob für Hilfrich ausgesprochen habe. Auch für Pacelli selbst war Hilfrich kein unbeschriebenes Blatt, schon häufiger war sein Name im Kontext von Bischofseinsetzungen gefallen.181 Eigentlich habe er intendiert – wie Pacelli dem Kardinalstaatssekretär offenbarte –, dem Heiligen Stuhl vorzuschlagen, ihn auf den bischöflichen Stuhl von Meißen zu transferieren, wenn dieser durch die Translation Schreibers nach Berlin vakant werde. Zu diesem Zweck hatte Pacelli bereits Mitte des Jahres von Kilian ein ausgesprochen günstiges Votum über den Genannten eingeholt.182 Falls aber der Papst dem Plan zustimme, Hilfrich zum künftigen Bischof von Limburg zu erheben, „wäre es gleichwohl vielleicht nützlich so zu verfahren, dass man vermeidet, soweit es möglich ist, dass man von Seiten der öffentlichen Meinung die Kritik erregt – nachdem schon für Berlin ein Ex-Alumne des Kollegiums Germanicum-Hungaricum gewählt wurde –, dass der

„… perchè sembra che non abbia doti eccezionali e sia alquanto debole.“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 5r. 180 „… indubbiamente di eccellenti qualità …“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 5r. 181 Sowohl in Mainz als auch in Meißen jeweils 1920/​21. 182 Vgl. dazu Bd. 4, Kap. II.4.2 (Pacellis Vorausschau: Antonius Hilfrich für den Meißener Bischofsstuhl?). Den seiner Ansicht nach zentralen Passus übersetzte Pacelli ins Italienische: „Il Rev. Dr. Antonio Hilfrich, attualmente parroco di S. Bonifazio in Wiesbaden, è un sacerdote dotato di vasta cultura filosofica e teologica, di condotta esemplare; ha anche interesse e chiaro discernimento per gli affari pubblici ed è capace di prender parte a discussioni su questi argomenti, senza che debba temersi che egli si arrischi in modo imprudente e si perda eccessivamente nella politica. Posso quindi in tutta coscienza raccomandarlo per lʼufficio di Vescovo di Meissen … Mi sia lecito tuttavia di aggiungere che la perdita di un tale ecclesiastico proprio ora colpirebbe assai gravemente la mia diocesi.“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 5r-v. 179

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Heilige Stuhl jetzt, nach Abschluss des Konkordats mit Preußen, beabsichtigt, alle künftigen Bischöfe unter den Geistlichen zu wählen, die in Rom studiert haben“183.

Diese Sichtweise hatte bei Pacelli zunächst dazu geführt, die Einsetzung Wolfs zu unterstützen. Der Nuntius war demnach keiner, der sein Recht – die Kurie war ja durchaus berechtigt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen „Römer“ in die episkopale Würde zu bringen – ohne Weiteres voll ausschöpfen wollte. Es gab offensichtlich Grenzen, die in diesem Fall darin bestanden, keine Verschlechterung des Verhältnisses der preußischen Behörden, Bürger und wohl auch Teile der preußischen Kirche zum Heiligen Stuhl zu riskieren. Behutsames Vorgehen war also die Marschroute. Nichtsdestotrotz hatte er sich erneut für einen Germaniker entschieden, aber nur – so Pacelli – weil er in der Diözese Limburg, aus welcher der Koadjutor unbedingt kommen sollte, vergeblich eine persona idonea gesucht habe. Wie sah nun seine Lösung dieser verzwickten Situation aus? „Man könnte daher vielleicht schonend dem Ehrwürdigen Monsignore Kilian mit aller Vorsicht und auf streng vertraulichem Wege anraten, dass er selbst in einer neuen Bittschrift dem Heiligen Stuhl Hilfrich als Koadjutor mit künftiger Nachfolge vorschlägt und er auf diese Weise auch anzeigt, dass er zustimmt, die Frage des Gehaltes zu regeln; auf diese Art bliebe der obengenannte Nachteil, wenn ich nicht irre, beseitigt oder wenigstens ziemlich verringert.“184

Der Vorschlag sollte also aus Limburg selbst kommen, nicht aus Rom, sodass dem Heiligen Stuhl kein Vorwurf gemacht werden konnte. Es überrascht nicht, dass Pius XI. und Kardinalstaatssekretär Gasparri für diesen raffinierten Plan ein offenes Ohr hatten. Am 10. November teilte letzterer dem Nuntius mit, dass der Papst bereit sei, Kilian nicht etwa einen Weihbischof, sondern einen Koadjutor mit Nachfolgerecht in der Person Hilfrichs zur Seite zu stellen.185 Er wies Pacelli an, gemäß dem skizzierten Plan vorzugehen.

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„… sarebbe nondimeno forse utile di procedere in maniera da evitare, in quanto sia possibile, che si muova dalla pubblica opinione la critica – dopochè già per Berlino è stato eletto un ex-alunno del Collegio Germanico-Ungarico – che la S. Sede intenda ora, concluso il Concordato colla Prussia di scegliere tutti i futuri Vescovi fra gli ecclesiastici, i quali hanno studiato in Roma.“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 5v. „Potrebbe quindi forse suggerirsi delicatamente al Rev.mo Mons. Kilian con ogni cautela ed in via strettamente riservata di proporre egli stesso alla S. Sede in una nuova istanza lʼHilfrich come Coadiutore con futura successione, indicando eziandio in qual guisa convenga di regolare la questione dellʼassegno; in tal modo lʼanzidetto inconveniente rimarrebbe, se non erro, eliminato od almeno assai diminuito.“ Pacelli an Gasparri vom 1. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 5v–6r. Vgl. Gasparri an Pacelli vom 10. November 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 16r. 54

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Praktische Hindernisse bei der Umsetzung des Vorhabens und der ‚Widerstandʻ Kilians Daher wandte sich der Nuntius an Kilian und erklärte ihm, dass der Papst seinem Wunsch nach Unterstützung bei seinen oberhirtlichen Aufgaben entspreche.186 Den spezifischen Modus dieser Hilfe habe der Heilige Vater mit Blick „auf die besonderen Verhältnisse der Diözese Limburg“187 entschieden, wobei Pacelli verschwieg, dass diese in der Existenz der Jesuitenhochschule bestanden. So „glaubt der Heilige Vater, dessen weisem Ermessen Euer Bischöflichen Gnaden die Art der Lösung, sowohl nach der sachlichen, als nach der persönlichen Seite, vertrauensvoll ganz überlassen haben, dass für die dortigen Bedürfnisse am besten durch einen Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge (ohne dass dadurch die Verwaltung der Diözese durch Euer Bischöflichen Gnaden berührt wird) gesorgt würde und dass unter den Geistlichen Ihrer Diözese für dieses Amt der Hochwürdige Herr Dr. A[ntonius] Hilfrich, Pfarrer in Wiesbaden, am geeignetsten wäre“188.

Kilian möge deshalb „diesen Vorschlag als Ergebnis reiflicher Überlegung in einer erneuten Eingabe aus eigener Initiative dem Heiligen Stuhl unterbreiten“189 sowie dabei die Gehalts- und Unterbringungsfrage einer Lösung zuführen. Diese Mitteilung des Nuntius ging dem Limburger Bischof, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Herz-Jesu-Klinik in Dernbach in Behandlung befand, über dessen Generalvikar Matthäus Göbel zu.190 Von dort schrieb Kilian zunächst an Pacelli zurück, bevor er das gewünschte Bittgesuch an den Heiligen Stuhl verfasste, und diskutierte die finanzielle und wohnliche Problematik, die sich aus der Ernennung eines Geistlichen ergab, der nicht gleichzeitig Domherr war.191 Gegen Hilfrich habe er – wie bereits das angesprochene, von Kilian selbst verfasste Votum über den Genannten vermuten ließ – überhaupt keine Einwände vorzubringen. Im Gegenteil hätte er ihn selbst vorgeschlagen, wenn sich die Gehalts- und Wohnungsschwierigkeiten nicht stellen würden. Bei Ernennung eines Domkanonikers, der in Limburg nach Kilians Angaben 9.400 Reichsmark bekam, wäre die finanzielle Basis bereits vorhanden. Mit dem Zuschuss von 3.000 bis 4.000 Mark, den er zu zahlen bereit sei, stünde dann eine ausreichende Summe für das Gehalt eines Weihbischofs zur Verfügung. Wenn aber der Grundstock des Domkapitulargehalts wegbreche, weil der Kandidat nicht aus dem Kapitel stamme, sei die Stelle nicht zu finanzieren. Auch eine Erhöhung der Diözesansteuer kam für den Oberhirten nicht

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Vgl. Pacelli an Kilian vom 17. November 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 17rv. Pacelli an Kilian vom 17. November 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 17r. Pacelli an Kilian vom 17. November 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 17r. Pacelli an Kilian vom 17. November 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 17r. Vgl. Göbel an Pacelli vom 21. November 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 18r. Vgl. Kilian an Pacelli vom 25. November 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 21rv. 55

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ernsthaft in Frage, weil die Abgabe jetzt schon schwer auf vielen Katholiken laste, insbesondere in Städten wie Frankfurt. Die eigene Bistumskasse sei durch die Inflation marode geworden.192 Noch gravierender gestalte sich die Wohnungsangelegenheit. Von seiner eigenen bescheidenen Wohnung könne er keine Räume abtreten, die derzeit leere Regenswohnung sei für einen Bischof zu klein und unpassend, das im Bau befindliche neue Priesterseminar noch nicht fertig und die Anmietung eines anderen Anwesens aufgrund der Wohnungssituation völlig unmöglich. Man bekommt den Eindruck, dass Kilian von der Idee, einen Koadjutor zu erhalten, nicht begeistert war. Er sprach nach wie vor nur von der Einsetzung eines Weihbischofs und erwähnte die andere Variante mit keinem Wort. Nachdem er diese nach seiner Darstellung schier unlösbaren Hindernisse bei der praktischen Umsetzung des Planes entfaltet hatte, präsentierte er dann ein etwas anders geartetes Lösungsmodell: „Ob man nicht die Sache am besten bis dorthin beruhen lassen soll?“193, das heißt bis zur Fertigstellung des neuen Seminars, die für Ostern 1931 erwartet wurde. Dass diese Verzögerung möglich schien, begründete Kilian mit der Verbesserung seines Herzleidens, die er mit einem beigefügten Attest des behandelnden Arztes belegte. Dort hieß es über den Aufschwung seines Gesundheitszustands: „Es besteht die begründete Aussicht, dass der hochwürdigste Herr in einigen Monaten wieder amtsfähig sein wird und dass er auf Jahre hinaus in vollem Umfange seine bischöflichen Funktionen wieder ausüben kann.“194 Kilian monierte abschließend, dass er wegen des secretum Sancti Officii die ganze Angelegenheit nicht mit Hilfrich und dem Rechnungsreferenten des Bistums195 besprechen könne. Pacelli ging jedoch weder auf den Vorschlag ein, die Bestellung eines Koadjutors zu verschieben, noch bemerkte er etwas zur beschriebenen Gehalts- und Unterkunftsproblematik. Er erwiderte Kilian am 3. Dezember lediglich, dass sich das angesprochene Geheimnis nur auf seinen Brief vom 17. November erstrecke. Es durfte also zu keinem durchdringen, dass die Initiative zur Einsetzung eines Koadjutors ursprünglich von Rom und nicht von Limburg ausgegangen war.196 Dadurch werde Kilian aber nicht daran gehindert, „von sich aus mit dem durch Ihre Initiative in Aussicht genommenen Kandidaten wie auch mit dem Rechnungsreferenten sachlich die Art

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Die Weltwirtschaftskrisen der 1920er Jahre (und danach) mit den gravierenden Folgen der Geldentwertung führten in Limburg zum Beispiel dazu, dass der von Bischof Karl Klein 1896 eingerichtete Fonds für das Priesterseminar verloren ging. Vgl. Schatz, Limburg, S. 242. Kilian an Pacelli vom 25. November 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 21v. Attest des Chefarztes des Herz-Jesu-Krankenhauses Dernbach, Dr. Lorenz Fiedler, über Kilians gesundheitliche Verfassung vom 23. November 1929, ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 20rv, hier 20v. Rendant der Bistumshauptkasse war zu dieser Zeit August Dommermuth. Vgl. Schematismus der Diözese Limburg 1927, S. 4. Vgl. Pacelli an Kilian vom 3. Dezember 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 22r. Wiederum vermittelte der Generalvikar den Brief an Kilian weiter. Vgl. Göbel an Pacelli vom 8. Dezember 1929, ebd., Fol. 23r. 56

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zu besprechen, in der Sie die Lösung der Gehaltsfragen anzustreben beabsichtigen“197. Wenn der Limburger Oberhirte also geglaubt hatte, durch seine Darstellung den Nuntius zu dem Zugeständnis zu bewegen, dass man die Sache anders angehen könnte, sah er sich getäuscht. Nach vier weiteren Wochen, am 3. Januar 1930, schrieb Kilian wie gefordert an den Papst, aber eine Lösung des Problems hatte er immer noch nicht gefunden.198 Dementsprechend legte er dem Pontifex genauso wie zuvor dem Nuntius die Komplexität der Situation dar. Auch eine Unterredung mit Generalvikar und Domdekan Göbel habe keine Fortschritte gebracht. Die beste Variante sei – so Kilian –, wenn die preußische Regierung sich bereit erkläre, für die Kosten aufzukommen. In gewisser Weise akzeptierte Kilian jetzt, dass ihm ein Koadjutor beigegeben werden sollte, denn er sprach anders als zuvor stets von der „Ernennung eines Weihbischofs oder Koadjutors“. Darüber hinaus stellte er die Entscheidung darüber noch einmal expressis verbis dem Papst anheim. Dennoch aber sah er keine Möglichkeit, die praktischen Fragen zu bewältigen und bat Pius XI. daher ebenso wie zuvor den Nuntius, die Sache zunächst auf sich beruhen zu lassen. Weil er sich zudem auf dem Weg der Besserung befinde, bestehe die Hoffnung, dass er seinen bischöflichen Amtspflichten bald wieder nachkommen könne.

Pacellis praktische Lösung und der Vorschlag Hilfrichs Wenn Kilian gehofft haben sollte, beim Papst auf mehr Verständnis als beim Nuntius zu treffen, so konnte das allein schon angesichts einer strukturellen Veränderung nicht gelingen. Denn Pacelli hatte unterdessen seine Laufbahn als Apostolischer Nuntius beim Deutschen Reich beendet. Nachdem er noch im Dezember 1929 nach Rom zurückgekehrt war und von Pius XI. den Kardinalspurpur erhalten hatte, trat er am 7. Februar 1930 offiziell die Nachfolge Gasparris im Amt des Staatssekretärs an.199 Den „Fall Limburg“ nahm er praktisch mit nach Rom und führte ihn von dort weiter.200 Noch vor seinem offiziellen Amtsantritt reagierte Pacelli aus dem römischen Staatssekretariat auf die Eingabe des Limburger Oberhirten und erwiderte ihm, dass der Papst zwar gerne zur Kenntnis

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Pacelli an Kilian vom 3. Dezember 1929 (Entwurf), ASV, ANB 49, Fasz. 3, Fol. 22r. Vgl. Kilian an Pius XI. vom 3. Januar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 12r–14r (nur r). Vgl. das von Pius XI. unterzeichnete Ernennungsdekret vom 7. Februar 1930, in: AAS 22 (1930), S. 98. Daraus resultiert auch, dass mit dem Schreiben Göbels an Pacelli vom 8. Dezember 1929 die Unterlagen zu diesem Besetzungsfall im Nuntiaturarchiv enden. Zwar sprach der Geschäftsträger der Nuntiatur, Luigi Centoz, später davon, dass er Kopien von Dokumenten aus Rom für das Nuntiaturarchiv angefertigt habe. Da jedoch diese Unterlagen nicht aufzufinden waren, ist man auf die Akten des Staatssekretariats angewiesen. Diese Einschränkung fällt jedoch nicht ins Gewicht, weil die Berliner Nuntiatur von nun an ohnehin nur noch spärlich in die Geschehnisse um die Nachfolge Kilians involviert war. 57

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nehme, dass Kilian den römischen Kandidaten befürworte, aber die geschilderten Schwierigkeiten keineswegs für unüberwindlich halte.201 Pacelli erläuterte: Zunächst seien die Probleme nur vorübergehend, denn Hilfrich könne das erste vakant werdende Kanonikat übertragen werden, womit die ausreichende Gehaltssumme vorhanden wäre. Bis dahin müsse eben improvisiert werden: Kilian habe mehrfach darauf hingewiesen, dass das Amt des Seminarregens mit dem des Weihbischofs oder Koadjutors verbunden werden sollte. Weil ersteres derzeit unbesetzt sei, stehe die damit verbundene Vergütung von 3.600 Reichsmark zur freien Verfügung. Mit den 3.000 Mark, die Kilian aus seinem Privateinkommen beisteuern wolle, seien es sogar 6.600 Mark, zu denen die unentgeltliche Verpflegung und Unterkunft, die gewöhnlich dem Regens zustehe, noch hinzukämen. Das müsse genügen, wenn man den fehlenden Betrag von 5.400 Mark nicht über eine Erhöhung der Diözesansteuer einnehmen wolle, was der Papst – so Pacelli – nicht empfehle. Für die Jahresfrist, bis das neue Priesterseminar fertiggestellt sei, müsse sich Hilfrich mit der – von Kilian als der bischöflichen Würde inkonvenient bezeichneten  – Regenswohnung begnügen. Vom Staat die entsprechende finanzielle Hilfe zu bekommen, hielt Pacelli für aussichtslos, weil die Dotationssumme im Konkordat endgültig festgesetzt sei. Ein weiteres Problem, das Kilian in seinen früheren Schreiben angemerkt hatte, bestand darin, dass der Regens – also der künftige Koadjutor – für die Alumnen des Seminars Vorlesungen hielt. Sollte dieser jedoch bald Firmreisen und Pfarrvisitationen vornehmen, müsste eine Vertretung für die Lehre eingestellt werden, was dem Bischof wiederum als nicht finanzierbar erschien. In dieser Angelegenheit dachte Pacelli an eine pragmatische Vertretungsvariante, insofern man in Limburg selbst oder – nicht überraschend – in der Jesuitenlehranstalt St. Georgen Professoren finden könne, welche gewiss die Aufgabe während der Absenz des Regens übernähmen. Nach diesen praktischen Hinweisen von höchster Stelle war an eine fortgesetzte Debatte über diese Angelegenheit nicht mehr zu denken. Wie Kilian den neuen Kardinalstaatssekretär informierte, habe er Hilfrich am 6. Februar von seiner bevorstehenden Ernennung zum Koadjutorbischof von Limburg unterrichtet und „ihn ermahnt, dass er dem Willen des Papstes gehorche“202.

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Vgl. Pacelli an Kilian vom 29. Januar 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 16r–17r (nur r). Ob letztlich der Name Pacellis als Absender unter dem Schreiben stand, geht aus dem Entwurf nicht hervor. Fakt ist, dass das lateinische Skriptum zuallererst eine italienische Urfassung hatte, die aus der Feder Pacellis stammte (Fol. 15rv) und anschließend ins Lateinische übersetzt wurde (Fol. 18rv). Vgl. auch den Hinweis bei Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S.  124. Das Schriftstück ließ Pacelli diskret übersenden, indem er einen Umschlag für Kilian mit der Aufschrift „Streng persönlich“, der den eigentlichen Text enthielt, in einen zweiten Umschlag steckte, der an Generalvikar Göbel adressiert war. „… eum monens, ut voluntati Summi Pontificis obtemperet.“ Kilian an Pacelli vom 7. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 19r. 58

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Hilfrich war „corde pavido“203 dazu bereit, wie er wenige Tage später in einer Ergebenheitsadresse an den Kardinalstaatssekretär schrieb. Jedoch war er keineswegs mit der provisorischen Lösung der lebenspraktischen Fragen nach Gehalt und Unterkunft einverstanden. Denn zum einen habe er eine Unterhaltspflicht gegenüber seiner Schwester, welche für ihn die Haushaltsarbeiten verrichte – in das Priesterseminar könne er sie nicht mitnehmen –, und zum anderen sei die Ausstattung der Regenswohnung im Seminar sehr spärlich. Daher schlug Hilfrich im Einvernehmen mit Bischof Kilian vor, dass er zunächst im Amt des Pfarrers in Wiesbaden und damit im Besitz des entsprechenden Benefiziums bleibe und weiterhin dort residiere. Dies sollte so lange andauern bis entweder ein Domkanonikat vakant werde oder sich eine andere Lösung der Schwierigkeiten ergebe. Für seine Pfarrei würden daraus keine Nachteile resultieren, insofern vier Kapläne, drei andere Pfarrer und zwei Priester, die an der Mittelschule unterrichten würden, seine Verpflichtungen übernehmen könnten, wenn er durch die Aufgaben des Koadjutors verhindert sei. Hilfrich zählte weitere Vorteile auf, die dafür sprächen, in Wiesbaden zu bleiben: die Wege der Visitationsreisen seien aus Wiesbaden erheblich kürzer als aus Limburg selbst; von 468.652 Katholiken der Diözese befänden sich 301.458 sehr viel näher an Wiesbaden als an Limburg;204 die Stadt erfreue sich eines guten Rufs, die Pfarrkirche St. Bonifatius sei größer als der Limburger Dom205 und das Pfarrhaus von angemessener Güte, sodass nichts von alledem der bischöflichen Würde zuwiderlaufe. Auch seine Absenz von der Domstadt sei zu vernachlässigen, weil die gerade einmal 45 Kilometer lange Strecke zwischen beiden Städten es ermögliche, bei den Sitzungen der Diözesanverwaltung in der Bistumshauptstadt anwesend zu sein. Eine „ordentlichere“ Regelung – so Hilfrich schließlich  – bestehe natürlich darin, dass einer der Domherren sein Pfarrbenefizium in Wiesbaden übernähme und er im Gegenzug die frei werdende Domstelle. Aber das sei wohl schwer zu realisieren, weil das auferlegte secretum Sancti Officii – das sich so nicht zum ersten Mal als Hindernis entpuppte – eine Absprache verhindere.206

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Hilfrich an Pacelli vom 11. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 21r–22v, hier 21r. Hilfrich rechnete die Zahl auf Basis des Schematismus von 1927 zusammen. Vgl. Schematismus der Diözese Limburg 1927, S. 121. Zum Beleg legte Hilfrich seiner Korrespondenz ein Foto der St. Bonifatiuskirche bei. Vgl. Hilfrich an Pacelli vom 11. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 22v. Das secretum Sancti Officii, unter dem alle wesentlichen Korrespondenzen von Pacelli respektive vom Heiligen Stuhl standen, stellte insbesondere für den kranken Augustin Kilian ein nicht unbedeutendes Problem dar. Denn er war auf die Absprachen mit dem Domkapitel, seinem Generalvikar und auch seinem Sekretär angewiesen, was ihm das Geheimnis aber verwehrte. Die Strafe für die Verletzung des secretums bestand in der Exkommunikation latae sententiae, woran eine häufig auf den entsprechenden Schreiben befindliche Formel erinnerte: „Sub secreto S. Officii. Violatio huius secreti, quolibet modo, etiam indirecte, commissa plectitur excommunicatione latae sententiae, a quo nemo, nisi Romanus Pontifex, praeterquam in mortis articulo, absolvere potest.“ Z.B. bei Pacelli an Kilian vom 16. März 1930 59

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Die offizielle Supplik Kilians um einen Koadjutor, das Plazet der Regierung und die Einsetzung Hilfrichs Die positive Antwort aus Rom folgte prompt, aber nicht an Hilfrich, sondern an Kilian. Denn ein wesentlicher Bestandteil des Plans war noch nicht umgesetzt worden: Es fehlte noch das offizielle Bittschreiben des Limburger Bischofs an den Papst. Den wesentlichen Inhalt dieser Supplik gab Pacelli am 18. Februar vor: „Es wäre dann aber notwendig, dass Eure Bischöfliche Gnaden wie von sich aus und ohne jede Erwähnung des bisher in der Angelegenheit geschehenen Briefwechsels in offizieller Form eine Bittschrift an den Heiligen Vater richteten des Inhalts, Seine Heiligkeit möge Ihnen mit Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand einen Coadiutor cum iure successionis geben.“207

Außerdem sollte Kilian darauf eingehen, dass Limburg keinen Weihbischof benötige, dass Stadtpfarrer Hilfrich die persona idonea für das Amt darstelle – eine Woche zuvor hatte ihn auch das Heilige Offizium abgesegnet208 – und der Heilige Vater diesem gewähren möge, sein derzeitiges Pfarrbenefizium für den Unterhalt zu behalten. Wortgetreu kam Kilian dieser Anweisung am 25. Februar nach.209 Nun bedurfte es nach der Vorschrift des preußischen Konkordats der Anfrage

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(Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 30r. Aus Angst vor dieser schweren Strafe richtete Kilian wenig später ein Gesuch an den Papst, in dem er schilderte, dass ein paar Mitarbeiter unter den gegebenen Umständen einige Kenntnisse von dem Inhalt der verhandelten Materie erhalten hätten. Unter anderem könne er – so Kilian – die Briefe nicht selbst verfassen, sondern diktiere sie seinem Sekretär. Auch sei er nicht in der Lage gewesen, sämtliche Schriftstücke nach der Lektüre zu Verbrennen, wie es stets gefordert war. Daher kam er zu dem Ergebnis: „Ita violavi secretum S. Officii, non vero ex levitate aut contemptu, sed optima fide, ita ut etiam hodie persuasum mihi sit, me peccatum non commisisse.“ Kilian an Pius XI. vom 4. März 1930, ebd., Fol. 28r–29r (nur r), hier 29r. Zwar glaubte der Limburger Oberhirte also trotz der Vergehen nicht, gesündigt zu haben, bat aber dennoch – für den Fall, dass er doch die schwere Sünde begangen habe – um die päpstliche Absolution, „propter gravissimam minationem excommunicationis die noctuque anxietatibus me afficiunt“ (Fol. 29r). Pius XI. kam seiner Bitte nach und absolvierte ihn zur Vorsicht von jeder Strafe, freilich mit der mahnenden Gewissheit, dass Kilian zukünftig umsichtiger handeln werde. Darüber hinaus wurde er verpflichtet, alle Mitwisser davon in Kenntnis zu setzen, dass sie auch das genannte secretum einzuhalten hätten. Vgl. Pacelli an Kilian vom 16. März 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 30r. Dieses Schreiben des Kardinalstaatssekretärs stand übrigens ebenfalls unter dem Geheimnis und enthielt erneut die Aufforderung, das Dokument nach dem Lesen zu verbrennen. Pacelli an Kilian vom 18. Februar 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 23rv, hier 23r. Hervorhebung im Original. Vgl. Pizzardo an Canali vom 11. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 20r und Canali an Pizzardo vom 15. Februar 1930, ebd., Fol. 24r. Vgl. Kilian an Pius XI. vom 25. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 25r. 60

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an die Regierung, ob diese politische Bedenken gegen den Genannten geltend machen wollte. Zu diesem Zweck leitete Pacelli das offizielle Bittgesuch Kilians an den Geschäftsträger der Berliner Nuntiatur, Luigi Centoz, weiter.210 Dabei gab er noch weitere Instruktionen für die Anfrage bei der Regierung mit auf den Weg, denn als Fachmann für das Konkordat sah er mögliche Widerstände vorher. Ein solcher konnte sich seiner Meinung nach aus Artikel 2 ergeben: Dieser bestimmte, dass ein differenter Residenzort von Diözesan- und Weihbischof erst nach Abstimmung mit der Regierung festgelegt werden durfte.211 Nun war es aber ein konstitutives Element der Limburger Regelung, dass Hilfrich zumindest vorläufig nicht in Limburg, sondern in Wiesbaden bleiben sollte. Für den Fall, dass die preußischen Staatsbeamten sich auf den angesprochenen Passus berufen sollten, hatte Pacelli zwei Gegenargumente parat: Zum einen handle es sich nur um ein Provisorium, zum anderen spreche der Vertragstext ausdrücklich von Weihbischof und nicht von Koadjutor. Der Artikel 7, der die politische Klausel bei der Ernennung von Koadjutoren ins Recht setzte, beinhalte hingegen keine Residenzbestimmung. Mit diesem theoretischen Rüstzeug sprach Centoz – der neue Nuntius, Cesare Orsenigo, war noch nicht im Amt – im preußischen Kultusministerium vor. „Nach mehrmaligem Drängen“212 habe ihm der seit wenigen Wochen als Kultusminister amtierende Adolf Grimme schließlich erklärt, dass keine politischen Bedenken gegen Hilfrich bestünden, wie der Geschäftsträger am 29. März telegraphisch nach Rom meldete. Was er mit diesem Drängen meinte, schilderte er in einem ausführlichen Bericht vom gleichen Tag.213 Zunächst sei alles reibungslos verlaufen, denn nachdem er Grimme von der Bitte Kilians, der Zustimmung des Papstes und der temporären Wohnung Hilfrichs in Wiesbaden berichtet habe, habe der „überaus freundliche Herr Minister“214 erklärt, dass er keine Schwierigkeiten dabei sehe und bald die definitive Antwort geben werde. Diese sei aber ausgeblieben. Erst nach wiederholter Bitte beim katholischen Staatssekretär Aloys Lammers aus dem Kultusministerium, die erwartete Entscheidung zu beschleunigen, habe er – so Centoz – erfahren, dass man das kirchliche Ansinnen an den zuständigen Oberpräsidenten in Kassel, den Sozialdemokraten August Haas, weitergereicht habe und auf dessen Replik warte. Lammers habe angemerkt, dass kein Zweifel an der Zustimmung zur Person Hilfrichs von Seiten der Regierung bestehe. Dennoch habe das Schweigen angedauert, sodass sich Centoz erneut zum 210

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Vgl. Pacelli an Centoz vom 16. März 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 26rv. Vgl. Art. 2, Nr. 10 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 324. „Dopo vive insistenze …“ Centoz an Pacelli vom 29. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929– 1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 34r. Vgl. Centoz an Pacelli vom 29. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 37r–38r. „… Sig. Ministro, gentilissimo …“ Centoz an Pacelli vom 29. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 37v. 61

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Staatssekretär begeben und durch hartnäckiges Drängen erreicht habe, dass man den Oberpräsidenten telefonisch kontaktierte. Was die Verzögerung verursacht hatte, war freilich nicht bis zum Nuntiaturbeamten durchgedrungen. Am Morgen des 29. März habe er schließlich das Plazet erhalten, was ihm sicher gerade recht kam, weil Pacelli am Tag zuvor auf eine baldige Mitteilung gedrängt hatte.215 Der Kardinalstaatssekretär bedachte Centoz daraufhin mit einem Kompliment für die Ausdauer, die dieser in der Sache an den Tag gelegt habe.216 Diese zeigte sich auch darin, dass der Geschäftsträger der Verzögerung – die eigentlich keine wirkliche Verzögerung war, denn nach nicht einmal eineinhalb Wochen nach dem Besuch Centozʼ bei Grimme traf die ersehnte Regierungsentscheidung ein – noch auf den Grund ging, obgleich das Nihil obstat schon erteilt war. So erfuhr Centoz nach eigenen Angaben am 9. April vom Privatsekretär des bisherigen Nuntius, Pater Gehrmann, dem es wiederum Lammers anvertraut hatte, dass Hilfrich für die Regierung nicht nur eine persona grata, sondern eine persona gratissima darstellte.217 Die Frage der Residenzstadt des neuen Koadjutors sei hingegen im Kultusministerium überhaupt nicht thematisiert worden. Pacellis Befürchtungen waren also grundlos gewesen, wie er mit Freude zur Kenntnis nahm.218 Mit dem Einverständnis der Regierung war die letzte Hürde genommen. Der Rest war formaler Natur: die Mitteilung Pacellis an Kilian, dass der Papst seiner Bitte um die Nomination Hilfrichs zum Koadjutor am 31. März entsprochen habe,219 die Publikation der Ernennung im „Osservatore Romano“220 und die Anfertigung der Ernennungsdokumente durch die Konsistorialkongregation.221 Freilich war man hier über die genauen Umstände der Ernennung in völliger Unkenntnis geblieben. Daher bat Assessor Rossi Pizzardo, mittlerweile Sekretär der AES, um Rat, ob die For215

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Vgl. Pacelli an Centoz vom 28. März 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 33r. Vgl. Pacelli an Centoz vom 2. April 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 39r. Vgl. Centoz an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 46rv. Vgl. Pacelli an Centoz vom 17. April 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 47r. Vgl. Pacelli an Kilian ohne Datum (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 35r. Vgl. auch AAS 22 (1930), S. 243. Kilian bedankte sich anschließend, dass seine Bitte um Unterstützung bei seinen oberhirtlichen Aufgaben erhört worden war. Vgl. Kilian an Pacelli vom 2. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 42r. Vgl. den Textentwurf Pacellis vom 31. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 40r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 75 vom 31. März–1. April 1930. Vgl. die Anweisung Pacellis zur Ausfertigung der Schriftstücke an den Assessor, Raffaello Rossi, vom 31. März 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 36rv und die Antwort Rossis vom 2. April 1930, ebd., Fol. 41r. 62

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mel: „praevia adprobatione et confirmatione electionis seu postulationis a Capitulo et Canonicis peractae“, in die Ernennungsbulle für Hilfrich eingefügt werden müsse, wie es 1913 bei der Erhebung Kilians der Fall gewesen sei,222 oder ob man die Wendung verwenden müsse, die man 1920 bei der Nomination Schultes zum Erzbischof von Köln benutzt habe.223 Rossi wusste also weder, dass die Rechtslage in Preußen durch das Konkordat grundlegend geändert war, noch dass das Domkapitel auf die Ernennung eines Koadjutors keinerlei Einfluss hatte und die Formel in diesem Kontext daher schlicht falsch war. Daher klärte ihn Pizzardo über die Rechtslage auf und gab den Hinweis, dass weder das Domkapitel noch die Regierung in der Bulle erwähnt zu werden bräuchten, dem Rossi dann auch Folge leistete.224 Der Veröffentlichung der Ernennungsbulle im Limburger Amtsblatt am 13. Mai stellte Kilian einen kurzen Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit als Begründung für die Installation des Koadjutors voran.225 Die Bischofsweihe empfing Hilfrich am 5. Juni in der Bonifatiuskirche in Wiesbaden aus der Hand Kilians.226 Seine Zeit als

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Vgl. Rossi an Pizzardo vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 43r. Vgl. zur Wahl Kilians 1913 Hirschfeld, Bischofswahlen, S. 306–316. In der Ernennungsbulle Schultes wurde auf das Metropolitankapitel keinen Bezug genommen, sondern der Transfer des Paderborner Oberhirten nach Köln einzig als Akt des Papstes dargestellt. Vgl. Bulla apostolica, qua Illmus ac Rvssmus Dmnus Archieppus ad Sedem Archiepiscopalem Coloniensem transfertur, in: Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Cöln Nr. 12 vom 15. Mai 1920. Vgl. Pizzardo an Rossi vom 11. April 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1930, Pos. 587 P.O., Fasz. 95, Fol. 44r–45r (nur r). Das erste Exemplar der Ernennungsbulle musste dann auch noch nachgebessert werden, weil es die Anordnung enthielt, dass mit der Erhebung Hilfrichs seine Wiesbadener Pfarrei ipso facto vakant werde. Das gehörte zur Standardprozedur, aber widersprach in diesem Fall der vereinbarten Lösung des Unterhaltproblems. Daher wandte sich Kilian vor der Publikation des Dokuments noch ein weiteres Mal an Pacelli und trug erneut die schon mehrfach ausgebreiteten Argumente für den Verbleib des Pfarrbenefiziums in den Händen des neuen Koadjutors vor. Doch bei der Anordnung handelte es sich wohl lediglich um einen Fehler der Konsistorialkongregation, den Pacelli umgehend korrigieren ließ. Vgl. Kilian an Pacelli vom 20. April 1930, ebd., Fol. 48rv und Pacelli an Kilian ohne Datum (Entwurf), ebd., Fol. 47bisr. Vgl. Ernennungsbulle Hilfrichs zum Koadjtuor cum iure successionis vom 31. März 1930, in: Amtsblatt des Bistums Limburg Nr. 6 vom 13. Mai 1930. Die Rechtfertigung für die Nomination lautete: „Meine lieben Diözesanen! Seit fast zwei Jahren bin ich krank, und noch immer ist es mir nicht möglich, den Verpflichtungen meines Amtes in ihrem vollen Umfange gerecht zu werden. Daher habe ich den Heiligen Vater unter Darlegung meiner Gesundheitsverhältnisse gebeten, mir einen Koadjutor zu geben, der die mit großer körperlicher Anstrengung verbundenen Pontifikalhandlungen mir abnähme. Der Heilige Vater ist huldvollst auf meine Bitte eingegangen und hat den derzeitigen Stadtpfarrer von Wiesbaden, wie nachstehende Urkunde beweist, zu meinem Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge ernannt. Ich bitte euch, liebe Diözesanen, den Klerus wie das Volk, die Liebe und Anhänglichkeit, die ihr mir in reichem Maße allezeit erwiesen habt, auch auf ihn zu übertragen.“ Ernennung eines bischöflichen Koadjutors von Augustin Kilian vom 12. Mai 1930, in: ebd. Vgl. „Konsekration des Hochwürdigsten Herrn Bischöflichen Koadjutors“, in: Amtsblatt des Bistums Limburg Nr. 7 vom 24. Mai 1930. 63

II.1.8 Limburg 1929/30

Koadjutor währte aber nur wenige Monate. Alle Genesungshoffnungen, die Kilian zum Ausdruck gebracht hatte, wurden enttäuscht, als er am 30. Oktober desselben Jahres verstarb.227 In diesem Augenblick trat Hilfrich die Regierung der Diözese an.228 Feierlich inthronisiert wurde er schließlich am 8. Dezember.229

Ergebnis 1. Den zentralen Fokus bei der Kandidatenwahl legte Pacelli auf die Frankfurter Jesuitenhochschule St. Georgen, näherhin darauf, dass der neue Limburger Oberhirte dieser Institution „keine Schwierigkeiten“ bereiten durfte, sodass die dortige römisch-scholastische Ausbildung der Priesteramtskandidaten reibungslos weitergehen konnte. Hochinteressant ist, dass Pacelli mit Wolf zunächst dezidiert einen Nicht-Germaniker für die Nachfolge Kilians in Betracht zog. Zwar war er überzeugt, dass jemand, der an der päpstlichen Gregoriana seine theologischen Studien absolviert hatte, die Notwendigkeit des entsprechenden Studienbetriebs in St. Georgen verstanden habe. Aber dieses Verständnis war für Pacelli nicht zwingend an eine eigene, jesuitisch-römische Ausbildung gebunden – außerdem hatte Wolf „immerhin“ an dem für Pacelli noch akzeptablen Fuldaer Priesterseminar studiert. Mit anderen Worten: Pacelli hatte keine Schwierigkeiten, die durch die Jesuitenhochschule für ihn vehement an Bedeutung gewonnene Diözese Limburg mit einem Nicht-Germaniker zu besetzen. Er suchte jemanden, der „trotzdem“ den dortigen Lehrbetrieb nicht stören, sondern fördern und unterstützen würde. Derjenige durfte in dieser zentralen Angelegenheit keinesfalls nachgiebig oder „schwach“ sein – wie er es Fendel unterstellte. Indem Pacelli zunächst bewusst von einem Germaniker und damit seinem Ideal absah, folgte er einer „äußeren“ Motivation: Er wollte dem „Verdacht“ auf Seiten des preußischen Staats und der Öffentlichkeit vorbeugen, dass der Heilige Stuhl die Freiheiten des neuen Konkordats nur noch nutzen würde, um ausschließlich in Rom ausgebildeten und stringent nach Rom ausgerichteten Geistlichen die bischöfliche Mitra aufzusetzen. Erst nachdem Pacelli davon überzeugt war, dass Wolf, den er selbst zuvor nicht gekannt hatte, für den „scholastischen Studienbetrieb … kaum einen Sinn“ habe und die Zukunft St. Georgens bei seiner Ernennung ungewiss sei, griff er mit Hilfrich auf einen Germaniker zurück – jedoch nur, weil es seiner Ansicht nach keinen tauglichen Nicht-Germaniker unter dem Limburger Klerus gab. Die politische Opportunität stellte er also 227

228

229

Vgl. „Ableben des Hochwürdigsten Herrn Bischofs Augustinus“, in: Amtsblatt des Bistums Limburg Nr. 13 vom 30. Oktober 1930. Zu diesem Anlass erhielt er am 25. November ein Gratulationsschreiben von Kardinalstaatssekretär Pacelli im Auftrag des Papstes, in: Amtsblatt des Bistums Limburg Nr. 17 vom 29. Dezember 1930. Vgl. „Feier der Inthronisation Seiner Bischöflichen Gnaden“, in: Amtsblatt des Bistums Limburg Nr. 15 vom 29. November 1930. 64

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vor diesem Hintergrund zurück, sorgte sich jedoch um eine vorsichtige Umsetzung des Plans (vgl. Nr. 2). Ein wesentlicher Grund für Pacellis Fixierung auf einen Limburger Geistlichen bestand sicherlich darin, dass Kilian der Regierung schwerlich suggerieren konnte, einen externen Kandidaten zu seiner Unterstützung ausersehen zu haben. Dem Wiesbadener Pfarrer schrieb Pacelli abgesehen von einer Affinität gegenüber St. Georgen und der Societas Iesu eine gesunde Theologie zu, eine „außergewöhnliche Begabung“, eine enge Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl, ein hohes Ansehen innerhalb der Diözese, einen gewandten Umgang mit den weltlichen Behörden und eine absolut integre Lebensführung. Wenngleich es Pacelli also gelang, einen Koadjutor zu installieren, der haargenau in sein Profil passte, so war Hilfrich doch in gewisser Weise eine Notlösung, insofern er ihn eigentlich für die Nachfolge Schreibers in Meißen in Aussicht genommen hatte. Andererseits gehörte Hilfrich für Pacelli schon seit langem zur Gruppe episkopabler Kandidaten. Seit 1920 hatte er ihn im Auge behalten: Bereits damals war er von den skizzierten Qualitäten des Pfarrers überzeugt gewesen, sodass er ihn für den Posten des Koadjutors in Mainz und kurz darauf für die Erstbesetzung der neuen Meißener Diözese ins Auge gefasst hatte. Wenngleich dies jeweils nicht realisiert wurde, so hielt ihn Pacelli doch in der Hinterhand, um bei späterer Gelegenheit – wie im aktuellen Fall – auf ihn zurückzugreifen. 2. Der Grund für Pacellis Intention, einen Koadjutor cum iure successionis entsprechend Artikel 7 des neuen Konkordats zu installieren, ist schnell einsichtig: Auf diese Weise hatte der Heilige Stuhl die Besetzung vollständig in der Hand und konnte „im Hinblick auf die Lage der dortigen Lehranstalt“ einen Geistlichen ernennen, ohne dass der Unsicherheitsfaktor einer Domkapitelswahl gemäß Artikel 6 des Konkordats in Kauf genommen werden musste. Insofern kam dem Nuntius Kilians Bitte um einen Weihbischof sehr gelegen. Diesen Vorschlag „modifizierte“ Pacelli zur Koadjutorvariante, wodurch er dem Oberhirten zwar die gewünschte Unterstützung gewährte, allerdings ohne das spezifische Interesse Kilians zu berücksichtigen. Auch als dieser anschließend einen gewissen Widerstand gegen die Koadjutoridee leistete, rückte Pacelli nicht von seinem angestrebten Modus ab. Entsprechend seiner Zielrichtung konnte er einen Weihbischof auch gar nicht befürworten: Ihm ging es nämlich überhaupt nicht um die Einsetzung eines Koadjutors – im Wortsinn als Unterstützung Kilians –, sondern einzig um das iure successionis, nämlich den künftigen Diözesanbischof. Er wollte die Gelegenheit, für die Zukunft St. Georgens mit einem passenden Oberhirten zu sorgen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Das eigentliche Anliegen Kilians war Pacelli zweitrangig, wobei nicht übersehen werden darf, dass er mit Hilfrich schlussendlich einen Kandidaten fand, der dem Limburger Bischof absolut genehm war. Zur Frage nach dem Besetzungsmodus gehört auch die praktische Umsetzung des Plans, an der man ausgezeichnet Pacellis Bemühen ablesen kann, die theoretisch-ideelle Seite – den Germaniker Hilfrich einzusetzen – mit den praktischen Begebenheiten – den erwarteten Widerstand 65

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Preußens gegen einen weiteren „Römer“ – in Einklang zu bringen. Seine Lösung des Problems folgte der Leitlinie: den Heiligen Stuhl als handelnden Akteur nach außen hin nicht sichtbar werden zu lassen, denn wenn schon – wie zuvor in Berlin – ein „römischer“ Theologe den Limburger Bischofsstuhl besteigen sollte, dann durfte dies nicht auch noch von Rom aus gesteuert sein. Wenn ein deutscher Oberhirte einen solchen Wunsch äußerte, war mit weniger Gegenwind preußischer Provenienz zu rechnen. Dann zog der Vorwurf nicht, Rom würde die neuen konkordatären Freiheiten knallhart in seinem Sinne ausnutzen. Deshalb gab Pacelli Kilian die genaue Instruktion, „wie von sich aus und ohne jede Erwähnung des bisher in der Angelegenheit geschehenen Briefwechsels in offizieller Form eine Bittschrift an den Heiligen Vater“ zu senden. Dadurch entstand – wie von Pacelli beabsichtigt – nach außen hin und vor allem im preußischen Kultusministerium, dem das Schreiben anschließend vorgelegt wurde, der Eindruck, eigentliche Triebfeder hinter dem Ganzen sei Kilian gewesen. Verständlicherweise ist die Forschung bisher von dieser Annahme ausgegangen.230 Die vatikanischen Quellen dokumentieren das Gegenteil. Folgerichtig war es auch Kilians Aufgabe, Hilfrich von der bevorstehenden Nomination zu unterrichten. Nach politischen Bedenken der preußischen Staatsregierung musste laut Artikel 7 des Konkordats dann aber doch der Heilige Stuhl fragen. Angesichts seiner Leitlinie kam es Pacelli gewiss nicht ungelegen, dass es zu diesem Zeitpunkt in Berlin keinen Nuntius gab und er diese Aufgabe an den formal wenig bedeutenden Geschäftsträger delegieren konnte – dies suggerierte, der Heilige Stuhl messe der Koadjutoreinsetzung nur geringfügige Bedeutung bei. 3. In formal-rechtlicher Hinsicht war der preußische Staat nur vermittelst des politischen Bedenkenrechts gemäß der Vorgabe des Konkordats an der Einsetzung des Koadjutors beteiligt. Interessant ist, dass Pacelli in gleichsam vorauseilender Nachgiebigkeit die vorausgeahnte Reaktion der Regierung und der Öffentlichkeit auf einen neuen Germaniker-Bischof in seine Kandidatenüberlegungen mit einbezog. Zwar war das Preußenkonkordat bereits abgeschlossen, dennoch war der Diplomat weiterhin um ein gutes Verhältnis des Heiligen Stuhls zu Preußen, genauer: um ein gutes Bild des Heiligen Stuhls in Preußen, bemüht. Er glaubte, dass Regierung und Öffentlichkeit besonders sensibel auf die ersten Anwendungen des neuen Kontrakts achten würden und wollte den „Romanisierungs“-Vorwürfen der Konkordatsgegner keine Nahrung geben.231 Daher 230

231

Vgl. zum Beispiel: „Für seinen Nachfolger hatte Bischof Augustinus noch selbst gesorgt.“ Kampe u. a. (Hg.), Weg, S. 22. Vgl. ebenso Schatz, Limburg, S. 224. Insbesondere von protestantischer Seite war bereits die Errichtung des Bistums Berlin äußerst kritisch beäugt worden. Der Generalsekretär des „Evangelischen Bundes“ in Berlin etwa, Georg Arndt, bezichtigte den Heiligen Stuhl, dasselbe als römisches Propagandainstrument zu verwenden. Vgl. Arndt, Vordringen. Vgl. auch Höhle, Gründung, S. 176–184; May, Kaas 2, S. 431–433. Nachdem er dort bereits einen Germaniker als Oberhirten installiert hatte, befürchtete Pacelli umso mehr Invektiven, wenn diese Praxis bei den folgenden Besetzungen unvermindert weiterging. 66

II.1.8 Limburg 1929/30

war Pacelli so vorsichtig, zunächst von seinem Ideal eines in Rom ausgebildeten Geistlichen abzusehen, später dann die Situation durch die suggerierte Teilnahmslosigkeit des Heiligen Stuhls zu entschärfen. Ob die letztgenannte Strategie letztlich die tatsächliche, positive Reaktion des Kultusministeriums beeinflusste, kann auf Basis der vatikanischen Quellen nicht gesagt werden. Fakt ist zumindest, dass die präzisen Anweisungen Pacellis für Centoz zur Frage nach dem Residenzort überflüssig waren. Schlussendlich wird man festhalten müssen, dass Pacelli aus diplomatischem Beweggrund der Regierung implizit mehr Einfluss auf den Besetzungsfall gewährte, als ihr rechtlich zustand. 4. Als zentrale Informanten Pacellis treten im Limburger Fall die beiden Jesuiten Klein und Kösters in Erscheinung, das heißt der Rektor und Ex-Rektor von St. Georgen. Angesichts der klaren Ausrichtung, einen Bischof zu finden, welcher der Jesuitenhochschule vollkommen gewogen war, ist diese Wahl des Nuntius evident und folgerichtig. Da Klein erst wenige Monate im Amt war, drängte Pacelli darauf, dass jener sich mit seinem Vorgänger über die Kandidaten- und Modusfrage verständigte. Kösters kannte er gut, hatte er doch mit ihm im Kontext der Neugründung St. Georgens an einem Strang gezogen.232 Dass Pacelli den beiden Jesuiten vorbehaltlos vertraute, lässt sich nicht nur daran ablesen, dass er ihnen seinen Koadjutor-Plan offenbarte, sondern ihnen sogar das vertraulich-intime Bittschreiben Kilians übersandte, was dieser gewiss nicht gutgeheißen hätte. Auf der anderen Seite verlor der Nuntius aber in keiner Weise sein eigenständiges Urteil, insofern er ihr Votum für den Subregens Pappert ablehnte und sich für Wolf entschied. Die Jesuiten hatten offenbar überhaupt nicht mit einer solchen Entscheidung des Nuntius gerechnet und versuchten schleunigst nachzubessern. Der sich anschließende doppelte Rückzieher – zum einen hielten sie Wolf plötzlich doch nicht mehr für geeignet, zum anderen war der bisherige Favorit Pappert auf einmal ebenso non grata – demonstriert, dass sie nur partiell qualifiziert waren, ein inhaltliches Urteil über die Kandidaten abzugeben. Ob Pacellis Vertrauen durch das alles andere als geradlinige zweite Gutachten der beiden Jesuiten erschüttert wurde, sei dahingestellt. Was wäre passiert, wenn er darauf verzichtet hätte, ergänzende Informationen über Wolf einzuholen und den Jesuiten damit keine Gelegenheit geboten hätte, ihr früheres Urteil zu revidieren? Wortwörtlich auf einem Spaziergang entschied sich ihr Eintreten für Hilfrich und damit in gewisser Weise der gesamte Besetzungsfall. Allerdings verließ sich Pacelli nicht nur auf das Urteil der beiden Jesuiten, wenngleich er anschließend – soweit quellenmäßig verifizierbar – keine weiteren Informanten mehr kontaktierte. Denn abgesehen davon, dass er Hilfrich bereits seit 1920 kannte, hatte er zuvor im Kontext der Wiederbesetzung des Meißener Bischofsstuhls bei Kilian als dessen Ordinarius bereits ein Gutachten eingeholt. Darüber hinaus hatte er sich im gleichen Zuge beim scheidenden Meißener 232

Vgl. Unterburger, Lehramt, S. 358–362. 67

II.1.8 Limburg 1929/30

Oberhirten Schreiber der hohen Wertschätzung für den vermeintlichen Nachfolger an der Spitze des sächsischen Bistums versichert. Beide Diözesanbischöfe sind somit als weitere Informanten zu rechnen. Auf dieser Basis hielt Pacelli weitere Voten nicht mehr für erforderlich. 5. Pacelli war die vollumfänglich maßgebliche Instanz für den Verlauf und den Ausgang der causa Limburg: Er entschied nicht nur über den Koadjutor-Modus, sondern wählte auch den Kandidaten aus. Erst nachdem er beides fixiert hatte, berichtete er dem Kardinalstaatssekretär und zwar in stringent-argumentativer Ausrichtung auf seinen Plan. Das Bittschreiben Kilians an den Papst hielt er bis dahin zurück, immerhin über einen Zeitraum von fünf Wochen! Damit war dessen Bitte um einen Weihbischof bereits obsolet, bevor das Schreiben seinen Adressaten überhaupt erreichte: Pacelli nahm ihm damit bewusste jede Chance, in Rom unkommentiert und damit frei wirken zu können. Er wollte nicht, dass Pius XI. und Gasparri der Bitte entsprachen und sorgte dafür, dass sie es praktisch nicht konnten, indem er dieselbe mit der Thematik St. Georgen verknüpfte und damit gänzlich neu gewichtete. Von der römischen Kirchenleitung erhielt der Nuntius völlig freie Hand, nicht einmal einer Rückfrage oder kritischen Anmerkung musste er sich stellen. Aufschlussreich für das Amtsverständnis Pacellis ist die Mitteilung der „kurialen“ Entscheidung der causa an den Limburger Bischof: Es „glaubt der Heilige Vater, dessen weisem Ermessen Euer Bischöflichen Gnaden die Art der Lösung … überlassen haben …“. Möchte man diese Formulierung nicht als reine Rhetorik abtun, so muss man zur Kenntnis nehmen, dass Pacelli hier seine eigene und völlig selbständig angefertigte – obgleich von Pius XI. approbierte – Lösung ziemlich exponiert als die „weise“ Entscheidung des Papstes hinstellte. Damit signalisierte er nichts weniger, als dass er als Stellvertreter des Pontifex in Einheit mit diesem, ja praktisch in Personalunion handelte. Das hohe Selbstbewusstsein, dass sich in Pacellis Lenkung des Falls – auch gegenüber der Kurie – widerspiegelt, speiste sich also keineswegs „nur“ aus dem Bewusstsein um die persönlichen Fähigkeiten, sondern dezidiert aus dem Wissen um die eigene Sendung in der Vollmacht des Papstes. Ein besonderes Kennzeichen des Limburger Falls bestand schließlich darin, dass Pacelli noch vor dessen Abschluss als Berliner Nuntius abgezogen und an die Spitze des römischen Staatssekretariats beordert wurde. In der Zwischenzeit – zwischen der offiziellen Abberufung am 9. Dezember 1929 und dem offiziellen Amtsantritt am 7. Februar 1930 – war Pacelli streng genommen weder Nuntius noch Staatssekretär. Dennoch führte er den Fall informell von Rom aus ununterbrochen weiter und zwar mit voller Aufmerksamkeit, wie seine detaillierte Lösung zur Unterhaltsund Unterkunftsfrage des neuen Koadjutors zeigt. Nach seinem offiziellen Amtsantritt kam es für Pacelli zudem nicht infrage, auf den neuen Berliner Nuntius zu warten. Abgesehen davon, dass dies die Einsetzung des Koadjutors gefährdet hätte – was wäre, wenn Kilian unterdessen starb? –, wollte Pacelli die Angelegenheit wohl zügig in seinem Sinne zum Abschluss bringen. Zwischen seiner Tätigkeit als Nuntius und als Staatssekretär lässt sich kein Unterschied feststellen. In glei68

II.1.9 Ermland 1930 II.1.9 Ermland 1930

cher Manier gab er Kilian ganz präzise Instruktionen für das verlangte offizielle Bittschreiben und instruierte Centoz für eine eventuelle Auseinandersetzung mit der preußischen Regierung. Es war also gewissermaßen der Staatssekretär, der jetzt agierte wie der Nuntius, wie vorher der Nuntius mit der gleichen Entschiedenheit des Staatssekretärs aufgetreten war. Das Staatssekretariat war die einzig maßgebende kuriale Instanz, während man etwa in der Konsistorialkongregation im April 1930 die gravierenden rechtlichen Änderungen durch das Preußenkonkordat noch nicht zur Kenntnis genommen hatte.

II.1.9 Zweisprachigkeit, Diaspora und Priesterausbildung – Die erste Bischofswahl nach dem Preußenkonkordat: Ermland 1930 (Maximilian Kaller)233 Der Tod von Bischof Augustinus Bludau Ermland gehörte zu den kleinsten Bistümern in Preußen.234 Es lag nach den Grenzveränderungen des Ersten Weltkriegs, denen 1922 die Bistumsgrenzen angeglichen worden waren, vom Rest des Territoriums des Deutschen Reiches sehr isoliert. Mit dem Preußenkonkordat verlor es seine Exemtion und wurde der Breslauer Kirchenprovinz inkorporiert. Frauenburg war die Bischofsstadt der Diözese. Bischof Augustinus Bludau, der seit 1909 das Bistum Ermland regierte, starb unerwartet am 9. Februar 1930. Domkapitular und Generalvikar August Spannenkrebs, der vom Ermländer Domkapitel tags darauf zum Kapitularvikar gewählt wurde, zeigte den Tod Bludaus der Berliner Nuntiatur an.235 Geschäftsträger Centoz telegraphierte die Trauermeldung umgehend an das Staatssekretariat.236 Der ehemalige Nuntius Pacelli war bereits am 9. Dezember 1929 aus Berlin abberufen, am 16. Dezember zum Kardinal kreiert und am 7. Februar 1930 in der Nachfolge Gasparris zum Kardinalstaatssekretär erhoben worden. Der neue päpstliche Gesandte in 233

234

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Ermland 1930 Bendel/​Karp, Bischof, S.  145–150; Brandt, Kaller, S. 81; Gatz, Besetzung, S. 214–222, der jedoch nur die vatikanischen Akten aus dem Archiv der AES verwendet und die Unterlagen aus dem Nuntiaturarchiv ignoriert; Ders., Bischofswahlen, S. 152f.; Hartelt, Piontek, S. 161f.; Reifferscheid, Ermland, S. 12–14; Rösgen, Kaller, S. 347f.; Speckner, Wächter, S.  116f.; Wojtkowski, Dzieje, S.  59–61. Für die Übersetzung dieses polnischen Textes bedanke ich mich bei Hw. Markus Thomalla sehr herzlich. Vgl. zur Bistumsgeschichte Gatz, Bistum Ermland; Reifferscheid, Ermland; Stasiewski, Errichtung, S. 91–94; Wermter, Geschichte. Vgl. Spannenkrebs an die Nuntiatur vom 10. Februar 1930, ASV, ANB 48, Fasz. 8, Fol. 2r; Todesanzeige Bludaus vom 9. Februar 1930, ebd., Fol. 1r. Vgl. Centoz an das Staatssekretariat vom 10. Februar 1930 (Entwurf), ASV, ANB 48, Fasz. 8, Fol. 3r. 69

II.1.9 Ermland 1930

Berlin wurde der bisherige Nuntius in Ungarn, Cesare Orsenigo. Am 25. April trat er sein Amt an, am 2. Mai legte er sein kuriales Bestätigungsschreiben dem deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vor.237 In der Zwischenzeit, vor der Übernahme der Amtsgeschäfte durch Orsenigo, erledigte Centoz die laufenden Angelegenheiten der Nuntiatur. Umgehend kondolierte er den Ermländer Domherren und nahm am 13. Februar an der Bestattung ihres verstorbenen Oberhirten teil.238

Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels Pacelli war also schon wenige Tage nach der Übernahme seines neuen Amtes innerhalb der römischen Kurie wieder mit einer Sedisvakanz in seiner alten Wirkungsstätte konfrontiert. Er wies Centoz an, ein geheimes Zirkularschreiben an die preußischen Bischöfe zu senden und sie aufzufordern, dass „jeder getrennt einen oder mehr Kandidaten mit allen nötigen Informationen“239 für die Nachfolge Bludaus vorschlage. Auch das Ermländer Kapitel sollte eine Kandidatenliste anfertigen. Sämtliche Unterlagen müssten dann – so Pacelli – an die Nuntiatur gesandt und von dort schließlich „mit den entsprechenden Anmerkungen“240 nach Rom geschickt werden. Alles stellte er unter die strengste Diskretion und das secretum Sancti Officii. Der neue Kardinalstaatssekretär verlangte demnach nichts anderes, als was das Preußenkonkordat in Artikel 6 für das Prozedere der Wiederbesetzung eines erledigten Bistums vorsah.241 Durch das Konkordat gab es jetzt wieder ein klares rechtliches Fundament für die Besetzung der Bischofsstühle. Die Besetzung des neu errichteten Bistums Berlin mit Schreiber am 7. Oktober 1929 – auch wenn streng genommen seine eigentliche Erhebung zum Diözesanbischof erst nach der kanonischen Aufrichtung der Diözese am 13.  August 1930 stattfand  – war noch auf provisorischem Wege vorgenommen worden. In Limburg wurde praktisch parallel zum Ermländer Fall am 31. März 1930 Hilfrich als Koadjutor eingesetzt. Zum ersten Mal also sollte nun das „ordentliche“ Besetzungsverfahren Anwendung finden. 237 238

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Vgl. Sauser, Orsenigo. Vgl. Centoz an Spannenkrebs vom 10. Februar 1930 (Entwurf), ASV, ANB 48, Fasz. 8, Fol. 4r; Dankesschreiben des Kapitels für die Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten an Centoz vom 15. Februar 1930, ebd., Fol. 5r. „… ognuno separatamente uno o più candidati con tutte le necessarie informazioni.“ Pacelli an Centoz vom 14. Februar 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 44r. „… con opportune osservazioni …“ Pacelli an Centoz vom 14. Februar 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 44r. Vgl. Art. 6 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. 70

II.1.9 Ermland 1930

Am 20. Februar versicherte der Geschäftsträger der Berliner Nuntiatur seinem Vorgesetzten, die Anweisung ausgeführt und den Episkopat sowie das Ermländer Kapitel gebeten zu haben, Geistliche zu bezeichnen, „die sie vor dem Herrn am würdigsten und geeignetsten erachten“242. Centoz wollte allerdings nur als Vermittler fungieren und keine eigene inhaltliche Tätigkeit leisten, die er in Pacellis Anweisung erblickte, die vorgeschlagenen Geistlichen mit „den entsprechenden Anmerkungen“ an die Kurie zu übersenden. Offenbar traute sich der Geschäftsträger diese Aufgabe nicht zu. Deshalb insistierte er darauf, dass er die eingeholten Vorschläge nur mit jenen Anmerkungen nach Rom übersenden werde, welche die Bischöfe und das Kapitel selbst den jeweiligen Namen beifügen würden. In den folgenden sechs Wochen liefen die Antworten der Bischöfe und des Kapitels in der Berliner Nuntiatur ein. In chronologischer Abfolge lauteten die Kandidatenvorschläge wie folgt: 1. Augustinus Kilian aus Limburg schlug nur einen Geistlichen vor: Berthold Merkel (42 Jahre alt) aus seinem Domkapitel.243 Zwar könne dieser keine außergewöhnlichen Fähigkeiten vorweisen, zeichne sich jedoch durch einen „guten Charakter und herzliche Liebenswürdigkeit“244 aus. Seine philosophisch-theologischen Studien habe er im Fuldaer Seminar absolviert, anschließend 242

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„… che stimerà coram Domino più degni e più idonei …“ Centoz an Pacelli vom 20. Februar 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 47rv, hier 47r. Allerdings stimmte die Behauptung, Pacellis Anweisung erfüllt zu haben, zu diesem Zeitpunkt nur teilweise. Zwar ist der Entwurf des Zirkularschreibens nicht im Nuntiaturarchiv überliefert, aber aus den Antworten ergibt sich, dass Centoz am 20. des Monats nur einen Teil der Bischöfe anschrieb (Köln, Trier, Paderborn und Breslau), den übrigen Teil erst vier Tage später (Limburg, Münster, Osnabrück, Fulda, Berlin und Hildesheim). Wann er darüber hinaus die Kandidatenliste von den Ermländer Domherren einforderte, geht aus deren Antwortschreiben nicht hervor. Wie diese zeitliche Divergenz zustande kam, ob sie zum Beispiel aus einem Versehen oder dem Geschäftsgang der Nuntiatur resultierte, muss offen bleiben. Den Genannten hatte Kilian schon wenige Monate vorher für den von ihm gewünschten Posten eines Limburger Weihbischofs in Erwägung gezogen. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.8 (Ein Weihbischof für Bischof Augustinus Kilian?). Eigentlich wollte der Oberhirte überhaupt keinen Geistlichen aus seiner Diözese an Ermland abgeben. Der Grund bestand für ihn in einem Mangel an Priestern, der wiederum seine Ursache in der Verlängerung der Studiendauer habe. Vgl. zu seiner Sorge auch Bd. 4, Kap. II.4.2 (Pacellis Vorausschau: Antonius Hilfrich für den Meißener Bischofsstuhl?). Die Studiendauer hatte der Geheimerlass der Studienkongregation vom 9. Oktober 1921 angeordnet, der für die Alumnen gemäß dem kirchlichen Gesetzbuch (Can. 1365) das sechsjährige Studium (zwei Jahre Philosophie und vier Jahre Theologie) vorschrieb. Vgl. Unterburger, Lehramt, S. 285f. Auch ermögliche es ihm sein Gesundheitszustand nicht – Kilian starb Ende Oktober des Jahres –, einen Mitarbeiter zu entbehren. Darüber hinaus riet Kilian davon ab, einen Rheinländer, dessen Naturell nicht zu dem der Ostpreußen passe, dem Ermländer Bistum voranzustellen. Vgl. Kilian an den Nuntius [sic, R.H.] vom 28. Februar 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 1rv. „… bona indole mentis et amabilitate cordis …“ Kilian an den Nuntius [sic, R.H.] vom 28. Februar 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 1r. 71

II.1.9 Ermland 1930

verschiedene Pfarrstellen inne gehabt, sei dann Kanoniker geworden und habe sich durch Eifer für den Herrn und die Seelen sowie durch eine gute Rednertätigkeit hervorgehoben. 2. Ebenfalls nur einen Namen nannte Bischof Johannes Poggenburg aus Münster: den gebürtigen Berliner und Rektor des Münsteraner Kollegium Borromäum, Robert Melcher (55-jährig).245 Mit der Auszeichnung summa cum laude zum Doktor der Theologie promoviert, sei er nach seiner Priesterweihe (1904) 20 Jahre in der Seelsorge tätig gewesen bis er das leitende Amt im Konvikt übernommen habe. Hinsichtlich Frömmigkeit, Religiosität und Lebenswandel sei er immer vorbildlich gewesen. 3. Gleich drei Geistliche hielt der Kölner Erzbischof, Karl Joseph Schulte, für geeignet: a) Zunächst den Kanoniker Franz Sawicki, Päpstlicher Hausprälat und Professor im Kulmer Priesterseminar.246 Obwohl Sawicki, der immer Priester der Kulmer – also in Polen gelegenen – Diözese gewesen sei, nach dem Ersten Weltkrieg seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren habe, glaubte Schulte nicht, dass die preußische Regierung Einwände politischer Natur gegen ihn vorbringen würde. Vielmehr sei Sawicki ein unpolitischer Mann und ein gegenüber der legitimen Regierung aufrichtiger Bürger. Seine Muttersprache sei deutsch, freilich spreche er auch perfekt polnisch.247 b) Die zweite persona idonea war Pater Raymund Dreiling OFM aus der sächsischen Ordensprovinz.248 Nach seiner Tätigkeit als Provinzialminister der Franziskaner in Düsseldorf sei er Philosophieprofessor im Dorstener Konvent des Ordens (Diözese Münster) geworden: „Er ist ein bedeutender Wissenschaftler, ein vorbildlicher Religiose, ausgesprochen erfahren und qualifiziert in der Seelsorge.“249 Er habe gehört – so Schulte –, dass anlässlich der letzten Wahl des Generalministers des Franziskanerordens ein großer Teil der Wähler für Dreiling votiert habe.250 Auch beim Säkularklerus sei er sehr geschätzt. Seine administrativen Fertigkeiten, seine zurückhaltende und offene Höflichkeit, seine guten Manieren, seine Menschenkenntnis und besondere Frömmigkeit gäben ein beredtes Zeugnis für seine Eignung zum Diözesanbischof, insbesondere für das Bistum Ermland. c) Schließlich benannte Schulte den Münchener Domherrn Konrad Graf von Preysing. Die alte Familie der Preysings, aus welcher der Kandidat stamme, habe sich um die katholische Kirche in Bayern sehr verdient gemacht. Eine kurze Zeit sei er im deutschen diploma245 246 247

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Vgl. Poggenburg an Centoz vom 2. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 2r. Vgl. Schulte an Centoz vom 7. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 6r–7r. Schulte fügte seinem Schreiben Sawickis Autobiographie bei, weshalb er auf die Nennung von biographischen Stationen verzichtete. Vgl. Sawicki, Autobiographie. Vgl. zur sächsischen Ordensprovinz vom Heiligen Kreuz Anfang der 1930er Jahre Heimbucher, Orden, S. 765–767. „È un significante scienziato, un regolare exemplare, eminentemente esperto e pratico nella cura dʼanime.“ Schulte an Centoz vom 7. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 6v. Die letzte Wahl des Generalministers erfolgte 1927. Gewählt wurde Bonaventura Marrani. Vgl. zu ihm Bieger, Ordensstudium, S. 38 Anm. 147. 72

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tischen Dienst tätig gewesen, habe dann Theologie studiert und nach seiner Priesterweihe dem früheren Münchener Erzbischof, Franz von Bettinger, als Sekretär zur Seite gestanden. Dessen Nachfolger Michael von Faulhaber habe Preysing zum Domprediger und Domkapitular ernannt. Gleichzeitig habe der Graf in der erzbischöflichen Kurie mitgearbeitet. Ähnlich wie seine beiden Brüder sei er – so Schulte – ein vorbildlicher Priester, sympathisch und gewandt. Deshalb war der Kölner Kardinal überzeugt, dass er die schwierige Stellung des Ermländer Diözesanbischofs meistern würde. 4. Der Trierer Oberhirte Franz Rudolf Bornewasser gab schmerzlich zu, dass er keinen Kandidaten kenne, den er vor Gott als entsprechend würdig und geeignet für die Leitung der Ermländer Diözese einschätze.251 Aus dem ermländischen Klerus sei ihm nur Dompropst Karl Eschweiler ein Begriff, der kürzlich zum Theologieprofessor in Braunsberg ernannt worden sei – an der staatlichen Akademie in Braunsberg fand die Priesterausbildung der Diözese statt.252 Jedoch wollte Bornewasser die Eignung Eschweilers für den fraglichen Posten nicht bestätigen. Er sei über den Stand und die Bedürfnisse der dortigen Kirche nicht im Bilde und daher nicht in der Lage, qualifiziert Priester aus seiner eigenen oder einer anderen Diözese vorzuschlagen. 5. In einer ähnlichen Situation befand sich Bischof Wilhelm Berning aus Osnabrück.253 Angesichts seiner mangelnden Kenntnisse über die entfernte östliche Diözese schlug er nur den Apostolischen Administrator in Schneidemühl, Maximilian Kaller, vor: „Er ist ein würdiger und erfahrener Priester, der durch ein reines Leben und außerordentlichen Eifer für die Seelen hervorragt und die Verhältnisse in Ostdeutschland gut kennt.“254 6. Mit mehr Enthusiasmus ging Kaspar Klein aus Paderborn zu Werke, obgleich er auch nur ein Votum abgab: Eindringlich empfahl er den 1926 zu seinem Weihbischof erhobenen Johannes Hillebrand (56 Jahre alt).255 Er sei „wahrlich ein hervorragender Mann, mit allen priesterlichen Tugenden ausgezeichnet“256, und besonders bestrebt, das christliche Liebeswerk voranzubringen. So habe er zwei Jahre lang sehr erfolgreich für den Bonifatiusverein gearbeitet und Priester wie Gläubige in der Diaspora unterstützt. 7. Am 25. März replizierte der Fuldaer Oberhirte Damian Schmitt, allerdings nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage.257 Unklarheit herrschte bei ihm über die Nummer 2 des 6. Konkor251 252 253 254

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Vgl. Bornewasser an Centoz vom 7. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 8r. Vgl. Gatz, Bistum Ermland, S. 245. Vgl. Berning an Centoz vom 9. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 9r. „Hic est sacerdos dignus et peritus, puritate vitae et zelo animarum praestans, qui res in Germania Austriali [sic, R.H.] bene cognoscit.“ Berning an Centoz vom 9. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 9r. Vgl. Klein an Centoz vom 20. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 11rv. „… est vir egregius profecto, omnibus virtutibus sacerdotalibus insignis …“ Klein an Centoz vom 20. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 11r. Vgl. Schmitt an Centoz vom 25. März 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 12r. 73

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datsartikels zur Bischofswahl: „Bei der Aufstellung der Kandidatenliste und bei der Wahl wirken die nichtresidierenden Domkapitulare mit.“258 Schmitt wollte wissen, ob damit nur die nichtresidierenden Domkapitulare der vakanten Diözese gemeint waren oder auch die Kanoniker der übrigen preußischen Bistümer. Mit anderen Worten: Er wusste nicht, ob er die Kandidatenvorschläge allein oder gemeinsam mit seinem Domkapitel ausarbeiten sollte. Nachdem ein paar Wochen später der neue Nuntius Orsenigo in sein Amt eingeführt war, reagierte dieser auf die Anfrage des Fuldaer Bischofs mit der Erklärung, dass die Nuntiatur alle preußischen Oberhirten auffordere, Vorschläge von geeigneten Priestern für den vakanten bischöflichen Stuhl in Ermland einzureichen.259 Auf die eigentliche Frage zur Rolle der Domkapitulare bei der Aufstellung der bischöflichen Listen ging er mit keiner Silbe ein. Zwar sagte Orsenigo expressis verbis, dass er vom Fuldaer Bischof Vorschläge erwartete, sodass man implizit den Ausschluss einer Verständigung zwischen Bischof und Domkapitel herauslesen könnte. Aber auch mit dieser wohlwollenden Interpretation war das keine Antwort, die völligen Aufschluss gab. Dennoch legte Schmitt Ende Mai zwei Namen vor: Für würdig befand er den Wiesbadener Pfarrer Hilfrich.260 Biographische Angaben oder Charakteristika fügte er nicht hinzu, wohl weil sich Schmitt nicht sicher war, ob der Genannte wirklich infrage komme, da – wie er soeben erfuhr – Hilfrich vor kurzem zum Koadjutor cum iure successionis des Limburger Bischofs Kilian ernannt worden sei. Aus dem ermländischen Klerus sei ihm nur Domkapitular Franz Schröter bekannt, der über den Zeitraum von sechs Jahren seine Studien am römischen Germanicum absolviert habe.261 Allerdings stehe dieser bereits in den Mittsiebzigern. Weitere Kandidaten – auch aus anderen Diözesen –, die man empfehlen könne, kenne er nicht. War nun dieser kurze Hinweis auf Schröter tatsächlich als ein Kandidatenvorschlag gedacht? Wenngleich es sich um kein überzeugendes Votum handelte, wurde er von Schmitt doch zumindest namentlich genannt. Orsenigo verstand die Erwähnung Schröters jedenfalls nicht in diesem Sinne. Deshalb trug er Pacelli später nur den ersten Vorschlag des Fuldaer Bischofs vor.262

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Art. 6, Nr. 2 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Vgl. „Cum candidatos, qui ad regendam Varmiensem Ecclesiam ut digni a Rev.mis Borussiae Episcopis proponuntur, Sanctae Sedi indicare urgeat, audet Nuntiatura Apostolica Amplitudinem Tuam rogare, ut quos sacerdotes ad hunc finem magis idoneos iudicaverit, benigniter quam primum ipsi notos facere faveat.“ Orsenigo an Schmitt vom 7. Mai 1930 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 20r. Vgl. Schmitt an Orsenigo vom 30. Mai 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 22r. Schmitt merkte außerdem an, dass Schröter Dompropst in Ermland sei, was jedoch nicht korrekt war. Der Genannte war vielmehr vor seiner Inkardination in die Diözese Ermland 1921 Dompropst in Pelplin gewesen. Vgl. dazu etwa Gasparri an Pacelli vom 28. Mai 1921, ASV, ANB 46, Fasz. 4, Fol. 57r sowie Pacelli an Gasparri vom 15. September 1921, S.RR.SS., AA.EE.SS., Polonia, 1920–1921, Pos. 108, Fasz. 78, Fol. 63r. Vgl. Orsenigo an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 84r. 74

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8. Der Breslauer Kardinal Adolf Bertram stellte für die Auswahl des passenden Kandidaten drei Kriterien auf. Es müsse ein Priester gefunden werden, „der nicht nur in der Seelsorge und den Verwaltungsaufgaben durch Erfahrung wahrhaft erprobt ist, sondern sich auch durch Sprachfähigkeit auszeichnet, insbesondere der deutschen und polnischen Sprache.“263 Aber auch Bertram sah sich nicht in der Lage, den Ermländer Klerus unter diesem Maßstab beurteilen zu können, mit Ausnahme des ihm langjährig bekannten und derzeitigen Kapitularvikars Spannenkrebs. Klugheit und Aufrichtigkeit waren die Attribute, die er ihm zusprach. Aus seiner eigenen Diözese fügte Bertram einen weiteren Kandidaten hinzu: den Domkapitular und Doktor der Theologie Ferdinand Piontek (52 Jahre alt). Nach seiner Priesterweihe (1903) sei dieser als Pfarrer in der Provinz Pommern, als Breslauer Domherr, als Kurialrat und als Vorsitzender des Diözesanvorstands des Bonifatiusvereins tätig gewesen. Bei all diesen Aufgaben habe er sich stets hervorgetan durch „Aufrichtigkeit des Glaubens, Heiligkeit der Sitten, unermüdlichen Arbeitseifer und in den Verwaltungspflichten durch Klugheit und Tüchtigkeit“264. Den Sprachanforderungen werde er gerecht. Alles in allem – so Bertram – könne über seine Eignung kein Zweifel bestehen. 9. Die Kandidatenliste des Ermländer Domkapitels folgte einer anderen Form als die Vorschläge der Bischöfe.265 Sie umfasste fünf Namen, die jeweils nur durch einen tabellarischen Lebenslauf, nicht aber durch Wertungen oder Charaktereigenschaften konturiert wurden. Es liegt auf der Hand, dass die absoluten Informationen der Vita das einzige waren, was ein Gremium, das seine Vorschläge via Abstimmung zusammenstellen musste, bieten konnte. Die Kandidaten entstammten allesamt dem Ermländer Klerus, die ersten vier gehörten dem Domkapitel an. Es handelte sich um den bereits genannten Kapitularvikar Spannenkrebs (74-jährig), die Kanoniker Andreas Hinzmann (66-jährig) und Kunibert Krix (63-jährig), den Erzpriester und Ehrenkanoniker Johannes Heller (59-jährig) sowie den Pfarrer und Dekan in Tilsit, Johannes Wronka (48-jährig).

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„… qui non solum in cura animarum negotiisque administrationis vere experientia probatus sit, sed etiam excellat usu linguae imprimis germanicae necnon linguae poloniae.“ Bertram an Centoz vom 1. April 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 13rv, hier 13r. „… sinceritate fidei, sanctitate morum, indefesso laborandi zelo et in negotiis administrationis prudentia et fortitudine …“ Bertram an Centoz vom 1. April 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 13v. Vgl. Kandidatenliste des Ermländer Domkapitels an Centoz vom 2. April 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 14r–15r. Am nächsten Tag sandte Dompropst Franz Sander ein Schreiben hinterher, in dem er Centoz bat, trotz der Verpflichtung des sub secreto Sancti Officii auch außerhalb des Domkapitels um Rat hinsichtlich der Geschäftsführung und des Schriftverkehrs nachsuchen zu können, sofern diese die anstehende Bischofswahl beträfen. Hilfe wollte Sander von Kardinal Bertram, der nach der Errichtung der Breslauer Kirchenprovinz durch das Preußenkonkordat der Metropolit des Bistums Ermland war. Vgl. Sander an Centoz vom 3. März 1930, ebd., Fol. 4r. Der Geschäftsträger der Nuntiatur verweigerte diese Bitte jedoch mit der Begründung, dass er nicht befugt sei, eine dahingehende Vollmacht auszustellen. Vgl. Centoz an Sander vom 12. April 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 16r. 75

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Alle konnten auf eine längere Tätigkeit auf den verschiedensten Seelsorgsstellen zurückschauen. Angaben über die Studien der Kandidaten wurden einzig beim auf Platz eins positionierten Spannenkrebs beigefügt: Nach dessen Kaplanszeit an der römischen Anima habe er von 1884 bis 1886 in Würzburg Philosophie studiert. 10. Am ausführlichsten und informiertesten äußerte sich der Diözesanbischof von Meißen und Apostolische Administrator von Berlin, Christian Schreiber.266 Er gab vor zu wissen, dass man sich in Ermland einen einheimischen Bischof wünsche, wobei insbesondere zwei Geistliche gehandelt würden: Zum einen der Münsteraner Exeget Maximilian Meinertz, der aus der ostdeutschen Diözese stamme, und zum anderen der Breslauer Dogmatiker Bernhard Poschmann, vormals Professor in Braunsberg. Wo auch immer Schreiber diese Ermländer „Wunschnamen“ gehört hatte, sie standen jedenfalls nicht auf der Rechnung des Domkapitels. Auch er unterstützte sie aber nicht, sondern optierte vielmehr dafür, einen auswärtigen Priester an die Spitze des Bistums zu stellen.267 Die Begründung dafür fand er in verschiedensten Missständen, die dringend der Korrektur bedürften: „Denn obwohl das Volk der Diözese Ermland, das zum großen Teil weit entfernt von der verderblichen Luft der Industrie und der großen Städte in kleinen Landdörfern oder Gehöften, den Ackerbau praktizierend, lebt, tief religiös und von guten Sitten erfüllt ist, ist es dennoch seit Jahrzehnten von einer gewissen Ermüdung und Erstarrung angesteckt, weil die Seelenhirten, die zum großen Teil auch selbst alte Bauern sind und allen Sorgen des Ackerbaus unterliegen, häufig von Ermüdung und Erstarrung angesteckt zu sein scheinen. Auch die Ausbildung der Geistlichen im höheren Seminar der Diözese Ermland, das in Braunsberg steht, leidet unter verschiedenen Mängeln, besonders auch in der Philosophie, die nicht scholastisch gelehrt wird. Diesen Dingen werden andere Reformen bei Klerus und Volk hinzuzufügen sein, nicht weil der Klerus in den guten Sitten erlahmen würde, sondern weil er hier und dort einen gewissen priesterlichen Eifer nötig hat.“268

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Vgl. Schreiber an Orsenigo vom 5. Mai 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 17r–19r. Für die These von Erwin Gatz, Schreiber plädiere dafür, „aus Courtoisie Meinertz oder Poschmann auf die Liste“ (Gatz, Besetzung, S. 220), also die römische Terna, zu setzen, kann ich in der Darstellung des Berliner Administrators keinen Anhaltspunkt finden. Vielmehr bestand seine Intention gerade im Gegenteil darin, auf auswärtige Kandidaten zurückzugreifen. „Nam, licet populus dioecesis Varmiensis, qui per maximam partem procul ab aere pestiferos industriae et magnarum urbium in parvis pagis seu vicis agriculturam exercens vivit, sit fundamentaliter religiosus et bonis moribus imbutus, tamen ex decenniis quadam lassitudine et hebetudine infectus est, quia pastores animarum, qui per magnum partem et ipsi sunt grandes agricolae omnibus curis agriculturae oppressi multoties hac lassitudine et hebetudine infecti videntur. Etiam instructio clericorum in seminario maiori dioecesis Varmiensis, quod in oppido Braunsberg est situm, laborat variis defectibus, praesertim etiam in philosophiae, quae non est scholastica, tradenda. Quibus adjungandae erunt aliae reformationes apud clerum et apud populum, non quasi clerus deficiat in bonis moris, sed quia hic et illuc eget fervore quodam sacerdotali.“ Schreiber an Orsenigo vom 5. Mai 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 17r-v. 76

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Diese Situation – Schreiber betrachtete sein Urteil selbst als „hart“269, aber dennoch zutreffend – müsse durch einen Oberhirten gebessert werden, der wahrhaft priesterlich lebend von apostolischem Eifer angetrieben, in der Seelsorge unter den Bedingungen der gegenwärtigen Zeit versiert, in der katholischen Lehre unterrichtet, unerschrocken und leutselig sei sowie von außerhalb komme. Nur ein Auswärtiger sei nicht in persönliche Verbindungen verstrickt, welche die nötigen Veränderungen behindern würden. Einen Mann zu finden, der diesen umfassenden Kanon von Fertigkeiten in sich vereinte, schien dem Berliner Administrator nicht leicht. Überhaupt sei es schwierig, in Deutschland derzeit episkopable Geistliche finden. Ungeachtet dessen trug er vier Namen vor: a) Zunächst den von Berning bereits nominierten Tützer Administrator Kaller. Ebenso wie Bertram stellte Schreiber die Bedeutung der deutsch-polnischen Sprachfähigkeit heraus, die Kaller besitze. Freilich sei bekannt, dass er bei manchen Geistlichen in Ermland wegen seiner Strenge gefürchtet werde. b) Die Nummer zwei bildete der aus der Diözese Rottenburg stammende, nunmehr in Breslau Philosophie dozierende Ludwig Baur. Durch seine Leistungen in der Kriegsseelsorge, seine wissenschaftlichen Fähigkeiten und sein Auftreten im württembergischen Landtag habe er sich dermaßen hervorgetan, dass er bei der letzten Bischofswahl in Rottenburg 1927 die besten Aussichten gehabt habe. Tatsächlich war Baur damals der Favorit Pacellis gewesen.270 c) Der nächste war Conrad Gröber aus dem Freiburger Kathedralkapitel. Einst im römischen Germanicum herangebildet, sei er in der Seelsorge, Lehre und Verwaltung verdienstvoll tätig. Darüber hinaus kennzeichne ihn Sachverstand in der kirchlichen Kunst und eine ausgesprochene Begabung als Redner und Prediger. Schreiber wies – irrtümlich – darauf hin, dass Gröber bei der letzten Erzbischofswahl in Freiburg 1920 nur eine Stimme zur Mehrheit gefehlt habe.271 d) Der vierte im Bunde war Dominik Heller, Professor für Exegese im Fuldaer Priesterseminar, also jenem Seminar, dessen Rektor Schreiber vor seiner Erhebung zum Bischof von Meißen 1921 gewesen war. Wie Gröber sei Heller Alumne des Germanicums gewesen, anschließend langjährig Seelsorger und schließlich Subregens und Professor: „Er ist ein frommer Priester, gelehrt, in jeder Hinsicht treu, ein guter Kenner der verschiedenen Charaktere und ein Mann festen Willens.“272 11. Schließlich fehlte noch Nachricht aus Hildesheim. Nikolaus Bares meldete sich jedoch erst am 15.  Juli zurück, mehr als zwei Monate nach der Antwort Schreibers.273 Diese arge Verspätung kam dadurch zustande, dass er – wie Bares sich entschuldigte – aufgrund einer langwierigen 269

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Vgl.: „… responsabilitatem mei iudicii quod fortasse durum videatur …“ Schreiber an Orsenigo vom 5. Mai 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 17v. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.3 (Sproll oder Baur? Pacellis letzte Sondierungen). Tatsächlich bekam Gröber dort insgesamt nur eine einzige Stimme, während auf den zum Bischof gewählten Karl Fritz fünf Voten entfielen. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.1 (Die Wahl des neuen Erzbischofs). „Est sacerdos pius, doctus, unde quaque fidelis, bonus cognitor diversorum characterum et vir firmae voluntatis.“ Schreiber an Orsenigo vom 5. Mai 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 18v. Vgl. Bares an Orsenigo vom 15. Juli 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 30rv. 77

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Krankheit die Anfrage der Nuntiatur schlicht vergessen habe. Seine Entschuldigung änderte freilich nichts mehr daran, dass seine Kandidatenvorschläge nicht mehr berücksichtigt wurden. Er bezeichnete drei seiner Ansicht nach würdige Priester: a) Den Abt von St. Matthias in Trier, Pater Laurentius Zeller OSB, ein theologisch gelehrter und frommer Mann, mit besonderem Geschick, schwierige Aufgaben zu lösen. b) Dann den Bonner Professor Franz Joseph Peters. Dieser sei durch Frömmigkeit, Gelehrtheit und Bescheidenheit empfohlen sowie habe bei verschiedenen Anlässen seinen besonderen seelsorglichen Eifer und die Integrität der Lehre bewiesen. c) Zuletzt nannte er Ludwig Bruggaier, Professor im Eichstätter Priesterseminar. Er besitze Qualitäten auf theologischem Gebiet sowie in der Verkündigung und führe ein anständiges Leben. Diese Gaben wogen nach Ansicht des Hildesheimer Bischofs den „Altersmangel“274 – Bruggaier war 48 Jahre alt – auf.

Informelle Petitionen aus Ermland Die skizzierte Serie von Vorschlägen gehörte laut Preußenkonkordat zum „ordentlichen“ Modus der Wiederbesetzung des ermländischen Bischofsstuhls. Darüber hinaus wurden auch Versuche unternommen, auf informellem Wege den Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Während die Berliner Nuntiatur die Voten der Bischöfe und des Ermländer Kapitels erwartete, „meldeten sich bei Pacelli unaufgefordert zwei Persönlichkeiten aus dem Bistum mit Berichten über dessen Lage, die sie übereinstimmend als problematisch beurteilten, und mit Vorschlägen für die Neubesetzung“275. Der erste war der von Schmitt vorgeschlagene Franz Schröter, ehemals Germaniker und Mitglied des Domkapitels in Frauenburg. Noch im Februar bekundete er dem Kardinalstaatssekretär über die Vermittlung des geistlichen Konsultors der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl, Johannes Steinmann, seine Absicht, „dem Apostolischen Stuhle über die Verhältnisse unserer Diözese einige Auskünfte zu geben, die bei der Wahl des neuen Bischofs ins Gewicht fallen könnten“276. Die Va274 275 276

„… aetatis defectum …“ Bares an Orsenigo vom 15. Juli 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 30v. Gatz, Besetzung, S. 215. Schröter an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 48r–50v, hier 48r. Das Schreiben Schröters trägt kein Datum. In einem zweiten Brief an Pacelli vom 10. April sprach er aber davon, dass er „[a]nlässlich des Todes“ Bludaus „schon vor einigen Wochen“ ein Promemoria angefertigt habe. Vgl. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, ebd., Fol. 52r–54v, hier 52r. Erwin Gatz datiert es deshalb auf Anfang März. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 215 Anm. 14. Aber diese Datierung erscheint zu spät, wenn man sich vor Augen hält, dass Schröter zum Zeitpunkt seines ersten Briefes noch nichts von dem Auftrag an das Domkapitel wusste, eine Kandidatenliste aufzustellen. Erst am 10. April schrieb er: „Inzwischen ist aber von der Apostolischen Nuntiatur in Berlin an uns die Weisung ergangen, einen oder mehrere Bischofskandidaten dem h[eiligen] Stuhle vorzuschlagen.“ Fol. 52r. Hervorhebung R.H. Vorausgesetzt, dass Centoz das Ermländer Domkapitel gleichzeitig mit den Bischöfen – entweder am 78

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lenz seines eigenen Urteils begründete Schröter zweifach: Zum einen sei er vormals Dompropst in Pelplin gewesen bis er 1920 aus Polen ausgewiesen und seinen Platz im Ermländer Domkapitel eingenommen habe. Als „Ausländer“ habe er eine objektivere Perspektive. Zum anderen habe er das Vertrauen des verstorbenen Bludaus genossen und daher verschiedene Ämter in der Diözesanverwaltung ausgeübt, die ihm profunde Einblicke in die Situation des Bistums ermöglicht hätten.277 Keineswegs leite ihn eine persönliche episkopable Ambition, was allein schon durch sein Alter von 73 Jahren ausgeschlossen sei. Er kritisierte im Folgenden vornehmlich einen Reformstau in der Bistumsleitung und gravierende Mängel in der Priesterausbildung.278 Angesichts dessen plädierte er nachdrücklich dafür, dass der künftige Bischof kein Ermländer sei, ja noch mehr: „Euer Eminenz werden nach den von mir nur kurz gezeichneten Verhältnissen in unserer Diözese am besten darüber entscheiden, ob es nicht angebracht wäre, die Ernennung eines Ausländers zum Bischof von Ermland ohne vorherige Wahl durch das Domkapitel vorzunehmen.“279 Wie dieser Vorschlag mit dem preußischen Konkordat in Einklang gebracht werden sollte, erläuterte der Verfasser nicht. Nach Lage der Quellen erhielt Schröter auf diese zunächst überraschende Eingabe – ein Domkapitular argumentierte gegen das Kapitelswahlrecht – von Pacelli keine Antwort. Einige Wochen später schließlich, nachdem die Aufstellung der Kandidatenliste durch das Domkapitel stattgefunden hatte, wandte sich Schröter erneut nach Rom, um die Frage der Bischofsanwärter zu dis-

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20. oder 24. Februar – aufforderte, die Liste anzufertigen, musste Schröter mindestens am letztgenannten Datum als terminus ante quem das in Rede stehende Schriftstück verfasst haben. Bludau starb am 9. Februar, sodass sich der Zeitraum zwischen diesen beiden Terminen als Abfassungszeit der Denkschrift ergibt. Eindruck sollte seine Ämterliste erwecken: „Ich bin geistlicher Rat im Generalvikariat, examinator synodalis, promotor justitiae, censor librorum, deputatus seminarii pro disciplina, defensor matrimonii in Tribunalis IIae instantiae, Diözesanpräses der Marianischen Kongregationen sowie auch Diözesanpräses des Cäcilienvereins.“ Schröter an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 48r. Schröter diagnostizierte die Isolation der Ermländer Diözese im äußersten Osten des Deutschen Reiches als großes Unglück. Die Absonderung bringe es mit sich, dass das Bistum auch in kirchlichen Angelegenheiten „rückständig geworden“ (Schröter an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 48v) sei. Das einzige Verbindungsglied zu den übrigen preußischen Diözesen sei die jährliche Fuldaer Bischofskonferenz. Aber ihre Beschlüsse habe man in Ermland regelmäßig nicht umgesetzt, weil man behauptet habe, dass sie für die spezifische Lage Ermlands unpassend seien. Eine „natürliche Schwerfälligkeit der Ermländer“ (ebd., Fol. 48v) und ein ausgeprägter Traditionalismus hätten verhindert, dass die in der modernen Zeit nötigen Neuerungen an den Klerus herangetragen worden seien. Schröter kritisierte den verstorbenen Oberhirten, der es an „Initiative und Anregung von oben“ (ebd., Fol. 48v) habe fehlen lassen. Im zweiten defizitären Bereich der Priesterausbildung bewertete Schröter die aszetische Ausbildung besonders negativ. Sie besorge der dafür völlig ungeeignete Regens Eugen Brachvogel, der mit seiner kompletten Umgebung verfeindet und alles andere als ein Vorbild für die Alumnen sei. Vorschläge, einen Jesuiten als Spiritual einzusetzen, seien postwendend abgelehnt worden. Schröter an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 50v. Hervorhebung R.H. 79

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kutieren.280 Die Liste des Kapitels lag zu diesem Zeitpunkt noch in der Nuntiatur, wo sie auf die Weitervermittlung an den Heiligen Stuhl wartete. Domkapitular Schröter bemerkte, dass das Kapitel ursprünglich davon ausgegangen sei, Rom werde den Nachfolger Bludaus – ungeachtet des Preußenkonkordats – einfach ernennen. Wie gesehen, war das zumindest seine eigene Hoffnung gewesen, mit der er sich allerdings, wie er feststellen musste, beim Kardinalstaatssekretär nicht hatte durchsetzen können. Jedenfalls habe – so Schröter weiter – die Aufgabe, geeignete Geistliche für den bischöflichen Stuhl zu finden, bei den Domherren Verlegenheit erzeugt. Denn die etwaigen Bischofsanwärter aus dem Kapitel seien sämtlich in einem solchen Alter, dass sie unter gewöhnlichen Umständen für das Amt nicht mehr infrage kämen. Auf der anderen Seite sei – so Schröter  – den Kapitularen kein Geistlicher aus dem übrigen Diözesanklerus eines Vorschlags würdig erschienen. Daraus resultierte eine aporetische Situation: „Wir hätten also, wenn wir aufrichtig sein wollten, die Aufstellung von Kandidaten ablehnen müssen. Um uns nun nicht dieses Armutszeugnis auszustellen, wurde hauptsächlich auf Betreiben des Kapitularvikars beschlossen, aus der Reihe der Domherrn Kandidaten ohne Rücksicht auf ihr Alter zu benennen.“281 280

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Vgl. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 52r–54v. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 52r. Dass die Domherren aber dennoch hofften, man werde ihre Vorschläge in Rom ernsthaft in Erwägung ziehen, lässt ihre Behandlung eines Presseskandals vermuten. Nach dem Tod Bludaus vom 9. Februar veröffentlichte der Pfarrer von Thiergarth, Otto Miller, der von 1912 bis 1922 Sekretär Bludaus gewesen war, einen pathosreichen Nachruf in der „Ermländer Zeitung“, die das amtliche Organ der ermländer Geistlichkeit war. Darin hieß es zum Beispiel: „Dieser Bischof erlebte den Verlust großer Teile seiner Diözese, erlebte das Konkordat [sc. mit Preußen, R.H.], hörte es loben und preisen und musste zusehen, dass dadurch die Exemtion ihm genommen, sein Domkapitel vermindert, das bischöfliche Einkommen auf ein schmähliches Restquantum herabgesetzt wurde. Keine deutsche Diözese ist von all diesen Geschehnissen weltpolitischer und kirchenpolitischer Art so hart getroffen worden wie die seine.“ Ebd., Bl. 4 von Fol. 62. Wider Erwarten der Domkapitulare nahm von diesen Einschätzungen die gesamtdeutsche Zeitung „Germania“ Notiz. Der Artikel „Um das Bistum Ermland“ in der Ausgabe Nr. 111 vom 7. März (ebd., Bl. 2 von Fol. 62) verteidigte gegen Miller die Politik des Heiligen Stuhls nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und das Preußenkonkordat. Am 5. April schließlich lancierte die polnische Zeitung „Gazeta Gdanska“ aus Danzig einen Artikel – „Ausfälle von deutschen Geistlichen gegen den Apostolischen Stuhl“ –, der unter Rekurs auf Millers Nachruf den gesamten Klerus Ermlands torpedierte: „Dieser Geistliche [sc. Miller, R.H.], heute einer der einflussreichsten Geistlichen der ermländischen Diözese, protestiert augenscheinlich im Einvernehmen mit allen anderen Geistlichen der ermländischen Diözese mit großem Pathos gegen die Beraubung der Diözese Ermland durch den Apostolischen Stuhl. … Nirgends in der Welt unter Katholiken sind nationalistische Tendenzen und Antipathien gegen Rom so stark wie im Ermland.“ Übersetzung des polnischen Artikels durch das Domkapitel ebd., Fol. 63r–64r, hier 63r; das polnische Original Fol. 65r. Dompropst Sander formulierte daraufhin ein Protestschreiben, das innerhalb eines apologetischen Artikels – „Unerhörte Ausfälle der ‚Gazeta Gdanska‘ gegen dem ermländischen Klerus“ – in der ermländischen Presse abgedruckt wurde und die Anschuldigungen für haltlos erklärte. Ebd., Bl. 1 von Fol. 62. 80

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Freilich war mit Pfarrer Wronka auch ein Geistlicher genannt worden, der eher zu jung als zu alt war. Aber dieser war eben kein Domkapitular und sei eigentlich nur „aushilfsweise“282 aufgestellt worden. Er selbst – so Schröter – habe bei der Abstimmung keinem der fünf Kandidaten seine Stimme gegeben, weil keiner seiner Ansicht nach die nötige Qualifikation für das Amt mitbringe. Jede einzelne Person auf der Liste nahm er sich nun der Reihe nach vor, um harsche Kritik zu üben, wobei er kein Blatt vor den Mund nahm.283 Damit war die Liste des Domkapitels – und das

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Doch damit nicht genug: Am 27. April verfasste das Domkapitel eine Ergebenheitserklärung an Pius XI. samt Anschreiben an Pacelli. Ebd., Fol. 59r–60r. In diesem distanzierten sich die Domherren von Millers Aussagen und zeigten sich empört über die Diffamierungen seitens der „Gazeta Gdanska“: „Es ist, wie uns scheint, außerhalb der Diözese die Auffassung aufgetreten, als ob die Dr. Millerʼsche Darstellung die Meinung des ganzen ermländischen Klerus wiedergebe. Das ist keineswegs der Fall. Im Gegenteil, der ermländische Klerus verurteilt mit Entrüstung die besagte Darstellung, was zu hören wir öfter Gelegenheit gehabt haben. Auch der selige Herr Bischof hat uns wiederholt erklärt, es sei im Konkordate das Erreichbare erreicht worden … Darum Dank allen, die beim Zustandekommen des Konkordats für die kirchlichen Interessen eingetreten sind, vor allem Euer Eminenz liebevollen Sorge“. Ebd., Fol. 59r-v. Die Tatsache, dass die Kanoniker die Anschuldigungen in der Presse nicht nur mit einem korrigierenden Artikel beantworteten, sondern zusätzlich eine Ergebenheitsadresse an den Papst und Kardinalstaatssekretär sandten, nährt zumindest den Eindruck, dass sie sich sorgten, der Presseskandal könnte negative Auswirkungen auf ihre Kandidaturen haben. Daher ist die Bekräftigung ihrer Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl sicherlich auch als präventiver Schritt zu interpretieren. Der Kardinalstaatssekretär bedankte sich eine Woche später für die Ergebensheitsbekundung des Kapitels. Vgl. Pacelli an Spannenkrebs vom 4. Mai 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 66rv. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 52v. Augst Spannenkrebs wolle unbedingt Bischof werden, obgleich er kurz vor dem 74. Geburtstag stehe. Zwar sei er fähig, tatkräftig und habe viel Verdienstliches gewirkt. Jedoch besitze er nicht die episkopablen Eigenschaften, zum Beispiel nicht den untadligen Charakter, den der Apostel Paulus für einen Bischof verlange (vgl. etwa 1 Tim 3, 1–7). Ein großes Manko sei sein ausgeprägter Ehrgeiz und sein gereiztes Wesen, das bei jedem Widerspruch hervortrete. Zudem eigne ihm eine übertriebene Selbstherrlichkeit, die insbesondere in seinem derzeitigen Amt als Kapitelsvikar deutlich werde. Spannenkrebs fehle nicht nur Lebensart und richtiger Takt, sondern er „würde als Bischof durch sein vorlautes und aufgeregtes Wesen überall anstoßen und uns bloßstellen“ (ebd., Fol. 52v). Das war aber noch nicht alles: Spannenkrebs sei ein notorischer Trinker, er sei „vinolentus“ (ebd., Fol. 52v). Zwar sündige er nicht durch Trunkenheit, aber sein Alkoholgenuss habe bereits in weiten Kreisen Anstoß erregt. Seine Ernennung wäre ein „großes Unglück für die Diözese“ (ebd., Fol. 53r). Andreas Hinzmann sei ebenfalls tüchtig und habe in der Caritas viel geleistet. Er entbehre jedoch der nötigen Ordnungsliebe und Pünktlichkeit. Seine wissenschaftliche und asketische Bildung seien recht bescheiden. Auch er sei nicht episkopabel und eher gegen seinen Willen auf die Liste gekommen. Bei Kunibert Krix handle es sich um einen frommen und guten Priester, der segensreich in der Seelsorge – auch jetzt noch als Pönitentiar – gewirkt habe. Ihm fehle freilich die äußere Erscheinung, die ein Bischof benötige. Wegen seiner „unansehnlichen Gestalt“ werde er vielfach „Domherr Knirps“ (ebd., Fol. 53r) genannt. Dabei sei er zu weichherzig, könne niemandem etwas Unangenehmes sagen, sodass Schröter ihm für den Fall, Krix werde der neue Oberhirte, ein mangelnde Selbständigkeit im Auftreten und Handeln 81

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war ja auch die Intention von Schröters Verdikt – bereits vor dem Eintreffen in Rom korrumpiert. Stattdessen schlug Schröter einen anderen Kandidaten vor – sich selbst: „Wenn ich nicht selbst der Domherr Schröter wäre, so würde ich mir erlauben, diesen Priester dem h[eiligen] Stuhl als Bischof von Ermland zu empfehlen. Wohl kenne ich das Wort des Apostels: ‚Non enim qui seipsum commendat, ille probatus est; sed quem Deus commendat.‘284 Der h[eilige] Stuhl möge in seinem Weitblick entscheiden, von wem diese Empfehlung herrührt. Der Domherr Schröter vereinigt in seiner Person alle Eigenschaften und Bedingungen, welche für den zukünftigen Bischof von Ermland maßgebend sind.“285

Weil er selbst kein Ermländer sei  – nach seiner Flucht aus Polen 1921 sei er dort inkardiniert worden –, vermöge er objektive Urteile zu fällen, stehe aber andererseits dem Klerus und den spezifisch ermländischen Angelegenheiten nahe. Als ehemaliger Alumne des Germanicums biete „er dem Apostolischen Stuhl die Sicherheit für kindliche Liebe und Anhänglichkeit an die Römische Kirche und den Statthalter Jesu Christi.“286 Zwar sei er schon 73 Jahre alt, aber gesund und frisch, sodass er nach menschlichem Ermessen noch einige Jahre vor sich habe und imstande sei, die Mühen des Bischofsamtes im „kleinen“ Bistum Ermland zu tragen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wieso Schröter sich nicht auf die Kapitelsliste hatte setzen lassen, wenn er Bischof werden wollte. Er behauptete, bislang niemals ernstlich an eine Bischofskandidatur gedacht zu haben und als die Domherren von seiner Kandidatur gesprochen hätten, habe er abgelehnt. Erst nach Absendung der Vorschlagsliste habe er sich zur Selbstempfehlung entschlossen, um dem Heiligen Stuhl die Besetzung des bischöflichen Stuhls „zu erleichtern“287. Auch gab er vor, dass er sich freuen würde, wenn der Heilige Stuhl eine geeignetere Persönlichkeit als ihn für das vakante Amt finde. Womöglich plausibler als diese Version erscheint, dass Schröter sicher war, bei einer Kapitelswahl keine Chance auf die Mitra zu haben und er deshalb zuvor den Kardinalstaatssekretär darum gebeten hatte, die Wahl zu umgehen und einen Bischof zu ernennen. Vermutlich hatte er zu diesem Zeitpunkt  – trotz gegenteiliger Aussage  – schon mit dem Bischofsstuhl geliebäugelt und sich mit seiner Denkschrift als fähigen Kenner

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prophezeite. Für Schröter war Johannes Heller ebenfalls ein frommer Priester, aber etwas „melancholisch und weltschmerzlich“ (ebd., Fol. 53r). Auch seine wissenschaftliche Befähigung sei überschaubar. Schließlich blieb noch Johannes Wronka. Als lebhafter, temperamentvoller Priester ließe er aber die erforderlichen Eigenschaften für die bischöfliche Würde vermissen. Insbesondere seine theologischen Kenntnisse seien fraglich. 2 Kor 10, 18. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 53v. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 53v. Schröter an Pacelli vom 10. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 54r. 82

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der Diözese profilieren wollen. Als er aber dann die Aufforderung an das Domkapitel sah, die Kandidatenliste zu erstellen und damit die Wirkungslosigkeit seiner Eingabe erkannte, ging er mit diesem neuen Schreiben offensiver vor und legte die Karten auf den Tisch: harsche Kritik an der Kapitelsliste und ausdrückliche Selbstproposition. Wie beim ersten Schreiben bekam Schröter auch jetzt – nach Quellenlage – keine Antwort von Pacelli. Die oben angesprochene zweite Persönlichkeit, die sich informell an den Kardinalstaatssekretär wandte, war der Königsberger Studentenpfarrer, Matthias Dietz SJ.288 Der Jesuit plädierte anders als zum Beispiel Schreiber unumwunden für einen Bischof aus Ermland, weil ein solcher sich nicht erst in die örtlichen Verhältnisse einfinden müsse. Als seiner Meinung nach geeignetste diözesane Doppelspitze präsentierte er den Heilsberger Pfarrer, Alfons Buchholz, der Diözesanbischof werden und den Propst von St. Nikolaus in Elbing, Arthur Kather, der das Amt des Generalvikars bekleiden sollte. Buchholz, der sieben Jahre Sekretär des Vorgängers Bludaus – Bischof Andreas Thiel – gewesen sei, kultiviere „eine geradezu schwärmerische Begeisterung für Rom und die Kirche“289. Fest in der ermländischen Tradition verankert, sei er nicht engherzig, sondern stehe den modernen Begebenheiten im Bereich der Seelsorge aufgeschlossen gegenüber. Er pflege einen gemäßigten Lebenswandel und strebe nach priesterlicher Heiligkeit. Als Schwäche identifizierte Dietz bei Buchholz einen zu idealistischen Zug. Propst Kather sei zu Buchholz ein adäquates Komplement, beide Freunde der kirchlichen Orden, deren Kapazitäten sie ohne Zögern in Anspruch nehmen würden, sodass „eine religiös neu aufstrebende Zeit für Ermland“290 beginnen könnte. Andere Kandidaten, die gehandelt würden, wie die Professoren Meinertz und Poschmann „scheiden deshalb aus, wie jeder anderer Professor, weil die Diözese selbst den Wunsch hat, einen Bischof zu erhalten, der aus der Praxis kommt“291. Nicht zu Unrecht hat Erwin Gatz darin eine implizite Kritik am verstorbenen Bludau gesehen, der vor seiner Berufung auf den Ermländer Bischofsstuhl Professor für neutestamentliche Exegese in Münster gewesen war.292 Auch einen weiteren Favoriten, nämlich Kaller aus Schneidemühl, hielt Dietz für ungeeignet, da er nicht aus der Ermländer Diözese stammte. So kurz nach dem Konkordat sei die Zeit für einen Auswärtigen ungünstig: „Zu rasche Änderungen und Reformen könnten 288

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Vgl. Dietz an Pacelli vom 10. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 51rv. Dietz an Pacelli vom 10. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 51r. Dietz an Pacelli vom 10. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 51v. Dietz an Pacelli vom 10. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 51v. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 218. 83

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bei dem konservativen Charakter der Ermländer leicht eine solche Reaktion hervorrufen, dass die Durchführung gefährdet wäre.“293 Genauso wie zuvor Schröter scheint auch Dietz aus Rom keine Antwort erhalten zu haben.

Die römische Terna Mitte Mai hielt Nuntius Orsenigo die Zeit für gekommen, die eingereichten Kandidatenvorschläge an die Kurie zu übermitteln.294 Am 5. des Monats hatte Schreiber als bislang letzter aus der Reihe der Bischöfe seine Überlegungen an die Nuntiatur übersandt. Nachdem Orsenigo zwei Tage später auf die oben geschilderte verunglückte Weise dem Fuldaer Oberhirten Schmitt geantwortet hatte, ließ er noch eine Woche verstreichen. Als innerhalb dieses Zeitraums keine Vorschläge aus Fulda kamen, beendete er die Frist und gab Pacelli das Zepter des Handelns in die Hand, um die Wiederbesetzung des bischöflichen Stuhls nicht noch länger hinauszuschieben. Er kündigte jedoch an, die Vorschläge aus Fulda nachzusenden, wenn sie eintreffen würden.295 Interessanterweise erwähnte Orsenigo mit keinem Wort, dass auch aus Hildesheim noch keine Empfehlungen eingetroffen waren. Offensichtlich hatte er die Diözese ebenso vergessen wie der dortige Oberhirte Bares vergessen hatte, Vorschläge zu unterbreiten.296 Für den Kardinalstaatssekretär fertigte er eine erste Analyse der eingegangenen Voten an, die ihre Disparität zum Ausdruck brachte: „Wie Eure Eminenz entnehmen können, entschuldigte sich der Bischof von Trier, keine Vorschläge machen zu können; viele andere Bischöfe beschränken sich darauf, einen einzigen Namen vorzuschlagen, gewählt aus dem Klerus der eigenen Diözese; nur der Kardinal 293

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Dietz an Pacelli vom 10. März 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 51v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 14. Mai 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 67r–68r und die eingereichten Kandidatenvorschläge in Abschrift, ebd., Fol. 70r–75r. Die Abfolge, in der Orsenigo die bischöflichen Vorschläge zusammenstellte, lautete: Breslau, Köln, Trier, Limburg, Münster, Paderborn, Osnabrück, Berlin, (Fulda) und Ermland. Als das Ende Mai geschah, schickte er das Votum Schmitts für Hilfrich als Ergänzung zur preußischen Kandidatenliste an Pacelli. Wie erwähnt verschwieg Orsenigo, dass Schmitt auch auf Schröter hingewiesen hatte. Vgl. Orsenigo an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 84r. Darauf deutet auch eine Bemerkung Orsenigos gelegentlich der Mitteilung des Kandidatenvorschlags von Schmitt hin: „Con questa comunicazione sono quindi pervenute tutte le risposte attese, e Vostra Eminenza potrà ormai disporre perchè abbia corso la procedura della nomina.“ Orsenigo an Pacelli ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 84r. Von diesem Zeitpunkt an vergingen noch sechs Wochen bis zur Rückmeldung von Bares. Seine Vorschläge sandte Orsenigo nicht mehr an den Heiligen Stuhl. 84

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von Köln schlägt drei Namen vor und der Bischof von Meißen-Berlin vier Namen, wobei sie beide aus verschiedenen Diözesen des Reiches schöpfen. Das Diözesankapitel schlägt fünf Namen vor, aber alle gehören der Diözese Ermland an. Man begreift so, wie kein Kandidat mehr als einen Befürworter hat, ausgenommen Monsignore Kaller, der Apostolische Administrator von Schneidemühl, der gleichzeitig von Zweien, nämlich vom Monsignore Bischof von Osnabrück und vom Monsignore Bischof von Meißen-Berlin vorgeschlagen wurde.“297

Die zweite Doppelnennung eines Kandidaten, nämlich die von Spannenkrebs, der in den Skripten Bertrams und des Ermländer Kapitels auftauchte, hielt Orsenigo nicht für erwähnenswert. Dagegen lenkte er die Aufmerksamkeit des Kurienkardinals auf die beiden Ermländer Professoren Meinertz und Poschmann. Diese seien zwar nicht vorgeschlagen, aber von Schreiber so eingeschätzt worden, dass sie jene zufrieden stellen könnten, die zu einem Bischof aus den Reihen des ermländischen Klerus hin tendierten. Falls also – so Orsenigo – der Heilige Stuhl beabsichtige, einen einheimischen Geistlichen auf die Terna zu setzen, könne er eine Empfehlung des Provinzials der niederdeutschen Provinz der Redemptoristen, Adolf Brors CSsR, für den Breslauer Dogmatiker Poschmann hinzufügen. Brors habe diesen ihm gegenüber als einen „Mann von strenger priesterlicher Frömmigkeit und von gesunder Lehre“298 bezeichnet, der sich auch im pastoralen Leben auskenne, also nicht nur bornierter Wissenschaftler war. Insgesamt waren also 21 – wenn man Meinertz, Poschmann und Schröter hinzufügen möchte 24 – Kandidaten vorgeschlagen worden. Da die Vorschläge von Bares so spät in der Nuntiatur eintrafen, dass Orsenigo sie nicht mehr nach Rom weiterleitete, blieben noch 18 (21) Kandidaten übrig. Freilich wurde auch der nachgereichte Vorschlag Schmitts nicht mehr berücksichtigt, da er erst dann in Rom eintraf, als die Terna schon feststand. Daher wurde die Entscheidung des Heiligen Stuhls über die Namen der Dreierliste faktisch auf Basis des verbliebenen Pools von 17 (20) Kandidaten vorgenommen, wobei er laut den Bestimmungen des Preußenkonkordats nicht an die eingereichten Vorschläge gebunden war, sondern sie nur zu „würdigen“ hatte.

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„Come Vostra Eminenza potrà rilevare, il Vescovo di Treviri si scusa di non poter fare proposte; molti altri Vescovi si sono limitati a proporre un solo nome, scelto fra il Clero della propria diocesi; solo il Cardinale di Colonia propone tre nomi ed il Vescovo di Meissen-Berlino quattro nomi, attingendo entrambi alle varie diocesi del Reich. Il Capitolo diocesano propone cinque nomi, ma tutti appartenenti alla diocesi di Ermland. Si comprende così come nessun candidato ebbe più di un proponente, eccetto Mons. Kaller, Amministratore Apostolico di Schneidemühl, che è proposto contemporaneamente da due, cioè da Mons. Vescovo di Osnabrück e da Mons. Vescovo di Meissen-Berlino.“ Orsenigo an Pacelli vom 14. Mai 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 67r-v. „… uomo di soda pietà sacerdotale e di sana dottrina …“ Orsenigo an Pacelli vom 14. Mai 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 68r. 85

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Längst bevor der preußische Kandidatensyllabus die Kurie erreichte, machte sich Pacelli bereits Gedanken über die Situation der Kirche in Ermland. In den Akten des Staatssekretariats findet sich ein Dokument von unbekannter Hand, das auf den 26. April 1930 datiert und von einer Aufgabe spricht, „die Zahl der polnisch sprechenden Diözesanen in der Diözese Ermland genau zu bestimmen“299. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Pacelli das Dokument selbst erstellte oder zumindest einem Mitarbeiter des Staatssekretariats beziehungsweise der AES diese Arbeitsanweisung erteilte, sodass es sich dabei um ein rein innerkuriales Gutachten handelt. Der Verfasser bezifferte nach seinen Recherchen die Zahl der Gläubigen des Bistums Ermland für das Jahr 1922 mit 327.931,300 von denen wenigstens 60.000 polnisch sprechen würden, also gut ein Fünftel. Dabei würden die Polen sehr an ihrer Muttersprache hängen, die sie auch auf Druck von deutscher Seite nicht aufgäben. Der Gutachter kam daher zu dem Ergebnis: „Die Objektivität von Seiten der kirchlichen Autoritäten im Umgang mit den Fragen der Sprache ist umso wichtiger, als in jenen Gebieten der Katholizismus von einer protestantischen Mehrheit umgeben ist und sich nur mit der Garantie eines vollkommenen gegenseitigen Vertrauens zwischen dem Klerus und den Gläubigen wirksam entwickeln kann.“301

Die Diasporasituation diktierte also ein enges Zusammenhalten zwischen den kirchlichen Ständen, das wiederum eine einseitig sprachlich-kulturelle Ausrichtung des künftigen Oberhirten ausschloss. Mit anderen Worten: Der neue Bischof musste sowohl deutsch als auch polnisch sprechen. Damit liegt ein wichtiges Entscheidungskriterium für die Aufstellung der Terna bereits auf der Hand. Nachdem die Kandidatenvorschläge wenig später den Kardinalstaatssekretär erreicht hatten, diskutierte dieser vermutlich die Angelegenheit mit Pius XI., der sich in den ostpreußischen Verhältnissen aus seiner Zeit als Nuntius in Warschau und Päpstlicher Kommissar für die Abstimmungsgebiete West- und Ostpreußen sowie Oberschlesien gut auskannte.302 Zwar lässt sich eine diesbezügliche Audienz in den Quellen nicht verifizieren,303 doch zumindest deutet sich eine solche in der späteren Weisung Pacellis an Orsenigo an, als er dort die Versicherung gab, dass „Seine Heiligkeit, nachdem er die Vorschlagslisten … genau geprüft hat, dem Domkapitel 299

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„… di precisare il numero dei diocesani di lingua polacca nella Diocesi di Warmia …“ Gutachten unbekannter Hand vom 26. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 56r–57r (nur r), hier 56r. Hervorhebung im Original. Vgl. die Zahl im Annuaire Pontifical 1922, S. 203. „Lʼobbiettività da parte delle autorità ecclesiastiche nel trattare le questioni di lingua è tanto di più indispensabile, che, in quella regione, il Cattolicesimo è circondato da una maggioranza protestante e può efficacemente svilupparsi solo con la garanzia di una perfetta reciproca fiducia tra il clero ed i fedeli.“ Gutachten unbekannter Hand vom 26. April 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 57r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.4 Anm. 1120. Auch in den Audienznotaten Pacellis findet sich keine Notiz zu einem Gespräch zwischen Pacelli und Pius XI. über die Aufstellung der Terna. Vgl. Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli. 86

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folgende Terna vorschlägt“304. Aus der Absprache zwischen Papst und Staatssekretär gingen Maximilian Kaller, Johannes Steinmann und Bernhard Poschmann als die Kleriker hervor, aus denen das Ermländer Domkapitel den neuen Bischof wählen musste. Lediglich Kaller war in den eingereichten Vorschlägen genannt, Poschmann hingegen von Orsenigo empfohlen worden, während Steinmann bislang nur als Vermittler der beiden Briefe Schröters an Pacelli in Erscheinung getreten war. Alle drei erhielten am 28.  Mai das Nihil obstat des Heiligen Offiziums.305 Dabei zeigt sich schon formal, dass die Abfolge der Namen auf der Dreierliste nicht willkürlich oder gleichgültig war: Der Entwurf des Schreibens von Anfang Juni – offensichtlich nicht von Pacelli selbst, sondern einem Mitarbeiter des Staatssekretariats formuliert –, das dem Berliner Nuntius die Terna kommunizierte, sah als Reihenfolge zunächst vor: 1. Kaller, 2. Poschmann und 3. Steinmann.306 Pacelli korrigierte diese dann aber und tauschte die Positionen von Poschmann und Steinmann, sodass der geistliche Konsultor beim Heiligen Stuhl auf den zweiten Rang aufrückte. Die Ausfertigung der Terna vom 3. Juni bestätigt diese modifizierte Reihenfolge.307 Pacelli erteilte darin dem Nuntius die Anweisung, dem Kapitel die Dreierliste sub secreto Sancti Officii mitzuteilen und wies darauf hin, dass die Wahl nach den Maßgaben des kanonischen Rechts unter demselben Geheimnis durchzuführen sei. Er schärfte auch das Prozedere nach dem Wahlakt ein, wie es das Preußenkonkordat vorsah: Das Kapitel möge bei der preußischen Regierung anfragen, ob sie Einwände politischer Natur gegen den erwählten Bischof geltend mache. Falls das geschehen sollte, was Pacelli „in keiner Weise für wahrscheinlich“308 hielt, habe das Domkapitel sofort die Art der Gründe dem Heiligen Stuhl mitzuteilen und seine Instruktionen abzu304

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„… Sua Santità dopo aver esaminato accuratamente le liste proposte … propone al Capitolo la seguente terna …“ Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 24rv, hier 24r. Vgl. die Anfragen Pizzardos an Canali vom 23. Mai 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 78r, 80r und 82r sowie die positiven Antworten Canalis an Pizzardo vom 28. Mai 1930, ebd., Fol. 79r, 81r und 83r. Beschwerden gegen Steinmann gab es allerdings von Seiten der Religiosenkongregation, weil er sich offenbar in irgendeiner Weise anstoßerregend im Haus der Schwestern der Heiligen Elisabeth in der Via dellʼOlmata 9 aufgehalten habe. Auf diese Anschuldigungen sprach Pizzardo den Kardinalprotodiakon, Camillo Laurenti, an, den er anlässlich einer Audienz bei Pius XI. – so seine Aufzeichnung – getroffen habe. Dieser habe gegen Steinmann jedoch keine Einwendungen gemacht. Pizzardo, der diese Nachforschung offenbar auf eigene Initiative hin vornahm, unterrichtete Pacelli am 11. Juni davon. Vgl. Notiz Pizzardos vom 11. Juni 1930, ebd., Fol. 77r. Freilich war zu diesem Zeitpunkt die römische Terna längst in Deutschland eingetroffen und damit ohnehin nicht mehr ohne Weiteres veränderbar. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 76r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 24rv. Vgl.: „… che non sembra in alcun modo probabile …“ Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 24v. 87

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warten. Eine erneute Wahl durch das Kapitel, ohne dass man die kuriale Antwort abgepasst hätte, stellte der Kardinalstaatssekretär „unter die Strafe der Nichtigkeit“309. Das Konkordat wies für den Fall, dass die Regierung Einspruch erhob, eine Rechtslücke auf310 und Pacelli, der durch die langjährigen Verhandlungen geschult die Ziele der preußischen Regierung und den abgeschlossenen Staatskirchenvertrag wie kein anderer kannte, wollte die Argumente, die gegen den electus vorgebracht würden, selbst überprüfen.311 Diese römischen Anweisungen gab Orsenigo am 16. Juni wortgetreu an das Ermländer Domkapitel weiter.312

Die Wahl Maximilian Kallers zum Bischof von Ermland Die Domherren schritten jedoch nicht umgehend zur Wahl, denn „in Frauenburg zeigte man sich umständlich“313 und unflexibel. So erklärte Orsenigo Ende Juni gleichsam entschuldigend dem Kardinalstaatssekretär: „Ich hoffte, dass alles schnell vor sich gehen würde, da eine vom Heiligen Stuhl vorgeschlagene Terna den Kapitularen ausreichende Gewähr einer guten Wahl geben musste, aber stattdessen fanden sie einen Grund die Angelegenheiten zu komplizieren.“314 Spannenkrebs habe nämlich – so der Nuntius – wissen wollen, ob man nach hergebrachtem Brauch öffentliche Gebete für die Bischofswahl anordnen und das Volk über das Datum des Wahlaktes in

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Vgl.: „Prima di procedere ad una nuova elezione il Capitolo deve attendere la risposta della Santa Sede, e ciò sub poena nullitatis novae electionis.“ Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 24v. Hervorhebung im Original. Es hieß in Artikel 6, Nr. 1, Satz 3 lediglich: „Der Heilige Stuhl wird zum Erzbischof oder Bischof niemand bestellen, von dem nicht das Kapitel nach der Wahl durch Anfrage bei der Preußischen Staatsregierung festgestellt hat, daß Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen.“ Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Wie es im positiven Falle weitergehen musste, wurde nicht geregelt. Der schon angesprochene Entwurf der Weisung ging sogar noch weiter und gab den Auftrag, die Gründe der Regierung mitzuteilen, warum „sie dieser Wahl nicht stattgibt“ („per non accogliendo questa elezione“). Pacelli an Orsenigo vom 3. Juni 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 76r. Diese Wendung strich Pacelli heraus, vermutlich weil sie insinuierte, dass die Regierung die Befugnis habe, die Wahl als solche zu bestätigen oder eben abzulehnen. Ihr kam jedoch nur das Recht zu, Einwände politischer Art gegen den Gewählten zu erheben, was etwas essentiell anderes war. Pacelli legte großen Wert auf die juristische Sorgfalt. Vgl. Orsenigo an Spannenkrebs vom 16. Juni 1930 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 26rv. Gatz, Besetzung, S. 221. „Speravo che tutto procedesse rapidamente, dato che una terna proposta dalla Santa Sede doveva dare ai Capitolari sufficiente garanzia di buona scelta, ma invece trovarono motivo per complicare le cose.“ Orsenigo an Pacelli vom 25. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 86r–87r, hier 86r. 88

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Kenntnis setzen solle. Außerdem sei man im Kapitel über die beiden Erstplatzierten nicht so im Bilde wie über Poschmann.315 Diesen kannte man natürlich gut, denn bevor er 1927 Dogmatiker in Breslau wurde, füllte er dieses Amt an der Akademie in Braunsberg aus. Orsenigo habe – so berichtete er Pacelli weiter – dem Kapitularvikar am 23. Juni erwidert, dass es zum Schutz des secretums klüger wäre, auf die öffentlichen Gebete zu verzichten und stattdessen nur die einzelnen Domherren inständig um Beistand für die Wahl beten sollten. Aus demselben Grund könnten zwar die nötigen biographischen Auskünfte eingeholt werden, aber mit der entsprechenden Vorsicht. Am nächsten Tag habe daraufhin Dompropst Franz Sander bei ihm Zweifel hinsichtlich des Verlaufs der Wahl angemeldet und deshalb um eine Audienz ersucht. Orsenigo habe aber abgewimmelt, weil er geglaubt habe, dass die Reise nach Berlin und die Audienz keinen „ernsten Zweck“316 hätten, vielmehr die Diskretion der Angelegenheit gefährdeten. Daher habe er Sander empfohlen, seine Zweifel Spannenkrebs vorzutragen – womit der Nuntius unterstellte, dass sich die Ermländer Kanoniker nicht untereinander absprachen317 – und sich nur noch einmal an die Nuntiatur zu wenden, wenn dieser es für nötig erachte. Hinter diesen Anfragen erkannte Orsenigo überkommene Denkmuster, die nunmehr überholt seien: „Ich glaube, dass die Grundlage all dieser Machenschaften, die ich für harmlos halte, die alte Psychologie ist, aufgrund derer sie glauben, dem Volk zeigen zu müssen, wie groß noch die Autorität der Kapitel bei der Wahl des eigenen Bischofs ist. Nach dieser ersten Probe, glaube ich, wird man schneller voranschreiten und keiner wird denken, das alte Zeremoniell bei den Wahlen bewahren zu müssen.“318

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Erwin Gatz behandelt diese Sache zu ungenau: Er schreibt lediglich, dass das Kapitel Informationen über Steinmann wünschte. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 221. Jedoch schrieb Orsenigo ausdrücklich: „Aggiunge [sc. Spannenkrebs, R.H.] inoltre che gli [sc. die Kapitulare, R.H.] occorrono notizie circa la vita dei primi due candidati, non conoscendo il Capitolo che il terzo.“ Orsenigo an Pacelli vom 25. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 86r. Der dritte Kandidat war nach der Korrektur Pacellis Poschmann. Von dieser Platzveränderung erwähnt Gatz freilich nichts, weil er die Ausfertigung der Weisung Pacellis vom 3. Juni in den Akten der Berliner Nuntiatur nicht konsultiert hat. (Prinzipiell ist die Änderung der Reihenfolge aber auch aus dem Entwurf ersichtlich, den Pacelli handschriftlich korrigierte.) Für Gatz steht demnach noch Steinmann auf dem dritten Rang der endgültigen Terna. Mit diesem (falschen) Vorwissen versteht er die zitierte Äußerung Orsenigos dann genau umgekehrt, nämlich dass nur über die Nummer drei noch biographische Kenntnisse gewünscht waren. „… scopo serio …“ Orsenigo an Pacelli vom 25. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 86v. Tatsächlich gab es Spannungen zwischen Spannenkrebs und Sander, die dadurch zusätzliche Nahrung erhielten, dass Orsenigo den Propst an den Kapitelsvikar weiterverwies. Vgl. die Andeutungen bei Spannenkrebs an Orsenigo vom 30. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 27rv. „Credo che le base di tutte queste manovre, che io ritengo innocenti, sia la vecchia psicologia per cui credono dover mostrare al popolo quanta sia ancora lʼautorità dei Capitoli in fatto di elezione del proprio Vescovo. Superata questa prima prova, credo si procederà più speditamente, e nessuno penserà di dover 89

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So schnell wie vom Nuntius erhofft funktionierte das jedoch nicht. Spannenkrebs war nicht bereit, auf die öffentlichen Gebete zu verzichten.319 Er berief sich dafür auf das Trienter Konzil, das öffentliche und private supplices im Falle von Sedisvakanzen angeordnet hatte.320 Diese Praxis, die bis zum jetzigen Zeitpunkt in Ermland immer gehandhabt worden sei – so versicherte der Kapitularvikar dem Nuntius –, sollte nicht abreißen, zumal im gegenteiligen Fall die Empörung bei Klerus und Volk groß sein werde. Spannenkrebs versprach, dass man bei der öffentlichen Anordnung Zeit und Tag der Wahl verschweigen werde, um das Argument der gefährdeten Diskretion zu entkräften. Die Hartnäckigkeit wurde tatsächlich belohnt: Orsenigo fragte bei Pacelli um die gewünschte Erlaubnis, der sie wiederum unter der Bedingung der Geheimniswahrung konzedierte.321 Daraufhin ordnete der Kapitelsvikar am 10. Juli an, dass neben den privaten Gebeten zum einen jeweils vor den Sonntags- und Festmessen bis zur Bischofswahl vor dem in der Pyxis ausgestellten Allerheiligsten für die kommende Bischofswahl gebetet und in sämtlichen Messen die Collecta de Spiritu Sancto kommemoriert werden sollte.322 Nachdem am 6. Juli schließlich auch Spannenkrebs den Nuntius um eine Audienz gebeten hatte, um die fehlenden biographischen und charakterlichen Kenntnisse über Kaller und Steinmann zu erhalten, gab Orsenigo nach.323 Propst und Kapitelsvikar sprachen am 8. Juli in der Berliner Nuntiatur vor. Darüber, wie dieses Gespräch verlief, geben die vatikanischen Quellen keinen Aufschluss. Jedenfalls gelang es dem Nuntius offenbar, alle Hindernisse auszuräumen, sodass der Wahl nichts mehr im Wege stand. Da das Wahlprotokoll anscheinend nicht an die Nuntiatur übersandt wurde, erhielt man beim Heiligen Stuhl keine Kenntnis über die Interna der Wahl. Dieses Dokument, das im Ermländer Diözesanarchiv abgelegt wurde, dokumentiert, dass die Domkapitulare am 23. Juli im Kapitelssaal zusammenkamen.324 Die nun folgende Wahl verdeutlicht, dass das Kapitel in zwei Lager gespalten

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conservare il vecchio cerimoniale circa le elezioni.“ Orsenigo an Pacelli vom 25. Juni 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 86v. Vgl. Spannenkrebs an Orsenigo vom 30. Juni 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 27rv. Vgl. Conc. Trid., Sess. XXIV, Decr. de reform., Can. I, Wohlmuth (Hg.), Dekrete 3, S. 760f. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 3. Juli 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 88r; Pacelli an Orsenigo vom 5. Juli 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 89r. Vgl. „Verordnung betr. Gebete um einen neuen Oberhirten für unsere Diözese“ vom 10. Juli 1930, in: Pastoralblatt für die Diözese Ermland Nr. 8 vom 1. August 1930. Vgl. Spannenkrebs an Orsenigo vom 6. Juli 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 2, Fol. 29r. Vgl. zum Folgenden die Auswertung des Protokolls bei Wojtkowski, Dzieje, S. 59–61. Anwesend waren neben den schon erwähnten Sander, Spannenkrebs, Hinzmann, Krix, Schröter und Heller, Domdekan Johannes Wichert, Julius Marquardt (der bei der Aufstellung der Kandidatenliste noch krankheitsbedingt gefehlt hatte), Paul Romahn, Julius Hennig, Oskar Stoff, Theodor Matthee und Franz Pingel. Vgl. zur Zusammensetzung des Domkapitels 1930 Fox, Auseinandersetzungen, S. 146. 90

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war. Bereits bei der Beerdigung Bludaus war Dompropst Sander für die Kandidatur Kallers eingetreten, der als Vertreter der Freien Prälatur Schneidemühl auch zugegen gewesen war. Für ihn sprachen nach Ansicht des Propstes sein seelsorglicher Eifer, seine Neutralität gegenüber Klerus und Volk, weil er nicht dem Ermland entstammte, und seine Eignung für die Diasporaseelsorge, die er auf Rügen, in Berlin und in Schneidemühl unter Beweis gestellt habe.325 Man wird davon ausgehen können, dass Sander auch versucht hatte, Kaller auf der Kandidatenliste des Kapitels zu platzieren. Offensichtlich war das Unterfangen gescheitert, weil er keine Mehrheit für ihn gewinnen konnte. Dass dieser nun auf der römischen Terna auftauchte, wird ihn gefreut haben, anders als Spannenkrebs, Schröter und jene aus dem Kapitel, die selbst den bischöflichen Hut anstrebten, aber nicht zur Wahl standen. Wie er bei der Aufstellung der Kapitelsliste keine Majorität erzielen konnte, so erhielt Kaller auch jetzt in drei Wahlgängen keine ausreichende Mehrheit. Die Stimmverteilung sah wie folgt aus: Im ersten Wahlgang bekamen Kaller 6, Steinmann 3 und Poschmann 4 Stimmen. Damit hatte Kaller zwar die Mehrheit, aber sieben Stimmen wären nötig gewesen, um die geforderte überhälftige Anzahl zu erfüllen. Im zweiten Durchgang bekamen Kaller wieder 6, Steinmann 2 und Poschmann 5; im dritten erhielten Kaller erneut 6, Steinmann noch 1 und Poschmann auch 6 Voten. Das Lager um Sander blieb in der Wahl Kallers konstant, die andere Partei, zunächst noch gespalten, vereinigte sich schließlich in der Wahl des Breslauer Dogmatikers. Die einzige noch verbliebene Stimme für Steinmann im dritten Wahlgang hätte den Ausschlag zu Gunsten Kallers oder Poschmanns geben können, weil nun die relative Majorität ausreichend gewesen wäre. Für das Stimmenremis im dritten und letzten Wahldurchgang sah das kanonische Recht eine zweifache Lösung vor: Entweder gab der Propst den Ausschlag oder es entschied das Weihealter.326 In letzterem hatte Kaller gegenüber Poschmann die Nase vorn, weil er ein Jahr eher (1903) zum Priester geweiht worden war. Aber wohl auch im gegenteiligen Fall hätte Sander Kaller zum Wahlsieger erklärt, wie er es jetzt tat. Noch am gleichen Tag legte er das Resultat dem preußischen Kultusministerium vor, das in Person des Ministers Adolf Grimme vier Wochen später, am 25.  August, sein Einverständnis

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Der Dompropst hatte sich offenbar mit dem litauischen Nuntius, Riccardo Bartolini, besprochen und war dabei „der Frage einer die polnische Minderheit ausreichend berücksichtigenden Seelsorge in diesem früher westpreußischen Anteil des Bistums“ nachgegangen mit dem Ergebnis, „Kaller als den geeigneten Kandidaten für das ultraquistische Bistum vorzuschlagen“. Reifferscheid, Ermland, S. 13. Dass Bartolini der Kurie die Frage nach der polnischsprachigen Seelsorge oder den Namen Kaller präsentiert hätte, stützen die vatikanischen Quellen nicht. Eine solche Annahme ist jedenfalls nicht erforderlich, um die römische Nominierung Kallers als Erstplatzierten der Terna zu erklären (vgl. dazu das Ergebnis Nr. 1 in diesem Kapitel). Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 297. 91

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gab. Den Namen des Wahlsiegers samt des Plazets der preußischen Regierung kommunizierte Sander daraufhin dem Nuntius, der seinerseits den Kardinalstaatssekretär informierte.327 Am 2. September gab Pacelli Rossi, der mittlerweile Sekretär der Konsistorialkongregation war, den Auftrag, die Ernennungsbullen anzufertigen.328 Damit ging dieser Tag als offizielles Ernennungsdatum in die kirchlichen Akten ein.329 In seiner Mitteilung an Orsenigo vom gleichen Tag sprach Pacelli nicht etwa davon, dass der Papst die Wahl bestätigt, sondern dass Pius XI. Kaller zum Bischof von Ermland „ernannt“ habe.330 Doch darf diese Formulierung nicht überstrapaziert werden, denn auf die Überlegung Rossis, ob man die bisher übliche Formel in den Text einfügen sollte, also dass die Ernennung durch den Papst vorgenommen werde „praevia adprobatione et confirmatione electionis peractae a Capitulo et Canonicis“331, entgegnete Pacelli, dass man eine veränderte Formel verwenden müsse, um – wie deutlich wird – den neuen Wahlmodus zu berücksichtigen: „praevia episcopi electione a Capitulo facta inter tres candidatos a Sancta Sede designatos ad normam Concordati.“332 Es ging also nicht darum, die Kapitelswahl zu entwerten,333 und folgerichtig war schließlich in der Ernennungsbulle von einer päpstlichen nominatio Kallers nichts zu lesen: Nach der „recht und legitim“ vom Domkapitel vollzogenen Wahl Kallers aus der römischen Terna, „setzte“ Pius XI. den bisherigen Administrator zum Bischof und Hirten von Ermland „ein“.334

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 1. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 91r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 2. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 94r. Vgl. AAS 22 (1930), S. 455. Vgl.: „Santo Padre ha nominato Mons. Kaller a Vescovo di Warmia.“ Pacelli an Orsenigo vom 2. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 92r. Vgl. auch dieselbe Formulierung im Schreiben an Rossi vom selben Tag. Rossi an Pacelli vom 12. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 95r. Vgl. dazu bereits die Anfrage Rossis im vorangegangenen Limburger Fall Bd. 2, Kap. II.1.8 (Die offizielle Supplik Kilians um einen Koadjutor, das Plazet der Regierung und die Einsetzung Hilfrichs). Pacelli an Rossi vom 14. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 96r. Vgl. auch Gatz, Besetzung, S. 222. Vgl.: „Hodie nos, electionem dilecti Filii Maximiliani Kaller, iam Administrationem Apostolicum Schneidemühlensem, a dilectis Filiis Capitulo et Canonicis eiusdem Cathedralis ad tramitem Concordati inter Apostolicam Sedem et Borussiae Statum initi inter tres candidatos a Nobis designatos rite ac legitime peractam confirmantes ac ratam habentes … eundem Maximilianum … ipsius Ecclesiae Episcopum constituimus et Pastorem.“ Ernennungsbulle Kallers vom 2. September 1930, in: Pastoralblatt für die Diözese Ermland Nr. 11 vom 1. November 1930. Hervorhebung R.H. 92

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Weihe und Inthronisation Am 3. September, einen Tag nachdem er durch Pacelli von der päpstlichen Ernennung Kallers erfahren hatte, informierte Orsenigo das Frauenburger Domkapitel.335 Vermutlich unterrichtete er gleichzeitig auch Kaller selbst, der daraufhin ein Dankesschreiben an Pacelli verfasste, in dem er das Versprechen ablegte, „die Rechte unserer h[eiligen] Kirche als Bischof treuestens zu wahren und mich zu bemühen, mein Amt mit der ganzen mir zur Verfügung stehenden Kraft zu versehen und ein würdiger Bischof zu werden“336. Am 28. Oktober – gut die Hälfte der dreimonatigen Frist, innerhalb der nach der Nomination die Ordination durchgeführt werden musste, war verstrichen – empfing Kaller die Bischofsweihe durch Orsenigo, allerdings in seiner bisherigen Wirkungsstätte Schneidemühl und nicht in Frauenburg, weshalb er hier später „mit spürbarer Reserve“337 aufgenommen wurde. Orsenigo berichtete später überschwänglich von der Weihezeremonie und dem Eindruck, den diese auf Katholiken wie Nichtkatholiken gemacht habe: „Die Feierlichkeiten, die am Dienstag wegen der Bischofsweihe stattfanden,338 vom Apostolischen Nuntius selbst mit zwei anderen Bischöfen vorgenommen,339 dienten den Katholiken dazu, ihren großen alten Enthusiasmus zu zeigen und lösten edle Empfindungen der Zuneigung für den Heiligen Vater aus, indem sie die Bänder der Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl kraftvoll stärkten. Die der Stadt Schneidemühl mit diesem Gottesdienst erwiesene Ehre wurde so geschätzt, dass selbst die Nicht-Katholiken am Ende die Freude der Katholiken teilten, nicht nur mit einem Verhalten tiefen Respekts, sondern auch indem sie die Feierlichkeiten in jeder Weise unterstützten und dem Gottesdienst beiwohnten.“340

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Vgl. Orsenigo an Spannenkrebs vom 3. September 1930, in: Pastoralblatt für die Diözese Ermland Nr. 10 vom 1. Oktober 1930. Kaller an Pacelli vom 17. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 97r. Fittkau, Kaller, S. 358. Die Wahl des Datums, Dienstag, den 28. Oktober, ergab sich aus der Bestimmung, dass die Bischofsweihe an einem Sonntag oder Apostelfest erfolgen sollte (Can. 1006 § 1 CIC 1917). An diesem Tag feierte die Kirche das Fest der Apostel Simon und Judas. Welche Bischöfe dem Nuntius assistierten konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Auch das Bistumsblatt bemerkte lediglich knapp im Anschluss an die abgedruckte Ernennungsbulle: „Die Konsekration des Hochwürdigsten Herrn Bischofs hat der Hochwürdigste Herr Päpstliche Nuntius Erzbischof Orsenigo am 28. d[es] M[onats] in Schneidemühl vollzogen.“ Pastoralblatt für die Diözese Ermland Nr. 11 vom 1. November 1930. „Le feste, che ebbero luogo martedi per la consacrazione episcopale, lʼintervento dello stesso Nunzio Apostolico e di due altri Vescovi servì a ridare ai cattolici tutto il loro antico entusiasmo e a suscitare nobili sentimenti di affetto per il Santo Padre, rinsaldando vigorosamente i vincoli di attacamento alla Santa Sede. Lʼonore fatto alla città di Schneidemühl con questo funzione religiosa fu così apprezzato, che gli stessi acattolici finirono a condividere la gioia dei cattolici, non solo con un contegno di profondo 93

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Sogar der protestantische Oberpräsident der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, Friedrich von Bülow, sei mit seiner Frau zugegen gewesen, habe am Festbankett teilgenommen und dort eine Laudatio auf den neuen Bischof gehalten. In den Augen des Nuntius waren die Feierlichkeiten ein voller Erfolg.341 Knapp drei Wochen später, am 17. November, nahm der neue Bischof sein Bistum in Besitz, indem er dem Domkapitel die Ernennungsbulle vorlegte. Am nächsten Tag fand die feierliche Inthronisation im Frauenburger Dom statt. Seinen Dienst begann er mit der Abfassung von Ergebenheitsadressen an Pius XI. und den Kardinalstaatssekretär.342

Ergebnis 1. Die Terna, die Pacelli als maßgebliche Instanz für die innerkuriale Kandidatensondierung (vgl. Nr. 5) aufstellte, folgte einer klaren Präferenzhierarchie, was aus der Veränderung ersichtlich wird, die er an der Reihenfolge der Namen vornahm: demnach war Kaller sein Favorit, Steinmann die nächste Alternative und ihm lieber als Poschmann. Ein zentrales Auswahlkriterium des Kardinalstaatssekretärs war die Zweisprachigkeit: Der künftige Bischof sollte angesichts eines nicht unbedeutenden polnischen Anteils der katholischen Bevölkerung sowohl deutsch als auch polnisch sprechen, weil sich nur auf diese Weise ein „vollkommenes, gegenseitiges Vertrauen“ zwischen Klerus und Volk in der Diasporadiözese Ermland herstellen lasse. Das bedeutete auch, dass seine Kandidaten faktisch aus den ostdeutschen und mit Polen verbundenen Gebieten stammen mussten. Folgerichtig traf dies auf alle drei genannten Geistlichen zu, die sämtlich der polnischen Spra-

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rispetto, ma anche agevolando in ogni modo la sollennità e presenziando alla funzione.“ Orsenigo an Pacelli vom 30. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 12r–13r, hier 12r-v. Noch am Weihetag habe ihn Bülow – so Orsenigo – zusammen mit Kaller, den beiden Mitkonsekranten und einigen anderen Geistlichen zu Hause zum Abendessen empfangen. Am nächsten Tag hätten schließlich alle zusammen eine Autorundfahrt durch die Grenzmark unternommen, die ihm Gelegenheit gegeben habe, in vielen Pfarreien und Bildungseinrichtungen die Dankbarkeit und Freude der Gläubigen entgegenzunehmen. Orsenigo zeigte sich überzeugt, dass dieses Ereignis nicht nur bei ihm, sondern auch in Schneidemühl ein prägendes Erlebnis gewesen war: „Tutti mi hanno assicurato ripetutamente, che questa solennità religiosa, compiuta fra tanta armonia di popolo e con tanta imponenza liturgica, e questa gita amichevole del Nunzio attraverso le terre della Grenzmark lascerà fra queste popolazioni un ricordo efficace e renderà i cattolici sempre più fieri della loro fede.“ Orsenigo an Pacelli vom 30. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 13r. Vgl. Kaller an Pius XI. vom 19. November 1930, ASV, Segr. Stato, Anno 1930, Rubr. 6, Fasz. 9, Fol. 92r; Kaller an Pacelli vom 20. November 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1933, Pos. 594 P.O., Fasz. 100, Fol. 98r. Die ausgedrückte Ehrerbietung wurde mit einem Gratulationsschreiben beantwortet. Vgl. Pacelli an Kaller vom 28. November 1930 (Entwurf), ASV, Segr. Stato, Anno 1930, Rubr. 6, Fasz. 9, Fol. 93rv. Vgl. auch Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S. 291. 94

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che mächtig waren. Nicht polnisch sprechende Kandidaten hatten bei Pacelli keine Chance. Das galt auch für jene, die sowohl auf den bischöflichen Vorschlagslisten standen als auch von Pacelli selbst früher oder später einmal als taugliche Bischofsanwärter qualifiziert wurden. Dies traf auf drei Namen zu: Ludwig Baur, der 1926/27 in Rottenburg Pacellis Favorit gewesen war; Conrad Gröber, den er praktisch parallel zur Ermländer causa für den Meißener Bischofsstuhl nominierte; schließlich Konrad Graf von Preysing, der 1932 zum Bischof von Eichstätt ernannt werden sollte. Weitere Charakteristika, anhand deren er die Kandidaten aus dem polnischsprachigen Pool auswählte, werden aus den Quellen zu diesem Fall nicht deutlich. Wichtig ist jedoch, dass Pacelli alle drei Kandidaten persönlich kannte. a) Insbesondere galt dies von seinem Favoriten Kaller, dem er 1926 an die Spitze der Tützer Administratur verholfen hatte. Sinnvoll ist es, daran zu erinnern, wie Pacelli damals den aus Oberschlesien stammenden Berliner Pfarrer eingeschätzt hatte: „Er ist vielleicht der eifrigste und frömmste der Geistlichen der Hauptstadt …, ein sehr guter Organisator und Kenner der Erfordernisse des heiligen Dienstes in der Diaspora; er beherrscht außerdem die polnische Sprache, in der er auch predigen und Beichte hören kann.“343 Die Parallelen zur Situation in Ermland sind evident. Damals war Pacelli außerdem von Kallers Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl, seiner Adaption des römischen Konzepts der katholischen Aktion und seinem Verständnis für die korrekt-römische Priesterausbildung beeindruckt gewesen. Dass sich Pacellis Sicht und Schwerpunktsetzung seit 1926 nicht verändert hatte, beweist seine Schlussrelation von 1929: „Obwohl seine [sc. Kallers, R.H.] philosophisch-theologische und kirchenrechtliche Bildung, da er seine Studien einzig an der theologischen Fakultät Breslau betrieb, an den Mängeln dieser Ausbildung leidet, gleicht er dies dennoch durch seine Frömmigkeit, seinen Eifer, seine tiefe Ergebenheit gegenüber dem H[eiligen] Stuhl und der Nuntiatur aus; da er kein eigenes Seminar hat, schickt er einen Großteil seiner Schüler zum philosophisch-theologischen Institut der hochwürdigen Patres der Gesellschaft Jesu in Frankfurt, obwohl der preußische Kultusminister ihn wiederholt ersucht hat, sie mögen stattdessen an der Staatlichen Akademie in Braunsberg ausgebildet werden …“344

An eben dieser Akademie Braunsberg hatte Bludau seine Priesteramtskandidaten ausbilden lassen, was Pacelli streng monierte, da er die dortige nicht-scholastische Theologie als äußerst defizitär einstufte – „falsche oder zumindest missverständliche Meinungen“345 würden dort vertreten. Man darf demnach getrost davon ausgehen, dass sich der Kardinalstaatssekretär von Kaller erhoffte,

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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.4 (Ergebnis Nr. 1). Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 49r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 255. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 233. Pacelli kritisierte an dieser Stelle besonders den seit 1908 Philosophie dozierenden Wladislaus Switalski. Aber gewiss 95

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dass er diesen Fehler Bludaus nicht wiederholen, vielmehr seiner bisherigen Praxis treu bleiben und die Ermländer Priesterausbildung von der staatlichen Akademie weg nach St. Georgen verlegen werde. Vor diesem Hintergrund erhält die Favoritenrolle Kallers bei Pacelli noch einmal stärkeres Gewicht. Zu konstatieren bleibt außerdem, dass der Administrator mit zwei Stimmen auf den Vorschlagslisten den größten Rückhalt – soweit man das bei zwei Voten sagen kann – im preußischen Episkopat besaß. Dass dies für Pacelli aber nicht ausschlaggebend war, zeigt sich daran, dass er andernfalls auch Spannenkrebs auf die Terna hätte setzen müssen, der ebenfalls zwei Befürworter gefunden hatte. Darüber hinaus waren die Geistlichen Nummer zwei und drei der Terna überhaupt nicht vorgeschlagen worden. b) Steinmann, der übrigens ein Freund von Ludwig Kaas war,346 war Pacelli seit Anfang der 1920er Jahre bekannt, schon bevor jener Konsultor an der deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl wurde. Auf der Suche nach dem ersten Bischof des neu errichteten Bistums Meißen 1920/21 war ihm Steinmann bereits als möglicher Kandidat in den Sinn gekommen.347 Es ist davon auszugehen, dass Pacelli den in Hannover gebürtigen ehemaligen Breslauer Domkapitular in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt im Staatssekretariat noch erheblich näher kennenlernte und die gewünschten Eigenschaften bei ihm wiederfand. Der Konsultor oder „Consigliere“, wie er an der Kurie genannt wurde,348 hatte nicht nur eine langjährige Erfahrung in der Priesterausbildung vorzuweisen, in der er unter dem Breslauer Fürstbischof, Georg Kardinal von Kopp, tätig war, sondern besaß vor allem auch eine reiche Kenntnis der Verhältnisse in den östlichen, ehemals zu Deutschland gehörigen Grenzgebieten. Mit der Verwaltung böhmischer Bistumsgüter war er bereits in seiner Breslauer Zeit betraut gewesen, während das gesamte Ostgebiet zentraler Gegenstand seiner Tätigkeit in der deutschen Vatikanbotschaft war.349

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wird man auch die jüngere Vergangenheit des Lyceum Hosianum beziehungsweise der („Königlichen“ und dann) Staatlichen Akademie Braunsberg bei Pacellis Kritik mitlesen müssen, vor allem das Modernismusverfahren des Heiligen Offiziums gegen den dortigen Kirchenhistoriker Hugo Koch. Vgl. dazu Klapczynski, Ab initio. Vgl. allgemein zur Geschichte der Akademie Stasiewski, Akademie. Dass „fast alle Lehrstuhlinhaber der Braunsberger Akademie 1933 Mitglieder der NSDAP [wurden] und etliche von ihnen entschiedene Verfechter vieler vom Dritten Reich und der Partei erstrebter Ziele“, war zur Zeit des Besetzungsverfahrens noch nicht absehbar. Vgl. zum Verhältnis der Akadmie zum NS Reifferscheid, Ermland, S. 34–78, hier 36f.; Preuschoff, Bischof. Vgl. dazu etwa die Hinweise in Bd. 2, Kap. II.1.11 (Die römische Terna) sowie May, Kaas 3, S. 549. Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.1 (Ein Einflussversuch der sächsischen Regierung und die Endphase von Pacellis Kandidatensondierung). In der Nuntiaturkorrespondenz tauchte der Name Steinmanns häufiger auf. Vgl. zum Beispiel Borgongini Duca an Pacelli vom 23. Juni 1922, ASV, ANB 90, Fasz. 1, Fol. 389r–391v, passim oder Pacelli an Gasparri vom 23. Februar 1923, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1923–1935, Pos. 529 P.O., Fasz. 56, Fol. 5rv, hier 5r. Vgl. Samerski, Konsultor, S. 269. Vgl. Samerski, Konsultor, passim. 96

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c) Poschmann schließlich war ein gebürtiger Ermländer, der aus dem ostpreußischen Heinrikau kam. Über ihn hatte Pacelli Ende 1927 Informationen eingeholt, als es darum ging, die Breslauer Dogmatikprofessur zu besetzen. Damals hatte ihn Pacelli wie folgt charakterisiert: „Der Ehrwürdige Dr. Bernhard Poschmann, geboren am 1. September 1878 in Heinrikau (Ostpreußen), jetzt ordentlicher Professor der dogmatischen Theologie an der staatlichen Akademie in Braunsberg, ist Autor folgender Werke: Die Sichtbarkeit der Kirche nach der Lehre des hl. Cyprian (1907); Die Sündenvergebung bei Origenes (1912); Hat Augustinus die Privatbuße eingeführt? (1920); Die kirchliche Vermittlung der Sündenvergebung nach Augustinus (1921); Kirchenbuße und correptio secreta bei Augustinus (1923); Grundlagen und Geisteshaltung der katholischen Frömmigkeit (1925). – In diesen zahlreichen Publikationen erweist er sich nicht eigentlich als ein Wissenschaftler erster Klasse, weil er keine großartige Fähigkeit zur Synthese offenbart; und dennoch ist er ein sorgfältiger und gewissenhafter Forscher, dessen theologische Lehre keinen Raum zu irgendeinem Widerspruch zu geben scheint. Der Ehrwürdige Pater Gehrmann SVD, mein besonderer Sekretär, der ihn persönlich kennt, versichert, dass er auch ein eifriger und vorbildlicher Priester ist.“350

Ein integrer Priester, aber nur ein durchschnittlicher Theologe  – vielleicht war Letzteres der Grund dafür, dass Pacelli ihn vom zweiten auf den dritten Ternaplatz schob, da er sich von Steinmann eine solidere „Fähigkeit zur Synthese“, das heißt eine größere Affinität zur spekulativ-scholastischen Theologie versprach. Eben diese war für den neuen Bischof unabdingbar, wenn er den von Pacelli gewünschten „Ortswechsel“ in der Ermländer Priesterausbildung durchführen sollte. Da der Botschaftsrat anders als Poschmann keine Professur innehatte, schloss Pacelli diese Affinität vermutlich (aus den persönlichen Begegnungen in Rom oder) aus dessen Studium: Steinmann hatte als Alumne des Germanicums an der päpstlichen Gregoriana studiert und dort Scholastik gelernt, während Poschmann in Braunsberg ausgebildet worden war. Dass der Kardinalstaatssekretär angesichts dessen vermutete, dass Steinmann die Alumnen eher aus Braunsberg abziehen würde als Poschmann ist einleuchtend. Allerdings ergibt sich wiederum aus der Tatsache, dass der Botschaftskonsultor hinter Kaller rangierte, dass für Pacelli der Studienort des Kandidaten nicht das alles entscheidende Kriterium war. Außerdem verdeutlicht die durchschnittliche Beurteilung 350

„Il Rev. Dr. Bernardo Poschmann, nato il 1. Settembre 1878 in Heinrikau (Prussia Orientale), ora Professore ordinario di teologia dommatica nellʼAccademia dello Stato in Braunsberg, è autore delle seguenti opere: Die Sichtbarkeit der Kirche nach der Lehre des h. Cyprian (1907); Die Sündenvergebung bei Origenes (1912); Hat Augustinus die Privatbuße eingeführt? (1920); Die kirchliche Vermittlung der Sündenvergebung nach Augustinus (1921); Kirchenbuße und correptio secreta bei Augustinus (1923); Grundlagen und Geisteshaltung der katholischen Frömmigkeit (1925). – In queste numerose pubblicazioni egli non si rivela propriamente uno scienziato di primʼordine, giacché non manifesta una grande facoltà di sintesi; è però uno studioso diligente e coscienzioso, la cui dottrina teologica non sembra dar luogo ad alcuna obbiezione. Il Rev. P. Gehrmann, S. V. D., mio Segretario particolare, che personalmente lo conosce, assicura essere egli anche sacerdote zelante ed esemplare.“ Pacelli an Bisleti vom 15. Dezember 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1930, Pos. 511 P.O., Fasz. 22, Fol. 35r–37v, hier 35r-v. 97

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Poschmanns ebenso wie bereits der formale Tausch der Plätze zwei und drei, dass Pacelli nicht drei „gleichwertige“ Kandidaten zur Verfügung standen, sondern er offensichtlich Mühe hatte, die Terna mit akzeptablen Geistlichen zu füllen. Schlussendlich bleibt zu konstatieren, dass Pacellis Nummer eins als Sieger aus der Domkapitelswahl hervorging und er so den Abschluss des Ermländer Besetzungsfalls als vollen Erfolg verbuchen konnte. 2. Die Wiederbesetzung des Ermländer Bischofsstuhls ließ Pacelli erstmals nach dem ordentlichen Modus gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats erfolgen. Über das darin normierte Prozedere hinaus sind vier Beobachtungen erwähnenswert, wie Pacelli die „Leerstellen“ im Verfahren inhaltlich „füllte“ respektive welche er gerade nicht „füllte“: a) Er verlangte, dass der Nuntius (beziehungsweise der Geschäftsträger) die Kandidatenvorschläge des Episkopats und des Domkapitels anforderte und anschließend mit „entsprechenden Anmerkungen“ versah, also vorsondierte. b) Pacelli insistierte nicht darauf, dass sämtliche preußischen Oberhirten auch tatsächlich Geistliche proponierten. Stattdessen ließ er es kommentarlos durchgehen, dass der Trierer episcopus keinen Namen zu nennen wusste, der Vorschlag des Fuldaer Oberhirten verspätet und die Liste des Hildesheimer Bischofs gar nicht die Kurie erreichte. c) Er gab nur eine allgemeine Anweisung, in welcher Form Episkopat und Domkapitel diese Vorschlagslisten aufstellen sollten: nämlich „jeder getrennt“, „einen oder mehr Kandidaten“ und „mit allen nötigen Informationen“. Folgerichtig waren die eingehenden Listen völlig divergent: Das Spektrum der Vorschläge reichte von null (Bornewasser) bis fünf (Domkapitel); während einige offenbar glaubten, die Kandidaten müssten aus der eigenen Diözese stammen (Kilian, Poggenburg, Klein, Domkapitel), weiteten die anderen ihren Blick über die Diözesangrenzen hinaus; während die meisten nur ganz knappe biographische und charakterliche Angaben zu ihren Vorschlägen machten, waren andere ausführlich oder entwarfen sogar ein eigenes Bischofsprofil (Schulte, Bertram, Schreiber). Warum Pacelli schließlich bestrebt war, Absprachen unter den Proponenten zu verhindern, hatte er im Kontext der Konkordatsverhandlungen bereits zugegeben: Bei fehlendem Überblick über den Pool der vorgeschlagenen Geistlichen konnte niemand beurteilen und daher auch niemand behaupten, dass der Heilige Stuhl die Kandidatenlisten bei der Aufstellung der Terna nicht „gewürdigt“ hatte.351 d) Schließlich war es laut Konkordat Aufgabe des Domkapitels, die Regierung über politische Bedenken zu befragen. Formal konnte Pacelli das nicht ändern, aber intern bestand er darauf, dass die etwaigen Bedenken der staatlichen Seite dem Heiligen Stuhl und damit ihm selbst vorgelegt würden. Die eventuelle Auseinandersetzung mit der Regierung traute er weder dem Domkapitel noch dem Berliner Nuntius zu. 351

Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.5 (Pacellis Verhandlungsstrategie und ein sich anbahnender Kompromiss). 98

II.1.9 Ermland 1930

All diese Punkte zeigen, dass Pacelli die „Freiräume“ des konkordatären Besetzungsmodus nutzen wollte, um den Einfluss des Heiligen Stuhls über seine formale Rolle hinaus zu stärken und aus diesem Grund auch nicht an der Einheitlichkeit der Vorschlagslisten, die eine erheblich höhere Schlagkraft bedeutet hätte, interessiert war. 3. Die gerade angesprochene staatliche Beteiligung bestand nur in der erwähnten politischen Klausel gemäß Artikel 6 des Konkordats. Dass Pacelli sich im Vorfeld über das Plazet der Regierung Gedanken machte, deutet die von ihm geäußerte Vermutung an, dass er Einwände gegen die Kandidaten der Terna für nicht „wahrscheinlich“ halte. Da sich diese Vermutung bewahrheitete, war diese Komponente im Besetzungsfall kein relevanter Faktor. 4. Die vatikanischen Quellen offenbaren nicht, ob Pacelli für seine Kandidatenauswahl aus sich heraus unmittelbar Informationen einzog. Die belegbaren Informanten waren hingegen entweder vom Verfahren vorgeschrieben, ungefragt oder mittelbar. a) Zur ersten Gruppe gehörten der preußische Episkopat und das Ermländer Domkapitel, wobei bereits darauf hingewiesen wurde, dass deren Votum für Pacelli von untergeordneter Bedeutung war (vgl. Nr. 1). Fragt man, wer von diesen bei Pacelli augenscheinlich das meiste Gewicht hatte, so lässt sich an dieser Stelle nur der Befund wiedergeben, dass sein Favorit Kaller von Berning und Schreiber vorgeschlagen wurde. Laut Erwin Gatz hatte für Pacelli Schreiber das meiste Gewicht, insofern auch Poschmann auf dessen „Zettel“ stand.352 Allerdings bewogen den Berliner Administrator dabei nur informative Zwecke, da er gerade nicht wollte, dass ein Ermländer wie Poschmann den hiesigen Bischofsstuhl bestieg. Insofern setzte sich Pacelli eigentlich von dem Votum Schreibers ab, indem er den Genannten auf der Terna platzierte. Ebenfalls konnte ihn die gemeinsame Stimme Bertrams und des Ermländer Domkapitels nicht davon überzeugen, Spannenkrebs, den neben Kaller einzig doppelt proponierten Geistlichen, auf die Dreierliste zu setzen. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass Pacellis Grundkriterium der doppelten Sprachfähigkeit bei den Gutachten Schultes und Schreibers auftauchte sowie bei Bertram sogar zum Prinzip erhoben wurde. Doch lässt sich daraus nicht ableiten, dass Pacelli ihnen in dieser Sache folgte, denn bevor Orsenigo ihre Kandidatenlisten nach Rom sandte (14. Mai) hatte Pacelli dieses Kriterium bereits fest im Blick (das Gutachten über den polnischen Bevölkerungsanteil datiert auf den 26. April). Es bleibt daher zu konstatieren, dass keiner aus dieser Gruppe als besonders einflussreicher Informant Pacellis hervorsticht. b) Die zweite Gruppe bildeten Schröter und Dietz, die sich unaufgefordert beim Kardinalstaatssekretär Gehör verschaffen wollten. Beiden ist dies auf ganzer Linie nicht gelungen: Beim Ex-Alumnen des Germanicums und Ermländer Domkapitular ignorierte Pacelli sowohl den Vorschlag, eine römische Nomination des neuen Bischofs vorzunehmen, als auch dessen Selbstpro352

Vgl. Gatz, Besetzung, S. 220. Vgl. auch Bd. 2, Kap. II.1.9 Anm. 267. 99

II.1.9 Ermland 1930

position für dieses Amt. Erfolgreich war Schröter höchstens darin, durch seine Diskreditierung der Kapitelsliste Pacellis Bestreben, diese zu berücksichtigen, gewiss nicht gefördert zu haben. Auch der Königsberger Jesuit hatte keinerlei Einfluss auf den Staatssekretär. Denn abgesehen davon, dass Pacelli dessen Kandidatenvorschläge nicht aufgriff, maß er auch der prinzipiellen Kritik an der Kandidatur Poschmanns und Kallers – offenkundigerweise – keine Bedeutung bei. c) Unter die letzte Kategorie lässt sich zum einen der Redemptoristenprovinzial Brors subsumieren, dessen Votum für Poschmann das Staatssekretariat auf eigenen Antrieb Orsenigos erreichte und damit gewissermaßen als mittelbarer Informant Pacellis die Nominierung des Professors stützen konnte. Zum anderen wird man Gehrmann an dieser Stelle nennen können, wenn man zugesteht, dass das Votum seines früheren Privatsekretärs über Poschmann aus dem Jahr 1927 (vgl. Nr. 1) für Pacelli im Ermländer Fall immer noch Wert hatte. Gehrmann war für Pacelli erklärtermaßen eine sehr enge Vertrauensperson, die er als Nuntius häufiger bei „östlichen“ Angelegenheiten konsultiert hatte.353 Die Behauptung schließlich, Gehrmann habe die Ernennung Kallers zum Bischof von Ermland betrieben, kann durch die vatikanischen Quellen nicht gestützt werden.354 5. Es ist klar, dass nach seiner Übernahme des römischen Staatssekretariats die Fäden der Kirchenpolitik bei Pacelli ex professo zusammenliefen. Doch darüber hinaus zeigt die Rekonstruktion des Besetzungsfalls, dass er von Rom aus nicht etwa nur letzte Entscheidungen traf, sondern vielmehr die gesamte causa steuerte. Die unter Nr. 2 genannten Punkte verdeutlichen, wie er die detaillierte Abwicklung des Verfahrens an sich zog und der Berliner Nuntiatur kaum eigenständiges Handeln zugestand. Man könnte auch annehmen, dass Pacelli angesichts seines neuen universalkirchlichen Aufgabenfeldes „Wichtigeres“ oder einfach „anderes“ zu tun gehabt hätte, als sich in dieser Intensität um den Ermländer Besetzungsfall zu kümmern. Stattdessen glaubte er, das Wiederbesetzungsverfahren von Rom aus sogar überhaupt erst initiieren zu müssen und nicht einmal diesen Schritt der Nuntiatur überlassen zu können. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass der Geschäftsträger keine Bereitschaft zu selbständigem Handeln demonstrierte und sich auch der neue Nuntius logischerweise erst in das Amt einfügen musste. Immerhin gestand Pacelli diesem zu, die eigene Auffassung zu den eingeholten Vorschlagslisten zu äußern, das heißt in der Kandidatenfrage zuzuarbeiten. Diese Vorsondierung bestand letztlich aber nur in einer (unvollständigen) Auszählung der Stimmen und in einer besonderen – durch ein kurzes Votum eines Informanten gestützten – Empfehlung Poschmanns, die vor dem Hintergrund der Terna aber durchaus an Gewicht gewinnt.

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Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.4 (Ergebnis Nr. 4). So lautet die Annahme Walter Adolphs. Vgl. Aufzeichnung Adolphs vom 31. März 1937, abgedruckt bei Adolph, Aufzeichnungen, S. 61–65 (Nr. 20), hier 63f. Vgl. dazu bereits Preuschoff, Bischof, S. 111; Ders., Gehrmann, S. 77. Für die Ernennung Kallers zum Apostolischen Administrator von Tütz 1925/​26 trifft diese Behauptung schon eher zu. 100

II.1.10 Schneidemühl 1930/31

Damit ist die wichtige Frage angesprochen, wie die Dreierliste eigentlich zustande kam: Wenngleich die Quellen keinen eindeutigen Aufschluss darüber geben, so lässt sich doch ohne Zweifel davon ausgehen, dass Pacelli für die Kandidatenentscheidungen verantwortlich war. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass abgesehen vom Plazet des Heiligen Offiziums eine andere Kongregation oder kuriale Behörde daran beteiligt war: Er regelte das Verfahren, ihm gingen die Listen aus Berlin zu; er stellte schon im Vorfeld das Kriterium der Zweisprachigkeit auf; er kannte die Geistlichen der Terna und „brachte“ sie gewissermaßen aus seiner Nuntiaturzeit mit; er korrigierte die Reihenfolge der Namen; er entschied über die entsprechende Formulierung in der Ernennungsbulle. All das macht die Annahme beinahe unmöglich, dass es nicht Pacelli war, der drei Namen auswählte und diese dann vom Papst absegnen ließ. Ob Pius XI. Pacellis Terna widerspruchsfrei akzeptierte oder Modifikationen verlangte, ist nach dem Gesagten zwar nicht wahrscheinlich, lässt sich aber nicht völlig ausschließen. Gut möglich ist, dass der Pontifex wie schon in Tütz 1925/26 das Kriterium der Zweisprachigkeit besonders stark machte und vielleicht sogar schon zu Beginn der Kandidatensondierungen darauf insistierte.355

II.1.10 Zwei Anläufe in der Kandidatensuche: Schneidemühl 1930/31 (Franz Hartz)356 Pacellis Kandidatenerkundigungen und die Kandidatur Paul Webers Die ehemalige Apostolische Administratur Tütz/Schneidemühl wurde 1930 durch die Konstitution Pastoralis officii nostri im Anschluss an das Preußenkonkordat in die Breslauer Kirchenprovinz eingefügt und zur Freien Prälatur erhoben.357 Maximilian Kaller, der dieses ostdeutsche Jurisdiktions355

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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.4 (Zurück zu Paech und Pacellis Sorge um das preußische Konkordat sowie Papst und Staatssekretär gegen den Nuntius: salus animarum als oberste Richtschnur). Vgl. zur Besetzung der Freien Prälatur Schneidemühl 1930/​31 Prälat Dr.  Franz Hartz, S.  18–22; Schmauch, Freie Prälatur Schneidemühl, S. 37–39; Speckner, Wächter, S. 141. Vgl. Art. 2, Abs. 6, Satz 3 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 323; Pastoralis officii nostri vom 13. August 1930, Nr. III.4, AAS 23 (1931), S. 34–41, hier 39; Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 343. Der Ordinarius einer „Freien Prälatur“ ist Praelatus nullius dioecesis cum territorio proprio, steht also einem eigenen Gebiet mit Klerus von Volk vor und ist von keinem anderen Diözesanverband rechtlich abhängig. Die Prälatur ist eine provisorische Institution – sie wird beispielsweise gewählt, wenn noch staatliche Grenzverschiebungen zu erwarten sind, denen die Kirchengrenzen angepasst werden sollen – und hat quasidiözesanen Charakter. Vgl. zur rechtlichen Stellung eines Praelatus nullius beziehungsweise einer Praelatura nullius Cann. 319–327 CIC 1917; Marschall, Praelatura Nullius, S. 42–50; Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 392–395. Vgl. zur Freien Prälatur Schneidemühl Bd. 1, Kap. II.1.4 Anm. 1018. 101

II.1.10 Schneidemühl 1930/31

gebiet seit 1926 leitete, war nach dem Tod des Ermländer Bischofs, Augustinus Bludau, im Februar 1930 von Kardinalstaatssekretär Pacelli zu dessen Nachfolger ausersehen worden. Das dortige Domkapitel wählte Kaller – den Erstplatzierten der römischen Terna – am 23. Juli zum neuen Oberhirten. Knapp einen Monat später, am 25. August, gab die preußische Regierung ihr Nihil obstat zur Promotion Kallers auf den vakanten Bischofsstuhl. Dies war für Pacelli, der von Rom aus die kirchlichen Entwicklungen in Deutschland genau im Auge behielt, der Startschuss, um sich über die Nachfolge Kallers an der Spitze der Freien Prälatur Schneidemühl Gedanken zu machen.358 Die Initiative zur Wiederbesetzung der Prälatur ging von ihm persönlich aus, ohne dass ihn etwa ein Bericht des noch frischen Berliner Nuntius Orsenigo auf diese anstehende Aufgabe aufmerksam gemacht hätte. Wie ging Pacelli die Suche nach einem geeigneten Kandidaten an? Er suchte Rat bei Pater Franz Rauterkus SJ, der in der Berliner Jesuitenniederlassung tätig war. Rauterkus war von Pacelli bereits zu seiner Zeit als Nuntius häufig als Ratgeber herangezogen worden – es darf vermutet werden, dass er den Jesuiten schon bei der Besetzung der Administratur Tütz 1925/26 vertraulich über geeignete Kandidaten befragte359  – und gehörte für ihn zum Kreis der Geistlichen „absoluten Vertrauens“360, wie Pacelli Anfang 1929 noch selbst bekannt hatte. Pater Rauterkus verfasste am 31. August 1930 ein Schreiben mit der Anrede: „Hochwürdiger, lieber Pater!“361 Darin antwortete er auf eine Anfrage, die ihm unter dem Datum des 26. August zugegangen war. Da diese Anfrage im Faszikel über die Besetzung Schneidemühls nicht überliefert wurde, kann ihr Inhalt nur aus Rauterkusʼ Antwort erschlossen werden. Offenbar war der Berliner Jesuit zunächst gebeten worden, Geistliche für das vakante Amt des Gefreiten Prälaten vorzuschlagen, die aus der preußischen Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, also aus dem Prälaturbezirk selbst stammten. Diese Bitte musste Rauterkus jedoch enttäuschen, ein „guter Kandidat“ aus der Grenzmark sei

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Allerdings erhielt der Kardinalstaatssekretär erst am 1. September von Nuntius Orsenigo via Telegramm die Nachricht, dass das Ermländer Domkapitel Kaller zum neuen Diözesanbischof gewählt hatte. Das könnte bedeuten, dass Pacelli das Wahlergebnis antizipierte und in der Gewissheit, Kaller würde gewählt, die Suche nach einem Nachfolger in Schneidemühl begann. Aber angesichts der zeitlichen Koinzidenz von preußischem Nihil obstat (25. August) und dem – gleich zu behandelnden – Start der Kandidatensuche (26. August), scheint es sinnvoll anzunehmen, dass Pacelli bereits früher von der Zustimmung der Regierung erfuhr. Denkbar ist eine Mitteilung durch den Vatikangesandten Diego von Bergen. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.4 (Ergebnis Nr. 4). So schrieb Pacelli an den Sekretär der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, Luigi Sincero: „Ai nomi dei suddetti ecclesiastici, di assoluta fiducia, si potrebbe aggiungere …“ Pacelli an Sincero vom 2. Februar 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Pontificia Commissione Pro Russia, 1921–1931, Pos. 12, Fasz. 80, Fol. 21rv, hier 21v. Dieses Vertrauensvotum erhielten neben Rauterkus auch Gehrmann und der spätere Meißener Oberhirte, Heinrich Wienken. Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5rv, hier 5r. 102

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ihm „nicht bekannt“362. Dann nahm der Jesuit Stellung zu einem Kandidaten, der offenbar von Pacelli ins Spiel gebracht worden war und über den der Kardinalstaatssekretär eine Einschätzung wünschte, nämlich den Breslauer Domherrn Ferdinand Piontek: „Domkapitular Dr. Piontek ist ein guter Kenner der Diaspora und sehr tüchtig in der Beschaffung von Geldern. Kard[inal] B[ertram] hätte ihn sehr gern als Bischof von Berlin gehabt,363 ob er ihn aber gern hergibt für Schneidemühl, ist mir sehr zweifelhaft; als er seinerzeit neben Kaller für Schneidemühl in Frage kam, war der Kard[inal] sehr dagegen;364 Piontek sei der einzige Arbeiter im Domkapitel. Dass er die Studierenden nach Breslau schicken würde, halte ich für ziemlich selbstverständlich.“365

Die skizzierten Interna über die Besetzungsfälle in Tütz und Berlin zeigen, dass Rauterkus gut informiert war. Pacellis wusste von damals ebenso gut um die hohe Wertschätzung, die Bertram „seinem“ Domkapitular entgegenbrachte. Dass Pacelli mit Bertram jetzt keinen Kontakt aufnahm, um die eventuelle Kandidatur Pionteks für Schneidemühl zu besprechen, erklärt sich aus der persönlichen Antipathie, die sich zwischen den beiden im Laufe der Jahre entwickelt und verschärft hatte.366 Als seinerzeit die Ernennung des Tützer Administrators anstand, hatte der Breslauer Ordinarius Pionteks Kandidatur mit der Begründung abgelehnt, ihn nicht entbehren zu können. Eigentlicher Grund war wohl eher die relative Unbedeutendheit der Administratur. Rauterkus glaubte nun nicht, dass sich Bertrams Meinung in dieser Sache mittlerweile geändert hatte – nur gegen dessen Willen hielt er eine Nomination Pionteks für möglich. Daher nannte er zwei seiner Ansicht nach für Schneidemühl infrage kommende alternative Kandidaten, die beide als Stadtpfarrer in Berlin tätig waren: Paul Weber aus der Pfarrei zur Heiligen Familie und Prälat Bernhard Lichtenberg, der die Herz-Jesu-Pfarrei in Charlottenburg leitete. Der erste sei „ein vorbildlicher Priester und tüchtiger Organisator“, außerdem dem Charakter Kallers ähnlich, „nur ruhiger und überlegender“367. Noch wichtiger als diese Charakterzüge schien Rauterkus die kirchliche Gesinnung Webers zu sein, die er mit dem Kennzeichen absoluten Gehorsams versah und zwar in ganz bestimmter Hinsicht: „… wenn ihm von autoritativer Seite ein Wink in Betreff der Ausbildung des priesterlichen 362

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Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5r. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Die Initiative Kardinal Bertrams). Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.4 (Erneute Kandidatensondierungen Pacellis und Bertrams). Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5r. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 (Die Wiederaufnahme der Konkordatsverhandlungen 1926 und Pacellis Dilemma beim Besetzungsmodus der Bischofsstühle). Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5v. 103

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Nachwuchses zukommt“, so werde „er denselben sofort auf das gewissenhafteste befolgen“368. Gegenüber diesem starken Votum für Weber rückte der zweite Geistliche, Prälat Lichtenberg, in den Hintergrund. Rauterkus attestierte dem Adressaten seines Gutachtens, den Genannten zu kennen. Schon deshalb notierte er nur knapp, dass der Prälat „für den Posten geeignet wäre“369, er jedoch Weber klar bevorzuge. Wen redete Rauterkus aber nun mit „hochwürdiger, lieber Pater!“ an? Beziehungsweise von wem hatte Rauterkus die Kandidatenanfrage erhalten? Pacelli selbst war es offenkundig nicht gewesen. Vielmehr musste es ein Confrater des Berliner Jesuiten gewesen sein, nur so würde sich die Anrede erklären. Eine handschriftliche Notiz auf dem Brief von Rauterkus liefert einen wertvollen Hinweis: „Die Meinung von Pater Rauterkus ist sehr zutreffend. Ich selbst kenne Pfarrer Weber und wollte ihn schon Eurer Eminenz vorschlagen. L.“370 Alles spricht dafür, als Verfasser dieser Anmerkung und damit der angesprochenen Anfrage an Rauterkus vom 26. August den Jesuitenpater Robert Leiber anzunehmen. Leiber war seit 1924 ein zunehmend enger Mitarbeiter des Münchener und dann Berliner Nuntius Pacelli geworden und folgte diesem 1930 schließlich auch nach Rom.371 Dort erhielt er einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der päpstlichen Universität Gregoriana und wirkte so im nahen Umfeld der Kurie und damit in der Nähe des Kardinalstaatssekretärs.372 Es lässt sich also festhalten: Umgehend nachdem die preußische Regierung ihr Plazet zur Translation Kallers nach Ermland erteilt hatte, ließ Pacelli über seinen langjährigen Vertrauten, Pater Leiber, Kandidatenvorschläge für Schneidemühl einholen, und zwar beim Berliner Jesuitenpater Rauterkus, der ebenfalls das uneingeschränkte Vertrauen Pacellis genoss. Dieser benutzte also sein Jesuitennetzwerk, das er sich während seiner Zeit in Deutschland aufgebaut hatte, und bediente 368

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Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5v. Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5v. „Il parere del P. Rauterkus è molto giusto. Io stesso conosco il Parr. Weber e lo volli già nominare a Vostra Eminenza. L.“ Handschriftliche Anmerkung auf dem Brief von Rauterkus an [Leiber] vom 31. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 5v. Vgl. zum Verhältnis von Leiber und Pacelli Volk, Reichskonkordat, S. 42f. Neben der Übereinstimmung des Namens mit der Initiale „L.“, und der Tatsache, dass es sich bei Leiber ebenfalls um einen Jesuiten handelte, der darüber hinaus in Rom lebte und so einen direkten Zugang zu Pacelli hatte, spricht für die Urheberschaft Leibers noch ein Weiteres: Da dieser von 1925 bis 1930 in der Reichshauptstadt wirkte, ist es leicht vorstellbar, dass er die von Rauterkus vorgeschlagenen Berliner Geistlichen gut kannte, wie die beschriebenen Ausführungen behaupten. Sein enges Verhältnis zu Pacelli macht es außerdem wahrscheinlich, dass ihn dieser in einer so delikaten und vertraulichen Angelegenheit zurate zog. Schließlich konnte die Vermutung durch einen Schriftvergleich der Notiz mit einem Brief von Pater Leiber an Franz Hürth SJ aus dem Jahr 1925 erhärtet werden. Vgl. Leiber an Hürth vom 28. August 1925, APUG, Fondo Hürth, 2672_​49. 104

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sich dabei nicht etwa der Berliner Nuntiatur beziehungsweise des Nuntius Orsenigo. Während Pacelli selbst an Piontek als geeigneten Amtsanwärter gedacht hatte, votierten die beiden Jesuiten für den Berliner Pfarrer Weber. Und der Staatssekretär ließ sich überzeugen: Am 4. September schickte er Orsenigo eine Mitteilung, in der er unbestimmt erklärte, dass für die Prälatur Schneidemühl der Berliner Pfarrer Paul Weber „vorgeschlagen worden“373 sei. Er wiederholte den für ihn zentralen Kern des Votums von Pater Rauterkus: „Man sagt, dass er ein vorbildlicher Priester ist, ein sehr guter Organisator und dass man gewiss mit seinem Gehorsam gegenüber jeder Direktive rechnen könne, die ihm von autoritativer Stelle auch bezüglich der Ausbildung des Klerus vorgegeben würde.“374 Dabei verriet er aber nicht, aus welcher Quelle der Name Webers stammte. Indem er vom Nuntius abschließend die „kluge und geschätzte Meinung“375 über den Berliner Pfarrer zu hören wünschte, bezog er jenen nun auch in die Kandidatenüberlegungen mit ein. Fast zwei Wochen nahm Orsenigo sich Zeit, um über Weber zu recherchieren. Mitte September legte er schließlich seinem römischen Vorgesetzten ein Exposé vor.376 Weber sei – so der Nuntius  – ungefähr 50 Jahre377 alt, „von bescheidenem, aber würdevollem Auftreten“378 und soweit man erahnen könne physisch gesund. Seit circa 17 Jahren übe er sein Pfarramt in einem der bevölkerungsreichsten Stadtteile Berlins aus, wo er die Sympathien aller erworben habe. Gleichzeitig werde Weber vom Klerus und seinem Bischof Schreiber hoch geachtet. Seine theologische Ausbildung habe er in Breslau erhalten, freilich – wie Orsenigo sich beeilte hinzuzufügen – „in Zeiten, die zum Glück noch nicht von dem bekannten Professor Wittig verseucht waren“379. Joseph Wittig hatte seit 1915 eine Professur für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau bekleidet. In den 1920er Jahren gerieten seine theologischen Thesen zuneh-

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Vgl: „Alla Prelatura Nullius di Schneidemühl è stato proposto il Rev. Paolo Weber, Parroco della Chiesa della S. Famiglia in Berlino.“ Pacelli an Orsenigo vom 4. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 1r. „Si dice che è un Sacerdote esemplare, ottimo soggetto e che si potrebbe contare assai sulla sua obbedienza per qualsiasi direttiva che a lui fosse data autorevolmente anche riguardo alla formazione del Clero.“ Pacelli an Orsenigo vom 4. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 1r. „… savio ed apprezzato parere …“ Pacelli an Orsenigo vom 4. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 1r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6rv. Streng genommen wurde Weber am 22. Dezember 1930 erst 49 Jahre alt. Vgl. Allendorf, Schlesier, S. 286f. „… di presenza modesta ma dignitosa …“ Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6r. „… in tempi per fortuna non ancora inquinati dal noto Prof.  Wittig …“ Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6r. 105

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mend in Konflikt mit dem römischen Lehramt: Nuntius Pacelli und später das Heilige Offizium warfen ihm vor, eine protestantische Ekklesiologie und neomodernistische Thesen zu vertreten.380 Seine Schriften wurden 1925 indiziert, Wittig selbst von seinem Lehrstuhl entfernt und 1926 exkommuniziert. Da Weber seine theologischen Studien schon fast zehn Jahre vor Wittigs Lehrzeit abgeschlossen hatte, sei er – wie der Nuntius konstatierte – von dessen schädlichem Einfluss verschont geblieben. Des Weiteren sei Weber ein kultivierter Priester und ein guter Redner. Er besitze darüber hinaus als Ordinariatsrat für das Schulwesen eine einflussreiche Position. Zu den „wertvollen aktiven Begabungen“ würden sich beim Berliner Pfarrer „eine straffe Frömmigkeit und ein erlesener römisch-katholischer Sensus“381 gesellen. Daher glaubte Orsenigo bestätigen zu können, dass man bei Weber mit einer strikten Umsetzung der römischen Richtlinien zur Priesterausbildung rechnen konnte. Was dessen pastorale Qualitäten anbelangte, so attestierte ihm Orsenigo Eifer, Eigeninitiative und ein außergewöhnliches Organisationstalent. Diese Zuschreibungen begründete der Nuntius mit dem Engagement Webers zum Bau „der schönen neuen Pfarrkirche“382, den er mit einer geduldigen Spendenaktion ermöglicht habe. Am 28.  September  – gut zwei Wochen nach Orsenigos Berichterstattung – konsekrierte Bischof Schreiber die neue Kirche und verlieh ihr das Patronat der Heiligen Familie.383 Nachdem Orsenigo auf diese Weise die absolute persönliche Tauglichkeit Webers herausgestellt hatte, entkräftete er die Sprachenproblematik: Obwohl man im Schneidemühler Gebiet im Allgemeinen polnisch spreche – einer Sprache, der Weber nicht mächtig sei –, sei auch das Deutsche durchgängig bekannt. Von daher war sich der Nuntius sicher, dass dem Berliner Pfarrer auf diesem Feld keine Schwierigkeiten erwachsen würden. Alles in allem machen die Ausführung Orsenigos den Eindruck, dass er sich keinen besseren Kandidaten als Weber für Schneidemühl vorstellen konnte: „Meine Meinung ist günstig sowohl hinsichtlich der Fähigkeiten der vorgeschlagenen Person als auch hinsichtlich des moralischen Vorteils, Priester aus dieser Stadt zu befördern, die kürzlich in den Stand eines Bischofssitzes erhoben wurde.“384

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Vgl. zu Wittig Bd. 1, Exkurs II (Priesterausbildung versus Kapitelswahl: Pacellis Ansicht zum Modus der Bischofseinsetzung). „… pregevoli doti di azione … una soda pietà e un delicato senso cattolico romano …“ Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6r. „… la bella Chiesa Parrocchiale nuova …“ Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6v. Vgl. zur Geschichte der Pfarrkirche Purkart (Hg.), 75 Jahre. „Il mio parere è favorevole sia considerate le doti della persona proposta, sia tenuto presente il vantaggio morale di promuovere sacerdoti di questa città di recente elevata al grado di sede episcopale.“ Orsenigo an Pacelli vom 15. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 6v. 106

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Damit schien der passende Kandidat leicht gefunden zu sein. Die wenig später von Pizzardo, dem Sekretär der AES, veranlasste Überprüfung Webers durch das Heilige Offizium war nur eine Formalität.385 Dennoch kann man Pacelli eine leichte Skepsis bezüglich der Personalie Webers unterstellen, die aus einem persönlichen Schreiben erschließbar ist, das er am 29. September von Rorschach aus, wo er seinen Urlaub verbrachte, nach Rom an Pizzardo schickte.386 Offenbar hatte ihn der Bericht Orsenigos vom 15. des Monats vor Urlaubsantritt nicht mehr erreicht, weshalb Pizzardo ihn brieflich über das Urteil des Nuntius informierte. Dabei konfrontierte ihn der Sekretär offensichtlich mit einer weitergehenden Frage zur Person Webers, die Pacelli nun reserviert beantwortete: „Es scheint mir weder nötig noch angemessen, dass der Ehrwürdige Weber, der zum Prälaten nullius von Schneidemühl bestimmt ist, die bischöfliche Würde hätte. Man wird später sehen. Aber natürlich hängt die Sache einzig vom Willen des Heiligen Vaters ab.“387 Die Bischofsweihe sollte der Gefreite Prälat nach Pacellis Auffassung also nicht erhalten, was im Grunde genommen auch der üblichen kirchlichen Praxis entsprach.388 Andererseits wäre das Gegenteil dennoch im Bereich des Möglichen gewesen, zumal dann, wenn Pacelli an einer vorbehaltlosen Förderung der Stellung Webers gelegen gewesen wäre. Doch zunächst sollte sich Weber bewähren – „man wird später sehen“. Als Orsenigo einen Monat später Schneidemühl besuchte, um Kaller die Bischofsweihe zu spenden, drängte sich ihm unter dem Eindruck der Feierlichkeiten und des ihm bereiteten Empfangs ebenfalls die Frage nach dem episkopablen Ordo des Prälaten auf: Die Katholiken der Grenzmark, die noch vor wenigen Jahren zur Erzdiözese Gnesen-Posen gehört hatten, würden es als eine Vernachlässigung empfinden, dass sie mittlerweile nur noch einer Prälatur zugerechnet würden und

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Vgl. Notiz Pizzardos vom 24. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 7r sowie Giovanni Lottini (Commissarius des Heiligen Offiziums) an Pizzardo vom 25. September 1930, ebd., Fol. 9r. Vgl. Pacelli an [Pizzardo] vom 29. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 10rv. Den im Brief nicht ausdrücklich angegebenen Adressaten redete Pacelli mit „Carissimo Monsignore“ an. Da der Briefinhalt einige laufende Angelegenheiten des Staatssekretariats behandelte, ist zu vermuten, dass damit Giuseppe Pizzardo gemeint war, der in freundschaftlichem Verhältnis zu Pacelli stand. Schon früher hatte Pacelli diese Anrede für Pizzardo benutzt: vgl. zum Beispiel Pacelli an Pizzardo vom 1. August 1922, ASV, Segr. Stato, Anno 1922, Rubr. 10, Fasz. 2, Fol. 51r–52r oder Pacelli an Pizzardo vom 8. Dezember 1927, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1922–1930, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 95r–96r. „Non mi sembra né necessario né opportuno che il Rev. Weber, designato a Prelato nullius di Schneidemühl, abbia la dignità vescovile. Si vedrà in appresso. Ma naturalmente la cosa dipende unicamente dalla volontà del S. Padre.“ Pacelli an [Pizzardo] vom 29. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 10r. Der Gefreite Prälat hatte allerdings dieselben Jurisdiktionsrechte wie ein Diözesanbischof (vgl. Can. 323 CIC 1917), nahm an der Fuldaer Bischofskonferenz teil und durfte auch (zumindest im eigenen Bezirk) die Pontifikalinsignien tragen. Vgl. dazu Marschall, Praelatura nullius, S. 47–50. 107

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ihr Ordinarius nicht einmal Bischof sei.389 Deshalb überlegte er, ob es nicht opportun sei, dem Ordinarius der Prälatur auch die bischöfliche Würde zu verleihen: „… wenn das möglich wäre, würde es das ergänzen, was der Heilige Stuhl schon getan hat, um dieser der Kirche und dem Stellvertreter Christi so ergebenen Bevölkerung sein väterliches Wohlwollen zu zeigen.“390 Pacelli ließ sich jedoch von diesem Argument nicht umstimmen: Als er sich später beim Nuntius für die Berichterstattung bedankte, ging er auf dieses Thema nicht ein.391

Das Plazet der preußischen Regierung und das Non-plazet Webers Nachdem Pacelli Anfang Oktober aus Rorschach an die Apostelgräber zurückgekehrt war, schlug er Papst Pius XI. vor, Weber zum Prälaten nullius von Schneidemühl zu ernennen. Der Pontifex erklärte sich einverstanden, sodass Pacelli dem Berliner Nuntius am 4. Oktober den Auftrag geben konnte, das „Nulla osta“ der preußischen Regierung einzuholen.392 Das Recht der Regierung, politische Bedenken gegen einen Geistlichen geltend zu machen, der für das Amt eines Prälaten nullius oder Bischofskoadjutor ausersehen war, verbürgte der Artikel 7 des Preußenkonkordats.393 Der Weisung des Kardinalstaatssekretärs kam Orsenigo am 6. Oktober nach, indem er dem Auswärtigen Amt das Ernennungsvorhaben Roms kommunizierte.394 Drei Wochen benötigten die staatlichen Behörden für ihre Recherchen über den Amtsaspiranten, bis die Regierung am 27. des Monats dem Nuntius ihr Ergebnis mitteilte: „Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung [sc. Adolf Grimme, R.H.] namens der Preußischen Staatsregierung beehrt sich der Apostolischen Nuntiatur mit-

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 30. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 12r–13r. Vgl. zu den Weihefeierlichkeiten Bd. 2, Kap. II.1.9 (Weihe und Inthronisation). „… se ciò fosse possibile, si completerebbe quanto la Santa Sede ha già fatto per mostrare la sua paterna benevolenza a queste popolazioni così fedeli alla Chiesa e al Vicario di Cristo.“ Orsenigo an Pacelli vom 30. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 13r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 6. November 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 14r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 4. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 8r. Vgl. Art.  7 des Preußenkonkordats: „Zum Praelatus nullius und zum Koadjutor eines Diözesanbischofs mit dem Rechte der Nachfolge wird der Heilige Stuhl niemand ernennen, ohne vorher durch Anfrage bei der Preußischen Staatsregierung festgestellt zu haben, daß Bedenken politischer Art gegen den Kandidaten nicht bestehen.“ Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Hervorhebung im Original. Vgl. den Entwurf einer knappen Biographie Webers, die Orsenigo den Regierungsbeamten am 6. Oktober 1930 vorlegte, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 5r. 108

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zuteilen, dass gegen den zum Praelatus nullius von Schneidemühl in Aussicht genommenen Pfarrer und Erzpriester Paul Weber in Berlin Bedenken politischer Art nicht bestehen.“395

Über das Nihil obstat der Regierung informierte Orsenigo seinen römischen Vorgesetzten noch am selben Tag, der ihn daraufhin autorisierte, mit Weber selbst Kontakt aufzunehmen und dessen Einverständnis für die neue Aufgabe einzuholen.396 Bislang war das Besetzungsverfahren völlig reibungslos vonstatten gegangen. Doch an der letzten Hürde traten nun Schwierigkeiten auf. Da Weber in Berlin lebte und somit keine Reise in die Reichshauptstadt antreten musste, konnte Orsenigo ihn bereits am 30. Oktober zur Audienz in der Nuntiatur empfangen. Der Pfarrer nahm das Angebot, Prälat von Schneidemühl zu werden, reserviert auf und erbat sich Bedenkzeit. Am nächsten Tag verfasste er eine ausführliche Stellungnahme, in der er das Amt rundweg ausschlug und seine Ablehnungsmotive zusammenfasste:397 1) Zunächst bewertete er es als außerordentlich hinderlich, die polnische Sprache nicht zu sprechen – ein Umstand, den Orsenigo nachweislich anders einschätzte. Ein fruchtbares Wirken in Schneidemühl schien Weber damit ausgeschlossen. 2) Sodann dachte er an seine jetzige Gemeinde, der durch seinen Weggang erhebliche finanzielle Probleme erwachsen würden. Viele kirchliche Bauten seien noch im Entstehen und größtenteils noch nicht finanziert. 3) Das größte Hindernis sah Weber jedoch in seinen persönlichen Fähigkeiten beziehungsweise in einem Mangel derselben: „In wissenschaftlicher, organisatorischer und auch seelsorglicher Beziehung fühle ich mich zur Übernahme einer größeren, repräsentativen, leitenden Stellung völlig ohnmächtig und außerstande, einen großen kirchlichen Verwaltungsbezirk wie die Prälatur Schneidemühl mit ihren Priestern und Laien führen zu können.“398

Der Pfarrer bekannte, eine überängstliche Natur zu besitzen, die ihn vor der angetragenen Aufgabe zurückschrecken lasse. Er müsse „aufrichtig versichern und beteuern, dass ich diesem neuen Aufgabenkreis nicht gewachsen bin“399. Abschließend bat Weber den Nuntius, darauf hinwirken zu wollen, dass ein würdigerer und fähigerer Geistlicher an die Spitze der Prälatur gestellt werde. Verständlicherweise versuchte Orsenigo, dem Berliner Pfarrer seine Ablehnung auszureden, doch war ihm dabei kein Erfolg beschieden. Am 31. des Monats wies er den Kardinalstaatssekretär auf den Widerstand Webers und seine eigenen fruchtlosen Umstimmungsversuche hin:

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Verbalnote der preußischen Regierung vom 27. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 6r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 8r sowie Pacelli an Orsenigo vom 28. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 8r. Vgl. Weber an Orsenigo vom 31. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 11r–12r. Weber an Orsenigo vom 31. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 11v. Weber an Orsenigo vom 31. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 11v. 109

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„… nach zwei Tagen sanfter Beharrlichkeit von meiner Seite, in denen ich alles unternommen habe, um seine Unschlüssigkeit zu beseitigen, weil ich dachte, dass es sich nur um edle und lobenswerte Ängste handelte, die mir seine Wahl sogar immer beruhigender erscheinen ließen, sehe ich mich heute gezwungen, Eurer Eminenz seine unerbittliche Absage – auch schriftlich geäußert – zu übersenden.“400

Den Brief Webers beurteilte Orsenigo „nicht reich an ernsthaften Gründen“, aber doch aufschlussreich als ein psychologisches Zeugnis über dessen „unüberwindlichen Schrecken“401 vor dem fraglichen Amt. Der Nuntius schien intensiv bestrebt, Pacelli zu signalisieren, tatsächlich alles ihm Mögliche versucht zu haben, um Weber zum Einlenken zu bewegen – wohl damit nicht etwa in der Kurie der Eindruck entstand, das Scheitern hänge an der Unfähigkeit Orsenigos, die römischen Interessen mit dem nötigen Nachdruck durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum der Nuntius ergänzend zur schriftlichen Absage Webers in seiner Berichterstattung noch weitere Motive anführte, die aus den persönlichen Unterredungen – neben der Audienz am 30. schien noch ein weiteres Gespräch am 31. Oktober stattgefunden zu haben – hervorgegangen seien: 1) Zum einen stellte er noch einmal die Ängstlichkeit und Überkorrektheit Webers heraus, die er offenbar für paralysierend hielt: „Er ist ein Charakter, der zu Bedenken neigt, sodass es eine Zeit gab, in der er 4 bis 5 Stunden [sc. am Tag, R.H.] für die Rezitation seines Breviers benötigte …“402 2) Zum anderen habe sich Weber vor einigen Jahren einer Knieoperation unterziehen müssen, deren Folgen ihm bei liturgischen Handlungen noch immer Schmerzen bereiten würden. Auch deshalb – so lässt sich folgern – schreckte Weber vor dem Prälatenamt zurück, in dem er exponiertere Pflichten in liturgicis zu erfüllen haben würde. Angesichts des beharrlichen Widerstands stellte Orsenigo nach eigenen Angaben dem Pfarrer die folgende – letztlich entscheidende – Frage: „Ich werde alles dem Heiligen Stuhl mitteilen; aber ich kann nicht vorhersagen, was das Ergebnis sein wird: Es könnte sich ergeben, dass der Heilige Vater eine ausdrückliche Anweisung gibt, anzunehmen; in diesem Fall, was würden Sie machen?“403 Trotz dieses Griffs in 400

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„… dopo due giorni di dolce insistenza da parte mia, in cui ho tentato tutti i mezzi per eliminare le sue titubanze, ritenendo si trattasse solo di nobili ed encomiabili timori, che mi pareva rendessero anzi la sua scelta sempre più rassicurante, oggi mi vedo costretto a trasmettere a Vostra Eminenza il suo inesorabile rifiuto, espresso anche per iscritto.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15r–16r, hier 15r. „… non ricca di serie ragioni … insuperabile spavento …“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15r. „Che è un carattere inclinato agli scrupoli, tanto che vi fu un tempo in cui impiegava 4–5 ore per la recita del suo Breviario …“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15r-v. „Io comunicherò tutto alla Santa Sede; ma non posso prevedere quale sarà il risultato: potrebbe darsi che il Santo Padre mandi un ordine espresso di accettare; in tal caso cosa farebbe?“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15v. 110

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die psychologische Trickkiste sei Weber – wie Orsenigo abschließend schilderte – bei seiner Entscheidung geblieben: „Nach einem Moment der Reflexion sagte er mir zum hundertsten Mal: ‚Ich kann nicht; ich fühle mich moralisch und intellektuell absolut unfähig.ʻ“404 Dem Nuntius war klar, dass eine Nomination Webers damit unmöglich war.405 Daher unterbreitete er Pacelli einen Alternativvorschlag: Der Heilige Stuhl könnte Kaller, der im Begriff sei, Schneidemühl nun endgültig Richtung Ermland zu verlassen, zum Apostolischen Administrator ad nutum Sanctae Sedis der Freien Prälatur ernennen und so die Verwaltung vorübergehend sicherstellen. Einen neuen Kandidaten für das vakante Amt wusste Orsenigo nicht zu präsentieren. In Rom stieß die Überlegung Orsenigos auf Zustimmung: Da es Papst und Staatssekretär ebenfalls unwahrscheinlich erschien, bei Weber noch eine Meinungsänderung zu erreichen, telegraphierte Pacelli am 7. November an die Nuntiatur, dass Pius XI. sich bereit erklärt habe, Kaller zum Administrator für Schneidemühl zu erheben.406 Noch am selben Tag informierte der Kardinalstaatssekretär den Sekretär der Konsistorialkongregation Rossi von dieser Absicht des Papstes, die nur ein Provisorium sei, weil „die Maßnahmen zur Ernennung seines [sc. Kallers, R.H.] Nachfolgers noch immer nicht abgeschlossen sind“407. Rossi möge dafür sorgen, dass die Ernennungsdokumente ausgestellt und an Kaller versandt würden. Damit war die Nomination letztlich amtlich, obgleich der neue – alte – Verwalter der Prälatur Schneidemühl selbst noch gar nicht die Möglichkeit hatte, zu dieser Angelegenheit Stellung zu nehmen. Immerhin erfuhr Kaller die Neuigkeit praktisch zeitgleich von Orsenigo, der sich zu diesem Zweck persönlich nach Schneidemühl begab. So schilderte es der Nuntius einen Tag später, am 8. November, in seiner Berichterstattung an Pacelli und versicherte, die Ernennung umgehend der preußischen Regierung zu notifizieren.408 Laut Preußenkonkordat musste bei Einsetzung eines Administrators keine vorherige Anfrage nach politischen Bedenken, sondern lediglich eine Mitteilung an die Regierung nach der Einsetzung erfolgen.409 Wie Kaller auf seine Ernennung 404

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„Dopo un momento di riflessione, mi disse ancora per la centesima volta: ‚Io non posso; mi sento assolutamente incapace moralmente ed intellettualmente.ʻ“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15v. So schrieb er abschließend an Pacelli: „… io temo seriamente si debba cercare altro candidato.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 15v. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 7. November 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 3, Fol. 13r. „Non essendo tuttora ultimati le pratiche per provvedere alla nomina del suo successore …“ Pacelli an Rossi vom 7. November 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 18rv, hier 18r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 8. November 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 19r. Vgl. Art. 9, Abs. 3, Satz 2 des Preußenkonkordats: „Eine entsprechende Anzeige [sc. an die Staatsbehörde, R.H.] wird alsbald nach der Bestellung eines Bistums- (Prälatur-) Verwesers, eines Weihbischofs und eines Generalvikars gemacht werden.“ Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 326. 111

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reagierte, geht aus dem Schreiben Orsenigos nicht hervor: Für die Kurie war dies letztlich auch belanglos, handelte es sich doch um keine Anfrage, ob Kaller sich bereit erklärte, sondern nur um die Bekanntgabe einer bereits gefällten Entscheidung. Dieser musste sich wohl oder übel mit der zeitweiligen Doppelbelastung  – Bischof von Ermland und Administrator von Schneidemühl  – anfreunden.

Pacellis Alternativkandidat: Franz Hartz Mit dieser Übergangslösung ruhte die Angelegenheit für zwei Monate. Nuntius und Kardinalstaatssekretär waren zunächst einmal mit den „ordentlichen“ Bistumsbesetzungen in Aachen und Meißen beschäftigt, die zeitgleich abgewickelt werden mussten.410 Nachdem bei diesen beiden Fällen die Kandidatenfragen Mitte Januar 1931 im Wesentlichen geklärt waren, kam wieder Bewegung in die causa Schneidemühl. Diese ging freilich nicht von Orsenigo, sondern von Rom aus. Am 9. Januar unterbreitete Pacelli dem Papst den Vorschlag, den Berliner Domkapitular Franz Hartz zum Prälaten nullius von Schneidemühl zu ernennen.411 Ergebnis der Unterredung war, zunächst die Ansicht des Nuntius dazu einzuholen. Am 12. Januar führte Pacelli diesen Beschluss aus, Orsenigo möge „seine geschätzte Meinung“412 zu der Personalie kundtun. Wo und wie Pacelli auf den Namen Hartz stieß, geht aus den Quellen nicht hervor. Dem Kardinalstaatssekretär war es offenbar wichtig, dass ein Geistlicher wenn schon nicht aus der Grenzmark, so wenigstens aus nahegelegenen Regionen zum Zuge kam. Das wurde bereits dadurch deutlich, dass der erste Gedanke Pacellis auf Piontek zielte, der Domherr in Breslau war. Festzuhalten bleibt, dass sowohl dieser als auch der von Rauterkus vorgeschlagene Lichtenberg keine Rolle (mehr) spielten. Wie sich jetzt zeigt, waren sie von Pacelli im Anschluss an das Votum Rauterkusʼ vom August des Vorjahres, das die beiden in nicht sonderlich positives Licht gerückt hatte, nicht als echte Alternativen zu Weber in Erwägung gezogen worden. Wie lautete nun die „geschätzte Ansicht“ Orsenigos zu Hartz? Nach etwas über einer Woche, in der er sich eingehend über den Genannten informierte,413 legte er Pacelli am 21. Januar ein ausführliches Exposé vor, das nichts anderes als eine einzige Lobeshymne war: Franz Hartz, Ende 410 411

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Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.11 und Bd. 4, Kap. II.4.2. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 9. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 341, Fol. 10r. „… suo apprezzato parere.“ Pacelli an Orsenigo vom 12. Januar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 21r. Das geht aus der Berichterstattung hervor, die eigentlich die Besetzungsfälle in Meißen und Aachen zum thematischen Gegenstand hatte. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 19. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 77rv, hier 77v. 112

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vierzig und Doktor der Theologie, stamme aus einer „guten katholischen Familie in der Diözese Münster“414, sei Kaplan und dann Rektor „eines Kollegs“415 gewesen, bevor er nach Berlin geschickt worden sei, wo traditionell einige Pfarreien von Münsteraner Geistlichen geführt würden. In der Reichshauptstadt sei er dann Pfarrer der „überaus wichtigen und populären“416 Liebfrauenkirche geworden und kürzlich von Bischof Schreiber zum Domkapitular erhoben worden. Seinen theologischen Studienabschluss habe Hartz in Münster erworben, wo er auch bestimmt gewesen sei, einen Lehrstuhl zu übernehmen, „aber seine Neigung zur Seelsorge siegte in seinem Herzen über den Reiz des Katheders“417. In Berlin – so Orsenigo weiter – sei Hartz hoch angesehen, weil er eine rasche Auffassungsgabe besitze, redegewandt sei und eifrig seinen Pflichten nachkomme. Mit seinem „offenen und lebhaften Charakter“ erwerbe er sich das Wohlwollen der Gläubigen, seiner Mitbrüder und insbesondere Bischof Schreibers: Dieser „liebt ihn und insofern bedient er sich seiner mit großer Häufigkeit, besonders um sich bei wichtigen Aufgaben vertreten zu lassen“418. Die Eindrücke, die Hartz in Berlin hervorrief, kannte der Nuntius offenbar nicht nur aus persönlicher Erfahrung vor Ort,419 sondern hatte sie darüber hinaus von Schreiber bestätigen lassen. Darüber hinaus informierte sich Orsenigo im Münsteraner Heimatbistum des Kandidaten, zum einen bei Bischof Johannes Poggenburg, zum anderen beim Homiletikprofessor und Domprediger Adolf Donders. Donders war für Pacelli eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit, war jener doch knapp zwei Jahre zuvor sein Favorit für den Hildesheimer Bischofsstuhl gewesen. Nach Dondersʼ Einschätzung sei Hartz – so Orsenigo – in seiner Heimatdiözese bei Personen verschiedensten Standes hoch angesehen. Auch der Homiletikprofessor selbst teilte augenscheinlich diese Achtung vor Hartz: „Sein Urteil über die Menschen ist ruhig und klar, seine Art der Verwaltung (der Regierung) ist klug, geschickt und pflichtbewusst; seine Frömmigkeit ist tief und

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„… da buona famiglia cattolica in diocesi di Münster …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23r–24r, hier 23r. Es handelte sich dabei um das Collegium Dettenianum in Münster, dessen Regens Hartz 1912 für neun Jahre wurde. Vgl. Brandt, Hartz, S. 289. „… importantissima e popolare …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23r. „… ma la sua inclinazione per la cura pastorale prevalse nel suo cuore al fascino della cattedra.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23r-v. „… lo ha carissimo, e se ne serve con molta frequenza specie per farsi rappresentare a funzioni importanti …“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23v. Vgl. zum Beispiel: „Als Prälat Dr. Hartz im März 1931 nach Schneidemühl kam, ging ihm ein bedeutender Ruf als Seelsorger voraus. Man erzählt sich, daß der damalige Nuntius Orsenigo von einer Männerkommunion in Liebfrauen, Berlin, Wrangelstraße, an der 1400 Männer teilnahmen, so beeindruckt war, daß er den dortigen Pfarrer Dr. Hartz im Gedächtnis behielt.“ Prälat Dr. Franz Hartz, S. 22. 113

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sein katholischer Sinn aufrichtig.“420 Dass man im römischen Staatssekretariat diese Beurteilung für wichtig erachtete, ergibt sich daraus, dass dieser Passus handschriftlich hervorgehoben wurde. Ähnlich lautete schließlich auch die Ansicht Poggenburgs: Hartz sei stets „ein eifriger, frommer und guter Priester“421 gewesen, der treu und untergeben der Kirche und dem Papst anhänge. Aus dem Skizzierten glaubte Orsenigo ableiten zu können, dass Hartz die erforderliche Qualität besaß, um ein guter Praelatus nullius für Schneidemühl zu sein und darüber hinaus ein würdiger Bischof, falls der Heilige Stuhl beabsichtige, ihn in diesen Ordo zu erheben.

Die Ernennung Hartzʼ zum Prälaten von Schneidemühl Orsenigo unterstützte also die Kandidatenwahl des Kardinalstaatssekretärs ausdrücklich. Schon bevor Pacelli beim Nuntius das Gutachten in Auftrag gab, hatte er das obligatorische Nihil obstat des Heiligen Offiziums einholen lassen.422 Damit stand von kirchlicher Seite einer Ernennung nichts mehr im Wege. Erforderlich war nun eine erneute Anfrage an die preußische Regierung, womit Pacelli den Nuntius am 24. Januar – im Anschluss an eine neuerliche Audienz bei Pius XI.423 – beauftragte.424 Nachdem Orsenigo dann am 11. Februar das staatliche Plazet in den Händen hielt, setzte er sich weisungsgemäß mit Hartz selbst in Verbindung, um dessen Konsens einzuholen.425 Dieser habe  – wie Orsenigo am 17. des Monats an Pacelli schrieb  – seine Ernennung akzeptiert, „obgleich er mir seine Befürchtung offenbart hat, den Erwartungen des HEILIGEN VATERS nicht zu entsprechen“426. Dieses Mal scheiterte die Nomination also nicht in letzter Minute am Widerstand des electus wie noch einige Wochen zuvor. Am 21. Februar beauftragte

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„Il suo giudizio sugli uomini è calmo e ben chiaro, il suo metodo di amministrazione (di governo) è prudente, abile e fedele al dovere; la sua pietà profonda come retto il suo senso cattolico.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23v. „… un prete zelante, pio e buono.“ Orsenigo an Pacelli vom 21. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 23v. Vgl. Canali an Pizzardo vom 19. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 22r. Pacelli notierte sich: „Si domandi per mezzo del Nunzio al Governo se vi sono obbiezioni di ordine politico, secondo il Concordato.“ Audienznotiz Pacellis vom 24. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 341, Fol. 25r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 24. Januar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 25r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 11. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 28r; Pacelli an Orsenigo vom 16. Februar 1931 (Entwurf), ebd., Fol. 29r. „… pur manifestandomi il suo timore di non saper corrispondere alle aspettative del SANTO PADRE …“ Orsenigo an Pacelli vom 17. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 114

II.1.10 Schneidemühl 1930/31

der Kardinalstaatssekretär den Sekretär der Konsistorialkongregation, „die nötigen Anweisungen für die Übersendung der zur Ernennung gehörenden Unterlagen“427 zu erteilen. Damit war die Ernennung faktisch vollzogen428 und wurde vier Tage später im „Osservatore Romano“ der Öffentlichkeit bekannt gemacht.429 Das „große[s] Rätselraten“430 in der Prälatur über den Nachfolger Kallers war also zu Ende, zumindest was den Namen des neuen Prälaten anbelangte, denn dieser war im Klerus und Volk ein weitgehend Unbekannter.431 Wie es der Etikette entsprach, bedankte sich Hartz in einem knappen Ergebenheitsschreiben bei Pius XI. für das Vertrauen.432 Mit dem neu ernannten Prälaten vereinbarte Orsenigo, sich möglichst bald nach Schneidemühl zu begeben, da die Prälatur mittlerweile einige Monate vakant war. Deshalb fragte der Nuntius bei Pacelli an, ob es möglich sei, dass die beteiligten Dikasterien die Einsetzungsdokumente zügiger anfertigen könnten.433 Der Staatssekretär nahm sich dieses Wunsches an, ließ den Substituten der Konsistorialkongregation, Benedetto Renzoni, um Beschleunigung der Angelegenheit bitten und versicherte Orsenigo am 6. März, dass die Ernennungsbullen am selben Tag an Hartz verschickt würden.434 Am 25. März, dem Fest der Verkündigung des Herrn, nahm Hartz die Freie Prälatur

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P.O., Fasz. 119, Fol. 30r. Hervorhebung im Original. Gleichzeitig informierte der Nuntius auch Bischof Schreiber über die Personalentscheidung des Heiligen Stuhls, auch dies wieder im ausdrücklichen Auftrag Pacellis. „… gli ordini opportuni per la spedizione degli atti relativi alla nomina suddetta …“ Pacelli an Rossi vom 21. Februar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 32r. Da die Mitarbeiter der Konsistorialkongregation Hartz nicht kannten, erhielten sie – wie es dem üblichen Verfahren entsprach – aus dem Staatssekretariat eine Biographie des Berliner Domherren, die im Wesentlichen auf der Berichterstattung Orsenigos fußte. Vgl. Curriculum vitae del Rev.mo Dr. Franz Hartz, ebd., Fol. 31r. Vgl. AAS 23 (1931), S. 82. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 24. Februar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 34r sowie den Entwurf der Ernennungsanzeige ebd., Fol. 35r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 46 vom 25. Februar 1931. Prälat Dr. Franz Hartz, S. 18. Der Kapitularvikar von 1953, Ludwig Polzin, resümierte später: „Wir waren froh, daß wir einen neuen Oberhirten hatten. Aber niemand kannte ihn. ‚Nie gehört‘, war die allgemeine Aussage, wenn man darauf zu sprechen kam. Das einzige, was wir bald heraus bekamen, war, daß er aus dem Westen, aus dem Rheinland stamme und zu den münsterischen Priestern gehöre, die seit Jahrzehnten einige Pfarreien in Berlin innehatten. Wir blieben weiter neugierig und skeptisch, sagten uns aber: ‚Rom schickt ihn, also muß er auch ein tüchtiger Mann sein.‘“ Prälat Dr. Franz Hartz, S. 18. Vgl. Hartz an Pius XI. vom 25. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 37r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 36r. Vgl. Pacelli an Renzoni vom 3. März 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 40r sowie Pacelli an Orsenigo vom 6. März 1931 (Entwurf), ebd., Fol. 38r–39r 115

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Schneidemühl in Besitz,435 indem er den Konsistorialräten seine Ernennungsdokumente vorlegte.436 Im Anschluss erfolgte die feierliche Inthronisation in der Kirche zur Heiligen Familie.437

Ergebnis 1. Zwei von Pacelli ausdrücklich thematisierte Hauptkriterien für die Auswahl des Kandidaten lassen sich in diesem Verfahren ausmachen: a) Zum einen sollte der künftige Praelatus möglichst aus dem Bezirk der Prälatur selbst stammen oder wenigstens aus der näheren Umgebung und damit einen lokalen Bezug zum Diasporagebiet besitzen. Allerdings ging es Pacelli hier nicht vordringlich darum, dass der Kandidat neben des Deutschen auch des weitenteils im Prälaturgebiet gesprochenen Polnischen mächtig war – ansonsten hätte er die Kandidatur Webers und Hartzʼ, die dies nicht vermochten, ablehnen müssen. b) Zum anderen sollte der Amtsanwärter die römischen Vorgaben zur Priesterausbildung befolgen. Das hieß zunächst einmal konkret, da es in Schneidemühl keine Priesterausbildungsstätte gab, die Alumnen nicht nach Breslau oder – was an dieser Stelle mitzulesen ist – an die Staatliche Akademie Braunsberg zu senden. Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Breslauer Katholisch-Theologische Fakultät (ebenso wie die Braunsberger Akademie) Pacellis Anforderungen einer römisch-spekulativ-scholastischen Theologie in keiner Weise genügte. Stattdessen sollten seiner Ansicht nach die Priesteramtskandidaten an die Jesuitenhochschulen in Frankfurt oder Innsbruck, besser noch in das römische Germanicum, wenigstens aber in die Seminare nach Trier oder Fulda geschickt werden.438 Genau dies hatte der bisherige Administrator Kaller weitgehend erfüllt und das sollte – wenn es nach dem Kardinalstaatssekretär ging – so bleiben.439 Darüber hinaus hob Pacelli aus dem Votum Rauterkusʼ über Weber noch zwei Eigenschaften hervor: priesterliche Integrität und organisatorische Fähigkeiten. Da Pacelli diese jedoch nicht als spezifische Kriterien aufstellte, sondern nur als allgemein-kennzeichnende Eigenschaften benutz-

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(nur r). Vgl. Ernennungsdekrete Hartzʼ vom 21. Februar 1931, abgedruckt bei Marschall, Praelatura Nullius, S. 60f. Dies kündigte der Nuntius seinem römischen Vorgesetzten gut zwei Wochen vorher an. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 13. März 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1938, Pos. 607 P.O., Fasz. 119, Fol. 42r. Anstatt eines Domkapitels bestand in Schneidemühl ein fünfköpfiges Konsistorium. Vgl. Marschall, Praelatura nullius, S. 46, 59. Vgl. Prälat Dr. Franz Hartz, S. 19. Vgl. dazu etwa seine Erläuterung in Bd. 2, Kap. II.1.7 (Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur). Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.9 (Ergebnis Nr. 1). Vgl. auch Gatz/​Wienke, Freie Prälatur Schneidemühl, S. 684. 116

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te, erscheinen sie für ihn gewissermaßen als notwendige beziehungsweise wünschenswerte, nicht aber als hinreichende Bedingungen für die Tauglichkeit. Wirft man einen Blick auf die einzelnen Kandidaten, so ist festzuhalten, dass Pacelli mit Piontek zunächst nur einen Namen für das vakante Amt parat hatte und sich dann auch schnell von Rauterkus überzeugen ließ, dass der Domkapitular dem zweiten Kriterium seines Profils gar nicht gerecht wurde: Piontek schien kein „zweiter“ Kaller zu sein, der zwar selbst in Breslau studiert, aber die Alumnen von dort fernhalten würde. Allerdings war diese Einschätzung für Pacelli überhaupt nicht neu: Schon im März 1929, im Kontext der Besetzung des Berliner Bischofsstuhls, hatte er prognostiziert, dass Piontek die Alumnen wahrscheinlich an die Fakultät in Breslau schicken würde.440 Darüber hinaus hatte er ihm damals attestiert, lediglich von „mäßiger Qualität“ zu sein. Wieso kam Pacelli also jetzt wieder auf den Domherrn zurück? Zum einen ging es nicht mehr um das für Pacelli so wichtige Hauptstadtbistum, sondern „nur“ um die relativ unbedeutende Prälatur Schneidemühl. Dafür genügte ihm offenbar notfalls auch ein „mittelmäßiger“ Kandidat. Zum anderen war der Kardinalstaatssekretär sich womöglich über die Pläne Pionteks zur Ausbildung des Priesternachwuchses nicht hundertprozentig sicher, sodass er sich darüber zunächst vergewissern wollte, bevor er die endgültige Entscheidung gegen ihn fällte. Jedenfalls erscheint der Breslauer Domherr nicht als jemand, dessen Kandidatur Pacelli zu Beginn nachdrücklich favorisiert hätte, obgleich er ihn ins Gespräch brachte. Das bedeutet jedoch auch, dass er aus eigener Überlegung keine persona grata zu nennen wusste und Probleme hatte, in seinen Augen taugliche Geistliche für das Ostgebiet zu finden. Womöglich erinnerte sich Pacelli noch an die vorangegangene Besetzung der Administratur Tütz 1925/26, wo Piontek neben Kaller als aussichtsreicher Kandidat in Vorschlag gebracht worden war. Vielleicht nahm er das damalige Verfahren zum Vorbild und griff nun für dasselbe Jurisdiktionsgebiet auf den noch „freien“ Kandidaten zurück. Den Breslauer Domherrn hatte er spätestens auf dem Breslauer Katholikentag 1926 persönlich kennengelernt.441 Neben der bereits erwähnten causa Berlin, wo Piontek von Bertram favorisiert worden war, hatte ihn dieser 1930 auch für den Ermländer Bischofsstuhl vorgeschlagen. Es gab also gleich mehrere Anhaltspunkte dafür, dass Pacelli der Name Pionteks für Schneidemühl in den Sinn kam. Ob der Kardinalstaatssekretär Weber ebenfalls persönlich kannte, mit dessen Ernennung er sich einverstanden erklärte, lässt sich nur vermuten. Immerhin war jener seine gesamte Nuntiaturzeit 440 441

Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur). Laut Pacellis Bericht, den er damals über seinen Besuch des Katholikentags verfasste, war Piontek unter den Geistlichen, die ihn bei seiner Ankunft am Breslauer Flughafen empfingen. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 25. August 1926, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1932, Pos. 559 P.O., Fasz. 76, Fol. 72r–75v, hier 72v. Vgl. auch Hartelt, Piontek, S.  181. Vgl. zum 65. Katholikentag in Breslau vom 21. bis 25. August 1926: Die Reden gehalten in den öffentlichen und geschlossenen Versammlungen der 65. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Breslau. 117

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über als Berliner Pfarrer tätig gewesen. Allerdings verrät nichts, dass er eigene Kenntnisse über ihn besaß.442 Daraus, dass er diesem gegenüber eine gewisse Reserve demonstrierte, insofern er dessen Erhebung in den bischöflichen Ordo expressis verbis ablehnte, könnte man schließen, dass Weber für ihn nicht unbedingt ein Wunschkandidat war, sondern angesichts fehlender Alternativen „nur“ akzeptabel. Freilich entsprach die Bischofsweihe einerseits nicht der üblichen Praxis bei Gefreiten Prälaten und andererseits behielt er diese Ablehnung auch hinsichtlich des schlussendlich erfolgreichen Kandidaten Hartz bei. Sucht man nach einem weitergehenden Grund, warum Pacelli dem Praelatus nullius den ordo episcopalis vorenthalten wollte, ist es hilfreich zu überlegen, was dies unter dem zweiten Kriterium hinsichtlich der Priesterausbildung bedeutete. In dieser Hinsicht ging dem Prälaten ohne bischöflichem Ordo das Recht der Priesterweihe ab: „Dies scheint“ – so Georg Marschall dazu – „auch nicht unbedingt erforderlich zu sein, als sich im Gebiet eines Praelatus nullius kaum eine theologische Studienanstalt und ein Priesterseminar befinden wird. Hierin liegt aber auch zugleich der Hauptunterschied zum Bischof, daß nämlich der Praelatus nullius keinen Einfluß auf die Heranbildung des Diözesanklerus hat.“443 Womöglich wollte Pacelli vermeiden, dass in Schneidemühl mittelfristig eine eigene Priesterausbildungsstätte entstand, die schwerlich etwa der gewünschten römisch-scholastischen Durchformung der jesuitengeführten Hochschule von St. Georgen gleichkommen würde. Dass der Prälat „keinen Einfluß auf die Heranbildung des Diözesanklerus hat“, wäre im oben genannten Sinne zu korrigieren, insofern er durch die Entscheidung, wo er die Alumnen studieren lässt, den Ausbildungsgang mittelbar durchaus wesentlich determiniert. Genau dies war für Pacelli entscheidend und hier stand bereits genug auf dem Spiel, zumal Weber ebenfalls das seiner Ansicht nach ungenügende Breslauer Studium erfahren hatte. Anders als Piontek wurde ihm dies nicht zum Verhängnis, was offenbar daran lag, dass Pacelli sich von den beiden Jesuiten überzeugen ließ, Weber besitze den nötigen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität, um Instruktionen hinsichtlich der Priesterausbildung zu befolgen. Schließlich Hartz: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Quellen nicht verraten, warum Pacelli plötzlich auf ihn rekurrierte. Wenngleich dessen Name in Pacellis früherer Nuntiaturkorrespondenz mit Rom nicht fiel,444 kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Nuntius ihn persönlich kennengelernt hatte: Immerhin war Hartz seit 1921 in Berlin und stand zuletzt der St. Marien Liebfrauen-Pfarrei vor, in deren Gebiet auch die Apostolische Nuntiatur lag.445 Möglich ist, dass die Nennung des einen Berliner Pfarrers (Weber) bei Pacelli den Gedanken an den ande-

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Auch Pacellis Nuntiaturberichterstattung kennt Weber nicht. Vgl. Wolf u.  a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Marschall, Praelatura nullius, S. 49. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. So auch Gatz, Besetzung, S. 228. 118

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ren Berliner Pfarrer (Hartz) weckte, zumal dieser von Bischof Schreiber soeben erst zum Berliner Domkapitular erhoben worden war und eventuell dadurch in sein Blickfeld gelangte. Ebenso vorstellbar ist schließlich, dass Pacelli in den zwei Monaten zwischen der Ernennung Kallers zum Interimsadministrator und der offenkundigen Kandidatur Hartzʼ auf nicht-aktenkundige Weise weitere Informanten konsultierte, die den Genannten vorschlugen.446 Fakt ist jedenfalls, dass Pacelli überzeugt war, Hartz passe in das skizzierte Profil: Einerseits stammte er zwar nicht aus der Prälatur, aber (wie Weber) aus dem nächstgelegenen Bistum Berlin und damit derselben Ostdeutschen Kirchenprovinz. Andererseits konnte sich Pacelli durch das von Orsenigo zusammengestellte Votum – sofern nötig – vergewissern, dass Hartz, der im seiner Meinung nach weniger desolaten Münster studiert hatte, durch seinen sensus catholicus und seine Ergebenheit an den Papst die römischen Instruktionen zur Priesterausbildung umsetzen beziehungsweise die Priesteramtskandidaten an die gewünschten Studieneinrichtungen senden werde. Nach Lage der Quellen bleibt festzuhalten, dass es ungeachtet der oben angedeuteten Schwierigkeiten letztlich doch ein eigener Kandidat Pacellis war, dem das Prälatenamt in Schneidemühl übertragen wurde. 2. In diesem Fall fand zum ersten Mal der Artikel 7 des preußischen Konkordats zur Besetzung einer Praelatura nullius Anwendung. Der Modus gewährte dem Heiligen Stuhl und damit letztlich Pacelli (vgl. Nr. 5) alle Freiheiten, da ihm die Ernennung des Prälaten zustand. Die allgemeine Norm wurde in folgenden zentralen Schritten umgesetzt: zunächst die Kandidatensondierungen Pacellis, dann die Zustimmung Piusʼ XI. zum Kandidaten, die Anfrage an die preußische Regierung durch Orsenigo, das Einverständnis des Kandidaten selbst und schließlich die offizielle Ernennung. Als Schwachstelle des Modus erwies sich, dass erst ganz zum Schluss der Kandidat selbst befragt wurde. Die Ablehnung Webers, das fragliche Amt anzunehmen, führte dazu, dass der Besetzungsfall einen zweiten Anlauf nehmen musste. Sie zeigt darüber hinaus, dass Pacelli nicht auf der gefällten Entscheidung insistierte, sondern angesichts der Hartnäckigkeit des Widerstands bereit war, einen Alternativkandidaten zu finden. 3. Laut Konkordat stand der preußischen Regierung bei der Bestellung eines Gefreiten Prälaten wie bei der Einsetzung eines Diözesanbischofs das politische Bedenkenrecht zu.447 Sowohl gegen Weber als auch gegen Hartz brachte sie keinerlei Einwendungen vor, sodass Pacelli in dieser Hinsicht nicht reagieren musste. Die Problematik, welche die Regierung bei der vorangegangenen

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Man ist angesichts der Wertschätzung, die er Hartz entgegenbrachte, versucht, an Schreiber zu denken, mit dem Pacelli immer wieder in Kontakt stand. Aus staatskirchenrechtlicher Perspektive bestand zwischen beiden Ämtern kein Unterschied. Vgl. Marschall, Praelatura nullius, S. 42. 119

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Besetzung 1925/26 auf den Plan gerufen hatte – die Nomination eines deutschen Geistlichen aus polnischem Staatsgebiet, dessen frei werdende Stelle mit einem polnischen Staatsbürger wiederbesetzt werden würde –, war in diesem Fall allein schon deshalb nicht mehr akut, da es sich bei beiden Kandidaten um Berliner Kleriker handelte. 4. Als Informanten Pacellis, die er selbst quellenmäßig verifizierbar in die Kandidatenüberlegungen einbezog, sind in diesem Fall die beiden Jesuiten Leiber und Rauterkus zu nennen. Beide waren vertraute Mitarbeiter Pacellis, die ihm schon zu Nuntiaturzeiten als Ratgeber zur Seite standen. Letztgenannter – von Pacelli insbesondere bei Ostdeutschland betreffenden Fragen konsultiert  – war womöglich sowohl bei der Berliner Besetzung 1929/30 als auch beim Tützer Fall 1925/26 bereits Pacellis Informant gewesen, der daher nicht nur auf Kandidaten-, sondern auch auf Informantenebene den Vorgängerfall zum Vorbild nahm. Leiber, der in Rom und damit vor Ort war, fungierte für den Kardinalstaatssekretär als „Bindeglied“ zum Berliner Jesuiten. Beide waren nicht nur Pacellis erste Anlaufstelle, sondern auch inhaltlich folgte er ihrem Votum: Die ohnehin schon nicht sattelfeste Kandidatur Pionteks gab er auf und favorisierte Weber. Angesichts der Relevanz, die Pacelli ihrer Meinung zumaß, überrascht, dass er sie nicht noch einmal konsultierte, nachdem Weber seine Ernennung zurückgewiesen hatte. Wie bereits erwähnt ist aber durchaus denkbar, dass Pacelli in der zweimonatigen Pause zwischen der Bestellung Kallers zum Interimsadministrator und seiner Weisung an Orsenigo, sich über Hartz zu äußern, wiederum externe Informationen einholte (vgl. Nr. 1). Man könnte zumindest annehmen, dass er mündlich mit Leiber konferierte, der ihm durch die örtliche Nähe jederzeit zur Verfügung stand. Schließlich tauchen drei Namen auf, die zumindest mittelbar für Pacelli gutachterlich tätig waren, insofern Orsenigo dieselben kontaktierte und ihre Einschätzungen nach Rom weitergab: Zum einen Bischof Schreiber, den Ordinarius Webers, den Pacelli so sehr schätzte, dass er ihn als ersten Diözesanbischof des neuen Hauptstadtbistums installiert hatte. Zum anderen Hartzʼ Ordinarius Poggenburg sowie den Münsteraner Professor und Domprediger Donders, der Pacellis Wunschkandidat im Hildesheimer Besetzungsfall 1928/29 gewesen war. Dass der Kardinalstaatssekretär das Urteil des Letztgenannten für bedeutsam erachtete, zeigt die Anstreichung des entsprechenden Passus in Orsenigos Nuntiaturbericht. Die Meinung Pacellis über Poggenburg war hingegen eher durchwachsen.448 Wie relevant diese mittelbaren Informanten für Pacelli letztlich waren, lässt sich nicht entscheiden, da sie sämtlich die schon vorhandene Kandidatur Webers beziehungsweise Hartzʼ lediglich unterstützten  – Pacelli war also nicht in der Situation, seine

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Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v–43r, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 235. 120

II.1.10 Schneidemühl 1930/31

eigenen Überlegungen aufgrund eines Widerspruchs womöglich revidieren zu müssen. Insofern bleibt nur festzuhalten, dass Pacelli das bestätigende Urteil der Informanten des Nuntius gewiss gerne zur Kenntnis nahm. 5. Die Rekonstruktion belegt eindeutig, dass Pacelli die alles entscheidende Figur des Besetzungsfalls war, die Kandidaten und Ablauf bestimmte. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Initiative zur Wiederbesetzung nicht von der Berliner Nuntiatur, sondern vom Staatssekretär ausging und zwar in dem Augenblick, als die preußische Regierung die Translation Kallers nach Ermland akzeptierte. Dass Pacelli seine einleitenden Kandidatensondierungen an Orsenigo vorbei vornahm, obwohl der Informant Rauterkus ebenfalls in Berlin residierte, sagt einiges darüber aus, welches Zutrauen er zu seinem Nachfolger besaß. Ihn kontaktierte er erst, nachdem er von den Jesuiten einen passenden Kandidatenvorschlag erhalten hatte. Dementsprechend verlangte Pacelli von Orsenigo keine neuen Namen für das vakante Amt, sondern „nur“ eine Beurteilung des bereits vorhandenen. Genauso ging er vor, nachdem Weber das Amt ausgeschlagen hatte. Andererseits kam Orsenigo aber offensichtlich auch nicht auf die Idee, selbständig Vorschläge zu unterbreiten. Gerade angesichts seiner vorbehaltlos positiven Beurteilung von Hartz drängt sich die Frage auf, warum er ihn nicht von selbst als tauglichen Geistlichen proponierte. Während Orsenigo beide Kandidaten Pacellis vollständig unterstützte, lehnte letzterer den Vorschlag des ersteren rundweg ab, den Gefreiten Prälaten mit der bischöflichen Würde zu bekleiden. Immerhin präsentierte Orsenigo die provisorische Lösung, Kaller zum Administrator von Schneidemühl zu ernennen, die von Pacelli auch akzeptiert wurde. Es ist also zu konstatieren, dass Pacelli dem Nuntius wenig Einfluss zugestand, ihn allerdings auch nicht vollständig überging, während dieser gewissermaßen komplementär dazu im Rahmen des Möglichen auch nur wenig eigenständig handelte. Innerhalb der Kurie entschied man an Pacelli nichts vorbei, was sich – neben allem bereits Gesagten – daran zeigt, dass Pizzardo ihn mit der letztlich zweitrangigen Zweifelsfrage hinsichtlich der bischöflichen Würde des künftigen Prälaten konfrontierte, während Pacelli sich in Rorschach aufhielt. Seine klare negative Antwort konditionierte der Staatssekretär mit dem höheren Urteil des Papstes. Aus der Tatsache, dass Hartz die Bischofsweihe später nicht empfing, ergibt sich, dass Pius XI. Pacellis Sicht folgte. Überhaupt scheint sich der Anteil Pius XI.ʼ am Besetzungsfall darauf zu beschränken, Pacellis Wunschkandidaten abgesegnet zu haben. Wie aus der Audienz vom 9. Januar 1931 hervorgeht, beharrte er offenbar lediglich darauf, Hartzʼ Eignung für das fragliche Amt vom Nuntius bestätigen zu lassen, was Pacelli zu diesem Zeitpunkt von sich aus noch nicht unternommen hatte. Eine darüber hinausgehende Einflussnahme lässt sich zumindest auf Basis der Quellen nicht nachweisen.

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II.1.11 Aachen 1930/31

II.1.11 Ein unberücksichtigtes Listenverfahren und eine überraschende Terna: Aachen 1930/31 (Joseph Vogt)449 Römische Ernennung oder Bischofswahl? Orsenigos Plan und Pizzardos Fehler Der fünfte preußische Besetzungsfall des Jahres 1930 neben Berlin, Limburg, Ermland und Schneidemühl bahnte sich an, als am 13. August des Jahres die Bulle Pastoralis officii nostri über die Neuzirkumskription der preußischen Diözesen im Anschluss an das Preußenkonkordat das Bistum Aachen aus der Taufe hob.450 Als dem Berliner Nuntius Orsenigo die Bulle von Seiten der Konsistorialkongregation zuging, wirkte er bremsend auf den Errichtungsprozess der Diözese ein. Er schlug Kardinalstaatssekretär Pacelli vor, das Aachener Stiftskapitel nicht sofort zum Domkapitel zu erheben, was unmittelbar die Bestellung eines Kapitelsvikars nach sich ziehen und die Erwartung nähren würde, dass die Einsetzung des Bischofs gemäß Artikel 6 des Konkordats und damit durch eine Kapitelswahl erfolge.451 Dieser Vorstellung stand Orsenigo jedoch reserviert gegenüber: „All dies könnte einige Schwierigkeiten erzeugen, in dem Sinne, dass das Kapitel – wur449

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Aachen 1930/​31 Gatz, Besetzung, S. 222–228, der freilich auf die Einsichtnahme in die Quellen aus dem Nuntiaturarchiv verzichtet; Ders., Bischofswahlen, S. 153f.; Reuter, Wiedererrichtung, S. 126–130; Speckner, Wächter, S. 164; Wäckers, Kirche, S. 14–18. Vgl. Nr. II.2 von Pastoralis officii Nostri, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 340f.; Art. 2, Abs. 2 des Preußenkonkordats, ebd., S. 323. Bereits 1802 wurde auf Basis des napoleonischen Konkordats in den linksrheinischen, zu Frankreich gehörenden Gebieten ein Bistum Aachen errichtet, das allerdings, nachdem das Rheinland 1815 an Preußen ging, durch die Neuzirkumskription der preußischen Bistümer wieder aufgehoben wurde. Die entsprechenden Gebiete wurden dem Erzbistum Köln einverleibt. In Aachen selbst blieb das einstige Domkapitel als Stiftskapitel bestehen. Die Stadt wurde 1920 ständiger Sitz eines Kölner Weihbischofs. Bemühungen, ein erneutes Bistum Aachen zu gründen, gab es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In den preußischen Konkordatsverhandlungen seit 1926 wurden diese Bestrebungen erfolgreich wieder aufgenommen. Die neue Diözese, wesentlich kleiner als ihre Vorgängerin, wurde großteils aus dem Kölner Sprengel und zu gut einem Zehntel aus dem Münsteraner Bistumsgebiet zusammengesetzt und dem Kölner Metropolitanverband eingegliedert. Vgl. zur Wiedererrichtung und Geschichte des Bistums Gatz, Vorgeschichte; Ders., napoleonische Bistum; Ders., Bistum Aachen; Golombek, Vorgeschichte, S. 55, 67–69, 73f.; Hegel, Erzbistum, S. 122–125; Reuter, Wiedererrichtung; Schmalenberg, Köpfe; Stasiewski, Bischofssitze, S. 172–181; Wynands (Hg.), Geschichte. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 13. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 28rv. Vgl. Art. 6 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. 122

II.1.11 Aachen 1930/31

de mir gesagt – keine Männer besitzt, die fähig wären, – auch nur übergangsweise – eine Diözese zu leiten, geschweige denn eine Neuerrichtung, außer vielleicht einem Einzelnen.“452 Selbst den Kapitularvikar, der die zwischenzeitliche Verwaltung des Bistums zu übernehmen hatte, konnten die Domherren nach Orsenigos Ansicht also nicht stellen. Um diesem Problem entgegenzutreten, sei es eine bessere Alternative, den Kölner Erzbischof und Metropoliten des neuen Bistums, Schulte, zum Administrator Aachens einzusetzen und in der Zwischenzeit die Nomination des neuen Oberhirten vorzubereiten. Diese sollte geschehen, indem man „naturgemäß die nötigen Kontakte mit der Regierung aufnimmt, was ihre eventuellen politischen Einwände anbelangt und klarstellt, dass die Vorgehensweise so abgekürzt ist, weil ein Domkapitel noch nicht existiert“453. Das frisch vereinbarte Kapitelswahlrecht sollte also umgangen und durch die päpstliche Ernennung ersetzt werden, indem der Heilige Stuhl den Vollzug der Bulle verschob, dadurch die Aufwertung des Stiftskapitels verzögerte und damit die rechtlichen Prämissen für die Bischofswahl verhinderte. Unmittelbar nach dem eingegangenen Nihil obstat des Staates, könnte man  – so Orsenigo weiter – die Ausführung der Errichtungsbulle und die Ernennung des ersten Bischofs parallel vollziehen. Freilich müsse dieser Plan – sollte er in Erwägung gezogen werden – schnell realisiert werden, um keine Unzufriedenheit im Kapitel und in der Bevölkerung auszulösen, die ungeduldig auf die Bistumsgründung warten würden. Da Pacelli zu diesem Zeitpunkt nicht in der Kurie anwesend war, nahm der Sekretär der AES, Pizzardo, den Bericht im Empfang. Dieser reichte die Überlegungen des Berliner Nuntius an Vincenzo Santoro, den frisch ernannten Assessor der Konsistorialkongregation, weiter und machte einen Vorschlag, der einen verhängnisvollen Fehler enthielt: „Diesbezüglich würde es sinnvoll erscheinen, dass die Heilige Kongregation ein Dekret zur Ergänzung der Bulle über die Ordnung der Diözesen in Preußen erlässt, welches beschließt, indem es die Diözese Aachen errichtet, dass die Eminenz, der Kardinal und Erzbischof von Köln, die Administration dort bis zur Besetzung der Diözese behalten wird.“454 Während Orsenigo den Vollzug der Bulle und damit die formale 452

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„Tutto questo potrebbe creare qualche difficoltà, nel senso che il Capitolo non ha – mi si dice – uomini capaci di governare – anche solo interinalmente – una diocesi, per di più di nuova erezione, salvo forse un solo individuo.“ Orsenigo an Pacelli vom 13. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 28r. „… prendendo naturalmente i dovuti contatti col Governo per quanto riguarda le eventuali sue obbiezioni politiche, e spiegando che la procedura è così ridotta, perché ancora non esiste un Capitolo cattedrale.“ Orsenigo an Pacelli vom 13. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 28v. „Atteso ciò sembrerebbe opportuno che cotesta Sacra Congregazione emanasse un decreto a complemento della Bolla per lʼordinamento delle diocesi in Prussia, stabilendo che, erigendosi la Diocesi di Aquisgrana, lʼE.mo Cardinale Arcivescovo di Colonia ne manterrà lʼAmministrazione fino alla provvista della diocesi stessa.“ Pizzardo an Santoro vom 18. August 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 30r. Hervorhebung R.H. 123

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Bistumserrichtung hinauszögern wollte, um einen Grund für die Installation des Administrators zu haben, sollte gemäß Pizzardo beides gleichzeitig geschehen. Damit drängte sich aber unweigerlich die Frage auf: Wenn die Diözese rechtlich existent war, warum dann überhaupt einen Administrator einsetzen und nicht einfach zur Bischofswahl gemäß Konkordat schreiten? Die Konsistorialkongregation machte sich den Wortlaut Pizzardos zu eigen und erließ am 20. August das gewünschte Dekret, mit dem Schulte zum Apostolischen Administrator ad nutum Sanctae Sedis der Diözese Aachen ernannt wurde – das Bistum galt diesem Dokument damit als errichtet.455 Am 23. August informierte Pacelli, der hier in den Quellen zu diesem Fall erstmals in Erscheinung tritt, Orsenigo darüber, dass Pius XI. Schulte zum Administrator ernannt habe.456 Offenbar billigte der Staatssekretär den Plan des Nuntius, war allerdings auf den Fehler Pizzardos nicht aufmerksam geworden. Dass Pacelli dessen Schreiben nicht geprüft hatte, geht mit Gewissheit daraus hervor, dass dieses lediglich den Vermerk „Firma Monsignor Segretario [sc. Pizzardo, R.H.]“ erhielt.457 Er unternahm aber nun auch keine Schritte, um das Dekret zurückzuziehen, im Gegenteil: Nachdem Orsenigo das Ernennungsdekret unter dem Datum des 23. August von der Konsistorialkongregation erhalten und an Schulte weiter transferiert hatte, sodass die Interimsverwaltung der Diözese gewährleistet war,458 wies Pacelli den Nuntius am 2. September an, den nächsten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen: „Eure Exzellenz ist autorisiert, mit der Regierung zu verhan455

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Vgl. Benedetto Renzoni (Substitut der Konsistorialkongregation) an Pizzardo vom 22. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 31r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 23. August 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 32r. Bei der Bestätigung durch den Kardinalstaatssekretär lautete der Vermerk: „Firma Sua Eminenza“. Vgl. zum Beispiel den Entwurf eines Schreibens aus dem Staatssekretariat an Gaetano Kardinal Bisleti vom 7. März 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 51r. Auf Bitten des Erzbischofs beschaffte ihm Orsenigo anschließend noch die zur Leitung nötigen Quinquennalfakultäten. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 30. August 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927– 1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 34rv; Pacelli an Orsenigo vom 3. September 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 36r. Kurz darauf erbat Schulte vom Papst über die Quinquennalfakultäten hinaus noch die besonderen Vollmachten, welche die einzelnen römischen Kongregationen ihm als Kölner Ordinarius zugestanden hatten. Orsenigo reichte die Supplik an den Kardinalstaatssekretär weiter und hielt es für durchaus opportun, diese zu gewähren. Freilich sei es nicht klug, wenn man Schulte – wie von ihm gewünscht – die umfassenden Rechte eines „ständigen“ Bistumsverwalters gemäß Can. 315 § 1 konzediere, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man die Besetzung des Bischofsstuhls hinauszuschieben beabsichtige. Für gefährlich hielt der Nuntius zudem, dem Kölner Erzbischof den Wunsch zu erfüllen, für das Bistum Aachen Priester in- oder exkardinieren zu dürfen, weil ihm damit die Möglichkeit gegeben sei, Kleriker in seine Erzdiözese zurückzuführen. Orsenigo wollte den künftigen Aachener Diözesanbischof also davor bewahren, dass er bei seinem Amtsantritt einen erheblichen Mitarbeitermangel bewältigen musste, weil Schulte zuvor viele von ihnen nach Köln zurückgeholt hatte. Nach Absprache zwischen Papst und Kardinalstaatssekretär erhielt Schulte die besonderen Vollmachten sowie das ebenfalls von ihm gewünschte Recht, länger vakante Pfarreien zu besetzen. Die Befugnisse des ständigen Administrators und besonders 124

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deln, um zu erreichen, dass für dieses erste Mal die Ernennung des neuen Bischofs von Aachen ohne Kapitelswahl direkt vom Heiligen Stuhl vorgenommen wird, unbeschadet der üblichen Anfrage zwecks eventueller Einwände politischer Natur.“459 Obwohl diese Instruktion seinem ursprünglichen Vorschlag entsprach, war Orsenigo von ihr nicht begeistert: Bevor er sich an die Regierung wende – so schrieb er zurück –, wolle er von Zweifeln berichten, die ihm „durch die in den letzten Tagen eingetretenen Umstände“460 gekommen seien. Diese würden die präferierte Vorgehensweise „teilweise viel schwieriger“461 gestalten, als er noch eine Woche zuvor angenommen habe. Als erste circostanza, die ihn zweifeln ließ, galt ihm die Errichtung der Diözese Aachen und die darauffolgende Aufwertung des Stiftskapitels zum Domkapitel. Zwar habe er zuerst geglaubt, dass man beides hinauszögern und das Aachener Gebiet zunächst wie Berlin in eine Apostolische Administratur umwandeln könne.462 Die eigentliche Bistumsgründung samt Kapitelserhebung hätte daher an demselben Tag erfolgen sollen, an dem der Heilige Stuhl auch die Ernennung des neuen Bischofs publizierte. Aber das Ernennungsdekret der Konsistorialkongregation – so der Nuntius – „schließt diese Möglichkeit aus und beschreibt die Diözese als bereits errichtet und daher vakant“463. Darum betrachte sich das ehemalige Aachener Stiftskapitel nun rechtmäßig als Domkapitel. Es war also eher ein impliziter Vorwurf, den Or-

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das Recht der In- beziehungsweise Exkardination erhielt er jedoch nicht. Vgl. Schulte an Pius XI. vom 9. September 1930, ebd., Fol. 43rv; Orsenigo an Pacelli vom 17. September 1930, ebd., Fol. 41rv; Pacelli an Orsenigo vom 21. September 1930 (Entwurf), ebd., Fol. 44r. „V. S. è autorizzata a trattare col Governo per cercare di ottenere che per questa prima volta la nomina del nuovo V° di Aquisgrana sia fatta direttamente dalla S. Sede, senza Elezione Capitolare, salvo consuete interrogazioni circa eventuali obbiezioni di Ordine politico.“ Pacelli an Orsenigo vom 2. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 37r. Von dieser Weisung ist nur der Entwurf in den vatikanischen Quellen überliefert. Dieser stammte zwar nicht von Pacelli, doch dass dieser die Weisung unterzeichnete und damit am römischen Entscheidungsprozess wieder beteiligt war, geht aus der (gleich zu behandelnden) Antwort Orsenigos vom 3. September hervor. Darin bestätigte der Nuntius nämlich den Eingang des „Cifrato di Vostra Eminenza Reverendissima“. „… da circostanze verificatesi in questi ultimi giorni …“ Orsenigo an Pacelli vom 3. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 38r–39r, hier 38r. „… parziale molto più difficile …“ Orsenigo an Pacelli vom 3. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 38r. Orsenigo hatte sich bei seinem Plan Pacellis Handeln in Berlin 1929/​30 zum Vorbild genommen, wo dieser zur Umgehung des Kapitelswahlrechts den künftigen Oberhirten vor der kanonischen Bistumsgründung als Administrator installierte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Von Ludwig Kaas zu Christian Schreiber und die Bestellung eines Administrators). „… escluse questa possibilità, e condiderò la diocesi già eretta e quindi vacante.“ Orsenigo an Pacelli vom 3. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 38v. 125

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senigo formulierte, anstatt einer ausdrücklichen Kritik am römischen Dekret, das seine Strategie letztlich zunichte gemacht hatte. Einen zweiten Umstand, der ihn an seinem ursprünglichen Plan zweifeln ließ, hielt er für sogar noch schwerwiegender. Es handelte sich um einen Gedanken des „ziemlich einflussreichen“464 Ministerialdirektors im Preußischen Kultusministerium, Friedrich Trendelenburg, mit dem er kürzlich zusammengetroffen sei. Trendelenburg habe immer wieder gefragt, ob die Ernennung des künftigen Aachener Bischofs bald geschehe und wie das Besetzungsverfahren aussehen werde. Nach eigener Schilderung antwortete Orsenigo darauf stets ausweichend: Eine qualifizierte Antwort sei zu früh und noch habe er keine Instruktionen erhalten, wobei die Neuerrichtung einer Diözese sicherlich einige Ungewissheit hinsichtlich des Besetzungsprozederes mit sich bringe. Der preußische Beamte habe sofort darauf hingewiesen, dass eine getreuliche Umsetzung des Konkordats erforderlich sei, einerseits um den Wert des Kirchenvertrags herauszustellen, andererseits um der preußischen Domkapitel willen, die ohnehin „schon unzufrieden sind, ihr altes und volles Ernennungsrecht verkürzt zu sehen“465. Beide Argumente ließen Orsenigo an der Opportunität zweifeln, die Kapitelswahl zu umgehen. Und selbst wenn der nicht wahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass die Regierung zustimme, wäre ein ungünstiges Echo in der Presse und im Parlament zu erwarten. Man würde den Heiligen Stuhl bezichtigen, seine Verträge nicht einzuhalten und eine illegitime Bischofseinsetzung in Aachen vorgenommen zu haben.

Die Kandidatenvorschläge des Aachener Domkapitels und der preußischen Bischöfe Wenngleich Orsenigo seine Befürchtungen abschließend als möglicherweise übertrieben deklarierte, drangen sie in der kurialen Chefetage durch. In einer Audienz am 6. September kamen Pius XI. und Pacelli zum den Entschluss, dass man in Aachen besser „per la via ordinaria“466 vorgehen möge, also eine Bischofswahl gemäß Artikel 6 des preußischen Konkordats zulasse – das zweite Mal nach der ermländischen Besetzung. Drei Tage darauf telegraphierte der Kardinalstaatsse-

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„… assai influente …“ Orsenigo an Pacelli vom 3. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 38v. „… già scontenti di vedere diminuito il loro antico e pieno diritto di nomina.“ Orsenigo an Pacelli vom 3. September 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 38v. Audienznotiz Pacellis vom 6. September 1930, abgedruckt bei Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S. 216–220, hier 219. 126

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kretär diese Entscheidung nach Berlin.467 Daraufhin trug der Nuntius am 12.  September dem Aachener Domkapitel auf, „dieser Apostolischen Nuntiatur sehr bald einen oder mehrere Kandidaten entweder aus Aachen oder aus einer anderen deutschen Diözese anzuzeigen, die es vor dem Herrn zur hochgelobten Lenkung der Kirche geeignet erachtet, und außerdem über jeden einzelnen Kandidaten all jene Informationen beizufügen, die es für angemessen und nützlich hält, mir mitzuteilen.“468

Diesen Auftrag erteilte Orsenigo am selben Tag auch jedem einzelnen preußischen Diözesanbischof. Innerhalb der folgenden drei Wochen meldeten sich alle Befragten zurück und präsentierten ihre Vorschläge: 1. Den kürzesten Weg musste Orsenigos Aufforderung bis zum Bischof von Berlin, Christian Schreiber, zurücklegen, der daher noch am selben Tag seine Personalüberlegungen niederschreiben konnte.469 Drei Geistliche hatte er für den fraglichen Posten im Sinn: a) Zunächst den Kölner Weihbischof Hermann Joseph Sträter, Doktor der Theologie, der allerdings kein überragender Wissenschaftler sei und dem es an Geschicklichkeit mangle, was ihm von Klerus und Volk auch vorgeworfen werde. Dennoch sei er eine gänzlich apostolische Person, fromm, der Kirche und dem Papst ergeben, in der Seelsorge sehr erprobt und in den kirchlichen Angelegenheiten versiert. Damit stand Schreibers Favorit fest: „Ich glaube, dass er nicht leicht übergangen werden kann, weil er schon seit einigen Jahren seinen Sitz in Aachen hat und das Amt des Weihbischofs für Köln gut verrichtet.“470 b) Seine Nummer zwei war Monsignore Theodor Hürth, Priester der Erzdiözese Köln und Generalpräses des katholischen Gesellenvereins. Auch er sei ein apostolischer Mann, der treu zu Kirche und Heiligem Stuhl stehe, in Seelsorge und Leitungsaufgaben erfahren, ein guter Redner und Organisator, in der theologischen Wissenschaft genügend unterrichtet. c) Schließlich nannte Schreiber den Magdeburger Pfarrer und Propst Petrus Legge: „Er verdient das Lob des Hirten, der die Seelen auf ausgezeichnete Weise mit Eifer, Klugheit, praktischem Wissen und Erfolg lenkt und weidet – er ist würdig und tauglich, als Bischof für eine grö467

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 9. September 1930 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 40r. „… huic Apostolicae Nuntiaturae unum vel plures candidatos sive ex Aquisgranensi, sive ex alia Dioecesi regionis Germanicae, quo citius indicare velit, quos ad supralaudatam Ecclesiam regendam idoneos coram Domino existimaverit, addens etiam de unoquoque candidato illas omnes percontationes, quas mihi comunicandas opportunum et utile iudicaverit.“ Orsenigo an das Aachener Domkapitel vom 12. September 1930 (Entwurf, Zirkularschreiben), ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 1r. Vgl. Schreiber an Orsenigo vom 12. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 2rv. „Puto ipsum, cum iam ex pluribus annis Aquisgranae domicilium suum habeat et munus episcopi auxiliaris Coloniensis bene gesserit, praeteriri non facile posse.“ Schreiber an Orsenigo vom 12. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 2r. 127

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ßere Herde zu sorgen.“471 Das gelte auch – und obwohl der Berliner Oberhirte ursprünglich nur drei Namen nennen wollte, ergänzte er noch einen vierten – d) für den Kölner Stadtpfarrer bei St. Petrus, Hugo Taepper. Über ihn machte er jedoch keine weiteren Angaben. 2. Am 15. September meldeten sich gleich drei Bischöfe zurück. Einer von ihnen war der Bischof von Hildesheim, Nikolaus Bares.472 Er proponierte zwei Kleriker: a) Zum einen den bereits von Schreiber genannten und aus Aachen stammenden Theodor Hürth. Auch Bares kannte ihn von dessen Tätigkeit im Gesellenverein, wodurch sich Hürth eine glänzende Kenntnis ganz Deutschlands und ein sehr nützliches soziales Wissen erworben habe. b) Zum anderen Dr. Karl Scheller, der im Fuldaer Priesterseminar seit einigen Jahren kanonisches Recht lehre. In Alter – er war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 42 Jahre alt – und Sitten gleichermaßen reif, scheine er in der Integrität der Lehre und der Redlichkeit des priesterlichen Lebens hervorzustechen. Ob aber die gesundheitliche Verfassung beider Kandidaten für die Strapazen des bischöflichen Amtes ausreichend sei, könne er – so Bares – nicht entscheiden. 3. Der nächste Oberhirte, der am 15. September antwortete, war Johannes Poggenburg, Bischof von Münster.473 Er präsentierte nur einen einzigen Kandidaten: den Münsteraner Pfarrer von St. Lamberti, Clemens August Graf von Galen (52 Jahre alt). Ein tabellarischer Lebenslauf bot die notwendigen Informationen über den Genannten: Nachdem Galen 1904 zum Priester geweiht worden sei, habe er in den folgenden Jahren Seelsorgsstellen in Münster und Berlin bekleidet und hier schließlich 1919 mit St. Matthias eine eigene Pfarrei übernommen. Ungefähr zehn Jahre später habe er dann den Pfarrdienst bei St. Lamberti in Münster angetreten. Der Pfarrer sei – so Poggenburg – ein Vorbild an Frömmigkeit, Religiosität und Lebensführung. Auch seine völlige Ergebenheit gegenüber der heiligen Mutter Kirche und dem vicarius Christi sowie seine Herkunft aus einer wahrhaft katholischen Familie mit bestem Ruf sprachen nach Ansicht des Münsteraner Bischofs für den Amtsanwärter. 4. Exponierte Bedeutung war der Stimme des Kölner Erzbischofs und Aachener Interimsadministrators, Karl Joseph Schulte, beizumessen, zu dessen Sprengel Aachen zuvor gehört hatte.474 Wie Poggenburg nannte auch Schulte nur einen Geistlichen, nämlich seinen seit 1922 in Aachen residierenden Weihbischof Sträter (64 Jahre), der bereits die Nummer eins Schreibers gewesen war. Schulte fasste dessen Biographie mit folgenden Daten zusammen: Sträter entstamme einer sehr angesehenen Familie, sei nach Studien an der Universität Bonn und im Kölner Seminar 1891

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„Ipse meretur laudem pastoris qui animas eximio modo cum zelo, prudentia, scientia practica et successu regit et pascit – dignus et idoneus qui tamquam Episcopus maiori gregi provideat.“ Schreiber an Orsenigo vom 12. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 2v. Vgl. Bares an Orsenigo vom 15. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 3r. Vgl. Poggenburg an Orsenigo vom 15. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 4rv. Vgl. Schulte an Orsenigo vom 15. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 6rv. 128

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zum Priester geweiht worden, habe sich seitdem mit Ausnahme einer kurzen Repetitortätigkeit am Bonner Theologenkonvikt durchgehend in der cura animarum verdingt und sei vor seiner Erhebung zum Weihbischof 1922 Pfarrer und Dekan in Krefeld gewesen. Für Sträters Tätigkeit hatte der Erzbischof ausschließlich Lob übrig: „Sein makelloser priesterlicher Lebenswandel, seine rastlose, selbstlose und kluge Wirksamkeit, seine vorbildlich kirchliche Gesinnung verschafften ihm Hochschätzung und Autorität.“475 Insbesondere hob Schulte als pastorales Meritum Sträters Einführung des Männerapostolats hervor, das die Männer zum monatlichen Empfang des Altarsakraments anleite. Nicht unwichtig war für Schulte außerdem der Hinweis, dass der Kandidat sowohl das bischöfliche Aufgabenfeld als auch Aachen bestens kenne: „Seit über 8 Jahren Kölner Weihbischof mit dem Sitz in Aachen, wo er zugleich Propst des Kollegiatskapitels, des jetzigen Domkapitels, ist, hat er sich in jeder Hinsicht aufs beste bewährt. Unverdrossen und freudig war er mir ein Auxiliarius Episcopus, wie ich ihn nicht besser mir hätte wünschen können. Auf seinen Firmungs- und Visitationsreisen hat er die Erzdiözese Köln und die neue Diözese Aachen gründlichst kennengelernt: jede Kirche, jedes Kloster und jeden Priester. Bei der Neueinrichtung der Diözese Aachen wird gerade er mit jener Erfahrung und Sicherheit vorgehen können, die mir zumal in dieser Zeit dringend erforderlich scheinen.“476

Trotz seines fortgeschrittenen Alters sei Sträters Gesundheit gut und gebe Anlass zur Hoffnung, dass er noch viele Jahre wirken könne. 5. Zwei Tage später, am 17. September, replizierte Maximilian Kaller aus Schneidemühl, der gut zwei Wochen vorher von Pius XI. zum Bischof von Ermland ernannt worden war, freilich noch nicht die Bischofsordination erhalten, geschweige denn sein neues Bistum in Besitz genommen hatte.477 Dennoch behandelte ihn Orsenigo nach der päpstlichen Ernennung bereits als Mitglied des preußischen Diözesanepiskopats. Um das neu errichtete Bistum zu führen, befand Kaller zwei Kleriker für tauglich, die er aber nur knapp charakterisierte: a) Einmal den Osnabrücker Oberhirten, Wilhelm Berning. Weil nämlich Aachen „eine der bedeutendsten und schwierigsten Diözesen“478 sein werde – neben ihrer durchaus nicht geringen Zahl an Katholiken war das womöglich auch eine Anspielung auf ihre Lage im westlichen Grenzgebiet der Republik –, hielt er es für angemessen, dass ein schon erprobter Bischof den Sprengel führe. b) Diese Prämisse sah er auch in einer zweiten Person erfüllt, nämlich wiederum dem Aachener Dompropst Sträter. Ihm rechnete er die Gründung des Männerapostolats lobend an, das bislang in ganz Deutschland segensreich gewirkt habe.

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Schulte an Orsenigo vom 15. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 6r. Schulte an Orsenigo vom 15. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 6v. Vgl. Kaller an Orsenigo vom 17. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 8rv. „… una ex amplissimis et difficillimis dioecesibus …“ Kaller an Orsenigo vom 17. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 8r. 129

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6. Der Limburger Bischof, Augustinus Kilian, verzichtete auf einen Kandidatenvorschlag.479 Seine Begründung war einfach: Er kannte schlicht keinen Kandidaten, der für das fragliche Amt geeignet sei. Außerdem hielt er dafür, einen Geistlichen aus der Region auf den bischöflichen Stuhl in Aachen zu befördern, aber der dortige Klerus sei ihm nicht ausreichend bekannt. Eine Erklärung dafür ist sicher, dass das Bistum Limburg bis vor kurzem noch der Freiburger Metropolitankirche untergeordnet war und erst durch das Preußenkonkordat der Kölner Kirchenprovinz eingegliedert wurde.480 Darüber hinaus ging es dem greisen Oberhirten zu diesem Zeitpunkt zunehmend schlechter – knapp sechs Wochen später verstarb er. 7. Am 18. September versammelten sich mit Ausnahme des verhinderten Ehrenkanonikers Joseph Lob alle Kapitulare des Aachener Domkapitels, um ihre Kandidaten für die römische Terna zu wählen.481 Auf dem ersten Rang landete ihr Propst Sträter, auf dem zweiten der Pfarrer von St. Gereon in Köln, Karl Bremer. Für die nähere Charakterisierung des Erstgenannten verwiesen die Kapitulare auf ein separates Schreiben, das Sträter selbst am nächsten Tag zusammen mit der eigentlichen Liste an die Berliner Nuntiatur sandte.482 Dieses Schreiben, dessen Inhalt Sträter nach eigenen Angaben nicht kannte, war von den übrigen neun Domkapitularen unterzeichnet. Es brachte ihre besondere Präferenz für Sträter zum Ausdruck und versetzte sie in die Lage, den Propst in seiner Abwesenheit frei zu bewerten: „Der ehrwürdigste Herr Dr. theol. Hermann Joseph Sträter, Propst des Aachener Domkapitels, geboren 1866, ein Priester von mustergültigem Leben, großem Seeleneifer, hervorragender Frömmigkeit, genügte im gesamten Verlauf seines Lebens als Vikar, als Repetent der Theologie im Collegium Albertinum in Bonn und als Pfarrer und Dekan in Krefeld auf vorbildliche Weise den Pflichten dieser verschiedenen Ämter. Im Vertrauen auf seine Tugenden holte ihn der Bischof von Köln vor acht Jahren zu sich als einen Gefährten im Bischofsamt. In diesem Amt erwarb er sich eine große Kenntnis des gesamten Klerus, der Pfarreien und der Ordensgemeinschaften der neuen Diözese Aachen sowie der bürgerlichen Behörden.“483

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Vgl. Kilian an Orsenigo vom 18. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 9r. Vgl. Art. 2, Abs. 5 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 323. Vgl. auch Nr. II.3 von Pastoralis officii nostri, ebd., S. 341. Vgl. Kandidatenliste des Aachener Domkapitels vom 18. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 12r–13r. Vgl. Sträter an Orsenigo vom 19. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 11r sowie das separate Schreiben des Domkapitels vom 18. September 1930, ebd., Fol. 14r. „Reverendissimus dominus Dr. theol. Hermann Joseph Straeter, praepositus capituli Aquisgranensis cathedralis, natus anno 1866, sacerdos vita exemplari, zelo animarum magno, pietate conspicuus, per totum vitae decursum, qua vicarius, qua theologiam repetens in collegio Albertino Bonnense, qua parochus et decanus Crefeldiae, modo exemplari officiis horum munerum variorum satisfecit. Cuius virtutibus confisus Antistes Coloniensis ante octo annos eum socium in munere episcopali sibi adscivit. Quo in officio 130

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Ihre Angaben über die Nummer zwei, den Kölner Pfarrer Bremer (55 Jahre alt), fügten die Domherren der offiziellen Liste bei. Dass ihm der Erzbischof die überaus große Pfarrei St. Gereon anvertraut hatte, sagte nach Ansicht der Kapitulare schon einiges über Bremer aus. Verdient im Bereich der Seelsorge, ein Mann von Sittenintegrität und hervorragendem priesterlichen Leben, habe er die Pfarrei klug, wohlwollend und sehr eifrig geleitet: Zahlreichen „Gläubigen jeden Geschlechts und Standes ist er ein sehr guter Führer und Hirte“484. Ein Proprium Bremers sei seine Liebe zur Jugend, die sich bei ihm mit profundem theologischem Wissen verbinde. 8. Praktisch ohne zusätzliche Informationen benannte Franz Rudolf Bornewasser, der Bischof von Trier, zwei Namen möglicher Kandidaten für die bischöfliche Cathedra in Aachen.485 Mit der Nummer eins versah er den schon mehrfach vorgeschlagenen Sträter. Die Nummer zwei war eine neue Person im Kandidatenkorpus, nämlich der Abt der in der Diözese Trier gelegenen Benediktinerabtei Maria Laach, Ildefons Herwegen. Beide seien „vor allen anderen“486 mit wissenschaftlichen Fähigkeiten und priesterlichen Tugenden ausgestattet. 9. Wilhelm Berning aus Osnabrück bezeichnete der Berliner Nuntiatur lediglich Dompropst Sträter, „der schon viele Jahre die bischöfliche Würde besitzt, immer mit großem Seeleneifer wirkte und bei allen und überall höchstes Ansehen genießt“487. 10. Neben dem Dekan des Kölner Metropolitankapitels, Otto Paschen, empfahl den Aachener Dompropst am letzten Septembertag auch der Breslauer Erzbischof, Adolf Bertram.488 Er gab jedoch zu bedenken, dass er aufgrund der großen Entfernung zwischen den westlichen Diözesen und Breslau die örtlichen Verhältnisse und die Qualitäten beider von ihm genannten Geistlichen nicht in dem Umfange einzuschätzen vermöge, um ruhigen Gewissens ein sicheres Urteil zu fällen. Er hielt es daher für sinnvoll, den Voten der Oberhirten der Kölner Kirchenprovinz mehr Gewicht beizumessen. 11. Näher an Köln und Aachen lag das Bistum Fulda, das seit dem preußischen Konkordat Suffraganat des Erzbistums Paderborn geworden war. Bischof Damian Schmitt erklärte ohne Angabe

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magnam cleri universi, paroeciarum, conventuum novae dioecesis Aquisgranensis, necnon magistratum civilium notitiam sibi comparavit.“ Separates Schreiben des Domkapitels vom 18. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 14r. „… multisque omnis generis et status fidelibus optimus est dux et pastor.“ Kandidatenliste des Aachener Domkapitels vom 18. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 12v. Vgl. Bornewasser an Orsenigo vom 19. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 15r. „… praeter ceteros …“ Bornewasser an Orsenigo vom 19. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 15r. „… qui iam multos annos dignitatem Episcopalem habet, magno animarum zelo semper laboravit, apud omnes et ubique maxima aestimatione fruitur.“ Berning an Orsenigo vom 19. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 16r. Vgl. Bertram an Orsenigo vom 30. September 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 18r. 131

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von Gründen, dass – wiederum – Weihbischof Sträter die geeignete Persönlichkeit sei, das Bistum Aachen zu führen.489 12. Als letzter meldete sich Kaspar Klein, Erzbischof von Paderborn, auf die Anfrage Orsenigos zurück.490 Er eröffnete einen Fundus von letztlich fünf Kandidaten. Drei Kandidaten wurden seiner Ansicht nach allgemein für den in Rede stehenden Posten gehandelt: a) der Aachener Dompropst Sträter, b) der Osnabrücker Oberhirte Berning und c) der Kölner Domkapitular Emmerich David, der bis vor kurzem noch Rektor des Campo Santo Teutonico in Rom gewesen sei.491 Nur über den Erstgenannten, den Klein „in erster Linie in Vorschlag“492 bringen wollte, fügte er eine umfassende Charakteristik bei: „Gegen den Hochwürdigsten Herrn Weihbischof Dr. Sträter werden nicht selten namentlich aus Laienkreisen Stimmen laut. Man wirft ihm Weltfremdheit, Mangel an Taktgefühl, an feinem äußeren Auftreten vor. Niemand aber – und das ist die Hauptsache – zieht seinen streng kirchlichen Sinn, seine tiefe Frömmigkeit, seinen glühenden Seeleneifer in Zweifel.“493

Klein kannte den Genannten nach eigenen Angaben sehr gut und versicherte, dass „sein schlichtes, einfaches Wesen, seine klaren und bestimmten Ausführungen einen tiefen Eindruck“494 auf ihn gemacht hätten. Wenn der Gesundheitszustand solide sei – was Klein nicht beurteilen konnte –, dann werde Sträter den auf ihn zukommenden Verpflichtungen voll genügen, zumal er durch seine breite Erfahrungsgrundlage in Aachen für den Aufbau des neuen Bistums geradezu prädestiniert sei. Für den Fall freilich, dass Sträter „aus besonderen Gründen nicht als erster Bischof von Aachen berufen werden“495 könne, verwies er auf die beiden anderen genannten Geistlichen. Darüber hinaus kamen seiner Überzeugung gemäß noch d) der Paderborner Weihbischof Johannes Hillebrand und e) der Münsteraner Homiletikprofessor Adolf Donders in Frage. Über letzteren, einem „tüchtigen und für alles Gute begeisterten Mann“496, habe er jedoch das Gerücht gehört, dass seine körperliche Verfassung bedauerlicherweise nicht optimal sei.497

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Vgl. Schmitt an Orsenigo vom 1. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 19r. Vgl. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 20r–21v. David kehrte nach zehnjährigem Rektorat am Campo Santo Teutonico nach Köln zurück, wurde von Schulte zum Domkapitular und wenige Monate nach Kleins Schreiben als Nachfolger von Joseph Vogt zum Generalvikar der Erzdiözese ernannt. Vgl. Hegel, Erzbistum, S. 165f.; May, Kaas 3, S. 442f. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 21r. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 20v. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 20v. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 21r. Klein an Orsenigo vom 2. Oktober 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 21v. Tatsächlich hatte Donders mit Rekurs auf seine angeschlagene Gesundheit bereits die Erhebung zum Diözesanbischof von Hildesheim 1928/​29 abgelehnt. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.6 (Approbation aus Rom und Ablehnung aus Münster). 132

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Orsenigos Kandidatenüberlegungen: Berning oder Sträter? Nachdem der komplette preußische Episkopat und das Aachener Domkapitel ihre Vorstellungen vorgetragen hatten, erstellte der Nuntius eine Kopie der Voten, die er am 5. Oktober an Pacelli übersandte.498 In dem dazugehörigen Bericht stellte Orsenigo einige Vorsondierungen an.499 Grundsätzlich bewertete er den Rücklauf der Kandidatenvorschläge als gering, weil einige Bischöfe nur einen, Kilian sogar gar keinen Geistlichen genannt hatten. Zwei Namen verdienten seiner Ansicht nach „besondere Aufmerksamkeit“500, nämlich der Osnabrücker Oberhirte Berning und der Aachener Dompropst Sträter, der mit seiner neunmaligen Nennung als der beinahe konsensuelle Favorit der Befragten gelten musste. a) Hinsichtlich des Erstgenannten rief Orsenigo seinem römischen Vorgesetzten in Erinnerung, was dieser selbst knapp ein Jahr zuvor, kurz vor seiner Rückkehr an die römische Kurie, in seinem Abschlussbericht über die Situation der katholischen Kirche in Deutschland an den Sekretär der Konsistorialkongregation, Carlo Perosi, geschrieben hatte.501 In dieser Relation hatte der damalige Nuntius jeden amtierenden Diözesanbischof in Deutschland biographisch und wertend skizziert. Über Berning schrieb Pacelli damals unter anderem: „Der Bischof von Osnabrück Wilhelm Berning, geboren in Lingen (Diözese Osnabrück) am 26. März 1877, zum Priester geweiht am 10. März 1900, erlangte 1901 den Studienabschluss der h[eiligen] Theologie summa cum laude, war dann Religionslehrer am Gymnasium in Meppen (Provinz Hannover), und während er noch dieses Amt innehatte, wurde er 1914 vom Kathedralkapitel auf den dortigen Bischofssitz gewählt. Er ist ein Prälat von besonders kräftiger körperlicher Verfassung, die ihm einen sehr aktiven Lebensstil gestattet; intelligent, ein guter Redner, energisch (von einigen wird er sogar manchmal als recht hart beurteilt); die Schnelligkeit seines Handelns und seiner Entscheidung ist vielleicht der Grund dafür, dass diese in einigen Einzelfällen nicht ganz klug und zweckmäßig waren.“502 498

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Vgl. Zusammenstellung der Kandidatenvorschläge, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 50r–61r (nur r). Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 46r–47v. „… speciale attenzione …“ Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 46r. Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 4r–49v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage. „Il Vescovo di Osnabrück, Mons. Guglielmo Berning, nato in Lingen (diocesi die Osnabrück) il 26 Marzo 1877, ordinato sacerdote il 10 Marzo 1900, conseguì il 1901 la laurea in s. teologia summa cum laude, fu poi maestro di religione nel Ginnasio di Meppen (Provincia di Hannover) e, allorchè egli ricopriva ancora tale ufficio, venne eletto nel 1914 dal Capitolo cattedrale a quella Sede vescovile. È Prelato di costituzione fisica assai vigorosa, la quale gli permette un genere di vita molto attivo; intelligente, buon oratore, energico (da alcuni si giudica anzi talvolta alquanto duro); la speditezza del suo fare e delle sue decisioni è forse la causa per cui queste in alcuni casi speciali non sono state del tutto 133

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Orsenigo zitierte diesen Abschnitt mit Ausnahme von Bernings Religionslehrertätigkeit, die er offenbar für unbedeutend hielt. Ebenso verzichtete er darauf, die weiteren von Pacelli damals aufgezählten Ämter wie das Präsidium des „Raphaelvereins zum Schutze der katholischen Auswanderer“ oder des Zentralbüros für die Schulen der Ordensgemeinschaften zu erwähnen. Dagegen wiederholte er im Folgenden, wie der damalige Nuntius Bernings Eifer zur Katholisierung der vielen – zunächst der Jurisdiktion des Osnabrücker Oberhirten anvertrauten, dann aber durch die Bulle Pastoralis officii nostri „ordentlich“ der Diözese inkorporierten – Diasporagebiete (das ehemalige Apostolische Vikariat von Norddeutschland sowie die bisherige Apostolische Präfektur Schleswig-Holstein) positiv gewürdigt hatte. Aus eigener Überlegung ergänzte Orsenigo, dass das neue Bistum Aachen dem Osnabrücker Sprengel in der Zahl der Gläubigen wenigstens drei zu eins überlegen, also bedeutender sei,503 und man davon ausgehen könne, dass Berning seinem Transfer auf den Bischofsstuhl im äußersten Westen der Republik zustimmen werde. Übrigens würde sich niemand über die Ernennung Bernings wundern: „Diejenigen, die seinen Namen vorgeschlagen haben, haben insbesondere den großen Vorteil in Erwägung gezogen, einer neu errichteten Diözese einen Ordinarius geben zu können, der schon reich an administrativer und pastoraler Erfahrung ist.“504 b) Einem Blick auf den 64-jährigen Aachener Dompropst und Kölner Weihbischof Sträter konnte nicht entgehen, dass ihn alle Proponenten außer den Oberhirten von Limburg, Münster und Hildesheim für den fraglichen Posten geeignet hielten. Orsenigo bewertete ihn zwar für weniger tauglich als Berning, dennoch sei er nicht einfach zu übergehen. Dabei berief sich der Nuntius auf das Urteil Bischof Schreibers, der Sträter zwar eine nennenswerte Wissenschaftlichkeit und Geschäftsgewandtheit abgesprochen, aber seine Erfahrung und sein bisheriges gelungenes Wirken in der neuen Bischofsstadt hoch angerechnet hatte. Auch Klein habe ihm „Weltfremdheit“, „Mangel an Taktgefühl“ und Defizite in „feinem äußeren Auftreten“ vorgeworfen. Dass Erzbischof Schulte „entgegen seiner Gewohnheiten“ nur ihn allein vorgeschlagen habe, unbeschadet der Tatsache, dass es eine Vielzahl von würdigen Pfarrern in Köln gebe, führte Orsenigo auf „eine eindringliche

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prudenti ed opportune.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 43v–44r, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 237–239. In den Jahren 1930/​31 gab es im Bistum Aachen über 1.300.000 Einwohner, von denen rund 90 % (über 1.100.000) katholisch waren. Vgl. die genauen Angaben bei Gatz, Bistum Aachen, S. 32 und Hegel, Erzbistum, S. 124. In der Diözese Osnabrück lebten im Jahr 1931 hingegen nur ungefähr 440.000 Katholiken. Vgl. dazu Aschoff/​Gatz/​Seegrün, Bistum Osnabrück, S. 550. „Coloro che hanno proposto il suo nome hanno preso in considerazione specialmente lʼenorme vantaggio di poter dare ad una diocesi di nuova erezione un Ordinario già ricco di esperienza amministrativa e pastorale.“ Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 47r. 134

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Propaganda“505 der Angehörigen zugunsten Sträters Kandidatur zurück, von der er gehört habe. Falls Pacelli – so fuhr er fort – den einzigen Kandidaten Schultes für „weniger geeignet für diesen Stuhl“ betrachte, sei mit einer „großen Überraschung“506 des Kölner Kardinals zu rechnen. Um dieser vorzubeugen, schlug Orsenigo vor, ihn aufzufordern, weitere Kandidaten nachzuliefern und zwar mit der Begründung, dass „das Alter des einzigen von ihm angeratenen Kandidaten ernsthaft Grund zu Befürchtungen gibt, was die Energie und die notwendige Festigkeit bei der Regierung einer neu errichteten Diözese angeht.“507 Von der Eignung Sträters war Orsenigo also keineswegs überzeugt, aber weil der Propst seiner Überzeugung nach angesichts der vielen Fürsprecher und insbesondere der ungeteilten Präferenz des Kölner Erzbischofs nicht völlig außen vor gelassen werden konnte, präsentierte er den Ausweg, den Genannten mit dem vorgeschobenen „unproblematischen“ Argument eines zu hohen Alters auszuschließen. Dabei war es Schulte selbst, der Sträter trotz des fortgeschrittenen Alters eine gute Gesundheit attestiert hatte. Orsenigo beabsichtigte, Schultes Autorität zwar formal ernst zu nehmen und ihm weitere Vorschläge zu gestatten, faktisch jedoch sein Votum zu ignorieren.

Die römische Terna Da der Kardinalstaatssekretär währenddessen seine Ferien in der Schweiz verbrachte, ließ man die eingegangenen Unterlagen in der Kurie einen Monat bis zu seiner Rückkehr liegen.508 Immerhin stellte ein Mitarbeiter des Staatssekretariats die vorgebrachten Kandidaten tabellarisch zusammen, wobei er die vom Nuntius herausgegriffenen Berning und Sträter voranstellte und die übrigen in der zufälligen Reihenfolge der übermittelten Vorschläge ergänzte.509 Dem jeweiligen Namen fügte der Schreiber das von der entsprechenden Person derzeitig ausgeübte Amt bei und analysierte, wie häufig und von wem er vorgeschlagen worden war. Demnach notierte der Verfasser, dass Berning auf der Liste des Erzbischofs von Paderborn und des Bischofs von Ermland 505

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„… contro le sue abitudini …; … una insistente propaganda …“ Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 47v. „… meno atto per questa sede …; … grave sorpresa …“ Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 47v. „… lʼetà dellʼunico candidato da lui suggerito lascia seriamente a temere circa lʼenergia e la fermezza necessaria per il governo di una diocesi di nuova erezione.“ Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 47v. So notierte ein Mitarbeiter auf Orsenigos Bericht die Anmerkung „Attendere il cardinale“. Orsenigo an Pacelli vom 5. Oktober 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 46r. Vgl. auch Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S. 302 Anm. 1608. Vgl. Kandidatentabelle von unbekannter Hand, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 48r–49r. 135

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stand. Bei Sträter differenzierte er genauer: Als einziger Kandidat war dieser vom Kölner Erzbischof sowie vom Osnabrücker und Fuldaer Oberhirten genannt worden. Als ersten von mehreren Geistlichen hatten ihn der Bischof von Trier und das Aachener Kapitel bezeichnet. Als wiederum ersten von mehreren Namen, jedoch mit Einschränkungen versehen, war er vom Breslauer Kardinal, vom Paderborner Erzbischof und vom episcopus der Reichshauptstadt angeführt worden. Die Nummer zwei bildete Sträter schließlich auf der Liste des Bischofs von Ermland. Auf diese Weise exerzierte der kuriale Beamte alle insgesamt 13 vorgeschlagenen Kleriker durch. Dieser streng schematischen Analyse ergänzte er bei einigen Personen Informationen aus den Unterlagen des Staatssekretariats. So merkte er bei Hillebrand an, dass ihn Klein wenig vorher bereits für den bischöflichen Stuhl in Ermland vorgeschlagen habe und bei Donders, dass dieser schon für das Amt des Bischofs von Hildesheim designiert gewesen sei, jedoch mit Rekurs auf seine angeschlagene Gesundheit abgelehnt habe. Über David wusste der Mitarbeiter zu berichten, dass er erst kürzlich zum Domherrn von Köln ernannt worden sei. Über den Abt von Maria Laach fand der Verfasser in den Unterlagen mehr Informationen. Im Kontext der ökumenischen Una-Sancta-Bewegung war Nuntius Pacelli seinerzeit auf ihn und sein Büchlein „Kirche und Seele“510 zu sprechen gekommen, als er für Merry del Val, den Sekretär des Heiligen Offiziums, einen umfassenden Bericht über den „Hochkirchlich-Ökumenischen Bund“ verfasste.511 Die gefährlichen Gedanken dieses Bundes kulminierten für Pacelli darin, dass „die Bewegung ausdrücklich die Auffassung zurück[weist], dass die römisch-katholische Kirche die einzig wahre, von Christus gestiftete Kirche ist, und die letztere in einer höheren, die katholische Kirche wie die übrigen sogenannten christlichen Konfessionen überragenden und verbessernden ‚ökumenischen Kircheʻ [sucht]. Die hierin liegende Gefahr kann sich um so stärker geltend machen, als unter den Mitarbeitern der ‚Una Sanctaʻ neben Nichtkatholiken und von der Kirche abgefallenen Priestern auch die Namen bekannter katholischer Persönlichkeiten, u[nter] a[nderem] von Theologieprofessoren stehen.“512

So schrieb er am 10. September 1926 in einem Zirkularschreiben an die deutschen Bischöfe und verband damit die Aufforderung, Klerus und Volk von dieser Bewegung fernzuhalten. Nun sei Herwegen dem Gedankengut dieser Strömung nicht abgeneigt, wie Pacelli damals mit Rekurs auf den Münchener Historiker Alfred von Martin feststellte, der dem „Hochkirchlichen Bund“ vorstand. Denn dieser bezog sich in einem programmatischen Artikel in der Zeitschrift „Una Sancta“, dem Organ der Bewegung, auf das genannte Buch „Kirche und Seele“ des Benediktine510 511

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Vgl. Herwegen, Kirche und Seele. Vgl. Pacelli an Merry del Val vom 15. November 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1930, Pos. 569 P.O., Fasz. 84, Fol. 7r–29v. Vgl. zum Thema Hartog, Katholizität; Heiler, Katholizität; Wolf, Papst, S. 262–278. Pacelli an den deutschen Episkopat vom 10. September 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926–1930, Pos. 569 P.O., Fasz. 84, Fol. 30r. 136

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rabtes.513 In diesem sah Martin „einen echt evangelischen Gedanken“ und ein „ökumenische[s] … Verdienst“514, wie Pacelli damals kritisch bemerkte.515 Auf diesen Hintergrund spielte der römische Beamte in seiner tabellarischen Aufstellung an. Ein weiteres Mal sei Herwegen unter negativem Vorzeichen aufgefallen, als er kürzlich für seine neue „Benediktinerakademie“516 in Maria Laach den päpstlichen Segen erbeten habe, was ihm jedoch verwehrt worden sei, weil – wie der anonyme Schreiber zusammenfasste  – „die Ideen des Abtes einige Besorgnisse erwecken“517. Für den Posten eines Diözesanbischofs war Herwegen also seiner Ansicht nach völlig diskreditiert. Pacelli sah das wohl ähnlich, während er im Übrigen der schematischen Aufstellung der Kandidaten und damit den preußischen Kandidatenvorschlägen insgesamt wenig Bedeutung beimaß. Überhaupt schien dem Kardinalstaatssekretär die Aufstellung der Terna nicht ganz leicht zu fallen, denn nach seiner Rückkehr in die kirchliche Zentrale ließ er über Pizzardo beim Heiligen Offizium das Plazet zunächst nur für zwei Geistliche einholen. Der eine war der Pfarrer von St. Elisabeth in Bonn, Dr. iur. can. Bernhard Custodis, der andere der Kölner Generalvikar, Dompropst und Apostolische Protonotar, Joseph Vogt.518 Beide tauchen unvermittelt im Besetzungsverfahren auf, da sie nicht auf den eingereichten Vorschlagslisten standen und sich darüber hinaus in den vatikanischen Quellen zu diesem Fall nicht nachweisen lässt, auf welcher Basis Pacelli ihre Namen in Erwägung zog. Allerdings stand Pacelli mit dem Bonner Pfarrer schon zu seiner Nuntiaturzeit in Verbindung, denn dieser war bei ihm häufiger als Denunziant missliebiger Theologen vorstellig geworden, etwa hinsichtlich des auch von Pacelli äußerst kritisch beäugten Bonner Professors Arnold Rademacher.519 Offenbar hatte der Kardinalstaatssekretär Custodisʼ Einsatz für die „gesunde“ Theologie nicht vergessen.

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Vgl. Martin, Mysterium. Martin, Mysterium, S. 167 und 162. Vgl. Pacelli an Merry del Val vom 15. November 1926 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1926– 1930, Pos. 569 P.O., Fasz. 84, Fol. 16v. Im Jahr 1931 gründete Herwegen in Maria Laach die „Benediktinerakademie für liturgische und monastische Forschung“, die 1948 in „Abt-Herwegen-Institut“ umbenannt wurde. Vgl. dazu Severus, Abt-H.-Institut. „… le idee dellʼAbate destano qualche preoccupazione …“ Kandidatentabelle von unbekannter Hand, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 48r. Vgl. Pizzardo an Canali vom 12. November 1930 über Custodis und Vogt, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 62r und 64r sowie Canali an Pizzardo vom 12. beziehungs­ weise 15. November 1930 über Custodis und Vogt, ebd., Fol. 63r und 65r. Vgl. Unterburger, Lehramt, S. 317. Vgl. zu Rademacher Bd. 1, Exkurs II (Priesterausbildung versus Kapitelswahl: Pacellis Ansicht zum Modus der Bischofseinsetzung). 137

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Ein Seitenblick auf eine Initiative des Kölner Oberbürgermeisters, Konrad Adenauer, liefert außerdem ein Indiz, wie die Wahl des Kardinalstaatssekretärs auf Vogt gefallen sein könnte.520 Schon seit November 1929 bemühte sich Adenauer darum, dass dem Trierer Kanonisten Ludwig Kaas die Dompropstei in Köln übertragen würde. Damit „wollte er den gesundheitlich labilen Zentrumsvorsitzenden, der zugleich auch Reichstagsabgeordneter, Mitglied des Preußischen Staatsrats, Domkapitular in Trier und Berater von Nuntius Pacelli in Berlin war, wenigstens teilweise entlasten und dessen häufige Reisen in die Reichshauptstadt verkürzen“521.

Während Pacelli diesem Vorschlag offen gegenüberstand, war Kaas selbst unentschieden. Zwar wurde im Frühjahr 1930 nicht der Zentrumsprälat, sondern Vogt zum Dompropst ernannt, doch Adenauer verfolgte seinen Plan weiter, indem er Kaas vorschlug, das vakante Domdekanat zu übernehmen. Der Prälat besprach diesen Vorschlag mit dem ihm befreundeten geistlichen Rat an der deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl, Johannes Steinmann. Dieser teilte das Grundanliegen des Oberbürgermeisters vollkommen, hielt die Domdekanatsstelle jedoch für unpassend. Stattdessen stellte er eine andere Überlegung an, die er am 18. April des Jahres Adenauer erläuterte: „Die Besetzung des Bischofsstuhles in Aachen bietet nun eine Gelegenheit, auf den ursprünglichen Plan zurückzukommen, indem man dafür sorgt, daß der jetzige Dompropst Vogt zum Bischof von Aachen, und Kaas zum Dompropst von Köln ernannt wird. Ich habe im Einverständnis mit Kaas diesen Plan ausführlich mit Kardinal Pacelli besprochen.“522

Dieser habe – so Steinmann – lediglich Bedenken über den Gesundheitszustand des Propstes geäußert – von einer „nervösen Depression“523 Vogts hatte Pacelli bereits in seiner Schlussrelation berichtet. Adenauer, der die skizzierte Idee für ausgezeichnet hielt, versicherte dem Botschaftsrat daraufhin in zwei Schreiben vom 23. April und 4. August, dass der Propst völlig genesen und seine Arbeitskraft nicht eingeschränkt sei.524 Diese Einschätzung veranlasste Steinmann schließlich Mitte August dazu, den „Plan nochmals beim Herrn Kardinalstaatssekretär in dringender Weise in Erinnerung zu bringen“525. Dass Pacelli ein Vierteljahr später den Namen Vogt für das Aache520 521 522

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Vgl. dazu mit Quellentexten Morsey, Adenauer und Kaas; May, Kaas 1, S. 276–283. Morsey, Adenauer und Kaas, S. 226. Steinmann an Adenauer vom 18. April 1930, abgedruckt bei Morsey, Adenauer und Kaas, S.  238 (Nr. 12). „… depressione nervosa …“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 40r, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 227. Vgl. Adenauer an Steinmann vom 23. April 1930 und 4. August 1930, abgedruckt bei Morsey, Adenauer und Kaas, S. 239 (Nr. 13/​14). Steinmann an Adenauer vom 13. August 1930, abgedruckt bei Morsey, Adenauer und Kaas, S. 240 (Nr. 15). 138

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ner Bischofsamt ins Auge fasste, gewinnt von hier aus Kontur. Um seinem langjährigen Vertrauten eine Gefälligkeit zu erweisen, schien er bereit, dem Plan Steinmanns zu folgen. Dennoch verfocht er diesen nicht mit letzter Konsequenz, denn für die Nachfolge Vogts einigten sich die Kölner Domherren am 13. März 1931 schlussendlich auf den bisherigen Domdekan, Otto Paschen. Offenbar hatte der Kardinalstaatssekretär keinen Versuch unternommen, die Wahl zugunsten Kaasʼ zu beeinflussen,526 was vermutlich der Unschlüssigkeit des Trierer Kanonisten geschuldet war, der sich letztlich nicht klar für das Amt des Kölner Dompropstes entscheiden konnte.527 Das bedeutet aber auch, dass Pacelli den Propst nicht nur zu diesem Zweck als Aachener Oberhirten wünschte. Ansonsten hätte er Kaasʼ Transfer nach Köln mit Nachdruck verfolgen müssen. Außerdem hatte er nur gesundheitliche Einwände gegen Vogt vorgebracht und keine, die sich auf Fähigkeiten, Ausrichtung oder Charakter bezogen. Von daher ist anzunehmen, dass Vogt für Pacelli sowohl opportun im Sinne von Steinmanns Plan als auch akzeptabel von der Persönlichkeit her war. Mit Vogt und Custodis hatte Pacelli also zwei Geistliche aus der Kölner Erzdiözese parat. Zusätzliche Kandidatenergänzungen durch Kardinal Schulte, wie Orsenigo es angesichts seiner diagnostizierten Verfügbarkeit von würdigen Bischofsaspiranten in Köln für opportun hielt, befand Pacelli anscheinend für unnötig.528 Für den numerus sufficiens fehlte aber noch ein Name. Dass er darüber länger nachdachte, ergibt sich daraus, dass er das Nihil Obstat der Suprema Congregatio für den letzten Kandidaten erst am 22. November, also zehn Tage nach der Anfrage für die ersten beiden, einholen ließ. Schließlich wählte er nicht etwa Berning oder Sträter, welche bei Orsenigo die Ränge eins und zwei belegten, sondern den von Poggenburg proponierten Pfarrer Galen.529 Damit platzierte er immerhin einen auf der römischen Terna, der auch den preußischen Vorschlagslisten angehörte. 526

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Dabei berichtete Adenauer im Februar 1931 von der Ansicht Kardinal Schultes, dass das Metropolitankapitel, „Herrn Kaas wählen würde, wenn ihm irgendwie mitgeteilt werden würde, daß der Heilige Vater oder der Herr Kardinalstaatssekretär im Auftrage des Heiligen Vaters die Wahl des Herrn Kaas wünschen“. Adenauer an den Kölner Bankdirektor Anton Brüning vom 19. Februar 1931, abgedruckt bei Morsey, Adenauer und Kaas, S. 241f. (Nr. 17), hier 241. Vgl. May, Kaas 1, S. 282f. Zumindest geben die vatikanischen Quellen keinen Anhaltspunkt dafür, dass Pacelli bei Schulte nach weiteren Kandidaten nachsuchte. Daher lässt Erwin Gatz diese Frage ausdrücklich offen. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 227. Allerdings werden zum einen die Nominierungen Custodisʼ und Vogts hinreichend durch Pacellis persönliche Kenntnisse beziehungsweise den geschilderten Vorstoß Adenauers und Steinmanns geklärt, sodass die Annahme, Schulte habe sie vorgeschlagen, nicht notwendig ist. Zum anderen ist zu bedenken, dass nachträgliche Vorschläge Schultes die Freiheit des Heiligen Stuhls sehr eingeschränkt hätten: Wie hätte Pacelli es gegenüber Schulte vertreten können, nach der Ablehnung von dessen erstem Kandidatenvorschlag womöglich auch noch die nachgeschobenen Kandidaten nicht zu berücksichtigen? Vgl. Pizzardo an Canali vom 22. November 1930 über Galen, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 66r und Canali an Pizzardo vom 26. November 1930, ebd., Fol. 67r. 139

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Nachdem die Dreierliste in einer Audienz am 29. des Monats die anstandslose Approbation Piusʼ XI. erhalten hatte,530 brachte Pacelli seine Kandidatenauswahl in der Reihenfolge Vogt, Custodis und Galen Anfang Dezember Richtung Berliner Nuntiatur auf den Weg.531 Dabei bat er Orsenigo, ihm vor der Zustellung der Terna an das Aachener Domkapitel mitzuteilen, ob er eventuell Unwegsamkeiten hinsichtlich der römischen Auswahl sehe. Der Nuntius gab sofort ein positives Signal, da seines Wissens alle drei die nötigen Fähigkeiten für das fragliche Amt mitbrächten.532 Insbesondere Vogt habe durch seine Tätigkeit als Generalvikar manche Erfahrungen in der Leitungsfunktion machen können, die ihm sehr nützlich würden, wenn er der Auserwählte sein sollte. Nachdem Pacelli diese positive Einschätzung dem Heiligen Vater vorgetragen hatte,533 autorisierte er den Nuntius, die Terna an das Domkapitel weiterzuleiten, damit die Wahl des ersten Bischofs der Diözese erfolgen konnte.534 Dabei gab er Orsenigo dieselben Bestimmungen mit auf den Weg, die er ihm anlässlich der Besetzung des ermländischen Bischofsstuhls im Frühsommer des Jahres aufgetragen hatte.535 Das bedeutete: Die römische Kandidatentrias stand unter dem secretum Sancti Officii, die Wahl war nach den Vorgaben des kirchlichen Gesetzbuches durchzuführen und für das Verfahren nach dem Wahlakt sollte der Artikel 6 des Preußenkonkordats eingehalten werden, demgemäß das Kapitel sich versichern musste, dass die preußische Regierung dem Erwählten keine Einwände politischer Natur entgegenbrachte. Für den Fall, dass auf ihrer Seite Bedenken bestanden, hatte das Kapitel vor jedem weiteren Schritt die römischen Instruktionen abzuwarten.

Die Wahl Joseph Vogts zum Bischof von Aachen Demnach war das Schreiben, mit dem Orsenigo den Aachener Domherren am 12. Dezember die Dreierliste übersandte, weitgehend mit jenem identisch – natürlich abgesehen von den Kandidaten –, mit dem er am 16. Juni das Kapitel in Ermland über die römische Trias in Kenntnis gesetzt hatte.536 Nun konnte das Kapitel zur Wahl schreiten. Nach Einladung aller elf residierenden und nicht-resi530

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Vgl.: „Il S. Padre approva la terna …“ Audienznotiz Pacellis vom 29. November 1930, abgedruckt bei Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S. 300–304, hier 302. Hervorhebung R.H. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 2. Dezember 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 29rv. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 5. Dezember 1930, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 69r. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 9. Dezember 1930, abgedruckt bei Pagano/​Chappin/​Coco (Hg.), fogli, S. 327–330, hier 328. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 10. Dezember 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 28r. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die römische Terna). Vgl. Orsenigo an das Aachener Domkapitel vom 12. Dezember 1930 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 32rv. 140

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dierenden Kanoniker durch den Dompropst, trat – laut Wahlprotokoll – die Wahlversammlung am 16. Dezember vollzählig zusammen.537 Zunächst las Sträter dem versammelten Kapitel den Brief des Nuntius mit den römischen Anweisungen und der Terna vor. Daraufhin folgte die Versammlung – wie aufgetragen – den Normen des kirchlichen Gesetzbuches und wählte in geheimer Abstimmung Domkapitular Jakob Koschel und Dekan Ignatius Schmitz zu Wahlprüfern.538 Beide legten zusammen mit dem Propst den Eid ab, ihre Aufgabe treu zu erfüllen und über die nun folgenden Akte Stillschweigen zu bewahren, auch nach vollendeter Wahlhandlung. Sie sorgten dafür, „dass die Stimmen geheim, gewissenhaft, einzeln und unter Wahrung der Rangordnung von jedem einzelnen Wähler abgegeben wurden“539. Nachdem die Prüfung, ob die Zahl der abgegebenen Wahlzettel mit jener der anwesenden Wähler konvergierte, ein positives Ergebnis erbracht hatte, zählten die scrutatores die Stimmen aus. Alle elf Voten waren auf die Nummer eins der Terna, Joseph Vogt, entfallen. Keiner hatte für Custodis oder Galen gestimmt. Noch am gleichen Tag kontaktierte das Domkapitel das preußische Kultusministerium und fragte nach etwaigen politischen Einwänden.540 Dann wartete es volle vier Wochen auf eine Antwort aus der staatlichen Behörde, die aber nicht kam. Daher übersandte Dompropst Sträter am 16. Januar 1931 das documentum electionis zunächst ohne staatliches Plazet an die Berliner Nuntiatur, die noch auf die Mitteilung des Wahlausgangs wartete.541 Sträter ergänzte, dass er die unbeantwortete Anfrage soeben erneuert habe. Vermutlich war sie in der Behördenmaschinerie schlicht stecken geblieben, denn als Orsenigo drei Tage später seinem römischen Vorgesetzten von der einstimmigen Wahl Vogts berichtete, fügte er hinzu, dass „die Regierung, aber 537

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Vgl. Wahlprotokoll des Aachener Domkapitels vom 16. Dezember 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 34rv. Damit ist die Zweifelsfrage, wann die Wahl tatsächlich stattfand, geklärt. Da Erwin Gatz die Nuntiaturakten nicht kannte, konnte er nur – zwar kritisch, weil der Termin aufgrund des Datums der Mitteilung der Terna aus Rom nicht stimmen kann – auf die Aussage des Realschematismus der Diözese Aachen von 1933 verweisen, der vom 10. Dezember als Wahldatum spricht. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 227. Die falsche Datumsangabe steht unter anderem auch bei Hegel, Erzbistum, S. 125; Reuter, Wiedererrichtung, S. 126; Wäckers, Kirche, S. 17. Kapitular Heinrich Herkenne übernahm das Amt des Protokollanten. „… ut suffragia secreto, diligenter, singillatim et servato praecedentiae ordine ab unoquoque electore ferrentur …“ Wahlprotokoll des Aachener Domkapitels vom 16. Dezember 1930, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 34r. Damit ist die zweite Zweifelsfrage geklärt, die Erwin Gatz in seiner Behandlung der Aachener Bischofswahl aufwarf, nämlich ob, wie vorgeschrieben, das Domkapitel oder etwa Orsenigo bei der staatlichen Stelle anfragte. Vgl. Gatz, Besetzung, S. 227; Wäckers, Kirche, S. 17. Vgl. Sträter an Orsenigo vom 16. Januar 1931, ASV, ANB 102, Fasz. 1, Fol. 33r. Am 9. Januar hatte Orsenigo noch gegenüber dem Kardinalstaatssekretär bemerkt, dass er aus Aachen bislang keine Mitteilung erhalten habe. Er spekulierte, dass der Weihnachtsfestkreis die Einberufung der Ehrenkanoniker zur Wahl verzögern könnte. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 9. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1930–1932, Pos. 601 P.O. Fasz. 111, Fol. 18rv. 141

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die Meldung ist nicht offiziell, keine Einwände gegen die Ernennung hat“542. Offenbar war der Nuntius diesbezüglich in der Zwischenzeit tätig geworden und hatte mündlich aus inoffizieller Quelle die Position der Regierung in Erfahrung gebracht. Es waren demnach keine inhaltlichen Beweggründe für die Verzögerung ursächlich, wozu passt, dass Orsenigo wiederum drei Tage später das erwartete – und inzwischen eingetroffene – offizielle Einverständnis nach Rom telegraphieren konnte.543

Vogts Einsetzung zum Bischof von Aachen Der nächste Schritt bestand darin, dem Kölner Generalvikar die Kunde seiner Erwählung zu überbringen und seine Wahlannahme einzuholen. Im Anschluss daran musste Erzbischof Schulte informiert werden. Mit beidem beauftragte Pacelli den Nuntius am 23. Januar.544 Orsenigo führte die Anweisung umgehend aus: Vogt habe seiner Promotion auf den bischöflichen Stuhl in Aachen zugestimmt, wie er in knappster Berichterstattung für den Kardinalstaatssekretär konstatierte.545 Dieser gab daraufhin der Konsistorialkongregation die Order, die Ernennungsbullen anzufertigen.546 Auf denselben Tag, den 30. Januar, datiert daher die päpstliche Approbation.547 Am 1. Februar teilte der Nuntius Vogt offiziell mit, vom Papst zum Oberhirten von Aachen ernannt worden

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„Il Governo, ma la notizia non è ufficiale, non ha alcuna obbiezione alla nomina.“ Orsenigo an Pacelli vom 19. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 77rv, hier 77r. Das Wahlprotokoll übersandte Orsenigo der Kurie nicht. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 22. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 72r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 23. Januar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 73r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Januar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 74r. Die Mitteilung Orsenigos an Vogt, dass der Papst beabsichtige, ihn auf den Aachener Bischofsstuhl zu erheben, datiert auf den 24. Januar: „Er bat Vogt, sich möglichst bald zu diesem Vorhaben zu äußern. Wenn er annehme, sollte er sofort nach Berlin telefonieren und nur sagen: ‚Der Betreffende, von mir Gefragte, nimmt an. Vogt‘. Für den Fall, daß er Bedenken habe, bat ihn der Nuntius, so schnell wie möglich nach Berlin zu kommen. In jedem Fall aber sollte er mit keinem über diese Angelegenheit sprechen.“ Von dem päpstlichen Entschluss überrascht reiste Vogt zwei Tage später tatsächlich in die Reichshauptstadt und trug Bedenken gegen seine Ernennung vor: zu hohes Alter, schwache Gesundheit, „Unwürdigkeit und Unfähigkeit“. Schließlich akzeptierte er aber. Vgl. Reuter, Wiedererrichtung, S. 126f., hier 126. Vgl. Pacelli an Rossi vom 30. Januar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 75r. Vgl. AAS 23 (1931), S. 81. 142

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zu sein. Am Montag, dem 2. Februar, publizierte der „Osservatore Romano“ die Ernennung.548 Die öffentliche Reaktion fasst Eduard Hegel so zusammen: „Als Kölner Generalvikar hatte er die Abtrennung des neuen Aachener Sprengels vorbereitet, und als promovierter Kanonist besaß er Fachkenntnisse für die Organisation und Verwaltung eines Bistums. So war es nicht verwunderlich, daß seine Wahl allgemein begrüßt wurde, obwohl er das 65. Lebensjahr schon vollendet hatte. Aber überraschend war sie für die Öffentlichkeit und unangenehm für den Erwählten. Denn allgemein war die Wahl des Aachener Propstes und Weihbischofs Sträter erwartet worden …“549

Vogt verfasste anschließend für den Papst ein Ergebenheitsschreiben, das Orsenigo nach Rom weitervermittelte.550 Er bat darin um die Erlaubnis, den Konsekrationstermin auf den 19. März, zwar einem Donnerstag, aber gleichzeitig Festtag des heiligen Josef, festsetzen zu dürfen.551 Diesen Tag hielt Vogt für besonders passend, weil es sein Namenstag und ebenfalls der des Kölner Kardinals sei, der die Bischofsordination in Köln als Metropolit des Aachener Bistums – unter Assistenz der Weihbischöfe Sträter und Joseph Hammels – vornehmen sollte.552 Die Inbesitznahme 548

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 31. Januar 1931 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 76r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 27 vom 2.–3. Februar 1931. Hegel, Erzbistum, S. 125. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 13. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 79rv. Laut Can. 1006 § 1 CIC 1917 musste die Bischofsweihe eigentlich an einem Sonntag oder Apostelfest stattfinden. Vogt trug des Weiteren eine amtstheologisch interessante Bitte vor, die Orsenigo pflichtgemäß weiterreichte: „Aggiunge anche, e io per dovere dʼufficio trasmetto, la domanda di poter far fungere da conconsecrante un semplice Abbate, qualora per improvviso malore, come talvolta avviene, lʼEminentissimo non potesse allʼultimo momento compiere la consacrazione.“ Orsenigo an Pacelli vom 13. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 79r. Falls Schulte ausfiele, sollte zur Not ein einfacher Abt bei der Spendung der Bischofsweihe, die nach kirchlicher Praxis gewöhnlich von mindestens zwei Bischöfen vorgenommen wurde, beteiligt sein dürfen. Dieser Supplik wurde von kurialer Seite nicht stattgegeben. Freilich entschied sich die Ablehnung nicht in der päpstlichen Audienz am 16. Februar, in der Pacelli das Thema zur Sprache brachte. Offensichtlich wussten weder Pius XI. noch Pacelli, ob ein Abt an der Spendung der Bischofsordination teilnehmen durfte, denn beide kamen überein, bei der Sakramentenkongregation um Rat zu ersuchen. Hätte diese positiv geantwortet, wäre die Entscheidung des Papstes wohl ebenso ausgefallen. Als ablehnende Antwort der genannten Kongregation notierte sich Pacelli dann folgende Erklärung: „Interpellata anche la S. C. dei Sacramenti, questa ha risposto che la facoltà, di cui sopra, non è mai stata concessa, per la ragione che nemo dat quod non habet: non avendo un semplice abate la pienezza del Sacerdozio non può essere ministro conconsacrante per concederla ad altri.“ Ergänzung zur Audienznotiz Pacellis vom 16. Februar 1931 (Entwurf), ebd., Fol. 81r. Gemäß dem Prinzip, dass niemand mehr Rechte übertragen kann, als er selbst besitzt, könne der Abt also, da er die Fülle des sacerdotiums, das heißt des Presbyterats und Episkopats, nicht besitze, keine Weihen spenden und somit auch niemandem die Vollmacht zu weihen übertragen. Ordentlicher Weihe143

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des Bistums durch Vorlage der Ernennungsdokumente beim Domkapitel war für den 24. März, die Inthronisation für den 25. März, dem Fest In Annuntiatione Beatae Mariae Virginis, angesetzt. Bei diesen Feierlichkeiten wollte Vogt den Päpstlichen Segen vom Turm des Aachener Doms aus spenden, weil der Kirchenraum zu eng sei, um die erwartete Masse an Gläubigen zu fassen.553 Pius XI. gab den Anliegen statt.554

Ergebnis 1. Die Aufschlüsse, die die Quellen über Pacellis Kandidatenwünsche bieten, sind gering. An keiner Stelle äußerte er sich darüber, welche Kriterien die Grundlage für seine Personalüberlegungen bildeten oder warum er eine Kandidatur unterstützte beziehungsweise ablehnte. Festzuhalten ist, dass er die von Orsenigo besonders herausgestellten Berning und Sträter nicht in Erwägung zog. Berning, den der Nuntius unter allen vorgeschlagenen Kandidaten am ehesten geeignet hielt, rangierte (gemeinsam mit Hürth) mit zwei Unterstützern im Episkopat immerhin auf Platz zwei der Vorschlagslisten und hatte von Pacelli selbst in seiner Finalrelation zumindest Lob für seinen Eifer bei der – wegen der norddeutschen Diasporagebiete – schwierigen Administration des Bistums Osnabrück geerntet. Doch dies reichte für Pacelli nicht aus, um ihn zu berufen. Denkbar ist, dass neben persönlichen Defiziten, die der Kardinalstaatssekretär diagnostizierte  – so der Vorwurf, Berning handle in Einzelfällen zu unüberlegt –, auch Opportunitätskriterien eine Rolle spielten: Vielleicht wollte sich Pacelli nicht auf die Suche nach einem Nachfolger für den anspruchsvollen Osnabrücker Bischofsstuhl machen.

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spender war nach kirchlichem Recht (und ist es bis heute) nur der konsekrierte Bischof (Can. 951 CIC 1917). Es entsprach daher der Praxis des Heiligen Stuhls im 20. Jahrhundert, Äbten als Außerordentlichen Spendern nur die Vollmacht zur Erteilung der Niederen Weihen zu konzedieren. Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch II, S. 98f. Dass es in der Frühneuzeit auch Fälle gab, in denen Äbte aus Rom die Vollmacht erhielten, höhere Weihen inklusive Priesterweihe zu spenden, ist ein anderes Thema. Vgl. dazu beispielsweise Bauer, Rez. zu Baisi, ministro. Diese Fakten werden heute theologisch und kirchenamtlich kritisch beäugt. Vgl. etwa Müller, Katholische Dogmatik, S. 747f. Orsenigo teilte dem Kardinalstaatssekretär abschließend mit, dass Vogt bis zur Einrichtung einer angemessenen bischöflichen Unterkunft provisorisch bei einem Orden unterkommen könne sowie seine Wohnung in Köln noch einige Zeit behalten werde. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 13. Februar 1931, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 79v. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 19. Februar 1931 (Enwürfe), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 573 P.O., Fasz. 85, Fol. 82r. Nachdem Vogt vom Nuntius die päpstlichen Zusagen erhalten hatte, sandte er eine Ergebenheitsadresse an den Kardinalstaatssekretär, in der er diesen bat, ihn und seine neue Diözese beim Herrn zu empfehlen, was Pacelli mit einem Gratulationsschreiben beantwortete. Vgl. Vogt an Pacelli vom 27. Februar 1931, ebd., Fol. 83r und Pacelli an Vogt vom 4. März 1931 (Entwurf), ebd., Fol. 84r. 144

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Viel gravierender als die Ablehnung Bernings ist jedoch, dass der Kardinalstaatssekretär Sträter nicht auf die Terna setzte: Immerhin residierte der Kölner Weihbischof bereits seit acht Jahren als Stiftspropst in Aachen und war nicht zuletzt deshalb die allererste Wahl des Episkopats: Acht (Erz-) Bischöfe und das Domkapitel, also neun (!) von zwölf Proponenten, sahen in Sträter einen geeigneten – drei sogar den einzig geeigneten – Kandidaten für den Aachener Bischofsstuhl. Dass Pacelli sich über dieses starke Votum hinwegsetzte, legt nahe, dass er wesentliche Vorbehalte gegen den Genannten hegte, die sich noch nicht allein mit den durchwachsenen Urteilen Schreibers, Kleins und Orsenigos erklären lassen. Aufschluss gibt einmal mehr Pacellis Schlussbericht über die deutsche Kirche. Darin hatte er über Sträter notiert: „Er stammt aus einer tiefreligiösen Familie und absolvierte die Gymnasialstudien in Aachen am Kaiser Karl-Gymnasium und die theologischen Studien an der Universität Würzburg (wo er die Doktorwürde erlangte) und im Seminar von Köln. Von vorbildlicher priesterlicher Lebensführung, eifrig in der Seelsorge, treu ergeben gegenüber der Autorität der Kirche, scheint er aber keine besondere Begabung als Diözesanverwalter zu besitzen, und er scheint auch nicht immer ein klares Verständnis von den gefährlichen modernen Tendenzen bezüglich der gesunden Lehre zu haben und hinsichtlich der Notwendigkeit, diese gefährlichen Tendenzen wirksam zu bekämpfen.“555

Defizite auf administrativem Gebiet, ein fehlendes Verständnis der modernen Gefahren für die orthodoxe Lehre und eine mangelnde Einsicht, diesen Gefahren zu begegnen  – spätestens an diesen Punkten scheiterte Sträters Episkopabilität. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Pacelli diese Fähigkeiten bei den Kandidaten seiner Terna in ausreichendem Maße vorhanden glaubte. Das galt auch für Vogt, den der Staatssekretär nicht zuletzt aus äußeren, opportunistischen Erwägungen nominierte, wie der Seitenblick auf die Initiative Adenauers verdeutlichte. Wenn auch die vatikanischen Quellen nicht klären, auf welcher Grundlage Pacelli seine Kandidatentrias zusammenstellte, ist jedoch Fakt, dass die Vorschlagslisten für Pacelli so gut wie keine Relevanz besaßen, insofern nur Galen einmal auf ihnen genannt wurde. Fakt ist ebenfalls, dass sowohl Vogt als auch Custodis aus dem Kölner Sprengel stammten und der Kardinalstaatssekretär die kirchenpolitischen, mentalitätsmäßigen und lokalen Umstände berücksichtigte, indem er sie auswähl555

„Nato da famiglia profondamente religiosa, compì gli studi ginnasiali in Aquisgrana nel Kaiser Karl Gymnasium ed i teologici nella Università di Würzburg (ove conseguì il dottorato) e nel Seminario di Colonia. Di esemplare vita sacerdotale, zelante nella cura delle anime, fedele verso lʼautorità della Chiesa, non sembra tuttavia che egli possegga speciale qualità come amministratore diocesano nè che abbia sempre una chiara comprensione delle pericolose tendenze moderne riguardo alla sana dottrina e della necessità di combatterle efficacemente.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 40v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 227. Pacellis Kritik speiste sich zum Teil wohl auch aus persönlicher Anschauung: Als er Anfang August 1927 zu vertraulichen Besprechungen über die geplante Bistumserrichtung nach Aachen kam, seien – so schreibt Anton Josef Wäckers – „dem Stiftspropst einige protokollarische Fehler und persönliche Unbedachtheiten unterlaufen“, die Pacelli „indigniert registriert“ habe. Wäckers, Kirche, S. 17. 145

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te. Daher ist anzunehmen, dass Pacelli gezielt im Kölner Klerus nach Personen suchte, die den obigen Kriterien genügten. Vogt war ihm gegenüber nicht nur informell vorgeschlagen worden, sondern ihn kannte er persönlich aus mehreren Begegnungen in den 1920er Jahren.556 Insofern er keine weiteren Vorschläge oder Gutachten einholen ließ (vgl. Nr. 4), ist anzunehmen, dass er auch Custodis aus der eigenen Nuntiaturzeit näher kannte, der seinerzeit – wie angemerkt  – seiner Ansicht nach heterodoxe Theologen wie Rademacher bei Pacelli denunziert hatte.557 Als ihm schließlich keine weiteren passenden Geistlichen aus der Erzdiözese mehr einfielen, suchte Pacelli den letzten Kandidaten in Münster, neben Köln dem zweitem Bistum, aus dem die neue Diözese Aachen konstituiert worden war. Hier stieß er auf den Pfarrer von St. Lamberti, Galen, ehemals Pfarrer von St. Matthias in Berlin und ihm daher aus der Nuntiaturzeit bestens bekannt. Ihn hatte er sehr schätzen gelernt.558 Die zeitliche Verzögerung, mit der Pacelli den Namen Galen dem Heiligen Offizium vorlegen ließ, demonstriert, dass er länger über die Aufstellung der Terna nachdenken musste und der Graf nicht seine erste Wahl war, sondern nur nachträglich auf die Liste rutschte.559 Folgerichtig rangierte Galen nur auf dem dritten Platz, was darüber hinaus belegt, dass die Reihenfolge der Terna nicht zufällig war, sondern einer Präferenzhierarchie folgte. Aus welchen genauen Gründen Pacelli Custodis dem Grafen vorzog, kann angesichts der Quellenlage nicht beantwortet werden. Wieso Pacelli jedoch Vogt den beiden vorzog, scheint angesichts des Vorhabens, Kaas dessen Dompropststelle zu beschaffen, einleuchtend. Ob dabei auch eine Rolle spielte, dass der langjährige Generalvikar den beiden Pfarrern auf dem Feld der Administration und Leitung notwendigerweise überlegen war, was angesichts des neu errichteten Bistums eine gesteigerte Bedeutung

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Erinnert sei an dieser Stelle nur, dass Vogt im Kontext der Einsetzung Schultes zum Kölner Erzbischof im Jahre 1920 dem Nuntius mitteilte, dass das Metropolitankapitel sich dem Kandidatenwunsch des Heiligen Stuhls beugen werde. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.1 (Die Reise Pacellis nach Berlin und Köln). Darüber hinaus finden sich auch zahlreiche Briefwechsel zwischen ihm und Pacelli in den vatikanischen Quellen. Vgl. zum Beispiel die Edition der von Pacelli nach Rom vermittelten Schreiben Vogts, in: Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Die Korrespondenz mit dem Bonner Pfarrer lässt sich durch die Nuntiaturberichterstattung Pacellis nicht nachweisen. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Vgl. zu Pacelli und Galen Bd. 2, Kap. II.1.12 (Ergebnis Nr. 1). Dies übersieht Kuropka, wenn er gegen Hubert Wolf bemerkt, dass es nicht ersichtlich sei, warum Galen in Aachen nur ein „Verlegenheitskandidat“ des Heiligen Stuhls gewesen sei. Vgl. Kuropka, Mann der Stunde, S. 39; Ders., Pfarrer und Bischof, S. 45f. Freilich bedeutet die nachträgliche Nominierung Galens nicht, dass der Graf für Pacelli letztlich kein wirklich episkopabler Kandidat gewesen wäre, vielmehr zeigt allein das Faktum seiner Nominierung bereits das Gegenteil. Was Pacelli bei der Nennung Galens zögern ließ, wird aus den Quellen zu diesem Fall nicht deutlich. Vgl. dazu wiederum den Kontext des Münsteraner Falls Bd. 2, Kap. II.1.12 (Ergebnis Nr. 1). 146

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gehabt haben könnte, muss letztlich offen bleiben.560 Aus der Perspektive des Aachener Domkapitels kann man Custodis und Galen gegenüber Vogt wohl nicht mehr als Außenseiterrollen zuschreiben, was sich im eindeutigen Wahlergebnis widerspiegelt.561 Nicht unwahrscheinlich ist, dass der Kardinalstaatssekretär eben dieses Gefälle intendiert hatte, um eine Wahl Vogts sicher zu stellen. Von hier aus wird noch einmal deutlich, warum Pacelli auch aus äußeren Gründen Berning und Sträter nicht auf die Terna setzte: Ihnen gegenüber wäre die Wahl Vogts mehr als unsicher gewesen. Freilich bedeutete Pacellis klare Präferenz für Vogt wiederum nicht, dass er das „Wagnis“ eingegangen wäre, die Terna etwa mit zwei aus seiner Sicht „unerwünschten“ Geistlichen „aufzufüllen“, die nur die Rolle von Platzhaltern eingenommen hätten. Abgesehen davon, dass sich für eine solche Absicht gewiss andere, nämlich „exotischere“ Kandidaten besser geeignet hätten, wird das deutlich, wenn man nach Pacellis zweitem, aus der Kritik an Sträter herausgefiltertem Kriterium fragt: der reinen Lehre und „gesunden“, das heißt römisch-scholastischen Theologie. Custodis hatte seine Rechtgläubigkeit durch seine Denunziationen bei Pacelli unter Beweis gestellt. Ansonsten bleibt man hier auf den Indikator des Studiums verwiesen: Vogt hatte in Bonn, Eichstätt und am Kölner Seminar seine theologischen Studien absolviert, war anschließend noch für drei Jahre in Rom gewesen, um an der Gregoriana den Dr. theol. und Dr. iur. can. zu erwerben; auch Custodis hatte an der Gregoriana ein kanonisches Doktorat abgelegt, nachdem er in Köln Theologie studiert hatte; Galen schließlich hatte seine Ausbildung zwar nicht in einer römischen Lehranstalt, dafür aber bei den Innsbrucker Jesuiten erhalten – alle waren also zumindest eine Zeit lang in Studienanstalten gewesen, die eine römisch-scholastische Ausrichtung pflegten. Stellt man dem die Ausbildungsorte Bernings und Sträters entgegen, wird sofort der Unterschied deutlich: Berning hatte seine philosophisch-theologische Prägung in Münster und Breslau, Sträter seinerseits – wie in Pacellis Schlussrelation schon teilweise angesprochen – in Freiburg, Würzburg, Bonn und Köln erhalten. Pacellis Kandidatenprofil hatte also im Wesentlichen folgende Kontur: Ein von der Diözesanstruktur her aus der unmittelbaren Nähe Aachens stammender Geistlicher, der auf Basis einer soliden, römisch ausgerichteten Theologie beziehungsweise Kanonistik die „gesunde“ Lehre vertrat – damit auch von der Wichtigkeit ihrer Reinerhaltung überzeugt war – und gleichzeitig eine gewisse administrative Begabung besaß. Vogt war sein Favorit, nicht zuletzt deshalb, weil dessen

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Im Hildesheimer Fall von 1928/​29 etwa war die administrative Ebene für Pacelli kein bedeutender Faktor. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.6 (Ergebnis Nr. 1). Dabei spielt keine Rolle, dass man im Vorhinein in Aachen nicht unbedingt an eine Kandidatur Vogts gedacht und ihn daher auch nicht auf die Vorschlagsliste gesetzt hatte. Vgl. Adenauers Einschätzung in seinem Brief an Steinmann vom 4. August 1930, abgedruckt bei Morsey, Adenauer und Kaas, S. 239 (Nr. 14). 147

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Promotion nach Aachen die – wenn auch letztlich ungenutzte – Voraussetzung schuf, Kaas die Kölner Dompropstei zu verschaffen. 2. Die Besetzung des neuen Aachener Bischofsstuhls erfolgte gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats, der damit nach der causa Ermland zum zweiten Mal Anwendung fand. Was dort über die „Leerstellen“ im Verfahren gesagt wurde,562 gilt im Wesentlichen auch für diesen Fall: a) Orsenigo sollte die Kandidatenvorschläge von Episkopat und Domkapitel vorsondieren. b) Pacelli tat nichts, um eine Einheitlichkeit der Vorschlagslisten in Form und Kandidatenzahl zu fördern – wie in Ermland waren jene völlig unterschiedlich. Hatte Pacelli dort die Eckpunkte aufgestellt, dass die Proponenten „getrennt“, „einen oder mehr Kandidaten“ „mit allen nötigen Informationen“ aufstellen sollte, verzichtete er diesmal auf eine solche Anweisung, weil er wohl davon ausging, dass man in der Nuntiatur über diesen Rahmen nunmehr Bescheid wisse. Orsenigo schärfte die „getrennte“ Aufstellung der Kandidatenlisten freilich nicht ein, ergänzte dafür jedoch, dass die Kandidaten „aus Aachen oder aus einer anderen deutschen Diözese“ kommen durften, sodass zumindest über die erlaubte Provenienz kein Zweifel mehr bestehen konnte. Allerdings erscheint der vom Nuntius zugestandene gesamtdeutsche Horizont bei der Kandidatensuche angesichts von Pacellis lokaler Ausrichtung als letztlich unnötig und eigentlich sogar kontraproduktiv. c) Obwohl laut Konkordat das Domkapitel nach politischen Bedenken bei der preußischen Staatsregierung anzufragen hatte, wollte sich Pacelli bei etwaigem Einspruch selbst damit auseinandersetzen und von Rom aus das weitere Vorgehen bestimmen. Das hier zum Ausdruck kommende Bestreben, den Einfluss des Heiligen Stuhls auf das Verfahren weiter zu stärken, wird an einer Besonderheit im Aachener Fall noch deutlicher: nämlich an Pacellis – von Orsenigo adaptiertem – Plan, das Kapitelswahlrecht durch einen rechtlichen Kniff auszuschalten. Durch einen verzögerten Vollzug der Bistumserrichtung und damit der Aufwertung des Stiftskapitels zum Domkapitel, hätte der Artikel 6 des Konkordats nicht greifen können. Stattdessen wäre eine Verständigung zwischen Rom und Berlin über Aachen hinweg möglich geworden. Eigentlich hätte der Kardinalstaatssekretär diesem Plan nicht zustimmen dürfen, hatte er doch knapp ein Jahr zuvor im Kontext der Besetzung des neuen Bistums Berlin dem Beamten des preußischen Kultusministeriums, Professor Friedrich Heyer, versichert, sich in Aachen für eine getreue Umsetzung der Konkordatsregelung einzusetzen.563 Offenbar war aber die Aussicht, die Domherren aus dem Besetzungsverfahren heraushalten zu können, für Pacelli zu verlockend. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die Umsetzung des Plans bereits angelaufen war, als der Kardinalstaatssekretär in das Verfahren eingriff. Dass dieser alternative Modus schließlich nicht in die Tat 562 563

Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Ergebnis Nr. 2). Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Die Kontroverse um das staatliche Plazet). 148

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umgesetzt wurde, lag neben einem rechtlichen Fehler Pizzardos (vgl. Nr. 5) an der preußischen Regierung. 3. Papst und Staatssekretär – die man in dieser Hinsicht quellenmäßig nicht genau auseinander halten kann (vgl. Nr. 5) – gaben dem Drängen Trendelenburgs auf getreue Umsetzung des Konkordats nach. Dabei war dessen Argumentation mit dem „Wert des Kirchenvertrags“ für Pacelli wohl relevanter als die „Unzufriedenheit“ der Domkapitel  – ansonsten hätte er dem ausdrücklichen Plan, die Aachener Domherren zu umgehen, nicht stattgegeben. Damit trafen bei ihm aber auch Orsenigos weitere Befürchtungen ins Schwarze: Bevor der Heilige Stuhl bei Regierung und deutscher Öffentlichkeit als vertragsbrüchig hingestellt und auf diese Weise kompromittiert werden würde, stellte Pacelli seine eigene Präferenz in der Modusfrage zurück. Damit war die „Konzession“ der Kapitelswahl – ungeachtet der Frage nach der Rechtmäßigkeit oder in diesem Fall vielmehr der Etikette, diese umgehen zu wollen – letztlich ein Zugeständnis an den Staat. Da schließlich das preußische Kultusministerium trotz seiner verspäteten Reaktion auf die Anfrage des Domkapitels gegen Vogt keine Einwände politischer Natur entsprechend Artikel 6 des Konkordats vorbrachte, brauchte sich Pacelli mit der staatlichen Seite nicht weiter auseinanderzusetzen. 4. Der Kardinalstaatssekretär zog in diesem Fall soweit quellenmäßig verifizierbar von sich aus keine Informanten heran. a) Ohne eigene Initiative erreichte ihn jedoch über die Stationen Adenauer, Kaas und Steinmann der Vorschlag zur Kandidatur Vogts, den er bereitwillig aufgriff. Während Kaas, der enge, langjährige Vertraute und Berater Pacellis sich insgesamt eher passiv in dieser Sache verhielt – obwohl anzunehmen ist, dass beide dieses Thema erörterten –, war es insbesondere der Botschaftsrat, der die Erwählung Vogts zum Aachener Oberhirten gegenüber dem Kardinalstaatssekretär vertrat. Steinmann war Pacelli bereits seit Nuntiaturzeiten bekannt. Näher lernte er ihn seit seinem Amtsantritt an der Spitze des römischen Staatssekretariats kennen und nutzte  – wie sich hier zeigt – nicht nur seine „besondere Kenntnis in Ostfragen und seine Kompetenz in sowjetischen Angelegenheiten“564, sondern war auch allgemein an seinem Rat interessiert. Dass er den ehemaligen Germaniker sehr schätzte, zeigt sich eindrücklich daran, dass er ihn erst kurz zuvor, im Juni 1930, auf die römische Dreierliste gesetzt hatte, aus der das Frauenburger Domkapitel den Bischof von Ermland wählte.565

564 565

Samerski, Konsultor, S. 270. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Ergebnis Nr. 1). 149

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b) Da auch Orsenigo keinerlei Gutachten einholte, die gewissermaßen mittelbar für den Kardinalstaatssekretär eine Rolle gespielt hätten, bleibt nur noch, ein Blick auf die formellen, vom konkordatären Verfahren vorgeschriebenen Voten des Episkopats und des Aachener Domkapitels zu werfen. Es wurde bereits deutlich (vgl. Nr. 1), dass Pacelli ihnen so gut wie keine Bedeutung beimaß und sie de facto ignorierte: Nicht nur die jeweils mit zwei Voten die zweitmeisten Stimmen auf sich vereinenden Berning und Hürth fanden keine Unterstützung Pacellis. Auch die überwältigende Mehrheit für Sträter konnte den Staatssekretär nicht veranlassen, ihn auf die Terna zu setzen. Er „würdigte“ die Listen nur, indem er den lediglich einmal vorgeschlagenen Galen für die Wahl nominierte. Fragt man weitergehend, ob Pacelli nicht zumindest einzelnen Gutachten eine gewisse Valenz zuerkannte, fällt die Antwort ähnlich aus. Der in diesem Fall besonders bedeutungsvollen Stimme Schultes schenkte Pacelli kein Gehör. Auch dem Vorschlag des Nuntius, Schulte nachträglich Kandidatenergänzungen zu erlauben, entsprach er nicht. Da er Galen auf die Terna setzte, könnte man annehmen, das Votum Poggenburgs sei für Pacelli wichtig gewesen. Doch das scheint eher unwahrscheinlich: Zum einen schrieb der Münsteraner Bischof Galen keine exklusiven Attribute zu, welche Pacelli zu dessen Nominierung motivieren konnten. Sträter erhielt dieselben Zuschreibungen, nämlich Frömmigkeit, Anhänglichkeit an Kirche und Papst (so Schreiber) oder Abstammung aus angesehener Familie (so Schulte). Zum anderen hatte der Staatssekretär erklärtermaßen keine besonders positive Meinung vom Münsteraner Oberhirten,566 sodass nicht anzunehmen ist, dass er dessen Vorschlag mehr Beachtung zollte als dem der übrigen Oberhirten. Außerdem rangierte Galen eben auch nur auf dem letzten Platz der Liste. Vermutlich war der Vorschlag Poggenburgs daher für Pacelli lediglich eine willkommene Bestätigung, womöglich eine Reminiszenz an den Pfarrer. Ähnlich wird man letztlich auch – negativ gewendet – die Voten Schreibers und Kleins beurteilen müssen: Ihr durchwachsenes Urteil über Sträter war wohl nicht ursächlich dafür, dass Pacelli dem Weihbischof die Episkopabilität absprach, denn zum einen hatte er bereits eine vorgefasste, klar negativ konnotierte Auffassung von ihm und zum anderen hielten ihn Schreiber und Klein trotz ihrer differenzierten Sicht für episkopabel. Indem er Sträters Kandidatur ablehnte, folgte der Kardinalstaatssekretär damit ihrem Votum dezidiert nicht. Von daher bleibt insgesamt zu konstatieren, dass die formellen Proponenten auf Pacellis Entscheidungen keinen zählbaren Einfluss hatten, während er hingegen den informellen Eingaben Steinmanns Gehör schenkte. 5. Oben wurde vorausgesetzt (vgl. Nr. 1), dass Pacelli maßgeblich die Zusammenstellung der römischen Terna bestimmte. Tatsächlich zeigt die Rekonstruktion, dass Pacelli dies sogar aus566

Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 234f. 150

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schließlich und mit völliger Freiheit erledigte. Woran wird das deutlich? Als Orsenigo die Vorschlagslisten nach Rom sandte, war Pacelli im Urlaub. Anstatt dass nun ein Mitarbeiter des Staatssekretariats, zum Beispiel Pizzardo, auf dieser Basis eigenständig eine Terna entwarf und mit Pius XI. besprach, ließ man den Bericht des Nuntius volle vier Wochen liegen. Zwar nahm man im Staatssekretariat weitere Sondierungen vor, die zum einen in einer schematischen Auflistung der Kandidaten mitsamt ihrer Proponenten, zum anderen in knappen, aus dem Archiv hervorgeholten Anmerkungen zu gerade mal vier von den 13 Geistlichen bestanden. Entscheidungen aber traf man ohne Pacelli nicht. Als dieser zurückkehrte, war die Vorarbeit schließlich ohne Belang, da sich der Kardinalstaatssekretär über die preußischen Listen schlicht hinwegsetzte. Welcher andere Mitarbeiter im Staatssekretariat wäre dazu außer ihm in der Lage gewesen? Dies war letztlich nur möglich, weil er über ein Jahrzehnt in Deutschland gewesen war und daher für sich beanspruchte, sich mit der dortigen kirchlichen Situation wie mit den Kandidaten auszukennen. Der Papst ließ Pacelli gewähren: Er wünschte keine Veränderung an der entworfenen Terna, sondern approbierte sie. Allerdings verlangte er, dass Orsenigo sich noch zu den drei Namen äußern sollte, was Pacelli von sich aus wohl nicht intendierte – sonst hätte er die Meinung des Nuntius sicher schon vor der päpstlichen Audienz eingeholt. Unmöglich zu entscheiden ist, wer von beiden, Ratti oder Pacelli, nach dem Scheitern von Orsenigos Verfahrensplan zuerst einlenkte, die Besetzung durch eine Bischofswahl gemäß Konkordat erfolgen zu lassen. Hier lassen die Quellen keine Differenzierung zwischen Papst und Staatssekretär zu. Insgesamt wird man festhalten müssen, dass Pius XI. seinem Staatssekretär zwar freie Hand ließ, aber dennoch für den Aachener Fall nicht uninteressiert war. Wie sehr man im päpstlichen Außenministerium auf Pacellis Deutschlandkenntnisse und seinen kanonistischen Blick angewiesen war, zeigt der schwerwiegende und eigentlich erstaunliche Fehler Pizzardos im Ernennungsdekret Schultes zum Interimsadministrator. Es verwundert, dass Pacelli, als er sich der Angelegenheit kurz darauf widmete, den Plan der römischen Nomination des neuen Oberhirten noch weiterverfolgte, obwohl das Ernennungsschreiben schon veröffentlicht, die Errichtung des Bistums Aachen damit festgestellt und eine Ausschaltung des Kapitelswahlrechts unmöglich war. Anzunehmen ist wohl, dass er zu diesem Zeitpunkt nur über den Plan als solchen, nicht aber über Pizzardos Fauxpas im Bilde war. Ohne über einen alternativen Geschichtsverlauf zu spekulieren, ist es leicht denkbar, dass die Bestellung des ersten Bischofs von Aachen zumindest formal hätte anders verlaufen können, wenn Pacelli zum entsprechenden Zeitpunkt in der Kurie gewesen wäre und Orsenigos Vorschlag in Empfang genommen hätte. Bleibt schließlich noch ein Blick auf das Verhältnis Pacellis zum Nuntius zu werfen. Zum Auftakt des Falls demonstrierte dieser mit seinem eigeninitiativen Verfahrensvorschlag, dass er eine klare Vorstellung davon besaß, wie man die causa Aachen (im römischen Sinne) am besten lösen konnte. Der Kardinalstaatssekretär griff dessen Überlegung positiv auf. Auch 151

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Orsenigos anschließenden Einwänden gegen die Anordnung, mit der Regierung über einen Kandidaten zu verhandeln, gab Pacelli – wie gesagt in einem nicht klar entzifferbaren Zusammenspiel mit Pius XI. – statt. Einzubeziehen ist jedoch, dass der Kardinalstaatssekretär dem laufenden Plan Orsenigos zur Umgehung des Wahlrechts lediglich nachträglich beipflichtete und seine der ursprünglichen Strategie gemäße Instruktion, sich mit dem preußischen Staat zu verständigen, zum entsprechenden Zeitpunkt bereits ohne Weiteres gar nicht mehr durchführbar war. Daher könnte man zumindest die Frage stellen, ob Pacelli hier jeweils den Ausführungen des Nuntius folgte oder nicht eher den Sachzwängen, die sich ihm erst prozessual erschlossen. Die auf den ersten Blick einflussreiche Rolle des Nuntius für die römische beziehungsweise Pacellis Entscheidungsfindung relativiert sich jedenfalls spätestens dann, wenn man die Kandidatenfrage ins Auge fasst: Orsenigos (gemäßigte) Favorisierung Bernings blieb für Pacelli ohne Bedeutung, auch dessen Überlegung, die Ablehnung Sträters bei Schulte zu „entschuldigen“ und diesem die Option zu nachträglichen Kandidatenvorschlägen zu gewähren, ignorierte er. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Orsenigos Analyse der preußischen Vorschlagslisten blass blieb: Er griff mit Berning und Sträter letztlich nur zwei der drei Kandidaten heraus, welche die meisten Stimmen bekommen hatten. Während er ersteren immerhin mit Hilfe von Pacellis Schlussrelation bewertete, beurteilte er letzteren rein listenimmanent, ohne auf das kritische Urteil der Relation über Sträter zu rekurrieren. Da er aber in der Sache mit diesem übereinstimmte, lieferte er Pacelli mit Berning nur einen einzigen tauglichen Kandidaten und überließ es ihm, drei episkopable Kleriker zu finden. Er kam nicht auf die Idee, womöglich über die Vorschlagslisten hinausgehende Kandidaten in Erwägung zu ziehen, um eine Trias von Namen präsentieren zu können. Pacelli hingegen zog wie selbstverständlich andere Geistliche heran. Darin erblickte Orsenigo aber offensichtlich nicht seine Aufgabe. Auch wenn Pacelli im praktisch parallelen Ermländer Besetzungsfall – in Aachen tat er dies nicht – die genaue Anweisung gegeben hatte, die preußischen Kandidatenlisten „mit Anmerkungen zu versehen“, hätte sicher nichts dagegen gesprochen, darüber hinausgehende Überlegungen zu möglichen Aachener Oberhirten anzustellen. Diese Passivität Orsenigos findet gewissermaßen ihre Entsprechung darin, dass Pacelli keine Anstalten machte, ihn näher in seine Überlegungen zu involvieren – wie gesehen holte er die Meinung des Nuntius zur Terna offenbar nur auf päpstliche Anweisung ein. Für Orsenigo, der keine Erläuterungen zu Pacellis Kandidatenauswahl erhielt, war die Zusammensetzung der Terna gewiss überraschend. Hier zeigt sich, dass Pacelli den Nuntius weniger als Berater oder Ideengeber denn als vornehmlich zuarbeitende und vermittelnde Instanz betrachtete.

152

II.1.12 Münster 1933

II.1.12 Zwei Bischofswahlen und ein Nachzügler: Münster 1933 (Clemens August Graf von Galen)567 Der Tod von Bischof Johannes Poggenburg, politische Umwälzungen und eine geheime Kandidatenliste Am Nachmittag des 5. Januar 1933 starb der Münsteraner Bischof, Johannes Poggenburg, „von den Sterbesakramenten der Heiligen Kirche geschützt, fromm und ruhig im Herrn“568, wie der bisherige Generalvikar, Franz Meis, eine Woche später pflichtgemäß an Papst Pius XI. schrieb. Wie Meis ebenfalls berichtete, war er am 6. Januar vom Domkapitel zum Kapitularvikar gewählt worden. Nachdem Nuntius Orsenigo diese Anzeige mit einiger Verzögerung am 24. Januar nach Rom weitergeleitet hatte, brachte der Papst durch ein Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Pacelli seine Anteilnahme zum Ausdruck.569 Damit stand eine neue Bischofseinsetzung bevor zu einem Zeitpunkt, an dem sich die politischen Vorzeichen in Deutschland fundamental änderten: Am 30. Januar ernannte Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler, die Reichstagswahl vom 5. März, in der die NSDAP nur knapp die absolute Mehrheit verfehlte, und das kaum drei Wochen später folgende Ermächtigungsgesetz legten den „Grundstein“ für die NS-Diktatur und den ständig zunehmenden Terror der folgenden zwölf Jahre.570 Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, das den Kampf der NS-Ideo567

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Münster 1933 Flammer, Clemens von Galen als Stadtpfarrer, S. 101–105; Grevelhörster, Kardinal, S. 55–60; Heim, Bischöfe, S. 67–99; Kuropka, Clemens August (1992), S. 9–28; Ders., Galen im politischen Umbruch, S. 82–91; Ders., Mann der Stunde; Ders., Pfarrer und Bischof; Löffler (Bearb.), Bischof I, bes. S.  LX–LXIII; Portmann, Kardinal, S.  81–87; Speckner, Wächter, S. 180f.; Trautmann, Clemens August, S. 46–53; Wolf, Man muß auch löschen; Ders., Clemens August (2006), S. 74–83. „… Sacramentis morientium Sanctae Ecclesiae praemunitum, pie et tranquille in Domino …“ Meis an Pius XI. vom 12. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 7r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 24. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 6r und Pacelli an Meis vom 31. Januar 1933 (Entwurf), ebd., Fol. 9rv. Darin würdigte Pacelli Poggenburg als „Deus benemeritissimum Antistitem“. Ebd., Fol. 9r. Vgl. dagegen die kritische Wertung Poggenburgs in Pacellis Schlussrelation, Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 234f. Vgl. aus der umfangreichen Literatur zu den Kirchen angesichts des NS etwa Blaschke, Kirchen; Gruber (Hg.), Kirche; Hehl, Kirche; Kopke, Kirche; Kösters/​Ruff (Hg.), Kirche; Loth, Kirche; Pyta/​ Kretschmann/​Ignesti/​Di Maio (Hg.), Herausforderung; Scholder, Kirchen; Volk, Kirche; Wolf, Papst. 153

II.1.12 Münster 1933

logie gegen die Kirche nicht verhindern konnte, modifizierte den preußischen Modus zur Besetzung der Bischofsstühle in zwei Punkten: Zum einen sollte die Anfrage wegen etwaiger „Bedenken allgemeinpolitischer Natur“ von nun an dem Reichsstatthalter des betroffenen Landes vorgelegt werden.571 Als Frist, in der ein staatlicher Einspruch erfolgen musste, legte das Schlussprotokoll 20 Tage fest.572 Zum anderen wurde ein Treueid vereinbart, den der neue Diözesanbischof vor Besitzergreifung seiner Diözese vor dem Reichsstatthalter zu leisten hatte.573 Zumindest die letzte Änderung sollte im Laufe des Münsteraner Falls erstmals greifen. Die Beisetzung des verstorbenen Oberhirten fand am 10.  Januar statt und war traditionell der Anlass, an dem von den maßgeblichen lokal-kirchlichen Instanzen informell über den möglichen Nachfolger diskutiert wurde.574 So nutzte auch der Münsteraner Dompropst Donders die Gelegenheit, mit dem ebenfalls anwesenden Kölner Erzbischof Schulte diese Frage zu erörtern. Im Namen der Domkapitulare Arnold Francken und Heinrich Surmann empfahl Donders eine ganze Reihe von Kandidaten für die Nachfolge Poggenburgs. Schulte sollte die Empfehlungen nach Rom weiterleiten und zwar noch bevor das Domkapitel gemäß dem konkordatsrechtlich vorgesehenen Prozedere die Kandidatenliste für den Heiligen Stuhl anfertigte. Schulte folgte der Bitte, indem er am 12. Januar ein Schreiben an Pacelli aufsetzte und diesen über den Vorstoß der drei Domherren informierte.575 Er teilte ihre Ansichten, was sich nicht nur an der Tatsache ablesen lässt, dass er ihr Anliegen nach Rom weiterreichte, sondern auch daran, dass er Donders, Francken und Surmann als diejenigen Mitglieder des Münsteraner Domkapitels bezeichnete, „die mit den Verhältnissen ihrer Diözese aufs beste vertraut sind und ein treu kirchliches wohlabgewogenes Urteil haben“576. 571

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Vgl. Art. 14 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. Vgl. zur politischen Klausel des Reichskonkordats Kaiser, Klausel, S. 187–194; Link, Besetzung, S. 263–271. Vgl. zur rechtlichen Frage der Geltung der politischen Klauseln der Länderkonkordate angesichts des Reichskonkordats Weber, Klausel, S. 36–43. Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. Vgl. Art. 16 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 509. Die Eidesformel lautete: „Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande ... Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.“ Vgl. dazu Dahl-Keller, Treueid, S. 149–156; Link, Besetzung, S. 185–187. Vgl. auch Bd. 2, Kap. II.1.16 Anm. 1402. Vgl. Todesanzeige des Domkapitels vom 6. Januar 1933, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster Nr. 2 vom 7. Januar 1933. Vgl. Schulte an Pacelli vom 12. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 4r–5r. Schulte an Pacelli vom 12. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 4r. 154

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Die Trias favorisierte den langjährigen Kurat von St. Clemens in Berlin und nunmehrigen Pfarrer von St. Lamberti in Münster, Clemens August Graf von Galen. Des Weiteren nannten sie die Bischöfe von Osnabrück und Ermland, Wilhelm Berning und Maximilian Kaller; den Administrator von Schneidemühl, Franz Hartz; den Paderborner Weihbischof, Augustin Baumann; den Paderborner Priester und Generalpräses des Katholischen Jungfrauenvereins in Düsseldorf, Hermann Kleus; außerdem den Pfarrer von St. Mauritius in Münster und ehemaligen Geheimsekretär der (Erz-) Bischöfe Hermann Dingelstad von Münster und Felix von Hartmann von Köln, Karl Berghaus, und schließlich den Professor für neutestamentliche Exegese in Münster, Maximilian Meinertz. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum die drei Domherren ihre personellen Wünsche auf diesem informellen Weg vorbrachten, anstatt die Namen auf der formellen Kandidatenliste zu platzieren, die sie laut Preußenkonkordat in absehbarer Zeit anzufertigen hatten. Eine logische Annahme wäre, dass sie davon ausgingen, für ihre Vorschläge im Domkapitel keine Mehrheit zu bekommen und glaubten, ihren Präferenzen nur am Gremium vorbei Gehör verschaffen zu können. Tatsächlich verfolgten sie dabei aber einen ganz anderen Zweck, auf den später zurückzukommen sein wird. Am Ende seiner Mitteilung stellte Schulte es dem Kardinalstaatssekretär anheim, was er mit den vorgeschlagenen Geistlichen anfing. Dieser bedankte sich zwei Tage später in einem formalen Schreiben für die „liebenswürdige Aufmerksamkeit“577, äußerte sich aber zu den Kandidaten nicht. Stattdessen merkte er an, dass der Heilige Stuhl die amtlichen Vorschlagslisten des preußischen Episkopats und des Münsteraner Domkapitels erwarte.

Die Kandidatenlisten Kardinal Schultes und des Münsteraner Domkapitels Wohl von diesem Hinweis animiert, war der Kölner Erzbischof der erste, der seine Vorstellungen von geeigneten Persönlichkeiten für den Münsteraner Bischofsstuhl schriftlich einreichte. Am 22. Januar übersandte er der Berliner Nuntiatur ein Quartett von Namen, die freilich alle in seinem Schreiben an Pacelli schon erwähnt worden waren.578 Er fügte ausdrücklich hinzu, dass alle vier Kandidaten zwischen 50 und 60 Jahre alt seien – seiner Ansicht nach also ein passendes Alter, um das Bischofsamt anzutreten: a) „[M]it Bedacht“ setzte Schulte Domkapitular Francken an die erste Stelle, denn er „genießt bei Geistlichen und Gläubigen das größte Ansehen. Ein Mann von ernster, edelster priesterlicher

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Pacelli an Schulte vom 14. Januar 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 3r. Vgl. Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 1r–2v. 155

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Gesinnung bringt er außer einer gediegenen theologischen Bildung auch schätzenswerte praktische Erfahrung und ein klares, kluges Urteil für die Regierung einer Diözese mit.“579 b) An zweiter Stelle rangierte Galen. Zwar sei der Graf ihm – so Schulte – bislang nicht bekannt gewesen, doch habe ihn die Unterredung mit Donders während seines Besuchs in Münster anlässlich der Beisetzungsfeierlichkeiten angespornt, Informationen über den Stadtpfarrer einzuziehen. Diese würden Galen bedenkenlos „als würdig und geeignet“580 erscheinen lassen. c) Dann dachte Schulte an Donders selbst, der wegen seiner Predigtbegabung, seiner homiletischen Lehrtätigkeit, seiner Schriftstellerei, aber auch weil er ein „edelster priesterlicher Charakter“581 sei, in ganz Deutschland geachtet werde. Einschränkend bemerkte der Kardinal, dass Donders sich selbst als Bischofskandidat nicht geeignet halte und zwar zum einen wegen seiner angeschlagenen Gesundheit und zum anderen wegen seiner fehlenden administrativen Begabung. Ob diese Selbsteinschätzung jedoch adäquat sei, vermöge er nicht zu beurteilen. Jedenfalls war Schulte überzeugt, dass der Propst „ein vortrefflicher Bischof, ja eine Zierde des deutschen Episkopats werden würde, wenn die Wahl des Heiligen Stuhles auf ihn fiele“582. d) Den vierten Geistlichen, den Schulte in Vorschlag brachte, kannte er nach eigenen Angaben seit 25 Jahren: den Münsteraner Neutestamentler Meinertz. Ihn hielt er für einen treuen und dem Heiligen Stuhl völlig ergebenen Priester: „Er genießt wegen seiner Gelehrsamkeit, wegen seines klugen, milden, gewandten Wesens unter den Mitgliedern der theologischen Fakultäten Deutschlands ein besonderes Ansehen.“583 Alles andere als ein weltfremder Wissenschaftler, bewähre sich dieser auch in pastoraler Hinsicht und wisse mit den einfachen Gläubigen der Diözese zu interagieren. In den vorangegangenen Besetzungsfällen in Ermland 1930 und Aachen 1930/31 hatte der Heilige Stuhl jeweils dem Episkopat und dem Domkapitel die Anweisung erteilt, die nach Artikel 6 des Preußenkonkordats vorgesehenen Kandidatenlisten anzufertigen.584 War eine solche Anordnung auch jetzt wieder notwendig? Dies war eine der Fragen, weswegen Domkapitular und Subregens Francken am 12. Januar zur Audienz beim Nuntius nach Berlin reiste.585 Wie Francken später rekapitulierte, habe Orsenigo in dem Gespräch die klare Auffassung vertreten, dass „es angebracht

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Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 1v. Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 1v. Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 2r. Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 2r. Schulte an Orsenigo vom 22. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 2r-v. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Ermländer Domkapitels) und Bd. 2, II.1.11 (Die Kandidatenvorschläge des Aachener Domkapitels und der preußischen Bischöfe). Vgl. Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4rv. 156

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sei, in Sachen der Bischofswahl dem Apostolischen Stuhle die Initiative zu überlassen“586 und daher mit der Aufstellung der Liste noch zu warten. Nach seiner Rückkehr machte Francken laut eigener Angabe umgehend Dompropst Donders und Kapitelsvikar Meis „darauf aufmerksam“587, eine entsprechende Anweisung aus der Nuntiatur abzuwarten, wobei nicht ersichtlich wird, ob er die beiden auch von seinem Besuch bei Orsenigo informierte. Orsenigo übermittelte die offizielle Mitteilung Meisʼ über das Ableben Poggenburgs und die Wahl des Kapitelsvikars wie gesagt am 24. Januar nach Rom, wodurch das Staatssekretariat formal erst knapp drei Wochen nach Eintritt der Sedisvakanz – von dem inoffiziellen Schreiben Schultes abgesehen  – Kenntnis von der anstehenden Besetzung des Münsteraner Bischofsstuhls erhielt. In seiner Nuntiaturberichterstattung lenkte Orsenigo die Aufmerksamkeit Pacellis auf die angesprochene Initiativfunktion des Heiligen Stuhls bei der Umsetzung des Artikels 6 des Preußenkonkordats.588 Ohne die Unterredung mit Francken ausdrücklich zu erwähnen, berichtete er von der Anfrage des Domkapitels „in forma privata“589, ob es die Kandidatenliste sofort oder erst nach ergangener Weisung aufstellen durfte. Weil es bislang Brauch gewesen sei, dass die Nuntiatur eine entsprechende Instruktion erteilt habe, habe er dem Kapitel mitgeteilt, auf seinen Bescheid zu warten. Lediglich der Kölner Kardinal habe bereits seine Vorschläge vorgelegt. Dass Schulte dies auf Basis der Korrespondenz mit Pacelli erledigt hatte, konnte Orsenigo nicht wissen. Entsprechend der bisherigen Praxis bat er Pacelli um die Erlaubnis, auch die übrigen Bischöfe und das Domkapitel aufzufordern, innerhalb einer Frist von 15 Tagen ihre Listen mit Bischofskandidaten einzureichen. Diese Terminbindung war neu. Einen solchen Zeitraum festzusetzen, hielt Orsenigo für opportun, weil es seiner Erfahrung nach Oberhirten gab, die nicht immer von ihrem Recht Gebrauch machten oder sogar nicht einmal reagierten.590 Wenn bis zum festgelegten Zeitpunkt nicht alle Vorschläge eingetroffen seien, könne man – so überlegte Orsenigo – fortfahren, ohne auf Antworten warten zu müssen, die vielleicht gar nicht unterwegs seien. Trotz der expliziten Anweisung des Nuntius gegenüber dem Subregens, seinen Bescheid abzuwarten, trat das Münsteraner Domkapitel schon am 23. Januar zusammen, um die Kandidaten für die Vorschlagsliste zu wählen. Wie Francken zwei Tage später dem Nuntius brieflich mitteilte, 586 587 588

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Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4r. Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 24. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 11rv. Orsenigo an Pacelli vom 24. Januar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 11r. Orsenigo dachte hier vermutlich an den Hildesheimer Oberhirten Bares, der im Ermländer Besetzungsfall seine Vorschläge viel zu spät eingereicht hatte, und an Bischof Kilian von Limburg, der in der causa Aachen keinen einzigen Namen genannt hatte. 157

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sei dies vor allem auf Drängen der übrigen, insbesondere nicht-residierenden Domherren geschehen. „Diesen“ – so Francken – „durfte ich von dem Auftrage E[hrwürdiger] Exzellenz nichts sagen, ohne zu verraten, dass ich in Berlin war“591. Es war also ein absolut inoffizieller Besuch in der Nuntiatur gewesen, von dem womöglich nur seine Komplizen bei der Aufstellung der geheimen Liste, Donders und Surmann, etwas wussten. Es liegt die Vermutung nahe, dass der diskrete Besuch mit genau dieser Liste der drei Domherren zusammenhing, mit der diese das Mitspracherecht der übrigen Kapitulare unterminierten. Tatsächlich wird noch deutlich werden, dass die internen Spannungen innerhalb des Domkapitels Gegenstand des Gesprächs zwischen Francken und Orsenigo gewesen waren und sogar genuin mit der Person des Kapitelsvikars zusammenhingen. Meis war demnach über Franckens Berlinreise ebenso wenig im Bilde wie über die Existenz der geheimen Vorschlagsliste. Der Nuntius jedenfalls konnte dem geheimen Agitieren wenig abgewinnen, was sich daran zeigt, dass er in seinem Bericht an Pacelli nur unspezifisch von einer privaten Anfrage zum Listenverfahren sprach, die partikularistischen Bestrebungen jedoch nicht erwähnte. Da Francken also verheimlichen „musste“, beim Nuntius gewesen zu sein, schritten die Domherren ohne römische Instruktion zur Wahl ihrer Vorschlagsliste. Der Subregens berichtete Orsenigo, dass das versammelte Domkapitel beschlossen habe, drei Kandidaten aufzustellen, die für den bischöflichen Stuhl in Münster infrage kämen. Für diese sei zu Beginn einstimmig ein Anforderungsprofil erstellt worden, dem die Kandidaten hätten entsprechen müssen: Sie durften nicht zu alt sein, sie mussten gesund sein und Erfahrungen in der Seelsorge gesammelt haben. Zwar wurde diese Kriteriologie auf der amtlichen Kandidatenliste, die Francken seinem Schreiben vom 25. Januar an die Nuntiatur beifügte, nicht namhaft gemacht.592 Doch bildete sie ein wesentliches Raster der Biographien, die samt einer kurzen Würdigung jedem Namen beigefügt waren: a) An erster Stelle schlugen die Domherren den Studienrat und Religionslehrer am Städtischen Gymnasium in Münster, Franz Hautkappe, vor. Er sei 1884 geboren – „also 48 Jahre alt und durchaus gesund“593 – und nach seinen Studien in Münster 1908 zum Priester geweiht worden. Nach einer Lehrerstation am Collegium Augustinianum in Gaesdonck und der Tätigkeit als Hausgeistlicher bei den Erziehungsschwestern von der Göttlichen Vorsehung auf der „Friedrichsburg“, sei er zum Dr. phil. an der Münsteraner Universität promoviert worden. Neben seiner bereits genannten Lehrertätigkeit am Städtischen Gymnasium (seit 1919), habe er „zugleich durch Predigt und Beichtstuhl in der Seelsorge eifrig“ gewirkt, sei außerdem „ein frommer, innerlicher Priester,

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Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4r. Vgl. Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 5r–7r (nur r). Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 5r. Hervorhebung im Original. 158

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erfüllt von kirchlicher Gesinnung, und genießt bei seinen Schülern, seinen Kollegen und Konfratres hohes Ansehen“594. b) Dann benannte das Domkapitel den 51-jährigen Weseler Pfarrer, Josef Janssen, der ebenfalls in Münster seine theologische und philosophische Ausbildung und 1905 die Priesterweihe erhalten habe. Mit mehreren Kaplanstellen, dem Amt des Lazarettgeistlichen im Ersten Weltkrieg und seiner derzeitigen Pfarrleitung habe er „alle Stationen der praktischen Seelsorge“595 durchschritten. Die ihm zugeschriebenen Vorzüge lauteten ähnlich wie bei Hautkappe: „Er ist als treu kirchlich gesinnter Priester, eifriger Seelsorger, guter Prediger und Religionslehrer bekannt und hochgeschätzt. Zudem ist er kräftig und gesund.“596 c) Die Trias komplettierte der Pfarrer von St. Lamberti in Münster, Clemens August Graf von Galen. Der 1878 geborene Galen – „ist also jetzt 54 Jahre alt, kerngesund“597 – habe sein Studium in Innsbruck absolviert und sei 1904 in Münster zum Priester ordiniert worden. Nach einer kurzen Episode als Domvikar in der westfälischen Bistumsstadt während sein Onkel Maximilian Graf von Galen als Weihbischof amtiert habe, sei er für fast 25 Jahre nach Berlin gegangen, um dort als Kaplan, dann Curatus und Präses des Gesellenvereins sowie schlussendlich seit 1919 als Pfarrer von St. Matthias zu wirken. Zehn Jahre später habe ihn Bischof Poggenburg zurück nach Münster geholt. Ähnlich wie die beiden Obengenannten sei er „in seinem Wirken hier allgemein als apostolischer, treukirchlicher Priester bekannt, der ganz in seinen Seelsorgsaufgaben aufgeht“598. Eine klare Präferenz für einen der drei Geistlichen ließen die Kapitulare nicht durchscheinen. Ob die Reihenfolge der Kandidatennennung eine Gewichtung widerspiegeln sollte, die sich vielleicht aus der Stimmverteilung der Wahl ergab, ist denkbar. Ebenso lässt sich aber auch einfach an eine alphabetische Sortierung denken: Hautkappe, Janssen und von Galen. Klarer äußerte sich Francken in seinem Begleitschreiben an den Nuntius. Er prognostizierte, falls der Heilige Stuhl die Dreierliste als Wahlterna zurückschicken würde, „wird sehr wahrscheinlich der an erster Stelle stehende Dr. Hautkappe gewählt werden“599. Dieser sei tüchtig und liebenswürdig und habe keinerlei Gegner. Während der Subregens dem zweitplatzierten Janssen seelsorglichen Eifer zuschrieb, lautet seine Bewertung Galens: Er „wird als seeleneifriger Priester allgemein geachtet, hat aber als Mitglied des Adels einige Gegner, zumal er auch gegen den Strom zu schwimmen

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Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 5r. Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 6r. Hervorhebung im Original. Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 6r. Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 7r. Hervorhebung im Original. Kandidatenliste des Münsteraner Domkapitels vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 7r. Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4v. 159

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wagt“600. Da Francken den Grafen laut Schultes Darstellung für den Münsteraner Bischofsstuhl favorisierte, war dieses in sich durchaus auch für eine negative Interpretation offene Urteil sicher vorbehaltlos als Kompliment gedacht, das man vor dem Hintergrund des aufstrebenden Nationalsozialismus lesen kann.601 Ging es jedoch um diesen spezifischen Sachverhalt, hätte den Subregens nichts daran gehindert, in klaren Worten die Vorzüge näher auszuführen, die Galens fehlende Stromlinienförmigkeit in dieser Hinsicht seiner Überzeugung nach bot. Stattdessen beließ er es bei dieser allgemeinen Attribution, die das Selbstbewusstsein des Grafen, aber womöglich auch seine Eigenwilligkeit herausstellte. Galen jedenfalls war der einzige Kandidat, der auf der geheimen Liste von Donders, Francken und Surmann und auf der amtlichen Kapitelsliste stand.

Pacellis eigene Kandidatensondierungen Wenige Tage später erhielt Orsenigo die ersehnte Post aus Rom. Unter dem Datum des 28. Januar wies ihn Pacelli an, wie bei den vorangegangenen Besetzungen der Diözesen Ermland und Aachen, sub secreto Sancti Officii,602 ein Zirkularschreiben an den preußischen Episkopat zu senden „und sie aufzufordern, jeder getrennt, einen oder mehrere Kandidaten mit allen nötigen Informationen anzuzeigen“603. Auch sollte der Nuntius ein entsprechendes  – mittlerweile jedoch überflüssiges  – Schreiben an das Domkapitel aufsetzen. Für den Rücklauf der Vorschlagslisten eine Frist von 15 Tagen festzuschreiben, legte Pacelli ganz in das Ermessen Orsenigos. Der Kardinalstaatssekretär beschloss seine Weisung mit der Bitte, die Unterlagen, die innerhalb des angedachten Zeitraums in der Nuntiatur eintreffen würden, dem Heiligen Stuhl mit „nützlichen Anmerkungen“604 zu übersenden.

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Francken an Orsenigo vom 25. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 4v. Vgl. etwa Kuropka, Pfarrer und Bischof, S. 61. Vgl. auch Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 800. Weil Pacelli nicht voraussetzte, dass die Bischöfe die Natur dieses Geheimnisses ausreichend kannten – zumindest nicht so, dass sie es seiner Ansicht nach genügend beherzigten –, sollte Orsenigo ihnen erklären, was es damit auf sich hatte. Der Nuntius erledigte das, indem er die Erklärung unübersehbar auf die erste Seite des Zirkularschreibens druckte: „Sub secreto Sancti Officii. Violatio huius secreti quovis modo, etiam indirecte commissa, plectitur excommunicatione latae sententiae ipso facto incurrenda, a qua – praeterquam in articulo mortis – nemo nisi ipse Romanus Pontifex absolvere potest.“ Orsenigo an Bertram vom 3. Februar 1933 (Entwurf, Zirkularschreiben), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 17rv, hier 17r. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch Bd. 2, Kap. II.1.8 Anm. 206. „… invitandoli ad indicare, ognuno separatamente, uno o più candidati con tutte le necessarie informazioni.“ Pacelli an Orsenigo vom 28. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 13rv, hier 13r. „… con opportune osservazioni …“ Pacelli an Orsenigo vom 28. Januar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 13v. 160

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Pacelli verließ sich jedoch nicht auf die Kandidatenvorschläge der preußischen Hierarchie, um die Wiederbesetzung des Münsteraner Bischofsstuhls einer seiner Ansicht nach glücklichen Lösung zuzuführen. In den Unterlagen des Staatssekretariats findet sich eine Beurteilung von vier potentiellen Bischofskandidaten, die der General des Jesuitenordens, Wladimir Ledóchowski, am 3. Februar an Pacelli sandte.605 Dabei fungierte Ledóchowski aber nur als Vermittler, denn das Gutachten stammte aus der Feder Pater Michael Hofmanns SJ, dem Rektor des Jesuitenkollegs Canisianum in Innsbruck.606 Man muss davon ausgehen, dass Pacelli selbst über den Jesuitengeneral das Votum aus Innsbruck angefordert hatte. Wie kam er dazu? Denkbar erscheint folgende Antwort: Pacelli war am 12. Januar von Schulte darauf aufmerksam gemacht worden, dass Donders und seine beiden Vertrauten Galen favorisierten. Dieses Urteil nahm er offenbar ernsthaft zur Kenntnis, immerhin war der Münsteraner Dompropst eine von ihm hochgeschätzte Persönlichkeit, die er 1928/29 auf den Hildesheimer Bischofsstuhl promovieren wollte.607 Aber auch Pacelli selbst kannte den Grafen aus seiner Zeit in Berlin persönlich sehr gut, hatte ihn bereits im Aachener Fall auf der römischen Terna platziert608 und wusste auch genau, dass er in Innsbruck bei den Jesuiten studiert hatte. Von daher lag es nahe, sich an Galens ehemaligen Lehrer zu wenden, um Informationen einzuholen, zumal Hofmann der Kurie auch früher schon Gutachten zu Bischofskandidaten zugespielt hatte.609 Neben dem Pfarrer von St. Lamberti beurteilte Hofmann noch drei weitere Ex-Alumnen des Kollegs: Maximilian Bierbaum, Heinrich Heufers und Heinrich Wienken, alle wie Galen gebürtige Münsteraner Diözesanen. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass Pacelli den Jesuiten darum bat, neben Galen weitere Geistliche zu nennen, die – aus dem westfälischen Bistum stammend und in Innsbruck ausgebildet – als mögliche Nachfolger Poggenburgs geeignet sein könnten. Denkbar wäre schließlich auch, dass Pacelli den Namen Galens gar nicht erwähnte, sondern nur allgemein Kandidatenvorschläge mit diesen Spezifikationen erbat. Dafür spricht, dass der Graf in Hofmanns Votum gegenüber den anderen Personen keine „Sonderbehandlung“ erfuhr. Demnach wären die genannten Bierbaum, Heufers und Wienken von Hofmann und nicht von Pacelli selbst ins Spiel gebracht worden. Möglich, aber nicht zu belegen, ist auch der umgekehrte

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Vgl. Ledóchowski an Pacelli vom 3. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 13r. Vgl. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r–15r (nur r). Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.6 (Der Kandidat des Nuntius: Adolf Donders). Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.11 (Die römische Terna). So etwa anlässlich der Besetzung des Bistums Regensburg 1927/​28, an der Pacelli allerdings nicht maßgeblich beteiligt war. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Kandidatentrias Michael Hofmanns und die Empfehlung Bischof Ludwig Hugos). 161

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Fall, dass der Kardinalstaatssekretär bereits alle vier Geistlichen namentlich zur Begutachtung vorgab. Wie schätzte der Rektor nun ihre Amtstauglichkeit ein? a) Die erste Person, die Hofmann in seinem Gutachten behandelte, war der Münsteraner Kirchenrechtler Maximilian Bierbaum. Als 20-jähriger sei er 1903 für dreieinhalb Jahre in das Jesuitenkolleg eingetreten. Schon damals „ein musterhafter Priestertumskandidat“, habe er seine Qualitäten bis heute bewahrt, wenngleich es sich dabei nur um „gute“ und keineswegs um „eminente Talente“610 handle. Von einem Münsteraner Theologen wisse er, dass in Bierbaums Vorlesungen „wohltuend seine kirchliche Gesinnung“611 zutage trete. Als weitere Fragmente aus dessen Vita nannte der Jesuit die Tätigkeit als Militärseelsorger im Gebiet der späteren Türkei, einen längeren Aufenthalt am Campo Santo Teutonico in Rom und die Autorschaft eines Buches über Papst Benedikt XV. – „ob auch über Pius XI.?“612. Genauere Angaben konnte Hofmann offenbar nicht liefern. Ein Kriterium war für ihn auch die Wesensart und das äußere Erscheinungsbild Bierbaums, die er als gefällig und bescheiden beschrieb. b) Als nächstes folgte die Charakterisierung Galens, der im Zeitraum von 1899 bis 1903 genau wie der Erstgenannte „ein musterhafter Konviktor“ gewesen sei und diesem „an Talent wenigstens gleich[steht]“613, an seelsorglicher Erfahrung aber überrage. Angesichts der Tatsache, dass Galen jahrelang Pfarrstellen in Berlin und Münster bekleidete, Bierbaum hingegen als Hochschullehrer arbeitete, war das keine Überraschung. Sehr positiv bewertete Hofmann Galens religiöse Charakterzüge: „Ein tieffrommer, sehr bescheidener, durch und durch kirchlich gesinnter Priester, an Gestalt ein Hüne.“614 c) Der dritte Kandidat war der 53-jährige Berliner Domkapitular Heinrich Heufers. Obwohl Bischof Schreiber ihn bereits 1931 in das Kapitel berufen hatte, war sich Hofmann über diesen Tatbestand wiederum nicht ganz sicher. Über ihn, der zeitgleich mit Galen in Innsbruck studiert und später in Berlin seelsorglich gewirkt habe, fällte Hofmann ein besonders gutes Urteil, wofür dessen systematisch-theologische Begabung sichtlich den Ausschlag gab: „… ein ruhiger, solider, 610

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Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. In dieser Frage irrte Hofmann nicht: Im Jahr 1922 hatte Bierbaum ein Lebensbild von Pius XI. veröffentlicht. Vgl. Bierbaum, Pius XI. Ein eigenständiges Werk Bierbaums über Benedikt XV. konnte indes nicht gefunden werden. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. Galen selbst war Hofmann während seiner Studienzeit – und auch später – sehr zugetan. Ihn hatte er sich damals auch zum Beichtvater erwählt. Vgl. Zumholz, Tradition, S. 24. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. 162

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frommer Charakter mit sehr guter spekulativer Begabung (die beiden Vorhergenannten überragend) …“615 d) Als letzten Geistlichen schlug der Jesuit den 50-jährigen Berliner Caritasdirektor Heinrich Wienken vor: „Er machte recht gute Studien [1904–1908], war ein musterhafter Priestertumskandidat, ausgezeichnet speziell durch ruhigen, ganz männlichen Charakter.“616 Auch ihm sprach Hofmann eine absolut kirchliche Gesinnung zu. Die nicht zu verheimlichenden Unsicherheiten in den biographischen Skizzen erklärte Hofmann abschließend mit dem Vermerk, dass er aus den letzten zehn Jahren keine genaueren Daten über sämtliche Kandidaten besitze.

Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats Mit seiner Anweisung für Orsenigo vom 28. Januar, vom preußischen Episkopat die vorgesehenen Propositionslisten zu verlangen, hatte Pacelli den formalen Weg der Kandidatenfindung angestoßen. Der Nuntius verfasste das Zirkularschreiben am 3. Februar und bat darin den jeweiligen preußischen Bischof, „gemäß den Normen, die im Artikel VI des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Regierung Preußens vereinbart wurden, dieser Apostolischen Nuntiatur einen oder mehrere Kandidaten entweder aus Münster oder aus anderen Diözesen Deutschlands anzuzeigen, die er vor dem Herrn zur Lenkung der hochgelobten Kirche geeignet erachtet, und außerdem über jeden einzelnen Kandidaten all jene Informationen beizufügen, die er für angemessen und nützlich hält, mitzuteilen“617.

Mit der Begründung, dass eine zügige Erledigung der Angelegenheit wünschenswert sei, veranschlagte Orsenigo anschließend die 15-tägige Frist, innerhalb derer die Antworten bei ihm eintreffen müssten. Der terminus ad quem war demnach der 18.  Februar. Im Sinne des Kardinalstaatssekretärs betonte der Nuntius, dass dieser gesamte Prozess unter dem Geheimnis des Heiligen Offiziums stehe. Dem Münsteraner Domkapitel – welches das Rundschreiben an sich

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Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 14r. Kandidatenbeurteilung Hofmanns ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 15r. Vgl. die Wertung auch bei Zumholz, Wienken, S. 562. „… ut, juxta ea quae in Articulo VI Concordati inter Sanctam Sedem et Gubernium Borussiae pacta sunt, huic Apostolicae Nuntiaturae unum vel plures candidatos sive ex Monasteriensi, sive ex aliis Dioecesibus Regionis Germanicae, indicare velit, quos ad superlaudatam Ecclesiam regendam idoneos coram Domino existimaverit, addens etiam de unoquoque candidato illas omnes percontationes, quas opportunum et utile communicare judicaverit.“ Orsenigo an Bertram vom 3. Februar 1933 (Entwurf, Zirkularschreiben), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 17v. 163

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nicht mehr benötigte – schärfte er das secretum noch einmal gesondert ein. Donders versicherte ihm daraufhin brieflich, die feste Überzeugung hegen zu können, dass keine Informationen nach außen dringen würden.618 1. Nachdem die Kandidatenvorschläge aus Köln und Münster bereits im Januar eingereicht worden waren, war der Osnabrücker Oberhirte, Wilhelm Berning, der erste, der auf das Rundschreiben reagierte.619 Schon am 4. Februar sandte er die Namen zweier Geistlicher zurück, die er für den Münsteraner Bischofsstuhl geeignet hielt: a) Einmal den des Dompropstes Donders, „dessen Tugend und Wissen ausreichend bekannt sind“620. b) Zum anderen den des bisherigen General- und derzeitigen Kapitelsvikars Meis, dessen Fertigkeit in der Bistumsverwaltung und dessen Frömmigkeit Berning lobend hervorhob. 2. Bischof Joseph Damian Schmitt aus Fulda entschuldigte sich, keinen Kandidaten vorschlagen zu können, „weil die Umstände der Diözese Münster mir beinahe unbekannt sind und ich niemanden weder im Fuldaer Klerus noch in einer anderen Diözese kenne, den ich empfehlen könnte oder müsste“621. 3. Eine Kandidatentrias legte am 7. Februar der Bischof von Aachen, Joseph Vogt, vor.622 a) An erster Stelle rangierte Subregens Francken. Er besteche durch seine Treue und Anhänglichkeit gegenüber der Kirche und insbesondere dem Heiligen Stuhl. Außerdem sei ihm der Münsteraner Klerus sehr gut bekannt. b) Dann folgte wiederum Donders, dessen „Wissen und vor allem Sprachgewandtheit in ganz Deutschland bestens bekannt sind“623. Als bewährter Priester erfreue

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Vgl. Donders an Orsenigo vom 3. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 18rv. Der Entwurf des Schreibens der Nuntiatur an das Domkapitel findet sich nicht in den Akten. Daher bleibt auch unklar, ob Orsenigo dem Kölner Erzbischof, der ja ebenfalls die Aufforderung, seine Kandidaten einzureichen, nicht mehr brauchte, eine ähnliche Einschärfung zukommen ließ. Der Dompropst bedankte sich bei Orsenigo übrigens für zwei erhaltene Briefe. Womöglich sandte der Nuntius neben der separaten Aufforderung, das secretum Sancti Officii zu wahren, zusätzlich das an sich überflüssige Zirkularschreiben nach Münster. Sollte das der Fall sein, hätte Orsenigo damit den genauen Wortlaut der Weisung Pacellis vom 28. Januar umgesetzt, der hier ausdrücklich den Auftrag gegeben hatte, Episkopat und Münsteraner Domkapitel anzuschreiben. Vgl. Berning an Orsenigo vom 4. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 20rv. „… eius virtus et scientia satis notae sunt.“ Berning an Orsenigo vom 4. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 20r. „… cum conditiones Dioeceseos Monasteriensis mihi fere ignotae sint, neminemque noverim sive in clero Fuldensi sive in alia Dioecesi, quem commendare possim vel debeam.“ Schmitt an Orsenigo vom 5. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 22r. Schmitt begründete die negative Antwort auch damit, dass es ihm – aufgrund des so betonten secretum Sancti Officii – nicht erlaubt sei, jemanden um Rat zu fragen. Vgl. Vogt an Orsenigo vom 7. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 23r. „Scientia ac praesertim eloquentia in tota Germania optime notus est.“ Vogt an Orsenigo vom 7. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 23r. 164

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er sich darüber hinaus eines ausgezeichneten Rufes. c) Während Vogt die beiden erstgenannten Personen persönlich kannte, war ihm die dritte nur aus dessen Schriften ein Begriff: Galen. Dass der Graf ein treuer und tugendhafter Priester sei, schien Vogt unzweifelhaft. Allerdings könne er nicht beurteilen, „ob in den heutigen angespannten Zeiten ein Priester aus einer solchen Familie für die Leitung der Diözese Münster, in der es viele Kommunisten und Sozialisten gibt, sinnvoll ernannt werden könnte.“624 4. Ebenfalls drei Amtsanwärter hatte der Trierer Ordinarius, Franz Rudolf Bornewasser, parat: a) den Kölner Weihbischof Antonius Mönch (geboren 1870), b) den Benediktinerabt von St. Matthias in Trier, Laurentius Zeller (geboren 1873), und c) den Apostolischen Protonotar und Trierer Domkapitular Ludwig Kaas (geboren 1881).625 Bornewasser ergänzte diese knappe Nennung um die allgemeine Bemerkung, dass alle drei „Vorbilder in der natürlichen Anlage, im festen Glauben, in der aufrechten Frömmigkeit und der Sittenintegrität“626 seien. 5. Eine Woche vor Ablauf der Frist meldete sich der Erzbischof von Breslau, Adolf Kardinal Bertram, zurück.627 Für die Leitung des westfälischen Bistums schienen ihm am meisten a) Donders und b) der Kölner Weihbischof Joseph Hammels geeignet zu sein. Doch gab er diese Kandidatenempfehlungen nur zögerlich, weil die große Distanz zwischen seinem Erzbistum und Münster eine profunde Kenntnis des dortigen Klerus und ein sicheres Urteil erschwere: „Zwar fehlt nicht die Kenntnis der genannten Männer, aber doch das Wissen um alle ihre wünschenswerten Qualitäten, dass nämlich eine innige Verbindung des neuen Bischofs mit der Seele und dem Charakter des Volkes sowie des Klerus entsteht und dass eine heilsame Tätigkeit in allen Bereichen des Amtes erwartet werden kann.“628

Bertram sah diese Charakteristika am ehesten bei Donders gegeben, falls er ausreichend gesund sei, was jedoch allgemein bezweifelt werde. Letztlich verwies er den Nuntius auf das Münsteraner Domkapitel und die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz, die aufgrund ihrer viel engeren Beteiligung ein erheblich akkurateres und qualifizierteres Urteil abgeben könnten als er.

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„… num attentis hodiernis temporibus sacerdos e tali familia pro regimine dioecesis Monasteriensis, in qua multi communistae et socialistae existunt, aptus nuncupari possit.“ Vogt an Orsenigo vom 7. Februar 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 23r. Vgl. Bornewasser an Orsenigo vom 8. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 25r. „… exemplares ingenio, fide firma, pietate sincera, morum integritate.“ Bornewasser an Orsenigo vom 8. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 25r. Vgl. Bertram an Orsenigo vom 11. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 26rv. „Licet notitia praestantium virorum non desit, deest tamen cognitio omnium illarum qualitatum, quae desiderandae sunt, ut conjunctio novi antistitis cum anima et indole populi clerique intima fiat et ut saluberrima in omnibus officii partibus operatio exspectari possit.“ Bertram an Orsenigo vom 11. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 26r-v. 165

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6. Ebenfalls am 11.  Februar replizierte Bischof Maximilian Kaller aus Ermland mit drei Namen.629 a) Zunächst nannte er den praelatus nullius aus Schneidemühl, Franz Hartz, der aus der Diözese Münster stamme: „Dieser ragt in den Tugenden und Wissenschaften hervor, ist ein ausgezeichneter Prediger, arbeitet tüchtig im Weinberg des Herrn und pflegt mit dem Klerus einen klugen Umgang.“630 Jedoch wäre es für die Prälatur ein erheblicher Schaden, wenn Hartz, der sich erst seit kaum zwei Jahren dort befinde, abberufen würde. b) Kallers Nummer zwei war Graf Galen, „ein Priester nicht nur von adeliger Abstammung, sondern auch von adeligem Geist, ein Verteidiger der Kirche, der die Absichten Unseres Heiligen Vaters sehr bereitwillig verfolgt, ein Freund des Volkes und ein guter Mitbruder“631. c) Schließlich dachte er noch an Donders, der – wie es schon häufiger geheißen hatte – in ganz Deutschland als Organisator und Redner bekannt sei und bereits seit langem als ein künftiger Bischof gehandelt werde. 7. Mit Donders begann auch die Trias, die der Hildesheimer Oberhirte Nikolaus Bares vorstellte.632 a) Den Dompropst und Universitätsprofessor kenne er als frommen, gelehrten und eloquenten Geistlichen, der sich gerade auch deshalb für das fragliche Amt empfehle, weil er die umfangreichste Kenntnis der Angelegenheiten und Menschen des westfälischen Bistums besitze sowie bei Klerus und Volk Ansehen genieße. b) Wohl noch aus seiner Trierer Zeit war Bares der nächste Kandidat in Erinnerung: der dortige Domkapitular und Pfarrer von St. Castor in Koblenz, Albert Homscheid. Homscheid sei sowohl in geistlichen wie in weltlichen Dingen beredsam, erfolgreich und sehr eifrig in der Seelsorge. Trotz der vielen pfarrlichen Verpflichtungen habe er sich in philosophischen und theologischen Themen weitergebildet, um ein besserer Seelenhirte in den gegenwärtigen Krisenzeiten zu werden. c) Drittens empfahl Bares den Rektor des Eichstätter Priesterseminars, Michael Rackl, „ein wahrhaft gelehrter und frommer Priester“633. Ähnlich wie bei Homscheid legte der Hildesheimer Oberhirte auch bei Rackl großen Wert auf die wissenschaftlich-theologische Komponente. Daher merkte er an, dass dieser Werke über Ignatius von Antiochien und die griechisch-orthodoxe Theologie publiziert habe.634 Diese Arbeiten demonst-

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Vgl. Kaller an Orsenigo vom 11. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 28rv. „Iste est virtutibus et scientiis excellens, concionator insignis, strenue laborans in vinea Domini, prudenter agens cum clero.“ Kaller an Orsenigo vom 11. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 28r. „… sacerdos non solum generosae stirpis sed etiam generosae animae, defensor Ecclesiae, libentissime exequens Beatissimi Patris Nostri intentiones, amicus populi et bonus confrater.“ Kaller an Orsenigo vom 11. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 28r-v. Vgl. Bares an Orsenigo vom 13. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 30rv. „… sacerdos vere doctus ac pius.“ Bares an Orsenigo vom 13. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 30r. Im Jahr 1914 promovierte Rackl mit dem angesprochenen Werk über die Christologie des heiligen Ignatius und die Frage nach der Echtheit von dessen Briefkorpus. Vgl. Rackl, Christologie. Vgl. darüber hinaus die Bibliographie Rackls bei Hausberger, Rackl. 166

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rierten nach Baresʼ Auffassung die große Begabung des Autors als Gelehrten und „den innersten katholischen Sinn eines frommen Priesters“635. 8. Christian Schreiber, der Bischof von Berlin, der sich als nächster zurückmeldete, schlug ausnahmslos Münsteraner Kandidaten vor.636 a) Erneut stand Donders auf der Liste, den er als bewährt in Wissenschaft und Handeln deklarierte, dem er einen sensus catholicus zuschrieb sowie zugute hielt, beim Münsteraner und gesamtdeutschen Klerus – die Gläubigen erwähnte Schreiber nicht – in hohem Ansehen zu stehen. Genauso wie Kardinal Bertram wusste Schreiber jedoch nicht, ob sich Dondersʼ Gesundheit so weit gefestigt hatte, um den Lasten des Episkopenamtes gewachsen zu sein. b) Die zweite Position belegte Kapitularvikar Meis, der sowohl beim Münsteraner Klerus anerkannt als auch in der Diözesanverwaltung versiert sei. Seiner Wahl könnte freilich sein vorgerücktes Alter entgegenstehen (geboren 1870). c) Beim Drittplatzierten, Francken, hob Schreiber wiederum die intime Kenntnis des Münsteraner Klerus als Kriterium für die Episkopabilität hervor, die daraus resultiere, dass er seit vielen Jahren Subregens des Priesterseminars sei. d) Die Serie komplettierte schließlich Galen, „ein wahrhaft frommer Priester, der Kirche ergeben, voll von apostolischem Eifer“637. 9. Am 16. Februar übersandte der Bischof von Limburg, Antonius Hilfrich, sein Antwortschreiben an Orsenigo, das von etwas anderer Natur war als die bisherigen Korrespondenzen.638 Zwar sei er überzeugt, dass es unter den Geistlichen des Bistums Münster geeignete Bischofsanwärter gebe, doch seien ihm diese aufgrund der großen Distanz zu wenig bekannt, um darüber ein adäquates Urteil fällen zu können. Darüber hinaus werde ein Kandidat, der aus einer anderen Region Deutschlands komme, aufgrund der natürlichen Eigenheiten des Westfalen nur mit Mühe und erst nach einer gewissen Zeit die Seelen der Geistlichen und Diözesanen gewinnen können. Mit dieser Vorrede hatte Hilfrich seine folgenden Kandidatenüberlegungen bereits prinzipiell diskreditiert. a) Dass diese nur einen halbernsten Charakter hatten, zeigte sich bereits beim ersten Geistlichen, den er gar nicht mit Namen nannte: „Im Diözesanklerus von Limburg gibt es im Domkapitel einen Domherrn, 45 Jahre alt, der aufgrund seiner Hingabe an Gott, sein ‚sentire cum Ecclesiaʻ und seiner Fähigkeit zu predigen und sich darzustellen geeignet ist, der sich aber keiner tiefen Kenntnis erfreut.“639 An wen immer Hilfrich hier genau dachte, ernsthaft infrage kam der 635

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„… intimum pii sacerdotis sensum catholicum.“ Bares an Orsenigo vom 13. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 30v. Vgl. Schreiber an Orsenigo vom 14. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 32r–33r (nur r). „… sacerdos vere pius et Ecclesiae addictus, plenus zelo apostolico.“ Schreiber an Orsenigo vom 14. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 33r. Vgl. Hilfrich an Orsenigo vom 16. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 34rv. „In clero dioeceseos Limburgensis est in Capitulo Cathedrali Canonicus, 45 annos natus, qui et devotione erga Deum et ‚sentire cum Ecclesiaʻ et facultate praedicandi et praesentandi idoneus est, qui tamen non gaudet profunda scientia.“ Hilfrich an Orsenigo vom 16. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 34r. 167

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Anonymus nicht. b) Der zweite Priester war – diesmal zumindest namentlich erwähnt – der 40-jährige Dr. phil. und Dr. theol. Joseph Pascher, der sich insbesondere durch seine „natürliche Anlage und Frömmigkeit“640 auszeichne. Als biographische Stationen nannte Hilfrich: 1916 habe Pascher die Priesterweihe empfangen, daraufhin vier Jahre in der Seelsorge gewirkt, anschließend für neun Jahre als Lehrer an einem Gymnasium, bevor er 1929 Privatdozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Würzburg geworden sei. Neben einem aszetischen Buch über das Heiligste Herz Jesu habe er ein wissenschaftliches Werk über den jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien verfasst.641 Vorbehaltlos unterstützen wollte Hilfrich aber auch ihn nicht: „Dr. Pascher lenkte zwar die Schüler in der Schule gut, aber in Bezug auf die Verwaltung und Regierung der Kirche ist er nicht erfahren. Wenn ich Doktor Pascher auch für geeignet halte, so möchte ich ihn aus obengenanntem Grund nur ergänzend anzeigen.“642 10. Der letzte preußische Bischof, der seine Vorschläge der Nuntiatur unterbreitete, war Kaspar Klein aus Paderborn.643 Obwohl er sie einen Tag zu spät lossandte, drückte Orsenigo ein Auge zu und nahm sie noch in das Gesamtkorpus der Unterlagen mit auf. Eigentlich ist nur von einem einzigen Vorschlag Kleins zu sprechen, denn sein Manuskript war eine reine Laudatio nur auf einen Geistlichen, nämlich auf Donders. Obwohl er eine nähere Skizze von dessen Persönlichkeit für überflüssig hielt, lenkte Klein die Sprache auf dessen überall geteilte Reputation und beteuerte, dass er ihm aus persönlicher Kenntnis die beste Expertise ausstellen könne: „Ich hebe besonders lobend bei ihm hervor seinen vorbildlichen priesterlichen Wandel, seine tief innerliche Anhänglichkeit an die heilige Kirche und ihr Oberhaupt, seine reichen theologischen Kenntnisse und große schriftstellerische Begabung, seine seltene Rednergabe, seine gewinnende Liebe mit vornehmer Haltung.“644 Die Erhebung Dondersʼ auf den bischöflichen Stuhl von Münster würde daher über die Diözesangrenzen hinaus freudige Aufnahme finden.

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„… ingenio et pietate …“ Hilfrich an Orsenigo vom 16. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 34r. Vgl. Pascher, Herz und Ders., Königsweg. „Dr. Pascher in schola discipulos bene rexit, sed quoad administrandam et gubernandam Ecclesiam non est experientia doctus. Licet Drem Pascher idoneum censeam, non velim tamen ex ratione supradicta ipsum nonnisi supplementarie indicare.“ Hilfrich an Orsenigo vom 16. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 34r. Vgl. Klein an Orsenigo vom 19. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 36rv. Als einziger Proponent schrieb Klein auf deutsch, sodass in der Nuntiatur zunächst eine italienische Übersetzung angefertigt werden musste, bevor Orsenigo die gesammelten Vorschläge nach Rom sandte. Vgl. ebd., Fol. 38r. Klein an Orsenigo vom 19. Februar 1933, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 36v. 168

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Die Vorsondierungen des Nuntius Wie Orsenigo gewünscht hatte, waren die Rückmeldungen des Domkapitels und der Bischöfe binnen beinahe zwei Wochen in der Berliner Nuntiatur eingegangen, sodass er schon am 24. Februar in der Lage war, eine Kopie der gesammelten Unterlagen an Pacelli zu schicken.645 Der Nuntius erklärte dem Kardinalstaatssekretär, dass nicht viele Kandidaten vorgeschlagen worden seien – insgesamt handelte es sich um 16 verschiedene Geistliche –, denn einige Oberhirten, wie der Fuldaer, hätten keinen, andere nur wenige Namen genannt mit der Begründung, den westfälischen Klerus nicht zu kennen. Wieder andere, wie die Bischöfe von Trier und Limburg,646 hätten lediglich Priester aus der eigenen Diözese präsentiert, was per se nicht schlecht, aber wohl – wie Orsenigo befürchtete – zwecklos sei, weil die Westfalen stets ihre Landsleute bevorzugen würden. Schließlich gebe es aber auch interessante Vorschläge, die besonders von den Oberhirten der an Münster angrenzenden Diözesen stammen würden, nämlich Köln, Aachen, Paderborn und Osnabrück. Hinsichtlich der Liste des Münsteraner Kapitels hielt Orsenigo es für auffällig, dass sie keinen Domkapitular – auch nicht aus den eigenen Reihen – enthielt: „… ich glaube zu wissen, dass dieser Ausschluss allein Frucht eines taktischen Schachzugs des Kapitels ist, das, weil es den Kapitularvikar nicht vorschlagen will, bevorzugte, eine Liste von ausnahmslos außerkapitularischen Kandidaten zusammenzustellen; es begründet den Zug mit dem Vorwand, dass es erforderlich sei, dem Heiligen Stuhl gesunde und relativ junge Personen sowie Fachleute in der Seelsorge zu bezeichnen. Der Ausschluss von Domherren bedeutet hingegen nicht, dass das Kapitel tatsächlich glaubt, dass kein Kapitular für dieses Amt geeignet sei.“647

Diese Kenntnisse zog der Nuntius offenbar aus seinem Gespräch mit Francken vom 12. Januar. Um auf jeden Fall eine Nominierung des Kapitelsvikars auszuschließen, der offenbar eigene Ambitionen auf das Bischofsamt hegte, waren die drei Kriterien aufgestellt worden, die eine Wahl des schon 63-jährigen Meis nicht nur aus Altersgründen, sondern auch durch den Seelsorgsfokus ausschlossen. Wegen Letztgenanntem konnten generell keine Domherren oder Diözesan- und

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 16r–18v; die kopierte Korrespondenz ebd., Fol. 19r–30r. Orsenigo sprach in seinem Bericht anstatt von Limburg fälschlich von Hildesheim. „… credo di sapere che questa esclusione sia solo il frutto di una mossa delicata del Capitolo, che, non volendo presentare il Vicario Capitolare, preferì compilare una lista di candidati tutti extracapitolari, motivando la mossa col pretesto che occorreva segnalare alla Santa Sede individui sani, relativamente giovani ed esperti di cura dʼanime. Lʼesclusione dei Capitolari dalla lista del Capitolo non significa però che il Capitolo ritenga proprio che nessun Capitolare sia indicato per questo ufficio.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 16v. 169

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Weihbischöfe auf die Kapitelsliste gesetzt werden, ohne damit gleichzeitig auch den Rahmen zu schaffen, der eine Nominierung des Kapitelsvikars ermöglicht hätte. Meisʼ Kandidatur zu verhindern, war damit letztlich auch das eigentliche Anliegen, das Donders, Francken und Surmann zur Aufstellung ihrer inoffiziellen Liste motiviert hatte. Ihre meisten Kandidaten – zwei Diözesanbischöfe, ein Weihbischof und ein Apostolischer Administrator – fielen durch das Raster und wären somit nicht auf der amtlichen Liste platzierbar gewesen. Nach seiner prinzipiellen Einschätzung diskutierte Orsenigo sechs der vorgeschlagenen Kandidaten, die allesamt Münsteraner Diözesanen waren, und ging dabei gemäß der Häufigkeit ihrer Nennungen vor: a) Mit Abstand am häufigsten – nämlich acht Mal648 – sei der 56-jährige Donders für den vakanten Bischofsstuhl in Vorschlag gebracht worden, darunter auch von den vier angrenzenden Diözesanbischöfen, die Orsenigo vorher schon als besonders wichtig herausgestellt hatte. Donders sei sicherlich ein Mann von großer Bildung und vielen Vorzügen, doch sei er noch nie in der Seelsorge gewesen. Mit Recht habe mehr als ein Bischof gewichtige Vorbehalte hinsichtlich dessen Gesundheitszustand gemacht. Sollte der Heilige Stuhl ihn erneut vorschlagen wollen – das heißt wie in Hildesheim 1928/29, wo der Domprediger den Bischofsstuhl mit Rekurs auf seine angegriffene Gesundheit ausgeschlagen hatte –, plädierte Orsenigo dafür, ihn zuvor offen nach seiner Bereitschaft zu fragen. Er glaubte nämlich, „dass es nötig ist, präzise seinen Widerwillen zum Bischofsamt zu klären, der mir nicht ganz angemessen in seiner schlechten Gesundheit begründet zu sein scheint; ich weiß stattdessen, dass er immer und ziemlich eifrig arbeitet“649. b) Pfarrer Galen – zwei Jahre jünger als Donders – sei vom Domkapitel an dritter Stelle sowie von vier Bischöfen als idoneus angesehen worden. Der Nuntius hielt ihn für einen „gewiss [certo] sehr frommen Menschen, eifrig und unterwürfig gegenüber dem Heiligen Stuhl“650. Er erwog die Möglichkeit, dass Pacelli den adeligen Westfalen vielleicht einmal kennengelernt haben könnte, insofern dieser bis 1928 Pfarrer von St. Matthias in Berlin gewesen sei, in dessen Bezirk auch die Apostolische Nuntiatur lag. Dass nun ein „aber“ folgte, klang bereits in dem „certo“ der an sich positiven Bewertung an: „Manch einer hält ihn für wenig geeignet für dieses Amt, sei es, weil seine Haltung zu rechthaberisch ist, sei es, weil er in seinen Ideen – und seien sie auch gut – ziemlich

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Orsenigo schrieb irrtümlich, es seien nur sieben Nennungen gewesen. „… occorre chiarire esattamente la sua renitenza allʼEpiscopato, che mi pare non del tutto proporzionata alla motivata sua poca salute; mi consta infatti che lavora sempre ed abbastanza alacremente.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17r. „… persona certo molto pia, zelante e devota alla Santa Sede.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17r. 170

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stur ist.“651 Letzteres konkretisierte Orsenigo mit Galens kleiner Schrift „Die Pest des Laizismus“652 aus dem vorangegangenen Jahr, die er für Pacelli dem Bericht beifügte. Zwar entfalte er darin ausgezeichnete Gedanken, doch in „einem Ton, der für einen einfachen Pfarrer zu schulmeisterlich“653 sei. Dem Nuntius gefiel also der diagnostizierte anmaßende und sture Habitus des Grafen nicht. c) Der 58-jährige Francken, der in den (Erz-) Bischöfen von Köln, Aachen und Berlin Unterstützer gefunden habe, war der nächste, über den Orsenigo seine Ansicht ausführte. Als Subregens des Priesterseminars und zuvor in der Seelsorge habe dieser reichlich Erfahrung gesammelt: „Er kennt präzise den gesamten Diözesanklerus und ist bei ihm geachtet; ein guter Verwalter, sehr gebildet, von sehr gesunden Ideen und ziemlich ehrerbietig gegenüber dem Heiligen Stuhl und mit einem sehr guten Sinn ausgestattet.“654 Der Nuntius zeigte sich überzeugt, dass die Ernennung Franckens eine gute Regierungsphase für das Münsteraner Bistum einläuten würde. Er werde die pastorale Linie Poggenburgs fortsetzen, freilich in einer „feinfühligeren und rücksichtsvolleren Art“655. d) Absagend fiel das Urteil des Nuntius über den mit 63 Jahren bereits älteren Kapitelsvikar Meis aus, der Voten aus Osnabrück und Berlin erhalten habe. Er scheine keine „besondere Voraussetzung“656 zu besitzen, außer vielleicht seine langjährige Praxis in der bischöflichen Kurie. Wissenschaftlich habe er sich nicht profiliert. Dagegen komme ihm eine durchschnittliche Achtung und Wertschätzung innerhalb des Klerus zu. Orsenigo schloss mit der zweifelhaften Empfehlung, Meis „wäre ideal für jenen Teil des Klerus, der nicht gestört werden will“657. 651

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„Qualcuno lo giudica poco adatto a questo posto, sia per qualche suo atteggiamento troppo supponente, sia perché piuttosto caparbio nelle sue, sia pur buone, idee.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17r-v. Vgl. Galen, Pest; archiviert in S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 32. Der Pfarrer wandte sich darin in enger Anlehnung an das päpstliche Lehramt seit Leo XIII., insbesondere im Anschluss an Pius XI., vor allem gegen Naturalismus und Liberalismus, aber auch Sozialismus und Modernismus. „… unʼintonazione troppo cattedratica per un semplice parroco.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17v. „… conosce esattamente tutto il clero diocesano e ne è stimato; buon amministratore, abbastanza erudito, di idee molto sane ed assai deferente alla Santa Sede e dotato di molto buon senso.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17v. „… in più dei modi piuttosto fini e delicati …“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17v. „… titolo particolare …“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17v. „… sarebbe lʼideale per quella parte del clero, che non vuole essere disturbato.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 17v. 171

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e) Zu Hautkappe – mit 48 Jahren der jüngste der besprochenen Kandidaten – stellte Orsenigo fest, dass er nur vom Domkapitel, aber von keinem Bischof vorgeschlagen worden sei. Seine Vita hielt der Nuntius für vielversprechend und sein akademischer Titel sichere ihm die Achtung des Lehrkörpers der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster. Er sei ein Mensch, der von allen Wertschätzung erhalte. Daher würde es einen guten Eindruck machen, ihn zu nominieren. Lediglich die Erfahrung in der pastoralen Leitung gehe ihm ab. Immerhin kümmere er sich aber auch um den ureigentlichen priesterlichen Dienst, sowohl mit Predigen als auch mit Beichtehören. f) Der letzte Kommentar Orsenigos, nämlich zu dem von Kaller vorgeschlagenen Prälaten Hartz aus Schneidemühl, einem gebürtigen Münsteraner, fiel äußerst knapp aus: Er glaubte schlicht nicht, dass dieser „alle Eigenschaften besitzt, um sich in seiner Geburtsstadt durchzusetzen, während er ausgezeichnet für die Prälatur Schneidemühl ist“658. Hinsichtlich der übrigen Vorschläge hatte der Nuntius nichts hinzuzufügen: Entweder seien sie hinreichend bekannt – wie zum Beispiel Kaas, der zwar die allerbesten Fähigkeiten in sich vereine, jedoch derzeit nicht zur Verfügung stehe659 – oder ihm gänzlich unbekannt. Der von Schulte vorgeschlagene Münsteraner Exeget Meinertz sei sicherlich ein guter Priester, doch würden ihm pastorale Empirie und „eine gewisse Charakterfestigkeit“660 fehlen. Damit spielte er auf ein konkretes Ereignis an: Meinertz sei 1932 als Dekan der Münsteraner Fakultät in Berlin gewesen, um die Frage der Umsetzung der Studienkonstitution Deus scientiarum Dominus von 1931661 im preußischen Kultusministerium zu besprechen. Orsenigo gefiel dabei überhaupt nicht, dass er „nicht den Mut (!) hatte, in die Apostolische Nuntiatur zu kommen,

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„… abbia tutte le attitudini per imporsi nella sua città natale, mentre è ottimo per la Prelatura di Schneidemühl.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 18r. Die sonst jeweils angeführte Altersangabe hielt Orsenigo angesichts dieses klaren Votums in diesem Fall wohl nicht mehr für nötig. Dies war wohl eine Anspielung auf Kaasʼ Pflichten als Vorsitzender der deutschen Zentrumspartei, die bereits im Berliner Fall 1929/​30 ein Argument gegen dessen Kandidatur gewesen waren. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur und Von Ludwig Kaas zu Christian Schreiber und die Bestellung eines Administrators). Allerdings waren die Tage des Zentrums Ende Februar 1933 bereits gezählt. Die Partei löste sich im Juli selbst auf. Kaas war zu diesem Zeitpunkt freilich schon längst – näherhin im Anschluss an die Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz am 23. März – nach Rom übergesiedelt, ohne je nach Deutschland zurückzukehren. Vgl. dazu Becker, Zentrumspartei; May, Kaas 3, S. 283–385; Morsey, Untergang. „… una certa fermezza di carattere.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 18v. Vgl. Deus scientiarum Dominus vom 24. Mai 1931, in: AAS 23 (1931), S. 241–262. Vgl. dazu Mussing­ hoff, Fakultäten, S. 334–343; Unterburger, Lehramt. 172

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obwohl er dies wollte“662. Damit war über seine Episkopabilität im negativen Sinne entschieden. Überblickt man die Wertungen des Nuntius, so sprach er sich nicht dezidiert für eine besondere Kandidatur aus. Francken schnitt wohl am besten ab,663 Donders und Hautkappe erhielten jedoch auch ein gutes Zeugnis, die Kandidatur Galens versah er mit Einschränkung, Meis und Hartz schieden aus.

Die römische Terna Nach der Läuterung durch die Nuntiatur schienen also höchstens noch vier der vorgeschlagenen Kandidaten in der engeren Auswahl zu sein. Doch in Rom hatte man einen weiteren Blick. Am 3. März brachte Pacelli die Kandidatenfrage vor Pius XI. zur Sprache.664 Die Namen, die er sich nach Sichtung der Listen für die Terna überlegt hatte, winkte der Papst durch: Antonius Mönch, Adolf Donders und Heinrich Heufers. Mit Orsenigos Analyse ging nur die Aufstellung des Münsteraner Dompropstes konform. Dass dieser seine Wahl aus gesundheitlichen Gründen womöglich nicht annehmen würde, störte Papst und Staatssekretär wenig und war sogar mit einkalkuliert: Es sei in diesem Fall nicht nötig, auf seiner Zustimmung zu bestehen. Vielmehr möge das Kapitel aus den zwei verbliebenen Kandidaten den neuen Oberhirten wählen. Während Donders der klare Favorit der preußischen Proponenten war, hatte Mönch nur die Stimme seines Trierer Ordinarius erhalten. Heufers schließlich stand überhaupt nicht auf den Vorschlagslisten, sodass der Schematismus des Bistums Berlin für die Unterlagen des Staatssekretariats als biographische Informationsquelle fungieren musste.665 Am nächsten Tag legte Pizzardo, der Sekretär der AES, die Namen Donders und Heufers dem Heiligen Offizium vor, das gegen beide Geistlichen keine Einwendungen machte.666 Für Mönch war dieser Schritt nicht nötig, da dieses Verfahren für ihn bereits angewandt worden war, als er zum Weihbischof erhoben wurde. Nachdem das Plazet der obersten Glaubensbehörde ein-

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„… non ebbe il coraggio (!) di passare alle Nunziatura Apostolica, sebbene lo desiderasse.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. Februar 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 18v. So auch Kuropka, Mann der Stunde, S. 41. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 3. März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 348, Fol. 2v. Vgl. Biographie Heufersʼ ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 34r. Vgl. Pizzardo an Canali vom 4. März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 33r und 35r sowie Canali an Pizzardo vom 7. März 1933, ebd., Fol. 36r und 37r. 173

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getroffen war, übersandte Pacelli die Dreierliste an die Berliner Nuntiatur.667 Die Reihenfolge der Kandidaten lautete also: 1. Mönch, 2. Donders und 3. Heufers. Darüber hinaus fügte er drei Anweisungen hinzu, welche für den kommenden Wahlakt und das sich anschließende Verfahren zu beachten seien: a) Zunächst einmal betonte Pacelli erneut das secretum Sancti Officii, unter dem die römische Liste stehe und das auch nach der kanonischen Wahl Bestand behalte. Orsenigo sollte die Domherren auf diesen Umstand hinweisen. b) Sodann machte Pacelli den Nuntius auf seine Übereinkunft mit dem Papst aufmerksam, was die Personalie Donders anbelangte. Sollte dieser gewählt werden und seine Wahl nicht annehmen wollen, sollte das Domkapitel ohne Weiteres zu einem erneuten Wahlgang aus den verbliebenen Kandidaten schreiten. c) Schließlich schärfte Pacelli die Pflicht des Domkapitels ein, nach vollzogener Wahl gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats zwecks politischer Bedenken bei der Regierung anzufragen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie Einwendungen erheben sollte, müsse das Kapitel dem Heiligen Stuhl unverzüglich die Gründe der Regierung vortragen und von diesem Instruktionen abwarten. Eine erneute Wahl ohne römische Anweisung erklärte Pacelli a priori für nichtig.668 Am 15. März setzte der Nuntius die Weisung um, übersandte Dompropst Donders die Dreierliste und insistierte auf den Punkten a) und c).669 Von der Sonderanweisung, die Donders selbst betraf, schrieb Orsenigo verständlicherweise nichts.

Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil eins: Heinrich Heufers Am Dienstagnachmittag, dem 21. März, also keine Woche nachdem die Terna Münster erreicht hatte, versammelte sich das Domkapitel zur kanonischen Wahl.670 Die Mehrzahl der Stimmen ent-

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 9. März 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 39rv. Pacelli benutzte für diese Anweisungen das gleiche Schreiben, in das er 1930 die Terna für die Bischofswahl in Ermland gekleidet hatte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Die römische Terna). Vgl. Orsenigo an Donders vom 15. März 1933 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 47rv. Es gab demnach keinen längeren Zeitraum zwischen dem Erhalt der Terna und der Bischofswahl wie Bernd Heim auf Basis der Annahme, dass das Domkapitel die römische Liste bereits am 9. März erhalten habe, vermutet. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 78 Anm. 290. Wie gesehen sandte sie der Kardinalstaatssekretär unter diesem Datum an die Berliner Nuntiatur, die sie daraufhin am 15. des Monats nach Münster weiterleitete. Demnach wird sie am 16. oder 17. März dort angekommen sein. Da zur Wahlversammlung des Domkapitels noch vorbereitende Maßnahmen zu erledigen waren, zum Beispiel die geheime Einladung sämtlicher (auch nicht-residierender) Domkapitulare, erscheint der 21. als Datum der Wahl als völlig normal und angemessen. Es gibt hier also keinen Anlass von einer Verzögerung des Wahlaktes trotz Vorliegens der Kandidatenliste auszugehen, die aus Spannungen innerhalb des Domkapitels resultiert hätte. Dass solche Spannungen aber existierten, wurde bereits deutlich. 174

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fiel auf den drittplatzierten Heufers.671 Unmittelbar im Anschluss an den Wahlakt fragte das Domkapitel beim preußischen Kultusministerium nach politischen Bedenken. Auf dem Umweg über die Regierungsseite erfuhr auch die Berliner Nuntiatur vom Wahlausgang. Der Reichsvizekanzler und für Preußen zuständige Reichskommissar, Franz von Papen, äußerte Orsenigo gegenüber die Absicht, vom 9. bis 16. April eine Romreise zu unternehmen und dort mit Pacelli zusammenzutreffen. Davon unterrichtete der Nuntius den Kardinalstaatssekretär am 2.  April.672 Von jenem erfuhr er auch nach eigenen Angaben, dass Heufers vom Münsteraner Domkapitel zum Bischof gewählt worden war. Die Wahl brachte Orsenigo mit der Romreise Papens in Verbindung, die natürlich insbesondere den Reichskonkordatsverhandlungen gewidmet war: „Vielleicht wird Herr von Papen Euere Eminenz auch auf die Ernennung des neuen Bischofs von Münster ansprechen, aber nur, um platonisch zu bemerken, dass die Regierung darüber nicht begeistert ist und zwar, wie es scheint, aus gewissen … parteipolitischen Erwägungen; Erwägungen, die jetzt ohnehin anachronistisch geworden sind:673 Wenn ich gut informiert bin, beabsichtigt die Regierung aber nicht, formell Einwände zu erheben, und vielleicht hat das [Dom-]Kapitel bei von Papens Ankunft in Rom bereits die Zustimmung der Regierung zu seiner Wahl erhalten: Der Erwählte ist der Dritte des Dreiervorschlags gewesen.“674

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Da das Domkapitel der römischen Behörde kein Wahlprotokoll zukommen ließ (und dieses ebenso wenig in der Münsteraner Diözesanüberlieferung existiert), lässt sich über die genaue Stimmverteilung nichts sagen. Zwei Tage später erschien ein Artikel in der „Münsterländischen Tageszeitung“, der von der erfolgten Wahl berichtete, die demnach nicht geheim geblieben war. Freilich war der Name des electus der Presse nicht bekannt geworden, sondern nur die Tatsache der vollzogenen Wahl. Der Journalist nannte als aussichtsreichste Kandidaten, an die man seit dem Tod Poggenburgs gedacht habe, Hartz, Galen und Donders. Vgl. „Wer wird Bischof von Münster?“, in: „Münsterländische Tageszeitung“ vom 23. März 1933, abgedruckt bei Kuropka, Clemens August (1992), S. 13. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 78. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 2. April 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 645 P.O., Fasz. 162, Fol. 13r–14v; abgedruckt und übersetzt bei Volk (Bearb.), Akten Reichskonkordatsverhandlungen, S. 7–10 (Nr. 3). Vgl. dazu auch Ders., Reichskonkordat, S. 90–104. Orsenigo spielte hier offenbar auf die Regierungserklärung Hitlers vom 23. März 1933 und die darauf reagierende (teilweise) Rücknahme der Verurteilung des Nationalsozialismus durch die Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März an. Vgl. dazu etwa Blaschke, Kirchen, S. 88–93; Hehl, Kirche, S. 29–50; Reichhold, Kirche, S. 7–25 (mit den Quellentexten); Scholder, Kirchen 1, S. 300–321; Volk, Kirchenkampf, S. 52–57. „Forse il Signor von Papen parlerà a Vostra Eminenza anche della nomina del nuovo Vescovo di Münster, ma solo per dire platonicamente, che il Governo non ne è entusiasta e pare per alcune considerazioni di … partito; considerazioni divenute ormai anacronistiche: se sono bene informato, il Governo non intende però sollevare formalmente obiezioni e forse, quando von Papen arriverà a Roma, il Capitolo avrà già ricevuto dal Governo il consenso alla sua scelta: il prescelto fu il terzo della terna.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. April 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 645 P.O., Fasz. 162, Fol. 14v, Übersetzung zitiert nach Volk (Bearb.), Akten Reichskonkordatsverhandlungen, S. 10. 175

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Mit dem erwarteten Nihil obstat der Regierung lag Orsenigo richtig. Am 11. April legte der preußische Kultusminister, Bernhard Rust, dem soeben Papen als Preußischer Reichskommissar beziehungsweise Ministerpräsident ablösenden Hermann Göring die Empfehlung vor, gegen den politisch nie aufgefallenen Heufers keine Bedenken geltend zu machen.675 Göring schloss sich der politischen Unbedenklichkeitserklärung des Kultusministeriums an und ließ dem Domkapitel davon Mitteilung machen, die am 2. Mai Münster erreichte. Unverzüglich setzte Donders den Nuntius offiziell darüber in Kenntnis, dass die Domherren am 21. März „in freier, geheimer Abstimmung“676 den Berliner Domkapitular Heufers auf den Bischofssitz des heiligen Ludgerus gewählt hätten und die Zustimmung der Regierung vorliege. Damit schien die Aufgabe des Kapitels beendet und nun oblag es dem Heiligen Stuhl, die weiteren Schritte bis zum Abschluss des Besetzungsverfahrens zu unternehmen. Bereits am 3. Mai telegraphierte Orsenigo die Informationen an das Staatssekretariat.677 Zwei Tage darauf antwortete Pacelli telegraphisch mit der Order, die Zustimmung des Erwählten einzuholen und auch den Bischof von Berlin zu informieren.678 Schon für den folgenden Tag, Samstag den 6.  Mai, rief Orsenigo den Domkapitular zu sich in die Nuntiatur, was angesichts der örtlichen Nähe leicht möglich war. Auf die Frage, ob Heufers seine Erwählung annehme, „brachte er sofort“ – wie Orsenigo kurz darauf dem Kardinalstaatssekretär berichtete – „eine Reihe von Bedenken vor, die auf moralischen und intellektuellen Mängeln basierten, und betonte insbesondere gesundheitliche Gründe, die mir aber ehrlich gesagt durch seine Erscheinung widerlegt schienen.“679 Daher nahm Orsenigo die Einwände zunächst nicht so ernst: „Ich dachte, vielleicht sei es vor allem die geistige Fassungslosigkeit, die in ihm das behauptete Fehlen der notwendigen

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Rust unterrichtete Göring zunächst über die Wahlanzeige des Domkapitels und über die Vita des Gewählten. Nach Bernd Heim erhielt einzig die biographische Station seiner Nomination zum Berliner Domherrn einen Kommentar: „Als es sich im Juli 1931 um die Ernennung Heufersʼ zum residierenden Kapitular des Kathedralkapitels in Berlin handelte, hat der Bischof von Berlin mir von dieser Absicht gemäß Artikel 9 Abs. 3 des Vertrages Mitteilung gemacht, wovon ich, ohne Bedenken geltend zu machen, Kenntnis genommen habe. In seinem hiesigen Wirkungskreise ist Heufers in politischer Hinsicht nie hervorgetreten.“ Rust an Göring vom 11. April 1933, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 79. Donders an Orsenigo vom 2. Mai 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 48r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 3. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 38r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 5. Mai 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 49r. Der Nuntius erhielt das Schreiben am Morgen des nächsten Tages. „… rispose esponendo subito una serie di timori basati su deficienze morali ed intelettuali, e accentuando in modo particolare dei motivi di salute, che francamente però mi parevano smentiti dal suo aspetto.“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 41r–42r, hier 41r. 176

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körperlichen Kraft erzeugte oder wenigstens verstärkte, und versuchte ihn mit Ruhe zu überzeugen, indem ich natürliche und übernatürliche Argumente vorbrachte.“680 Als seine Versuche jedoch nicht fruchteten, habe er ihm gesagt, dass es nicht nötig sei, sofort eine definitive Antwort zu geben. Er könne zunächst ein paar Tage über die Sache reflektieren und – selbstverständlich sub secreto Sancti Officii – mit einer besonderen Vertrauensperson sprechen, zum Beispiel mit seinem Beichtvater. Vor allem solle er in der Zwischenzeit darum beten, dass er seine Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen werde, später nicht bereue. Am folgenden Sonntag kam Heufers wieder in die Nuntiatur und machte auf Orsenigo einen erschreckenden Eindruck. Es sei ihm anzumerken gewesen, „dass seine Besorgnis sich auch auf seinen Körper ausgewirkt hatte: Er hatte das verzerrte Aussehen eines gebrochenen und beinahe terrorisierten Mannes“681. Heufers habe mit seinem Ordinarius Schreiber offen über seine Befürchtungen gesprochen. Dieser habe geurteilt, dass die moralischen Bedenken, die Heufers gegen seine Dignität vorbrachte, nicht schwer wiegen würden. Über die gesundheitlichen Beweggründe könne er hingegen nicht urteilen. Wie Orsenigo weiter berichtete, hörte er sich noch einmal alle Einwände des Berliner Domkapitulars an, „ermunterte ihn väterlich, aber dann sah ich seine Unnachgiebigkeit“682. Weil er sich nun von seiner schwächlichen Gesundheit habe überzeugen wollen, habe er klargestellt, dass er dem Heiligen Stuhl auf Basis der bisher vorgebrachten Argumente, die noch immer zu ungewiss und vage seien, unmöglich eine negative Antwort schicken könne. Daher habe er – so Orsenigo – ein schriftliches Attest über seinen medizinischen Zustand verlangt, das nach einer genauen, umfassenden und unvoreingenommenen Untersuchung ausgestellt werden müsse. Auf die Nachfrage Heufersʼ, ob er dem Arzt den Grund für die Gesundheitsprüfung nennen dürfe, habe er schließlich ablehnend geantwortet: Es sei überflüssig und allenfalls eine Gefahr für die Diskretion. Folgsam unterzog sich Heufers der Untersuchung und begab sich am Dienstag wieder in die Nuntiatur, um Orsenigo von dem Ergebnis zu berichten. Am Abend desselben Tages reichte er das geforderte schriftliche Gutachten ein. Der Chefarzt der inneren Abteilung des St. Norbert-Krankenhauses in Berlin, Dr. Vinzenz Lammers, hatte bei Heufers „das Krankheitsbild der Hypertonie (Blutdruck = 180 mm Hg) bei gleichzeitiger mäßiger Erweiterung

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„Ho pensato fosse piuttosto la perplessità dellʼanimo, che creava od almeno ingrandiva in lui questa asserita mancanza della necessaria vigoria fisica, e tentai persuaderlo con calma, adducendo argomenti naturali e sopranaturali.“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 41r. „… che la sua preoccupazione aveva agito anche sul suo fisico: aveva lʼaspetto stravolto di un uomo accasciato e quasi terrorizzato.“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 41v. „… incorragiandolo paternamente, ma poi visto la sua irremovibilità …“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 41v. 177

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des Herzens und der Schlagader (röntgenologisch bestätigt) unter Mitbeteiligung der Niere“683 diagnostiziert. Daraus könne man den Schluss ziehen, dass die 25-jährige Seelsorge nicht unbeschadet am Domherrn vorübergegangen sei, „aber der von mir Ihnen oben dargelegte Krankheitsbefund“ – so der Mediziner – „ist jedoch keineswegs so geartet, dass Sie sich bezüglich Ihres zukünftigen gesundheitlichen Befindens einer pessimistischen Auffassung hingeben müssten“684. Doch müsse er sich schonen und behandeln lassen, damit sich die Lage nicht verschlimmere. War dieses Gutachten ausreichend, um den Nuntius von der gesundheitlichen Untauglichkeit Heufersʼ zu überzeugen? Letztlich überzeugte ihn etwas anderes: Nachdem er – wie Orsenigo Pacelli referierte – dem Domkapitular die Verantwortung verdeutlicht habe, in der dieser stehe und die auch bei Ablehnung der Wahl bestehen bleibe, habe er den für ihn ausschlaggebenden Grund in einer Aussage gefunden, die Heufers zu Beginn habe fallen lassen: „Ich fühle im Gewissen, nicht annehmen zu können.“685 Gegenüber Pacelli bekannte Orsenigo, dass sich sein Eindruck von der ersten Begegnung geändert habe, als er noch davon ausging, die vermeintlich für das Bischofsamt nicht ausreichende Gesundheit wäre eine zwar subjektiv aufrichtige, aber doch eben Einbildung eines schüchternen Charakters. Das zweite Mal habe sich ihm die Befürchtung aufgedrängt, dass seine Schüchternheit eine psychologische Auswirkung einer tatsächlich etwas zerrütteten Gesundheit sein könnte. Einen Ausweg wusste Orsenigo nicht so recht zu finden, sodass er zwischen den beiden Extremen hindurch lavierte, um die letzte Entscheidung Rom zu überlassen: „Ich habe es nicht für nützlich erachtet, seine Ängste zu bestätigen, aber auch wollte ich mein Drängen nicht so weit treiben, ihm zu sagen, es handle sich bei der Sache um einen ausdrücklichen Befehl des Papstes, dem zuzustimmen sei, weil ich fürchtete, dass eine negative Antwort [sc. von Seiten Heufersʼ, R.H.], in diesem psychologischen Augenblick fast unausweichlich, im Vorhinein auch diesen Versuch [sc. den Befehl des Papstes, R.H.] zerstören würde, falls man es für angemessen erachten sollte, ihn anzuwenden.“686

Heufers zur Annahme zu zwingen, war für Orsenigo also noch eine reale Option, die freilich der Papst  – oder sein Kardinalstaatssekretär  – anzuordnen hatte. Daher habe er  – so der Nuntius 683

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Attest über Heufersʼ Gesundheitszustand vom 9. Mai 1933 (Abschrift), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 50rv, hier 50r. Attest über Heufersʼ Gesundheitszustand vom 9. Mai 1933 (Abschrift), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 50v. „,Io sento in coscienza di non poter accettare.ʻ“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 42r. „Non ho creduto opportuno accedere ai suoi timori, e neppure però ho voluto spingere la mia insistenza fino a chiedergli cosa avrebbe fatto dinnanzi a un preciso comando del Santo Padre di accettare, perché temevo, che una risposta negativa, quasi inevitabile in quel momento psicologico, avesse a distruggere preventivamente anche questo tentativo, qualora si credesse opportuno di farlo.“ Orsenigo an Pacelli vom 10. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 42r. 178

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schließlich  – das Gespräch beendet und dem Domkapitular versichert, Pacelli alles genau berichten zu wollen, wobei man nicht vorhersehen könne, wie die römische Entscheidung letztlich aussehen werde. Die Skepsis des Nuntius, ob der Gesundheitszustand des Berliner Domkapitulars tatsächlich für das Bischofsamt unzureichend war, war wohl nicht völlig unbegründet. Bereits Papen hatte deutlich gemacht, dass sich von nationalsozialistischer Seite Widerstand gegen Heufers regte. Deutlicher äußerte sich einige Monate später im August Pacellis Vertrauter, Pater Robert Leiber SJ. Er schrieb an den Kardinalstaatssekretär: „Es ist bekannt geworden, daß Domkapitular H[eufers] in Berlin zum Erzbischof [!] von Münster gewählt war und abgelehnt hat. Man hat ihn gefragt, warum er abgelehnt habe. Er habe geantwortet, es seien ihm von Regierungsseite so viele Schwierigkeiten gemacht und so viele Hindernisse angedroht worden, daß er eingesehen habe, eine ruhige und freie Verwaltung der Diözese würde ihm doch nicht möglich sein. Deshalb habe er es für klüger gehalten, zu verzichten.“687

Im Mai jedoch, als Orsenigo ihm seinen Bericht und Heufersʼ Attest vorlegte, wusste Pacelli wohl noch nichts über diesen Hintergrund. Angesichts der Tatsache, dass Papst und Staatssekretär schon beschlossen hatten, Donders nicht zur Annahme seiner Wahl zu zwingen, falls er gewählt würde, erscheint die Aussage des Nuntius, die römische Entscheidung sei unvorhersehbar, etwas übertrieben. Und tatsächlich fasste die oberste Kirchenleitung am 13. Mai über Heufers den gleichen Entschluss: Das Domkapitel sollte einfach noch einmal zur Wahl schreiten und zwar zwischen den beiden verbliebenen Geistlichen.688 Bevor Pacelli dem Berliner Nuntius diese Vorgehensweise kommunizierte, erreichte ihn von diesem die Nachricht, dass – trotz des so scharf betonten secretum Sancti Officii – die Kenntnis

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Leiber an Pacelli vom 17. August 1933, abgedruckt bei Volk, Reichskonkordat, S.  245–250 (Anhang Nr. 10), hier 246. Vgl. dazu auch Kuropka, Mann der Stunde, S. 44. Bernd Heim weist allerdings zu Recht darauf hin, dass Heufers im Jahr 1937 ebenfalls mit Verweis auf gesundheitliche Gründe den Posten des Berliner Generalvikars ausschlug. Man wird seiner Schlussfolgerung daher zustimmen können: „Die Möglichkeit, daß Domkapitular Heufers, der von Natur aus ohnehin allen öffentlichen Auftritten reserviert gegenüberstand, die Bischofswahl auch ohne den massiven Druck der Nationalsozialisten abgelehnt hätte, weil er sich gesundheitlich den Belastungen des Bischofsamtes nicht gewachsen fühlte, läßt sich daher nicht vollkommen ausschließen, ohne daß damit die Annahme eines Verzichts aufgrund der Ankündigung von Terror und Amtsbehinderung relativiert werden soll.“ Heim, Bischöfe, S. 88. Die von Heim anschließend diskutierte – und offenbar selbst als unwahrscheinlich ausgewiesene – Überlegung, ob der Vatikan gar selbst Heufers zum Amtsverzicht aufgefordert habe, nachdem der lokalpolitische Widerstand gegen diesen zum Vorschein gekommen sei, ist in sich nicht nur abwegig, sondern entbehrt, wie die vatikanischen Quellen deutlich machen, auch jeder Grundlage. Vgl. ebd., S. 89f. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 13. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 348, Fol. 45r. 179

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der Wahl Heufersʼ in die Öffentlichkeit gelangt sei. Mit „großem Missfallen“689 – schrieb Orsenigo – habe er zur Kenntnis genommen, dass mehrere deutsche Zeitungen am 17. und 18. Mai vom Wahlausgang berichteten.690 Aus welchen Quellen diese Information geflossen sei, könne er nicht genau angeben.691 Ein offizielles Dementi der Nuntiatur habe er nicht veröffentlicht, weil er befürchte, dadurch einen Präzedenzfall zu schaffen, der ihn verpflichte, jedes Mal, wenn irgendwelche angeblichen Namen im Umlauf seien, eingreifen zu müssen. Denen, welche sich diesbezüglich an die Nuntiatur gewandt hätten, habe er die allgemeine Antwort gegeben, dass die Besetzung der bischöflichen Stühle der Zuständigkeit des Heiligen Stuhls obliege und dieser sich bislang zum fraglichen Thema nicht geäußert habe.692 Die Antwort Orsenigos war durchaus korrekt, da Rom sich zur ablehnenden Haltung Heufersʼ tatsächlich noch nicht zu Wort gemeldet hatte. Natürlich hatte auch der Berliner electus von den Pressemeldungen erfahren. Durch sie sah er sich veranlasst, dem Nuntius am 20. Mai einen Brief zu schreiben, um seine bisherige Position erneut zu bekräftigen: „Fortgesetzte gewissenhafte Prüfung und Überlegung haben in mir die Überzeugung verstärkt, dass ich wegen meiner angegriffenen Gesundheit und der damit verbundenen starken Minderung meiner Arbeitsfähigkeit die Annahme der Wahl nicht verantworten kann.“693

Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil zwei: Adolf Donders Mit einem Meinungsumschwung des Berliner Domherrn war nicht mehr zu rechnen. Daher kam das Schreiben Pacellis vom 30. Mai gerade recht, mit dem Orsenigo den Auftrag erhielt, das Domkapitel zu einem zweiten Wahlakt mit der Begründung aufzufordern, dass Heufers „aus schweren persönlichen Gründen sich nicht dazu entschließen konnte, [seine Wahl, R.H.] zu akzeptieren“694. Genau diesen Wortlaut übernahm Orsenigo, um Donders am 7. Juni eine erneute Bischofswahl 689

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„… grande dispiacere …“ Orsenigo an Pacelli vom 18. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 47rv, hier 47r. Darunter die „Deutsche Allgemeine Zeitung“, die „Märkische Volkszeitung“, das „Düsseldorfer Tageblatt“, die „Vossische Zeitung“ Berlin, die „Pfälzer Zeitung“ Speyer, die „Tremonia“ Dortmund und der „Volksfreund“ Aachen. Vgl. die Artikel ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 57r und 58r. Er besitze lediglich „una deduzione vaga, basata su una serie di piccole, incontrollabili circostanze“. Orsenigo an Pacelli vom 18. Mai 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 47r. Pacelli nahm diese Mitteilung zur Kenntnis, kommentierte sie aber gegenüber Orsenigo nicht. Heufers an Orsenigo vom 20. Mai 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 59r. Als Quelle der Gerüchte über seine Wahl gab Heufers – offenbar ohne es genauer zu wissen oder zumindest es genauer sagen zu wollen – Paderborn an. „… non ha potuto indursi ad accettare per gravi motivi personali …“ Pacelli an Orsenigo vom 30. Mai 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 60r. 180

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aufzutragen.695 Seine Aufforderung enthielt neben der Feststellung des ersten Wahlgangs vom 21. Mai, der Begründung für die Neuwahl und der verkürzten „Terna“ wiederum die Vorschriften zur Verschwiegenheit sowie zum politischen Bedenkenrecht des Staates. Das Domkapitel, das sich gefragt hatte, warum die römische Bestätigung Heufersʼ so lange auf sich warten ließ, stand nun aber vor grundlegenden Schwierigkeiten. Von der römischen Dreierliste favorisierten die Domherren unzweifelhaft Donders, der mit aller Wahrscheinlichkeit schon im ersten Wahlgang die Stimmen auf sich vereinigt hätte, hätte er seine Kandidatur akzeptiert. Bereits zwei Tage nach dem Tod Poggenburgs hatte Donders in einem Schreiben an den ihm gut befreundeten Erzbischof von München, Michael Kardinal von Faulhaber, seine Eignung und seinen Willen zur bischöflichen Mitra vehement bestritten: „Lasset mich alle aber bitte, bitte – bei diesen meinen Arbeiten: Predigen, – Katholiken Tage vorbereiten, – Literarisches, – und die Dom-Verwaltung trage ich dann schon noch. Wenn Du so freundlich sagst, ich hätte ‚eine Missionʻ, – dann diese, und nur diese! Alles Andere ‚lägeʻ und ‚liegtʻ mir nicht; ich könnte bei meinem so schwachen Herzen und meiner stets raschen körperlichen Ermattung vielen Wechsel, – feierliche Gottesdienste, – alles das nicht aushalten. Wenn man auf die 60er zugeht, dann kann man nicht mehr ‚umlernenʻ. So bitte ich Dich, lieber Freund, inständigst, – ehrlich, – treu, bei unserer 25-jährigen Freundschaft, – jetzt und nie etwas derartiges etwa zu denken oder zu sagen oder darin etwas zu tun: ich verlasse mich fest darauf. Wir wollen hier nach den 2 kranken Jahren einen kerngesunden, tatkräftigen, frischen Episcopus, und denken ganz ernst an den hiesigen Stadtpfarrer Grafen von Galen, Großneffen Bischof Kettelers.“696

Auch jetzt war er nicht bereit, sich zum Nachfolger Poggenburgs auf den bischöflichen Thron erheben zu lassen. Wie sollte aber das Domkapitel den Bischof wählen zwischen zwei Kandidaten, von denen der Favorit unter keinen Umständen die Ernennung annehmen würde und sich für den anderen – Mönch – keine Mehrheit fand? Um diese aporetische Situation dem Kardinalstaatssekretär vorzutragen, reiste Subregens Francken nach Rom. Und Donders selbst schrieb Pacelli einen Brief, in dem er betonte, nicht für das fragliche Amt zur Verfügung zu stehen, und gleichzeitig implizit Kritik an der römischen Personalpolitik übte: „Als das Kapitel seine Liste aufstellte, fügte es 3 Gründe hinzu, nach denen die Genannten ausgesucht waren: 1) dass sie aus der vollen Seelsorge kamen, 2) nicht zu alt für das neue Amt, 3) ganz und gar gesund seien.“697 Diese Kriteriologie hatten Papst und Staatssekretär nicht im Sinne der Münsteraner Domherren berücksichtigt: „Das Kapitel hatte auf wichtigste Gründe hin davon Abstand genommen, auch meinen Namen zu-

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Vgl. Orsenigo an Donders vom 7. Juni 1933 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 62r–64r (nur r). Donders an Faulhaber vom 7. Januar 1933, zitiert nach Flammer, Clemens von Galen als Stadtpfarrer, S. 102. Hervorhebungen im Original. Donders an Pacelli vom 23. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 53r–54r, hier 53r. Hervorhebungen im Original. 181

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zufügen: Dafür sprachen die übrigen 3 Namen ganz vortrefflicher Priester.“698 Gegen die eigene Person führte er seine nach wie vor und sogar noch mehr als früher angegriffene Gesundheit ins Feld. Sah Orsenigo in diesem Argument eher einen Vorwand, insofern Donders seine zahlreichen Verpflichtungen verrichtete, bekräftigte dieser nun, seine „täglichen ruhigen Pflichten erfüllen“ zu können, jedoch nicht den bischöflichen Aufgaben oder den „großen politischen Erregungen unseres Landes“699 gewachsen zu sein. Er erinnerte Pacelli daran, welche erheblichen Einbußen das Hirtenamt von Kardinal Schulte und Bischof Schreiber erleide, weil beide gesundheitliche Probleme hätten. Gleiches sollte nicht dem Bistum Münster widerfahren, das mit 1.600 Priestern einen tatkräftigen Bischof benötige. Die Sedisvakanz währte nun schon fast ein halbes Jahr und gab so natürlich allerhand Stoff für Spekulationen. Nachdem das Gerücht, Heufers werde die Nachfolge Poggenburgs antreten, zu lange unbestätigt blieb, als dass es sich halten konnte, kursierte in der Öffentlichkeit die Vermutung, Donders werde der nächste Bischof.700 Von dieser Aussicht sah sich ein anonym schreibender „Dorfschullehrer“ aus der Diözese Münster veranlasst, seine Bedenken auf direktem Wege dem Kardinalstaatssekretär vorzutragen.701 Grundsätzlich wunderte es ihn nicht, dass „in der schweren Zeit der sog[enannten] Wiedergeburt unserer Nation die Besetzung des bischöflichen Stuhles … noch immer unterbleibt“702. Er glaubte, politische Schwierigkeiten seien dafür ursächlich, während andererseits die Kandidatenfrage mit Dompropst Donders – wenn man auf die Gerüchte höre – weniger Kopfzerbrechen bereite. Dem begabten Rhetor zollte der Verfasser hohes Lob, doch würde diese „gewiss hochehrende Berufung … uns Katholiken aber unsern Volks- und Zeitmissionar von Kanzel und Katheder nehmen“703. Durch persönliche Begegnungen sei ihm bekannt, dass Donders trotz seiner kirchlichen Karriere und seiner weiten Reputation „derselbe 698

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Donders an Pacelli vom 23. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 53r. Hervorhebungen im Original. Donders an Pacelli vom 23. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 53v. Die „Tremonia“ Dortmund, die am 18. Mai von der Wahl Heufersʼ berichtet hatte, druckte am 20. August einen Artikel, der sich damit beschäftigte, warum dessen Ernennung so lange auf sich warten ließ. Über diese öffentliche Resonanz unterrichtete Orsenigo umgehend seinen römischen Vorgesetzten. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 21. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 13r–14v. Vgl. „Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 48r–50r (nur r). „Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 48r. „Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 49r. 182

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einfache Mann geblieben ist“704, der an der Bischofswürde sehr schwer tragen würde. Dies umso mehr als wegen seiner angeschlagenen Gesundheit zu befürchten stehe, schon bald wieder einen Münsteraner Bischof „zu Grabe tragen“705 zu müssen. Das eigentliche Anliegen seiner Schrift offenbarte der Dorfschullehrer darin, dass er Pacelli um „einen unserer Zeit und Tradition entsprechenden Bischof “706 bat, mit dem er niemand anders als Galen meinte. Der Anonymus war überzeugt, dass Pacelli, der durch sein Wirken als Nuntius in Westfalen unvergessen sei, Verständnis für die dortige, gegenwärtige Lage aufbringe. Galen selbst hingegen glaubte nicht, dass er für das Amt infrage kam. Schon am 17. Mai beauftragte er seinen Bruder Franz in seinem Namen bei Orsenigo vorzusprechen, um eine schleunige Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls zu vertreten: „Aber mir scheint, es heißt nicht freventlich in die Pläne der göttlichen Vorsehung eingreifen zu wollen, wenn man … in aller Bescheidenheit … auf die Gefahren der Lage … hinweist. In diesem Sinne muss ich sagen, dass es droht, ein Verhängnis zu werden, [dass] Klerus und Volk, in der Zeit, wo ‚autoritäre Führung‘ in allen Gemeinschaften fast überstürzt eingeführt wird, eine Diözese, die doch nach Gottes Willen und Anordnung alle Zeit eine ‚autoritäre Führung‘ haben sollte, monatelang ohne eine solche dasteht. … Ich glaube so sicher zu sein, dass meine anfangs mehrfach genannte Person zum Glück für das Amt des Bischofs nicht in Frage kommt, dass ich auch nichts dagegen habe, wenn Du eventuell ruhig sagst, dass ich Dich darum gebeten habe.“707

Abt Albert Schmitt versus Clemens August Graf von Galen Die Bischofswahl konnte unter den gegebenen Umständen also nicht stattfinden. Jetzt war Pacelli gefordert. Kaum eine Woche nach den Briefen von Donders und dem „Dorfschullehrer“ sowie dem Besuch Franckens in Rom, ließ er über Pizzardo den Pfarrer von St. Lamberti vom Heiligen Offizium überprüfen.708 Er hatte sich also entschlossen, neben Mönch auch Galen zur Wahl zu

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„Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 49r. „Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 49r. „Dorfschullehrer“ an Pacelli vom 22. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 49r. Clemens August an Franz von Galen vom 17. Mai 1933, zitiert nach Wolf, Clemens August (2006), S. 77. Vgl. Pizzardo an Canali vom 28. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 51r und Canali an Pizzardo vom 28. Juni 1933, ebd., Fol. 52r. 183

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stellen.709 Nun schien alles relativ zügig zu gehen. Am 1. Juli gab er Orsenigo zu verstehen, dass „auch der Ehrwürdige Herr Dr. Adolf Donders dem Heiligen Stuhl wissen ließ, seine Ernennung aus schweren und vielfältigen Gründen nicht akzeptieren zu können“710. Daher habe das Münsteraner Domkapitel gebeten, einen weiteren Kandidaten zu der auf eine Person zusammengeschrumpften Terna hinzuzufügen. Dies war vermutlich das spezifische Anliegen Franckens gewesen, das er Pacelli oder vielleicht sogar dem Papst persönlich vorgetragen hatte. Zwar entsprachen die römischen Kirchenfürsten dieser Bitte, jedoch stellte der Kardinalstaatssekretär klar, dass es sich dabei um einen ausnahmsweise gewährten Gnadenakt handle: „Der Papst gibt wohlwollend der Bitte des Kapitels statt, wenngleich Er bekräftigt, dass das Kapitel gemäß Konkordat nicht das Recht habe, dies zu verlangen, noch etwa der Heilige Stuhl die Pflicht, andere Kandidaten zu der vorangegangenen Terna hinzuzufügen, und nachdem Er festgestellt hat, dass die Genehmigung, die Er ausstellte, in keinem Fall als ein Präzedenzfall angerufen werden kann; Er beauftragte mich, zur angesprochenen Liste den Ehrwürdigen Herrn Clemens von Galen, Pfarrer von St. Lamberti in Münster, hinzuzufügen, der von vier Bischöfen und dem genannten Kapitel vorgeschlagen wurde.“711

Bevor der Nuntius jedoch das Domkapitel zur Wahl des künftigen Bischofs zwischen Mönch und Galen aufforderte, machte er gegen den Letztgenannten Bedenken geltend, die ihm kürzlich in einem vertraulichen Schreiben des Kölner Erzbischofs zugegangen waren.712 Schulte glaube – wie Orsenigo seinem Vorgesetzten schilderte –, über den Sachverhalt unterrichten zu müssen, auch wenn Galen nicht Kandidat für den Münsteraner Bischofsstuhl sei.713 Weil sich dies mittlerweile geändert hatte, reichte der Nuntius diese Information nach Rom weiter. Worum ging es? Genau darüber geben die Akten keinen Aufschluss. In seinem Bericht blieb der Nuntius absichtlich vage und sprach nur von „la persona incriminata“, sodass sich sogar die Tatsache, dass es sich dabei um

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Eine Audienznotiz, welche dokumentiert, dass die Hinzunahme Galens mit dem Papst abgesprochen war, konnte in den vatikanischen Akten nicht gefunden werden. „… anche il Rev.mo Monsignor Dr. Donders Adolfo faceva sapere alla Santa Sede di non poter accettare tale nomina per gravi e molteplici ragioni.“ Pacelli an Orsenigo vom 1. Juli 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 65rv, hier 65r. „LʼAugusto Pontefice, pur affermando che, a norma del Concordato, il Capitolo non avrebbe diritto alcuno di esigere, né la Santa Sede verun obbligo di aggiungere altri candidati alla terna precedente, e dopo aver stabilito che la concessione che Egli faceva non doveva in nessun caso essere invocata come un precedente, Si degnava di accogliere favorevolmente lʼistanza del Capitolo suddetto, e mi ordinava di aggiungere alla lista precedente il Rev. D. Clemente von Galen, parroco di San Lamberto in Münster, proposto da quattro Vescovi e dallo stesso Capitolo di Münster.“ Pacelli an Orsenigo vom 1. Juli 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 65v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 5. Juli 1933 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 67r. Damit gab Schulte übrigens zu, über die römische Terna Bescheid zu wissen, was eigentlich durch das so strikt geforderte secretum Sancti Officii unmöglich sein sollte. 184

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Galens Kandidatur handelte, erst aus der römischen Reaktion ergibt. Den Brief Schultes kopierte er bewusst nicht für das Nuntiaturarchiv. Das Original übersandte er an das Staatssekretariat. Doch in der dortigen Akte über den Münsteraner Besetzungsfall findet sich weder dieses noch die Ausfertigung des Nuntiaturberichts. Mit dem Pontifex besprach Pacelli diese Angelegenheit bereits drei Tage später, am 8. Juli.714 Eine Korrektur an der gefallenen Entscheidung nahmen sie jedoch nicht vor: „Es gibt keinen Grund, den Namen des Kandidaten zurückzuziehen. Aber man benachrichtige sofort den Abtprimas, damit er mit Nachdruck vorgeht.“715 Von diesem Hinweis aus lässt sich vermuten, worum es hier eigentlich ging. Es wurde bereits deutlich, dass Franz von Papen an der Münsteraner Bischofseinsetzung interessiert war. Als einer seiner „geistlichen Mentoren“716 – wie Ludwig Volk schrieb  – stand bei ihm im Hintergrund jedoch der Grüssauer Benediktinerabt, Pater Albert Schmitt.717 Dieser wandte sich schon im April 1933 an Papen und forderte für Münster einen Oberhirten, „der wenigstens in etwa den Erfordernissen der neuen Zeit Rechnung trägt. Die Entwicklungen der letzten Wochen haben mir nur noch tiefer die Überzeugung eingeprägt, daß wir für den Katholizismus nur dann etwas erhoffen können, wenn von der Hierarchie her ihm neue Richtlinien gegeben werden können. Der politische Katholizismus dagegen ist meines Erachtens so hoffnungslos kompromittiert, daß alle Wiederbelebungsversuche nichts mehr fruchten. Es kann also die eigentliche Führung im Katholizismus nur vom Religiösen her kommen. Und hier wird eben gerade der Episkopat die Rolle wieder einzunehmen haben, die ihm tatsächlich gebührt, die er aber meines Erachtens zu sehr an die Zentrumspartei und deren Führer abgetreten hat.“718

Die Kritik des Benediktiners am politischen Katholizismus und die Betonung der Erneuerung vom Religiösen her ist aufschlussreich, denn dadurch brachte er letztlich seine eigene Person als Münsteraner Oberhirten ins Spiel – einen Religiosen, der ganz aus der monastisch geschulten Spiritualität fernab von der gescheiterten Politik den Episkopat auf das Ureigentliche zurückführen würde. Folgerichtig unterstützte der Vizekanzler, der anlässlich der Reichskonkordatsverhandlungen in Rom weilte, beim Kardinalstaatssekretär die Kandidatur des Abtes,719 wobei

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Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 8. Juli 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 348, Fol. 76r. „Non è una ragione per ritirare il nome del candidato. Ma si avvisi subito lʼabate Primato perché proceda con energia.“ Audienznotiz Pacellis vom 8. Juli 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 348, Fol. 76r. Volk, Jahreswende, S. 315. Vgl. zu Abt Schmitt in Bezug auf die Münsteraner Sedisvakanz Lob, Albert, S. 200–202. Schmitt an Papen vom 24. April 1933, zitiert nach Volk, Jahreswende, S. 325 Anm. 7. Vgl. auch Morsey, Clemens August, S. 39f. 185

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Pacelli über das Verhältnis Papen-Schmitt von vornherein im Bilde war.720 Ebenso zwangsläufig führte die Ablehnung des politischen Katholizismus zu einer Kritik an Clemens August von Galen und seinem Bruder Franz, die als gemäßigter Teil des westfälischen Adels für ihre Zentrumstreue bekannt waren.721 Franz von Galen war von April 1932 bis zum Mai 1933 selbst Zentrumsabgeordneter im preußischen Landtag und arbeitete in dieser Zeit eng mit seinem Bruder in politicis zusammen – beide wurden als „zwei Pferde in einem Gespann“722 wahrgenommen. Das bedeutete auch, dass eine Diffamierung des einen gleichzeitig die des anderen bedeutete. Genau dies schien hier nun der Fall zu sein, denn Pacelli telegraphierte am 13. Juli, also wenige Tage nach der angesprochenen Audienz, an Orsenigo, dass der Papst nicht meine, dass „die Anklage gegen [den] Bruder [sc. Franz, R.H.] [von] Monsignore Galen [sc. Clemens August, R.H.] ausreichend begründet sei, um die schon erfolgte Ernennung zurückzuziehen“723. Die knapp skizzierten Überlegungen legen also nahe, dass einerseits Papen zugunsten seines Freundes Abt Albert intervenierte,724 wofür er außerdem Unterstützung im NSDAP-geführten preußischen Kultusministerium erhielt.725 Andererseits gab es offenbar eine Initiative in Form einer Anklageschrift gegen Franz beziehungsweise Clemens August, die von Abt Albert ausging – womöglich in Gemeinschaft mit dem ihm befreundeten Abt von Maria Laach, Ildefons Herwegen,

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So teilte ihm im Juni Kardinal Bertram über Papen Folgendes mit: „Was die Person des Vizekanzlers von Papen betrifft, so ist er zweifellos von den besten Absichten in kirchlicher und patriotischer Hinsicht belebt. Doch ist, soweit ich es beurteilen kann, seine Ansicht von der zukünftigen Lage der Kirche in Deutschland zu optimistisch. In kirchlicher Hinsicht sind seine Anschauungen, wie die Anschauungen sehr vieler katholischer Adeliger, stark beeinflusst sowohl durch die Tendenzen der führenden politischen Kreise der Wilhelminischen Zeit, wie durch die Benediktiner-Äbte von Maria-Laach, Beuron und Grüssau, die keine Fühlung mit den Bischöfen und mit dem Pfarrklerus haben, daher alles ohne engeren Kontakt mit den Sorgen, Kämpfen und Erfahrungen der Gegenwart beurteilen. Aus diesem Grunde muss manches in der Diagnose und Prognose der Anschauungen des Herrn von Papen mit einiger Vorsicht beurteilt werden.“ Bertram an Pacelli vom 23. Juni 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1950, Pos. 645 P.O., Fasz. 162, Fol. 89rv, hier 89r-v. Vgl. zur politischen Ausrichtung der Gebrüder Galen Kuropka, Brüder; Wolf, Clemens August (2006), S. 65–74. Wolf, Clemens August (2006), S. 69. „… accusa mossa contro fratello Monsignor Galen sia motivata sufficientemente per ritirare designazione già fatta.“ Pacelli an Orsenigo vom 13. Juli 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 68r. Dass Papen gleichzeitig ausdrücklich gegen die Gebrüder Galen einwirkte, ist unwahrscheinlich, insofern diese mit dem ehemaligen langjährigen Zentrumspolitiker eine durchaus freundschaftliche Beziehung verband und sie sich noch 1932/​33 dafür einsetzten, dass die Zentrumspartei die Regierung Papen tolerierte. Vgl. dazu Kuropka, Teuflisches, S. 119–123; Wolf, Clemens August (2006), S. 69–71. Darüber hinaus übersandte Papen Galen nach der Bischofsweihe seine freundschaftlichen Glückwünsche. Vgl. Galens Antwort an Papen vom 27. November 1933, abgedruckt bei Kuropka (Hg.), Streitfall, S. 488–492 (Nr. 34). Vgl. Lob, Albert, S. 202. 186

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wofür sprechen könnte, dass das Schreiben an den Kölner Erzbischof ging. Dieser leitete die Schrift an Orsenigo, dieser schließlich an Pacelli weiter. Welche inhaltlichen Anschuldigungen sie enthielt, muss offen bleiben. Wichtiger ist jedoch, dass Papst und Staatssekretär die Invektiven nicht nur nicht billigten, sondern auch offensichtlich anordneten, dass der Abtprimas des Benediktinerordens, Fidelis von Stotzingen, die beiden Äbte oder zumindest Abt Albert in die Schranken wies.726

Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil drei: Clemens August Graf von Galen Nach den erfolglosen Bemühungen Papens und Alberts stand dem zweiten Wahlgang in Münster nun endlich nichts mehr im Wege. Noch am 13. Juli, an dem Pacelli ihm mitteilte, dass die Kandidatur Galens fortbestand, unterrichtete der Nuntius den Münsteraner Dompropst davon, dass Pius XI. den Grafen als vierten Kandidaten für die Bischofswahl designiert habe.727 Diesen wählte daraufhin das Domkapitel am 18.  Juli einstimmig zum neuen Bischof von Münster und legte dessen Namen dem Kultusministerium vor. Anders als beim ersten Wahlgang, als man zunächst das Einverständnis der preußischen Regierung abgewartet hatte, machte Donders der Nuntiatur umgehend von diesem Ergebnis Mitteilung.728 Die Domherren befürchteten, dass sich die Verzögerung nach dem ersten Wahlgang nun wiederholen könnte und baten Orsenigo daher, sich für das baldige staatliche Plazet und eine rasche römische Approbation einzusetzen. Der Nuntius nutzte die Gelegenheit des Antrittsbesuchs des preußischen Kultusministers Rust am 3. August, um dieser Bitte zu entsprechen. Wie er am nächsten Tag dem Kardinalstaatssekretär berichtete, habe er den Minister gefragt, ob die Kapitelsanfrage bereits beantwortet sei: „Er versicherte mir, dass sie in kurzer Zeit kommen wird; er gab mir jedoch zu verstehen, dass sie gerade die politischen Aktivitäten dieses Priesters in der Vergangenheit untersuchten; ich sagte ihm, dass er, soweit mir bekannt ist, immer ein Mann war, der über den Parteikämpfen steht.“729 726

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Eine Spur davon findet sich womöglich in einem Schreiben Alberts an Herwegen aus dem Kontext des Berliner Besetzungsfalls desselben Jahres 1933. Hierin bedauerte er, dass „Rmns Abt Primas … gegen eine solche Erhebung“, nämlich seiner und Herwegens zum Bischof von Berlin, sei. Albert an Herwegen vom 17. November 1933, zitiert nach Lob, Albert, S. 203. Vgl. Orsenigo an Donders vom 13. Juli 1933 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 69r. Weisungsgemäß insistierte er auf der Präzedenzklausel und zum wiederholten Male auf der Diskretion. Vgl. Donders an Orsenigo vom 18. Juli 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 70rv. „Mi assicurò che lo sarà fra breve, lasciandomi però comprendere che erano in corso delle indagini circa lʼattività politica di questo Sacerdote nel passato; gli ho detto che a quanto mi constava è stato sempre uomo superiore alle lotte partigiane.“ Orsenigo an Pacelli vom 4. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1939, Pos. 646 P.O., Fasz. 171, Fol. 30r–31r, hier Fol. 30v. Die Forschung bestätigt die 187

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Die gewünschte positive Rückmeldung der Regierung erging jedoch nicht so schnell, wie erhofft. Gegen Galen, den Orsenigo bereits am 8. August über seine Wahl zum Bischof von Münster informierte,730 regte sich auch von Seiten der lokalen Leitung der NSDAP Widerstand. Wie Donders dem Nuntius am 14. August mitteilte, sei, „wie es scheint, durch unvorsichtige Äußerungen aus Regierungskreisen bekannt geworden“731, dass Graf Galen vom Kapitel gewählt worden sei. Er informierte Orsenigo auch darüber, dass die örtlichen Vertreter der Nationalsozialisten gegen die Bestätigung der preußischen Regierung agitieren würden. Die Einwände resultierten für den Dompropst aus der schlichten Erkenntnis jener Kreise, „dass der Erwählte als Bischof die Rechte der Kirche restlos vertreten würde. Wirkliche allgemeine politische Bedenken lassen sich gegen ihn nicht vorbringen.“732 Donders hatte recht, die Hoffnung auf das Plazet der Regierung wurde nicht enttäuscht. Am 27. August erhielt das Münsteraner Domkapitel die ersehnte Nachricht, „dass Bedenken gegen die Wahl des Pfarrers Grafen von Galen nicht erhoben werden“733, was Donders sofort an die Berliner Nuntiatur weitergab. Die vom mittlerweile abgeschlossenen Reichskonkordat festgelegte Frist von 20 Tagen, innerhalb derer die Antwort eigentlich hätte erfolgen müssen, war bereits zweimal verstrichen. Freilich war das Konkordat erst zwei Tage nach der Anfrage zwecks politischer Bedenken unterzeichnet und bislang noch gar nicht ratifiziert worden. Daher nahmen sowohl Domkapitel als auch Nuntius und Kurie diese Verzögerung stillschweigend hin.734 Orsenigo telegraphierte die Nachricht am nächsten Tag an Pacelli, der ihn wiederum umgehend aufforder-

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Auffassung des Nuntius. Vgl. die Einschätzung Kuropkas: „Bei allem Sinn für Politisches und vor allem Sozialpolitisches vertrat Galen jedoch – wie er sich in einem Brief an die Germania ausdrückte – ‚nicht parteipolitische, sondern katholische‘ Interessen.“ Kuropka, Clemens August (1989), S. 104. Vgl. auch Imbusch, katholische Interessen. Vgl. die Notiz aus dem Terminkalender Galens bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. LXXX. Donders an Orsenigo vom 14. August 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 73r. Donders an Orsenigo vom 14. August 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 73r. Bereits zwei Wochen zuvor hatte Donders den Nuntius von Einwänden gegen den Gewählten informiert. Das Domkapitel hatte einen Brief erhalten, den Donders Orsenigo übersandte. Dieses Schriftstück findet sich wiederum nicht in den vatikanischen Unterlagen über die Besetzung des Münsteraner Bischofsstuhls, sodass nicht klar ist, von wem er stammte und was genau er beinhaltete. Die Bekundung des Unverständnisses seitens des Dompropstes deutet jedoch den Inhalt an: „Der Electus ist doch solcher Art für Kirche und Vaterland stets eingetreten, dass über ihn nach unserem Ermessen längere ‚Erwägungenʻ nicht notwendig sind.“ Donders an Orsenigo vom 1. August 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 71rv, hier 71r-v. Hervorhebung im Original. Donders an Orsenigo vom 27. August 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 74r. Das Konkordat sorgte für eine kurze Phase der Entspannung und war wohl mit ein Grund dafür, dass von preußischer Seite gegen Galen keine politischen Bedenken geltend gemacht wurden. Vgl. Wolf, Clemens August (2006), S. 78f. 188

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te, das Einverständnis Galens einzuholen.735 Daher lud Orsenigo den Münsteraner Pfarrer am 30. August in die Nuntiatur vor, was Galen am späten Nachmittag des 4. September wahrnahm.736 Um keine Gerüchte aufkommen zu lassen und die Diskretion zu wahren, zelebrierte er am Morgen des Tages noch die übliche Messe in St. Lamberti und machte sich erst anschließend auf den Weg nach Berlin. Das dortige Gespräch mündete in die Zustimmung des Grafen, die der Nuntius einen Tag darauf knapp an den Kardinalstaatssekretär telegraphierte.737 Nachdem dieser erfahren hatte, dass Galen seine Wahl akzeptierte, beauftragte er noch am 5. September den Sekretär der Konsistorialkongregation Rossi damit, die Ernennungsbullen anfertigen zu lassen.738 Genau einen Monat später trafen sie bei Galen in Münster ein.739 Am 11. September wurde die Nomination im „Osservatore Romano“ publiziert.740 Außerdem unterrichtete Orsenigo das Domkapitel zur selben Zeit amtlich über die päpstliche Nomination, die Kapitelsvikar Meis umgehend im Kirchlichen Amtsblatt der Diözese Münster mit der Anordnung verlautbarte, das Ende der Sedisvakanz am nächsten Sonntag in allen Kirchen zu verkünden.741 Der neue Bischof verfasste als erstes ein Ergebenheits- und Dankesschreiben an Pius XI., in dem er feierlich versprach, „den Gehorsam und die Ehrerbietung gegenüber dem Heiligen Apostolischen Stuhl und die erhabenste Person des Heiligen Vaters, die ich als Junge mit Gottes Hilfe von meinen frommen Eltern und Vorfahren erhalten und durch einunddreißig Jahre meines Priestertums unverletzt bewahrt habe, als Bischof nicht nur selbst zu beobachten, sondern auch niemals aufhören werde, bei den mir Unterstellten, die unser Herr Jesus Christus, der Hirte der Seelen, geruhte, durch die Anordnung und den Befehl Eurer Heiligkeit meiner

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 28. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 57r und Pacelli an Orsenigo vom 29. August 1933 (Entwurf), ebd., Fol. 58r. Vgl. Galen an Orsenigo vom 31. August 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 75r. Vgl. auch wiederum die Notiz aus dem Terminkalender Galens bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. LXXX. Vgl.: „Parroco von Galen proposto per Diocesi Muenster accetta.“ Orsenigo an Pacelli vom 5. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 61r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 5. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 60r. An diesem Datum orientiert sich die amtliche Nomination. Vgl. AAS 25 (1933), S. 467. Im Geheimen Konsistorium am 16. Oktober wurde Galen dann präkonisiert. Vgl. ebd., S. 454. Vgl. die Notiz im Brief P. Augustinusʼ von Galen an Franz von Galen vom 7. Oktober 1933, auszugsweise abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 14f. (Nr. 11). Bei ebd., S. LXI steht irrtümlich, dass die Ernennungsbullen bereits am 11. September eingetroffen seien. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 8. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 62r und den Entwurf der Anzeige, ebd., Fol. 63r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 213 vom 11.–12. September 1933. Vgl. „Ernennung des neuen Bischofs“ vom 12. September 1933, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster Nr. 15 vom 13. September 1933, auch abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 2 (Nr. 1). 189

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Schwäche anzuvertrauen, durch Beispiel und Wort nach Kräften zu fördern und zu stärken.“742

Wenige Tage später ließ er eine Grußadresse an den Kardinalstaatssekretär folgen, in der er die Annahme äußerte, dass dieser wegen seiner intimen Kenntnis Deutschlands „nicht geringen Anteil an unserer Sorge um die Wiederbesetzung unseres so lange verwaisten Bischofsstuhles genommen und zu seiner Wiederbesetzung, als vertrautester Mitarbeiter des Papstes, wirksam beigetragen“743 habe. Der Graf glaubte, dass Pacelli auf Basis seiner Erfahrungen aus der Berliner Nuntiaturzeit dem Papst versichert habe, in ihm „einen unbedingt ergebenen Diener und gehorsamen Sohn“744 des Heiligen Stuhls zu besitzen. Wie schon gegenüber dem Papst selbst versprach er, „diesen Ruhm jedes treuen Katholiken und jedes katholischen Bischofs zu verdienen und bis zum letzten Atemzug zu bewahren“745. Kardinal Schulte habe zugesagt, ihm im Münsteraner Dom am 28. Oktober, dem Fest der Apostel Simon und Judas, die Bischofsweihe zu spenden. Galen kündigte Pacelli jetzt bereits an, im Frühjahr 1934 nach Rom zu kommen, um dem Papst und seinem Staatssekretär seine Aufwartung zu machen.746

Die Frage der Eidesleistung Wie eingangs erwähnt musste der ernannte Bischof – als erster nach Abschluss des Reichskonkordats – den Treueid ablegen, bevor Weihe und Inthronisation stattfinden konnten. Artikel 16 des am 20. Juli von Pacelli und Papen unterzeichneten Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich verpflichtete die Bischöfe, den Eid vor der Inbesitznahme eines Bistums dem zuständigen Reichsstatthalter oder dem Reichspräsidenten gegenüber zu leisten. Höchstwahrschein-

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„… erga Sanctam Sedem Apostolicam et erga augustissimam personam Summi Pontificis oboedientiam et devotionem, quas Deo favente a piis parentibus et progenitoribus puer suscepi, et per undetriginta annos sacerdotii intemeratas custodivi, ad episcopale munus evectus non tantum ipse observare, sed etiam subditis, quos Dominus noster Jesus Christus, pastor animarum, per Sanctitatis Vestrae jussionem et mandatum infirmitati meae promittere dignatur, exemplo et verbo pro viribus fovere et promovere nunquam desinam.“ Galen an Pius XI. vom 12. September 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 2f. (Nr. 2). Vgl. Galen an Pacelli vom 15. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 64rv, hier 64r. Galen an Pacelli vom 15. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 64r. Galen an Pacelli vom 15. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933, Pos. 640 P.O., Fasz. 156, Fol. 64r. Dieses Vorhaben setzte er am 15. Mai 1934 in die Tat um. Vgl. die Notiz aus dem Terminkalender Galens bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. LXXXII. 190

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lich war dies auch ein zentrales Thema, das Galen und Orsenigo in der Audienz am 4. September gemeinsam erörtert hatten. Denn bereits am nächsten Tag sandte der Nuntius dem Kardinalstaatssekretär seine Zweifelsfragen hinsichtlich der Applikation des genannten Artikels zu.747 Bezog sich der Artikel 16 auf alle deutschen Bischöfe, also auch auf die konkordatsgebundenen preußischen, bayerischen und badischen Oberhirten? Und: Gesetzt den Fall, es gäbe Schwierigkeiten, den Eid in die Hand des Reichspräsidenten zu leisten und man stattdessen auf den Reichsstatthalter ausweichen müsste, jedoch innerhalb derselben Diözese mehrere Statthalter amtierten, sollte dann der Eid vor dem abgelegt werden, der für die bischöfliche Residenzstadt zuständig war? Dies betraf konkret das Münsteraner Bistum, das nämlich auch Teile des Reichsstatthalterbezirks Oldenburg umfasste.748 Falls Pacelli dieser zweiten Interpretation zustimme, solle er dann  – so Orsenigo  – mit der Regierung die nötige Absprache treffen oder lieber abwarten, bis nach der Ratifikation ein konkreter Fall eintrete? Die Ratifikation erfolgte wenig später am 10. September, sodass mit dem konkreten Fall natürlich kein anderer als die aktuelle Besetzung des Münsteraner Bischofsstuhls angesprochen war. Weil der Nuntius in den Urlaub wollte, bat er den Kardinalstaatssekretär abschließend um eine baldige Antwort, insbesondere dann, wenn die genannte Verhandlung mit den Regierungsvertretern noch geführt werden musste. Er hoffte jedoch, dass Galen den Eid vor Reichspräsident Paul von Hindenburg ablegen konnte, der – wie er vermutete – im Oktober gewiss wieder aus seinem Urlaub zurückgekehrt und in Berlin sein werde. Pacelli bejahte drei Tage später die beiden Fragen zur Anwendung des Konkordatsartikels.749 Zur zweiten erklärte er wörtlich: „… es scheint natürlich, dass, falls es für den neuen Oberhirten nicht möglich ist, den Eid in die Hände des Reichspräsidenten zu leisten, er vor dem Reichsstatthalter desjenigen Landes ausgesprochen werden muss, in dessen Gebiet sich die Residenz des Bischofs befindet.“750 Außerdem sprach seiner Ansicht nach nichts dagegen, diesbezüglich mit der Regierung zur angemessenen Zeit Kontakt aufzunehmen. Orsenigo stand ohnehin in andauernden Verhandlungen mit den staatlichen Stellen über die Interpretation verschiedener Konkordatsbestimmungen.751 Bei seinem nächsten Gespräch mit dem Ministerialdirektor des 747

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 5. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 29rv. Als weiteres Beispiel nannte Orsenigo das Bistum Osnabrück, das Zuständigkeitsgebiete der Reichsstatthalter von Hamburg und Mecklenburg umfasste. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 8. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 32r. „… sembrar naturale, che qualora non sia possibile al nuovo Pastore di prestare il giuramento nelle mani del Presidente del Reich, esso sia emesso davanti al Luogotenente dello Stato, nel cui territorio si trova la residenza del Vescovo.“ Pacelli an Orsenigo vom 8. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 32r. Vgl. dazu insbesondere die Korrespondenzen in S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172 und die Aufzeichnungen bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III. 191

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Innenministeriums, Rudolf Buttmann, brachte er die Zuständigkeitsfrage des Reichsstatthalters zur Sprache.752 Laut einer Aufzeichnung des Vatikanreferenten des Auswärtigen Amtes, Fritz von Menshausen, waren Orsenigo und Buttmann in der römischen Auffassung übereingekommen, dass bei einer Ausdehnung eines Bistums auf mehrere deutsche Länder derjenige Reichsstatthalter den Eid abnehmen müsse, in dessen Zuständigkeitsbereich die Bistumshauptstadt lag.753 Im konkreten Fall wäre also der Reichsstatthalter von Preußen zuständig und das war niemand anders als der Reichskanzler, Adolf Hitler, wobei dieser seine Verpflichtungen dem Ministerpräsidenten Göring übertragen hatte. Für das Innenministerium war allerdings auch der Vollzug vor dem Reichspräsidenten zulässig, zumal der Artikel 16 des Konkordats dies expressis verbis als Möglichkeit deklarierte.754 Noch im September konferierte Orsenigo mit Menshausen selbst über diese Frage, wie sich dieser am 6. Oktober notierte: „Es handele sich hier um einen besonders gelagerten Fall, da das Bistum Münster über preußisches Gebiet nach Oldenburg hineinrage und dadurch die Frage auftauchen könnte, daß für die Vereidigung nicht nur der Reichsstatthalter von Preußen, sondern auch der von Oldenburg755 zuständig sei. Der Heilige Stuhl betrachte es als nicht angängig, daß etwa der Treueid des betreffenden Bischofs zweimal geleistet werde.756 Er lege vielmehr größten Wert darauf, daß nicht nur wegen dieser besonderen Umstände, sondern auch weil es sich um den

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Dass Orsenigo eine Unterredung mit Buttmann zu diesem Zeitpunkt führte, in der es vornehmlich um die Interpretation des Artikels 14 des Reichskonkordats ging und der Staatsbeamte einen Rombesuch ankündigte, geht aus einem Bericht vom 9. September hervor. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 9. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 18r–19r. Allerdings schrieb er darin nichts von einer Diskussion über die Eidesfrage. Doch vermutlich wurde sie trotzdem bei dieser Besprechung geführt, da Buttmann auf die Anfrage des Vatikanreferenten des Auswärtigen Amtes Menshausen angab, mit Orsenigo über dieses Thema kürzlich gesprochen zu haben. Vgl. die Hinweise in der Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 12–14 (Nr. 9), hier 12. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 12–14 (Nr. 9). Im deutschen Vertragstext hieß es: „… in die Hand des Reichsstatthalters in dem zuständigen Lande beziehungsweise des Reichspräsidenten …“ Für das „beziehungsweise“ stand in der italienischen Fassung „oppure“, das Buttmann mit „oder“ übersetzte. Daher war dem Ministerialdirektor die Legitimität beider Varianten unzweifelhaft. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 13. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 82. Seit Anfang Mai des Jahres war das Carl Röver (1889–1942). Vgl. über ihn Heinonen, Anpassung, S. 19 Anm. 2. Dass dies auch eine Sorge des neuen Bischofs war, geht aus einem Schreiben seines Bruders Augustinus an Franz von Galen hervor: „Abschrift des Briefes [sc. von Clemens August an Frick vom 7. Oktober, s.u., R.H.] schickt er an Papen mit dem Ersuchen, seine Bitte zu unterstützen, zumal er sonst den Eid eventuell vor dem preußischen und dem oldenburgischen Statthalter ablegen müßte!“ P. Augustinus an Franz von Galen vom 7. Oktober 1933, auszugsweise abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 14f. (Nr. 11), hier 14f. 192

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ersten Fall der im Reichskonkordat vorgesehenen Vereidigung handele, der Treueid von dem Herrn Reichspräsidenten persönlich entgegengenommen werde.“757

Menshausen setzte sich daraufhin mit Ministerialdirektor Buttmann in Verbindung, der ihm erklärte, das Thema bereits mit Orsenigo erörtert zu haben. Vermutlich hatte sich Galen bei seiner Audienz in der Berliner Nuntiatur am 4. September nachdrücklich dafür ausgesprochen, den Eid vor Paul von Hindenburg abzulegen. Es war nicht nur sein besonderer Wunsch, weil er diesem persönlich sehr verbunden war. Sondern er, der Nuntius und offensichtlich auch Pacelli hielten dies angesichts der Tatsache, dass es sich um die erste Anwendung des Konkordats handelte, für angemessener. Gewiss wollten sie diesen Akt auch nicht unbedingt vor einem NSDAP-Funktionär oder gar dem Reichskanzler vollziehen, wenn es sich vermeiden ließe. Deshalb hatte Orsenigo diese Variante so nachdrücklich vor dem Vatikanreferenten bekräftigt. Kurz nach dem Gespräch mit Menshausen reiste Orsenigo in die norditalienische Lombardei, um sich zu erholen. Stellvertretend für ihn sprach Auditor Carlo Colli noch einmal beim Vatikanreferenten vor, worüber er anschließend Pizzardo in Kenntnis setzte.758 Laut der Aufzeichnung des Staatsbeamten reagierte Colli auf ein Schreiben Galens, in dem dieser darum gebeten habe, die nötigen Schritte einzuleiten, damit er den Eid rechtzeitig ablegen und die Weihezeremonie am 28. Oktober wie geplant stattfinden könne. Der Auditor habe erneut das Ansinnen vorgebracht, dass Hindenburg den Eid Galens entgegennehmen möge. Dem habe er – so Menshausen  – erwidert, dass der Eid „ein innerdeutscher Staatsakt sei“759 und der Graf sich daher an das Reichsinnenministerium zu wenden habe. Colli habe ihn am 5. Oktober noch einmal angerufen und erklärt, eine verbindliche Mitteilung aus Rom erhalten zu haben, wonach „der Treueid der Bischöfe grundsätzlich in die Hand des Herrn Reichspräsidenten zu leisten sei und nur in dessen Behinderungsfall von den zuständigen Reichsstatthaltern abgenommen werden müsse“760. Damit generalisierte er die Aussage Pacellis, die offenbar vor allem auf den aktuellen Sonderfall gemünzt war. Dementsprechend hatte auch Orsenigo anders als Colli die Präferenz für den Reichspräsidenten als eigentlichen und ordentlichen Empfänger der Eidesleistung offensichtlich noch nicht als generelle Lösung gegenüber der staatlichen Seite vertreten, sondern lediglich für den aktuellen Fall reklamiert. Dass Colli nun damit aufwartete, zeigt eine gewisse diplomatische Unsicherheit des Auditors, die auch prompt eine ablehnende Reaktion des Vatikanreferenten hervorrief: „Ich erwiderte dem Geschäftsträger, daß mir von einer solchen

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Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 12. Vgl. Colli an Pizzardo vom 7. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1945, Pos. 647 P.O., Fasz. 172, Fol. 33r–34r und Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 13f. Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 13. Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 13. 193

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Auslegung des Art[ikels] 16 nichts bekannt sei und daß sie mir auch nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut des Artikels berechtigt erscheine.“761 Denn schließlich werde der Reichsstatthalter vor dem Reichspräsidenten genannt, woraus doch zu schließen sei, dass man für die Abnahme des Eides zunächst an ersteren gedacht habe. Freilich könne er das nicht abschließend entscheiden. Dies stünde dem Innenministerium zu, wobei das Auswärtige Amt den Wunsch des Heiligen Stuhls für den konkreten Fall des Bischofs von Münster gerne unterstützen wolle. Die Unterredung endete mit der Übereinkunft, dass Colli Galen auffordern werde, sich direkt mit dem Reichsinnenministerium in Verbindung zu setzen. Der gewählte Bischof erledigte dies bereits am 7. Oktober mit einem Brief an den Reichsinnenminister, Wilhelm Frick.762 Als möglichen Zeitraum, in dem er nach Berlin oder auf das Gut Neudeck – die Altersresidenz des Reichspräsidenten – kommen könne, peilte Galen den 16. bis 20. des Monats an, also gut eine Woche vor den Inthronisationsfeierlichkeiten. Frick informierte das Büro des Reichspräsidenten über die Bitte Galens, unterstützte sie aber nicht.763 In erster Linie sei der Reichsstatthalter für die Abnahme des Eides zuständig. Nur wenn dieser verhindert sei oder sich das Diözesangebiet auf mehrere Reichsstatthaltergebiete erstrecke, denke das Konkordat an den Reichspräsidenten. Obwohl das auf den aktuellen Fall zutraf, präferierte Frick im „Interesse einer einheitlichen Praxis, die schon jetzt anzustreben wäre“764, dass Paul von Hindenburg die Entgegennahme des Eides an den preußischen Reichsstatthalter delegiere. Das Reichspräsidialamt folgte dieser Empfehlung und entgegnete am 17. Oktober, dass die Vereidigung durch den Reichskanzler als Reichsstatthalter für Preußen erfolgen solle.765 Hitler betraute – offenbar auch für die Regierungskreise unerwartet – dann aber den preußischen Ministerpräsidenten Göring

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Aufzeichnung Menshausens vom 6. Oktober 1933, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 13. Vgl.: „Da es das erste Mal nach Abschluß des Konkordats sein wird, daß diese feierliche Handlung vollzogen wird, erlaube ich mir, den Wunsch auszusprechen, daß es mir vergönnt werden möge, den Treueid in die Hand des Herrn Reichspräsidenten selbst ablegen zu dürfen. Mir persönlich würde es eine große Ehre und aufrichtige Freude sein, dabei Gelegenheit zu haben, der ehrwürdigen Person des General-Feldmarschalls von Hindenburg, den das ganze deutsche Volk als den Vater des Vaterlandes verehrt und liebt, meine ehrfurchtsvolle Huldigung darbringen zu können.“ Galen an Frick vom 7. Oktober 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 13f. (Nr. 10), hier 13. Eine Abschrift des Schreibens sandte Galen auch an Franz von Papen, mit der Bitte, sein Anliegen zu unterstützen. Vgl. den Hinweis bei P. Augustinus von Galen an Franz von Galen vom 7. Oktober 1933, auszugsweise abgedruckt ebd., S. 14f. (Nr. 11). Vgl. Frick an das Büro des Reichspräsidenten vom 12. Oktober 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 19f. (Nr. 15). Frick an das Büro des Reichspräsidenten vom 12. Oktober 1933, Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 20. Vgl. Löffler, Bischof I, S. 20 Anm. 3; Heim, Bischöfe, S. 84. Der Staatssekretär in der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, wurde ebenfalls von dieser Entscheidung in Kenntnis gesetzt. 194

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mit dieser Aufgabe. Auf Anweisung Ministerialrats Richard Wienstein legte Oberregierungsrat Willy Meerwald als Termin den 24. Oktober, dann – wohl um der Bitte Galens zu entsprechen – den 19. Oktober fest. Zur Mittagszeit wurde der neue Bischof nach Berlin geladen, wo er in Gegenwart hochrangiger Staatsbeamter – unter anderem war Kultusminister Rust anwesend – seine Eidesformel sprach.766 Das unterschiedliche Verständnis, das Galen und Göring dem Eid und seinen rechtlichen Konsequenzen entgegenbrachten, ließ sich bereits aus den Reden entnehmen, die beide während des Aktes hielten. Gut zehn Jahre später warf Göring dem Münsteraner Bischof vor, durch seine Predigten und Reden gegen das nationalsozialistische Regime seinen Eid zu brechen.767 Clemens August argumentierte genau umgekehrt, nämlich, dass er durch sie gerade seiner eidlichen Verpflichtung nachkomme, „jeden Schaden nach Kräften zu verhüten, der das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens bedrohen könnte“768.

Besitzergreifung, Bischofsweihe und Inthronisation Nachdem Galen den Treueid geleistet hatte, stand seiner Einsetzung als Bischof von Münster nichts mehr im Wege. Am Freitag, den 27. Oktober, legte er dem Domkapitel seine Ernennungsbulle vor, wodurch er vom Bistum Besitz ergriff. Am folgenden Tag769 wurde er durch Kardinal Schulte unter Assistenz der Diözesanbischöfe Berning und Bornewasser770 sowie des Münsteraner Weih-

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Vgl. die amtliche preußische Pressemeldung vom 19. Oktober, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 20f. (Nr. 16). Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 84f. Wienstein wertete die Abnahme durch den preußischen Ministerpräsidenten als einen Verstoß gegen die Konkordatsbestimmung. Da aber eine zweite Vereidigung durch den Reichspräsidenten oder den preußischen Reichsstatthalter nicht infrage kam, ließ er die Sache auf sich beruhen. Vgl. Wienstein an Lammers vom 31. Oktober 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 45f. (Nr. 22). Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 85. Vgl. Göring an Galen vom 5. März 1942, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof II, S. 938f. (Nr. 364). Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 85f. Galen an Göring vom 16. März 1942, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof II, S. 947f. (Nr. 368), hier 948. Zu Beginn der zweiten Oktoberwoche war der Termin der Öffentlichkeit kommuniziert worden. Vgl. den Erlass des Kapitelsvikars „Konsekration und Inthronisation des Hochwürdigsten Herrn Bischofs“ vom 9. Oktober 1933, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster Nr. 18 vom 10. Oktober 1933, auch abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 16 (Nr. 12). Graf Galen sah in der Präsenz des Kölner Kardinals und der Bischöfe von Osnabrück und Trier ein Zeichen der Einheit und Verbundenheit der Kölner Kirchenprovinz, wie er nach der Weiheliturgie im Borromäum bekannte. Vgl. „Der Weihetag des Bischofs. Die weltliche Feier im Collegium Borromäum“, in: „Münsterischer Anzeiger“ Nr. 1143 vom 31. Oktober 1933, auch abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 38–45 (Nr. 21). 195

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bischofs, Johannes Scheifes, im Münsteraner Dom zum Bischof geweiht und anschließend auf dem Stuhl des heiligen Ludgerus inthronisiert.771 Auf Einladung Galens nahm an der Zeremonie wie am anschließenden Festakt im Collegium Borromäum auch der nationalsozialistische Oberbürgermeister, Albert Anton Hillebrand, teil, der dem neuen Oberhirten versicherte, „alle Anregungen Eurer Bischöflichen Gnaden zum Wohle der alten und schönen Bischofsstadt Münster und ihrer Einwohner in weitherzigster Weise in den städtischen Kollegien zu vertreten und in jeder Weise allen kirchlichen Bestrebungen tatkräftiger Förderer zu sein“772. Während des Festakts brachte ihm Galen das Vertrauen zum Ausdruck, dass „der Herr Oberbürgermeister in diesem Sinne traditionsmäßig die Verwaltung führen wird, und daß die alte katholische Kultur Münsters erhalten bleibt“773. Kardinal Schulte betonte in seinem Grußwort die breite Zustimmung, welche die Wahl des Grafen im Klerus und Volk gefunden habe: „Bei Ihnen, Hochwürdigster Herr Bischof, hat das ganz besondere Bedeutung. Kommen Sie doch aus einem Adelsgeschlecht, das unserer heiligen Kirche schon mehrere Bischöfe geschenkt hat, deren Namen ihren leuchtenden Glanz nie mehr verlieren werden. Und da Klerus und Bevölkerung Ihrer Erhebung zur bischöflichen Würde so freudig zustimmen, dann liegt darin auch ausgesprochen die bestimmte Hoffnung und Zuversicht, daß auch dieser Sproß desselben Grafengeschlechts ein würdiger und vorbildlicher Bischof werden wird, eine Zierde für Volk und Vaterland, für Staat und Kirche.“774

Auch der Vorsitzende des westfälischen Oberpräsidiums, Ferdinand Freiherr von Lüninck, nahm am Empfang teil und hielt dort eine Ansprache, „die bei Graf von Galen auf wenig Gegenliebe stieß“775. Ebenfalls hochrangige SA-Mitglieder waren zugegen, sodass – gerade auch angesichts der bei den liturgischen Feierlichkeiten anwesenden Abordnungen der SA und des Stahlhelms – der Eindruck erweckt wurde, „als seien weite Teile der Partei mit dem neuen Bischof und seiner politischen Einstellung einverstanden“776. Dies war aber nur eine nach außen

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Vgl. zum liturgischen Ablauf das Programm zur Bischofsweihe am 28. Oktober 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 22–24 (Nr. 18); die vom neuen Bischof nach der Inthronisation gehaltene Ansprache, ebd., S. 25–28 (Nr. 19). Hillebrand an Galen vom 20. Oktober 1933, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 21f. (Nr. 17), hier 22. „Der Weihetag des Bischofs. Die weltliche Feier im Collegium Borromäum“, in: „Münsterischer Anzeiger“ Nr. 1143 vom 31. Oktober 1933, Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 41. „Der Weihetag des Bischofs. Die weltliche Feier im Collegium Borromäum“, in: „Münsterischer Anzeiger“ Nr. 1143 vom 31. Oktober 1933, Löffler (Bearb.), Bischof I, S. 44f. Heim, Bischöfe, S. 87. Heim, Bischöfe, S. 87. 196

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zur Schau gestellte Einmütigkeit, die nicht den Tatsachen entsprach – schon wenige Wochen nach seiner Inthronisation konnten sich NS-Funktionäre mit Galens Protesten gegen die nationalsozialistische Ideologie und Menschenverachtung auseinandersetzen. In Berlin hatte man den für national-konservativ gehaltenen Grafen falsch eingeschätzt.777 So schrieb der Münsteraner Rechtsanwalt Adolf ten Hompel, Katholik und begeisterter Nationalsozialist, schon knapp eine Woche vor der Bischofsweihe an einen Bekannten mit der Bitte um Weiterleitung an Hitler: In Münster „und nicht in Köln, München oder Breslau, ist die Hochburg Roms in Deutschland. Hier fällt mit Galen die Entscheidung. Hier reiben sich die Kapitulare und Jesuiten die Hände über diesen unerhörten Sieg wider Hitler, der ihnen blind in die Hände gespielt wurde.“778

Darüber hinaus wollte das NS-Regime gewiss das außenpolitische Prestige, das es sich vom Abschluss des Reichskonkordats erhoffte, nicht dadurch gefährden, dass es in der ersten Anwendung des Vertrags einen Konflikt mit der Kirche heraufbeschwor.779 So war nach über zehnmonatiger Sedisvakanz und zwei Bischofswahlen der Bischofsstuhl des heiligen Ludgerus endlich wieder besetzt.

Ergebnis 1. Die Kriteriologie, die das Münsteraner Domkapitel an seine Kandidaten anlegte, war für Pacelli nicht im gleichen Maße relevant. Mönch zum Beispiel war bereits 63 Jahre alt und kam als langjähriger Weihbischof nicht aus der – wie Donders es nannte – „vollen Seelsorge“. Letzteres galt ähnlich für Heufers und Donders selbst. Der Fokus des Kardinalstaatssekretärs lag also woanders. An einer Stelle des Besetzungsfalls werden zwei wesentliche Kriterien der Kandidatenüberlegungen Pacellis deutlich, nämlich bei seiner Anfrage an den Innsbrucker Konviktsrektor Hofmann, wenngleich die Anfrage selbst nicht in den Quellen erhalten ist.

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Vgl. zu Galens politischer Ausrichtung und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus unter anderen Kuropka, Clemens August (1989); Ders., Galen im politischen Umbruch; Ders. (Hg.), Clemens August (1998); Ders., Teuflisches; Ders., Pfarrer und Bischof, bes. S. 51–93; Morsey, Galens politischer Standort; Wolf, Münster, Berlin und Rom; Ders., Clemens August (2006), passim. Ten Hompel an Professor Johannes Stark vom 22. Oktober 1933, zitiert nach Kuropka, Clemens August (1989), S. 119. Auch in dem unmittelbar an Münster anschließenden Besetzungsfall Berlin sollte dies deutlich werden. 197

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a) Allein das Faktum dieser Anfrage lässt darauf schließen, dass es dem Kardinalstaatssekretär um die philosophisch-theologische Begabung der jeweiligen Kandidaten ging  – diese und der während der Ausbildung demonstrierte „Grad“ an Kirchlichkeit waren letztlich das einzige, was der Jesuit bei seinen ehemaligen Alumnen bewerten konnte. Darüber hinaus zeigt Pacellis Rückfrage bei Hofmann, dass seine Bischofskandidaten nicht nur irgendeine, sondern eine dezidiert römisch-scholastische Philosophie und Theologie jesuitischer Prägung mit spekulativem, das heißt systematischem Schwerpunkt, gelernt haben sollten – dies war das Unterrichtsprogramm der Innsbrucker Jesuitenfakultät.780 b) Da der Rektor ausschließlich Ex-Alumnen bewertete, die Münsteraner Diözesanen waren, ist davon auszugehen, dass Pacelli darum gebeten hatte. Insofern lag diesem daran, vorzugsweise lokal und mentalitätsmäßig kompatible Geistliche zu nominieren – eine Überlegung, die Orsenigo teilte, wenn er etwas später feststellte, dass die Westfalen ihre eigenen Landsleute bevorzugen würden. Wirft man nun aber einen Blick auf die römische Terna, so fällt auf, dass Pacelli sich nicht sklavisch an diese beiden Kriterien band. 1) So war der erstplatzierte Weihbischof Mönch Rheinländer und Trierer Diözesan, weshalb der Nuntius seine Nominierung im Vorhinein bereits als zwecklos abtat – womit er schließlich auch recht behielt, denn die Domherren wollten ihn partout nicht wählen. Täuschte sich etwa Pacelli darin, dass er eine Wahl Mönchs durch das Münsteraner Domkapitel für möglich hielt? Da Pacelli der westfälische Lokalpatriotismus völlig klar gewesen sein dürfte – wie die Anfrage an Hofmann zeigt und ihm darüber hinaus Orsenigo vor Aufstellung der Terna noch einmal in Erinnerung rief – ist wohl anzunehmen, dass er es darauf ankommen ließ. Abgesehen davon stammte Mönch immerhin aus derselben Kirchenprovinz. Wichtiger waren Pacelli hier wohl die persönlichen Qualitäten des Weihbischofs, denn dass er Mönch für eine persona gratissima im Hinblick das Bischofsamt hielt, deutet sich bereits in dem Faktum an, dass er dem ersten Kriterium der „gesunden“ theologischen Ausbildung vollauf gerecht wurde: Mönch hatte diese an der von Jesuiten geführten päpstlichen Gregoriana als Alumne des römischen Germanicums erhalten. In seinen Jahren als Nuntius hatte Pacelli den Weihbischof persönlich gut kennengelernt, der außerdem bereits eine längere Vorgeschichte in den bischöflichen Besetzungsfällen hatte: In Mainz 1920/21 hatte ihn der Breslauer Oberhirte Bertram als episkopabel vorgeschlagen.781 In Trier 1921/22 hatte Pacelli geplant, von Mönch ein Votum über den damals gewählten Bornewasser zu verlangen, das insbesondere behandeln sollte, was von dem electus im Bereich der Priesterausbildung zu erwarten sei.782 In Hildesheim 1928/29 schließlich war der Weihbischof beim damaligen Nuntius als

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Vgl. die in Bd. 1, Kap. II.1.5 Anm. 1417 angegebene Literatur. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.2 (Pacellis Kandidatensondierungen für den Posten eines Koadjutors). Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.3 (Die Wahl Franz Rudolf Bornewassers zum Bischof von Trier). 198

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Ersatzkandidat für Donders gehandelt worden, der seine Ernennung abgelehnt hatte.783 Damals hatte ihm Bornewasser vielfältige Fähigkeiten attestiert, die für Pacelli so wichtig waren, dass er sie in seinem Abschlussbericht über die deutsche Kirche festhielt: „Eine besondere Erwähnung verdient … Weihbischof Antonius Mönch, ehemaliger Alumne des Collegium Germanicum et Hungaricum, Prälat von großer Tüchtigkeit und begabt mit einer gesunden und soliden Lehre. Derselbe Bischof Bornewasser schrieb mir …, dass er ein Genie in Finanzfragen sei, er lobte seine umfassende Kenntnis der gesamten Organisation der Wohltätigkeit in Deutschland, seine große Geschicklichkeit, Klugheit und Standhaftigkeit in den Verhandlungen auch mit den zivilen Behörden.“784

Mönch war in Pacellis Augen also ein kompletter Kandidat, doch wie kam Pacelli nun im Frühjahr 1933 darauf, ihn auf der Dreierliste zu platzieren? Eine Beobachtung liefert ein Indiz: Am 3. März 1933 legte Pacelli Pius XI. die drei Kandidaten der Münsteraner Terna vor. Praktisch zeitgleich nahm er eine Liste des Rektors des Germanicums, Constantin Noppel SJ, in Empfang, die er eigenhändig mit der Überschrift „Sacerdoti ex-germanici episcopabili“ versah.785 Sie enthielt also eine Zusammenstellung von episkopablen Kandidaten, die im Germanicum geformt worden waren. An erster Stelle der deutschen Kandidaten786 stand niemand anders als „Mönch Anton, Weihbischof natus 1870 Trier“787. Vielleicht war dies der unmittelbare Auslöser, der Pacelli veranlasste, Mönch zu nominieren. Dass der Weihbischof nicht zu den Favoriten der preußischen Bischöfe

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Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.6 (Ein Ersatzkandidat: Nikolaus Bares oder Antonius Mönch?). „Una speciale menzione merita il … Vescovo ausiliare, Mons. Antonio Mönch, ex-alunno del Collegio Germanico-Ungarico, Prelato di grande capacità e dotato di sana e soda dottrina. Lo stesso Mons. Bornewasser mi scriveva … che egli è un genio nelle questioni finanziarie, lodava la sua vasta conoscenza di tutta la organizzazione della carità in Germania, la sua grande abilità, prudenza e fermezza nel trattare anche colle autorità civili.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 47r, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 249. Hervorhebung im Original. Vgl. Liste episkopabler Geistlicher Noppels vom März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1950, Pos. 644 P.O., Fasz. 162, Fol. 4r–5r. Auf dem Dokument notierte sich Pacelli als Datum den 9. März 1933, also knapp eine Woche nach der angesprochenen Audienz beim Pontifex. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass er die Liste schon eher erhielt oder aber zunächst mündlich mit dem Jesuitenrektor das Thema erörterte und dieser daraufhin die Namen zusammenstellte. Dafür spricht, dass sich in den vatikanischen Quellen kein Begleitschreiben findet und die Liste daher vermutlich mündlich in Auftrag gegeben und wiederum bei einer persönlichen Begegnung ausgehändigt wurde. Ohnehin ging der Kardinalstaatssekretär in den Gebäuden des Kollegs ein und aus. Die Liste beinhaltete auch Namen für Österreich, Luxemburg, Schweiz, Trient, Brixen, Ungarn, Rumänien, Tschechoslowakei, Jugoslavien und Finnland. Liste episkopabler Geistlicher Noppels vom März 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1950, Pos. 644 P.O., Fasz. 162, Fol. 4r. Hervorhebungen im Original. 199

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gehörte, insofern ihn nur Bornewasser auf dem Zettel hatte, spielte für den Kardinalstaatssekretär hingegen keine Rolle. 2) Der nächste auf der Dreierliste, Dompropst Donders, wurde dem Prinzip der lokalen Provenienz wieder gerecht. Das Münsteraner „Eigengewächs“, das eine hohe Reputation in seiner Heimat (und darüber hinaus) genoss, war Pacelli mindestens ebenso gut bekannt wie Mönch und insofern lag es nahe, ihn für den Bischofsstuhl des heiligen Ludgerus zu nominieren. Und das obwohl er seine philosophisch-theologischen Studien nur in Münster und nicht bei den Jesuiten in Innsbruck oder Rom gemacht hatte. Dass dies für Pacelli jedoch nicht im engeren Sinne entscheidend war, zeigte sich bereits im genannten Hildesheimer Besetzungsfall. Dort war für ihn zentral gewesen, dass der neue Oberhirte die Alumnen der Diözese künftig ins Germanicum, Canisianum oder nach St. Georgen schicken werde. Dass der entsprechende Kandidat selbst an einem dieser Jesuitenkollegs studiert hatte, war für Pacelli ein Garant, eine solche Ausbildung gutzuheißen und daher auch zu fördern. Doch war dieser Konnex nicht unbedingt erforderlich: Im Hildesheimer Fall glaubte Pacelli aus Dondersʼ Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und seiner freundschaftlichen Gesinnung gegenüber der Societas Iesu ablesen zu können, dass der Dompropst die Priesterausbildung in diesem Sinne gestalten werde – es gab also für die römisch-jesuitische Ausbildung eine Kompensation, weil es letztlich dabei um die Priesterausbildung ging. So also auch in Münster: Die dortige Katholisch-Theologische Fakultät, die Pacelli Ende 1929 noch als „verhältnismäßig beste in Deutschland“788 bezeichnet hatte, sollte, was den Bischof anging, in puncto Rechtgläubigkeit erhalten oder besser noch gefördert werden. Daher die Nominierung des Germanikers Mönch, der als Trierer Weihbischof den „gute[n] Geist“789 des von Michael Felix Korum und Nikolaus Bares geprägten Priesterseminars unterstützte, und des Münsteraners Donders, der der Ausbildung des geistlichen Nachwuchses von seiner kirchlichen Ausrichtung her – nach Pacellis Auffassung – ähnlich gegenüberstand. Damit traf das erste Kriterium im weiteren Sinne letztlich auch auf Donders zu. Welche weiteren Fähigkeiten Pacelli am Dompropst schätzte, wie zum Beispiel dessen hervorragende Rednergabe, wurden bereits im Hildesheimer Fall hinreichend deutlich.790 Dass der Dompropst wie schon damals seine Wahl erneut ablehnen könnte, war vom Kardinalstaatssekretär eingeplant und ihm offenbar ebenso gleichgültig wie die etwaigen Schwierigkeiten, die einer Wahl des Rheinländers Mönch entgegenstehen mochten. 788

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„… la relativamente migliore in Germania.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 235. „… buono spirito.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927– 1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 47v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 249. Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.6 (Ergebnis Nr. 1). 200

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3) Diese Überlegung wirft noch einmal ein anderes Licht auf den letzten der Liste, Heufers, insofern dessen Wahl unter diesen Voraussetzungen im Vorhinein als wahrscheinlich erscheinen musste. Der Berliner Domkapitular wurde den beiden oben genannten Kriterien in voller Form gerecht. Er stammte aus Westfalen und war Münsteraner Priester, bis ihn Bischof Schreiber 1931 ins Berliner Domkapitel berief. Studiert hatte er bei den Innsbrucker Jesuiten. Im Kontext früherer Bischofseinsetzungen war Heufers nur einmal in Erscheinung getreten: Er war einer der drei Geistlichen gewesen, die Pacelli  – bereits Kardinalstaatssekretär  – im Sommer 1932 als mögliche Aspiranten für die Besetzung des Bistums Meißen ins Auge gefasst hatte.791 In Pacellis Nuntiaturberichterstattung hingegen sucht man seinen Namen vergeblich.792 Doch wie Heufersʼ Meißener Kandidatur bereits nahelegt, muss man davon ausgehen, dass Pacelli während seiner Berliner Zeit ihm persönlich begegnet ist, denn immerhin war Heufers ähnlich wie Galen über Jahre in der Berliner Seelsorge tätig, unter anderem als Kaplan in St. Matthias und dann vor allem als Pfarrer von Herz Jesu in Berlin-Tempelhof. Da dieser von Episkopat und Domkapitel nicht vorgeschlagen wurde, wird der unmittelbare Anstoß für dessen Nominierung in Hofmanns Votum zu suchen sein, das Heufers vor allem in seinen systematisch-theologischen Fähigkeiten gegenüber den übrigen drei dort behandelten Kandidaten favorisierte. Beweist also bereits das Faktum der Anfrage, dass Pacelli die theologische Begabung als Messlatte in seiner Kandidatenwahl benutzte, so wird diese Maxime noch einmal dadurch bestätigt, dass er Heufers aus den Vieren auswählte. 4) Da Galen als Nummer vier Pacellis Dreierliste ergänzte, stellt sich von selbst die Frage, wie der Jesuitenrektor unter diesem Gesichtspunkt über den Grafen urteilte. Ohne den Wortlaut überstrapazieren zu wollen, scheint dieser hinter Heufers noch die beste Wertung erhalten zu haben: Wienken habe „recht gute Studien“ gemacht, während Bierbaum lediglich „gute“, aber keine „eminenten“ Talente besitze. Galen komme letzterem „an Talenten wenigstens gleich“ und schien damit eher besser zu sein. In spekulativ-theologischer Hinsicht schien Galen hinter Heufers also der nächstbeste Kandidat im Votum des Jesuiten. Freilich war Pacelli in seinem Urteil über Galen nicht exklusiv auf die Beurteilung Hofmanns angewiesen, da er den Münsteraner Pfarrer von St. Matthias in seiner Zeit als Nuntius bestens kannte, sie sich damals regelmäßig besucht hatten und „sich beide“ – wie Schwester Pascalina Lehnert sich erinnert – „sehr gut verstanden“793.

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Vgl. Bd. 4, Kap. II.4.3 (Die Suche nach dem neuen Oberhirten: Pacellis Kandidatentrias und die Entscheidung für Petrus Legge). Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Lehnert, Ich durfte ihm dienen, S. 40. 201

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Die Frage, warum Galen angesichts seiner vielen Fürsprecher im Episkopat und seiner Favoritenrolle im Domkapitel794 nicht auf der ursprünglichen Terna stand und warum er dann schließlich als Nachrückkandidat zur Wahl gestellt wurde, ist in der Forschung schon mehrfach diskutiert worden. Hubert Wolf vermutet, dass die kritische Beurteilung durch Orsenigo für Pacelli den Ausschlag gegeben habe, Galen nicht auf der Terna zu platzieren.795 Denkbar, wenn auch quellenmäßig nicht belegbar, ist, dass das von Orsenigo monierte herrische und etwas schroffe Auftreten Galens seinen Anteil daran hatte, dass der auf Umgangsformen bedachte Aristokrat und Diplomat Pacelli den Grafen zurückstellte. Offen bleibt dann jedoch, wieso Galen später nachrückte. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob das Urteil Orsenigos für Pacelli in den Kandidatenüberlegungen so maßgeblich war, dass er von Galen zunächst absah (vgl. Nr. 5). Hätte er dann nicht auch vom Trierer Weihbischof absehen müssen? Thomas Flammer denkt ebenso an Orsenigos Urteil und hält darüber hinaus „eine eher spontane Entscheidung gegen Galen“796 auf Basis von Hofmanns Gutachten für möglich, insofern dieses mit Heufers einen überragenden Geistlichen ins Gespräch brachte. Diese These wird durch das oben Gesagte erhärtet. Keinen direkten Anhaltspunkt in den vatikanischen Quellen findet man schließlich dafür, dass die Personalie ganz spezifisch im Hinblick auf die politische Situation getroffen wurde. So vertritt Joachim Kuropka die in sich nicht unplausible Auffassung, dass man in Rom seit Juli 1933 mit einer längeren Regierung des Hitler-Regimes rechnete und daher mit Galen einen Bischof installieren wollte, der „weniger ‚Flexibilität‘“, aber dafür „Grundsätze und Mut“797 mitbrachte. „Grundsatzfestigkeit“ verlangte Pacelli zweifellos von allen Bischöfen – diese sollte doch auch gerade durch eine römisch-scholastische Ausbildung garantiert werden. Was den „Mut“ anbelangt, so bleibt doch die Frage, ob man in der Kurie den „Mut“ Galens überhaupt schon so deutlich im Blick haben konnte, selbst wenn Galen als Pfarrer von St. Lamberti „schon hinreichend Auseinandersetzungen mit der NSDAP gehabt“798 hatte. Daran ändert auch nichts, dass Papst und Staatssekretär in den folgenden Jahren mit Galens „Verteidigung der kirchlichen Freiheitsrechte“799 sehr zufrieden waren. Selbst die preußischen Bischöfe, die Galen in Vorschlag brachten, und seine anderen Proponenten führten nicht aus, dass angesichts der politischen Lage mit Galen nun ein besonders mutiger Bischof ernannt werden müsse – einzig Kaller nannte Galen unbestimmt einen

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Zu ergänzen wäre hier auch die in der Forschung bislang nicht berücksichtigte inoffizielle Liste der Domherren Donders, Francken und Surmann. Vgl. Wolf, Clemens August (2006), S. 76f. Flammer, Clemens von Galen als Stadtpfarrer, S. 104. Kuropka, Mann der Stunde, S. 52. Kuropka, Mann der Stunde, S. 46. Pacelli an Galen vom 5. Mai 1936, zitiert nach Kuropka, Pfarrer und Bischof, S. 59. 202

II.1.12 Münster 1933

„Verteidiger der Kirche“.800 Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass Pacelli in dem Verzicht von Heufers und Donders einen Tribut an die politische Situation erkannte und davon ausging, dass der „kantigere“ Galen sich nicht von derselben abschrecken lassen würde. Allerdings scheint mir dies für Pacelli nicht vorrangig zu sein. Wenn es das gewesen wäre, warum ließ er sich nicht ähnlich wie über die theologische Bildung auch ein Gutachten über den von potentiellen Bischofskandidaten zu erwartenden „Mut“ und die wahrscheinliche „Kampfbereitschaft“ gegenüber dem NS-Regime anfertigen? Konnten diese unmittelbar vor Abschluss des Reichskonkordats und angesichts seiner zweifellos vorhandenen Kulturkampfangst überhaupt Pacellis maßgebliche Kriterien für seine Kandidatenwahl sein? Außerdem brauchte er noch das staatliche Plazet für Galen: Selbst wenn man die korrekte Unterscheidung von allgemeinpolitischen und parteipolitischen Bedenken berücksichtigt und für Galen nur letztere in Betracht kamen, konnte Pacelli wirklich sicher sein, dass das NS-Regime diese rechtliche Unterscheidung akzeptieren und sich danach richten würde (selbst wenn die Regierung der Ernennung Heufersʼ noch zähneknirschend zugestimmt hatte)? Eine Nominierung Galens, weil er der erwartete Widerständler gegen die in vollem Ausmaß noch nicht abzusehende NS-Tyrannei war, hätte einen offenen Konflikt provozieren können, an dem Pacelli nicht gelegen war, zumal der Heilige Stuhl und nicht „nur“ der deutsche Episkopat in diesen verwickelt gewesen wäre – von Rom nämlich stammten die Kandidaten für die Bischofswahl. Hätte er Galen außerdem nicht sofort zur Wahl gestellt, wenn er in diesem den gewünschten „Kämpfer“ sah? Schon 1930/31, als die politischen Voraussetzungen noch grundlegend andere waren, nominierte er Galen erst nach längerer Bedenkzeit als dritten Kandidaten für die Aachener Dreierliste. Insofern war es das gleiche Muster vor und nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten: Galen wurde nachträglich ergänzt. Betrachtet man die Münsteraner Terna als Ganze, so ergibt sich, dass Pacelli auf die ersten beiden Plätze mit Mönch und Donders zwei „klassische“, nach seiner Ansicht mit enormen Qualitäten ausgestattete episcopabiles, setzte, die er schon längst gern an der Spitze eines deutschen Bistums gesehen hätte. Damit war nur der dritte Listenplatz noch frei, den er auf Basis höherer theologischer Qualität an Heufers vergab. Ihm war Galen in dieser Hinsicht zwar unterlegen, aber dennoch war dieser nicht unqualifiziert, wie Pacelli auf Basis des Gutachtens Hofmanns und auch 800

Kuropka interpretiert mehrere der über Galen gefallenen Aussagen in diesem Sinne: „Jetzt war ein Bischof von der Statur des Pfarrers von Galen gefragt, ein ‚Verteidiger der Kirche‘, wie Bischof Maximilian Kaller gschrieben hatte, einer, der ‚auch gegen den Strom zu schwimmen‘ (Francken), ‚seine guten Ideen ziemlich starsinnig‘ (Orsenigo) zu vertreten wagte, einer der ‚die Rechte der Kirche restlos vertreten würde‘, wie Dompropst Donders die Motive der münsterschen NSDAP-Leute bei ihrem Versuch, Galen zu verhindern, beschrieb.“ Kuropka, Pfarrer und Bischof, S. 61. Nicht übersehen werden sollte dabei jedoch, dass „gegen den Strom schwimmen“ und „Starsinn“ nicht zwingend als Parameter eines für das NS-Regime unbequemen und daher nun zu wünschenden Geistlichen verstanden werden mussten, ja der „Starrsinn“ bei Orsenigo mit Sicherheit nicht so gedacht war. Die Aussage von Donders stammte schließlich erst von Mitte August und hatte daher auf die römische Nominierung Galens keinen Einfluss. 203

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aus persönlicher Kenntnis wusste.801 Selbst Orsenigo attestierte Galen, in seiner Schrift „Die Pest des Laizismus“ hervorragende Gedanken zu entwickeln. Pacelli studierte den Text mit Sicherheit ebenfalls und überzeugte sich selbst davon. In der zentralen theologischen Perspektive war Galen für Pacelli also episkopabel, ansonsten hätte er diesen auch nicht drei Jahre zuvor auf die Aachener Terna gesetzt. Da der Münsteraner darüber hinaus dem Lokalitätsprinzip gerecht wurde und eine Vielzahl von Fürsprechern besaß – man denke besonders an Dondersʼ Kritik an der römischen Personalpolitik und Franckens Romreise (vgl. Nr. 4) –, erklärt sich hieraus zur Genüge, dass er in dem Augenblick nachrückte, als ein neuer Kandidat benötigt wurde. So lässt sich zwar nicht von der Hand weisen, dass der Graf für den Kardinalstaatssekretär letztlich nur die „vierte Wahl“802 war und er lieber einen seiner drei ursprünglichen Kandidaten auf dem Stuhl des heiligen Ludgerus gesehen hätte. Aber nichtsdestotrotz war der Jesuitenschüler Galen, der selbst einmal mit einem Eintritt in die Societas Iesu geliebäugelt hatte, ein Kandidat in seinem Sinne. 2. Der formale Rahmen der Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls wurde durch Artikel 6 des Preußenkonkordats gebildet, ergänzt durch die Bestimmungen des Reichskonkordats zum bischöflichen Treueid, während die Vorgaben des neuen Staatskirchenvertrags zur politischen Klausel noch nicht griffen. Bei der Umsetzung dieser rechtlichen Vorgaben gab es einige Zweifelsfragen, die von Pacelli entschieden wurden: 801

802

Es geht hier also nicht darum, den in jüngerer Zeit mehrfach kritisierten Urteilen das Wort zu reden, Galen sei weniger intelligent und nur durchschnittlich geistig begabt gewesen. Vgl. hierzu pars pro toto Zumholz, Was nicht ewig ist. Schon das hier völlig ernst genommene Votum Hofmanns sprach eine andere Sprache. Dennoch nahm der Jesuit eine Hierarchisierung zugunsten des Berliner Domkapitulars vor. Als Alumne des Canisiuskonvikts hatte Galen selbst bekannt, dass ihm die Studien – insbesondere der Philosophie – nicht leicht fielen. Auch damals schon war ihm das Predigttalent abgesprochen worden. Vgl. dazu Dies., Tradition, S. 24. Pacelli übernahm die Hierarchisierung Hofmanns, wusste aber auch selbst um die Schwächen Galens. So ist die Erinnerung von Pacellis Haushälterin, Schwester Pascalina Lehnert, nicht aus der Luft gegriffen, wenn auch gewiss nicht überzubewerten: „Der spätere Kardinal v. Galen war damals Pfarrer der St. Matthias-Gemeinde in Berlin. Er kam oft zum Nuntius … Einmal kam gerade der Herr Nuntius die Treppe herunter, mit Lesestoff in der Hand, um auszugehen. Nach einer herzlichen Begrüßung sagte Graf v. Galen: ‚Aber Exzellenz, lassen Sie doch Ihre Arbeit zu Hause und genießen Sie diesen ersten sonnigen Frühlingstag!‘ Die Antwort: ‚Das kann ich mir nicht leisten, da muß ich erst Pfarrer von St. Matthias werden und so viel Demut haben wie dieser, auch einmal bei der Predigt stecken zu bleiben.‘ (Das kam nämlich vor, und Pfarrer v. Galen beneidete den Nuntius immer um sein so gutes Gedächtnis.)“ Lehnert, Ich durfte ihm dienen, S. 40f. In Anlehnung an Hubert Wolfs Kapitelüberschrift „Als Bischof dritte Wahl“ formuliert. Wolf, Clemens August (2006), S. 74. Wolf bezeichnet Galen korrekterweise als „dritte Wahl“, weil dieser erst nach dem Verzicht von Heufers und Donders zum Zug kam. Nach Auffassung der Münsteraner Kirche zählte er klar „zu den Kandidaten der ersten Stunde“. Flammer, Clemens von Galen als Stadtpfarrer, S. 104. Doch aus Sicht Pacellis – um die es in dieser Arbeit vornehmlich geht – belegte der Graf faktisch nur den vierten Rang. 204

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a) Zunächst hielt er daran fest, dass die Initiative zum Verfahrensauftakt – die Aufforderung an Episkopat und Domkapitel, die Vorschlagslisten anzufertigen – einzig dem Heiligen Stuhl zustand. b) Die näheren Anweisungen: jeder Proponent möge für sich allein Kandidaten überlegen, einen oder mehrere Namen vorschlagen, mit den nötigen Informationen versehen und das alles unter strengster Diskretion, übernahm Pacelli aus dem Ermländer Verfahren. Ebenfalls beharrte er erneut darauf, dass nur der Heilige Stuhl die etwaigen politischen Bedenken der Regierung beurteilen könne, obgleich laut Konkordat die Domherren sich bei dieser rückversichern mussten. Eine weitergehende Reglementierung des Listenverfahrens, wie sie die ersten Anwendungsfälle in Ermland und Aachen womöglich nahegelegt hätten, strebte Pacelli nicht an. Anders Orsenigo: Er spezifizierte nicht nur, dass die Kandidaten aus jeder beliebigen Diözese Deutschlands stammen durften – dies hatte er auch in Aachen schon getan –, sondern sorgte auch dafür, dass die Vorschlagslisten innerhalb von 15 Tagen an die Nuntiatur gehen mussten. Pacelli segnete diese Bestimmung zwar ab, schien aber ansonsten nicht sonderlich daran interessiert. c) Ein Amtsverzicht des electus war formal zwar nicht vorgesehen, ließ Pacelli aber durchgehen. Als nachteilig erwies sich seine Vorgabe, den erwählten Kandidaten erst nach dem Nihil obstat der Regierung nach seinem Einverständnis zu befragen. Dadurch wurde eine zweifache Anfrage an das Kultusministerium notwendig und wäre Donders nicht Teil des Domkapitels gewesen, der dadurch seine Wahl a priori verhindern konnte, hätte sich das Dilemma nach Heufersʼ Wahl wohl sogar noch wiederholt. Da Pacelli das staatliche Plazet als höhere Hürde für die Erledigung des Besetzungsfalls betrachtete, behielt er diese Abfolge auch bei der Wahl Galens bei. d) Wenn auch nicht formal, so modifizierte Pacelli die Dreierliste doch faktisch von vornherein in eine „Zweierliste“ um, denn er rechnete bereits damit, dass Donders seine Wahl nicht annehmen würde. Da dieser seine Wahl verhinderte, mussten die Domherren aus zwei Kandidaten den neuen Bischof wählen. Nachdem Heufers verzichtet hatte, ließ er sich nur widerwillig umstimmen, die formale Zweierliste (Mönch und Donders), die jedoch faktisch eine Einerliste (Mönch) war, in eine formale Dreierliste (Mönch, Donders, Galen) und faktische Zweierliste (Mönch, Galen) zu erweitern. Diese Ergänzung bezeichnete er als reine Ausnahme und letztlich ungeschuldeten Gnadenakt des Heiligen Stuhls. Damit stellte er klar, dass das Domkapitel sich die Ternakandidaten nicht aussuchen konnte und die Entscheidungskompetenz exklusiv in Rom lag. Interessant ist, dass Pacelli beispielsweise im Rottenburger Fall 1926/27 noch dafür plädierte, dem Wunsch der württembergischen Regierung nach einer Bischofswahl aus drei und nicht nur zwei Kandidaten zu entsprechen.803 Er fürchtete damals den Vorwurf eines kurialen Selbstwiderspruches, insofern der Heilige Stuhl im 19. Jahrhundert in der Person des Kardinalstaatssekretärs Ercole Consalvi auf einer Domkapitelswahl aus mindestens einem Dreierkorpus insistiert hatte. Die Sorgen des damaligen Nuntius galten jedoch einer schlechten antirömischen Presse und negativen Effekten 803

Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.3 (Verhandlungen um die Spezifika des Wahlmodus). 205

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für die ausstehenden Konkordatsverhandlungen. In dem Augenblick, in dem diese Sorgen nicht mehr relevant waren, rückte Pacelli von seinem früheren, taktisch motivierten Standpunkt ab. Jetzt ging es nur noch um die innerkirchliche Verteilung von jurisdiktioneller Vollmacht, die sich seiner Überzeugung nach im Papst konzentrierte. e) Er äußerte sich schließlich noch zur erstmaligen Ablegung des Treueids gemäß Artikel 16 des Reichskonkordats. Dies fällt unter die nächste Nummer. 3. Da das preußische Kultusministerium weder gegen Heufers noch gegen Galen trotz des lokalen Widerstands von NSDAP-Funktionären allgemeinpolitische Bedenken geltend machte, musste Pacelli mit dem Staat keine Auseinandersetzung darüber führen, ob die Einwände gerechtfertigt waren oder nicht. Insofern verlief der erste Besetzungsfall mit nationalsozialistischer „Beteiligung“ und im Angesicht des soeben vereinbarten Reichskonkordats relativ reibungslos. Einzig in der Eidesfrage gab es eine Meinungsverschiedenheit, vor wem der Eid abgelegt werden sollte. Pacelli befürwortete im aktuellen Fall, in dem zwei Reichsstatthalter involviert waren, den Reichspräsidenten, doch überließ er es Orsenigo und Colli, die Angelegenheit auszuhandeln. Letzterer strapazierte daraufhin die römische Instruktion, insofern er darin eine prinzipielle Priorität des Präsidenten verstand, obgleich im Konkordatstext der Reichsstatthalter vor dem Reichspräsidenten als Adressat des Eides genannt wurde. Wenn also Bernd Heim diesbezüglich von einer „grob verfälschenden Konkordatsinterpretation der Kurie“804 hinsichtlich des Adressaten der Eidesleistung spricht, dann ist dies falsch, insofern eine Interpretation des Auditors dafür ursächlich war, die nicht auf einer entsprechenden Anweisung des Kardinalstaatssekretärs beruhte. Dass also Pacelli die Angelegenheit der Nuntiatur und der Nuntius gar dem Auditor überließ, demonstriert, dass ersterer der Sache – ungeachtet des womöglich propagandistischen Interesses, das die NS-Regierung mit dem Eid verband – keine übermäßige Bedeutung beimaß, was sich vermutlich dann geändert hätte, wenn von staatlicher Seite auf einer doppelten Eidesleistung insistiert worden wäre (nämlich vor den Statthaltern von Preußen und Oldenburg). Ebenso sah er auch darüber hinweg, dass die im Schlussprotokoll des neuen Konkordats festgelegte 20-tätige Einspruchsfrist des Staates deutlich überzogen wurde. In Frist- und Eidesfrage verhielt sich Pacelli also zurückhaltend, was nicht überrascht, da er in der zentralen Kandidatenfrage reüssiert hatte. Somit stellt sich hier nur noch die Frage, ob der Kardinalstaatssekretär bei seiner Kandidatenauswahl das Plazet der Regierung beziehungsweise die politische Situation in Deutschland in besonderer Weise im Blick hatte. Es wurde bereits deutlich (vgl. Nr. 1), dass auf Basis der Quellen für den Münsteraner Fall ein solches Entscheidungskriterium Pacellis im engeren Sinne nicht zwin-

804

Heim, Bischöfe, S. 92. 206

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gend für den nachgerückten Galen nachgewiesen werden kann.805 Gegenüber Orsenigo schrieb er zwar, dass er politische Bedenken für nicht wahrscheinlich halte, doch schien das nicht mehr als eine Formel zu sein, die er ebenso schon in Ermland und Aachen gebraucht hatte. Diese Formel war wohl stringent auf die Definition von rechtmäßig erhobenen politischen Bedenken gemünzt, die früher im Kontext der bayerischen Konkordatsverhandlungen kurienintern fixiert worden war.806 Darnach durfte ein Nicht-Deutscher oder zum Beispiel ein das Staatsgebilde gefährdender Geistlicher nicht zum Bischof ernannt werden. Da dies auf keinen der vier Kandidaten zutraf, ist es einleuchtend, dass Pacelli einen staatlichen Widerspruch für unwahrscheinlich hielt. In diesem Fall zumindest, in dem sich die von der NS-Ideologie vertretene Totalidentifikation von Staat und Partei (noch) nicht in der Ablehnung eines Bischofskandidaten auswirkte, sollte der Kardinalstaatssekretär mit seiner Prognose recht behalten.807 Dass man nur in diesem weitesten Sinne von einer Berücksichtigung des Faktors „Staat“ bei der Kandidatenauswahl sprechen kann, zeigt sich nicht nur daran, dass Pacelli dem Wunsch Papens und einiger Mitarbeiter des preußischen Kultusministeriums nach einer Ernennung von Abt Schmitt ignorierte, sondern eindrücklich auch an der Nominierung des Trierer Weihbischofs. Im schon mehrfach angesprochenen Hildesheimer Fall hatte Pacelli von der Kandidatur Mönchs abgesehen, weil dieser Ex-Germaniker und damit ein klassisch für den preußischen Staat unerwünschter Geistlicher war. Die Rücksichtnahme erklärte sich damals aus den schwebenden preußischen Konkordatsverhandlungen. Jetzt, Anfang März 1933, hielt er folgerichtig eine solche Nachgiebigkeit nicht mehr für nötig – das Reichskonkordat rückte erst Ende März in den Bereich des Möglichen – und prompt platzierte er den „Römer“ Mönch auf den ersten Rang der Terna. In abgeschwächter Form gilt dies ebenso für die beiden Jesuitenschüler Heufers und Galen. Es bleibt also davon auszugehen, dass Pacelli in der Auswahl seiner episcopabiles den Faktor „Nationalsozialismus“ nicht in besonderer Weise in seine Gleichung einbezog

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806 807

Ohne einschlägigen Quellenbeleg verliert man sich hier schnell in Spekulationen, die mitunter widersprüchlich werden. Während zum Beispiel Joachim Kuropka, wie unter der Nummer 1 dargelegt, die Nomination Galens aus dessen „Standfestigkeit“ und Widerstandsbereitschaft gegen das NS-Regime herleitet, so fragt Bernd Heim praktisch gegenteilig, ob „die Benennung eines ebenso konservativ wie national gesinnten Geistlichen die Antwort des Heiligen Stuhls auf den ‚neuen Zeitgeist‘ [war,] mit dem er sich in Deutschland nun konfrontiert sah“, um dadurch gewissermaßen die Reibungsfläche mit den Nationalsozialisten zu verringern. Heim, Bischöfe, S. 91. Hubert Jedin hingegen sprach seinerzeit davon, dass „die Machthaber des Dritten Reiches … den anscheinend unpolitischen Pfarrer Galen als Bischof nach Münster ließen“. Jedin, Papst Innozenz XI., S. 288. Letzteres stützt die These, dass Pacelli primär nach den Kernkriterien seines Bischofsideals entschied und keinen politisch in besonderer Weise bereits hervorgetretenen Bischof installieren wollte. Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Klärung der politischen Klausel). Vgl. zur hypothetischen Diskussion, ob Galen zu einem späteren Zeitpunkt an der politischen Klausel gescheitert wäre, Heim, Bischöfe, S. 97–99. 207

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und für diese stattdessen die beiden oben beschriebenen Grundprinzipien entscheidend waren. Nicht zufällig hatte Pacelli alle vier Kandidaten bereits bei Bischofseinsetzungen vor 1933 als Anwärter in Betracht gezogen. 4. Drei Gruppen von Informanten sind in diesem Fall zu unterscheiden: a) Die ersten und maßgeblichen Quellen waren jene, aus denen sich Pacelli informell und aus eigenem Antrieb Kandidatenvorschläge beziehungsweise -beurteilungen besorgte: die beiden Jesuiten Noppel und Hofmann, die Rektoren des römischen Germanicums beziehungsweise des Innsbrucker Canisiuskollegs. Letzteren kontaktierte der Kardinalstaatssekretär über den Jesuitengeneral Ledóchowski. Den Vertretern der streng römisch und papal ausgerichteten Societas Iesu traute er zu, die Kirchlichkeit und insbesondere die Haltung zur scholastischen Theologie respektive die theologisch-scholastische Begabung von möglichen Bischofskandidaten zu beurteilen. Da er glaubte, dass recht unterrichtete Geistliche vornehmlich im Germanicum und Canisianum – St. Georgen war noch zu jung  – herangebildet wurden, war es folgerichtig, ihre Rektoren zu befragen. Es überrascht daher nicht, dass drei der vier von Pacelli zur Wahl gestellten Kandidaten – alle außer Donders – auf ihren Zetteln auftauchten und ein positives Votum erhielten. Daran änderte auch nichts, dass die Informationen Hofmanns zum Teil unpräzise und mit Fragezeichen versehen waren. b) Eine zweite Gruppe bestand in den formal vom Konkordatsmodus vorgeschriebenen Proponenten, dem Münsteraner Domkapitel und dem preußischen Episkopat. Nimmt man die ursprüngliche Terna als Bezugspunkt, so ist zunächst zu konstatieren, dass Pacelli die breite Zustimmung für Donders unter dem Episkopat nicht ignorierte. Acht von elf (Erz-) Bischöfen schlugen ihn vor, darunter auch die von Orsenigo hervorgehobenen Oberhirten der angrenzenden Diözesen: Schulte, Vogt, Klein und Berning. Zwar ging Donders vermeintlich die Unterstützung des Domkapitels ab, doch nur, weil der Dompropst selbst dafür gesorgt hatte. Auch Orsenigo teilte Pacelli mit, dass aus dem Faktum, dass kein Domherr vorgeschlagen wurde, nicht zu folgern sei, dass das Kapitel niemanden aus den eigenen Reihen für tauglich halte. Insofern berücksichtigte der Kardinalstaatssekretär faktisch auch das Anliegen zumindest einiger aus Münster. In formaler Hinsicht jedoch – und die ist hier prinzipiell zu analysieren – tauchte keiner der drei von den Domherren vorgeschlagenen Geistlichen auf der Terna auf. Hätte sich Pacelli stringent an die Stimmverteilung der preußischen Vorschlagslisten gehalten, dann hätte er neben Donders auch Galen und Francken zur Wahl stellen müssen. Stattdessen nominierte er Mönch, der nur in Bornewasser einen Fürsprecher gefunden beziehungsweise Heufers, den niemand in Erwägung gezogen hatte, nicht einmal Bischof Schreiber, der diesen zwei Jahre zuvor in das Berliner Domkapitel berufen hatte. Durch die Nachnominierung Galens griff der Kardinalstaatssekretär schließlich auf einen Wunschkandidaten des Kapitels und den Zweitplatzierten der preußischen Vorschlagslisten zurück. Doch wäre dies für ihn entscheidend gewesen, dann hätte er Galen 208

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von vornherein benennen müssen. Stattdessen folgte er lieber der Stimme Hofmanns und zog Heufers entsprechend vor. Summarisch wird man also die „Würdigung“ der konkordatären Vorschlagslisten durch Pacelli ambivalent bewerten müssen. Nur den Favoriten Donders nahm er in die Terna auf, wobei dieser ohnehin ein Kandidat völlig nach seiner Vorstellung war. Jedoch ist nicht gesagt, dass Pacelli ihn, der die bischöfliche Mitra immerhin schon einmal ausgeschlagen hatte, noch einmal für dieses Amt veranschlagt hätte, wenn dessen Unterstützung nicht so breit gewesen wäre. c) Die Nachnominierung Galens verweist schließlich auf die letzte Gruppe von Informanten, nämlich jene, die sich abseits vom formalen Listenverfahren ungefragt an Pacelli wandten. Zu nennen ist hier zunächst die inoffizielle Kandidatenliste von Donders, Francken und Surmann, die jedoch mit ihrer Favorisierung Galens nicht durchdrangen. Dann aber – nach Heufersʼ Amtsverzicht – wandten sie sich erneut an den Kardinalstaatssekretär, dieses Mal direkt, Donders per Post, Francken persönlich. Ihre Eingaben waren in doppelter Hinsicht erfolgreich: Zum einen erreichten sie die Konzession, dass die römische Liste um einen Kandidaten ergänzt wurde, zum anderen, dass dieser Kandidat in der Person Galens ein Kandidat des Domkapitels war. Galen selbst hatte unterdessen allerdings so viele Fürsprecher – inklusive eines anonymen „Dorfschullehrers“ –, dass offen bleiben muss, ob und wer von ihnen über Hofmann hinaus für Pacelli ein maßgeblicher Fürsprecher gewesen sein könnte.808 Zu dieser letzten Informantenkategorie gehörten schließlich noch Vizekanzler Papen und Abt Albert. Sie stießen beim Kardinalstaatssekretär nicht nur auf taube Ohren, sondern auf die offensichtliche Selbstanpreisung des Benediktiners für den Bischofsstuhl reagierte jener sogar mit einer Maßregelung durch den Abtprimas. Bei allen Überlegungen zum Gewicht, das die Proponenten und Gutachter bei Pacelli womöglich hatten, darf schlussendlich nicht vergessen werden, dass dieser niemandem blind vertraute, da er alle Kandidaten, die er zur Wahl stellte, persönlich kannte und daher für jeden über ein eigenes Fundament verfügte, auf das er ihre Kandidatur baute. 5. Die Zusammenstellung der Terna war genuin Pacellis Werk. Nicht nur, dass bei ihm die Listen und Vorschläge eingingen, vielmehr war er es auch, der die Kriterien für die Kandidatenwahl aufstellte (vgl. Nr. 1) und unter dieser Direktive das informelle Gutachten Hofmanns sowie die Germanikerliste Noppels einholte (vgl. Nr. 4). Erst nachdem er diese Dokumente in den Händen hielt – plus die formalen Vorschlagslisten aus Preußen –, legte er die Münstersche Angelegenheit dem Papst vor. Dass er die Unterlagen zuvor sorgfältig geprüft und sich bereits die Namen für die 808

Dass Franckens persönliche Vorsprache Eindruck auf Pacelli gemacht hatte, ergibt sich daraus, dass dieser ihn in den nachfolgenden Besetzungsfällen in Berlin und Hildesheim jeweils auf der römischen Terna platzierte. 209

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Terna überlegt hatte, versteht sich eigentlich von selbst. Zwar schrieb Pacelli, als er dem Nuntius die Terna übersandte, es sei der Papst gewesen, der die Vorschlagslisten untersucht habe: „Der Heilige Vater, der von mir gebührend diesbezüglich unterrichtet wurde, interessiert Eure Ehrwürdige Exzellenz, nachdem Er die vom Münsteraner Domkapitel wie von den einzelnen preußischen Bischöfen vorgeschlagenen Listen genau geprüft hat, dem Domkapitel folgende Terna vorzulegen …“809 Hätte freilich der Papst die Dreierliste aufgestellt beziehungsweise Pacellis Personenvorschläge gegen ihn modifiziert, dann wäre ihm das letztlich nur auf Basis dieser preußischen Vorschlagslisten möglich gewesen. Es wurde jedoch bereits deutlich, dass ein reiner Umgang mit diesen Kandidatenlisten unmöglich zu der abschließenden Terna führen konnte, sondern umfangreichere Personenkenntnisse erforderte, die nur Pacelli besaß (vgl. Nr. 1). Daher muss zwingend angenommen werden, dass der Kardinalstaatssekretär, der den Papst „gebührend“ unterrichtete, nicht nur den Rahmen für die Entscheidung vorgab, sondern sich eine präzise Terna überlegte und dieselbe Pius XI. zur Bestätigung vorlegte. Pacellis Aussage in der Weisung – der Papst habe die Listen untersucht – entsprang wohl seiner Ekklesiologie, gemäß welcher der Papst als Quelle aller Jurisdiktion und potestas natürlich auch die römische Dreierliste aufstellte, selbst wenn faktisch Pacelli als Vertreter des Pontifex diese Aufgabe übernahm und der Papst dieselbe „nur“ absegnete. Klar ist aber auch, dass Pacelli nicht ohne Rücksprache mit Pius XI. vorging. Dieser war außerdem über die Anschuldigungen gegen Galen im Bilde und für dessen Nachnominierung mitverantwortlich. Wenig informiert war hingegen der Nuntius. Zwar wickelte Pacelli über ihn den formalen Verfahrensverlauf ab und gestattete ihm dabei auch Freiheiten – zum Beispiel ließ er ihn die 15-tägige Rücklauffrist für die Kandidatenvorschläge einführen oder bejahte dessen Klarstellung, dass dem Heiligen Stuhl dabei die Initiative zu überlassen sei –, doch die zentralen Entscheidungen, nämlich über die römische Kandidatenliste, fällte er an ihm vorbei. Das Votum Hofmanns war ihm augenscheinlich wichtiger als die Meinung des Berliner Nuntius. Während dieser nämlich über Galen ein ambivalentes Urteil fällte und ihn damit nicht als episkopabel auswies, nominierte Pacelli den Grafen immerhin als Ersatzkandidaten nach. Und während Orsenigo eine Kandidatur Mönchs angesichts von dessen nichtwestfälischer Provenienz für zwecklos erachtete, platzierte der Kardinalstaatssekretär den Weihbischof an der Spitze der Terna. Während jener dafür plädierte, bei Donders die Bereitschaft zum Bischofsamt vor dem Wahlakt abzuklopfen, einigte sich Pacelli mit dem Papst darauf, diese Frage nötigenfalls erst nach der Wahl zu stellen. Während sich Orsenigo strikt an die Anweisung hielt, nur die nach Konkordatsmodus vorgeschlagenen

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Vgl.: „LʼAugusto Pontefice, a Cui mi sono fatto doverosa premura di riferire in merito, dopo aver esaminato accuratamente le liste proposte sia dal Capitolo di Münster come dai singoli Ecc.mi Vescovi Prussiani, interessa lʼEccellenza Vostra Rev.ma a proporre al Capitolo la seguenta terna …“ Pacelli an Orsenigo vom 9. März 1933, ASV, ANB 102, Fasz. 4, Fol. 39rv, hier 39r. 210

II.1.13 Berlin 1933/34

Kandidaten zu beurteilen – wobei diejenigen Pech hatten, die er nicht kannte, zumal er über diese auch keine Informationen einholte –, so ging der Blick Pacellis über diese Listen hinaus, insofern er sich a priori ein Votum von dritter Seite anfertigen ließ. Der Interpretationsfehler Collis in der Eidesfrage wurde nur möglich, weil der Nuntius im Urlaub war. Eigene Entscheidungen traute er sich nicht zu, sondern holte grundsätzlich die Zustimmung seines römischen Vorgesetzten ein. Mit der breiten Darstellung, wie er versucht habe, Heufers zur Annahme der Wahl zu bewegen, entschuldigte er sich gewissermaßen, dass dessen Verzicht nicht an seiner fehlenden Überzeugungskraft lag. Insgesamt erscheint Orsenigo demnach als weitgehend sorgfältiger Berichterstatter, doch war er keiner, der den Verlauf und den Ausgang des Besetzungsfalls entscheidend beeinflusste – eine solche Rolle gestand ihm Pacelli nicht zu.

II.1.13 Mit „ausgesprochen nationalsozialistischer Gesinnung“? Der Bischof als Politikum: Berlin 1933/34 (Nikolaus Bares)810 Der Tod von Christian Schreiber Im Sommer 1933 verfolgte man in Rom den Gesundheitszustand des Berliner Oberhirten Schreiber mit Sorge. Im Anschluss an eine telegraphische Mitteilung des Berliner Nuntius Orsenigo vom 22. August verlangte Kardinalstaatssekretär Pacelli im Namen des Papstes eine umfassendere Berichterstattung. Der Nuntius unterrichtete ihn am Folgetag, dass bei Schreiber eine „Herzinsuffizienz“ diagnostiziert worden sei.811 Bereits seit Juni des vorigen Jahres seien die Symptome sichtbar gewesen. Den Winter über habe er sich dann fast vollständig zurückgezogen in Berlin aufgehalten und praktisch keinen Besuch empfangen. Im Frühjahr des jetzigen Jahres habe er nicht an der Fronleichnamsprozession teilnehmen und keine Weihen spenden können. Der Diözesankongress Ende Juni habe ohne ihn stattgefunden, ebenso der Jugendkongress am vergangenen Sonntag. Die Situation sei so ernst, dass Schreiber die Sterbesakramente bekommen habe und in das katholische Hedwigskrankenhaus eingeliefert worden sei. Er habe ihn dort – so Orsenigo – mehrmals besucht und „obwohl er völlig gebrochen war, drückte er wiederholt seine Dankbarkeit aus, sprach mit großer Zuneigung vom Heiligen Vater und nahm 810

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Berlin 1933/​34 Fischer, Bares, S. 88f.; Flammer, Bischofswahlen, S.  247–249; Fochs, Bares, S.  71–82; Heim, Bischöfe, S.  100–121; Höhle, Gründung, S. 267; Ders., Berliner Bischöfe, S. 104–106; Hüsgen, Bistumsblätter, S. 191f.; Knauft, Bistum Berlin, S. 4f.; Speckner, Wächter, S. 129f. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 23. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 68r–69r. 211

II.1.13 Berlin 1933/34

mit sichtbarer Freude meinen Vorschlag auf, den Apostolischen Segen zu empfangen“812. Generalvikar Paul Steinmann lasse sich von den Domkapitularen in der Verwaltung der Diözese unterstützen, aber einige Angelegenheiten seien so natürlich nur provisorisch zu lösen. Doch Schreiber habe es stets zurückgewiesen, sich eine Hilfe – etwa in Form eines Koadjutors – zu beschaffen. Orsenigo schloss seine Darstellung mit dem unbefriedigenden Ergebnis, dass der weitere Fortgang nicht abzusehen sei und die Ärzte sich zurückhaltend gäben. Eine Woche später schließlich berichtete Orsenigo nach Rom, dass der Zustand weiterhin sehr ernst sei und sich mittlerweile auch Nierenprobleme eingestellt hätten.813 Am 1. September nahm Pacelli diese düstere Diagnose missfallend zur Kenntnis.814 Noch am gleichen Tag verstarb der Berliner Bischof. Die Domkapitulare wählten umgehend Generalvikar Steinmann zum Kapitelsvikar.815 Das Begräbnis von „imposantem Charakter“816 – wie Orsenigo, der das Requiem in der Berliner Hedwigskathedrale zelebrierte, es bezeichnete –, an dem viele geistliche und weltliche Würdenträger teilnahmen,817 fand am 6. des Monats statt.

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„… benché molto abbattuto espresse ripetutamente la sua riconoscenza, parlò con molto affetto del SANTO PADRE e accolse con visibile gioia la mia proposta di ottenergli la Benedizione Apostolica.“ Orsenigo an Pacelli vom 23. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 69r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 29. August 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 70r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 1. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 71r. Ob diese Information an die Kurie weitergegeben wurde, lässt sich aus den Akten des Staatssekretariats nicht eruieren. Auf jeden Fall zeigte Steinmann seine Wahl dem preußischen Kultusministerium an und machte auch die offizielle Mitteilung vom Tod des Oberhirten. Weil die Todesanzeige dort aber zunächst übersehen worden war, fragte Ministerialrat Johannes Schlüter am Monatsende, warum keine amtliche Benachrichtigung ergangen sei. Steinmann stellte dies dann richtig. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 104. „… carattere imponente …“ Orsenigo an Pacelli vom 8. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 74rv, hier 74r. Der Katholik Heinrich Lüdecke fertigte für den „Osservatore Romano“ einen Sonderbericht über die „Triumphfahrt des toten Bischofs von Berlin“ an, in dem er die massenhafte Teilnahme von Klerus und Volk bei der Überführung des Leichnams aus der bischöflichen Privatkapelle nach St. Hedwig beschrieb. Am Ende feierte der Verfasser Pacelli als „den ersten Begründer des neuen Bistums Berlin“. Lüdecke an Pacelli vom 6. September 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1929–1933, Pos. 584 P.O., Fasz. 92, Fol. 72r–73r, hier 72r und 73r. Orsenigo nannte neben Kardinal Bertram sieben weitere Bischöfe, einige Mitglieder des diplomatischen Corps wie den französischen und italienischen Botschafter, einen „sogenannten“ Bischof der evangelischen Kirche, das sächsische Königshaus, das ihrem ehemaligen Bischof von Meißen die letzte Ehre erwies, und Regierungsvertreter wie beispielsweise den preußische Kultusminister Rust. 212

II.1.13 Berlin 1933/34

Die Kandidatenvorschläge der preußischen Bischöfe und des Berliner Domkapitels Zwei Tage später bereits forderte der Kardinalstaatssekretär den Berliner Nuntius auf, den preußischen Episkopat und das Berliner Domkapitel anzuweisen, die vom Artikel 6 des Preußenkonkordats vorgesehenen Kandidatenlisten anzufertigen.818 Die Namen von „einem oder mehreren Kandidaten“ seien gesondert und mit „allen notwendigen Informationen“819 vorzubringen. Dabei sei es besonders wichtig, das secretum Sancti Officii zu betonen, unter dem das gesamte Prozedere stehe, und des Weiteren den Ordinarien die Natur dieses Geheimnisses zu erklären.820 Pacelli hielt darüber hinaus eine Frist von 15 Tagen für opportun, innerhalb derer der Rücklauf der Kandidatenvorschläge geschehen sollte. Damit griff er die Idee auf, die Orsenigo im Münsteraner Besetzungsfall vorgebracht und umgesetzt hatte, um eine baldige Antwort der Bischöfe sicherzustellen. Der Nuntius, für den diese römische Order bereits einen Routinecharakter trug, leitete am 12. September die Umsetzung der Konkordatsnorm mit einem Zirkularschreiben an die preußischen Bischöfe und die Berliner Domherren ein. Alle meldeten sich innerhalb des festgesetzten Zeitraums zurück. 1. Den Auftakt machte der Osnabrücker Ordinarius, Wilhelm Berning.821 Zwei Personen hielt er für geeignet, die Nachfolge Bischof Schreibers anzutreten: a) Einmal den Ermländer Oberhirten Maximilian Kaller, „der ein Mann von brennendem Seeleneifer, großer Autorität und guter Gesundheit ist“822. b) Als Alternative benannte er Paul Steinmann, „den treuen Mitarbeiter und Umsetzer der Pläne des verstorbenen Bischofs Schreiber“823. Berning wusste freilich 818

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 8. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 3r. Vgl.: „… uno o più candidati aggiungendo tutte le necessarie informazioni.“ Pacelli an Orsenigo vom 8. September 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 3r. Dies hatte sich mittlerweile als feste Vorgehensweise Pacellis herauskristallisiert. Wenngleich das Zirkularschreiben Orsenigos an den Episkopat aufgrund des Fehlens der Archivalien im Nuntiaturarchiv nicht überliefert ist (vgl. Bd. 1, Kap. I.2 Anm. 72), kann man davon ausgehen, dass Orsenigo die standardisierte Formel verwendete, die er auch im Münsteraner Fall benutzte. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats). Vgl. Berning an Orsenigo vom 14. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 12r. „… qui vir ardentis zeli animarum, magnae auctoritatis et bonae valetudinis est.“ Berning an Orsenigo vom 14. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 12r. „… fidelem cooperatorem et interpretem consiliorum defuncti Episcopi Schreiber.“ Berning an Orsenigo vom 14. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 12r. 213

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sehr gut, dass er selbst als möglicher Oberhirte der Reichshauptstadt gehandelt wurde. Da er seit kurzem ständiger Unterhändler des deutschen Episkopats bei der Reichsregierung war und daher ohnehin häufig in der Reichshauptstadt gastierte, lag der Gedanke nahe. Vielleicht antwortete er deshalb so schnell auf das Rundschreiben des Nuntius, um seiner Kandidatur so am wirksamsten vorbeugen zu können. Er fügte nämlich hinzu: „Ich bitte innig, dass Eure Exzellenz nicht mich selbst dem Heiligen Stuhl anzeigen will, weil ich weder geeignet, noch würdig, noch ausreichend gesund bin.“824 2. Daher überrascht nicht, dass ebendieser Berning genau im Fokus von Adolf Bertram von Breslau stand, der am 15. September auf Orsenigos Schreiben antwortete.825 Vor dem Hintergrund der jüngsten politischen Entwicklungen in Deutschland stellte Bertram fest, dass noch zurzeit des ehemaligen Delegaten, Weihbischof Josef Deitmer, ausschließlich die Seelsorge im Mittelpunkt des Berliner Aufgabenfeldes gestanden habe,826 der Berliner Sitz jedoch mittlerweile zu eminentem kirchenpolitischen und internationalen Rang aufgestiegen sei. Seiner Ansicht nach war also nun ein Bischof gefragt, der diesem Anspruch gerecht wurde, und diametral entgegengesetzt zum Selbstzeugnis des Osnabrücker Oberhirten urteilte er: „Berning hat neben felsenfester kirchlicher Gesinnung und regem Arbeitseifer das einige Maß von Gesundheit und Klugheit bewiesen, das der Sitz Berlin erfordert.“827 Der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz dachte aber auch an die erwähnte Rolle Bernings als Unterhändler des deutschen Gesamtepiskopats, die er als Berliner Diözesanbischof viel leichter würde ausfüllen können. 3. Aus Münster antwortete einen Tag später Clemens August Graf von Galen, der von Orsenigo angeschrieben worden war, obwohl er, zwar vom Papst als neuer Diözesanbischof bestätigt, das westfälische Bistum noch nicht in Besitz genommen hatte und noch nicht auf dem Bischofsthron des heiligen Ludgerus inthronisiert war.828 Galen schrieb ausführlicher als die meisten anderen Oberhirten, entschuldigte sich aber dennoch „in einfacher Briefform“ zu antworten, „da mir die vielleicht erforderliche offizielle Form nicht bekannt ist“829 und das secretum Sancti Officii jede 824

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„Enixe precor, ne Excellentia Vestra memetipsum Sanctae Sedi indicare velit, cum neque idoneus, neque dignus, neque satis sanus sim.“ Berning an Orsenigo vom 14. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 12r. Vgl. Bertram an Orsenigo vom 15. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 6r. Diese Sicht hatte Bertram bei der Erstbesetzung des Bistums Berlin 1929/​30 gegenüber Pacelli vertreten. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Die Initiative Kardinal Bertrams). Bertram an Orsenigo vom 15. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 6r. Vgl. Galen an Orsenigo vom 16. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 13r–15r (nur r). Galen an Orsenigo vom 16. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 13r. 214

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Nachfrage verhindere. Der Graf wusste nicht, dass es die vermutete „offizielle Form“ nicht gab. Auf Basis seiner langjährigen Kenntnis der Reichshauptstadt und der Berliner Kirche erstellte er folgendes Kandidatenprofil: Es sei „wünschenswert, dass, wenn es möglich wäre, der künftige Bischof der noch jungen Diözese, welcher in der Reichshauptstadt und gegenüber den Reichs- und Staatsbehörden als der sichtbare Repräsentant des deutschen Episkopats erscheint und der, wenn er dazu geeignet ist, der natürliche Vertrauensmann des Episkopats bei den Behörden sein wird, ein in der Verwaltung einer Diözese bereits erfahrener und bewährter und im katholischen Deutschland als Bischof angesehener Mann sei.“830

a) Die nötigen Eigenschaften und Erfahrungen besitze Wilhelm Berning, der „ein großes Glück für Berlin und für Deutschland sein würde“831. b) Als zweiten Geistlichen nannte er Kapitularvikar Paul Steinmann, der durch seine Laufbahn als Sekretär der Delegatur Berlin, Propst und Fürstbischöflicher Kommissar in Stettin sowie schließlich Generalvikar für das fragliche Amt sehr gut prädisponiert sei. Für ihn spreche auch seine Beliebtheit bei Klerus und Volk, gegen ihn eventuell sein Alter von 62 Jahren. c) Als Dritten empfahl Galen den Münsteraner Subregens Arnold Francken, der, „in jeder Beziehung hervorragend“832, ein würdiger Bischof für jedwede Diözese sei. Ihn kannte Galen persönlich aus ihrer teilweise gemeinsamen Kaplanszeit an der Berliner St. Matthias-Kirche. Den seit damals veränderten Verhältnissen in Berlin würde sich Francken aufgrund seines aufgeschlossenen Charakters und seiner Klugheit leicht anpassen. Weil Francken seit einem Vierteljahrhundert den Münsteraner Priesternachwuchs ausbilde, wäre sein Weggang allerdings – Galen sprach als neuer Oberhirte der Diözese – ein herber Verlust. 4. Bischof Damian Schmitt von Fulda teilte Orsenigo mit, dass ihm ein Vorschlag schwer falle, weil bei der Kandidatenwahl viele, nicht immer sichere Umstände berücksichtigt werden müssten.833 Dennoch hielt auch er Berning für tauglich, es sei denn dessen Amt als preußischer Staatsrat – Ministerpräsident Hermann Göring hatte ihn erst vor wenigen Monaten dazu ernannt834 –, verschlinge zu viel seiner Zeit und seiner Kräfte.

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Galen an Orsenigo vom 16. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 13r–14r. Galen an Orsenigo vom 16. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 14r. Galen an Orsenigo vom 16. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 14r. Vgl. Schmitt an Orsenigo vom 20. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 9r. Bernings Ernennung erfolgte am 11. Juli 1933. Vgl. dazu Recker, „Wem wollt ihr glauben?“, bes. S. 55– 63; Ders., Streitfall, S. 44–54; Seegrün, Berning (1972), S. 85–87. 215

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5. Nikolaus Bares aus Hildesheim hatte zwei Geistliche im Sinn:835 a) Einmal den Benediktinerabt Laurentius Zeller des Klosters St. Matthias in Trier, der in der theologischen Wissenschaft bewandert, mit praktischer Erfahrung ausgestattet, durch Frömmigkeit, Sittlichkeit und Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Stuhl hervorrage. b) Zum anderen den Trierer Seminarprofessor für Dogmatik, Heinrich von Meurers, der „mit außergewöhnlichen Fähigkeiten des Körpers und des Geistes ausgestattet ist und in dem eine große Kenntnis der theologischen Wissenschaft und der heiligen Beredsamkeit sich mit löblichem Gehorsam und kindlicher Liebe gegenüber dem Römischen Papst verbinden“836. 6. Der von Bares genannte Benediktinerabt Zeller bildete auch das erste propositum des Trierer Ordinarius, Franz Rudolf Bornewasser.837 An zweiter Stelle rangierte der ebenfalls bereits vorgeschlagene Francken. Beide seien fromme Priester und sowohl in weltlichen wie in geistlichen Angelegenheiten kundig, insbesondere der Erstgenannte. 7. Kaspar Klein von Paderborn schlug einzig den schon mehrmals erwähnten Berning vor.838 Keine längere Überlegung sei für diese Wahl nötig gewesen. Den Bischof von Osnabrück schätzte Klein „wegen der hervorragenden Eigenschaften seines Geistes und Herzens“, sodass „die Diasporadiözese Berlin in ihm einen seeleneifrigen, arbeits- und opferfreudigen, zugleich klugen und umsichtigen Oberhirten erhalten“839 würde. Da er selbst Protektor des Bonifatiusvereins sei, habe er stets feststellen können, dass Berning sich sehr um die Diaspora sorge. Darüber hinaus sei der Ortswechsel nach Berlin für Berning noch aus anderen Gründen sinnvoll: Als Vertreter des deutschen Episkopats in verschiedenen katholischen Organisationen, wie zum Beispiel der katholischen Schulorganisation oder der Ordenszentrale, seien häufige Besprechungen mit Regierungsvertretern erforderlich, die regelmäßig weite Reisen in die Hauptstadt nötig machten. Diese würden bei einer Promotion auf den bischöflichen Stuhl Berlin entfallen. Gerade angesichts Bernings kürzlicher Erhebung zum preußischen Staatsrat „tut stete und enge Fühlung mit den staatlichen Behörden doppelt not“840. 835

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Vgl. Bares an Orsenigo vom 20. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 10r. „… et corporis et animae viribus haud communibus praeditus, in quo magna scientiae theologicae et sacrae eloquentiae peritia iungitur cum laudabili erga Romanum Pontificem obsequio ac pietate.“ Bares an Orsenigo vom 20. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 10r. Vgl. Bornewasser an Orsenigo vom 20. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 11r. Vgl. Klein an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 8rv. Klein an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 8r. Klein an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 8v. 216

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Trotz dieses eindeutigen Votums fügte Klein die Zusicherung bei, dass er sein Urteil völlig dem Heiligen Stuhl unterwerfe: „Wie dieser entscheidet, so ist es gut. Sein Kandidat ist mein Kandidat.“841 8. Ähnlich wie Klein argumentierte auch Maximilian Kaller von Ermland.842 a) Berning sei nicht nur ein ausgezeichneter Hirte, sondern auch der Regierung akzeptabel. Um sein Amt als Staatsrat auszufüllen, sei seine Anwesenheit in Berlin praktischer als in Osnabrück. b) Für ebenfalls sehr geeignet hielt Kaller den Paderborner Philosophieprofessor und Dompropst, Paul Simon. Dieser sei ein hervorragender Philosoph, ein glänzender Lehrer der Jugend, ein guter Seelsorger und nicht zuletzt „vere hominem secundum Deum“843. 9. Drei Geistliche – so viele wie vor ihm nur Galen – schlug der Limburger Oberhirte Antonius Hilfrich vor.844 a) Zunächst dachte er – nihil novi – an Berning. Auch Hilfrich machte den pragmatischen Vorschlag, dass eine Übersiedlung nach Berlin für den Staatsrat sinnvoll erscheine, damit dieser seinen Einfluss in den Regierungskreisen „leichter und fruchtbarer zum Nutzen des ganzen katholischen Deutschlands einsetzen könne“845. Besonders geeignet, erfahren und bewährt sei Berning freilich auch, weil die Situation der Diözese Osnabrück jener des Bistums Berlin nicht unähnlich sei  – wohl eine Anspielung auf den Diasporacharakter. b) Sodann benannte er den ebenfalls schon bezeichneten Steinmann, der zwar schon vorgerückten Alters sei, aber durch sein Verwaltungsamt eine genaueste Kenntnis der Diözese besitze und mit der Regierung einen guten Umgang pflege. c) Der letzte Geistliche war gänzlich neu im Kandidatenspektrum: nämlich der Berliner Domkapitular und Dr. phil. et theol. Adolf Strehler. Dieser sei im römischen Germanicum und an der Gregoriana bestens ausgebildet, „Experte“ in der Seelsorge und Bistumsverwaltung und vermutlich der Regierung genehm. Ebenso wie Klein stellte auch Hilfrich seine Überlegungen abschließend unter das höhere Urteil der Kurie. 10. Kurz vor Ablauf der Frist meldete sich der Kölner Erzbischof, Karl Joseph Schulte, mit einem starken Votum für den Münsteraner Neutestamentler Maximilian Meinertz zurück.846 1880 in einer katholischen Familie geboren, Priester seiner Heimatdiözese Ermland und nach verschiedenen Seel841

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Klein an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 8v. Vgl. Kaller an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 16r. Kaller an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 16r. Vgl. Hilfrich an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 17rv. „… facilius et uberius in utilitatem totius Germaniae catholicae vertere possit …“ Hilfrich an Orsenigo vom 21. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 17r. Vgl. Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7rv. 217

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sorgsstationen Privatdozent in Bonn, habe er schließlich 1909 die Professur in Münster angenommen. Sein priesterliches Leben sei immer vorbildlich gewesen, dementsprechend seine Tätigkeit als Theologe stets treu-kirchlich, wovon sein wissenschaftliches Werk beredtes Zeugnis ablege. Von den Theologieprofessoren Deutschlands sei er mehrfach als Vertreter gemeinsamer Angelegenheiten gewählt worden, zum Beispiel im vorangegangenen Jahr, als er mit Martin Grabmann aus München ihre Zunft bei den Verhandlungen über die Durchführung der Studienkonstitution Deus scientiarum Dominus vertreten habe.847 Schulte leitete daraus ab, „wie gewandt und hilfsbereit er ist und wie sehr sich bei ernsten und schwierigen Verhandlungen seine Kraft bewährt“848. Den taktvollen und vornehmen Umgang in Verbindung mit „Gewandtheit im Verkehr“849 habe er sich als Sohn eines Berliner Geheimen Ministerialrats früh aneignen können. Gerade eine Persönlichkeit solcher Qualität hielt Schulte „für die aus manchen Gründen besonders delikate Stellung eines Bischofs von Berlin“850 erforderlich. Dabei sei es kein Manko, dass er in Münster keinen populären Ruf genieße, da es in der westfälischen Domstadt für keinen Priester östlicher Provenienz leicht sei, die Zuneigung der Menschen zu gewinnen. Den engen Kontakt zu Klerus und Volk werde er in Berlin viel leichter herstellen können. Daher kam Schulte zu dem eindeutigen Urteil: „Nach meiner bescheidenen Ansicht könnte das Bistum Berlin in der schwierigen Situation von heute am besten ein glückliches Weiteraufblühen des katholischen Lebens erhoffen von einem Bischof, der sich leicht in dem Berliner Milieu zurechtfindet, der mit Klugheit und Takt überall auftritt, der als geistig hervorragend sogleich ernst genommen wird, der als echter priesterlicher Charakter zu rechter Zeit die Interessen unserer H[eiligen] Kirche entschieden und glücklich verteidigt.“851

Auch der deutsche Episkopat hätte mit der Eingliederung Meinertzʼ in seine Reihen einen echten Gewinn zu verzeichnen. Freilich gehe dem Professor die Erfahrung in der bischöflichen Pastoration und Administration ab. Sollte – was Schulte für einsichtig hielt – beim Profil des neuen Berliner Oberhirten darauf besonderer Wert gelegt werden, „wüsste ich niemand aus dem deutschen Episkopat, der dann geeigneter wäre, als der hochwürdigste Herr Bischof Dr. Berning von Osna-

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Auch später noch war Meinertz beratend in den Studienfragen tätig. Vgl. Unterburger, Lehramt, S. 560. Vgl. zu Deus scientiarum Dominus Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 661. Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7r. Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7v. Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7v. Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7v. 218

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brück“852. Doch so begeistert war Schulte von dieser Vorstellung nicht, da er doch Zweifel hegte – anders als etwa seine Konbischöfe –, ob dessen Funktion als preußischer Staatsrat sich nicht eher abträglich denn als zuträglich für den Berliner Bischofsstuhl auswirken würde. 11. Das Berliner Domkapitel zu St. Hedwig traf sich am 23. September zur Aufstellung seiner Kandidatenliste. Am nächsten Tag übersandte es der Nuntiatur eine Trias von Geistlichen, die es einmütig für tauglich hielt.853 a) Auf den ersten Platz setzten die Domherren ihren Dompropst und Kapitelsvikar Steinmann, der als ehemaliger bischöflicher Kommissar für die Provinz Pommern und als Generalvikar die gesamte Diözese und ihre Tradition sehr gut kenne. Die Plätze zwei und drei belegten b) Berning und c) der Propst des Breslauer Domkapitels und erzbischöfliche Generalvikar, Alfons Blaeschke. Alle Genannten seien in der Diasporaseelsorge erfahren, würden die Gefahren, Sorgen und Gewohnheiten der Diaspora sehr gut kennen und hätten auf administrativem Gebiet ihre Eignung und Klugheit unter Beweis gestellt. Frömmigkeit, Kirchlichkeit und Apostolischer Eifer würden – so die Ansicht der Kapitulare – ebenfalls zu ihren Vorzügen gehören. 12. Schließlich legte Joseph Vogt aus Aachen seine Vorschläge vor.854 a) Zum einen nannte auch er Steinmann, den er aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung in den Leitungsaufgaben für geeignet hielt. b) Zum anderen den Eichstätter Oberhirten, Konrad Graf von Preysing, „dessen Wissen und Erfahrung ich“ – so Vogt – „in der Versammlung der Fuldaer Bischöfe sehr gut bemerkt habe, an denen er die anderen Bischöfe bei weitem übertrifft“855.

Die Analyse der Kandidatenvorschläge durch Nuntius Orsenigo Orsenigo sortierte für Pacelli, dem er die Vorschläge am 6. Oktober von seinem norditalienischen Urlaubsort Valgreghentino zukommen ließ, die elf unterschiedlichen Namen nach der Anzahl ihrer Nennungen.856 Am häufigsten, nämlich acht Mal, war Berning vorgeschlagen worden (neben 852

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Schulte an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 7v. Vgl. Domkapitel an Orsenigo vom 24. September 1933 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 18rv. Vgl. Vogt an Orsenigo ohne Datum (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 19r. „… cujus scientiam experientiamque in conventu Episcoporum Fuldae habito optime cognovi, quibus alios Episcopos valde antecellit.“ Vogt an Orsenigo ohne Datum (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 19r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 4r–5v. Offensichtlich hatte ihm Auditor Carlo Colli die Dokumente von Berlin aus nach Valgreghentino weitergeleitet. 219

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Bertram und Schulte von fünf anderen Bischöfen plus dem Domkapitel), dann kam Steinmann mit fünf Stimmen sowie Francken und Zeller mit je zwei Befürwortern. Alle anderen waren je einmal in Erwägung gezogen worden. Orsenigo unterzog die Kandidaten gemäß Pacellis Wunsch einer eigenen Begutachtung, wobei er diese auf die besondere Bedeutung des Berliner Bischofsstuhls zuschnitt, die dieser in der letzten Zeit erhalten habe. Damit meinte er die politische Vereinheitlichung und Zentralisierung des deutschen Reiches in der Reichshauptstadt bei weitgehender Ausschaltung der Befugnisse der einzelnen Länder, die räumliche Nähe zur nationalsozialistischen Regierung und schließlich den Aufstieg der evangelischen Reichskirche.857 Um diesen Herausforderungen wirksam begegnen zu können, müsse der neue Inhaber der Cathedra Eindruck machen vor allem „durch seine große Frömmigkeit und die Religiosität in seinen pastoralen Handlungen“858. a) Der häufigen Anzeige des Osnabrücker Bischofs nahm der Nuntius schnell den Wind aus den Segeln, indem er sie aus dessen Staatsratsposten ableitete. Doch anders als die meisten Proponenten interpretierte Orsenigo wie Kardinal Schulte dieses Amt eher als Hindernis für den Berliner Bischofsstuhl, „weil es die hohe Würde des Ordinarius von Berlin mit einer politischen Aufgabe verbinden würde, die sich  – aufgrund der heutigen Systeme  – stellenweise in eine regelrechte Dienstleistung des Staates verwandelt“859. b) Auch Steinmann erhielt von Orsenigo keinen Freibrief: Das Amt des Kapitelsvikars habe ihm das Glück gebracht, vom Domkapitel und vier Bischöfen vorgeschlagen zu werden, obwohl er sich keiner blühenden Gesundheit erfreue und seine Beziehung zur aktuellen Regierung gewiss nicht innig sei. Ein weitgehend unbelastetes Verhältnis zur NS-Regierung war nach Ansicht des Nuntius also die Voraussetzung für das fragliche Amt. Steinmanns Frömmigkeit – so fuhr er fort – sei

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Mit dem letzten Punkt spielte Orsenigo wohl auf die wenige Tage zuvor, am 27. September, erfolgte Wahl des gebürtigen Gütersloher Lutheraners Ludwig Müller zum Reichsbischof durch eine evangelische Nationalsynode an. Müller war NSDAP-Mitglied und gehörte der nationalsozialistischen evangelischen Kirchengruppe der Deutschen Christen an. Hitler, der Müller bereits im April des Jahres zu seinem „Bevollmächtigten für Fragen der evangelischen Kirche“ ernannt hatte, intervenierte, als die evangelische Kirchenleitung im Mai nicht diesen, sondern Friedrich von Bodelschwingh zum Bischof der neuen Reichskirche wählte. Aus denen von Hitler daraufhin im Juli 1933 angeordneten Kirchenwahlen gingen die Deutschen Christen mit absoluter Mehrheit als Sieger hervor, was letztlich die Voraussetzung für die Wahl Müllers zum Reichsbischof bildete. Für Hitler war dies ein weiterer Baustein seiner Gleichschaltungspolitik, die er nach seiner „Machtergreifung“ mit dem „Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März begonnen hatte. Vgl. zu Müller, der evangelischen Reichskirche und den Deutschen Christen Conrad, Kampf, S. 23–31; Fleischmann-Bisten, Bund, bes. S. 126–129; Meier, Christen; Ders., Kirchenkampf; Nicolaisen, Müller; Scholder, Kirchen, bes. Bd. 1, S. 239–274. „… per la grande pietà e la religiosità della sua azione pastorale.“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 5r. „… perché associerebbe lʼalta dignità delʼOrdinario di Berlino con una mansione politica, che – dati i sistemi odierni – si tramuta talvolta in un puro servizio di impiegato della Stato.“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 5r. 220

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ebenfalls nicht hervorstechend, wenngleich sein priesterliches Leben als unbescholten und seine Hochachtung gegenüber dem verstorbenen Bischof Schreiber als vorbildlich zu bezeichnen sei. Insbesondere mit dem politischen Kriterium hatte der Nuntius die beiden Favoriten der preußischen Hierarchie für das vakante Bischofsamt diskreditiert: Stand Berning der Regierung durch seinen Staatsratsposten zu nah, so stand Steinmann ihr gegenüber zu fern. Über die anderen Kandidaten habe er – so Orsenigo – keine besonderen Beobachtungen vorzubringen: c) Auf den Benediktiner Zeller, der „vom sehr frommen Bischof Bares vorgeschlagen worden“860 sei, kämen schon ziemlich heikle Aufgaben als Apostolischer Visitator zu – Zeller wurde von Pius XI. des Öfteren mit der Visitation von Benediktinerklöstern beauftragt. Erst im Juni 1932 war er zum Visitator in Brasilien ernannt worden und verwaltete das westbrasilianische Missionsgebiet Rio Branco. Schade sei – berichtete der Nuntius weiter –, dass die anderen Mitglieder seines Ordens ihn in den letzten Monaten in ein alles andere als sympathisches Licht gestellt hätten. Dieses negative Bild, das Orsenigo nicht weiter ausmalte, resultierte noch daher, dass Zeller als außerordentlicher Visitator der österreichischen Klöster im Jahr 1928 mehrere Äbte abgesetzt hatte, was ihm den zweifelhaften Ehrentitel „Abtstöter“ einbrachte.861 d) Zum Eichstätter Bischof bemerkte Orsenigo knapp, dass seine bayerische Herkunft kein Problem bedeute, denn die Unterschiede zwischen Bayern und Preußen würden jeden Tag mehr verschwinden. e) Für sein Urteil über Francken verwies der Nuntius auf den Kontext der Münsteraner Sedisvakanz, wo – wie er zusammenfasste – der Genannte sehr gut eingeschätzt worden sei.862 f) Die Nennung der beiden Universitätsprofessoren Meinertz und Simon führte er schließlich auf das Bestreben zurück, vorherrschende Klagen, dass die Professorenzunft bei den Bistumsbesetzungen umgangen würde, zu beruhigen: „Die deutsche Mentalität hat noch viel Faszination übrig für denjenigen, der auf dem Lehrstuhl sitzt, auch auf die Gefahr hin, die wahrhaft pastorale Handlung dann weniger zu pflegen.“863 In Berlin würde also, und dies scheine auch die Ansicht Kardinal Schultes zu sein, ein Bischof eine gute Figur machen, der direkt von der Universität komme. Orsenigo merkte bereits, dass der politische Umsturz der vergangenen Monate mit der Festigung und Konzentration der Macht bei den Nationalsozialisten die kirchliche Personalpolitik in 860

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„… proposto dal piissimo Vescovo Bares …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 5r. Vgl. zu den Visitationen in Brasilien und Österreich o.V., Erzabt Bischof Laurentius Zeller, S.  10f.; Zeller, Laurentius, in: Orden online. Den Titel „Abtstöter“ hatte er übrigens mit dem Scheyerner Abt Simon Landersdorfer gemein, der ihn auf den Visitationsreisen begleitete. Vgl. Geier, Seelsorge, S. 29. Vgl. Orsenigos Wertung in Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Vorsondierungen des Nuntius). „La mentalità tedesca ha ancora molto fascino per chi sta in cattedra, anche a rischio di veder poi meno coltivata la vera azione pastorale.“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 5v. 221

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Zukunft nicht erleichtern würde. Um das zu illustrieren, berichtete er Pacelli abschließend von einem Besuch Bischof Bernings in der Nuntiatur zwei Wochen zuvor, Mitte September. Dieser sei gerade von einer Sitzung des preußischen Staatsrats gekommen und habe ihm eine Empfehlung Görings für den vakanten Bischofssitz überbringen wollen. Er habe jedoch – so der Nuntius – den Namen nicht hören wollen, um ihn weder bevorzugen noch bekämpfen zu müssen. Ihm sei allein daran gelegen gewesen, zu vermeiden, dass sich die Politik in diese Angelegenheit einmische. Gerade weil es die erste Sedisvakanz unter dem Regime der Nationalsozialisten sei – der Nuntius zählte den Münsteraner Fall nicht dazu, weil dieser kurz vor der „Machtergreifung“ mit dem Tod Poggenburgs am 5. Januar begonnen hatte –, beabsichtigte Orsenigo das Verfahren ein für alle Mal festzusetzen, um bei den Regierungsvertretern erst gar keinen falschen Eindruck zu erzeugen. Berning habe diesem Anliegen seine Zustimmung entgegengebracht und versprochen, schlicht zu erklären, dem Nuntius „nichts gesagt zu haben“864.

Die Sondierung der Kandidaten im Staatssekretariat und die römische Dreierliste Nachdem das Dokumentenbündel im römischen Staatssekretariat angekommen war, stellte einer der Minutanten865 die vorgeschlagenen Namen zusammen.866 Zum einen listete er auf, von wem

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Vgl.: „Il Vescovo comprese e mi promise avrebbe detto semplicemente di ‚non avermi comunicato nulla‘.“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 5v. Um wen es sich bei dem staatlichen Wunschkandidaten handelte, lässt sich nur vermuten. Zu denken wäre zum Beispiel an den Rektor des römischen Campo Santo Teutonico, Hermann Maria Stöckle, den der Auslandsdeutsche Anton Schnägerl dem Kultusministerium vorschlug. Dieser sah in dem Rektor einen der wenigen Kleriker, die „eine Vergangenheit und Eigenschaften mitbringen, welche insbesondere vom nationalsozialistischen Standpunkt dazu notwendig sind“, dem Bistum der Reichshauptstadt vorzustehen. Schnägerl an die NSDAP-Reichsleitung, von dieser am 4. Oktober 1933 an das preußische Kultusministerium weitergereicht, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 105. Vgl. zu Stöckle Forstner, Priester, S. 433 Anm. 63. Alternativ ließe sich auch an den Grüssauer Benediktinerabt, Albert Schmitt, denken, der von Vizekanzler Papen und Beamten des Kultusministeriums bereits im Münsteraner Fall des gleichen Jahres unterstützt worden war. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Abt Albert Schmitt versus Clemens August Graf von Galen). Vgl. zur vermeintlichen Kandidatur Schmitts im Berliner Fall Heim, Bischöfe, S. 105; Lob, Albert, S. 203. Im Jahr 1933 waren drei Minutanten in der ersten Sektion des Staatssekretariats, den außerordentlichen Angelegenheiten, tätig: Giuseppe Malusardi, Antonio Colonna und Giulio Barbetta. Vgl. Annuario Pontificio 1933, S. 578. Wer von diesen die eingegangenen Unterlagen bearbeitete, geht aus den Quellen nicht hervor. Denkbar wäre auch, dass es einer der „Addetti“ war, nämlich Maurilio Silvani, der mit Pacelli bereits in der Münchener Nuntiatur tätig war. Vgl. Kandidatenbeobachtungen eines Minutanten ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 20r–21r. 222

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welcher Kandidat und auf welchem Rang vorgeschlagen worden war.867 Zum anderen stöberte er im Archiv nach etwaigen Unterlagen zu den jeweiligen Geistlichen. Bei Berning machte er keine Angaben, vielleicht weil er die Beurteilung Orsenigos für ausreichend hielt. Für Steinmann erinnerte er an einen Bericht des damaligen Nuntius Pacelli vom 16. März 1929, in dem dieser im Kontext der Erstbesetzung des gerade in der Entstehung begriffenen Berliner Bistums über den damaligen Stettiner Propst ein durchwachsenes Urteil gefällt hatte.868 Für Francken verwies der Minutant auf die bereits angesprochene relativ gute Einschätzung, die Orsenigo in seinem Bericht vom 24. Februar des Jahres anlässlich der Sedisvakanz des Münsteraner Bischofsstuhls vorgelegt hatte. Auf das gleiche Dokument rekurrierte er auch hinsichtlich des Trierer Benediktinerabts, der schon damals von Bornewasser als persona idonea für die bischöfliche Mitra vorgeschlagen worden war. Außerdem fand er einen persönlichen Bericht des langjährigen Wiener Nuntius, Enrico Sibilia, vom 30. Mai 1930, der Zeller – vermutlich vor dem Hintergrund der beschriebenen Visitationstätigkeit in Österreich – als jemanden bezeichnete, der „in praktischen Dingen etwas von seiner Klugheit zu wünschen übrig lässt“869. Zu Kaller und Preysing äußerte sich der Minutant nicht. Professor Meinertz sei von Schulte schon für den Münsteraner Bischofsstuhl in Betracht gezogen worden. Der kuriale Mitarbeiter erinnerte daran, dass Orsenigo sich damals aus persönlicher Erfahrung sehr negativ über die Charakterstärke des Exegeten geäußert hatte.870 Damit war an eine ernsthafte Kandidatur des Exegeten eigentlich schon nicht mehr zu denken. Darüber hinaus fand der Minutant in den vatikanischen Unterlagen ein weiteres Urteil, das die Einschätzung Orsenigos untermauerte, nämlich die informelle Eingabe des Königsberger Studentenpfarrers, Matthias Dietz SJ, anlässlich der Besetzung des bischöflichen Stuhls von Ermland 1930.871 Der Jesuit hatte damals die Kandidatur Meinertzʼ aufgrund des prinzipiellen Einwandes abgelehnt, der neue Bischof müsse aus der Praxis kommen. Der römische Sachbearbeiter interpretierte diese Einschät-

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Das tat er in exakt der Reihenfolge, in der Orsenigo die Kandidaten in seinem Bericht aufgelistet hatte: Berning, Steinmann, Francken, Zeller, Kaller, Preysing, Meinertz, Meurers, Simon, Strehler und Blaeschke. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Pacellis Überlegungen zur Wiederbesetzung der Berliner Delegatur). „… ‚in agibilibusʻ lascia desiderare alquanto la sua prudenza.“ Kandidatenbeobachtungen eines Minutanten ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 20v. Der Minutant machte sich die Arbeit, den entsprechenden Passus aus Orsenigos Bericht vom 24. Februar zu exzerpieren: „Il Prof. di Università Meinertz … è certo un buon sacerdote, ma privo dʼogni esperienza pastorale ed anche di una certa fermezza di carattere. Nella questione della applicazione della Costituzione ‚Deus Scientiarum Dominusʻ, venuto a Berlino, come decano, per conferire col Ministro dei Culti, lʼanno scorso, non ebbe il coraggio (!) di passare alla Nunziatura Apostolica, sebbene lo desiderasse.“ Kandidatenbeobachtungen eines Minutanten ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 20v. Vgl. auch dazu Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Vorsondierungen des Nuntius). Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.9 (Informelle Petitionen aus Ermland). 223

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zung nun zu der Wertung um, Meinertz fehle es an persönlicher Erfahrung.872 Über Meurers fand er im Archiv keine Unterlagen, genauso wenig wie über Blaeschke. Über Strehler äußerte er sich ebenfalls nicht. Blieb noch Simon übrig, über den der römische Beamte ein noch junges Schreiben aus der Apostolischen Datarie vom 2. Mai des Jahres hervorzog, das die Ernennung des Tübinger Professors zum Paderborner Dompropst thematisierte. Dieses Schriftstück rekurrierte auf eine Einschätzung Pacellis über die unzureichende deutsche Priesterausbildung und die mangelnde Umsetzung von Reformen aus dem Jahre 1928. Dort hatte der damalige Nuntius über Simon ein kurzes, aber letztlich vernichtendes Urteil gefällt: „… der Priester Dr. Simon, gegenwärtig Professor für Philosophie und Apologetik in der theologischen Fakultät der Universität Tübingen, in seinen Ideen und Ansichten, wie man mir berichtet, nicht ganz unbedenklich …“873 Aus der Datarie hieß es dazu beschwichtigend: „Ich habe die Ehre, Eurer Eminenz [sc. Pacelli, R.H.] zu antworten, dass obwohl die Ideen und Ansichten des obengenannten Professors, wie man berichtet, … nicht ganz unbedenklich sind, dieser doch gleichwohl gute priesterliche Sitten besitzt und es sich doch nur um die Dignität der Propstei handelt …“874 Für die Würde des Dompropstes war über die von Pacelli angezweifelte Orthodoxie Simons soeben noch hinwegzusehen. Aber der bischöfliche Ordo rückte für den Philosophieprofessor in unerreichbare Ferne. Es blieben also von den vorgeschlagenen Geistlichen nicht viele übrig, die in Rom nicht bereits negativ vorbelastet oder durch die Läuterung Orsenigos unbescholten hindurchgegangen waren. Umso weniger verwunderlich ist, dass die Terna, die der Kardinalstaatssekretär am 14. Oktober dem Papst vorlegte,875 die Vorschlagslisten kaum berücksichtigte: An erster Stelle stand der Hildesheimer Bischof, Nikolaus Bares. Auf Platz zwei gelangte der Abt von Scheyern, Simon Landersdorfer OSB. Beide waren nicht vorgeschlagen worden. Die Nummer drei schließlich war der Münsteraner Subregens, Arnold Francken, der zwei Voten erhalten hatte und zu den angespro-

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Vgl. „Anche allora il P. Dietz SJ … aveva rilevato la mancanza di esperienza personale.“ Kandidatenbeobachtungen eines Minutanten ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 20v. „… il sac. Dr. Simon, attualmente Professore di filosofia ed apologetica nella Facoltà teologica dellʼUniversità di Tubingen, di idee e di sentimenti, a quanto mi si riferisce, non del tutto incensurabili …“ Pacelli an Gasparri vom 29. Februar 1928, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1935, Pos. 579 P.O., Fasz. 88, Fol. 36r–39v, hier 37r. Hervorhebung im Original. „Ho lʼonore di rispondere a Vostra Eminenza che sebbene le idee ed i sentimenti del sunnominato Professore non siano stati, a quanto si riferisce, … del tutto immuni da censura, tuttavia, essendo egli di buoni costumi sacerdotali e trattandosi soltanto della dignità di proposto …“ Kandidatenbeobachtungen eines Minutanten ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 21r. Vgl. Audienznotiz Pacellis vom 14. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 348, Fol. 120r. 224

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chenen wenigen Vorschlägen gehörte, von denen ein schadloses Bild im Staatssekretariat existierte. Landersdorfer und Francken passierten noch am selben Tag die Prüfung des Heiligen Offiziums.876 Für Bares, der bereits Bischof war, war eine solche nicht notwendig. Wie Sekretär Pizzardo dem Berliner Nuntius am 18. Oktober in einem privaten Schreiben ohne Protokollnummer – wahrscheinlich im Auftrag des Kardinalstaatssekretärs – mitteilte, habe man davon abgesehen, Steinmann auf die Liste zu setzen, weil dessen Gesundheitszustand nicht stabil genug sei.877 Darüber hinaus stellte er die Notwendigkeit heraus, dass die Bischofswahl sobald wie möglich stattfinden sollte und zwar unbedingt noch vor den „Wahlen“. Für den 12.  November waren die zweiten Reichstagswahlen des Jahres angesetzt und man fürchtete wohl im päpstlichen Staatssekretariat, wie die Umstände erwarten ließen, eine Stärkung der NSDAP, die wiederum Auswirkungen auf das staatliche Nihil obstat für den neuen Oberhirten der Reichshauptstadt haben könnte. Das Schreiben mit der eigentlichen Terna hatte Pacelli bereits am Vortag, dem 17.  Oktober, anfertigen lassen und abgesegnet.878 Pizzardo sandte es nun gleichzeitig mit dem privaten Brief an Orsenigo. Wie schon bei den früheren preußischen Besetzungsfällen benutzte Pacelli die mittlerweile zu diesem Anlass standardisierte Formel, dass der Papst von ihm genau unterrichtet worden sei und die Vorschlagslisten geprüft habe.879 Auch bekräftigte er wieder, dass die Wahl unter dem secretum Sancti Officii stehe, welches auch nach dem Wahlakt in Geltung zu bleiben habe, und schließlich, dass die Domherren gemäß den Vorschriften des Preußenkonkordats die Regierung um politische Bedenken gegen den Gewählten angehen sollten.880 Für den unwahrscheinlichen Fall,881 dass dies zutreffe, müssten umgehend Instruktionen aus Rom eingeholt 876

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Vgl. Pizzardo an Canali vom 14. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 22r und 24r sowie Canali an Pizzardo vom 14. Oktober 1933, ebd., Fol. 23r und 25r. Vgl. Pizzardo an Orsenigo vom 18. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 26r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 17. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 27r–28r. Vgl.: „LʼAugusto Pontefice, a Cui mi sono fatto doverosa premura di riferire in merito, dopo aver esaminato accuratamente le liste proposte, Si è degnato di disporre che interessasse lʼE.V. a proporre al Capitolo cattedrale di Berlino la terna seguente …“ Pacelli an Orsenigo vom 17. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 27r. Das Reichskonkordat, das den preußischen Staatskirchenvertrag in diesem Punkt insbesondere darin modifizierte, dass die Anfrage dem Reichsstatthalter vorzulegen war, erwähnte der Weisungsentwurf nicht. Ungeachtet dessen stellte das Domkapitel die Anfrage später an Hermann Göring, der nicht nur preußischer Ministerpräsident beziehungsweise Reichskommissar war, sondern ebenfalls der Stellvertreter des preußischen Reichsstatthalters, Adolf Hitler. Vgl. zur Bestimmung des Reichskonkordats Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 571. Auch dabei handelte es sich um eine standardisierte Formel, die in den vergangenen Besetzungsfällen im Anschluss an das Preußenkonkordat von Pacelli immer wieder benutzt wurde. 225

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werden. Keinesfalls dürfe eigenmächtig eine neue Wahl initiiert werden, die ohnehin „sub poena nullitatis novae electionis“882 stünde. Offensichtlich war die Terna angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen unter Zeitdruck aufgestellt worden. Und offenbar war Pacelli mit der bisherigen Dreierliste nicht hundertprozentig zufrieden, denn er änderte bis zum nächsten Tag seine Meinung und beauftragte Orsenigo per Telegramm mit der Modifikation der Liste: Der zweitplatzierte Landersdorfer sollte gegen den Eichstätter Oberhirten, Konrad Graf von Preysing, ausgetauscht werden.883 Damit gelangte noch jemand auf die Liste, der zumindest auf dem Zettel eines preußischen Bischofs stand, nämlich dem von Vogt. Darüber, wie dieser Meinungsumschwung im Einzelnen zustande kam, lässt sich quellenmäßig nichts sagen. Auch ob etwa Pius XI. daran entscheidend beteiligt war, muss an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls hatte die Liste mit Bares, Preysing und Francken nun ihre endgültige Form.

Die Bischofswahl des Berliner Domkapitels Neben der telegraphischen Versicherung an Pacelli vom 20.  Oktober, den Kandidatentausch auszuführen, schrieb Auditor Carlo Colli vier Tage später eine ausführliche Eingangsbestätigung an Pizzardo.884 Colli erledigte zu diesem Zeitpunkt die laufenden Geschäfte der Nuntiatur, weil Orsenigo – wie gesagt – in Norditalien Urlaub machte. Detailliert gab er an, das Ternaschreiben am 20.  Oktober erhalten, ins Lateinische übertragen, den Kandidatenaustausch vollzogen und das Dokument persönlich in einem verschlossenen und versiegelten Umschlag seinem Adressaten übergeben zu haben. Colli hatte Dompropst Steinmann also einen Besuch abgestattet. Wie aufgetragen habe er ihm auch die schleunige Wahl zum bald möglichsten Zeitpunkt empfohlen. Mit spürbarer Unsicherheit, die in der akribischen Darstellung seiner Arbeit durchscheint, bekräftigte Colli dem Sekretär der AES abschließend: „Anderes habe ich nicht

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Pacelli an Orsenigo vom 17. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 28r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 19. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 31r. Vgl. Colli an Pacelli vom 20. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 30r und Colli an Pizzardo vom 24. Oktober 1933, ebd., Fol. 32r–33r. Der Auditor bekannte Pizzardo, dem Nuntius das vertrauliche Schreiben vom 18. des Monats nicht in den Urlaub hinterher gesandt zu haben, wegen der Befürchtung, die vertrauliche Information über Steinmann könnte leicht in die Öffentlichkeit gelangen und er es dann zu verantworten hätte, wenn das secretum Sancti Officii verletzt würde. Er versprach aber, Orsenigo alles mitzuteilen, sobald dieser nach Berlin zurückkehre. 226

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gesagt; ich habe meinen Respekt gezollt und mit Höflichkeitsbezeigungen meinen sehr kurzen Besuch beendet.“885 Pizzardo bemerkte wenige Tage später, dass er es für angemessen halte, dem Dompropst und Kapitelsvikar vertraulich, „mit allem Taktgefühl“886, mitzuteilen, warum er nicht auf der römischen Liste stehe. Offensichtlich glaubten er und Pacelli, dass eine Erklärung oder gar eine Rechtfertigung für die Zusammensetzung der Liste notwendig sein könnte. Colli berichtete Pizzardo am 9. November, dass er diesen Auftrag nicht in gewöhnlicher Form ausgeführt habe, indem er Steinmann beispielsweise offiziell besuchte.887 Stattdessen habe er die Gelegenheit genutzt, dass am Sonntag, dem 5. November, in der St. Hedwigs-Kathedrale das Kapitelsamt vom Regensburger Domchor begleitet worden sei, der die „Missa Papae Marcelli“ von Giovanni Pierluigi da Palestrina gesungen habe. Unter dem Vorwand, die musikalische Kunst hören zu wollen, sei er dort hingegangen. In Wirklichkeit habe er aber intendiert, Steinmann zu treffen und diesen nach der Messe in der Sakristei aufgesucht. Er habe ihn auf die Seite genommen und von der römischen Auffassung unterrichtet, ihn wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht für die Nachfolge Schreibers in Erwägung ziehen zu können. Colli beschloss seinen Bericht mit dem gänzlich unbestimmten Hinweis, dass die Bischofswahl inzwischen stattgefunden habe. Da innerhalb der nächsten Tage keine genauere Berichterstattung nach Rom folgte, bat Pacelli – nach Rücksprache mit Pius XI.888 – den Nuntius via Telegramm am 19. November um Mitteilung, wann und wer gewählt worden sei sowie wann die Nachfrage an die Regierung stattgefunden habe.889 Er wollte diese Daten insbesondere deshalb wissen, weil das Reichskonkordat der Regierung eine Frist von 20 Tagen zugestand, innerhalb der sie politische Bedenken geltend machen konnte.890 Orsenigo  – inzwischen wieder zurück in Berlin  – telegraphierte schon am nächsten Tag zurück, dass die Wahl am 28. Oktober erfolgt und der Name des Gewählten, nämlich der des Hildesheimer Oberhirten Bares, der Regierung durch das Domkapitel noch am selben Tag mitge885

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„Altro io non ho detto; ho presentato i miei ossequi e coi convenevoli di congedo ho chiuso la mia brevissima visita.“ Colli an Pizzardo vom 24. Oktober 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 32v. „… con ogni delicatezza …“ Pizzardo an Colli vom 28. Oktober 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 34r. Vgl. Colli an Pizzardo vom 9. November 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 35r–36r. Vgl.: „Telegrafare a Berlino se è avvenuta lʼelezione, ricordando il termine fissato dal Concordato per il Reich.“ Audienznotiz Pacellis vom 18. November 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930– 1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 349, Fol. 10r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 19. November 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 38r. Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. 227

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teilt worden sei.891 Tatsächlich war die – einstimmige – Wahl schon am 27. Oktober durchgeführt worden, sodass der Nuntius seinen Vorgesetzten hier falsch informierte.892 Bis zum 16. November musste die NS-Regierung demnach ihre Entscheidung über die allgemeinpolitische Unbedenklichkeit Baresʼ fällen.

Das innerstaatliche Ringen um die politische Klausel und die Geduld des Vatikans Die am 27.  Oktober von Kapitelsvikar Steinmann an Göring, dem Vertreter des preußischen Reichsstatthalters Hitler, ergangene Wahlanzeige wurde in den folgenden Wochen über das preußische Kultusministerium und den Oberpräsidenten der Provinz Hannover, Viktor Lutze, an den Regierungspräsidenten von Hildesheim, Hermann Muhs, zur Prüfung weitergereicht.893 Am 10.  November verneinte dieser in einem Schreiben an Lutze, dass gegen Bares Bedenken politischer Natur bestünden. Im Gegenteil skizzierte er den Hildesheimer Oberhirten „als einen klugen und gewandten Menschen mit konzilianten Umgangsformen, der nicht nur seiner Kirche, sondern auch seinem Vaterland treu ergeben sei“894. Politisch sei Bares in Hildesheim nicht hervorgetreten und von einem früheren Eintreten für die Zentrumspartei sei ihm nichts bekannt. Außerdem habe er sich schon damals in Trier wie auch später für die deutschen Interessen in der Saarfrage eingesetzt.895 Er habe eine loyale Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat gefördert, indem er zum Beispiel im staatlichen Sinne gegen katholische Geistliche seines Bistums eingeschritten sei. Schließlich begutachtete Muhs das Verhältnis Baresʼ zum Nationalsozialismus, was eigentlich absolut nicht unter die Bedenken allgemeinpolitischer Natur fiel. Aber auch hier gab es keine essentielle Kritik: „Die frühere ablehnende Haltung des Episkopates gegenüber dem Nationalsozialismus hat Dr. Bares dem Vernehmen nach persönlich nicht gebilligt. Öffentlich hat er dies allerdings nicht geäußert. Nach dem 30. Januar d[es] J[ahre]s hat er den Vertretern der katholischen Lehrergemeinschaft auf ihre Anfrage erklärt, daß von seiner Seite keinerlei Bedenken gegen den Eintritt in die N.S.D.A.P. erhoben würden.“896

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 20. November 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 40r. Wenn Pacelli also später gegenüber dem Ministerialdirektor des Reichsinnenministeriums, Rudolf Buttmann, irrtümlich den 28. Oktober als Wahldatum nannte, dann war das weder sein Fehler noch eine verkehrte Erinnerung Buttmanns, wie Heim, Bischöfe, S. 113 Anm. 454 vermutet. Vgl. zum Folgenden Heim, Bischöfe, S. 106–115. Heim, Bischöfe, S. 106. Vgl. zur Saarfrage Bd. 1, Kap. II.1.3 Anm. 734. Muhs an Lutze vom 10. November 1933, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 107. 228

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Da Bares also um eine konstruktive Mitarbeit am heutigen Staat bemüht schien, war er für den Regierungspräsidenten als Bischof von Berlin akzeptabel. Dieser Expertise schloss sich Oberpräsident Lutze in seiner Stellungnahme für das Kultusministerium am nächsten Tag vorbehaltlos an. Trotzdem entschied sich dieses dafür, Bares abzulehnen. Vorher gedachte es jedoch, mit dem Auswärtigen Amt über diese Entscheidung Rücksprache zu halten. Daher bat das Ministerium das Berliner Domkapitel am 16. November – dem letzten Tag der Frist – um mehr Zeit, um die Untersuchung abschließen zu können. Am 20. November informierte Orsenigo seinen römischen Vorgesetzten darüber. Formal war die Zeit also mittlerweile schon seit vier Tagen abgelaufen. Für diesen Fall sah das Schlussprotokoll des Reichskonkordats vor, dass der Heilige Stuhl berechtigt war, die Zustimmung des Staates anzunehmen.897 Diese vertragliche Klausel machte sich der Kardinalstaatssekretär zunutze. Er wies Orsenigo am 21. November an, der Regierung mitzuteilen, dass der festgelegte Zeitraum ungenutzt verflossen sei und der Heilige Stuhl sich daher für frei halte, die Ernennung des neuen Bischofs von Berlin zu publizieren.898 Doch bevor das geschehen konnte, musste Bares zunächst einmal gefragt werden, ob er die Wahl überhaupt annehmen wollte. Damit beauftragte Pacelli den Nuntius per Telegramm vier Tage später.899 Orsenigo leistete der Anordnung noch am selben Tag Folge.900 Inzwischen hatte sich Legationsrat Fritz von Menshausen aus dem Auswärtigen Amt zur Ablehnung des Kandidaten skeptisch geäußert. Zwar hielt er eine solche theoretisch für möglich, doch wäre es seiner Ansicht nach taktisch klüger gewesen, „die Angelegenheit vor vollzogener Wahl unter der Hand durch vertrauliche Besprechungen zu regeln“901. Nach mehrfachen Nachfragen im Kultusministerium erfuhr er den Grund für die ablehnende Einstellung: Man glaubte, „Bischof Bares sei politisch vorbelastet“902. Stattdessen wünschte man insbesondere in der Hauptstadt Berlin „einen Bischof mit ausgesprochen nationalsozialistischer Gesinnung“903. Man führte auch konkrete Ereignisse an, die den Hildesheimer Bischof als ungeeignet ausweisen sollten: Zum Beispiel habe dieser eine 1932 vom Zentrum organisierte „Pressekampagne gegen den National-

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Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 21. November 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 41r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 25. November 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933– 1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 43r. Vgl. Orsenigo an Bares vom 25. November 1933, abgedruckt bei Fochs, Bares, S. 152. Notiz Menshausens auf dem Telegramm des Auswärtigen Amtes vom 21. November 1933, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 108. Heim, Bischöfe, S. 109. Preußisches Kultusministerium an das Auswärtige Amt vom 21. November 1933, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 109. 229

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sozialismus und die politische Terrorisierung der katholischen Bevölkerung“904 durch Diözesangeistliche wenn nicht unterstützt, so doch zumindest geduldet. Auch sei im Sommer desselben Jahres ein Protestschreiben der „Abwehrstelle gegen Kirchenmissbrauch“, das einen politischen Missbrauch des Beichtstuhls angekreidet habe, vom Bischof unbeantwortet geblieben. Schließlich sei Bares für seinen Generalvikar, Otto Seelmeyer, verantwortlich, der bei der nationalsozialistischen Führung in gänzlich schlechtem Licht stand.905 Aus all dem folgerte man, dass „Bischof Bares – wie wohl die meisten Mitglieder des deutschen Episkopats – dem Nationalsozialismus innerlich ablehnend gegenüberstehe“906. Man sah zwar davon ab, einen offiziellen Gegenvorschlag in Erwägung zu ziehen – ein solcher stand der Regierung rechtlich auch gar nicht zu und hätte wohl keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt. Doch erinnerte man sich daran, über Bischof Berning den eigenen Kandidatenwunsch der kirchlichen Seite bereits zur Kenntnis gebracht zu haben. Wie angesprochen, wollte der Nuntius den Namen damals gar nicht erst hören. In Anbetracht der beschriebenen Anschuldigungen des Kultusministeriums gegen den Hildesheimer Ordinarius kontaktierte das Auswärtige Amt schleunigst seinen Botschafter im Vatikan, Diego von Bergen, um dessen Position zu hören. Dieser antwortete bereits am 22. November und sah die Kritik an Bares ebenfalls problematisch, wie Bernd Heim zusammenfasst: „Die Kurie, so führte der Botschafter weiter aus, achte Bischof Bares als streng katholischen Bischof, der abgesehen von seiner früheren Zentrumszugehörigkeit und seinen persönlichen Kontakten zur damaligen Parteiführung politisch nicht weiter in Erscheinung getreten sei. Weil der Kardinalstaatssekretär die drei von der Kurie auf die Liste gesetzten Kandidaten für einwandfrei und der Regierung genehm halte, fürchtete der Vatikanbotschafter, eine nicht hinreichend begründete Ablehnung könne leicht zu Weiterungen mit der Kurie führen, zumal … Bares 1928 vor seiner Ernennung zum Bischof von Hildesheim unbeanstandet geblieben war.“907

Bergen war auch völlig klar, dass die Kritikpunkte nicht der kurialen Auffassung von der politischen Klausel entsprachen.908 Für Menshausen waren die Argumente Bergens schlüssig und

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Aufzeichnung Menshausens vom 24. November 1933, abgedruckt in den Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 147f. (Nr. 85), hier 147. Im Jahr 1935 wurde Seelmeyer nach einem propagandistischen Schauprozess wegen angeblicher Devisenvergehen sogar zur Gefängnisstrafe verurteilt und für gut zwei Jahre inhaftiert. Für seine Befreiung setzte sich unter anderem auch Pacelli ein. Vgl. dazu Nowak, Devisenprozeß. Aufzeichnung Menshausens vom 24. November 1933, Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 147. Heim, Bischöfe, S. 110. Er verwies für diese auf die Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Tschechoslowakei vom 2. Februar 1928, in der unter Art. IV, Abs. 2 der Charakter legitimer Einwände folgendermaßen definiert wurde: „On entend par objections de caractère politique toutes les objections que le Gouvernement serait à même de motiver par des raisons qui ont trait à la sécurité de lʼEtat, par example que le candidat 230

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bestärkten in ihm die Auffassung, dass die vorgebrachten Anschuldigungen für die gewichtige Maßnahme, die Karte der politischen Klausel zu ziehen, nicht genügten.909 Im Einvernehmen mit Reichsaußenminister Konstantin von Neurath brachte er Ministerialdirektor August Jäger aus dem Kultusministerium die Bedenken gegen den gefassten Plan zur Kenntnis. Er fügte hinzu, dass derzeit Konflikten mit der Kurie aus dem Weg gegangen werden müsste, was auch dem ausdrücklichen Wunsch des Reichskanzlers entspreche. Außerdem bliebe Bares ohnehin Mitglied des preußischen Episkopats, auch wenn sein Transfer nach Berlin verhindert würde. Jäger selbst sah die Gefahr für das Verhältnis zum Heiligen Stuhl ein, glaubte jedoch nicht, Ministerpräsident Göring, der sich so als der eigentliche Widerständler entpuppte, zum Einlenken bewegen zu können. Entscheidend sei aber letztlich der Wille des Reichskanzlers. Deshalb schlug Menshausen am 24. November vor, einen Führerentscheid zu erwirken, um zu verhindern, dass das Kultusministerium politische Bedenken gegen Bares geltend machte. Am selben Tag gelang es Orsenigo auch – „endlich“910 wie er Pacelli schrieb –, mit dem preußischen Kultusminister, Bernhard Rust, die Angelegenheit zu besprechen. Dieser habe die Verspätung der staatlichen Reaktion auf die Wahlanzeige mit den umfassenden Arbeiten begründet, welche die Reichstagswahlen mit sich gebracht hätten. Persönlich hege er gegen Bares keine Einwände, doch habe er aus Krankheitsgründen noch nicht mit Göring darüber sprechen können. Er habe eine baldige Antwort versprochen und gebeten, dass der Heilige Stuhl diese abwarte. War die römische Kirchenleitung bereit, dieser Bitte zu entsprechen? Schon am nächsten Tag telegraphierte der Kardinalstaatssekretär zurück: „Nachdem ich die Anweisungen des Heiligen Vaters eingeholt habe, bitte ich Eure Exzellenz, am besten mit einer schriftlichen Note, der Regierung mitzuteilen, dass der Heilige Stuhl dieses Mal, aus Verständnis für die besondere Situation, noch warten wird, in der Hoffnung, dass es sich um eine kurze Zeit handelt …“911 Doch dürfe daraus kein Präzedenzfall für die Zukunft abgeleitet werden. Im Gegenteil beabsichtige der Heilige Stuhl,

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choisi se soit rendu coupable dʼune activité politique irredentiste, séparatiste ou bien dirigée contre la Constitution ou contre lʼorde publique du pays.“ Modus vivendi zwischen dem Heiligen Stuhl und der tschechoslowakischen Republik vom 2. Februar 1928, in: AAS 20 (1928), S. 65f., hier 66. Der Vatikanreferent war darüber hinaus auf inoffiziellem Wege an die Einschätzung des Hildesheimer Regierungspräsidenten gelangt, die formal über den Oberpräsidenten von Hannover nur an das Kultusministerium gegangen war. Er vermutete daher, dass die „Anregung“ zum Widerstand gegen Bares nicht vom Kultusministerium selbst, sondern „von anderer, nichtamtlicher Stelle“ ausgegangen war. Aufzeichnung Menshausens vom 24. November 1933, Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 148. Vgl.: „Oggi finalmente ho potuto fare comunicazione Ministro Culti.“ Orsenigo an Pacelli vom 24. November 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 45r. „Dopo preso ordini S. Padre, prego V. E. communicare, preferibilmente con Nota scritta, cotesto Governo che S. Sede questa volta, per sensi di speciale riguardo, attenderà ancora, nella fiducia che si tratti di breve tempo …“ Pacelli an Orsenigo vom 26. November 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 44r. 231

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sich in künftigen Fällen frei des Rechts zu bedienen, das ihm das Schlussprotokoll des Reichskonkordats zu Artikel 14 zugestehe und zwar auch ohne vorher die preußische Regierung zu verständigen. Wie gewünscht schriftlich und wortgetreu gab der Nuntius diese Erklärung umgehend an Rust weiter.912 Obwohl Außenminister Neurath dem preußischen Ministerpräsidenten die Gründe, die gegen eine Ablehnung des Kandidaten sprechen sollten, im Folgenden persönlich vortrug, behielt dieser seine Blockadehaltung bei. Der Nuntius hielt seinen Vorgesetzten darüber auf dem Laufenden, dass bis zum 1. Dezember weder eine Antwort des Hildesheimer Bischofs eingetroffen sei, den er inzwischen weisungsgemäß nach seinem Einverständnis befragt habe, noch eine Entgegnung der preußischen Regierung.913 Den gleichen Statusbericht gab er drei Tage später ab: Noch immer habe sich keiner der beiden zurückgemeldet.914 Hinsichtlich Baresʼ versprach er: „Ich werde versuchen, ihn zu drängen.“915 Das Versprechen löste er umgehend ein, indem er ein neues Schreiben aufsetzte und den electus um „eine möglichst baldige Antwort“916 bat, wenn nicht schriftlich, dann mündlich im Gebäude der Nuntiatur. Bezüglich der Entscheidung der Regierung schloss der Nuntius für Pacelli „aus einigen Hinweisen“917, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen werde. Dabei bezog er sich auf ein Gespräch mit Vizekanzler Papen, der von Göring am Vortag, dem 3. Dezember, zu ihm geschickt worden sei, um über die Besetzung des Bistums Berlin zu sprechen: „… mit aller Höflichkeit erklärte ich ihm, dass jede Diskussion meines Erachtens beendet war, insofern nunmehr 35 Tage seit der Mitteilung vergangen sind und wir noch immer die Antwort erwarten, für die allein durch die Freundlichkeit des Heiligen Stuhls ein kurzer Aufschub gewährt wurde; ich benutzte sogar die Gelegenheit, ihn zu bitten, die Formalität der Antwort zu beschleunigen.“918 912

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Vgl. Orsenigo an Rust vom 28. November 1933, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 15f. (Nr. 11). Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 1. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 194, Fol. 78r–79r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 4. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 195, Fol. 44r–45r; abgedruckt bei Sale, Hitler, S. 390f. (Nr. 52). „Vedrò di sollecitarla.“ Orsenigo an Pacelli vom 4. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 195, Fol. 44v. Orsenigo an Bares vom 4. Dezember 1933, abgedruckt bei Fochs, Bares, S. 153. „… da qualche indizio …“ Orsenigo an Pacelli vom 4. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 195, Fol. 44v. „… con tutta gentilezza dichiarai che ogni discussione era a mio avviso chiusa, essendo trascorsi oramai 35 giorni dalla comunicazione e che noi si attendeva ancora la risposta, solo perché per cortesia era stata accordata dalla Santa Sede una breve proroga; presi anzi occasione per pregarlo di affrettare la formalità della risposta.“ Orsenigo an Pacelli vom 4. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 195, Fol. 44v. 232

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Auf eine Diskussion ließ sich Orsenigo also gar nicht erst ein, sondern sprach nur die Erwartung aus, dass die Antwort sehr bald kommen werde. Darüber hinaus qualifizierte er diese lediglich als Formalität – das heißt, einen eventuellen Widerspruch des Staates ließ er gar nicht mehr gelten. Kurz darauf erreichte ihn dann endlich die ersehnte Zustimmung des Hildesheimer Bischofs zu seiner Translation in die Reichshauptstadt, die der Nuntius Pacelli sofort am 7. Dezember mitteilte.919 Außerdem habe ihn – wie Orsenigo für Pacelli hinzufügte – der Ministerpräsident heute wissen lassen, dass er bald eine schriftliche Antwort zur Berliner Besetzung geben und diese wahrscheinlich positiv ausfallen werde. Doch in den nächsten Tagen wartete der Nuntius vergeblich auf das angekündigte Plazet. Am 14. des Monats wurde auch das Berliner Domkapitel noch einmal beim Kultusministerium und der Reichskanzlei vorstellig, um eine baldige Erledigung der Anfrage zu erreichen. Einen Fortschritt gab es aber erst, als Pacelli selbst das Zepter des Handelns in die Hand nahm. Er nutzte die Gelegenheit, dass anlässlich von Verhandlungen am 18. Dezember über die Umsetzung des Reichskonkordats Ministerialdirektor Rudolf Buttmann aus dem Reichsinnenministerium nach Rom reiste.920 Kurzerhand setzte Pacelli die Berliner Besetzungsfrage auf die Tagesordnung. Der Kardinalstaatssekretär habe erfahren  – so die Aufzeichnung Buttmanns –, dass die preußische Regierung beabsichtige, Bedenken gegen Bares zu erheben. Doch sei die Einspruchsfrist schon längst verstrichen und der Heilige Stuhl deshalb berechtigt, die Ernennungsbulle zu veröffentlichen. Da er jedoch großen Wert auf die guten Beziehungen zur deutschen Regierung lege, wolle er die Einsetzung des Berliner Bischofs nicht ohne ihre Zustimmung durchführen. Pacelli ergänzte allerdings ostentativ, dass Pius XI. mit Sorge auf die Bedrängnis der katholischen Kirche in Deutschland und die Schwierigkeiten in den Verhandlungen um die Auslegung des Reichskonkordats blicke. Wenn es aber gelänge, den Berliner Besetzungsfall abzuschließen, bevor der Pontifex seine Weihnachtsansprache fertig geschrieben habe, sei das ein gewichtiger Fortschritt. Pacelli verlangte eine Note der Reichsregierung, welche neben der Lösung der strittigen Punkte der Konkordatsauslegung auch erklärte, dass „die bestehenden Hindernisse noch vor Weihnachten beseitigt“921 werden. Geschickt drohte der Kardinalstaatssekretär mit einem öffentlichen Protest des Papstes, welcher der nationalsozialistischen Führung natürlich sehr ungelegen sein musste, wenn sie das erst kürzlich durch den Abschluss des Reichskonkordats erworbene internationale Prestige 919

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 7. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 46r. Vgl. Aufzeichnung Buttmanns ohne Datum [18. Dezember 1933], abgedruckt in den Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 233–238 (Nr. 133); auch bei Brechenmacher (Bearb.), Dokumente, S.  195–203 (Nr.  13). Vgl. zu den Verhandlungen Buttmanns in Rom ebd. Conrad, Kampf, bes. S. 87–90. Aufzeichnung Buttmanns ohne Datum [18. Dezember 1933], Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 238. 233

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nicht direkt wieder verspielen wollte.922 Mit diesem Druckmittel konnte Pacelli ein Ultimatum bis Weihnachten aufstellen. Da die Zeit drängte, telefonierte Buttmann direkt im Anschluss der Unterredung mit Staatssekretär Hans Pfundtner aus dem Reichsinnenministerium, der sich wiederum sofort mit Heinrich Lammers, Staatssekretär in der Reichskanzlei, in Verbindung setzte.923 Dieser legte die kurialen Forderungen dem Reichskanzler vor, der gegen Bares keine Einwände erhob, falls in diesem Punkt ein Konsens mit der preußischen Regierung erreicht werde. Daraufhin gab Göring – nach einem Gespräch mit Kultusminister Rust – seinen Widerstand schließlich auf. Die preußische Staatskanzlei übermittelte noch am 18. Dezember die Zustimmung des Ministerpräsidenten an das Reichsinnenministerium, das diese wiederum an den in Rom befindlichen Buttmann weitergab. So konnte der Ministerialdirektor dem Kardinalstaatssekretär nunmehr die verlangte Note vorlegen, die unter anderem erklärte, dass die „Angelegenheit der Besetzung des Bischofsstuhles von Berlin … gestern dadurch erledigt worden [ist], dass die preußische Staatsregierung beschlossen hat, keinerlei Einwendungen gegen Herrn Bischof Dr. Bares von Hildesheim zu erheben“924.

Der Treueid und Baresʼ Einsetzung zum Bischof von Berlin Mit dieser Zusage war für Pacelli das Wesentliche geklärt und so standen nur noch Formalia auf der Agenda. Am 20. Dezember leitete er in die Wege, dass die Konsistorialkongregation die Ernennungsbullen für die Translation des Hildesheimer Oberhirten nach Berlin erstellte.925 Damit war dieses Datum auch dasjenige der amtlichen Nomination. Für den nächsten Tag schaltete Pacelli die übliche Ernennungsanzeige im „Osservatore Romano“, worüber er auch Orsenigo telegraphisch in Kenntnis setzte.926 Zeitgleich mit der Anzeige hielt Pius XI. ein Geheimes Konsistorium ab, in dem er Bares präkonisierte.927 Genauere Informationen, wie die staatliche Zustimmung letztlich zustande gekommen war, erhielt Orsenigo offenbar nicht. Der Nuntius

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Vgl. auch Conrad, Kampf, S. 87, 90. Vgl. Aufzeichnung Lammersʼ vom 18. Dezember 1933, abgedruckt bei Repgen/​Booms (Hg.), Akten 2, S. 1049f. (Nr. 276). Buttmann an Pacelli vom 19. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1937, Pos. 650 P.O., Fasz. 195, Fol. 64r–65r (nur r), hier 64r; Entwurf abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel I, S. 39 Anm. 3 und in den Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 1, S. 240 (Nr. 135). Vgl. Pacelli an Rossi vom 20. Dezember 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 50r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 20. Dezember 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 51r und den Textentwurf vom 20. Dezember 1933, ebd., Fol. 52r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 297 vom 21. Dezember 1933. Vgl. AAS 26 (1934), S. 10. 234

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benachrichtigte den electus wie auch das Berliner Domkapitel sofort über die amtliche Nomination.928 Weil das Telegramm des Kardinalstaatssekretärs aber aufgrund von Hindernissen auf dem Postweg verspätet eingetroffen war, war die Meldung bereits in der Presse zu lesen. Die Resonanz der Öffentlichkeit sei – wie Orsenigo unmittelbar nach dem ersten Presseecho nach Rom berichtete – eine gute gewesen, obwohl für viele der Name Bares überraschend gekommen sei.929 Von der positiven Resonanz hörte Pacelli natürlich gern.930 Auch über die Anfrage zwecks des politischen Bedenkenrechts hatte sich der Nuntius eine Meinung gebildet: „Was die preußische Regierung angeht, sieht man, dass sie schließlich, obgleich mit der Intention, auch schriftlich auf die Mitteilung des Kapitels zu antworten, so sehr in Verzug geraten ist, dass nunmehr jede Antwort überflüssig ist.“931 Er führte darüber hinaus die Pressemeldung der „Germania“ vom 22. Dezember an, eine Zeitung, „die hier als ‚offiziösʻ betrachtet wird“932. Sie spreche von einer guten Verhaltensweise der Regierung angesichts der vollzogenen Ernennung. Tatsächlich konnte man dort lesen, dass es angesichts der Bedeutung des fraglichen Amtes „als erfreuliches Zeichen gewertet werden [darf], dass in verhältnismäßig kurzer Zeit das Einverständnis zwischen den maßgebenden kirchlichen und staatlichen Stellen über eine Persönlichkeit, der beide Seiten volles Vertrauen entgegenbringen, erzielt werden konnte“933. Die Realität war hingegen eine andere. Wenige Tage später erfuhr Orsenigo, dass der preußische Kultusminister dem Domkapitel nun doch noch – nämlich am 22. Dezember – eine schriftliche Antwort auf die damalige Anfrage zugestellt hatte. Sie datierte auf den 20. Dezember. Kultusminister Rust bekundete darin schlicht, dass von Seiten der Regierung keine Einwände gegen die Translation

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 22. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 54rv. Orsenigo bemerkte, dass in der Öffentlichkeit Gerüchte über andere Geistliche kursiert hätten. Der für Pacelli beigefügte Artikel aus der „Germania“ erklärte im Gegensatz dazu, dass der Name des Hildesheimer Bischofs „von allem Anfang an im Vordergrund stand“. „Dr.  Nikolaus Bares“, in: „Germania“ Nr. 352 vom 22. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 55r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 29. Dezember 1933 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 56r. „Per quanto riguarda il Governo Prussiano si vede, che, pur con la buona intenzione di rispondere anche in iscritto alla comunicazione del Capitolo, ha finito a ritardare talmente, da rendere oramai superflua ogni risposta.“ Orsenigo an Pacelli vom 22. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 54r-v. „… che è qui considerato come ‚officiosoʻ …“ Orsenigo an Pacelli vom 22. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 54v. „Dr. Nikolaus Bares“, in: „Germania“ Nr. 352 vom 22. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 55r. 235

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von Bares nach Berlin geltend gemacht würden. Völlig kommentarlos erstattete Orsenigo seinem Vorgesetzten darüber Bericht.934 Das kirchliche Gesetzbuch sah vor, dass der ernannte Bischof binnen vier Monaten seine neue Diözese in Besitz zu nehmen hatte.935 Theoretisch hätte Bares also noch mehr als genug Zeit zu diesem Schritt gehabt. Doch für Pacelli dauerte die Sedisvakanz schon zu lange. Am Ende der ersten Januarwoche des neuen Jahres schrieb er ihn persönlich an und bemerkte, dass der Heilige Stuhl es „in Anbetracht der schwierigen Zeitverhältnisse und der wichtigen zur Lösung anstehenden Fragen“ begrüßen würde, „wenn Euere Exzellenz, eventuell auch unter Abänderung etwaiger bereits getroffener Dispositionen, die notwendigen Maßnahmen träfen, um eine beschleunigte Übernahme der Diözese Berlin zu sichern“936. Bares bedankte sich eine Woche später für die Segenswünsche, die ihm Pacelli für seine neue Aufgabe ausgesprochen hatte.937 Er verstand letztere als ein „ibis ad crucem“938, einen Gang, den er nur im Gehorsam gegenüber dem Papst und im Vertrauen auf die göttliche Hilfe auf sich nehme. Hinsichtlich des eigentlichen Anliegens Pacellis sah er einige Schwierigkeiten. Da das Datum seiner Übersiedlung nach Berlin bereits kurz zuvor schon um zehn Tage vorverlegt und bereits der Öffentlichkeit kommuniziert worden sei sowie wichtige Pflichten in Hildesheim – Bares nannte Priesterweihen samt den vorhergehenden Examina und Skrutinien  – diesem Zeitplan entsprächen, sei eine neuerliche Veränderung problematisch. Dennoch wolle er versuchen, dem Wunsch nach Möglichkeit zu entsprechen. Der 2. Februar 1934 war schließlich das Datum, an dem der neue Oberhirte in seine Bischofsstadt einzog und feierlich auf der Cathedra inthronisiert wurde. Wie Orsenigo ausführlich nach Rom berichtete, sei Bares bereits am Dienstag, dem 30. Januar, privat in die Hauptstadt gekommen.939 Am folgenden Mittwochmorgen habe er vor dem preußischen Ministerpräsidenten den Treueid geleis-

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Dezember 1933, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 57r. Vgl. Can. 333 CIC 1917. Pacelli an Bares vom 7. Januar 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 58r. Vgl. Bares an Pacelli vom 14. Januar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 59rv. Bares an Pacelli vom 14. Januar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 59r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 3. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 61r–62r. 236

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tet, welcher der Besitzergreifung laut Artikel 16 des Reichskonkordats vorangehen musste.940 Nach der Zeremonie hielt Bares eine kurze Ansprache, in der er die Vereidigung als doppeltes Bekenntnis interpretierte, nämlich einmal zu seinen genuin kirchlich-bischöflichen Pflichten und einmal zu seiner inneren Teilnahme am Schicksal der deutschen Nation.941 Er bekundete seinen „festen Willen zu friedlicher und vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat mit dem großen Ziele, die starken Grundsätze des positiven Christentums zum Segen des Volkes in das organische Wachstum des nationalen Lebens im Dritten Reiche einzuschalten“942. Darüber hinaus wolle er sich bemühen, „Gott zu geben, was Gottes ist, und dem Staate, was des Staates ist“ und „dahin streben, katholische Glaubenstreue und vaterländisches, staatsbürgerliches und soziales Pflichtbewusstsein auch bei denen zu erhalten und zu fördern, deren Obsorge mir übertragen ist“943. Der Text war freilich bereits eine purgierte Fassung. Auf Anregung des Ministerialrats Johannes Schlüter hatte Bares zuvor seine erste Version dem Kultusministerium vorgelegt, das manche Äußerungen als „untunlich“944 qualifizierte. Mit dem überarbeiteten Text war die Behörde dann offenbar zufrieden. Nach der Zeremonie gab der Kultusminister ein Frühstück, an dem mehrere Staatssekretäre, Kapitelsvikar Steinmann und zwei weitere Kanoniker teilnahmen. Am Nachmittag legte Bares dem Domkapitel schließlich die Ernennungsdokumente vor und nahm damit das Bistum in Besitz.945 Am gleichen Tag suchte Bares auch noch den Nuntius auf, der an der Vereidigungszeremonie nicht teilgenommen hatte. Sein erstes Pontifikalamt in der Berliner Hedwigskathedrale zelebrierte Bares am Freitag, dem 2. Februar, um 10 Uhr. Orsenigo berichtete Pacelli, dass der neue Oberhirte wie üblich auf der 940

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Vgl. Art.  16 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S.  509. Ministerialrat Schlüter aus dem Kultusministerium war zuvor mit Kapitelsvikar Steinmann übereingekommen, dass eine Vereidigung nötig sei, obwohl Bares bereits dem preußischen Episkopat angehörte. Vgl. die Ansprache in „Der Treueid des Bischofs“, in: „Märkische Volkszeitung“ Nr. 32 vom 2. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 63r sowie Bares, Ansprache. „Der Treueid des Bischofs“, in: „Märkische Volkszeitung“ Nr.  32 vom 2. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 63r. Bares ergänzte an dieser Stelle, dass er mit diesem Ziel den Richtlinien folge, die Hitler öffentlich verkündet und durch den Abschluss des Reichskonkordats realisiert habe. „Der Treueid des Bischofs“, in: „Märkische Volkszeitung“ Nr. 32 vom 2. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 63r. Heim, Bischöfe, S. 116 Anm. 476. Vgl. Ernennungsbulle Baresʼ vom 21. Dezember 1933, in: Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin Nr. 2 vom 9. Februar 1933. Ursprünglich war die formale Besitzergreifung des neuen Oberhirten durch Vorlage der Dokumente im Domkapitel schon für den Vormittag angesetzt. Doch Ministerialrat Schlüter machte Steinmann darauf aufmerksam, dass zunächst die Vereidigung stattzufinden habe. Daher wurde der Zeitplan entsprechend geändert. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 115f. 237

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Cathedra Platz genommen und zugehört habe, wie Steinmann die Ernennungsbulle verlas, bevor ihm schließlich die Huldigung des anwesenden Säkular- und Regularklerus entgegengebracht worden sei. Daraufhin habe Bares an den Klerus und das Volk eine Ansprache gehalten, einige – wie Orsenigo urteilte – „angemessene Worte, von herzlicher pastoraler Zuneigung und sehr gut mit der Zeremonie abgestimmt“946. Dem Nuntius war es wichtig, auf die Teilnahme vieler weltlicher Autoritäten hinzuweisen, wie zum Beispiel des Berliner Oberbürgermeisters, Heinrich Sahm, oder des Vizekanzlers Papen sowie auch anderer niederer Angestellter der Reichskanzlei und des Kultusministeriums. Nach der Liturgie habe der neue Oberhirte einen Empfang ausgerichtet, zu dem viele Geistliche und Politiker eingeladen worden seien. Lobend hob Orsenigo hervor, dass durch einen einleitenden Dank an alle Anwesenden seitens des Bischofs „jeder Toast zweckmäßig vermieden wurde“947. Die Resonanz in der Presse, die sich für dieses Ereignis zunächst nicht zu interessieren schiene, habe aber dann gut über die Einsetzungsfeierlichkeiten berichtet. Die bischöfliche Rede werde sogar nachträglich im Radio übertragen. Ebenso positiv bewertete der Nuntius den ersten Hirtenbrief, „voll von religiöser Salbung“, den Bares an seine Diözesanen gerichtet habe: „… er wird gewiss, durch seine markante Religiosität, die sich über alle Kämpfe der Stunde erhebt, einen gesunden Eindruck auf den Klerus und das Volk machen.“948 Das bedeute aber nicht, dass Bares nicht auch kämpfen könne. Im Gegenteil zweifelte Orsenigo nicht – wie er Pacelli abschließend versicherte –, dass dieser später, falls nötig, „auch die kräftige Rede des Hirten, die sich erhebt, um die Freiheit der Kirche zu verteidigen“949, zu beherrschen wisse. Der Kardinalstaatssekretär bedankte sich beim Nuntius für die ausführliche Information

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„… appropriate parole, calde di affetto pastorale e molto bene intonate alla cerimonia …“ Orsenigo an Pacelli vom 3. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 61v. Vgl.: „Allʼinizio il Vescovo ringraziò subito tutti i presenti e così fu evitato opportunamente ogni brindisi.“ Orsenigo an Pacelli vom 3. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 61v. „… piena di unzione pastorale …“; „… essa farà certo, per questa sua marcata religiosità, che si eleva al disopra di tutte le lotte dellʼora, una salutare impressione sul clero e sul popolo.“ Orsenigo an Pacelli vom 3. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 62r. Vgl. Hirtenbrief von Bares vom 18. Januar 1934, ebd., Fol. 64r–71r. In diesem pastoralen Schreiben verglich Bares seine Situation mit der des Heidenapostels Paulus (was er angesichts der Tatsache, dass Berlin reines Diasporabistum war, nicht zufällig gewählt haben dürfte) und legte dessen drei Mahnungen an die krisengeschüttelte Gemeinde in Korinth: „Stehet fest im Glauben“, „seid mannhaft und stark“ sowie „alles geschehe bei euch in Liebe“ (1 Kor 16, 13f.), auf die gegenwärtige Zeit und den aktuellen Ort hin aus. „… anche la parola forte del Pastore, che si eleva a difendere la libertà della Chiesa.“ Orsenigo an Pacelli vom 3. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 62r. 238

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und nahm die günstigen Werturteile zufrieden zur Kenntnis.950 Für ihn war damit der Berliner Besetzungsfall endgültig abgeschlossen.

Ergebnis 1. Darüber, wie die römische Terna zustande kam, welche Kriterien dafür maßgeblich waren und wie das Zusammenspiel von Papst und Staatssekretär dabei war (vgl. Nr. 5), geben die vatikanischen Quellen keinen befriedigenden Aufschluss. Klar ist, dass der Bischofsstuhl der Reichshauptstadt für Pacelli eine besondere Bedeutung hatte. Schon bei der Erstbesetzung des Bistums war die diplomatische Fähigkeit, mit den staatlichen Behörden umgehen zu können, eine wichtige Bedingung für den neuen Oberhirten gewesen951 – ein Kriterium, das gerade angesichts der aktuellen politischen Situation und Zentralisation der staatlichen Macht in Berlin durch die Nationalsozialisten, auf die auch Orsenigo noch einmal aufmerksam machte, noch verstärkte Relevanz erhalten musste. Deshalb waren Pacelli und Ratti auch so genau an dem Gesundheitszustand Schreibers interessiert. Dessen Nachfolger musste den vielfältigen politischen, kulturellen und religiösen Herausforderungen gewachsen sein. Insofern überrascht nicht, dass zwei der Geistlichen der (endgültigen) Terna bereits Diözesanbischöfe waren. a) Der erste von ihnen, der Hildesheimer Oberhirte Bares, stand bei Pacelli in hohem Ansehen. Vielfältige Qualitäten hatte ihm der damalige Nuntius attestiert, als er ihn 1928/29 für den vakanten Bischofsstuhl des Hildesheimer Bistums in Vorschlag brachte.952 In seiner Schlussrelation von 1929 fasste Pacelli die Fertigkeiten des ehemaligen Trierer Regens im Anschluss an ein Gutachten Bornewassers noch einmal zusammen: „‚Der Hochwürdigste Dr. Bares ist einer der gelehrtesten, frömmsten, gläubigsten und geachtetsten Priester der Diözese [sc. Trier, R.H.]. Er hat einen hervorragenden Charakter; er ist geschickt im Umgang mit anderen, von großer Güte und Höflichkeit, erfahren in den Geschäften der Verwaltung der Diözese. Seine Reden und seine Predigten sind, wenn auch nicht eigentlich volkstümlich, doch reich an Inhalt und Gedanken, edel und schön in der Form.‘ Er ist außerdem von gesunder Lehre, dem H[eiligen] Stuhl treu, erfahren in den Fragen, die die Ausbildung des Klerus betreffen.“953

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 8. Februar 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1933–1934, Pos. 648 P.O., Fasz. 192, Fol. 73r. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.7 (Ergebnis Nr.1). Vgl. Bd. 1, Kap. II.1.6 (Ergebnis Nr. 1). Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 48v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 253. 239

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Genau das Letztgenannte war nicht nur das entscheidende Movens für Pacelli gewesen, Bares damals als Bischof von Hildesheim einzusetzen, sondern genauso auch Schreiber von Meißen nach Berlin zu promovieren. Dass Bares also die rechte Priesterausbildung im Sinne einer „gesunden“ römisch-scholastischen Philosophie und Theologie fördern und die Alumnen verstärkt nicht nach Breslau, sondern zum Beispiel an die Jesuitenhochschule St. Georgen schicken werde, da war sich Pacelli sicher. Da Bares darüber hinaus „dem Heiligen Stuhl treu“ und „geschickt im Umgang mit anderen“ war – wie Pacelli 1929 geschrieben hatte –, besaß er auch die Voraussetzungen, um in der Reichshauptstadt, der Schaltzentrale des Nationalsozialismus und der staatlichen Macht, zu bestehen und den kirchlichen Standpunkt zu vertreten. Insofern war es nicht nur eine Floskel, wenn Botschafter Bergen erklärte, dass der Heilige Stuhl „Bischof Bares als streng katholischen Bischof “ schätze. Diese Strenge hatte Bares noch kürzlich demonstriert, zum Beispiel als er sich auf Nachfrage Pacellis im März 1933 (anders als die Mehrheit seiner Konbischöfe) für eine Verurteilung der atheistisch-bolschewistischen „Gottlosenbewegung“ durch das Heilige Offizium aussprach.954 Darüber hinaus war Bares als Vertreter des Episkopats gerade im September und Oktober 1933 in den Kampf um die katholische Pressefreiheit gegen nationalsozialistische Pressionen und Gleichschaltungsbestrebungen involviert.955 Im November des Jahres warnte er vor der Absicht einiger Mitbischöfe, die katholischen Jugendverbände aufzugeben und damit in die Hitler-Jugend zu integrieren.956 Er besaß also bereits Erfahrung im Umgang mit den NS-Vertretern. Die Treue zu Rom und den kirchlichen Prinzipien im Herzen des Nationalsozialismus zu bewahren, erforderte für Pacelli eine kritische Distanz zu den staatlichen Behörden, sodass er das vom preußischen Episkopat mehrfach angeführte pragmatische Kriterium zugunsten Bernings nicht adaptierte, sondern

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 7. März 1933, ACDF, SO 1220/​1933, Nr. 2, ohne Foliierung und Orsenigo an Pacelli vom 24. März 1933, ebd., Nr. 3, ohne Foliierung. Ausführlich hatte Orsenigo seinen Vorgesetzten schon 1930 über die „Gottlosenbewegung“ informiert. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 4. August 1930, abgedruckt bei Sale, Hitler, S. 279–281 (Nr. 3). Anders über die Verurteilung dachte zum Beispiel der Freiburger Erzbischof, Conrad Gröber. Vgl. Burkard, Häresie, S. 247. Vgl. zur Gottlosenbewegung Feiereis, Freidenker. Vgl. etwa das Verhandlungsprotokoll einer Besprechung über die katholische Presse vom 23. September 1933 im Innenministerium, an der Bares im Namen des Episkopats teilnahm, auszugsweise abgedruckt bei Altmeyer (Hg.), Presse, S. 25f. (Nr. 25); Promemoria des Heiligen Stuhls an die Deutsche Reichsregierung vom 19. Oktober 1933, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel I, S. 10–14 (Anlage zu Nr.  2), hier 12. Vgl. auch die Hinweise in der Tagesordnung und dem Protokoll der Plenarkonferenz des deutschen Episkopats vom 29.–31. August 1933, abgedruckt bei Stasiewski (Bearb.), Akten I, S. 319–339 (Nr. 68/​I/​II), hier 320, 333. Vgl. Bertram an den deutschen Episkopat vom 22. November 1933, abgedruckt bei Stasiewski (Bearb.), Akten I, S. 462f. (Nr. 106). 240

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darin vielmehr ein Hindernis sah.957 Auf den preußischen Vorschlagslisten stand Bares nicht. Sucht man daher einen konkreten Anlass dafür, dass Pacelli die Kandidatur des Hildesheimer Oberhirten verfolgte, so fällt ins Auge, dass dieser gerade im Oktober 1933 – Mitte des Monats fertigte der Kardinalstaatssekretär die Terna an – zum Ad-limina-Besuch an die Apostelgräber kam. Dies war eine günstige Gelegenheit, nicht nur um dessen Kandidatur noch einmal zu prüfen, sondern auch um etwaige Instruktionen und Hinweise auf den Weg zu geben. Man wird davon ausgehen können, dass Bares schon jetzt eröffnet wurde, die Nachfolge Schreibers in Berlin anzutreten.958 Dies impliziert natürlich, dass Bares der Favorit Pacellis war, was durchaus einsichtig ist: Abgesehen davon, dass er auf dem ersten Rang der Dreierliste stand, war der zweitplatzierte Preysing „lediglich“ ein Nachrücker  – also gewiss nicht Inhaber der Favoritenrolle. Der letztplatzierte Francken schließlich stand „nur“ an dritter Stelle und war – anders als Bares und Preysing – auch kein Diözesanbischof mit der für Berlin gewünschten Erfahrung. Insofern lässt sich Bares als klare Präferenz Pacellis ausmachen, sodass die Berliner Domherren mit dessen Wahl auch Pacellis Wunschkandidaten auf den vakanten Bischofsstuhl verhalfen. Allerdings wäre er auch mit einer Wahl dieser beiden zufrieden gewesen: b) Preysing war Pacelli seit frühester Zeit als bayerischer Nuntius gut bekannt und eng vertraut.959 Über die kirchliche Gesinnung und theologische Ausrichtung des Grafen wusste der Kardinalstaatssekretär also bestens Bescheid. Ehemals Domprediger – er war also ein ebenso versierter Redner wie Bares, was für die diplomatischen Erfordernisse in Berlin sicherlich nicht unpraktisch war – und Domkapitular in München, hatte Pacelli dafür gesorgt, dass er 1932 zum Bischof von Eichstätt erhoben wurde. In seinen Augen war Preysing also ein episkopabler Geistlicher ersten Ranges, der darüber hinaus von Bischof Vogt für Berlin vorgeschlagen und von Orsenigo angesichts einer diagnostizierten Verminderung des klassischen Antagonismus von preußischer und bayerischer Mentalität für opportun erklärt wurde. Umso mehr stellt sich die Frage, warum Pa-

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Dass Bares in dieser Distanz stand, bestätigte Vizekanzler Papen einige Monate später: „Unser Wunsch, an die entscheidende politische Stelle der Reichshauptstadt einen Bischof zu entsenden, der durch seine Persönlichkeit eine Gewähr dafür böte, einen möglichst engen Kontakt mit der Reichsregierung herzustellen, ist nicht berücksichtigt worden. Der preußische Ministerpräsident sagte mir, die NSDAP stände völlig verständnislos der Tatsache gegenüber, daß Rom diesem Wunsche nicht Rechnung trage, und sie müßte daraus wohl den Schluß ziehen, daß Rom an einer inneren und engen Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern Deutschlands nichts liege. (Diese meine Feststellung enthält in keiner Form ein Werturteil über den jetzigen Berliner Bischof, den ich im Gegenteil seiner hohen geistigen Qualitäten wegen besonders verehre.) … Es wäre auf das dringendste zu wünschen, daß bei der Neubesetzung von Bischofsstellen der Notwendigkeit Rechnung getragen würde, jüngere und für die Erfordernisse der Zeit aufgeschlossene Persönlichkeiten zu berufen.“ Papen an Bergen vom 7. April 1934, abgedruckt in den Akten zur deutschen auswärtigen Politik II, 2, S. 696–704 (Nr. 383), hier 702f. So auch Fochs, Bares, S. 71. Vgl. Näheres zum Verhältnis von Preysing und Pacelli in Bd. 3, Kap. II.2.5 (Ergebnis Nr. 1). 241

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celli ihn erst nachträglich auf die Terna setzte. Plausibel erscheint zumindest die Annahme, dass er den Grafen, der kaum ein Jahr auf dem Bischofsstuhl des heiligen Willibald saß, nur notfalls so schnell wieder von dort abziehen wollte – nämlich dann, sollte das Berliner Domkapitel Bares nicht wählen. Auf einen weiteren möglichen Grund wird gleich noch einzugehen sein. c) Der Münsteraner Subregens Francken – von Galen im November 1933 zum Regens ernannt – war nicht nur kein Bischof, sondern von Pacelli bislang auch noch nicht für einen Bischofsstuhl in Erwägung gezogen worden. Aber auch er war ihm gut bekannt: Eine erste persönliche Begegnung lässt sich bereits für das Jahr 1919 ausmachen, als der Subregens den damaligen Nuntius beim Besuch von italienischen Kriegsgefangenen in Münster begleitete.960 Frisch im Gedächtnis war dem Kardinalstaatssekretär noch, dass Francken beim Münsteraner Besetzungsfall breite Unterstützung im Episkopat gefunden hatte und von Orsenigo sogar favorisiert worden war. Vielleicht noch wichtiger war aber, dass Francken im Sommer des Jahres 1933 persönlich in Rom vorgesprochen hatte, um die Nachnominierung Galens für Münster zu vertreten. Dort hatte ihn Pacelli also das letzte Mal erlebt, wenige Wochen bevor er ihn auf der Berliner Terna platzierte. Außerdem hatte Francken auf den aktuellen Vorschlagslisten in Bornewasser und Galen zwei Befürworter gefunden. Woran aber, jenseits des persönlich-positiven Eindrucks, den Francken offensichtlich auf Pacelli gemacht hatte, machte der Kardinalstaatssekretär den materialen Gehalt von dessen Episkopabilität fest? Francken hatte seine theologischen Studien gänzlich in Münster absolviert, immerhin an der Katholisch-Theologischen Fakultät, die Pacelli 1929 noch als „verhältnismäßig beste in Deutschland“961 deklariert hatte. Außerdem konnte man sicher davon ausgehen, dass der langjährige Regens die Grundsätze der Priesterausbildung nicht nur perfekt kannte, sondern auch um ihre Bedeutung wusste. Dass Francken ehedem Kaplan in Berlin und mit der dortigen Diasporasituation vertraut war, wusste Pacelli aus Galens Kommentar. Abstriche waren bei ihm sicher auf dem Feld der Fähigkeiten oder zumindest der Erfahrung im Umgang mit den staatlichen Behörden zu machen. Vermutlich lag hier ein entscheidender Grund dafür, dass er nur den dritten Rang der Terna belegte. Auf zwei weitere Kandidaten muss das Augenmerk noch gelegt werden: d) Zum einen auf den Zweitplatzierten der ursprünglichen Terna, Abt Landersdorfer von Scheyern, den Pacelli mit dem zweiten Bayer Preysing ersetzte. Um die Episkopabilität des Benediktiners für den Kardinalstaatssekretär zu konturieren, muss zunächst auf die Besetzungsfälle in Würzburg 1920–24 und Re-

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Vgl. Pacelli an Gasparri vom 30. September 1919, ASV, Segr. Stato, Guerra, 1914–1918, Rubr. 244, Fasz. 142, Fol. 91r–103v. „… la relativamente migliore in Germania.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 235. 242

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gensburg 1927/28 verwiesen werden.962 In beiden war der Abt ein heißer Kandidat Pacellis gewesen, der vor allen zwei hervorragende Qualitäten an ihm herausstellte, die sich genau in das hier entfaltete Schema fügen: Einerseits attestierte er dem früheren Exegeseprofessor von Sanʼ Anselmo eine hohe wissenschaftlich-theologische Begabung bei gleichzeitiger völliger Einsicht in die Erfordernisse der korrekten Priesterausbildung. Andererseits schrieb er ihm damals eine „vorzügliche[r] Regierungsqualität“, auch in der Diaspora, zu – ein Plus natürlich gerade für Berlin. Vor diesem Hintergrund wird die auf dem ersten Blick überraschende Nominierung Landersdorfers, der auf keinem preußischen Zettel stand, nachvollziehbar. Dennoch bleibt die Frage, wieso Pacelli nun – sechs Jahre nach der causa Regensburg – auf den Abt zurückgriff. Womöglich war der doppelt proponierte Trierer Abt Zeller der Ansatzpunkt. Wie bereits erwähnt führte dieser 1928 im Auftrag Pius XI. eine Visitation in Österreich durch, bei der ihn niemand anders als Landersdorfer begleitete. So führte vielleicht der Vorschlag des einen Abtes, der aufgrund aktueller Visitationsmissionen ausschied, zur Kandidatur des anderen. Allerdings war der Abt, der ihm seit Beginn der 1920er Jahre ein enger Freund war, ohnehin im Fokus Pacellis, nicht nur aufgrund anhaltender persönlicher Kontakte, sondern allein schon durch die regelmäßig in Rom eingereichten bayerischen Triennallisten.963 Wieso es schließlich zur Rücknahme seiner Kandidatur – und nicht etwa Franckens kam –, muss wohl letztlich im Dunkeln bleiben. Womöglich wollte er ihn für künftige bayerische Sedisvakanzen nicht verlieren. e) Zum anderen ist hier noch der fünffach vorgeschlagene Berliner Dompropst, General- und Kapitelsvikar Steinmann zu nennen und zwar deshalb, weil es Pacelli und Pizzardo für nötig erachteten, ihm eine Begründung dafür zu liefern, dass er es nicht auf die römische Terna geschafft hatte. Der Bruder des von Pacelli sehr geschätzten Botschaftsrats beim Heiligen Stuhl, Johannes Steinmann, war bereits bei der Erstbesetzung des Berliner Bischofsstuhls 1929/30 in Pacellis Sichtfeld gelangt. Damals hatte sich der scheidende Nuntius aber letztlich gegen Steinmanns Kandidatur entschieden, wofür nicht nur leise Zweifel an dessen rechtem Verständnis für die Priesterausbildung verantwortlich waren, sondern auch ein vermeintlich „herrisches“ Naturell des Propstes. Da damals schon eine gewisse Unsicherheit über Steinmanns Gesundheitszustand bestand, handelte es sich bei diesem Argument wohl nicht um eine reine Ausrede. Doch zeigt diese Vorgeschichte, dass Pacelli ihn aus weitergehenden Gründen nicht auf dem Berliner Bischofsstuhl wünschte.964

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Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.2 (Pacellis Plan: eine römische Ernennung von Ehrenfried oder Landersdorfer und Ergebnis Nr. 1) und Bd. 3, Kap. II.2.3 (Ergebnis). Vgl. Näheres dazu beim Passauer Besetzungsfall von 1936 Bd. 3, Kap. II.2.7 (Ergebnis Nr. 4). Sicherlich wird man auch das enge Vertrauensverhältnis zwischen Steinmann und Bertram nicht ausklammern dürfen. Pacellis Verhältnis zum Breslauer Kardinal war zerrüttet. Vgl. dazu die Hinweise in Bd. 1, Kap. II.1.5 (Die Wiederaufnahme der Konkordatsverhandlungen 1926 und Pacellis Dilemma beim Besetzungsmodus der Bischofsstühle). 243

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Zieht man abschließend eine Resümee, bleibt festzuhalten: Zwar wird in den Quellen expressis verbis kein Kandidatenprofil Pacellis deutlich, doch ergibt sich aus einigen fallimmanenten Indizien, dem Rückbezug zum Berliner Fall 1929/30 sowie den ausgewählten Kandidaten, dass eine kirchliche Grundsatzfestigkeit und einwandfreie Theologie, die sich in einer danach ausgerichteten Priesterausbildung materialisieren sollte, sowie eine Begabung beziehungsweise Erfahrung im Umgang mit den (nationalsozialistischen) Regierungsbehörden seine zentralen Kriterien waren. Rhetorische Fähigkeiten oder Diasporaerfahrung waren wichtig, offenbar aber nicht essentiell – so war zum Beispiel Francken auf ersterem Gebiet kein ausgewiesener Fachmann, während Preysing letztere wohl nicht vorweisen konnte. Erwähnenswert ist noch, dass die vier Kandidaten aus ganz Deutschland kamen und Pacelli kein Lokalitätsprinzip verfolgte, also keine Geistlichen aus Berlin oder etwa der Breslauer Kirchenprovinz nominierte. Außerdem benannte er keine Universitätsprofessoren und ignorierte damit das von Orsenigo berichtete Lamentieren der Professorenzunft, bei Bischofseinsetzungen nicht berücksichtigt zu werden. Im kurz zuvor abgewickelten Münsteraner Besetzungsfall griff Pacelli auf eine Liste episkopabler Ex-Alumnen des römischen Germanicums zurück. Für Berlin tat er dies offenkundig nicht, ja er setzte zunächst nicht einmal einen Geistlichen auf die Liste, der im deutschsprachigen Ausland, zum Beispiel in Innsbruck studiert hatte. Die drei ersten Ternakandidaten waren stattdessen an deutschen Hochschulen oder zumindest Seminaren ausgebildet worden. Erst nachträglich ergänzte er mit Preysing jemanden, der sowohl an deutschen Universitäten (Jura) als auch in Innsbruck (Theologie) gelernt hatte. Den Grund für diese zunächst konsequente, dann etwas aufgeweichte Auswahl, wird man darin sehen müssen, dass Pacelli nicht wollte, dass die Geistlichen für die NS-Regierung in formaler Hinsicht als „Römer“ identifizierbar waren. Er gab der Besetzung also einen „deutschen“ Anstrich, wenngleich die Kandidaten inhaltlich-faktisch seinem römischen Bischofsideal entsprachen. Möglicherweise ergibt sich von hier aus noch einmal ein Indiz für die nachträgliche Nominierung Preysings: Demnach hätte Pacelli zunächst von ihm abgesehen, weil der Graf diesem Opportunitätskriterium nicht gerecht wurde. Da er in ihm aber einen extrem geeigneten Kandidaten für den Berliner Bischofsstuhl erblickte,965 hätte Pacelli sich kurzfristig dazu entschieden, das Risiko eines etwaigen staatlichen Widerspruchs gegen den Innsbrucker Jesuitenschüler Preysing doch einzugehen.966 An dieser starken Spannung zwischen Opportunität und Ideal lässt sich gut ablesen, wie schwer Pacelli die Kandidatensuche im vorliegenden Fall gefallen ist.

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Die dritte in dieser Untersuchung behandelte Besetzung des Berliner Bischofsstuhls wird das noch einmal deutlich vor Augen führen. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15. Das theologische Studium im Innsbrucker Canisianum war auf Basis von Artikel 14 des Reichskonkordats im Gegensatz zu einem Studium an einer päpstlichen Hochschule in Rom keine gültige Voraussetzung für die Übernahme eines höheren Kirchenamtes in Deutschland. Wäre jedoch diese konkordatäre Bestimmung für Pacellis Entscheidung maßgeblich gewesen, Preysing zunächst nicht auf der Terna zu 244

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2. Das Besetzungsverfahren verlief abgesehen von der staatlichen Fristüberschreitung hinsichtlich der politischen Klausel ordnungsgemäß nach den Bestimmungen von Preußen- und Reichskonkordat. Pacellis ergänzende Anweisungen waren dieselben, die sich mittlerweile für die preußischen Verfahren eingebürgert hatten (römische Aufforderung an die Bischöfe und das Domkapitel, getrennt Vorschläge einzureichen; Betonung des secretums; römisches Prüfungsmonopol bei etwaigen staatlichen Bedenken gegen den electus).967 Interessant ist, dass er die von Orsenigo im Münsteraner Fall vorgeschlagene und praktizierte 15-tägige Frist, innerhalb der die Vorschlagslisten der preußischen Kirche in der Nuntiatur eintreffen mussten, als festen Verfahrensbestandteil adaptiert hatte. Zwei weitere Beobachtungen sind noch anzusprechen: a) Zum einen dachte Pacelli offensichtlich nicht daran, für den erkrankten Bischof Schreiber einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu installieren. Dies hätte das Kapitelswahlrecht ausgeschaltet und eine römische Nomination des künftigen Bischofs ermöglicht, wobei sich hinsichtlich der politischen Klausel gegenüber einer „ordentlichen“ Bistumsbesetzung nichts geändert hätte.968 Sucht man einen Grund dafür, dass Pacelli nicht dementsprechend vorging, darf zunächst nicht vergessen werden, dass der Zeitraum zwischen dem ersten ausführlichen Bericht Orsenigos über Schreibers Gesundheitszustand (23. August) und dem Tod des Oberhirten (1. September) kaum ausreichte, um einen Koadjutorplan ernsthaft zu verfolgen. Außerdem hätte eine Koadjutoreinsetzung durch den Heiligen Stuhl auf den Staat natürlich den Eindruck einer ausschließlich von Rom dominierten Angelegenheit gemacht, was Pacelli – wie bei seiner Kandidatenwahl bereits ersichtlich – gewiss vermeiden wollte. b) Zum anderen war ungewöhnlich, dass Pacelli über Pizzardo dem Auditor der Nuntiatur die Anweisung gab, sich gewissermaßen dafür zu „rechtfertigen“, dass Steinmann nicht zur Wahl gestellt wurde. Vielleicht ist dieses einzigartige Vorgehen vor dem Hintergrund des Münsteraner Falls zu lesen: Dort hatte Pacelli den Favoriten des Domkapitels nicht auf die Terna gesetzt, was letztendlich zu verärgerten Interventionen (brieflich und persönlich) hervorragender Vertreter des Gremiums führte. Nun ging der Kardinalstaatssekretär analog vor und ignorierte den Erstplatzierten der Domherrenliste bei der Aufstellung der Terna. Womöglich befürchtete er, dass sich auch die Reaktion des Domkapitels wiederholen könnte und initiierte daher eine präventive

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platzieren, dann hätte er zum Beispiel einen Germaniker benennen können, der an der Gregoriana seine Ausbildung erfahren hatte. Dass er dies nicht tat, spricht eher dafür, dass nicht diese rechtliche Norm für ihn entscheidend war, sondern vielmehr die Intention, der nationalsozialistischen Reichsregierung keine Munition für den Vorwurf einer „antideutschen“ Kirchenpolitik zu liefern und keinen „Grund“ zu geben, nach Argumenten für die Anwendung der politischen Klausel zu suchen. Die angesprochene Konkordatsbestimmung sollte schließlich im angesprochenen dritten Berliner Besetzungsfall noch einmal virulent werden. Vgl. dazu das Ergebnis Nr. 2 in den Fällen von Ermland, Aachen und Münster. Vgl. Art. 14, Nr. 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. 245

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Gegenmaßnahme, indem er dem Dompropst mit Verweis auf dessen Gesundheitszustand eine unverfängliche Erklärung dafür lieferte, nicht auf der Dreierliste zu stehen. 3. Wie gesehen war das staatliche Moment in Pacellis Kandidatenauswahl nicht unerheblich. Dabei ging es dem Kardinalstaatssekretär allerdings nicht etwa darum, der Regierung irgendwie entgegenzukommen. Vielmehr sollte der künftige Oberhirte der erdrückenden politischen Macht in Berlin gewachsen sein und eine distanzierte Haltung zur nationalsozialistischen Reichsregierung einnehmen. Zwar scheiterte der informelle Versuch von staatlicher Seite, über Berning die Kandidatenwahl zu beeinflussen, bereits an der ersten „Hürde“ des Berliner Nuntius. Doch gibt es überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Pacelli dem – letztlich unbekannten – Wunschkandidaten des NS-Regimes auch nur leise Beachtung geschenkt hätte. Faktisch ignorierte er das dem Charakter des Bischofsstuhls entsprechende hohe Interesse der Regierung an der Besetzung. Demgemäß war Bares kein Geistlicher, den die Regierung gerne in Berlin sah, vielmehr nahm sie dessen Wahl mit Unverständnis und Enttäuschung auf. Was den Kardinalstaatssekretär angesichts seines klar auf kirchlichem Boden stehenden Kandidatenspektrums außerdem beschäftigte, war die Sorge, dass das staatliche Plazet ausbleiben könnte. Daher nominierte er vorsichtshalber nur in Deutschland ausgebildete Kandidaten  – über die inkonsequente Nachnominierung Preysings wurde bereits gesprochen. Doch war damit kein Entgegenkommen verbunden, denn in ihrem „materialen“ Gehalt sollten die Kandidaten Pacellis „römischem“ Bischofsideal entsprechen. Aus der gleichen Sorge ließ er die Anweisung ergehen, die Bischofswahl möglichst vor der Reichstagswahl vom 12. November stattfinden zu lassen. Er ging wohl davon aus, dass sich die NSDAP vor dieser wichtigen Abstimmung keinen Konflikt mit der Kirche beziehungsweise dem Heiligen Stuhl leisten wollte und einen missliebigen Kandidaten noch eher durchwinken würde. Darüber hinaus hätte umgekehrt ein Wahlsieg das Selbstbewusstsein der Partei steigern und diese womöglich konfliktfreudiger gemacht. Offensichtlich ahnte Pacelli einen steinigen Weg zum Nihil obstat voraus, der schließlich darin bestand, dass die preußische Regierung die 20-tägige Einspruchsfrist bei weitem nicht einhielt und bis Mitte Dezember um die Entscheidung rang. Zwar zeigte Pacelli sich in formaler Hinsicht nachgiebig, indem er nachträglich eine Fristverlängerung konzedierte, blieb inhaltlich aber bei seinem harten Kurs. Da gegenüber Bares nach seiner Auffassung keine allgemeinpolitischen Bedenken vorzubringen waren – tatsächlich waren die innerhalb der Regierungsbehörden diskutierten Einwände sämtlich parteipolitischer Natur –, duldete er keinen staatlichen Widerspruch. Um endlich die staatliche Zustimmung zu erzwingen, nutzte er „die Furcht führender Nationalsozialisten vor einem auf die Weihnachtsansprache des Papstes folgenden neuerlichen weltweiten Ansehensverlust des nationalsozialistischen Deutschlands“969. Durch das enttäuschte Einlenken Görings ging Pacelli als Sieger aus der weitgehend noch verdeck969

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ten Auseinandersetzung hervor. Ob er seine Ankündigung, entsprechend dem im Reichskonkordat verbürgten Recht künftig auf ein verspätetes Nihil obstat der Regierung nicht mehr zu warten, in die Tat umsetzte, wird in den nächsten preußischen Besetzungsfällen zu prüfen sein. 4. Der Kardinalstaatssekretär suchte in diesem Fall bei niemandem Rat, weder zu Kandidaten noch zu den Besetzungsfall allgemein betreffenden Angelegenheiten. Auch Orsenigo konsultierte keinen Informanten, der gewissermaßen mittelbar für Pacelli hätte relevant werden können. Die Vorsondierungen im Staatssekretariat rekurrierten auf die Besetzungsfälle von Münster und Ermland sowie einer früheren Kandidateneinschätzung, die von Pacelli selbst stammte. Insofern kommen nur die vom Preußenkonkordat vorgeschriebenen „Informanten“, der Episkopat und das Domkapitel, in Betracht. Und hier zeigt sich, dass Pacelli eine grundsätzlich andere Sicht des gewünschten Kandidatenprofils hatte als die Proponenten: Die klare Favoritenrolle Bernings und Steinmanns ließ Pacelli unberücksichtigt. Von den Vorschlagslisten nahm er nur Francken, der mit zwei Voten (zusammen mit Zeller) immerhin an dritter Position der Vorschlagslisten rangierte, und nachträglich Preysing in die Terna auf. Letzterer war jedoch nur ein einziges Mal vorgeschlagen worden, nämlich vom Aachener Oberhirten Vogt. Dieser benannte an erster Stelle außerdem den Berliner Dompropst Steinmann. Hätte also Vogts Votum für Pacelli irgendeine hervorgehobene Bedeutung gehabt, dann wäre zunächst einmal Steinmann auf die Dreierliste zu setzen gewesen. Gleiches gilt auch für die Vorschläge Galens und Bornewassers: Ersterer benannte vor Francken noch Berning und Steinmann  – beide nahm Pacelli nicht auf. Letzterer nominierte vor dem Münsteraner Regens noch Zeller – auch dieser erhielt keinen Platz auf der Terna. Von daher ist festzuhalten, dass Pacelli die Vorschlagslisten zwar „würdigte“, insofern er von Vogt, Galen und Bornewasser einen Personenvorschlag berücksichtigte. Aber andererseits ist anzunehmen, dass er Francken und Preysing, deren Kandidatur sich leicht aus dem unmittelbaren Bezug erklärt, den Pacelli zu ihnen im Herbst 1933 hatte (vgl. Nr. 1), nicht auf die Terna setzte, weil sie auf den Listen standen. Die vom Preußenkonkordat vorgeschriebenen Kandidatenlisten waren für Pacelli also nicht maßgeblich, nicht die des Episkopats und schon gar nicht die des Domkapitels. 5. Die innerkuriale Entscheidungsfindung lässt sich quellenmäßig nicht leicht nachvollziehen. Nach den ersten Sondierungen in der Berliner Nuntiatur folgte eine zweite Sondierungsrunde im Staatssekretariat durch einen Minutanten. Bis hier basierten alle Kandidatenüberlegungen rein auf den preußischen Vorschlagslisten. Die Terna schließlich, insbesondere die vorläufige, ging nun mit Bares und Landersdorfer über diesen Horizont hinaus, setzte also weitreichende Kenntnisse der Kandidaten und deutschen Verhältnisse voraus, die einzig Pacelli haben konnte und – wie gesehen – auch hatte. Daher ist anzunehmen, dass er die römische Kandidatenauswahl traf. Auch Pius XI., dem Pacelli seine 247

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Überlegungen regelmäßig vortrug, hätte die Terna ohne Informationen, die über die preußischen Listen und Orsenigos Berichterstattung hinausgingen, nicht aufstellen können. Sicherlich kann man davon ausgehen, dass die Namen des Hildesheimer und Eichstätter Bischofs, des Abtes von Scheyern, vielleicht sogar des Münsteraner Regens, der im Sommer 1933 noch in der Kurie war, dem Papst keine Unbekannten waren. Doch heißt das noch nicht, dass dieser sich damit gleichzeitig schon in der Lage sah, auch über ihre Eignung für den vakanten Bischofsstuhl zu entscheiden, zumal er mit Pacelli einen Deutschlandkenner par excellence zur Verfügung hatte. Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass der Pontifex an der Terna, die Pacelli mit in die Audienz brachte, Modifikationen wünschte. Doch gibt es für diese Annahme keinerlei Grund. Im Gegenteil waren drei der vier Ternakandidaten – alle außer Francken – nachweislich schon früher klare Bischofskandidaten Pacellis gewesen. Selbst die nachträgliche Ternakorrektur lässt sich ohne päpstliche Intervention erklären (vgl. Nr. 1). Bei Pacelli liefen die Fäden zusammen; er war an dem Gesundheitszustand Bischof Schreibers interessiert und verlangte nach genauer Berichterstattung;970 er wusste um die Bedeutung der Reichstagswahlen und den Vorteil, die Bischofswahl vorher abzuwickeln; er sorgte durch diplomatischen Druck dafür, dass das preußische Kultusministerium schließlich das Nihil obstat für Bares erteilte. Letzteres war Orsenigo, der qua Amt als diplomatischer Gesandter des Heiligen Stuhls beim Deutschen Reich eigentlich dafür zuständig war, trotz Verhandlungen mit dem Kultusminister nicht gelungen. Gerade dieser Punkt lässt die Rolle des Nuntius insgesamt als eher blass erscheinen. Er führte Pacellis (und Pizzardos) Anordnungen aus, ging aber nicht darüber hinaus. So kommentierte er zwar weisungsgemäß die Kandidatenvorschläge – zumindest sieben der elf – von Episkopat und Domkapitel, nannte jedoch nicht drei Geistliche, die seiner Ansicht nach auf der römischen Dreierliste platziert werden müssten. Eine eigene Präferenz etwa, womöglich jenseits der Vorschlagslisten, hatte er schon gar nicht zu bieten. Andererseits waren Francken und Preysing die einzigen beiden Kandidaten, die von Orsenigo kein Untauglichkeitssiegel erhielten und die auch prompt auf Pacellis Terna standen. Auch sein negatives Votum über Berning, Steinmann, Zeller, Meinertz und Simon fand Widerhall in Pacellis Kandidatenwahl. Diese konnte also zumindest partiell in der Meinung des Nuntius eine Bestätigung und zusätzliche Grundlage finden. Abgesehen davon fungierte Orsenigo als Vermittler und Berichterstatter, während Pacelli für sich reklamierte, die zentralen Weichen des Falls zu stellen. 970

Zwar schrieb Pacelli, dass er im Namen des Papstes eine umfassende Berichterstattung über Schreibers Gesundheitszustand erbitte. Doch wie sollte der Pontifex die gesundheitliche Verfassung des Berliner Oberhirten im Auge haben, wenn nicht sein „Außenminister“, bei dem die Informationen aus der Weltkirche eingingen, ihn darüber in Kenntnis setzte? Dass also Pacelli seine Weisung an den Papst rückband, hatte den gleichen Grund, weshalb er auch erklärte, der Pontifex habe die Kandidatenlisten geprüft: seine Ekklesiologie, gemäß der alle Jurisdiktion im Papst konzentriert war und er selbst als Kardinalstaatssekretär auch nur in Vertretung und Vollmacht des Papstes handelte. 248

II.1.14 Hildesheim 1934

II.1.14 Ein Nebenschauplatz im Streit zwischen Berlin und Rom? Die leidige Einspruchsfrist des Staates: Hildesheim 1934 (Joseph Machens)971 Vorbereitende Maßnahmen zur Wiederbesetzung Knapp fünf Jahre war Nikolaus Bares Diözesanbischof von Hildesheim, bevor ihn Papst Pius XI. am 20. Dezember 1933 auf den bischöflichen Stuhl der Reichshauptstadt transferierte. Am 2. Februar 1934 zog er in sein neues Bistum ein. Gut zwei Wochen später ergriff Kardinalstaatssekretär Pacelli die Initiative und wies den Berliner Nuntius Orsenigo an, sich um die Wiederbesetzung des vakanten Bistums Hildesheim zu kümmern.972 Mit einer Reminiszenz an seine Anweisung vom 8. September des Vorjahres, in der er den Nuntius beauftragt hatte, die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats für das Berliner Bistum zu sammeln, verlangte er von Orsenigo nun dasselbe für Hildesheim. Wie damals wiederholte Pacelli einige formale Anordnungen, die sich mittlerweile im Verfahren eingebürgert hatten: Orsenigo sollte in seinem Zirkularschreiben an die preußischen Ordinarien betonen, dass diese ihre Vorschläge unter dem secretum Sancti Officii zu leisten hätten, dessen Natur er ihnen – wieder einmal – erklären sollte. Darüber hinaus hatten jeder Bischof und das Hildesheimer Domkapitel ihre Überlegungen zu einem oder mehreren Kandidaten gesondert – „auf eigene Rechnung“973 –, nicht etwa gemeinsam, vorzutragen und mit den nötigen Informationen zu untermauern. Übrigens sei es auch angemessen – so Pacelli – eine 15-tägige Frist anzusetzen, innerhalb derer die Antworten der Bischöfe in der Nuntiatur eingehen mussten. Dieser zeitliche Zwang war auf Initiative Orsenigos bei der Besetzung des Münsteraner Bischofsstuhls 1933 eingeführt und zu einer festen Institution geworden, die sich bewährt hatte. Der Nuntius sollte schließlich den Vorschlägen für die römische Entscheidung eigene Beobachtungen hinzufügen.

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Hildesheim 1934 Aschoff, Hildesheimer Bischofswahlen, S. 76–79; Engfer, Machens, S. 204–206; Flammer, Bischofswahlen, S. 247–256; Franitza, Domkapitel, S.  123–126; Heim, Bischöfe, S.  122–144; Speckner, Wächter, S.  252f.; Vogt, Streiter, S. 131–157. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 17. Februar 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 3rv. „.… per proprio conto …“ Pacelli an Orsenigo vom 17. Februar 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 3v. 249

II.1.14 Hildesheim 1934

Schon am 3. Februar 1934 wählte das Hildesheimer Domkapitel mit großer Mehrheit den bisherigen Generalvikar, Otto Seelmeyer, zum Kapitelsvikar.974 Erst etwas verspätet am 20. Februar unterrichtete Orsenigo seinen römischen Vorgesetzten davon, weil er offenbar auch erst soeben davon erfahren hatte.975 Seelmeyer hatte nämlich den Nuntius außen vor gelassen, als er seiner Pflicht nachkam, den Heiligen Stuhl von seiner Nominierung als Interimsadministrator in Kenntnis zu setzen. Stattdessen hatte er sich schon frühzeitig mit einem Schreiben direkt an die Konsistorialkongregation gewandt. Pacellis Brief, der den Startschuss für die Wiederbesetzung des vakanten Bischofsstuhls gab, war am 20. Februar noch nicht in der Berliner Nuntiatur eingetroffen, denn Orsenigo beschloss seinen Bericht mit der Bemerkung, auf diese übliche Instruktion zu warten. Am 22. des Monats hielt er sie dann in den Händen und setzte weisungsgemäß das Zirkularschreiben an die Bischöfe und die Hildesheimer Kanoniker auf. Damit ergab sich als terminus ad quem für deren Antworten der 9. März.

Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Hildesheimer Domkapitels 1. Kardinal Karl Joseph Schulte von Köln meldete sich bereits am 24. Februar zurück.976 Auf seinem Zettel stand ein einziger Name, nämlich der des Direktors des Paderborner Theologenkonvikts Leoninum, Dr. theol. und Dr. iur. utr. Maximilian ten Hompel. Dieser sei geeignet, würdig und ihm – so Schulte – seit dessen Studienzeiten bekannt. 2. Doppelt so viele Geistliche hielt der Münsteraner Oberhirte, Clemens August Graf von Galen, „mehr wie andere würdig und geeignet …, das bischöfliche Hirtenamt auf sich zu nehmen“977: a) Zum einen den Münsteraner Domherrn Heinrich Roleff, der, 1878 geboren und 1903 zum Priester geweiht, vor seiner Berufung in das Kapitel Pfarrer und Dechant in Borghorst gewesen sei. Roleff war in den Augen Galens „ein musterhafter Priester und eifriger Seelsorger, dessen Klug-

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Vgl. Franitza, Domkapitel, S. 123f. Zwei Tage später zeigte das Kapitel die Wahl beim preußischen Kultusministerium gemäß Art. 9, Abs. 3, Satz 2 des Preußenkonkordats an. Vgl. Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 326. Das Datum der Kapitularvikarswahl gab Orsenigo dem Kardinalstaatssekretär allerdings nicht bekannt. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 20. Februar 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 4r. Vgl. Schulte an Orsenigo vom 24. Februar 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 12r. Galen an Orsenigo vom 25. Februar 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 16r. 250

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heit und Tüchtigkeit stets auch von Behörden und von Andersdenkenden anerkannt wird“978. b) Zum anderen den Duisburger Gymnasiallehrer und Studienrat Dr. theol. Franz Aengenvoort, der ein Jahr später als Roleff geboren und ebenfalls ein Jahr nach diesem zum Priester geweiht worden sei. Für erwähnenswert hielt der Graf, dass Aengenvoort zum Teil in Rom studiert habe und charakterlich durch Wissen, Tugend und Seeleneifer überzeuge. 3. Schon am 24. Februar traf sich das Hildesheimer Domkapitel – vollzählig, wie vier Tage später Domdekan Johannes Hagemann dem Nuntius schrieb –, um über taugliche Kandidaten für die Nachfolge Baresʼ abzustimmen.979 Die Kanoniker einigten sich auf drei Vorschläge, denen sie jeweils eine konzise Biographie, jedoch keine Charakterurteile beifügten. a) An erster Stelle dachten sie an den Paderborner Weihbischof Augustin Baumann (geboren 1881). Seiner Priesterweihe 1906 hätten sich Seelsorgsstationen in Völpke (bei Magdeburg) und Dortmund angeschlossen, wo er 1920 Pfarrer der neu errichteten Gemeinde St. Anna geworden sei. Zehn Jahre später sei er zum Diözesanpräses der Müttervereine des Erzbistums Paderborn ernannt worden und habe außerdem den Vorsitz in der freien Stadtkonferenz der Geistlichen von Dortmund übernommen. 1932 schließlich habe ihn Pius XI. zum Weihbischof erhoben. b) Als zweiten Geistlichen nannte das Kapitel den Trierer Ehrendomherrn Albert Homscheid (geboren 1875). Im Anschluss an seine Priesterweihe im Jahre 1901 habe Homscheid Kaplan- und Pfarrstellen in Boppard, Völkingen, Ittel, Lieser an der Mosel und Koblenz innegehabt. 1932 sei seine Ernennung zum Dechant des Koblenzer Dekanats und seine Auszeichnung mit dem Ehrenkanonikat erfolgt. c) Der Dritte Kandidat war nicht reiner Seelsorger, sondern entstammte dem akademischen Metier: Dr. theol. Joseph Machens, Professor am Hildesheimer Priesterseminar (geboren 1886). Nach seinen Studien in Innsbruck, Bonn und Münster sei er 1911 ordiniert und für fast zehn Jahre als Kurat in Hasperde und Springe eingesetzt worden. Neben seiner – nicht näher spezifizierten – Professur, die er 1920 erhalten habe, verwies das Domkapitel auf seine Tätigkeit als Domprediger und Prosynodalexaminator. 4. Der Vorschlag des Trierer Ordinarius, Franz Rudolf Bornewasser, beschränkte sich auf eine Person und einen einzigen Satz: „prae ceteris“980 sei sein Weihbischof, Antonius Mönch, geeignet, die Hildesheimer Kirche zu leiten. 5. Antonius Hilfrich aus Limburg bot am 4. März zwei Priester – eigentlich ist treffender, von eineinhalb zu sprechen – für das fragliche Amt an.981 Er merkte allerdings an, dass nur der erste 978

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Galen an Orsenigo vom 25. Februar 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 16r. Vgl. Hagemann an Orsenigo vom 28. Februar 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934– 1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 24r–26r (nur r). Bornewasser an Orsenigo vom 1. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 20r. Vgl. Hilfrich an Orsenigo vom 4. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 18r–19r (nur r). 251

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dem Hildesheimer Klerus angehöre, welcher ihm wegen der weiten Entfernung zum größten Teil unbekannt sei, und die heimischen Geistlichen doch zuerst in Erwägung zu ziehen seien. a) „Bisweilen habe ich den Herrn [Konrad, R.H.] Algermissen gesehen, der zur Diözese Hildesheim gehört, dem ‚Volksverein für das katholische Deutschland‘ verpflichtet ist und sich mit der Gefahr des Sowjetismus auseinandersetzt,982 einen gelehrten Mann; ob er die Begabung besitzt, eine Diözese zu lenken, kann ich nicht beurteilen.“983 b) Für unzweifelhaft tauglich deklarierte Hilfrich hingegen den an der Universität Würzburg unterrichtenden Privatdozenten für Fundamentaltheologie, Dr. theol. und phil. Joseph Pascher (geboren 1893). Ihm, der 1916 in Limburg die Priesterweihe empfangen habe, sprach er sowohl seelsorgliche Erfahrung als auch eine erfolgreich absolvierte Lehrtätigkeit in der Mittelschule zu. Pascher sei zudem ein gelehrter und frommer Priester, der „fideliter sentiens cum Ecclesia“984. Als Früchte seiner akademischen Tätigkeit nannte Hilfrich abschließend seine Publikationen über das heiligste Herz Jesu (aszetisch) und Philon von Alexandrien (wissenschaftlich).985 6. Auch der Erzbischof von Breslau, Adolf Kardinal Bertram, wollte sich nur zurückhaltend zur Kandidatenfrage für Hildesheim äußern, weil die gegenwärtige räumliche und zeitliche Distanz zum westlichen Bistum  – vor 20 Jahren hatte er den dortigen Bischofsstuhl verlassen, um die Nachfolge Georg Kardinal von Kopps im niederschlesischen Fürstbistum anzutreten  – für ihn ein sicheres Urteil erschwere.986 Doch wusste er zu berichten, dass sich in Hildesheim Professor Joseph Machens und Kapitelsvikar Otto Seelmeyer „besonderer Wertschätzung“ erfreuen: „Beide sind nach Charakter und Wirken sehr zu empfehlen.“987 Die Stärken des Erstgenannten lägen auf 982

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Berühmt war insbesondere Algermissens Buch „Die Gottlosenbewegung der Gegenwart und ihre Überwindung“, eine historisch-systematische Abhandlung über den Bolschewismus, die er in einem breiten Konzept zur Überwindung und Ausrottung desselben münden ließ. Vgl. Algermissen, Gottlosenbewegung. „Interdum vidi D.rem Algermissen ad Dioecesim Hildeshiensem pertinentem, prius ‚Unioni Populariʻ in M.-Gladbach addictum et de periculo Sovietismi disserentem, hominem doctum; an secundum indolem ad regendam Dioecesim idoneus sit, non possum judicare.“ Hilfrich an Orsenigo vom 4. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 18r. Hilfrich an Orsenigo vom 4. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 19r. Damit spielte Hilfrich wohl auf Pascher, Herz und Ders., Königsweg, an, auf die er schon im Münsteraner Besetzungsfall des Vorjahres hingewiesen hatte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats). Vgl. Bertram an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 11r. Bertram an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 11r. Bertram wusste von der „Wertschätzung“ in Hildesheim gegenüber Machens in erster Linie, weil die Domherren bei ihm über den eigenen Regens Rücksprache hielten, bevor sie ihn vorschlugen. Vgl. Vogt, Streiter, S. 136. 252

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den Gebieten der Predigt, Lehre und Seelsorge – Machens sei ein „populärer Seelsorger“988 –, die des Letztgenannten lägen eher im Bereich der Administration. Deshalb gehörten sie für Bertram zur Gruppe der bedeutenderen Kandidaten. Letztlich verwies er aber auf die Expertise des Nikolaus Bares, der auf Basis seiner aktuellen Kenntnis ein bestimmteres Urteil abgeben könne. 7. Ähnlich wie Bertram und Hilfrich tat sich auch Bischof Damian Schmitt von Fulda schwer, einen Anwärter aus dem Hildesheimer Bistum oder aus einer anderen Diözese für das Episkopen­amt zu empfehlen, der mit absoluter Sicherheit dafür geeignet sei.989 Dazu bräuchte es fundierte Kenntnisse über die dortigen Personen und diözesanen Eigenheiten, mit denen Schmitt nicht aufwarten konnte. Einer jedoch schien ihm in ganz Deutschland geachtet zu sein, nämlich der bereits genannte Algermissen (geboren 1889). Von ihm notierte Schmitt, dass er für vier Jahre Alumne des römischen Germanicums gewesen sei (1910–1914), anschließend Kaplan in Hannover, dann Hochschulseelsorger und ab 1926 Leiter des Apologetischen Dezernats des (1933 aufgelösten) „Volksvereins für das katholische Deutschland“ – worauf Hilfrich auch bereits verwiesen hatte – sowie Schriftleiter des Vereinsorgans „Der Volksverein“.990 Sein apostolisches Wirken finde überall breite Anerkennung. 8. Als nächstes meldete sich die Stimme des bisherigen Oberhirten und frisch eingesetzten Ordinarius von Berlin, Nikolaus Bares.991 Außer dem Domkapitel war er der einzige, welcher der Nuntiatur eine Kandidatentrias vorlegte. a) Sein erster Vorschlag bestand im bisherigen Generalvikar der vakanten Diözese Seelmeyer. Er sei ein Gelehrter in beiden Rechten und ebenso in der Geschäftsführung bestens bewandert, da er über 20 Jahre in der Diözesanverwaltung gewirkt habe. Darüber hinaus rage er in der theologischen Wissenschaft und einer aufrechten Anhänglichkeit gegenüber dem Heiligen Stuhl hervor, sodass „es scheinen könnte, dass er ein über jeden Einwand erhabener Kandidat ist, wenn sich mir nicht ein doppelter Zweifel stellte“992. Unklar bleibe einmal, ob Seelmeyers Stimme, die ziemlich schwach und „ein klein wenig verhüllt“993 sei, die Last des häufigen Predigens tragen könne. Niemals habe er ihn predigen oder öffentlich reden gehört. Mit dem zweiten Dubium meinte er die Charakteranlage, „die bisweilen eine gewisse Här988

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Bertram an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 11r. Vgl. Schmitt an Orsenigo vom 6. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 22rv. Vgl. zum Volksverein für das katholische Deutschland in der Weimarer Republik bis zur Aufhebung durch die Nationalsozialisten Grothmann, Verein; Klein, Volksverein. Vgl. Bares an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 14r–15r (nur r). „… videri posset esse candidatus omni exceptione major, nisi duplex mihi obversaretur dubium.“ Bares an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 14r. „… paululumque velata …“ Bares an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 14r. 253

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te oder besser Hartnäckigkeit an den Tag zu legen scheint, welche die Seelen der Geistlichen über Gebühr aufreizt“994. Daher könnte es sein – folgerte Bares –, dass die Stimmen der Domkapitulare sich schwerlich auf ihn vereinigen. b) Auf den zweiten Rang platzierte Bares einmal mehr den Theologieprofessor am Hildesheimer Priesterseminar Machens. In ihm vereinige sich Wissenschaft und Frömmigkeit in gleicher Weise, zu denen dann noch eine ausgesprochene Eloquenz hinzutrete. Mit dieser Ausstattung habe er über mehrere Jahre den Part des Theologen an der Hildesheimer Domkirche bestens ausgefüllt. Machens sei gewiss der bekannteste Kandidat, der bei Geistlichkeit und Volk vermutlich willkommen sein würde. c) Schließlich votierte Bares für den ebenfalls bereits genannten Paderborner Weihbischof Baumann. In seinen Augen qualifizierte ihn zum einen, dass er einst als Pfarrer in der Nähe der Diözese Hildesheim tätig gewesen sei und so die dortigen Menschen und Angelegenheiten kenne. Zum anderen spreche für ihn, dass er um die Nöte der Diasporakatholiken wisse und Sorge trage. 9. Fast ebenso knapp wie die Rückmeldung Bornewassers fiel die des Osnabrücker Oberhirten, Wilhelm Berning, vom 7. März aus.995 Er präsentierte als einzigen den Paderborner Dompropst und Philosophieprofessor, Paul Simon, „einen in der Theologie gründlich unterrichteten Mann, im Lebenswandel und in seinen Sitten tadellos, sehr standhaft in der katholischen Gesinnung und in der Liebe zum Heiligen Stuhl.“996 10. Am gleichen Tag verfasste auch Bischof Joseph Vogt von Aachen sein Antwortschreiben an Orsenigo.997 Vogt bekannte, überhaupt nur einen Priester der Diözese Hildesheim besser zu kennen – Kleriker anderer Provenienz zu unterbreiten, kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Und diesen einen könne er auch als ausreichend würdig beurteilen, um an der Spitze der Hildesheimer Kirche zu stehen: Algermissen, Domvikar in Hildesheim. Als biographische Kernpunkte nannte Vogt Algermissens Studienzeit in Rom sowie seine führende Rolle im Volksverein. 11. Am letzten Tag der Frist brachte Maximilian Kaller von Ermland seinen Kandidatenwunsch zu Papier, der wiederum einzig in der Person Algermissens bestand.998 In dessen langjähriger Verbindung zum 1933 verbotenen katholischen Volksverein sah er keine politische Diskreditierung 994

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„… quae quandam duritiem vel potius obstinationem interdum prae se ferre videtur, clericorum animos plus aequo exasperet …“ Bares an Orsenigo vom 5. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 15r. Vgl. Berning an Orsenigo vom 7. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 17r. „… virum in theologia valde edoctum, in vita et moribus irreprehensibilem, in sensu catholico et amore S. Sedis optime firmum.“ Berning an Orsenigo vom 7. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 17r. Vgl. Vogt an Orsenigo vom 7. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 23r. Vgl. Kaller an Orsenigo vom 9. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 21r. 254

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für das fragliche Amt: „Wenn er auch für viele Jahre ein energischer Mitarbeiter und Lenker des genannten Vereins war, verstrickte er sich nicht in weltlichen Angelegenheiten, sodass er aus der Auflösung des Vereins in jeder Beziehung unbeschadet hervorging.“999 Als charakterliche Qualitäten attribuierte er ihm Klugheit, Wissenschaft und Sittenintegrität. Außerdem sei Algermissen in allen erforderlichen Disziplinen hervorragend bewandert. 12. Der Metropolit der Paderborner Kirchenprovinz, Kaspar Klein, unterbreitete einen Kandidatenvorschlag für sein Suffraganbistum erst mit einigen Tagen Verspätung, die Orsenigo jedoch durchgehen ließ.1000 Für das Amt des Bischofs von Hildesheim dachte der Erzbischof an seinen Weihbischof Baumann, den er seit dessen Amtsantritt Ende des Jahres 1932 immer mehr schätzen gelernt habe: „Tief kirchliche und religiöse Gesinnung, unermüdlicher Eifer, große Umsicht und Klugheit, Tatkraft und Prinzipienfestigkeit sind ihm in hohem Grade eigen. Diese und andere edle Eigenschaften seines Geistes und Herzens bieten Gewähr, dass er das Amt als Ordinarius einer Diözese recht segensreich im Falle seiner Berufung verwalten würde.“1001

Eine besondere Zuneigung hege Baumann zur Diaspora, für die er unermüdlich arbeite, sodass er auch in dieser Hinsicht nach Ansicht Kleins genau in das Profil des Hildesheimer Bistums passte. Außerdem habe er während seines früheren seelsorglichen Einsatzes im sächsischen Teil der Diaspora des Paderborner Bistums „Gelegenheit genug gehabt, auch das unmittelbar angrenzende Diasporagebiet der Diözese Hildesheim näher kennen zu lernen“1002 und dabei zahlreiche Kontakte zu Klerus und Volk dieses Sprengels knüpfen können. Baumann entsprach nach Klein also allen äußeren und inneren Anforderungen.

Orsenigos Kandidatenüberlegungen Nuntius Orsenigo weilte während des Rücklaufs der bischöflichen Korrespondenz nicht in Berlin, sondern verbrachte seinen Urlaub wie gewohnt im norditalienischen Valgreghentino. Von dort unternahm er einen Abstecher nach Rom, um mit Pacelli die Lage der Kirche in Deutschland und die Sedisvakanz des Bistums Hildesheim zu besprechen. Für die Audienz bedankte sich Orseni999

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„Etsi per multos annos erat cooperator et director strenuus dictae societatis, non implicavit se negotiis saecularibus, ita ut societate illa dissoluta integer quovis modo evaserit.“ Kaller an Orsenigo vom 9. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 21r. Vgl. Klein an Orsenigo vom 14. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 13rv. Klein an Orsenigo vom 14. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 13r. Klein an Orsenigo vom 14. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 13r. 255

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go am 18. März mit einem privaten Schreiben ohne Protokollnummer aus seinem Ferienort.1003 Eigentlicher Anlass für diesen Brief war die Erledigung eines Auftrags, den Pacelli ihm in Rom gegeben hatte: Er sollte den Erzbischof von Freiburg, Conrad Gröber, „über die bekannte Person hinsichtlich einer eventuellen Beförderung“1004 befragen, nämlich einer Beförderung auf den Hildesheimer Bischofsstuhl des heiligen Altfrid. Gröber war der Anfrage Orsenigos drei Tage zuvor mit einer kurzen Beurteilung „über Msgr. B.“1005 nachgekommen. Mit dieser Initiale konnte in diesem Kontext nur der Freiburger Weihbischof, Wilhelm Burger, gemeint sein, den der Kardinalstaatssekretär offenbar für einen bevorzugten Platz auf der römischen Terna in Erwägung zog.1006 Dieser Überlegung erteilte Gröber eine glatte Absage: Zwar besitze der Genannte sehr wohl die erforderliche Gewandtheit des Umgangs und die entsprechende Rednergabe,1007 aber: „Gegen ihn spricht eine gewisse Bequemlichkeit, eine leichte Oberflächlichkeit, eine gewisse Schwerfälligkeit in der Anpassung, was namentlich zur Zeit seine Stellung sehr erschweren könnte, und endlich die Tatsache, dass er politisch etwas belastet ist.“1008 Deshalb hielt es Gröber für unwahrscheinlich, dass jener in der Lage sei, „den gerade in der Gegenwart so schweren Posten ohne Reibungen auszufüllen“1009. Mit der Bemerkung, dass das Ergebnis „nicht sehr ermutigend“1010 sei, leitete der Nuntius das Schriftstück abschriftlich nach Rom weiter.1011

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 18. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 5r. „… circa la nota persona in ordine ad una eventuale promozione.“ Orsenigo an Pacelli vom 18. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 5r. Gröber an Orsenigo vom 15. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 6r. Dass es sich bei dem „Monsignore B.“ um den Weihbischof handelte, geht nicht nur aus der Tatsache hervor, dass der Freiburger Erzbischof, der eigentlich überhaupt nichts mit der Besetzung des Bistums Hildesheim zu tun hatte, befragt wurde, sondern auch aus einer Andeutung am Briefschluss, wo Gröber sein eigenes Charakterurteil über Burger „mit dem des Domkapitels“ stützt. Das Freiburger Domkapitel konnte natürlich als ganzes nicht so leicht über einen auswärtigen oder „unbedeutenderen“ Geistlichen, wohl aber über den eigenen Weihbischof, der selbst Dekan des Kapitels war, qualifiziert urteilen. Dass Burger diese beiden Qualitäten besaß, war damals gemeinhin anerkannt und keine Sondermeinung Gröbers. Vgl. Schmider, Bischöfe, S. 139f. Gröber an Orsenigo vom 15. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 6r. Gröber an Orsenigo vom 15. März 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 6r. „… non è molto incoraggiante.“ Orsenigo an Pacelli vom 18. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 5r. Kardinalstaatssekretär und Nuntius hatten noch über eine andere infrage kommende Person gesprochen, die Orsenigo freilich wieder nicht namentlich nannte. Es war ein Jesuit, der aus Sachsen stammte oder zumindest dort beheimatet war. Er wisse jedoch nicht – so schrieb der Nuntius an Pacelli – ob es 256

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Gleiches galt wenige Tage später für die mittlerweile vollzähligen Kandidatenlisten des preußischen Episkopats und des Hildesheimer Domkapitels, die dem Nuntius von Berlin nach Valgreghen­tino nachgesandt worden waren. In seinem begleitenden Bericht für Pacelli sortierte Orsenigo die elf unterschiedlichen Kandidaten nach der Anzahl ihrer Proponenten und ergänzte – soweit er es von seinem Ferienort aus konnte – das Alter und die akademischen Grade, die nicht zum Standardrepertoire der bischöflichen Auskunft gehörten.1012 Die Reihenfolge lautete demnach: Algermissen (4), Baumann (3), Machens (3), Seelmeyer (2), ten Hompel, Mönch, Simon, Roleff, Aengenvoort, Pascher und Homscheid (alle 1). Zu einigen von ihnen formulierte Orsenigo anschließend seine eigenen Ansichten, was bereits einer Vorauswahl gleichkam: a) Bei Algermissen, dem Favoriten der preußischen Hierarchie, stieß der Nuntius auf eine „befremdliche Meinungsverschiedenheit“1013 unter seinen Befürwortern. Ihn wunderte nämlich, dass zu ihnen weder das Hildesheimer Domkapitel und der ehemalige Bischof Bares gehörten, noch Kardinal Schulte, in dessen Erzdiözese Algermissen als führende Persönlichkeit des Volksvereins bis vor kurzem noch gewirkt habe. Stattdessen war er nur von „außen“ als episkopabel eingestuft worden. Diese Diskrepanz erklärte sich Orsenigo damit, dass der Genannte wegen des Vorwurfs, in seiner Tätigkeit im Volksverein politische Propaganda zu betreiben, zu Geldstrafen verurteilt worden sei.1014 Angesichts dessen erschien es dem Nuntius höchst wahrscheinlich, dass die Regierung gegen Algermissen bei seiner etwaigen Ernennung im Rahmen der politischen Klausel vorgehen würde. Orsenigo unterstellte demnach, dass die Personen aus Algermissens näheren

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angebracht sei, Informationen über diesen einzuholen, natürlich immer „col metodo dellʼinchiesta fatte come di mia iniziativa per eventuali mie proposte“. Orsenigo an Pacelli vom 18. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 5r. Hervorhebungen im Original. Im positiven Fall wolle er sich an den Provinzial der ostdeutschen Jesuitenprovinz, Pater Bernhard Bley SJ, wenden. Doch vielleicht wäre es besser – überlegte Orsenigo weiter –, erst einmal seine Rückkehr nach Berlin abzuwarten, zumal er dann mündlich mit Bley konferieren könne, was ergiebiger sei als auf brieflichem Wege. Ob er dieses Gespräch später führte, muss offen bleiben. Ohnehin überrascht dieses Vorhaben, einen Jesuiten in einem preußischen Bistum installieren zu wollen. Offenbar war dieser Gedanke von Pacelli auch nicht wirklich ernsthaft verfolgt worden, denn im weiteren Verlauf des Falls ist von keiner Kandidatur eines Jesuiten mehr die Rede. Um wen es sich dabei handelte, lässt sich wohl nicht mehr herausfinden. Interessant ist jedoch die „Methode“, mit der Orsenigo – auf Anordnung Pacellis – Informationen hätte einholen sollen: Es sollte grundsätzlich der Eindruck entstehen, als ginge es nur um ganz unverbindliche Überlegungen des Nuntius, die nicht etwa in Rom ihren Ursprung hätten. Daraus wird bereits deutlich, wie heikel diese Kandidatur sein musste. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 7r–10r (nur r). „… sorprendente divergenza …“ Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 9r. Vgl. zu den Repressalien der Nationalsozialisten gegen Algermissen Engfer, Bistum, S. 46f.; Flammer, Algermissen, Sp. 11f.; Klein, Volksverein, S. 354 Anm. 344. 257

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Umgebung diesen Sachverhalt – anders als die externen Proponenten – genau kannten und ihn daher gar nicht erst als Bischofsaspiranten in Betracht zogen. b) Weihbischof Baumann sei der Kurie wegen seiner Ernennung zum Paderborner Weihbischof im Oktober 1932 noch bekannt, weshalb Orsenigo empfahl, die entsprechenden Unterlagen in der Konsistorialkongregation zu konsultieren. Der Nuntius kannte sie offensichtlich nicht, denn er schloss lediglich aus der damaligen „ungewöhnlichen Verzögerung“1015 der päpstlichen Nomination – man habe den Kandidaten länger überprüfen müssen –, dass Baumann nicht für völlig tadellos befunden worden sei.1016 c) Seminarprofessor Machens habe schließlich – so Orsenigo – den Vorteil, dass er von drei Seiten vorgeschlagen worden sei, die im gegenwärtigen Fall besondere Kompetenz besäßen, nämlich dem Domkapitel, Bares und Bertram, alle also gegenwärtige oder frühere Hildesheimer Autoritäten. Außerdem genieße er beim Klerus ein breites Wohlwollen. d) Als weniger brauchbar bewertete er Kapitelsvikar Seelmeyer. Zwar sei dieser ein ordentlicher Vikar, doch besitze er nicht die Gaben eines Diözesanordinarius. Sogar seine Proponenten würden daran zweifeln, womit Orsenigo auf die Wertung Baresʼ anspielte. e) Von den verbliebenen sieben Kandidaten, die jeweils nur ein unterstützendes Votum erhalten hatten, konnte der Nuntius nur über drei weitere Informationen liefern. Dies traf zunächst auf ten Hompel zu, der von Schulte ins Rennen geschickt wurde. Anlässlich der schon erwähnten Einsetzung des Paderborner Weihbischofs 1932, wofür auch ten Hompel ein Bewerber gewesen sei, habe er – so Orsenigo – der Konsistorialkongregation folgende Einschätzung geschrieben: „… ‚er schien mir weniger geeignet, da sein Charakter zu sehr zur Kunst hinneigt und seine Gesundheit nicht sehr kräftig istʻ.“1017 Fast identisch sei auch das Urteil des Meißener Oberhirten, Petrus Legge, gewesen, das dieser damals noch als Pfarrer von Magdeburg gefällt habe. Eine Abschrift davon legte Orsenigo seinem Bericht bei.1018

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„… insolita dilazione …“ Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934– 1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 9r. Vgl.: „È però questa una semplice induzione, non constandomi nulla di positivo.“ Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 9r. „… ‚mi pareva meno adatto, atteso il suo carattere troppo inclinato allʼarte e la sua salute non molto forteʻ.“ Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 10r. Legge urteilte damals wie folgt: „Er ist gesund (von den vorgeschlagenen Kandidaten scheint er mir der gesundheitlich schwächste), von schlanker und großer Gestalt. Was Frömmigkeit, Sittenreinheit, Charakter und Veranlagung, Klugheit und öffentliche Wertschätzung angeht, so steht er bei Klerus und Volk in gutem Rufe. Er ist eine feinsinnige Künstlernatur, vor allem interessiert für Musik. Eine gewisse äußere Zurückhaltung dürfte ihn den wünschenswerten Kontakt zu Volk und Klerus nicht recht finden lassen.“ Urteil Legges über ten Hompel ohne Datum (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, 258

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f) Vom nächsten Kandidaten, Weihbischof Mönch, befürchtete der Nuntius, dass seine Gesundheit nicht ausreichend sei, um eine Diözese zu leiten. Für diese Einschätzung berief er sich auf eine Unterredung mit dessen Ordinarius Bornewasser im vergangenen Herbst. Dieser habe von Stimmproblemen berichtet, die Mönch das Predigen erschweren und bisweilen unmöglich machen würden. Die sich daraus von selbst ergebende Anschlussfrage, warum der Trierer Diözesanbischof ihn dennoch als tauglichen Kandidaten für Hildesheim vorgeschlagen hatte, stellte Orsenigo nicht. g) Der letzte Geistliche, über den Orsenigo nachdachte, entpuppte sich als jemand, den man seiner Darstellung nach ernsthaft in Erwägung ziehen konnte: Der Koblenzer Pfarrer Homscheid, der vom Hildesheimer Domkapitel unterbreitet worden sei, werde – so vermutete der Nuntius – auch von seinem Trierer Bischof hoch geachtet. Orsenigo ging zudem davon aus, dass Homscheid die richtige Einsicht in die „staatliche Ungerechtigkeit gegenüber den Rechten der Katholiken“1019 besitze, also in politischer Hinsicht auf der richtigen Linie war. Außer Algermissen  – so resümierte Orsenigo abschließend  – werde wohl niemand der vorgeschlagenen Kleriker von staatlicher Seite Widerspruch erfahren. Lediglich Machens und Homscheid gingen aus seiner Untersuchung unbeschadet hervor.

Pacellis Terna: Unterstützung für Machens und Francken vor Algermissen Nachdem ihn die Vorsondierungen des Nuntius erreicht hatten, begann Pacelli umgehend zu überlegen, welche Namen er auf der Wahlterna platzieren wollte. Die positiven Zeugnisse über Machens veranlassten ihn, ein weiteres Gutachten einzuholen und zwar von jemandem, auf dessen Urteil Pacelli offenbar mehr vertraute als auf das des preußischen Episkopats. Am 26. März informierte er den Rektor des Jesuitenkollegs Canisianum in Innsbruck, Pater Michael Hofmann SJ, dass Machens „von verschiedenen Seiten“ für den Hildesheimer Bischofsstuhl vorgeschlagen worden sei und „nach den vorliegenden sehr günstigen Informationen einen Teil seiner Studien in Innsbruck gemacht“1020 habe. Die Formulierung insinuiert, dass Pacelli dies vorher nicht gewusst hatte und Machens offensichtlich

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Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 27rv, hier 27r. Unterstreichungen von Orsenigo. Die Gesamtwertung Legges über ten Hompel war aber keineswegs durchweg schlecht, insofern er ihm auch Begabung, Glaubensfestigkeit, Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und eine gute Beziehung zum Staat attestierte. Deshalb hielt er ihn damals „geeignet zur Leitung einer kleinen Diözese“. Urteil Legges über ten Hompel ohne Datum (Abschrift), ebd., Fol. 27v. Unterstreichung von Orsenigo. „… ingiustizia governativa circa i diritti dei cattolici.“ Orsenigo an Pacelli vom 22. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 10r. Pacelli an Hofmann vom 26. März 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 28r. 259

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nicht näher kannte.1021 Er setzte voraus, dass dies auf Hofmann nicht zutraf und bat daher um eine Einschätzung „über seine Eignung zum Bischofsamt nach der Seite des theologischen Wissens und der priesterlichen Charakterbildung“1022. Der Gefragte kam der Aufforderung unverzüglich nach und gab an, dass Machens lediglich zwei Jahre, von 1905 bis 1907, in Innsbruck studiert habe und anschließend seine theologische Ausbildung aus gesundheitlichen Gründen woanders habe fortsetzen müssen.1023 Der Machens plagende Gelenkrheumatismus habe jedoch nicht verhindert, dass er am Canisianum eine erfolgreiche Zeit verbracht habe: „Wie er damals ein durch Frömmigkeit u[nd] Fleiß musterhafter Priestertumskandidat war, so erschien er mir bis heute (aus Briefen, Exerzitien, die er vor nicht langer Zeit in Innsbruck machte) als ein theologisch gut gebildeter, durchaus kirchlich gesinnter Priester, bei dem Wissen u[nd] Frömmigkeit streng harmonieren.“1024

Mit dieser Bestätigung durch den Jesuitenrektor im Rücken, war Machens für Pacelli einer der drei benötigten Namen, den er auf der römischen Wahlliste platzierte.1025 Ihn ließ er ebenso wie Algermissen, der mit vier Stimmen den meisten Zuspruch der preußischen Hierarchie erhalten hatte, vom Heiligen Offizium absegnen.1026 Dementsprechend sah die vorläufige Terna, die er am 10. April in einem Briefentwurf an Orsenigo aufstellte, wie folgt aus: 1. Antonius Mönch, der als Weihbischof keiner Überprüfung durch das Heilige Offizium mehr bedurfte, 2. Konrad Algermissen und 3. Joseph Machens.1027 Doch überraschenderweise sandte er diese Liste nicht nach Berlin, sondern ließ sie lediglich archivieren1028 – Pacelli war mit ihr noch nicht zufrieden. Er strich AlOffenbar hatte Pacelli nicht mehr präsent, dass die Vita Machensʼ, die ihm das Hildesheimer Domkapitel bei der vorangegangenen Besetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls 1928/​29 vorgelegt hatte, die genannte Studieninformation enthielt. Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.6 (Die Kandidaten des Hildesheimer Domkapitels). 1022 Pacelli an Hofmann vom 26. März 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 28r. 1023 Vgl. Hofmann an Pacelli vom 31. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 29r–30r (nur r). 1024 Hofmann an Pacelli vom 31. März 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 29r. 1025 Ein Beleg, dass Pacelli mit Pius XI. Rücksprache über die Zusammensetzung der Terna gehalten hätte, konnte in den Audienzmitschriften Pacellis nicht gefunden werden. Vgl. Audienznotizen Pacellis, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 349/​350. 1026 Vgl. Pizzardo an Canali vom 7. April 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 31r und 33r sowie Canali an Pizzardo vom 10. April 1934, ebd., Fol. 32r und 34r. 1027 Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 10. April 1934 (Ausfertigung), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 38rv. 1028 Thomas Flammer geht davon aus, dass diese erste Liste nach Berlin gesandt und dann anschließend widerrufen wurde. Vgl. Flammer, Bischofswahlen, S. 252. Da es sich aber bei der korrigierten Textfassung der Liste, die im Archiv des Staatssekretariats archiviert wurde – „Conservare“ wurde auf dem Blatt notiert (Fol. 1021

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germissen aus der Trias und ersetzte ihn durch den Münsteraner Regens, Arnold Francken, der bereits im Vorjahr bei der Besetzung des Berliner Bischofsstuhls auf der römischen Dreierliste gestanden hatte. Das war aber noch nicht alles: Er modifizierte außerdem die Platzierungen, indem er Machens einen Rang aufrücken ließ. Damit gestaltete sich die Terna, „die“ – so der Kardinalstaatssekretär in einem Schreiben an die Berliner Nuntiatur vom 14. April – „der Heilige Vater wohlwollend zu unterbreiten geruht, nachdem er die verschiedenen Listen untersucht hat“1029, endgültig so: 1. Antonius Mönch, 2. Joseph Machens und 3. Arnold Francken. Wie bei den vorangegangenen Bischofswahlen auf Basis des Preußenkonkordats,1030 wies er Orsenigo an, das wählende Domkapitel auf das secretum Sancti Officii aufmerksam zu machen, unter dem der Wahlakt auch nach dessen Abschluss stehe. Es folgte wiederum die Anordnung für die Kapitulare, der Regierung gemäß dem 6. Artikel des preußischen Staatskirchenvertrags den Namen des electus vorzutragen. Neu war hingegen die ausdrückliche Anweisung, dass das Kapitel durch Orsenigo den Heiligen Stuhl umgehend über den Wahlausgang und den Tag, an dem es die Regierung informiert hatte, in Kenntnis setzen sollte.1031 Im unmittelbar vorangegangenen Berliner Besetzungsfall etwa gab es diesen automatisierten Informationsfluss noch nicht.1032 Pacelli ging es hier darum, den Ablauf der Frist von 20 Tagen, die das Schlussprotokoll des Reichskonkordats dem Staat für die Geltendmachung von politischen Bedenken einräumte, persönlich genau nachhalten zu können. Sein gesteigertes Interesse speiste sich aus dem Umstand, dass die NS-Regierung diesen Zeitraum bislang „flexibel“ gehandhabt hatte. Durchaus nicht neu war die

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38r) –, um die Ausfertigung der Weisung handelt, gehe ich davon aus, dass dies nicht der Fall war. Ansonsten hätte die Ausfertigung logischerweise nicht in den AES-Akten überliefert werden können. Außerdem wurde die endgültige Liste erst vier Tage später an Orsenigo gesandt und zwar auf dem normalen Postweg. Wenn die provisorische Terna tatsächlich bereits nach Berlin geschickt worden wäre, wäre diese nachträgliche Modifikation mit Sicherheit zügiger erfolgt, um zu verhindern, dass der Nuntius schon die vorläufige Terna an das Domkapitel weiterreichte. Pacelli hätte Orsenigo umgehend via Telegramm angewiesen, die erste Dreierliste zurückzuhalten, wie er es auch in Berlin 1933/​34 getan hatte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.13 (Die Sondierung der Kandidaten im Staatssekretariat und die römische Dreierliste). „… che il Santo Padre, … dopo aver preso in esame le varie liste … Si è benignamente degnato di disporre …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. April 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 35r–37r, hier 35r. Vgl. pars pro toto Bd. 2, Kap. II.1.13 (Die Sondierung der Kandidaten im Staatssekretariat und die römische Dreierliste). Pacelli hatte den entsprechenden Abschnitt eigenhändig in den ersten Entwurf eingefügt, der alle mittlerweile klassisch gewordenen Anweisungen enthielt: „Al tempo stesso, dovrà significare alla Santa Sede per mezzo di Vostra Eccellenza, ai fini della dichiarazione del Protocollo Addizionale al Concordato del Reich (allʼart. 14, capov. 2, n. 2), il nome dellʼeletto e il giorno in cui ha avuto luogo lʼanzidetta domanda al Governo.“ Pacelli an Orsenigo vom 10. April 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 38v. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.13 (Die Bischofswahl des Berliner Domkapitels). 261

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abschließende Bemerkung, dass das Domkapitel im unwahrscheinlichen Fall eines staatlichen Widerspruchs gegen den Bischofsaspiranten sofort den Heiligen Stuhl über die Gründe zu benachrichtigen habe und in keiner Weise zu einer eigenmächtigen Neuwahl befugt sei.1033

Die Wahl von Joseph Machens zum Bischof von Hildesheim Die Dreierliste samt den dazugehörigen Richtlinien übersandte Orsenigo am 16. April an Hagemann, den Dekan des Hildesheimer Domkapitels. Die Wahlsitzung verzögerte sich aber zunächst, „leider“1034, wie der Nuntius ohne die Gründe dafür zu kennen etwas später in seiner Berichterstattung für Pacelli bemerkte. Sie konstituierte sich erst am 3. Mai und wählte erwartungsgemäß den eigenen Diözesanen, den Zweitplatzierten der römischen Liste, Joseph Machens, zum neuen Bischof. Orsenigo schrieb schlicht, dass „der zweite der Terna gewählt wurde, nämlich der Professor“1035. Noch am Wahltag wandte sich das Kapitel mit dem Resultat an das preußische Staatsministerium und informierte auch den Nuntius, wie Pacelli es gewünscht hatte. Orsenigo folgerte, „wenn man eine großzügige Rechnung anlegt“1036, dass am 25. Mai die 20-tägige Einspruchsfrist ablaufe. Streng genommen handelte es sich hierbei um eine Frist von 22 Tagen. Falls diese Zeit von Regierungsseite ungenutzt verstreichen sollte, war der Heilige Stuhl berechtigt, ihre Zustimmung anzunehmen, was Orsenigo – so rief er seinem Vorgesetzten in Erinnerung – gegenüber Kultusminister Bernhard Rust am 28. November 1933 im Kontext der Berliner Besetzung noch einmal schriftlich bekräftigt hatte.1037 Er berichtete Pacelli weiter, dass Ministerialdirektor August Jäger in einem kürzlichen Gespräch auf das besagte Schreiben angespielt habe und zwar derart, dass der Eindruck entstanden sei, der Kultusminister vertrete in dieser Sache eine abweichende Ansicht.1038 Deshalb habe er die Position des Heiligen Stuhls noch einmal deutlich gemacht: 1033

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Eine solche ohne vorhergehende römische Order durchgeführte Neuwahl stellte Pacelli wie gewöhnlich unter die „poena nullitatis“. Pacelli an Orsenigo vom 14. April 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 37r. Hervorhebung im Original. „Purtroppo …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 39r–40r, hier 39v. „… era stato eletto il secondo della terna, cioè il Professore …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 39v. „… pur facendo un computo generoso …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 39v. Vgl. zu diesem Schreiben Orsenigos an Rust Bd. 2, Kap. II.1.13 (Das innerstaatliche Ringen um die politische Klausel und die Geduld des Vatikans). Vermutlich handelte es sich um das Gespräch zwischen den beiden Genannten vom 10. April 1934, in dem Jäger nach eigenen Angaben dem Nuntius das Ansinnen der preußischen Regierung eröffnete, entgegen der Konkordatsvereinbarung mit eigenen Kandidatenüberlegungen weitergehenden Einfluss auf die 262

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„… ich antwortete, dass mein Gedankengang schriftlich und klar war; dass der Heilige Stuhl übrigens, der seiner Natur nach immer entgegenkommend ist, gewiss auf Grund eines außergewöhnlichen Umstandes, der offensichtlich eine kleine Verzögerung erfordert, auch einen kurzen Aufschub gewähren kann; aber es ist nötig, dass die Rahmenbedingungen für den Aufschub der Antwort klar und rechtzeitig angezeigt und naturgemäß vom Heiligen Stuhl akzeptiert werden; denn es handelt sich auch hier, wie in allem, was in einem Konkordat festgeschrieben ist, um bilaterale Vereinbarungen, die allein der Konsens beider Parteien vorübergehend ändern kann.“1039

Aus der Tatsache – so fügte Orsenigo für Pacelli hinzu –, dass seine damalige schriftliche Erklärung von Regierungsseite nicht beantwortet worden sei, habe er schließlich geschlossen, dass sich „die geringfügige Meinungsverschiedenheit“1040 aufgelöst habe. Nun sah es so aus, als ob sie angesichts des neuen Besetzungsverfahrens wieder aufbrechen würde. Zur Erinnerung: Im Kontext der Wahl von Nikolaus Bares zum Bischof von Berlin im Vorjahr hatte die preußische Regierung die Einspruchsfrist ohne Absprache mit einem kurzen Telegramm verlängert, in dem es hieß, sie benötige noch mehr Zeit. Dahinter hatte letztlich die Enttäuschung gestanden, dass man kirchlicherseits in der Kandidatenwahl nicht auf die nationalsozialistischen Vorstellungen eingegangen war.

Die Kontroverse um die staatliche Einspruchsfrist und das Plazet für Machens Nach der Wahlanzeige durch den Hildesheimer Dompropst war nun einmal mehr  – bereits das zweite Mal in wenigen Monaten – die Regierung an der Reihe, sich ein Urteil über den zum Bischof erwählten Kandidaten, in diesem Fall Machens, zu bilden. Schon viel früher allerdings, noch bevor Bares nach Berlin übergesiedelt war, stellte man im preußischen Kultusministerium Überlegungen an, auf die Wiederbesetzung einen weitergehenderen Einfluss zu gewinnen, als es das Preußen- und

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Hildesheimer Wiederbesetzung und nachfolgend alle weiteren preußischen Bischofseinsetzungen zu erlangen. Er notierte sich hinterher, dass Orsenigo auf dieses Anliegen nicht weiter eingegangen sei. Vgl. Heim, Bischöfe, S.  129. Dazu passt, dass dieser den staatlichen Vorstoß auch in seiner Berichterstattung nicht erwähnte. Dass ein Grund dafür in der völligen Abwegigkeit desselben lag, kann leicht erraten werden. „… io risposi che il mio pensiero era scritto e chiaro; che la Santa Sede del resto, che è sempre per natura sua molto condiscendente, può certo per una circonstanza straordinaria, che esiga evidentemente un piccolo ritardo, concedere anche una breve dilazione, ma occorre che i termini della dilazione a rispondere siano indicati chiaramente ed in tempo e siano naturalmente accettati dalla Santa Sede, trattandosi anche qui, come in tutto quanto è precisato in un concordato, di patti bilaterali, che solo il consenso dei due contraenti può momentaneamente modificare.“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 39v–40r. „… la piccola divergenza …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 40r. 263

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Reichskonkordat vorsahen.1041 Am 4. Dezember 1933 dachte man dort darüber nach, grundsätzlich bei eintretenden Sedisvakanzen dem Auswärtigen Amt genehme Persönlichkeiten zu benennen, welche dieses wiederum in Verhandlungen mit der Kurie durchsetzen sollte. Ministerpräsident Hermann Göring, der dieses Verfahren unterstützte, hielt es für sinnvoll, dabei jeweils ein Mitglied des preußischen Episkopats hinzuzuziehen, insbesondere dachte er an den Osnabrücker Oberhirten Berning. Im Februar 1934 spezifizierte Kultusminister Rust diese Überlegung gegenüber Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, was Bernd Heim wie folgt zusammenfasst: „Der Kultusminister war sich bewußt, daß das von ihm angeregte Verfahren einen Eingriff in das freie Wahlrecht der Domkapitel darstellte. Er fühlte sich aber zu diesem Schritt berechtigt, da nach seiner Auffassung die Kurie ihrerseits auf das Wahlrecht der Kapitel wenig Rücksicht nehme und auf der Wahl ihrer Wunschkandidaten bestehe. Um der staatlichen Einflußnahme den nötigen Nachdruck zu verleihen, beabsichtigte der preußische Kultusminister, falls dies erforderlich sei, seitens des Kultusministeriums auf die Domkapitel einzuwirken. Wichtiger erschien ihm jedoch die direkte Einflußnahme über die Kurie auf den römischen Dreiervorschlag.“1042

Diese sollte via diplomatica, also vermittelst des deutschen Botschafters beim Heiligen Stuhl erreicht und bereits beim aktuellen Hildesheimer Besetzungsfall in die Tat umgesetzt werden. Nach Ansicht Rusts gehörten auf die römische Terna der Potsdamer Pfarrer Johannes Strehl, der Berliner Wehrkreispfarrer Franz Justus Rarkowski – der spätere Militärbischof – und der Naumburger Erzpriester Erich Bartsch. Alle drei standen dem Nationalsozialismus und der NSDAP nahe.1043 Neurath, der die Zweckmäßigkeit dieses Unterfangens anerkannte, war jedoch hinsichtlich der Durchsetzung äußerst skeptisch. Er prophezeite, dass der Heilige Stuhl, der in den Konkordatsverhandlungen die Beteiligung der Domkapitel an der Bischofseinsetzung nur widerwillig konzediert habe, gewiss „jede darüber hinaus reichende Einschränkung des ihr grundsätzlich zustehenden freien Ernennungsrechts zurückweisen und unterbinden werde“1044. Von daher hielt er jede Einmischung, die über das vertraglich Vereinbarte hinausging, für aussichtslos. Die einzige Option bestünde darin, der Kurie zu suggerieren, dass unbeschadet der ihr zukommenden Rechte ein Einvernehmen mit der deutschen Reichsregierung über die dem Domkapitel vorzugebenden Kandidaten für beide Seiten vorteilhaft sei. 1041 1042 1043

1044

Vgl. zum Folgenden ausführlich Heim, Bischöfe, S. 124–139. Heim, Bischöfe, S. 125. Insbesondere galt das für Johannes Strehl, der Parteimitglied war und mit der Geheimen Staatspolizei zusammenarbeitete. Die Gestapo in Berlin bemerkte zur politischen Einstellung Strehls: „Zur Persönlichkeit des Pfarrers Strehl teilte mir der Leiter der Staatspolizeistelle in Potsdam mit, daß Strehl stets in vorbildlicher Weise für eine harmonische Zusammenarbeit der katholischen Kirche mit dem Nationalsozialismus eingetreten sei.“ Geheimes Staatspolizeiamt an die Reichskanzlei vom 3. Februar 1934, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 126f. Anm. 509. Heim, Bischöfe, S. 127. 264

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Daraufhin legte der Vatikanreferent des Auswärtigen Amtes, Fritz von Menshausen, dieses Anliegen am 24. Februar 1934 dem Botschafter beim Heiligen Stuhl, Diego von Bergen, vor. Dieser teilte die skeptische Auffassung des Auswärtigen Amtes über die Erfolgsaussichten des Unterfangens. Der Eindruck einer formellen Präsentation von Kandidaten müsse unbedingt vermieden werden, weil ansonsten eine klare Absage von Seiten der Kurie vorprogrammiert sei, die sich schlicht und ergreifend auf das Preußenkonkordat berufen würde. Höchstens könne man versuchen, unverdächtig auf dem Staat willkommene Geistliche hinzuweisen, aber auch das nicht bei jeder Sedisvakanz und schon gar nicht mit Personen, deren Ablehnung bereits im Vorfeld anzunehmen sei. Dies traf für Bergen mindestens auf zwei der drei vom Kultusministerium in Anschlag gebrachten Kleriker zu – über Bartsch hatte er zu wenig Informationen, um ein sicheres Urteil zu fällen. Angesichts dieser Prognosen empfahl der Vatikanbotschafter Anfang März, sich bei der Wiederbesetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls zurückzuhalten. Nach dem missglückten Versuch des Ministerialdirektors Jäger, das Anliegen anschließend bei Orsenigo mit Ertrag zur Geltung zu bringen,1045 verlief diese – bei realistischem Blick a priori zum Scheitern verurteilte und utopische – Episode im Sande. Der preußischen Regierung blieb nichts anderes übrig, als die geltende Rechtslage anzuerkennen und den vom Hildesheimer Domkapitel angezeigten Machens hinsichtlich politischer Bedenken zu überprüfen. Zwei Tage nach Eingang der Wahlanzeige vom 3.  Mai wandte sich die Staatskanzlei an Ministerialrat Johannes Schlüter vom Kultusministerium und teilte ihm telefonisch den Namen des erwählten Geistlichen mit. Die von Schlüter geforderte schriftliche Mitteilung mit zusätzlichen Informationen erreichte ihn erst einige Tage später. Die Kanzlei erklärte, auf Ermittlungen durch die Staatspolizei verzichten zu wollen, weil das Urteil des Hannoveraner Oberpräsidenten beziehungsweise des Hildesheimer Regierungspräsidenten ausreiche. Schlüter erfuhr außerdem, dass die Anzeige des Domkapitels schon am 4.  Mai bei der Regierungsstelle eingegangen sei. Über Staatssekretär Wilhelm Stuckart forderte er am 12. des Monats den Oberpräsidenten von Hannover, Viktor Lutze, auf, den erwählten Machens einer Beurteilung zu unterziehen. Wie einige Monate zuvor, als er Informationen über den nach Berlin transferierten Bares sammeln musste, wurde Lutze angewiesen, eingehend, unauffällig und schnell vorzugehen. Bis spätestens zum 18. Mai sollte er seinen Bericht dem Berliner Kultusministerium zuleiten. Schlüter ging – fälschlich – davon aus, dass Machens der Hauptfavorit des Hildesheimer Klerus für den vakanten Bischofsstuhl und daher die Nummer eins auf der Vorschlagsliste der Domherren gewesen sei. Demnach habe die Kurie diesmal nicht die eigenen Kandidatenwünsche über die der preußischen Kirche gestellt, wie er es ihr für die vorangegangenen Besetzungsfälle unterstellte.

1045

Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.14 Anm. 1038. 265

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Das Oberpräsidium Hannover delegierte den Arbeitsauftrag an das Regierungspräsidium in Hildesheim weiter, wo der Theologieprofessor allerdings unbekannt war. Doch gelang es, zwei als vertrauenswürdig angesehene Informanten aufzutreiben, deren Einschätzung über die fragliche Person übereinstimmend gewesen sei. Sie – so Bernd Heim – „schilderten … Joseph Machens als einen außerordentlich klugen, belesenen und wissenschaftlich gebildeten Priester, dessen Predigten zwar durch vollendete Formen und Inhalte hervorstechen, jedoch im allgemeinen etwas zu lang seien. In seinem geistlichen und seelsorglichen Wirken, berichteten die Informanten weiter, gelte der neue Bischof als nicht gerade besonders warmherzig. Jedoch stehe er in politischer Hinsicht unbedingt hinter der jetzigen Regierung, ‚soweit man dies von einem katholischen Geistlichen, der ja in Zweifelsfragen dem kanonischen Recht und den Weisungen seiner kirchlichen Oberen unterworfen ist, sagen kannʻ.“1046

Auf Basis dieses Votums urteilten die Staatsbeamten in Hildesheim und nachfolgend auch in Hannover, dass politische Bedenken gegen den erwählten Bischof nicht bestünden. Am 14. Mai lag dem Kultusministerium dieses Untersuchungsergebnis vor. Dort wartete man freilich noch auf das Gutachten der NSDAP-Gauleitung des Bezirks Südhannover-Braunschweig, die man ebenfalls um eine Wortmeldung gebeten hatte. Diese telegraphierte am 17. des Monats an Rust: „Der Genannte wird als ein stiller, ruhiger Gelehrtentyp geschildert. Politisch nicht hervorgetreten. Jesuitenverdacht besteht, aber nicht nachweisbar. Der Gesamteindruck des M.[achens] wird als gut bezeichnet.“1047 Daraufhin erstellte man im Kultusministerium einen Entwurf für das Antwortschreiben an die Hildesheimer Domherren, der vorsah, keine Bedenken geltend zu machen, und noch am selben Tag der Staatskanzlei vorgelegt wurde. Ministerpräsident Göring dachte aber nicht daran, eine baldige Entscheidung zu treffen. Als abzusehen war, dass der endgültige Bescheid für das Domkapitel nicht innerhalb der Frist erfolgen würde, setzte man im Kultusministerium am 24. Mai einen – in der Diktion Heims – telegraphischen „Zwischenbescheid“1048 auf, der nachmittags um 17 Uhr, praktisch in letzter Sekunde vor Ablauf der Frist, in Hildesheim eintraf.1049 Nach Eingang des Kapitelbescheids waren exakt

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Heim, Bischöfe, S. 131. NSDAP Gauleitung Südhannover-Braunschweig an Rust vom 17. Mai 1934, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 131. Heim, Bischöfe, S. 132. Vgl. Rust an Hagemann vom 24. Mai 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 43r. Dieses Skriptum, das lediglich mit „Kultusminister“ unterzeichnet war, ging dem Dompropst von der preußischen Staatskanzlei aus zu. Dieser war der Text zuvor vom Kultusministerium übermittelt worden. Darüber hinaus erreichte Hagemann am Morgen des 25. Mai ein zweites Schreiben identischen Inhalts, das direkt aus dem Kultusministerium abgeschickt worden und von Wilhelm Stuckart unterzeichnet war. Vgl. ebd., Fol. 44r. Offensichtlich gab es zwischen beiden Behörden eine unzureichende Abstimmung. 266

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20 Tage vergangen, wobei dieser schon am 3.  Mai verfasst und abgesandt worden war, sodass bei diesem Bezugsdatum bereits 21 Tage verstrichen waren. Nach Orsenigos „großzügigeren Rechnung“ hätte die Regierung sogar noch einen Tag Zeit gehabt. Den Ergebnissen der eigenen Untersuchung zuwider, erklärte der Kultusminister im Namen des preußischen Staatsministeriums, dass „die bisher angestellten Ermittlungen mit Rücksicht auf den bevorstehenden Ablauf der Frist mir Anlass geben, gegen die Wahl Bedenken allgemein politischer Natur … zu erheben. Die Ermittlungen werden mit größter Beschleunigung fortgesetzt, und ich werde nicht verfehlen, nach ihrem Abschluss, der in aller Kürze zu erwarten ist, weitere Mitteilung zu machen.“1050

Domdekan Hagemann reichte diesen vorläufigen Beschluss umgehend an die Nuntiatur weiter, wo ihn Orsenigo sofort telegraphisch an das römische Staatssekretariat übermittelte.1051 Diese erste schnelle Information ergänzte er dann mit einem kurzen Bericht, dem er die negative Replik der Regierung abschriftlich beifügte, aber nicht kommentierte.1052 Am 27.  Mai traf Orsenigo wegen dieser Angelegenheit mit Kultusminister Rust zusammen, worüber er am nächsten Tag Pacelli wiederum Bericht erstattete.1053 Der Minister habe versichert, von seiner Seite aus keine Einwände gegen Machens zu haben, doch könne er ohne Zustimmung Görings keine Antwort geben. Dieser sei jedoch derzeit verreist und werde in der laufenden Woche noch nicht zurückerwartet. Er habe – wie der Nuntius Pacelli anvertraute – nicht angedeutet, den Regierungsbescheid an das Domkapitel zu kennen, sondern nur behauptet, diese Erklärung Rusts weiter zu kommunizieren und anzunehmen, dass es sich lediglich um eine Verzögerung von einigen Tagen handle. Rust habe anschließend kritisiert, dass die 20-tägige Frist des Reichskonkordats für die jeweiligen Untersuchungen zu gering bemessen sei, worauf er – so Orsenigo – erwidert habe, dass es auch immer von der Geschwindigkeit abhänge, mit der die Nachforschungen durchgeführt würden. Außerdem habe der Heilige Stuhl bei den Verhandlungen auch eine gewisse Einheitlichkeit unter den verschiedenen Vertragsländern wahren müssen, wobei durchaus

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Rust an Hagemann vom 24. Mai 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 43r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 26. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 41r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 26. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 42rv. Der Nuntius bemerkte hinsichtlich des zügigen Informationsflusses, dass er den Dompropst extra aufgefordert habe, ihn am 25. Mai – nach der Rechnung Orsenigos das Ende der Einspruchsfrist – über die ergangene oder etwa noch ausstehende Nachricht der Regierung zu informieren. Daher habe Hagemann mit der größtmöglichen Schnelligkeit gehandelt. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 48rv. 267

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noch kürzere Fristen üblich seien, wie er mit Verweis auf das österreichische Konkordat bekräftigt habe, in dem der Regierung lediglich 15 Tage blieben, um Bedenken geltend zu machen.1054 Rust deutete die gegen Machens geäußerten politischen Bedenken faktisch nur als einen Aufschub, um eine definitive Entscheidung der Regierung zu ermöglichen. Das ging auch bereits aus der Schlussbemerkung der Note hervor, die von weiteren Ermittlungen und einer endgültigen Mitteilung sprach. Wie beurteilte der Kardinalstaatssekretär dieses staatliche Vorgehen? Pacelli war evidenterweise damit nicht einverstanden. Wie aus seinen Notizen zu einer Audienz beim Papst vom 29. Mai hervorgeht, erkannte er darin im Gegenteil sogar eine Methode, um das Konkordat als ganzes zu diskreditieren und schließlich dessen Aufhebung zu verlangen.1055 Seine Gegenmaßnahme sah vor, weiterhin auf der rechtlichen Verbindlichkeit des Vertrags zu insistieren. Daher zeigte er Orsenigo am nächsten Tag die Notwendigkeit auf, der Reichsregierung noch einmal zu verstehen zu geben, dass „das Reichskonkordat keine Verzögerungen über die festgesetzte Frist von 20 Tagen seit erfolgter Mitteilung an den Reichsstatthalter des zuständigen Staates hinaus erlaubt, um zu erklären, ob gegen den Kandidaten Einwände allgemeinpolitischer Natur bestehen“1056. Er erinnerte des Weiteren an die rechtliche Feststellung des Schlussprotokolls zu Artikel 14, Absatz 2, Ziffer 2, gemäß der der Heilige Stuhl davon ausgehen konnte, dass Bedenken nicht bestanden, wenn innerhalb dieses Zeitraums keine Erklärung des Staates eingegangen war. Pacelli dozierte weiter, dass man auch wirklich beabsichtigen müsse, eine solche Erklärung in der verfügbaren Zeit abzugeben, zumal es im Schlussprotokoll hieß, dass Bedenken „in kürzester Zeit“1057 („nel più breve tempo possibile“) vorzutragen seien. Man spürt förmlich, wie Pacelli sich über die offensichtliche Missachtung durch die Regierung echauffierte, da er in Form einer juristischen Lehrstunde für Orsenigo das hinlänglich Bekannte mit aller Deutlichkeit wiederholte. Doch daran, konkrete Konsequenzen aus der neuerlichen Fristverletzung der Regierung zu ziehen, dachte er nicht. Stattdessen hielt er es für sinnvoller zu warten.1058 1054

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Vgl. Art. IV, § 2, Satz 3 des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich vom 5. Juni 1933, Mercati (Hg.), Concordati II, S. 163. Vgl. zum österreichischen Konkordat Liebmann, Konkordat; Paarhammer/​Pototschnig/​Rinnerthaler (Hg.), 60 Jahre. Vgl.: „È un modo di chiedere la prescrizione del Concordat.“ Audienznotiz Pacellis vom 29. Mai 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 350, Fol. 35v. „... che il Concordato col Reich non ammette, per dichiarare se contro il candidato esistono obbiezioni di natura politica generale, dilazioni ulteriori al periodo fissato di giorni venti dalla comunicazione fatta al Luogotenente del Reich nel competente Stato.“ Pacelli an Orsenigo vom 30. Mai 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 45rv, hier 45r. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. Die abwartende Haltung Pacellis geht auch aus einer Mitarbeiternotiz in den vatikanischen Quellen hervor: „S.E. ritiene opportuno attendere che tutto già finito.“ Notiz unbekannter Hand ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 46r. 268

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Der Nuntius brachte zunächst keine neuerliche Beschwerde bei der Regierung vor, sondern wartete auf den angekündigten baldigen Abschluss der Ermittlungen. Am 31. Mai stellte man im Kultusministerium für die Staatskanzlei einen zweiten Entwurf des offiziellen Antwortschreibens an das Domkapitel fertig, der unter Beifügung der Voten des Hannoveraner Oberpräsidenten und der NSDAP-Gauleitung erklärte, von Bedenken allgemeinpolitischer Natur gegen Machens abzusehen. Dieser Einschätzung schloss sich Göring schließlich an,1059 sodass – „[n]ach weiteren zehn Tagen untätigen Wartens“1060 – am 11. Juni dem Kultusministerium die definitive Antwort der Staatsregierung vorlag. Diese übermittelte es unter dem Datum des 14. Juni an Domdekan Hagemann, der die Nachricht anschließend an den Berliner Nuntius weiterreichte.1061 Nachdem Staatssekretär Stuckart am gleichen Tag ebenfalls Orsenigo telefonisch informiert hatte, telegraphierte dieser die positive Neuigkeit sofort nach Rom, bevor er am nächsten Tag einen ausführlichen Bericht hinterherschickte.1062 Darin glaubte er, „den Widerspruch erklären zu können“, der zwischen den beiden Antworten der Regierung bestand: Die Ursache lag für ihn darin, „dass die Regierung, weil sie zum Zeitpunkt des Fristendes die letzten Untersuchungsergebnisse über den Kandidaten nicht vorliegen hatte und nicht wagte, eine Verlängerung zu erbitten, die nur durch ihre Verspätung motiviert war, von der Begründung angeblicher politischer Bedenken Gebrauch machte, die in Wirklichkeit, glaube ich, nie bestanden haben“1063.

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Göring erteilte seine Zustimmung zur Personalie Machens nur widerwillig, was sich aus der das Schreiben an den Kultusminister begleitenden Ankündigung ergibt, auf Rust grundsätzlich noch einmal zum Thema der Bischofseinsetzungen zuzukommen. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 133. Ihm schwebte offenbar eine nachträgliche Veränderung der konkordatären Vereinbarung vor, was – wie oben bereits deutlich wurde – mit dem Heiligen Stuhl nicht zu machen war. Heim, Bischöfe, S. 133. Die auf den „Zwischenbescheid“ vom 24. Mai bezugnehmende Mitteilung lautete: „Dem Domkapitel beehre ich mich auf die an den Herrn Ministerpräsidenten gerichtete Anfrage vom 3. Mai 1934 – No. 3667 – wegen der Wahl des Professors Dr. Joseph Machens zum Bischof von Hildesheim namens des Preußischen Staatsministeriums mitzuteilen, dass Bedenken allgemein politischer Natur nicht erhoben werden.“ Kultusministerium an Hagemann vom 14. Juni 1934 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 55r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 14. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 50r und Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1934, ebd., Fol. 54rv. Vgl.: „Credo di poter spiegare la contradizione, che esiste fra la lettera qui acclusa e lʼaltra da me inviata con rispettoso Rapporto No. 10.398. del 26 maggio u. s. nel fatto, che non avendo il Governo allʼepoca della scadenza ultimate le indangini circa il Candidato e non osando chiedere una proroga motivandola semplicemente col suo ritardo, è ricorso alla motivazione di presunte obbiezioni politiche, che in realtà credo non siano mai apparse.“ Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 54r. 269

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Freilich könne man jetzt nicht einfach sagen, „Tutto è bene ciò che finisce bene“1064, weil diese Fristverletzungen nicht zur Gewohnheit werden dürften. Aber  – wie Orsenigo gleichsam entschuldigend herausstellte – es sei „gewiss, dass die Preußische Regierung, zumindest wie sie jetzt mit gänzlich neuen Leuten arbeitet, sich sehr unbeholfen dabei anstellt, diese Geschäftspraxis in der vorgeschriebenen Zeit zu erledigen“1065. Er erkannte demnach im Vorgehen der Regierung nicht „den bösen Willen“, sondern lediglich „die Langsamkeit des Anfängers“1066. Die mangelnde Professionalität falle aber nicht mehr ins Gewicht, da bei einer künftigen Bischofseinsetzung das Verfahren beim Reichsinnenministerium abgewickelt werde, das vor kurzem für die Kirchen zuständig erklärt worden sei.1067 Den dortigen Ministerialdirektor Rudolf Buttmann, der seit Mai 1933 Leiter der kulturpolitischen Abteilung war, hielt Orsenigo offensichtlich für fähiger als die Beamten des preußischen Kultusministeriums. Die Erklärung des Nuntius ging am Kern des Problems vorbei. Er hatte nicht erkannt, dass die Ursache für die Verzögerung nicht im Kultusministerium lag, wenngleich der „Zwischenbescheid“ vom 24. Mai diese Annahme nahelegte. Dort war aber bereits vor Ablauf der Frist die Entscheidung getroffen worden. In den Weg stellte sich stattdessen die Staatskanzlei, wo Göring ernüchtert erkannte, die kirchliche Personalpolitik nicht nach den eigenen Wünschen beeinflussen zu können. Für Orsenigo jedenfalls war die Auseinandersetzung mit der staatlichen Seite für den Augenblick abgeschlossen. Pacelli war jedoch keineswegs gewillt, die preußische Fristverletzung ohne jede Regung hinzunehmen. Stattdessen wies er Orsenigo am 18. Juni an, der staatlichen Seite zu erklären, dass „wenngleich der Heilige Stuhl mit besonderer Rücksicht dieses Mal ihre Mitteilung über die festgesetzte Frist des Konkordats hinaus abgewartet hat, das jedoch keinen Präzedenzfall für

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Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 54r-v. „… certo che il Governo Prussiano, almeno come funziona ora con uomini affatto nuovi, si trova molto impacciato a sbrigare questa pratica nel tempo prescritto …“ Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 54v. „… la mala volontà … la lentezza del principiante.“ Orsenigo an Pacelli vom 15. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 54v. Das im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik erlassene „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 bestimmte, dass die Hoheitsrechte der deutschen Teilstaaten auf das Reich übergingen. Vgl. Reichsgesetzblatt I Nr. 11 vom 30. Januar 1934, S. 75. Da die Länder damit als eigenständige Rechtssubjekte erloschen, war das Reichsinnenministerium für die Wahrnehmung der Hoheitsrechte letztverantwortlich. Durch einen Erlass vom 16. Juli 1935 gingen sämtliche kirchliche Angelegenheiten schließlich in den Aufgabenbereich des neu gegründeten Reichskirchenministeriums über. Vgl. „Erlass über die Zusammenfassung der Zuständigkeiten des Reichs und Preussens in Kirchenangelegenheiten“, Reichsgesetzblatt I Nr. 80 vom 18. Juli 1935, S. 1029; auch abgedruckt bei Nicolaisen (Bearb.), Dokumente II, S. 333. 270

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die Zukunft schaffen darf, da er beabsichtigt, sich in künftigen Fällen des im Schlussprotokoll zu Artikel 14 anerkannten Rechts zu bedienen“1068.

Knapp eine Woche später setzte Orsenigo diesen Auftrag in die Tat um und legte der preußischen Regierung mit Datum des 26. Juni eine Verbalnote vor, die sich inhaltlich exakt an die Vorgabe des Kardinalstaatssekretärs hielt.1069 Daher hoffte Orsenigo, mit ihr den Wunsch Pacellis angemessen interpretiert zu haben, wie er ihm am Folgetag erklärte, als er eine Kopie des Textes nach Rom sandte.1070 Dass die römische Ankündigung auf Seiten der Regierung keine freudige Aufnahme fand, ist klar.1071

Die Einsetzung Machensʼ als Bischof von Hildesheim Nachdem das staatliche Nihil obstat trotz aller Fristenproblematik gegeben war, fehlte jetzt die Zustimmung des electus selbst. Was diese anbelangte, erbat sich Orsenigo am 15. Juni die Instruktionen des Kardinalstaatssekretärs. Schon bevor diese Bitte ihn erreichte, trug Pacelli dem Nuntius am 18. des Monats auf, Machens nach seinem Einverständnis zu befragen. Der Hildesheimer Professor ak1068

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„… se S. Sede per sensi di speciale riguardo ha anche questa volta attesa sua comunicazione oltre limite fissato dal Concordato, ciò non deve costituire un precedente per lʼavvenire, intendendo Essa nei casi futuri valersi del diritto riconosciutole nel Protocollo finale allʼarticolo 14.“ Pacelli an Orsenigo vom 18. Juni 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 51r. Pacelli schrieb diese Weisung zunächst nur mit Kenntnis des Telegramms vom 14. Juni, in dem Orsenigo lediglich darüber informiert hatte, dass die Regierung keine politischen Bedenken hege. Der Bericht vom Folgetag traf erst später in Rom ein, auf dessen Basis Pacelli am 19. Juni zwar ein erneutes Weisungsschreiben nach Berlin schickte, in dem er allerdings seine Anordnungen vom Vortag unverändert bestätigte. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 19. Juni 1934 (Entwurf), ebd., Fol. 56rv. „Indem die Apostolische Nuntiatur auf die Tatsache hinweist, dass die endgültige Antwort an das Hochwürdigste Domkapitel von Hildesheim betreffs der Wahl des Hochwürdigsten Herrn Dr.  Joseph Machens zum Bischof dieser Diözese seitens der Preußischen Regierung mit beträchtlicher Verzögerung erfolgt ist, muss ich pflichtgemäß der Preußischen Regierung die Erklärung abgeben, dass, wenn der H[eilige] Stuhl auch dieses Mal rücksichtsvoll über die vom Konkordat festgesetzte Frist von 20 Tagen hinaus gewartet hat, das keinen Präzedenzfall für die Zukunft bilden darf, indem der H[eilige] Stuhl gewillt ist, in einem zukünftigen Falle von dem im Schlußprotokoll zu Art. 14 Abs. 2 N. 2 des Reichskonkordats ihm anerkannten Rechte Gebrauch zu machen.“ Verbalnote der Berliner Nuntiatur vom 26. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 62r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 35 (Nr. 32). Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 61r. Missmutig notierte Staatssekretär Stuckart auf dem Anschreiben Orsenigos: „Es ist innerhalb der 20 Tagefrist erklärt worden, daß allg.[emein] pol.[itische] Bedenken bestehen. Nachträglich sind die Bedenken zurückgestellt + [und] die Wahl nicht mehr beanstandet worden. Die Verbalnote ist durchaus unangebracht. Sie darf nicht unbeantwortet bleiben.“ Vermerk Stuckarts vom 27. Juni 1934, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 134. Die angekündigte Erwiderung sollte Mitte Juli erfolgen. Vgl. das Folgende. 271

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zeptierte seine Wahl zügig, sodass Orsenigo bereits am 20. Juni dessen Zustimmung an Pacelli drahten konnte.1072 Daraufhin instruierte dieser den Sekretär der Konsistorialkongregation Rossi, die Ernennungsbullen für den neuen Hildesheimer Oberhirten anfertigen zu lassen,1073 womit dieser Tag – der 22. Juni – als offizielles Nominationsdatum fungierte.1074 Gleichzeitig übersandte Pacelli dem Nuntius den Hinweis, dass der „Osservatore Romano“ am Folgetag die Erhebung Machens auf den bischöflichen Stuhl von Hildesheim publizieren werde.1075 Orsenigo teilte Domdekan Hagemann noch am 23. Juni mit, dass Pius XI. den Seminarprofessor zum neuen Oberhirten ernannt hatte.1076 Es entsprach den üblichen Gepflogenheiten, dass der vom Papst zum Bischof Berufene sich mit einem Ergebenheitsschreiben an den Pontifex wandte. Auch Machens schloss sich dieser Praxis an und schrieb am 27. Juni an den Kardinalstaatssekretär zur Weitervermittlung an den Papst.1077 Am 23.  Juli fuhr Machens nach Berlin, suchte Orsenigo in der Nuntiatur auf, legte

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 20. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 57r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 22. Juni 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 58rv. Vgl. AAS 26 (1934), S. 436. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 22. Juni 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 59r. Vgl. auch den Textentwurf, ebd., Fol. 60r. Die Bekanntmachung erfolgte schließlich erst mit eintägiger Verzögerung, „Osservatore Romano“ Nr. 145 vom 24. Juni 1934. Vgl. Orsenigo an Hagemann vom 23. Juni 1934, in: Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim Nr. 4 vom 25. Juni 1934. Vgl. Machens an Pacelli vom 27. Juni 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1938, Pos. 658 P.O., Fasz. 206, Fol. 64r und Machens an Pius XI. vom 27. Juni 1934, ebd., Fol. 65r–66r. Wie es zur Etikette gehörte, bekannte Machens dem Papst sein Unvermögen, das erworbene Amt auszufüllen. Daher nehme er es nur aufgrund der Vorsehung und des päpstlichen Willens an und versprach: „… atque omnibus viribus strenue adlaborabo, ne dioecesis mihi commissa inter tot aetatis nostrae errorum atque morum tam perniciosorum fluctus in periculum vocetur, sed ut fideles ad portum salutis, qui in Corde Jesu omnibus apertus est, adducantur favente matre gratiae, quae stella maris praedicatur“. Ebd., Fol. 65v. Der Professor betonte anschließend die Bedeutung der römischen für die deutsche Kirche in der Geschichte und versicherte, sich in allem dem Papst und der Kurie zu unterwerfen: „Jam vero cum haud ignorem Deum Ecclesiam Romanam ut pharum veritatis erexisse atque eandem Ecclesiam ceterarum omnium centrum et unitatis firmamentum institutisse, ipsa hac evectionis hora sponte Sanctae Sedi Apostolicae quam arctissime me adstringo atque me meamque dioecesim subicio necnon profiteor me semper fore paratum ad mandata Romani Pontificis Romanaeque Curiae reverenter accipienda fideliterque exsequenda. Qua in re id mihi summo solatio est, quod Sancta Sedes Apostolica cum temporibus illis S. Bonifacii, Germanorum Apostoli, tum etiam novissimis, maxime autem saeculo XIX et nostra aetate tam turbulenta ecclesiae Germania ‚turris fortitudinisʻ exstitit ‚a facie inimiciʻ“. Ebd., Fol. 65v–66r. Die Ehrfurcht vor und die Anhänglichkeit an den Stellvertreter Christi auf Erden, versprach Machens in seiner Diözese bewahren und fördern zu wollen. Im Auftrag des Papstes dankte ihm Pacelli Anfang Juli für die deutlich zum Ausdruck gebrachte Anhänglichkeit und übermittelte den päpstlichen Segen. Vgl. Pacelli an Machens vom 4. Juli 1934 (Entwurf), ebd., Fol. 68rv. 272

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die vom Kirchenrecht vorgesehenen Amtseide ab und erhielt die Ernennungsbullen ausgehändigt.1078 Daraufhin begab er sich ins Kultusministerium, um vor Rust, der Ministerpräsident Göring vertrat, den vom Reichskonkordat vorgeschriebenen Treueid zu leisten. In der Ansprache, die er dabei hielt, mahnte er ein friedliches Miteinander von Staat und Kirche als „Bruder und Schwester“1079 an. Nachdem er den Domherren seine päpstlichen Ernennungsdokumente vorgelegt und ihn sein Amtsvorgänger Bertram unter Assistenz von Berning und Galen am 25. Juli im Hildesheimer Dom zum Bischof konsekriert hatte, nahm Machens auf der bischöflichen Cathedra Platz.1080

Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist Nach gut halbjähriger Sedisvakanz hatte das Bistum Hildesheim wieder einen Oberhirten. Was nach dem Besetzungsfall noch offen blieb, war der Disput des Heiligen Stuhls mit der preußischen Regierung über die fristgerechte Geltendmachung der politischen Klausel. Auf die Note vom 26. Juni, mit der Orsenigo auf Anweisung Pacellis Verwahrung dagegen einlegte, dass die abschließende Entscheidung der Regierung über Machens erst einige Zeit nach Ablauf der 20-tägigen Frist mitgeteilt worden war, reagierte Kultusminister Rust mit einer Replik am 18. Juli.1081 Darin stellte er die Fristüberschreitung seitens der Regierung grundsätzlich in Abrede und erklärte, dass eine solche Annahme auf „einer unzutreffenden Information“1082 beruhe. Denn seine Benachrichtigung des Domkapitels vom 24. Mai sei innerhalb der Frist erfolgt und habe auch inhaltlich den Anforderungen des Schlussprotokolls des Reichskonkordats entsprochen. Durch sie sei es für den Heiligen Stuhl ausgeschlossen gewesen, anzunehmen, dass keine Bedenken gegen Machens bestünden: „Wenn ich meiner Erklärung die Mitteilung hinzufügte, dass die Ermittlungen mit größter Beschleunigung fortgesetzt würden und ich nach ihrem Abschluss weitere Mitteilung machen würde, so geschah dies in der Hoffnung, dass es noch gelingen werde, die hervorgetre-

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Vgl. Aschoff, Hildesheimer Bischofswahlen, S. 78. Engfer, Machens, S. 206. Vgl. „Konsekration und Inthronisation Sr. Exzellenz des Hochwürdigsten Herrn Bischofs Dr. Joseph Godehard Machens“ vom 10. Juli 1934, in: Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim Nr. 5 vom 10. Juli 1934. Eigentlich sollte Bares als unmittelbarer Vorgänger auf dem Hildesheimer Bischofsstuhl ebenfalls an den Weihefeierlichkeiten teilnehmen, musste aber krankheitsbedingt absagen. Vgl. Aschoff, Hildesheimer Bischofswahlen, S. 79. Vgl. Rust an Orsenigo vom 18. Juli 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 55rv. Rust an Orsenigo vom 18. Juli 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 55r. 273

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tenen Bedenken auszuräumen. Diese Hinzufügung erfolgte demgemäß im Geiste freundschaftlicher Verständigung und reibungsloser Zusammenarbeit.“1083

Maßgeblich sei daher nur die Korrespondenz vom 24. Mai und nicht vom 14. Juni, in welcher die Staatsregierung ihre politischen Bedenken zurückgezogen und so – wie Rust deutlich machte – den Wünschen des Heiligen Stuhls Genüge getan habe. Weil nach Ansicht des Kultusministers der vom Nuntius inkriminierte Tatbestand demnach gar nicht vorlag, ging er auf die Präzedenzklausel und die Ankündigung, der Heilige Stuhl werde seine im Reichskonkordat verbrieften Rechte künftig einfordern, nicht mehr ein. Bevor Orsenigo diese Entgegnung seinem Vorgesetzten übermittelte, habe er – wie er Pacelli Mitte August berichtete – Rust persönlich aufgesucht und ihm gegenüber klargestellt, „dass das Schlussprotokoll zu Artikel 14, Absatz 2, Nummer 2 des Reichskonkordats einen anderen präziseren Sinn hat, nämlich, dass es innerhalb der zwanzig Tage nicht allein notwendig ist, wenn überhaupt, zur Kenntnis zu bringen, dass Bedenken allgemeinpolitischer Art bestehen, sondern auch, diese Bedenken zu präzisieren“1084.

Der Nuntius erwartete, dass die Regierung spezifizierte, was sie für Einwände gegen den Kandidaten hegte und nicht nur mitteilte, dass dies der Fall war. Laut Orsenigos Darstellung war der Kultusminister rasch bereit, aufzugeben: Rust schien von der Argumentation überzeugt und habe versichert, mit seinen Mitarbeitern beraten zu wollen, ob es nicht besser sei, die eigene Entgegnung vom 18. Juli zurückzuziehen.1085 Diese Hoffnung des Nuntius erfüllte sich jedoch bis Mitte August nicht. Pacelli beriet sich mit Pius XI. über diese Frage und teilte Orsenigo

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Rust an Orsenigo vom 18. Juli 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 55r-v. „… che il Protocollo finale allʼArticolo 14, capoverso 2, num. 2, del Concordato col Reich aveva un altro senso ben preciso, e cioè che entro i venti giorni occorre, se mai, far conoscere non solo che esistono obbiezioni di carattere politico generale, ma anche precisare queste obbiezioni …“ Orsenigo an Pacelli vom 18. August 1934, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 53r–54r, hier 53v. Die Einschätzung Bernd Heims auf Basis der staatlichen Aktenüberlieferung, dass dieses Gespräch zwischen dem 20. und 25. Juli stattgefunden habe, lässt sich durch die vatikanischen Unterlagen nicht konkretisieren. Orsenigo sprach lediglich von „qualche giorno dopo ricevuta la lettera“. Allerdings konferierte der Nuntius nach eigenen Angaben mit dem Kultusminister selbst und nicht, wie Heim annimmt, mit Staatssekretär Stuckart. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 135. Nach den Aufzeichnungen der staatlichen Seite zeigte sich diese nicht so nachgiebig, wie Orsenigo es in seinem Bericht schilderte. Auf die Äußerung des Nuntius, dass die Regierungsnote vom 18. Juli nicht der Auffassung des Heiligen Stuhls von der vertraglichen Regelung der 20-tägigen Einspruchsfrist entspreche und daher weitere Auseinandersetzungen nach sich ziehen werde, sei erwidert worden, dass das Vorgehen der preußischen Regierung bei den vergangenen Bischofswahlen sehr wohl den Konkordatsvorgaben gemäß war. Orsenigo hingegen habe zwar anerkannt, dass die Regierung sich um den reibungslosen Ablauf des Geschäftsgangs bemüht habe, aber erwartet, dass sie um eine Fristverlängerung ersuche, falls der Zeitraum von 20 Tagen für die Prüfungen nicht ausreiche. Dieser Vorschlag sei eben274

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daraufhin mit, falls das staatliche Schreiben nicht zurückgezogen werden sollte, halte es der Papst für „unabdingbar, dass Ehrwürdige Exzellenz schriftlich entgegnen, damit sich nicht irrige Interpretationen in einer so wichtigen Konkordatsbestimmung etablieren“1086. Das sollte aber zunächst nicht nötig sein, denn kurz darauf erreichte die Nuntiatur eine überarbeitete Note, die Staatssekretär Stuckart verfasst hatte.1087 Darin erklärte die preußische Regierung zunächst generell ihre Bereitschaft, etwaige politische Bedenken gegen Bischofskandidaten gemäß dem Schlussprotokoll des Reichskonkordats binnen kürzester Frist vorzubringen und der 20-tägigen Frist „nach Möglichkeit Rechnung zu tragen“1088. Dann kam sie auf die aus dem Hildesheimer Fall erwachsene Problematik zu sprechen: „Bei den hier in Betracht kommenden Fällen der Bischofsernennungen hätte auf seiten der Preußischen Staatsregierung nicht im Wege gestanden, zu der innerhalb der Frist von 20 Tagen erfolgten Mitteilung von dem Vorhandensein allgemeinpolitscher Bedenken eine nähere Angabe über diese hinzuzufügen.“1089 In der Hoffnung, die aufgetretenen Bedenken im Verlauf der weiteren Untersuchung ausräumen zu können, habe sie jedoch davon abgesehen. Dies zeige ihre freundschaftliche Absicht bei dem Verfahren. Mit der Ankündigung, die Ermittlungen über Machens fortzusetzen und anschließend eine erneute Mitteilung zu machen, habe sie angenommen, dem Heiligen Stuhl ihr Bemühen um eine reibungslose Erledigung der Angelegenheit hinreichend verdeutlicht zu haben. Das Ergebnis sprach nach Ansicht der Regierung für sich: „Zu ihrer Befriedigung hat sie dadurch auch erreicht, daß sie ihre Bedenken fallen lassen konnte. Schon aus diesem Grunde möchte die Preußische Staatsregierung der Ansicht sein, daß der in der Verbalnote behandelte Fall nicht für eine Besorgnis angetan sei, daß er einen Präzedenzfall für eine Abweichung von der im Reichskonkordat vorgesehenen Regelung bilde; demgemäß sieht sie sich nicht in der Lage, im vorliegenden Falle die üblichen Voraussetzungen für eine Rechtsverwahrung als gegeben zu erachten.“1090

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falls zurückgewiesen worden. Jedoch habe man eine Änderung der staatlichen Note in Aussicht gestellt und vereinbart, dass „die neue Note, in der beide Positionen ihre Berücksichtigung finden sollten, dem Nuntius im Austausch gegen die alte übergeben werden sollte“. Heim, Bischöfe, S. 135. „… sarebbe indispensabile che lʼE. V. replicasse per iscritto, affinché non si stabiliscano erronee interpretazioni in una così importante disposizione Concordataria.“ Pacelli an Orsenigo vom 22. August 1934 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 56r. Vgl. Stuckart an Orsenigo vom 31. Juli 1934, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 44f. (Nr. 42). Bevor das Schriftstück der Nuntiatur zuging, wurde es zunächst der preußischen Staatskanzlei vorgelegt, die erst am 22. August ihr Plazet gab. Daher wartete der Nuntius bis Mitte August vergeblich auf die angekündigte staatliche Reaktion, obwohl sie bereits verfasst war. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 135 Anm. 550. Stuckart an Orsenigo vom 31. Juli 1934, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 44. Hervorhebung R.H. Stuckart an Orsenigo vom 31. Juli 1934, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 44. Stuckart an Orsenigo vom 31. Juli 1934, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 44. 275

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Grundsätzlich sei es wenig zweckmäßig, die Art der politischen Bedenken zu konkretisieren, wenn noch die Hoffnung bestehe, dass diese durch weitere Nachforschungen aufgelöst werden könnten. Außerdem existiere häufig bis zum Ende der Mitteilungsfrist die Chance, dass die Ausräumung noch innerhalb dieses Zeitraums gelinge. Für die Regierung war das eine sehr entgegenkommende Haltung, auf der sie aber nicht insistieren wolle, falls der Heilige Stuhl ihr widerspreche, „so sehr sie auch vermeidbare Weiterungen vermieden sehen möchte und so sehr sie es bedauern würde, falls durch andere Handhabung solche Weiterungen entstehen würden“1091. Diese Interpretation der Fristüberschreitung als reine Zuvorkommenheit und als Ausdruck eines freundschaftlichen Umgangs war für den Nuntius nicht akzeptabel. Am 30. Oktober übte er gegenüber Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow Kritik an der überarbeiteten Note.1092 Schon früher habe er moniert, dass die Einspruchsfrist bei der Besetzung der bischöflichen Stühle von der preußischen Regierung nicht gewahrt werde.1093 Bei der Wahl von Schreiber zum Oberhirten der Reichshauptstadt habe sie 50 Tage, bei der Einsetzung von Machens 40 Tage verstreichen lassen, bevor die Entscheidung getroffen worden sei. Jedes Mal sei vom Heiligen Stuhl darauf hingewiesen worden, dass es sich dabei um keinen Präzedenzfall für die Zukunft handeln dürfe. Und nun spreche die Regierung in ihrer Stellungnahme vom 31. Juli davon, dass sie die festgesetzte Frist lediglich „nach Möglichkeit“ einhalten wolle. Falls diese Wendung als ein Vorbehalt interpretiert werde, „sich über die Vertragsbestimmungen hinwegzusetzen“1094, sei das inakzeptabel. Allerdings wolle der Nuntius  – wie Bülow sich notierte  – eine gutwillige Interpretation annehmen und deshalb in einer schriftlichen Antwort der Regierung unterstellen, die 20-tägige Verpflichtung anzuerkennen und einhalten zu wollen. Unter dieser Prämisse sei der Heilige Stuhl mit der Regierungserklärung zufrieden. Orsenigo habe daraufhin noch einmal sein Unverständnis darüber erklärt, warum die preußische Staatsregierung sich nicht dazu entschließen könne, um eine Verlängerung der Frist zu bitten, wenn dies nötig würde. Einer solchen Bitte werde mit Sicherheit stattgegeben. Die angekündigte offizielle Antwort auf die Regierungsnote mit der interpretatorischen Klarstellung des zentralen Passus ließ Orsenigo dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes unter dem

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Stuckart an Orsenigo vom 31. Juli 1934, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 45. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 30. Oktober 1934, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 59–61 (Nr. 56). Damit spielte er auf ein Schreiben an Rust vom 28. November 1933 im Kontext des Berliner Besetzungsfalls an. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.13 (Das innerstaatliche Ringen um die politische Klausel und die Geduld des Vatikans). Aufzeichnung Bülows vom 30. Oktober 1934, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 59. 276

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Datum des 9. November zukommen.1095 Bülow bestätigte den Eingang dieser Stellungnahme und reichte sie an das Reichsinnenministerium weiter.1096 Diesem teilte er mit, der Nuntius habe ihm mündlich versichert, dass der Heilige Stuhl bereit sei, „von Fall zu Fall den staatlichen Wünschen unter Berücksichtigung der obwaltenden Umstände Rechnung zu tragen, jedoch sei es erforderlich, daß künftighin, zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten, staatlicherseits jeweils ein gegenseitiges Einvernehmen über die voraussichtliche Dauer der etwa notwendigen Fristverlängerung herbeigeführt werde“1097.

Ministerialdirektor Buttmann bestätigte wenig später gegenüber dem Auswärtigen Amt den rechtlichen Standpunkt des Heiligen Stuhls mit dem Zugeständnis, dass eine einseitige Fristverlängerung seitens der Regierung nicht statthaft sei. Freilich profitiere Rom aber auch von der Zeitüberschreitung, nämlich „wenn die Regierung sich durch diesen Schritt nicht zu einer vorsorglichen Geltendmachung von Bedenken veranlaßt sehe“1098. Damit war diese Kontroverse zunächst einmal beigelegt. Wie viel das wert war, mussten die nächsten Anwendungsfälle beweisen. Bei allem ging es nicht nur um die genaue Einhaltung der Einspruchsfrist, sondern auch grundsätzlich um die Frage, ob die NS-Regierung die Bestimmungen des Reichskonkordats ernst nahm und die Rechte der Kirche – auch in vielleicht wichtigeren Bereichen als der Fristdauer – respektierte. Deshalb kündigte Orsenigo an, dass Rom einer Bitte um Fristverlängerung immer zustimmen werde.1099 Insofern war diese Debatte Teil des – letztlich aussichtslosen – Bestrebens der Kirche, das NS-Regime zur Einhaltung der Konkordatsnormen 1095

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Darin bemerkte der Nuntius: „1.) Wenn mit dem Ausdruck ‚nach Möglichkeitʻ nur ausgedrückt werden soll, daß es manchmal schwierig ist, die Bedenken innerhalb der angegebenen Frist vorzubringen, ohne daß dadurch aber der Wortlaut und Sinn der konkordatarischen Bestimmung abgeschwächt werden soll, habe ich keine Einwendung zu erheben. 2.) Wenn mit den Worten ‚nach Möglichkeitʻ jedoch von vornherein eine Rechtfertigung einer eventuellen Verzögerung über diese Frist von 20 Tagen hinaus geschaffen werden sollte, so daß der H[eilige] Stuhl nicht berechtigt wäre, nach Ablauf von zwanzig Tagen anzunehmen, daß Bedenken gegen den Kandidaten nicht bestehen, müßte ich eine solche Auslegung als konkordatswidrig bezeichnen.“ Orsenigo an Bülow vom 9. November 1934, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 62f. (Nr. 58), hier 63. Vgl. Bülow an Orsenigo vom 22. November 1934, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 63 (Nr. 59). Bülow an das Reichsministerium des Innern vom 22. November 1934, zitiert nach Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 63 Anm. 2. Heim, Bischöfe, S. 139. Gewiss war dies aus römischer Sicht kein Idealzustand, aber wie Bernd Heim zu meinen, Rom würde sich „selbstgefällig“ über die „ärgerliche Ausdehnung“ der Einspruchsfrist von Seiten der Regierung „hinwegtäuschen“, wenn es diese auf staatlichen Antrag wenigstens selbst gewährte, trifft den Sachverhalt sicherlich nicht. Heim, Bischöfe, S. 144. Bei allen Schwierigkeiten, die Konkordatsbestimmungen bei einem Kontrahenten durchzusetzen, der über Vertragstreue zunehmend nur auf Basis von eigenen Opportunitätsgründen entschied, ging es dem Heiligen Stuhl um zumindest formale Rechtswahrung, ein Anliegen, das durchaus nachvollziehbar ist. 277

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zu bringen, was insbesondere vor der sich 1934 erheblich verschärfenden antikirchlichen Politik Kontur gewinnt. Was die 20-tägige Einspruchsfrist anbelangte, so führte der Hildesheimer Fall dazu, dass Pacelli im Staatssekretariat von nun an haargenau darüber Buch führen ließ, wann bei den künftigen Bischofseinsetzungen die Notifikation des neugewählten Oberhirten und wann die Antwort der Regierung erfolgte.1100

Ergebnis 1. Innerhalb des Besetzungsfalls ergriff Pacelli zweimal die Initiative, die jeweils Aufschluss über seinen Umgang mit der Kandidatenfrage gibt: Zum einen ließ er beim Freiburger Metropoliten Erkundigungen über Weihbischof Burger einziehen, zum anderen wandte er sich an den Rektor des Innsbrucker Canisiuskollegs, um über die Tauglichkeit von Machens Informationen zu erhalten: a) Burger war Pacelli seit 1924 bekannt, als der ehemalige Freiburger Pfarrer auf Bitten des damaligen Erzbischofs Karl Fritz von Pius XI. zum Weihbischof erhoben wurde. Nuntius Pacelli hatte damals mehrere knappe und durchweg positive Gutachten über Burger eingeholt, um dessen Idoneität für das (Weih-) Bischofsamt zu eruieren. Sie kulminierten letztlich in folgender Wertung: „Er ist ein Priester, der mit guten Sitten, Frömmigkeit, Seeleneifer, Klugheit und Lehre ausgestattet ist, die ihn geeignet und würdig machen, um in den Bischofsstand erhoben zu werden.“1101 Trotz dieser klaren Einschätzung war Burger in den folgenden Jahren für Pacelli niemals ein Kandidat für den Posten eines Diözesanbischofs gewesen. Insofern ist überraschend, dass er anlässlich der Hildesheimer Vakanz 1934 plötzlich an ihn dachte. Die Überraschung wird auch nicht geringer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Burger bei der Wiederbesetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls zwei Jahre zuvor als Verteidiger des Kapitelswahlrechts aufgetreten war und damit eine andere Auffassung vertreten hatte als Pacelli selbst.1102 Vor diesem Hintergrund wird man die Motivation des Kardinalstaatssekretärs für die Nominierung Burgers nicht leicht einsehen

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Vgl. die Liste S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1934–1936, Pos. 667 P.O., Fasz. 224, Fol. 57r–60r. „… esse sacerdotem bonis moribus, pietate, animarum zelo, prudentia et doctrina praeditum, quae ipsum aptum et dignum efficiunt, ut ad ordinem episcopalem promoveatur.“ Mutz an Pacelli vom 20. Juli 1924, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1924–1930, Pos. 550 P.O., Fasz. 71, Fol. 4r–5r. Die Referenzen für Burger stammten neben diesem, das vom damaligen Freiburger Domdekan, Franz Mutz verfasst wurde, vom Beuroner Erzabt, Raphael Walzer OSB (ebd., Fol. 6r–7r) und vom Pater Guardian des Freiburger Franziskanerklosters, Irenäus Schönherr OFM (ebd., Fol. 8r). In seinem Bericht, mit dem Pacelli die Voten nach Rom sandte, äußerte er sich zu den Qualitäten Burgers nicht eingehender. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 5. August 1924, ebd., Fol. 3r. Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.4 (Widerstand und Einlenken im Freiburger Metropolitankapitel). 278

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können. Möglicherweise hing seine Überlegung damit zusammen, dass der Weihbischof aus dem Umfeld Gröbers kam, „mit dem ihn ein inniges freundschaftliches Verhältnis verband“1103 und der für Pacelli einer der maßgeblichen Vertrauten unter dem deutschen Episkopat geworden war (vgl. Nr. 4). Immerhin gehörte Burger auch zu denen, welche die römische Ernennung Gröbers zum Erzbischof, anders als einige andere hohe Geistliche in Freiburg, positiv aufgenommen hatten. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen vorläufigen Gedanken Pacellis, zumal er denselben sofort verwarf, als Gröber sein negatives Votum über Burger vorgelegt hatte. Hinsichtlich der Qualitäten, die Pacelli von Burger erwartete, lässt sich nichts Gesichertes sagen, da die Anfrage Orsenigos bei Gröber mündlich erfolgte. Allerdings wäre es denkbar, dass die Gewandtheit im Umgang mit anderen und die rhetorische Begabung, die Gröber seinem Weihbischof attestierte, Kriterien waren, die der Nuntius – im Auftrag Pacellis – dem Erzbischof als Bewertungsrichtlinie vorgelegt hatte. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass Burger ein paar Jahre kanonistische Studien in Rom vorzuweisen hatte. Immerhin zeigt Pacellis Anfrage sehr deutlich, dass er keineswegs eine Terna von Kandidaten für den Bischofsstuhl direkt und klar im Kopf hatte, sondern ein intensiver Denkprozess nötig war. b) Auf den Hildesheimer Seminarprofessor stieß Pacelli durch die preußischen Kandidatenvorschläge (3 Voten). Persönlich kannte er Machens nicht, wie die Formulierung seiner Anfrage an Pater Hofmann nahelegt.1104 Allein das Faktum dieser Anfrage, die darauf gründete, dass der Genannte seine philosophisch-theologischen Studien bei den Innsbrucker Jesuiten absolviert hatte, zeigt, auf welche Qualität es Pacelli ankam, um zu beurteilen, ob der Genannte episkopabel war: Im Canisianum lernte man die aus seiner Sicht „gesunde“ Philosophie und Theologie, nämlich eine römisch durchformte, spekulative Scholastik aus der Hand der Jesuiten, des klassisch Rom und dem Papst streng ergebenen Orden.1105 Konsequenterweise wünschte Pacelli vom Rektor auch ausdrücklich eine Beurteilung Machensʼ „nach der Seite des theologischen Wissens und der priesterlichen Charakterbildung“. Hier tritt neben der theologischen Befähigung noch die Frage, inwieweit der damalige Alumne sich vom „Geist“ des Jesuitenkollegs hatte prägen lassen und die dort vermittelten priesterlichen Ideale adaptierte: Es ging also dabei nicht zuletzt um die Vereinigung von Wissenschaft und Frömmigkeit, auf deren harmonische Symbiose beim Genannten sowohl Hofmann als auch Bares hingewiesen hatten. Dass es dem Kardinalstaatssekretär auch darum ging, dass Machens das eine wie das andere weiter vermittelte, also für die Priesterausbildung fruchtbar machte, liegt auf der Hand. Von daher wird man es nicht als Nebensächlichkeit abtun 1103 1104

1105

Schmider, Bischöfe, S. 141. Folgerichtig wird Machens in Pacellis Nuntiaturberichterstattung nicht erwähnt. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Wie bereits angemerkt (vgl. Bd. 2, Kap. II.1.14 Anm. 1021) trugen die Hildesheimer Domherren Machens bereits bei der Besetzung des Bistums im Jahr 1928/​29 als tauglichen Kandidaten vor – ein Umstand, der Pacelli offenbar nicht mehr bewusst war. Vgl. zur Innsbrucker Jesuitenfakultät die in Bd. 1, Kap. II.1.5 Anm. 1417 angegebene Literatur. 279

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können, dass dieser seit vielen Jahren im Hildesheimer Priesterseminar tätig war. Da oben bereits das Kriterium der rhetorischen Begabung angesprochen wurde, das für Pacelli bei der Bewertung Burgers eventuell relevant war, darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass der Kardinalstaatssekretär aus den preußischen Vorschlagslisten erfuhr, dass der Domprediger Machens auch auf diesem Gebiet beachtliche Fähigkeiten besaß. Auch dies scheint also letztlich nicht unerheblich für Pacellis Entscheidung gewesen zu sein, ihn zunächst auf den dritten, dann endgültig auf den zweiten Platz der Terna zu setzen. Die Veränderungen in der Reihenfolge zeigen klar, dass diese für Pacelli einer Präferenzhierarchie gleichkam. Dem Hildesheimer Professor zog er Mönch und Algermissen vor, während er ihm Francken nachordnete. c) Klarer Favorit Pacellis war demnach der Erstplatzierte auf beiden Ternen, der Trierer Weihbischof. Mönch gehörte schon geraume Zeit zu den paradigmatischen Bischofskandidaten Pacellis, erfüllte als ehemaliger Alumne des Germanicums das theologische Kriterium vollauf und hatte 1929 vom scheidenden Nuntius eine wahre Laudatio erhalten: Der Germaniker sei ein „Prälat von großer Tüchtigkeit und begabt mit einer gesunden und soliden Lehre“1106, im Umgang mit Finanzangelegenheiten bewandert, er besitze eine weitreichende Kenntnis des Wohlfahrtssystems und verstehe sich außerdem auf einen geschickten, klugen und standhaften Umgang mit den zivilen Behörden. In nicht weniger als vier früheren Besetzungsfällen hatte Mönch bereits eine Rolle gespielt, entweder als Kandidatenvorschlag (Mainz 1920/21), als Pacellis Informant (Trier 1921/22) oder als von ihm angedachter Kandidat (Hildesheim 1928/29) beziehungsweise sogar als Wunschkandidat (Münster 1933). Da es nun erneut um die Besetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls ging, erscheint es einleuchtend, dass Pacelli auf den Geistlichen zurückgriff, der bereits im „ersten“ Hildesheimer Fall in seinem Fokus lag. Auch kommt dem Münsteraner Besetzungsfall, innerhalb dessen Pacelli den Weihbischof auf den ersten Rang der römischen Dreierliste platzierte, angesichts der zeitlichen Nähe eine besondere Bedeutung zu. In beiden Besetzungsfällen findet man also zwei ausreichende Bezugspunkte (zeitlich und lokal), die erklären, wie sich für den Kardinalstaatssekretär im aktuellen Fall der Favorit herauskristallisierte. Interessant ist, dass es seiner Wertschätzung des Weihbischofs offenbar überhaupt keinen Abbruch tat, dass die Münsteraner Domherren Mönch gut ein Jahr zuvor unter keinen Umständen zum Bischof wählen wollten. Auch ließen ihn die offenkundigen gesundheitlichen Probleme Mönchs – in welcher Intensität diese auch immer vorhanden waren – nicht an dessen Episkopabilität zweifeln. Vielmehr ergab sich für ihn nun eine neue Chance, Mönch an die Spitze eines Bistums zu bringen, die Pacelli nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte und für die er sich sogar auf die Vorschläge des preußischen Episkopats berufen konnte – wie schon in Münster hatte der Weihbischof immerhin das Votum seines Ordinarius Bornewasser erhalten. 1106

„… Prelato di grande capacità e dotato di sana e soda dottrina …“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 47r, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 249. 280

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d) Die vorläufige Nominierung Algermissens schließlich wird durch dessen Favoritenrolle im preußischen Episkopat veranlasst gewesen sein. Er war in keinem früheren Besetzungsfall von Pacelli in Erwägung gezogen worden und insofern für ihn ein „neuer“ Bischofskandidat. Zwar findet er in der Nuntiaturberichterstattung Pacellis keine Erwähnung,1107 aber dennoch wird man davon ausgehen können, dass ihm dieser wenn nicht persönlich bekannt, so doch zumindest ein Begriff war. Immerhin machte Algermissen spätestens seit 1926 als Leiter des Dezernats für „Apologetik und religiös-kulturelle Zeitfragen“ des katholischen Volksvereins in ganz Deutschland „mit seinen zahlreichen Schulungstagen, Priesterkonferenzen, Massenkundgebungen, Vorträgen und Schriften“1108 auf sich aufmerksam, wovon zum Beispiel die Voten Hilfrichs, Schmitts oder Vogts ein beredtes Zeugnis geben, die vom Hildesheimer Klerus nur Algermissen von dessen überdiözesanem Wirken im Volksverein her kannten.1109 Von daher ist anzunehmen, dass der bestens informierte Pacelli schon in den letzten Jahren seiner Zeit als Berliner Nuntius das Wirken Algermissens zumindest zur Kenntnis nahm. Man darf davon ausgehen, dass er auch später die durch reiche Publizistik über die deutschen Grenzen hinweg Aufsehen erregende Tätigkeit Algermissens, insbesondere in der 1931 von diesem gegründeten „Forschungs- und Auskunftsstelle über Bolschewismus, Gottlosenbewegung und Freidenkertum“, die unter anderem auch vom Heiligen Stuhl finanzielle Zuwendungen bekam, im Blick behielt. Insofern brauchte er über ihn auch kein Gutachten einzufordern, wie über Machens. Was das Kandidatenprofil anbelangte, so war Algermissens Ausbildung an der römischen Gregoriana als Alumne des Germanicums geeignet, Pacelli von dessen theologischer Tauglichkeit zu überzeugen. Sollte der Kardinalstaatssekretär von der Germaniker-Vergangenheit Algermissens zunächst nichts gewusst haben, erfuhr er davon spätestens durch die preußischen Vorschläge. Aus ihnen erfuhr er allerdings nicht, dass Algermissen seit Oktober 1933 – ebenso wie Machens – Professor am Hildesheimer Priesterseminar und Domprediger war.1110 Wenn Pacelli dies dennoch gewusst haben sollte, bestand damit im Kontext seiner Entscheidung auch wieder ein Bezug zur Priesterausbildung und rhetorischen Begabung. Zu fragen ist noch, warum Pacelli Algermissen wieder von der Terna strich. Der zentrale Anhaltspunkt für die Antwort ist vermutlich im gespannten Verhältnis des Domvikars zu den Nationalsozialisten zu suchen, auf das Orsenigo hingewiesen hatte.1111 Die im November 1933 in Görlitz geäußerte offene und deutliche Kritik Algermissens an der nationalsozialistischen Ideologie, welche dieser gerade im Jahr der Hildesheimer Wahl in seinem Buch „Germanentum und

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Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Flammer, Algermissen, Sp. 8. Vgl. zu Algermissens Tätigkeit in der apologetischen Abteilung Klein, Volksverein, bes. S. 253–272. Vgl. Engfer, Leitung, S. 44. So auch die Vermutung von Thomas Flammer. Vgl. Flammer, Algermissen, Sp. 11; Ders., Bischofswahlen, S. 253f. Vgl. auch Vogt, Streiter, S. 140. 281

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Christentum“1112 als Gegenschrift zu Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“1113 ausbaute, musste zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei der staatlichen Anerkennung führen. Daher wird man vermuten können, dass Pacelli sich schließlich  – nach einigem Zögern  – dazu entschied, dieses Risiko nicht einzugehen und so aus Opportunitätsgründen von der Nominierung Algermissens absah. Wie schon seine Überlegung, Burger als einen der römischen Kandidaten zu benennen, offenbart auch dieser Wechsel bei Pacelli einen längeren Denkprozess in der Kandidatenfindung, ein Abwägen und ein Ringen um die richtige Wahl. Nachdem er den einen Hildesheimer durch den Münsteraner Kleriker ersetzt hatte, stand auf der endgültigen Terna immerhin noch ein Kandidat von vor Ort. e) Auf den letzten Platz der Terna situierte Pacelli den Münsteraner Regens Francken, der freilich keinen einzigen Unterstützer unter den preußischen Proponenten gefunden hatte. Dennoch überrascht dessen Kandidatur nicht, wenn man sie im Licht der beiden unmittelbar vorangegangenen Sedisvakanzen von Münster und Berlin betrachtet: Der ihm schon seit 1919 bekannte Francken1114 war Pacelli während ersterer nicht nur mehrfach – unter anderem von Orsenigo – empfohlen worden, sondern zu Gesprächen persönlich in Rom erschienen und hatte offensichtlich einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wenige Wochen später hatte ihn Pacelli dann für die Bischofswahl in Berlin an die letzte Stelle der Terna gesetzt. Von hier lässt sich also eine klare Linie bis nach Hildesheim ziehen, wo der Regens auf dem gleichen Platz der Liste rangierte und selbst durch die Streichung Algermissens nicht auf den zweiten Rang aufrückte. Der Grund für Franckens Subordination ergibt sich logisch aus dem für Pacelli in diesem Fall zentralen theologischen Kriterium: Mönch und Algermissen hatten in Rom studiert, Machens in Innsbruck und Francken an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster. Diese hatte Pacelli 1929 als relativ gut eingeschätzt,1115 stand für ihn aber nicht auf gleichem Level mit den genannten Jesuitenanstalten. Insofern unterstellte der Kardinalstaatssekretär dem Regens eine solide Lehre, aber offenbar nicht auf dem Niveau der Erstgenannten. Das theologische Kriterium bildete also den zentralen, wenn

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Vgl. Algermissen, Germanentum. Besonders die Kapitel 18: „Moderne Versuche zur Germanisierung des Christentums und der Religion“ und 20: „Deutsche Mystik und Heiligkeit“ setzten sich mit Rosenberg auseinaner. Sukzessive deckte Algermissen die Haltlosigkeit von Rosenbergs „Theorien“ zum Gottes- und Sündenbegriff, zum Alten Testament, zu Christus, Paulus, Kirche und Papsttum auf und rückte die von Rosenberg entstellte Lehre Meister Eckharts zurecht. Vgl. dazu auch Baumgärtner, Weltanschauungskampf, S. 176–179 sowie Scherzberg, Katholizismus, S. 312–314, die den Fokus auf Algermissens Versuch legt, Christentum und Germanentum zu synthetisieren. Vgl. Rosenberg, Mythus. Vgl. Pacelli an Gasparri vom 30. September 1919, ASV, Segr. Stato, Guerra, 1914–1918, Rubr. 244, Fasz. 142, Fol. 91r–103v. Vgl. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v, Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 234f. 282

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auch nicht einzigen Schlüssel zum Verständnis der Hildesheimer Terna. Franckens langjährige Erfahrung in der Priesterausbildung schließlich komplettierte für Pacelli dessen Episkopabilität. 2. Das Verfahren, das formal entsprechend Artikel 6 des Preußen- und Artikel 14 des Reichskonkordats ablief, barg auch in der konkreten Ausführung – abgesehen von der Debatte um die staatliche Einspruchsfrist (vgl. Nr. 3) – keinerlei Besonderheiten. Pacelli initiierte das Listenverfahren, schärfte das secretum sowohl für die Kandidatenvorschläge als auch für die Bischofswahl des Domkapitels ein, ordnete eine 15-tägige Rücklauffrist für die Kandidatenvorschläge der preußischen Hierarchie an und erklärte von vornherein eine etwaige zweite Bischofswahl der Domherren für nichtig, wenn diese im Falle, dass die Regierung dem zunächst Gewählten ihre Unbedenklichkeitserklärung verweigern sollte, ohne vorhergehende römische Instruktion vorgenommen würde. Wie in den vorangegangenen preußischen Besetzungsfällen sollten Episkopat und Domkapitel nach Pacellis Anweisung „auf eigene Rechnung“, also jeder einzeln und ohne Absprache, ihre Vorschläge vorbringen, was natürlich die Vielschichtigkeit und Intransparenz der Listen förderte. Was er unter den „nötigen Informationen“ verstand, welche die Proponenten ihren Vorschlägen beifügen sollten, spezifizierte Pacelli erneut nicht. Die einzige Modifikation zu den früheren Fällen, die der Kardinalstaatssekretär anordnete, bestand darin, dass er nach der Bischofswahl umgehend über den Ausgang und das genaue Datum, an dem der Name des Gewählten der Regierung notifiziert wurde, informiert werden wollte. Dies war eine Konsequenz aus dem unzuverlässigen Umgang des NS-Regimes mit der politischen Klausel, der Pacelli zunehmend lästig wurde. Damit ist bereits das nächste Thema angesprochen. 3. Neben dieser verfahrenstechnischen Anordnung, die ihm eine bessere Kontrolle bieten sollte, ob der Staat die im Reichskonkordat festgelegte Frist einhielt, und ein notfalls schnelleres Eingreifen von Rom aus ermöglichte, berücksichtigte Pacelli auch bei seiner Kandidatenwahl den Faktor „Staat“. Wie oben dargelegt, strich er Algermissen im Hinblick auf das staatliche Plazet von der Terna. Obwohl dessen Kritik an der NS-Ideologie gewiss auch in Pacellis Augen nur parteipolitische Relevanz hatte, rechnete er offensichtlich nicht damit, dass das NS-Regime im Zweifelsfall die zentrale Unterscheidung von partei- und allgemeinpolitischen Bedenken, die für die konkordatsmäßig fixierte Klausel wesentlich war, anerkannte. Insofern ging der Kardinalstaatssekretär mit der Streichung Algermissens weiter auf die NS-Regierung zu, als er streng juristisch hätte gehen müssen. Da er mit Machens aber einen Geistlichen nachnominierte, der theologisch-kirchlich ein ähnliches Profil besaß, wird man darin nur bedingt eine Konzession sehen können. Es ist doch aufschlussreich, wenn die hannoversche NSDAP-Gauleitung bei Machens einen „Jesuitenverdacht“ feststellte, den sie aber nicht „beweisen“ konnte, da sie dessen Ausbildung im Innsbrucker Canisianum nicht in Erfahrung brachte. Den zentralen Unterschied zwischen den beiden Hildesheimern, auf den es Pacelli vermutlich ankam, sprach die Gauleitung 283

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sogar an, als sie Machens attestierte, politisch nicht in Erscheinung getreten zu sein. „Inhaltlich“ wollte der Kardinalstaatssekretär auf die Regierung keine Rücksicht nehmen, sondern lediglich einem offenen Konflikt aus dem Weg gehen.1116 Angenommen, Algermissen wäre gewählt worden und die Regierung hätte ihn wegen seiner offenen Kritik am Nationalsozialismus abgelehnt, dann hätte Pacelli vor einem Dilemma gestanden: Entweder hätte er die Ablehnung akzeptieren können. Damit hätte er aber zugleich die Koinzidenz von allgemein- und parteipolitischen Bedenken akzeptiert und dem NS-Regime zu allem Überfluss einen Präzedenzfall für künftige Bischofseinsetzungen geliefert. Oder er hätte die staatlichen Einwände ignorieren und Algermissens Wahl bestätigen können. Damit wäre dann aber unzweifelhaft eine Auseinandersetzung verbunden gewesen, mit allen Konsequenzen für die Kirche und schlimmstenfalls eine Aufkündigung des hart erkämpften Reichskonkordats. Selbst wenn dieses Szenario zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Interesse der Reichsregierung gewesen sein mag, sorgte sich Pacelli davor und vermutete sogar, dass von staatlicher Seite bereits daran gearbeitet wurde. Konfliktvermeidung war daher seine oberste Direktive, allerdings ohne in der Substanz etwas preiszugeben. Deshalb nahm er auch erneut die staatliche Missachtung der 20-tägigen Antwortfrist hin – denn als eine solche interpretierte er den „Zwischenbescheid“ des Kultusministers, der „fristgerecht“ eine Fortsetzung der Untersuchung ankündigte –, obwohl er noch wenige Monate zuvor im Berliner Fall erklärt hatte, auf eine verspätete Äußerung der Regierung zu den politischen Bedenken künftig nicht mehr warten zu wollen. Dieses Recht, welches das Reichskonkordat der Kirche dezidiert zugestand, konnte er unter Beibehaltung dieser Strategie gar nicht in Anspruch nehmen. Zwar in hohem Maße verärgert – wie seine juristische „Lehrstunde“ belegt –, beschränkte Pacelli sich nur darauf, formal das Recht des Heiligen Stuhls zu wahren und wieder einmal Verwahrung gegen die staatliche Konkordatsverletzung einzulegen. Wie glaubwürdig die erneute Ankündigung, bei künftigen Bischofseinsetzungen eine Fristverletzung nicht mehr hinzunehmen, angesichts der soeben demonstrierten Inkonsequenz sein konnte, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin konnte sich die Regierung bei weiteren Fristüberschreitungen niemals sicher sein, ob der Heilige Stuhl die Androhung nicht doch einmal umsetzen würde. Während Orsenigo die Fristverletzung eher zu relativieren versuchte, indem er sie auf das Unvermögen der Staatsbeamten zurückführte, erkannte Pacelli in ihr ein absichtliches Verhalten

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In dieser Hinsicht trifft das von Hermann Engfer gezeichnete Kandidatenprofil Pacellis Sicht: „Das Hildesheimer Domkapitel stand nun vor einer schwierigen Bischofswahl in schwerer Zeit. Es ging darum, einen Kandidaten zu wählen, der die ideologischen Thesen des Nationalsozialismus in seiner Tragweite erkannte, der die Rechte der Kirche mutig verteidigte und die maßlosen Ansprüche des Regimes zurückwies und zugleich mit Klugheit und Bedacht den Gewalthabern begegnete.“ Engfer, Machens, S. 205. Die kirchliche Standfestigkeit ergab sich für Pacelli aus der theologisch-kirchlichen Prägung des Kandidaten, während der bedachtsame Umgang mit dem Staat sich darin zeigte, politisch nicht „auffällig“ geworden zu sein. 284

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oder zumindest eine Indifferenz gegenüber dem Recht der Kirche sowie der vertraglichen Vereinbarung. Daher bemerkte er, die Regierung müsse die Frist auch tatsächlich einhalten wollen. Mit dieser Diagnose lag er nicht falsch, da eine rechtzeitige Replik möglich gewesen wäre und nur am Willen Görings scheiterte. Weil das Kultusministerium seinen vorläufigen Einspruch nur als Aufschub verstand und schließlich mit 20 Tagen Verzögerung das Nihil obstat für Machens vorlegte, ging Pacellis Strategie in dieser Hinsicht auf. Die nach der Einsetzung des neuen Oberhirten in abstracto weitergeführte Debatte folgte der Hoffnung, der NS-Regierung irgendwie auf dem Weg klassischer Eingabepolitik Vertragstreue anzuerziehen und den Boden dafür zu bereiten, dass die nächste Bischofseinsetzung in dieser Hinsicht reibungsloser erfolgen würde. Dass Pacelli davon keineswegs überzeugt war, zeigt sich an der erwähnten Neuerung, dass er im Staatssekretariat die Daten von Bischofswahl, Notifikation und staatlicher Replik von nun an genau nachvollzog. 4. Zwei Gruppen von Informanten sind in diesem Fall zu unterscheiden: a) Abseits des Listenverfahrens wandte sich Pacelli in der Kandidatenfrage an zwei Ratgeber, deren Urteilen – einmal negativ und einmal positiv – er jeweils folgte. Von beiden verlangte er aber keine Namensvorschläge, sondern lediglich eine Einschätzung vorgegebener Personen: Zum einen ließ er durch Orsenigo beim Freiburger Erzbischof Gröber anfragen, ob eine Kandidatur Weihbischof Burgers sinnvoll war. Dass Gröber über diesen kompetent Auskunft geben konnte, liegt auf der Hand, aber die Anfrage erklärt sich wohl insbesondere daraus, dass er in der jüngsten Vergangenheit zu einem Vertrauten Pacellis herangereift war. In seinen Augen ein kompletter Kirchenfürst, hatte ihn der Kardinalstaatssekretär erst gut zwei Jahre zuvor von Meißen auf den Freiburger Metropolitansitz transferiert. Dort nahm Gröber sofort eine bedeutende Rolle in den badischen Konkordatsverhandlungen ein, bei denen er mit Pacelli in den wichtigen Punkten einer Meinung war.1117 Auch an den sich anschließenden Reichskonkordatsverhandlungen war der Freiburger Erzbischof auf Pacellis Wunsch hin beteiligt gewesen.1118 Dass Gröber noch zu dieser Zeit, insbesondere im Herbst 1933, „in einer Serie von überaus positiven Stellungnahmen zum Dritten Reich hervorgetreten“1119 war – erst Ende 1934 stellte sich bei ihm zusehends die Erkenntnis über die wahre Natur des Regimes ein –, konnte seine Rolle als vertrauensvoller Informant in Pacellis Augen offenbar nicht entscheidend schmälern. Zum anderen holte der Kardinalstaatssekretär beim Rektor des Innsbrucker Jesuitenkollegs, Pater Hofmann SJ, ein Votum über den Ex-Alumnen Machens ein. Da die scholastisch-theologi-

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Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.3.4 (Die Besetzung des Freiburger Erzbischofsstuhls in den Konkordatsverhandlungen). Hier sollte es freilich durchaus auch zu Spannungen zwischen Gröber und dem Kardinalstaatssekretär kommen. Vgl. dazu Bauer, Erzbischof. Ott, Gröber, S. 70. Vgl. zu Gröbers Haltung zum NS Schwalbach, Erzbischof (1986). 285

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sche Ausbildung des Hildesheimer Seminarprofessors in Innsbruck das Fundament für Pacellis Kandidatenentscheidung war, erscheint es folgerichtig, dass er sich dort über die theologischen Qualitäten des in Rede stehenden Geistlichen rückversicherte. Das implizierte natürlich, dass er dem Urteil des Jesuitenrektors vertraute. Ein solches Vertrauen wurde schon früher innerhalb des Münsteraner Besetzungsfalls deutlich, als Hofmann für Pacelli bereits als Informant diente.1120 Bei der Wiederbesetzung des Regensburger Bischofsstuhls 1927/28 hatte der Jesuit erstmalig Informationen zu episkopablen Geistlichen geliefert.1121 b) Waren diese informell und aus eigenem Antrieb konsultierten Geistlichen für Pacelli zentral, stellt sich die Frage, wie es in dieser Hinsicht um die Proponenten des konkordatären Listenverfahrens stand. Hier zeigt sich, dass die Vorschläge für den Kardinalstaatssekretär nicht entscheidend, aber auch nicht unerheblich waren. Einerseits platzierte er mit Mönch und Francken Kandidaten auf der Terna, die nur einen beziehungsweise keinen Unterstützer in Episkopat und Domkapitel hatten. Da Erstgenannter bereits ein „alter“ Wunschkandidat Pacellis war (vgl. Nr. 1), wird man nicht davon ausgehen können, dass Bornewassers Stimme zugunsten des Weihbischofs maßgeblichen Einfluss auf Pacelli ausübte, ihn für die Bischofswahl zu nominieren. Andererseits setzte er mit Algermissen und Machens zwei Geistliche auf die vorläufige beziehungsweise endgültige Dreierliste, welche die meisten Befürworter aller vorgeschlagenen Kandidaten gefunden hatten (Algermissen 4, Machens 3). Wäre Pacelli jedoch streng dem Gesamtmehrheitsverhältnis gefolgt, hätte die Terna aus Algermissen, Baumann und Machens bestehen müssen. Stattdessen strich er den ersten wieder und berücksichtigte den zweiten überhaupt nicht. Die Mehrheiten waren für Pacelli also letztlich nicht wesentlich. Was hatte Machens in Pacellis Augen Baumann voraus, dass er auf seine Liste kam und der Paderborner Weihbischof nicht? Wenn nicht die Anzahl, dann vielleicht die „Qualität“ der Proponenten? Auch das ist nicht anzunehmen, denn für Baumann optierten neben Klein ebenfalls Bares und das Domkapitel, die beide auch für Machens gestimmt hatten – insofern waren zwei ihrer drei Proponenten identisch. Daher muss der Unterschied in Pacellis Kandidatenprofil gesucht werden und hier wird man hinsichtlich des zentralen Theologiekriteriums fündig: Algermissen hatte bei den Jesuiten in Rom, Machens bei den Jesuiten in Innsbruck und Baumann in Paderborn sowie an der staatlichen Universität in Straßburg studiert – die beiden Erstgenannten entsprachen also Pacellis theologischen Vorstellungen, der Letztgenannte nicht. Machens lernte Pacelli erst aus den Voten des Domkapitels sowie der Bischöfe Bertram und Bares kennen und insofern waren diese in historisch-genetischer Perspektive dafür verantwortlich, dass er über jenen ein Gutachten von Hofmann anfordern und letztlich überhaupt für die Wahl 1120 1121

Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Pacellis eigene Kandidatensondierungen). Vgl. Bd. 3, Kap. II.2.3 (Die Kandidatentrias Michael Hofmanns und die Empfehlung Bischof Ludwig Hugos). 286

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nominieren konnte.1122 In autoritativer Hinsicht bedeutet jedoch die Tatsache, dass Pacelli noch ein weiteres Urteil über Machens einholte, dass ihm die Stimmen der drei preußischen Proponenten nicht ausreichten. Das gilt letztlich auch für Bares, der immerhin als bisheriger Hildesheimer Oberhirte bei Pacelli eine besondere Stimme für die Wahl seines Nachfolgers gehabt haben könnte. Darüber hinaus stand der Hildesheimer Domvikar bei Bares nur als zweiter, beim Domkapitel sogar nur als dritter auf dem Zettel. Hätte Pacelli also dezidiert ihr Votum berücksichtigen wollen, dann wären zunächst einmal andere Kandidaten zu benennen gewesen. Daher ist zu resümieren, dass der Kardinalstaatssekretär niemanden von den Vorschlagslisten aufgriff, weil dieser eine bestimmte Anzahl von Proponenten oder einen spezifischen Unterstützer gehabt hätte. Vielmehr durchsuchte er die Listen nach Geistlichen, die in sein zuvor festgelegtes Profil passten. Da aber immerhin zwei der Ternakandidaten auf den preußischen Vorschlagslisten standen, kann man durchaus festhalten, dass Pacelli dieselben „würdigte“. Da die Vorschläge der preußischen Hierarchie den Namen Machens in den Fall einführten, kam ihnen für dessen Ausgang entscheidende Bedeutung zu. 5. Über das Verhältnis von Pacelli zu Pius XI. beziehungsweise das Zusammenspiel beider lässt sich in diesem Fall wenig sagen. Der Pontifex tauchte im gesamten Verfahren – abgesehen von der formal ihm zukommenden Einsetzung des neuen Oberhirten ins Amt – nur zweimal auf: Zum einen habe Ratti, wie es in Pacellis Anweisung für Orsenigo hieß, die preußischen Vorschlagslisten geprüft und auf dieser Basis die römische Terna festgelegt. Diese Formulierung war aber letztlich nicht mehr als eine Standardformel, die in sich gar nicht beanspruchte, dass der Papst die römischen Kandidaten ausgewählt hatte. Wie schon bei den Ternen von Münster 1933 oder Berlin 1933/34 konnte auch in der causa Hildesheim eine reine Prüfung der Listen gar nicht zur faktisch vorgelegten Terna führen. Es war eine Formel, welche der hierarchisch-rechtlichen Kirchenverfassung geschuldet war, dergemäß der Papst die juristisch relevanten Entscheidungen traf. Da aber Staatssekretariat und Kardinalskongregationen in seiner stellvertretenden Gewalt handelten, konnte Pacelli die Kandidaten auswählen und gleichzeitig sagen, der Papst sei dafür verantwortlich.1123 Wenn außerdem Pacelli seinen Ternaentwurf Pius XI. vorlegte und bestätigen ließ, machte letzterer sich die Liste zu eigen und konnte sie in dieser Hinsicht dem Domkapitel durch den Nuntius „unterbreiten“, wie es in Pacellis Weisung hieß. Faktisch aber überlegte Pacelli sich die episkopablen Kandidaten, was aus verschiedenen Hinweisen deutlich wird: Auf der einen Seite aus den formalen Überlegungen, dass Pacelli der unbestrittene Deutschlandexperte der Kurie war und bei ihm ex professo die Fäden des Besetzungsfalls – insbesondere die Vorschlagslisten – zusammenliefen, die er für den Papst mindestens „aufbereiten“ musste. 1122

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Die entscheidende Information, dass Machens in Innsbruck studiert hatte, lieferte das Hildesheimer Domkapitel. Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 360. 287

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Auf der anderen Seite machte er sich bereits Gedanken über die Nachfolge Baresʼ, bevor überhaupt die Kandidatenvorschläge aus Preußen in Rom eintrafen und fokussierte eine Kandidatur Burgers. Seine informelle Anfrage an Hofmann, in der er sich auch für die Kandidatenkriteriologie – nämlich die theologische Ausrichtung (vgl. Nr. 1) – verantwortlich zeigte, formulierte er in seinem Namen und nicht etwa in dem des Papstes. Schließlich standen mit Francken und besonders Mönch zwei Kleriker auf der Dreierliste, die für Pacelli seit längerem erklärtermaßen episkopabel waren. Dass Pius XI. sich auch einmal gegen den Ternaentwurf seines Staatssekretärs entschied, lässt sich ohne eindeutige Quellen natürlich nicht ausschließen und ist vielleicht sogar im Hildesheimer Fall denkbar: Dies wäre zumindest eine Möglichkeit, die Streichung Algermissens zu erklären. Doch da diese wiederum zu Pacellis diplomatischer Linie passte, wie sie etwa im Umgang mit der staatlichen Verletzung der Einspruchsfrist zum Ausdruck kam (vgl. Nr. 3), und der ihm genehme Francken schließlich Algermissens Platz einnahm, scheint es nicht wahrscheinlich, dass die Streichung vom Papst ausging. Zum zweiten Mal trat der Pontifex in Erscheinung, als es um die Auseinandersetzung mit der staatlichen Fristüberschreitung ging. Die knappe Audienznotiz dokumentiert, dass der Kardinalstaatssekretär Haltung und Vorgehen der NS-Regierung mit dem Papst erörterte. Nach ihr verlangte Pius XI. eine Protestnote, damit die staatliche Konkordatsverletzung nicht zur Regel wurde. Inwieweit der Pontifex tatsächlich auf Pacellis Politik gegenüber Preußen- und Reichsregierung Einfluss nahm, lässt sich auf dieser Basis nicht im Einzelnen sagen. Klar scheint jedenfalls, dass ihn der Staatssekretär über die Grundzüge der Debatte auf dem Laufenden hielt und sich mit ihm abstimmte. Schaut man sich das Verhältnis Pacellis zum Nuntius an, so zeigt sich, dass ersterer eng die Zügel führte und letzterem wenig Eigenständigkeit zuerkannte. Sogar der Verfahrensauftakt ging von Pacelli aus, ohne dass der Stellvertreter des Papstes in Deutschland von vor Ort eine Mitteilung zur Sedisvakanz nach Rom geschickt hätte.1124 Während der Kardinal am Nuntius vorbei das Gutachten von Hofmann einholte, involvierte er ihn immerhin als Vermittler bei der Anfrage an den Freiburger Erzbischof. Als nach Eingang des staatlichen Plazets die Zustimmung des electus eingeholt werden musste, traute sich der Nuntius nicht einmal, diesen logischen Verfahrensschritt ohne Pacellis Auftrag auszuführen. Was Orsenigos (unvollständige) Kandidatensondierungen anging, so blickte er – anders als Pacelli – nicht über die Vorschlagslisten hinaus und erfüllte damit wortwörtlich die Anweisung des Staatssekretärs. Insgesamt hatten seine Beobachtungen für letzteren nur untergeordnete Bedeutung: Zwar erachtete er Machens genauso wie Pacelli für tauglich, hielt aber anders als dieser eine Kandidatur von Algermissen und Mönch – aus politischen beziehungsweise gesundheitlichen Gründen – jeweils für inopportun. Das verhinderte jedoch nicht, dass Pacelli Algermissen zunächst in Betracht zog und Mönch sogar favorisierte. 1124

Natürlich wusste Pacelli, dass das Hildesheimer Bistum vakant war, weil zuvor die Translation des bisherigen Oberhirten Bares nach Berlin stattgefunden hatte. Dennoch wäre es in formaler Hinsicht gewiss die Aufgabe Orsenigos gewesen, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, das Wiederbesetzungsverfahren zu eröffnen. 288

II.1.15 Berlin 1935

Auf den Umstand, dass beide die Frage nach dem Grund für die staatliche Fristüberschreitung unterschiedlich beantworteten, wurde bereits hingewiesen (vgl. Nr. 3). Aber nicht nur daran zeigt sich, dass Orsenigo gegenüber der Regierung offenbar nachgiebiger eingestellt zu sein schien: Als Pacelli ihm am 30. Mai – innerhalb der juristischen „Lehrstunde“, die übrigens den Eindruck erweckt, als sei er mit Orsenigos Einsatz für die kirchlichen Rechte gegenüber den Regierungsvertretern nicht zufrieden – den Auftrag erteilte, der Reichsregierung die Natur der Einspruchsfrist noch einmal zu erklären, wartete der Nuntius zunächst noch ab. Erst nachdem Pacelli ihm am 18. Juni erneut anwies, eine Verbalnote zu diesem Thema zu verfassen, führte Orsenigo die Anordnung aus – dann freilich in wortgetreuer Anlehnung an Pacellis Vorgabe. Dass Orsenigo bei der abschließenden Kontroverse durchaus nachdrücklich die Position des Heiligen Stuhls vertrat, auch wenn das Ergebnis aus römischer Sicht nur teilweise zufriedenstellend sein konnte, wird auch Pacelli nicht entgangen sein. Immerhin musste dieser sehr genau wissen, wie schwierig der diplomatische Umgang gerade mit dem NS-geführten Kultusministerium war. Vielleicht erklärt sich von dorther der Eindruck, Pacelli hätte die Verhandlungen des Nuntius am liebsten selbst geführt.

II.1.15 Zwei Ternen und ein Kandidat: Berlin 1935 (Konrad Graf von Preysing)1125 Der Tod von Bischof Nikolaus Bares Überraschend verstarb am 1. März 1935 nach nur vierzehnmonatiger Amtszeit der Berliner Oberhirte, Nikolaus Bares. Der Tod kam deshalb unerwartet, weil es – wie Nuntius Orsenigo tags darauf Kardinalstaatssekretär Pacelli versicherte  – in den vergangenen Monaten keinerlei Anzeichen für Krankheit oder Ermüdung bei ihm gegeben habe.1126 Im Gegenteil habe Bares mit „der gewöhnlichen jugendlichen Energie“1127 gearbeitet und an allen Aufgaben und Versammlungen,

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Berlin 1935 Adam, Auseinandersetzung, S.  49–60; Ders., Konrad, S. 216; Adolph, Hirtenamt, S. 117; Ders., Kardinal, S. 29f.; Brechenmacher, Teufelspakt, S.  624–628; Heim, Bischöfe, S.  157–185; Knauft, Bistum Berlin, S.  6f.; Ders., Preysing (2003), S.  58–70; Kuropka, Mann der Stunde, S.  48f.; Ders., Pfarrer und Bischof, S.  49–51; Leugers, Mauer, S. 48–57; Reiter, Ernennung, S. 74–77; Schwerdtfeger, Konrad, S. 55–69; Volk, Konrad, S. 93f.; Wolf, Papst, S. 69f. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 3r–4r. „… la solita giovanile energia …“ Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 3r. 289

II.1.15 Berlin 1935

wo seine Gegenwart gefragt war, angemessen teilgenommen.1128 Bei einer der üblichen mittwöchlichen Sitzungen der bischöflichen Kurie am 27. Februar aber habe er starke Magenschmerzen verspürt. Nach einer zwischenzeitlichen Besserung, während der Orsenigo ihn wegen einiger dringender Angelegenheiten aufgesucht habe, habe sich sein Zustand verschlimmert, woraufhin er am Freitag in die St. Hedwigsklinik eingeliefert worden sei. Der Nuntius besuchte ihn dort und fand nach eigener Angabe einen leidenden Bischof vor. Nachdem der Sterbende das viaticum und den Apostolischen Segen von ihm erhalten habe,1129 sei Bares nach kurzem Todeskampf im Beisein Bischof Bernings, des Domkapitels, einiger Priester, seiner Schwester und des Nuntius verstorben. Die Pressemeldung sei auch für den Berliner Klerus weitestgehend unerwartet gewesen und habe – so Orsenigo – allgemeine Trauer hervorgerufen. Mit einer abschließenden Huldigung bilanzierte Orsenigo den Episkopat des Verstorbenen: „Monsignore Bares war sehr geachtet nicht allein bei den Katholiken, sondern auch bei all denjenigen, welche die Delikatheit seiner Position und die Offenherzigkeit seines Vorgehens unter den Gefahren der gegenwärtigen Stunde begriffen haben.“1130 Das Domkapitel wählte am 2. März wie bei der vorangegangenen Vakanz der Diözese Generalvikar und Dompropst Paul Steinmann zum Kapitelsvikar und legte die Exequien auf den Monatssiebten fest, worüber der Nuntius umgehend seinen römischen Vorgesetzten informierte.1131 Ebenso wie zwei Jahre zuvor beim Tod Schreibers, als er das Requiem zelebriert hatte, nahm Orsenigo wieder an den Begräbnisfeierlichkeiten teil, denen diesmal Kardinal Bertram von Breslau vorstand.1132 Pacelli würdigte den seiner Ansicht nach zu früh verstorbenen Bares 1128

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Noch anlässlich der Feierlichkeiten im Berliner Sportpalast zum Krönungsjubiläum Piusʼ XI. am 12. Februar habe er „parlato con un calore straordinario, fra un crescendo di applausi, che erano la più bella testimonianza del magnifico intreccio dellʼamore, che lega Berlino al Santo Padre e al proprio Vescovo“. Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 3r-v. Orsenigo vergaß nicht, Pacelli zu berichten, wie Bares seine Freude über den Apostolischen Segen ausgedrückt habe: „Grazie, grazie di cuore! Rinnovo la mia professione di amore e fedeltà verso la Santa Sede.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 4r. Der Kardinalstaatssekretär sah in dieser Anhänglichkeitsbekundung eine Krönung seines bischöflichen Amtes. Die Verbundenheit Baresʼ mit dem Stellvertreter Christi könne für die deutschen Katholiken als leuchtendes Vorbild gelten. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 6. März 1935 (Entwurf), Pacelli an Orsenigo vom 6. März 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 6rv. „Monsignor Bares era molto stimato non solo presso i cattolici, ma anche presso tutti coloro, che avevano compreso la delicatezza della sua posizione e la franchezza del suo procedere fra le difficoltà dellʼora presente.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 4r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 2. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 5r. Ebenso wie dem Nuntius zeigte Steinmann seine Wahl dem preußischen Kultusministerium an. Der Nuntius berichtete ausführlich darüber, wie ihn der Leichenzug von der Kapelle des bischöflichen Palais bis zur St. Hedwigskathedrale beeindruckt habe. Die Teilnehmerliste reichte von mehreren preußischen Bischöfen über einige Staatsminister und den Vertretern des diplomatischen Corps bis zu den Abordnungen der katholischen Verbände. Orsenigo bemerkte, dass die Zeitungen zwar sämtlich 290

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als jemanden, der „tatsächlich unermüdlich gearbeitet hat, wie ein guter Soldat Christi, und sein ganzes Leben in den Dienst stellte für die Verteidigung und Stärkung der katholischen Kirche in Deutschland“1133.

Die Kandidatenvorschläge des preußischen Episkopats und des Berliner Domkapitels Der Kardinalstaatssekretär wollte die neuerliche Sedisvakanz der Reichshauptstadt schnell beendet wissen und wies Orsenigo noch am Tag der Beisetzung an, schleunigst den preußischen Episkopat sowie das Berliner Domkapitel aufzufordern, ihre Kandidatenvorschläge einzureichen, wie es der Artikel 6 des Preußenkonkordats bestimmte.1134 Bezugnehmend auf sein Schreiben vom 8. September 1933, in dem er die Modalitäten, wie die Namen von tauglichen Geistlichen vorzubringen seien, für die vorige Besetzung des Berliner Bischofsstuhls erlassen hatte, betonte Pacelli besonders das secretum Sancti Officii des Verfahrens und verfügte eine 15-tägige Eingangsfrist für die Vorschlagslisten in der Berliner Nuntiatur.1135 Diese Vorgaben berücksichtige Orsenigo in seinem schematisierten Zirkularschreiben an den preußischen Episkopat und den Berliner Dompropst Steinmann vom 11. März, in dem er den jeweiligen Adressaten bat, „dass er einen oder mehrere Kandidaten, sei es aus Berlin, sei es aus anderen Diözesen Deutschlands, vorschlägt, die er zur Leitung jener Kirche vor dem Herrn als geeignet ansieht, und auch über jeden einzelnen Kandidaten die Anmerkungen hinzufügt, die er als nützlich oder angemessen erachtet.“1136 einen Nekrolog des Verstorbenen veröffentlicht hätten, der aber jeweils nicht so umfangreich sei, wie bei seinem Amtsvorgänger. Dies führte der Nuntius auf die durch die Nationalsozialisten veränderte Presseberichterstattung über religiös-konfessionelle Themen zurück. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 8. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 9r–10v. Pacelli versicherte dem Nuntius, über die Ehrenbezeigungen für Bares und die Trauer, die sein Tod erzeugt habe, den Papst informiert zu haben. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 13. März 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 11rv. 1133 „… avere egli infatti lavorato strenuamente, come buon soldato di Cristo, per tutta la vita col servizio, e per la difesa ed il rafforzamento della Chiesa Cattolica in Germania …“ Pacelli an Orsenigo vom 6. März 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 6r-v. 1134 Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 7. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 1rv. 1135 Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.13 (Die Kandidatenvorschläge der preußischen Bischöfe und des Berliner Domkapitels). 1136 „… ut unum vel plures candidatos, sive ex Berolinensi, sive ex aliis Dioecesibus Germaniae proponat, quos ad istam regendam Ecclesiam idoneos coram Domino existimaverit, addendo etiam de unoquoque candidato illas omnes percontationes, quas utiles et opportunas judicaverit.“ Orsenigo an Steinmann vom 11. März 1935 (Entwurf, Zirkularschreiben), ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 3rv, hier 3v. Vgl. auch die gleichlautenden an die Bischöfe adressierten Entwürfe ebd., Fol. 4r–8v. 291

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1. Schon zwei Tage später sandte der Aachener Ordinarius, Joseph Vogt, seine Vorschlagsliste an die Nuntiatur, auf der er ausschließlich amtierende Diözesanbischöfe platzierte: a) Zunächst Konrad Graf von Preysing aus Eichstätt, über den er lediglich hinzufügte, ihn bei der vorangegangenen Berliner Sedisvakanz bereits vorgeschlagen zu haben.1137 b) Sodann Joseph Machens aus Hildesheim, „der, wenngleich er seine Diözese erst seit kurzer Zeit verwaltet, sich die Liebe und Anhänglichkeit der Gläubigen erworben und durch seine Leichenrede, die er zur Verehrung des verstorbenen Bischofs Nikolaus Bares seligen Angedenkens hielt, vorzüglich empfohlen hat“1138. c) An letzter Position rangierte schließlich Petrus Legge aus Meißen, dem Vogt attestierte, die durchaus schwierige kirchliche Situation in seiner Diözese klug, tatkräftig und mit Erfolg zu meistern. 2. Ausführlicher trug der schon genannte Joseph Machens von Hildesheim dem Nuntius seine Kandidatenüberlegungen vor, zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt.1139 Auch er brachte drei Namen in Vorschlag: a) Als erstes den Oberhirten von Osnabrück, Wilhelm Berning, der schon während der Berliner Besetzung 1933 zu den Favoriten des preußischen Episkopats gehört hatte. Berning müsse – so Machens – ohnehin häufig nach Berlin, um im Namen der deutschen Bischöfe mit der Regierung zu verhandeln.1140 Dies könne er umso leichter und einfacher und ohne Schaden für seine Diözese erledigen, wenn er Bischof von Berlin sei. Darüber hinaus stehe er in einem so guten Ruf, dass man ihn dort mit Freude empfangen würde. Als dritten Qualifikationspunkt nannte Machens eine Rednergabe, die Berning auch auf die Gegenwartsprobleme anwende. b) Dann dachte Machens an den Paderborner Philosophieprofessor und Dompropst, Paul Simon. Für ihn spreche ein erhebliches „wissenschaftliches Ansehen“, das sich in philosophischen und theologischen Publikationen manifestiere, „aus denen ein ebenso tiefer Glaube wie großes Wissen hervorleuchtet“1141. In elegantem Stil traktiere Simon insbesondere die Fragen der modernen Zeit. Außerdem beherrsche er nicht nur die Sprache der Akademiker, sondern auch die des einfachen Volkes. Schließlich sei er ein Mann von „edlem Geist, praktischer Klugheit, mit guten Umgangsformen ausgestattet, außerordentlich leutselig“1142. c) An letzter Stelle schlug der Hildesheimer

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Vgl. Vogt an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 9r. „… qui quamvis brevi tempore suam Dioecesim administraverit, amorem et adhaesionem fidelium sibi comparaverit et sermone funebri, quem in obsequiis defuncti Episcopi Nicolai Bares f. m. habuit, optime se commendaverit.“ Vogt an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 9r. Seinem Bericht vom 8. März über die Begräbnisfeierlichkeiten hatte Orsenigo eine Kopie der Leichenrede Machensʼ beigefügt, sodass Pacelli sich ein klares Bild von dessen Auftreten machen konnte. Vgl. Machens an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 11rv. Berning war seit 1933 Unterhändler des Episkopats bei der Reichsregierung. „Fama scientiae …“; „… ex quibus tam profunda fides quam magna scientia elucet.“ Machens an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 11v. „… mente nobilis, practice prudens, urbanitate magna praeditus, maxime affabilis.“ Machens an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 11v. 292

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Oberhirte den Gefreiten Prälaten von Schneidemühl, Franz Hartz, vor. Ihm schrieb er die nötige Leutseligkeit und Geistesstärke zu, mit den Behörden und der Regierung umgehen zu können. Außerdem könne er für sich verbuchen, eloquent zu sein sowie die Berliner Verhältnisse bereits zu kennen – Hartz war gut zehn Jahre in der Berliner Seelsorge tätig gewesen und noch kurz vor seiner Berufung nach Schneidemühl in das Domkapitel bei St. Hedwig eingegliedert worden. Diese persönliche Erfahrung war für Machens das, was Hartz „am meisten empfiehlt“1143. 3. Am 15. März stellte das Berliner Domkapitel seine Kandidatenliste zusammen, auf die es in entsprechender Reihenfolge a) der Münsteraner Bischof, Clemens August Graf von Galen, sowie die beiden Domherren aus den eigenen Reihen b) Heinrich Heufers und c) Georg Banasch schafften.1144 Eine Charakterisierung der beiden Letztgenannten fand Orsenigo in dem Papier nicht, da diese – wie Dompropst Steinmann anmerkte – dem Nuntius ausreichend bekannt seien. Stattdessen lieferte Steinmann eine lange Begründung für die Kandidatur Galens, der Orsenigo letztlich ebenso gut bekannt sein musste. Schon hieraus ergibt sich, dass der Münsteraner Oberhirte der klare Favorit des Kapitels war und die beiden Domkapitulare mehr oder weniger pro forma auf der Liste standen. Allerdings schienen die Ausführungen über Galen ausschließlich von Steinmann selbst und nicht vom gesamten Kapitel zu stammen,1145 sodass letztlich offen bleibt, ob die übrigen Kanoniker – insbesondere Heufers und Banasch – mit dieser einseitigen Konzentration auf den Münsteraner Oberhirten einverstanden waren. Warum war dieser für den bischöflichen Stuhl der Reichshauptstadt geeignet? Der Dompropst erinnerte an die fast 20-jährige Seelsorgstätigkeit als Vikar und Pfarrer, die der Graf erfolgreich in Berlin absolviert habe. Deshalb verfüge er über eine profunde Erfahrung und wisse um die Sorgen und Gefahren, welche die Diaspora mit sich bringe. Als damaliger Pfarrer und heutiger Bischof habe er sich immer als „ein starker, standhafter und furchtloser Mann gezeigt, der in der Verteidigung und im Schutz der wahren katholischen Lehre sehr verdient ist“1146. Als erbitterter Verteidiger der Wahrheit und unerschrockener Anwalt der katholischen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, werde Galen im Klerus und Volk geehrt und geliebt. Steinmann betonte schließlich noch die überaus ergebene Haltung des Grafen gegenüber dem Heiligen Stuhl. 4. Von dieser Hochschätzung seiner Person durch die Berliner Domherren beziehungsweise den Dompropst wusste Clemens August Graf von Galen nichts, als er am selben Tag von Münster 1143 1144 1145

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„… maxime commendat.“ Machens an Orsenigo vom 13. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 11v. Vgl. Steinmann an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 15r–16r (nur r). Er schrieb nämlich ausdrücklich in der 1. Person Singular: „Ceteri candidati supra nominati Excellentiae Vestrae ipsae tam noti sunt, ut me solutum habeam, de his sacerdotibus aliquid dicere.“ Steinmann an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 16r. Hervorhebungen R.H. „… fortem, constantem intrepidumque virum praestitit, qui de defendenda ac vindicanda doctrina vera catholica optime meritus est.“ Steinmann an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 16r. 293

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aus der Nuntiatur seine Wunschkandidaten benannte.1147 a) Auf Platz eins seiner Trias stand Bischof Preysing von Eichstätt, der 55-jährig noch in „unverbrauchter Schaffenskraft“ stehe, „einer musterhaft katholischen Familie“ entstamme und nach seiner Priesterweihe 1912 immer Aufgaben wahrgenommen habe, „welche ihm außergewöhnliche Gelegenheit boten, mit einem vorbildlich priesterlichen Leben allseitige Beobachtung der geistigen Strömungen unserer Zeit und kluge Einwirkung auf alle Bevölkerungskreise zu verbinden“1148. Der Graf lobte Preysings Bildung, seine Kenntnisse moderner Sprachen, seine juristische Ausbildung und die Erfahrungen, die er in seinem früheren diplomatischen Dienst für Bayern ebenso sammeln konnte wie in seiner Tätigkeit als Geheimsekretär des früheren Münchener Erzbischofs, Franz von Bettinger, und „als zeitweiliger Begleiter“1149 von Nuntius Pacelli. Aufgrund dieser Prägungen glaubte Galen, dass Preysing nicht nur ein frommer und seeleneifriger Hirte für die Berliner Diözesanen sein, sondern der deutsche Episkopat darüber hinaus „einen grundsatzfesten und imponierenden Repräsentanten in der Reichshauptstadt erhalten“1150 würde. b) Aus seinem eigenen Bistum schlug Galen anschließend den Regens des Priesterseminars (seit 1933), Arnold Francken, vor. Dem mittlerweile 60 Jahre alten Francken, der 1900 zum Priester ordiniert und acht Jahre später Subregens geworden sei, sei eine besondere Wertschätzung zuteil geworden, da Bischof Poggenburg ihn bereits 1923 ins Münsteraner Domkapitel berufen habe, was „ungewöhnlich und auffällig war“1151. In den vergangenen Jahren habe er ihn  – so Galen  – als seinen wichtigsten und vertrautesten Berater und Mitarbeiter schätzen gelernt und daher sei er überzeugt, dass Francken „sowohl durch Frömmigkeit und kirchliche Gesinnung, als auch durch Wissen, Klugheit, Erfahrung und Eifer geeignet ist, das bischöfliche Amt in Berlin zur Ehre Gottes und zum Heile der Seelen zu verwalten“1152. Außerdem sei Francken drei Jahre Vikar an St. Matthias Berlin gewesen und daher mit den dortigen Verhältnissen vertraut. c) Die Trias komplettierte der von Machens bereits vorgeschlagene Paderborner Dompropst Simon (53 Jahre), der 1907 die Priesterweihe empfangen habe. Da Simon auf Vorschlag des Heiligen Stuhls zum Propst des Metropolitankapitels erhoben worden sei, ihm also bekannt sein musste, verzichtete Galen auf eine ausführliche Charakterisierung. Doch war es ihm wichtig, darauf hinzuweisen, dass Simon kürzlich häufiger „als scharfer Beobachter und streng kirchlicher Beurteiler der modernen Zeitströmungen und Glaubensgefahren“1153 aufgetreten sei – vermutlich eine Anspielung auf Simons viel beachtete Schrift „My-

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Vgl. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17r–18r. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17r. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17r. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17v. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17v. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17v. Galen an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 17v. 294

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thos oder Religion“ von 1934, die sich gegen den NS-Totalitarismus, die Rasseideologie und den Antisemitismus wandte.1154 5. Der Bischof von Trier, Franz Rudolf Bornewasser, hielt zwei Geistliche für die Bischofswürde geeignet: a) wiederum Preysing (geboren 1880) und b) den Abt des Benediktinerklosters St. Matthias in Trier, Laurentius Zeller (geboren 1873).1155 Beide Männer seien „Vorbilder in der natürlichen Anlage, im festen Glauben, in der aufrechten Frömmigkeit und Sittenintegrität“1156. 6. Damian Schmitt aus Fulda deklarierte einzig Galen als idoneus für die Nachfolge Baresʼ.1157 Der Münsteraner Oberhirte sei durch seine langjährige Pfarrtätigkeit über die kirchlichen Konditionen in Berlin im Bilde, ebenso wie über die Schwierigkeiten, auf welche die deutsche Kirche gegenwärtig stoße. 7. Der Kölner Erzbischof, Karl Joseph Kardinal Schulte, befand den schon mehrfach proponierten Preysing für „würdig und geeignet“1158. Als bereits erfahrener Bischof werde dieser dank seiner Fähigkeiten, seiner Offenheit, Standfestigkeit und Charakterunabhängigkeit sehr schnell in der angespannten kirchlichen Lage in Berlin „Boden gewinnen“1159. 8. Der Erzbischof von Breslau, Adolf Kardinal Bertram, traute sich ein Urteil über die Eignung von Priestern aus dem Berliner Klerus nicht zu, zumal er die Ansicht vertrat, Orsenigo sei mit den hiesigen Verhältnissen besser vertraut als ein auswärtiger Oberhirte.1160 a) Als tauglich beurteilte er jedoch einen Diözesanbischof, der aus dem Berliner Klerus hervorgegangen sei, nämlich Galen.1161 Da Bertram nach eigener Beschreibung früher bei Aufenthalten in Berlin häufig bei Galen gewohnt hatte, glaubte er, aus persönlich fundierter Kenntnis behaupten zu können: „Ich halte ihn nach kirchlicher Treue, Kenntnis der kirchlichen Verhältnisse Deutschlands, Wachsamkeit, mutigem Auftreten und vornehmer Zurückhaltung für den besten Kandidaten.“1162 b) Auch Preysing, Vgl. Simon, Mythos. Vgl. dazu Baumgärtner, Weltanschauungskampf, S.  185–190; Riesenberger, Dompropst, S. 43–45. 1155 Vgl. Bornewasser an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 19r. 1156 „… exemplares ingenio, fide firma, pietate sincera, morum integritate.“ Bornewasser an Orsenigo vom 15. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 19r. 1157 Vgl. Schmitt an Orsenigo vom 16. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 20r. 1158 „… degno ed appropriato …“ Schulte an Orsenigo vom 17. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 22r. 1159 Vgl.: „Questo è un vescovo provato, che grazie alla sua abilità e alla schiettezza, fermezza, indipendenza del carattere presto guadagnerà terreno nella così difficile situazione di Berlino.“ Schulte an Orsenigo vom 17. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 22r. 1160 Vgl. Bertram an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 24r–25r. 1161 Eigentlich entstammte Galen dem Münsteraner Klerus, doch ordnete ihn Bertram offensichtlich angesichts dessen langjähriger Seelsorgstätigkeit in der Reichshauptstadt der Berliner Geistlichkeit zu. 1162 Bertram an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 24r. 1154

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der gemeinhin als möglicher Kandidat gehandelt werde, sei geeignet. Doch schränkte Bertram das positive Votum deutlich ein: „Ob er an Sicherheit des Urteils und Agilität des Auftretens die gleiche Eignung wie Bischof Galen hat, wage ich nicht zu behaupten.“1163 c) Als weiteren Kandidaten hob der Kardinal den ebenfalls schon häufiger genannten Simon heraus, dem er ein gutes Bild in der Öffentlichkeit zuschrieb. Allerdings sei sein Ordinarius Klein fähiger, ihn angemessen zu bewerten. Jedenfalls sei „eine baldige Entscheidung“ in der Berliner Bischofsfrage „dringend zu wünschen“1164. 9. Antonius Hilfrich von Limburg brachte zwei Namen vor: a) Berning und b) den Kölner Generalvikar, Emmerich David.1165 „Beide sind gestandene Autoritäten und erfahrene Gelehrte, wie es für einen Bischof der Hauptstadt notwendig scheint.“1166 10. Gleichzeitig mit Bertram und Hilfrich – am 23. März – sandte schließlich auch der mehrfach vorgeschlagene Osnabrücker Ordinarius seine Liste nach Berlin.1167 a) Zunächst schlug Berning Preysing vor, der nicht nur standhaft die kirchlichen Axiome vertrete, sondern auch der physischen Seite nach den fraglichen Anforderungen gerecht werde. b) Gänzlich neu im Kandidatenpool war der Name des Paderborner Weihbischofs, Augustin Baumann, „der mit großem Eifer und Erfolg in der Großstadtseelsorge gewirkt hat und eine besondere Liebe zur Diaspora hat“1168. c) Abschließend fiel ein weiteres Mal der Name Simon, bei dem Berning Wissenschaft, Frömmigkeit und die Fähigkeit, die kirchlichen Interessen klug zu vertreten, hervorhob.

Orsenigos Votum für Preysing und die Nachzügler Kaller und Klein Nachdem die letzten drei genannten Vorschlagspapiere kurz vor Ablauf der Rückmeldungsfrist die Nuntiatur erreicht hatten – Stichtag war der 26. März –, wartete Orsenigo nicht länger und übermittelte dem Kardinalstaatssekretär unter dem Datum des 25. des Monats die gesammelten Dokumente.1169 Dies war eigentlich noch einen Tag zu früh angesichts der Tatsache, dass sich 1163 1164

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Bertram an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 24v. Bertram an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 25r. Gleiches galt nach Bertram auch für die Bestellung des Militärbischofs, für welches Amt er den Hildesheimer Domvikar Konrad Algermissen vorschlug. Vgl. zur Besetzung der Feldpropstei Bd. 2, Kap. II.1.16 Anm. 1316. Vgl. Hilfrich an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 27r. „Ambo sunt probatae auctoritatis et sunt experientia docti, sicut necessarium videtur pro episcopo in urbe capitali.“ Hilfrich an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 27r. Vgl. Berning an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 29rv. Berning an Orsenigo vom 23. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 29r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 25. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 12r–13r. Die Abschriften der Vorschlagslisten ebd., Fol. 14r–24v. 296

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die (Erz-) Bischöfe von Ermland und Paderborn noch nicht gemeldet hatten. Der Nuntius versprach Pacelli aber, sie nachzusenden, sobald sie einträfen. Die 13 bislang vorgebrachten Geistlichen ordnete er nach der Anzahl ihrer Befürworter: Preysing stand unangefochten auf Rang eins (6, darunter die beiden Kardinäle, Schulte und Bertram), dann Simon (4, wobei Orsenigo fälschlich nur von 3 Proponenten sprach und Galens Unterstützung für Simon vergaß), Galen (3), Berning (2) sowie alle übrigen mit einer Stimme. Gemäß der Anweisung Pacellis musste Orsenigo seine persönliche Meinung zu den einzelnen Geistlichen hinzufügen. Jedoch glaubte er, nicht viel ergänzen zu brauchen, weil die Personen hinlänglich bekannt und im Vergleich mit den Vorschlagslisten früherer Besetzungsfälle wenig neue Namen hinzugekommen seien.1170 Außerdem vereine sich die Stimme des Episkopats so eindeutig auf Preysing, dass man darin menschlich gesprochen die sicherste Gewähr für dessen Eignung besitze. Die Hochschätzung Preysings durch die preußischen Bischöfe fand Orsenigo in seinen wenigen und kurzen eigenen Begegnungen mit ihm bestätigt. Darüber hinaus war ihm auch klar, dass Pacelli den Eichstätter Oberhirten persönlich sehr gut kannte. Die Tatsache, dass Preysing nicht auf dem Zettel des Berliner Domkapitels stand, obwohl er sich in Berlin gemeinhin eines guten Rufs erfreue, hielt er schließlich nicht für verwunderlich. Hier sei der alte preußische Patriotismus am Werk, der auch vor der kirchlichen Ämtervergabe nicht haltmache. Damit schloss sich der Nuntius dem Votum der meisten Bischöfe an und favorisierte Preysing als Nachfolger des verstorbenen Bares. Die beiden Kanoniker, die das Berliner Domkapitel aus dem eigenen Gremium auf seine Liste gesetzt hatte, sollten nach Orsenigos Dafürhalten lediglich einen Dreiervorschlag komplettieren und waren demnach nicht ernst zu nehmen. Heufers habe seinerzeit schon den Stuhl des heiligen Ludgerus in Münster aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt.1171 Banasch wiederum besitze zwar Verwaltungsqualitäten, sei jedoch ein „unbeholfener Redner“1172. Kurz nachdem Orsenigo dieses eindeutig auf Preysing zugeschnittene Kandidatenbild für Pacelli gezeichnet hatte, trafen in der Nuntiatur die Vorschläge des Ermländer Oberhirten, Maximilian Kaller ein.1173 Mit a) Berning und b) Galen brachte er keinen neuen Namen ins Gespräch. Ersterer sei „ein gelehrter, energischer, erfahrener Mann, der mit bemerkenswertem Charakter ausgestattet ist und alle Angelegenheiten geistig sehr schnell erfasst.“1174 Letzterer sei ähnlich begabt, „ein 1170

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Dieses Urteil war zutreffend. Vgl. die Liste aller Kandidatenvorschläge laut Preußenkonkordat in Bd. 4, Anhang 1.3. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil eins: Heinrich Heufers). „… oratore impacciato.“ Orsenigo an Pacelli vom 25. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935– 1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 13r. Vgl. Kaller an Orsenigo vom 25. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 31rv. „… vir doctus, energicus, peritus, praeditus mira indole citissime omnes res animo completi.“ Kaller an Orsenigo vom 25. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 31r. Ähnlich lautet auch eine Charakte297

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entschlossener Verteidiger des Glaubens und der Kirche, ein Mann ohne Furcht“1175 wie Kaller wohl in Anlehnung an dessen bischöflichen Wahlspruch nec laudibus nec timore formulierte. c) Für den Fall, dass jemand nominiert werden sollte, der noch nicht mit dem bischöflichen character ausgestattet war, dachte Kaller an den Berliner Domkapitular Bernhard Lichtenberg. Dieser habe zwar nicht promoviert, sei aber dennoch „ein frommer, gelehrter, kluger, tatkräftiger Mann, ein unermüdlicher Arbeiter und hervorragender Prediger“1176. Fast 35 Jahre habe er im Berliner Weinberg ehrenvoll und fruchtbar gewirkt. Diesen neuen Vorschlag machte Orsenigo umgehend wieder zunichte, als er am 28. März das Skriptum Kallers ans römische Staatssekretariat schickte: Lichtenberg sei kein Mann für ein Leitungsamt und genauso habe auch der 1933 verstorbene Bischof Schreiber geurteilt, obwohl dieser sehr gewünscht habe, Lichtenberg aufgrund seiner großen Verdienste um das priesterliche Leben in höhere Ehren zu bringen.1177 Ganz grundsätzlich plädierte Orsenigo abschließend dazu, Kallers Vorschläge nicht mehr zu berücksichtigen, weil sie zu spät eingetroffen seien: „Die Zeit ist abgelaufen.“1178 In noch größerem Maße galt das für den letzten Nachzügler, den Erzbischof von Paderborn. Klein nutzte sein konkordatäres Recht erst am 30. März und legte zwei schon häufig genannte Namen vor: a) Berning und b) Simon.1179 Klein erinnerte, dass er den Osnabrücker Oberhirten schon anlässlich der vorangegangenen Berliner Sedisvakanz empfohlen habe. Diese Empfehlung gelte heute nach wie vor, vor allem weil dadurch die vielen Reisen nach Berlin entfallen würden, die dieser als Unterhändler der Bischöfe antreten müsse. Mit Berning gäbe es einen Bischof, der sich durch Eifer, Klugheit und Umsicht auszeichne und das sei die Hauptsache. Darüber hinaus würde dieser im Verbund mit dem Nuntius die kirchlichen Interessen bei den staatlichen Behörden geschickt vertreten. Dompropst Simon schließlich, 1882 geboren und 1907 zum Priester geweiht, sei kirchlich gesinnt und besitze „hervorragende Eigenschaften des Geistes u[nd] Herzens“1180. Im akademischen Raum werde er geachtet, im zwischenmenschlichen Umgang verhalte er sich liebenswürdig und im Verkehr mit den staatlichen Stellen ge-

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risierung Walter Adolphs: „Preysing besaß eine ungewöhnlich hohe Intelligenz. Immer wieder überraschte es seine Mitarbeiter, wie schnell er eine Lage geistig erfaßte und wie treffsicher er sie beurteilte.“ Adolph, Kardinal, S. 16. „… defensor fidei et Ecclesiae strenuus, vir sine timore.“ Kaller an Orsenigo vom 25. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 31r. „… vir pius, doctus, prudens, strenuus et indefessus operarius et concionator egregius …“ Kaller an Orsenigo vom 25. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 31v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 28. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 26r. „… il tempo utile è scaduto.“ Orsenigo an Pacelli vom 28. März 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 26r. Vgl. Klein an Orsenigo vom 30. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 33r–34r. Klein an Orsenigo vom 30. März 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 33v. 298

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schickt. Trotz der massiven Verspätung enthielt Orsenigo dem Heiligen Stuhl Kleins Expertise nicht vor und telegraphierte die beiden Namen umgehend an Pacelli, bevor er ihm wenig später eine Abschrift zukommen ließ.1181

Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin Die im Staatssekretariat eingegangenen Vorschlagslisten – übrigens inklusive der beiden verspäteten – führte Minutant Maurilio Silvani zu einem einzigen Syllabus zusammen, sortierte die Kandidaten nach ihrem Stand (Bischöfe, Prälaten und Priester, Religiose) und innerhalb der Standesgruppe alphabetisch. Zwar fügte er auch den Namen des jeweiligen Proponenten hinzu, doch deren Bewertungen sparte er aus.1182 Am 2. April ließ Pacelli über Pizzardo, den Sekretär der AES, zwei

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 1. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 31r und Orsenigo an Pacelli vom 2. April 1935, ebd., Fol. 36r. Vgl. Kandidatenzusammenstellung Silvanis vom April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 25rv. Keine Berücksichtigung fanden zwei informelle Kandidatenvorschläge, deren erster mit „Dr. Heinz sen.“ unterschrieben war und deren zweiter von einer anonymen Berliner Diözesanin stammte. Heinz zeichnete das Bild eines gänzlich autoritär auftretenden Bischofs, der in der Lage sein müsse, dem NS-Regime Paroli zu bieten: „Ich glaube die Grenzen mir zulässiger Initiative nicht zu überschreiten, wenn ich auf den Nutzen hinweise, den es haben muss, wenn der Ideologie unserer Staatsführung das Gewicht einer Persönlichkeit gegenübergestellt werden könnte, die die Möglichkeiten einer Verständigung auszuschöpfen versteht, der aber zugleich für den Fall des Misslingens für die dann gegebenen Notwendigkeiten das Gewicht einer überragenden persönlichen Kraft sowohl im Verhältnisse zum Staate, wie zum deutschen Katholizismus innewohnt. Ich sehe das Problem darin, dass eine vitale und politisch unvorbelastete Persönlichkeit in Frage kommen sollte, die auf Grund ihrer rein menschlichen Eigenschaften Seiten anklingen lässt, die sowohl dem politischen Typ unserer Staatsführung gemäß und ebenbürtig erscheinen müssen, die zugleich mit denselben Eigenschaften moralisches Gewicht und überzeugendes Ansehen beim deutschen Episkopat zu erringen vermag.“ Eine solche Persönlichkeit sei der Oblatenmissionar, Pater Paul Schulte – wegen seiner Gründung der „Missions-Verkehrs-Arbeitsgemeinschaft“ (MIVA) auch der „Fliegende Pater“ genannt  –,  der sich wegen seiner militärischen Laufbahn im Ersten Weltkrieg – Schulte war Sanitäter und später Lehrer für Jagdpiloten gewesen – den Respekt von Joseph Goebbels, Hermann Göring und Adolf Hitler erworben habe. Vgl. Heinz an Pacelli vom 16. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 41r–45r (nur r), hier 41r–42r. Vgl. über Paul Schulte Schulte/​Lembeck, Pater. Das zweite anonyme Schreiben, mit schwärmerischen Zügen durchsetzt, wünschte sich den Münchener Jesuitenpater Peter Lippert  –  dieser war durch reichhaltige Publizistik und zahlreiche Rundfunkansprachen auch in Berlin bekannt geworden – als neuen Bischof der Reichshauptstadt. Während der Kandidat von Heinz ausschließlich politischen Erwägungen entsprang, favorisierte die Diözesanin Lippert aus spirituell-religiösen Gründen: Dieser werde „das bringen, was allein uns jetzt in Übermaß nottut: ein Gebetsleben ohne gleichen“. Vgl. anonymes Schreiben an Pius XI. ohne Datum, S.RR.SS., 299

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Geistliche vom Heiligen Offizium überprüfen.1183 Interessanterweise war der erste – Heinrich Heufers – vom Nuntius nur als „Füllkandidat“ des Domkapitels deklariert worden, während der zweite – Wendelin Rauch, Professor für Moraltheologie am Mainzer Priesterseminar – gar nicht zum Kandidatenfundus der preußischen Kirche gehörte. Doch nur der Letztgenannte stand schließlich auf der Dreierliste, die Pacelli am 7. April nach Rücksprache mit und im Namen des Papstes an die Berliner Nuntiatur sandte, damit das Berliner Domkapitel aus ihr den künftigen Oberhirten wählen konnte.1184 Sie lautete: 1. Konrad Graf von Preysing, der einer Überprüfung durch das Sanctum Officium nicht bedurfte, weil er bereits Bischof war; 2. Paul Weber, Berliner Kanoniker und 3. Wendelin Rauch. Pizzardo kommunizierte den Namen Weber erst über eine Woche später der obersten Glaubensbehörde, was natürlich zu spät war, um eventuelle Einwände vorbringen zu können.1185 Die weiteren um die Bischofswahl kreisenden Anweisungen, die Pacelli dem Berliner Nuntius mitsamt der Terna vorlegte, hatten sich im Verlauf der nachkonkordatären Besetzungspraxis fest etabliert:1186 die Betonung des secretum Sancti Officii über alle Interna der Wahlversammlung der Kapitulare, der Auftrag an das Domkapitel, gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats die Regierung um politische Bedenken gegen den Neugewählten anzugehen sowie die Aufforderung an Orsenigo, den Namen des electus und den Tag mitzuteilen, an dem dieser der Regierung bekannt gegeben worden war. Letzteres war für den Kardinalstaatssekretär deshalb so bedeutend, weil die nationalsozialistische Staatsregierung die im Schlussprotokoll des Reichskonkordats vorgesehene 20-tägige Einspruchsfrist schon mehrfach überschritten hatte. Mit einer mittlerweile standardisierten Formel erklärte Pacelli einen staatlichen Widerspruch für unwahrscheinlich. Sollte sich aber dennoch Einspruch erheben, sei – so Pacelli – die angegebene Begründung umgehend an den Heiligen Stuhl zu richten

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AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 48r–51v, hier 49r. Vgl. über Peter Lippert Schatz, Jesuiten, S. 265; Troxler, Lippert. Vgl. Pizzardo an Canali vom 2. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 29r und 30r. Vgl. die jeweils positive Antwort Canalis an Pizzardo vom 5. April 1935, ebd., Fol. 32r und 33r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 7. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 37r–38r. Der von Brechenmacher, Teufelspakt, S. 626 angegebene 5. April als Datum, an dem Pacelli die Terna „den Kapitularen in Berlin“ vorgelegt habe, bezieht sich auf den Entwurf des Schreibens und ist daher nicht korrekt. Darüber hinaus ist die Datumsangabe des Entwurfs ohnehin unsicher, insofern diese erst nachträglich ergänzt und zudem mit einem Fragezeichen versehen wurde, da man im Staatssekretariat selbst nicht mehr genau wusste, wann der Text angefertigt worden war. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 5. April 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 34rv. Vgl. Pizzardo an Canali vom 16. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 38r und die erwartete positive Antwort Canalis an Pizzardo vom 24. April 1935, ebd., Fol. 39r. Vgl. etwa die Anordnungen im Hildesheimer Fall 1934 Bd. 2, Kap. II.1.14 (Pacellis Terna: Unterstützung für Machens und Francken vor Algermissen). 300

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und auf Instruktionen zu warten. Eine Neuwahl durch das Kapitel ohne vorangegangene Kommunikation mit Rom stellte er unter die „Strafe der Nichtigkeit“1187. All diese Anweisungen gab der Nuntius pflichtgetreu an Kapitelsvikar Steinmann weiter, freilich erst am 25. April, also mit einer Verzögerung von zweieinhalb Wochen.1188 Diese lag zum einen darin begründet, dass Orsenigo zwischenzeitlich nicht in Berlin weilte, sondern am 2. April eine Italienreise angetreten hatte und daher die Terna erst nach seiner Rückkehr weiterleiten konnte.1189 Zum anderen hatte die Verzögerung eine inhaltliche Ursache, denn Orsenigo veränderte im Vergleich zu Pacellis Weisung ein durchaus wichtiges Detail der Terna: nämlich die Kandidatenabfolge. Rauch tauschte mit Weber den Platz und rückte an die zweite Stelle der Liste. Die endgültige Dreierliste, aus der die Berliner Domkapitulare den Bischof wählten, sah damit in der Reihenfolge der Namen anders aus, als der Kardinalstaatssekretär ursprünglich vorgesehen hatte. Wie kam diese Modifikation zustande? Hatte der Nuntius etwa gegen die römische Vorgabe gehandelt? Wie aus einem späteren – wohl absichtlich kryptisch gehaltenen und mit vagen Andeutungen gespickten – Bericht vom 2. Mai hervorgeht, machte Orsenigo in Italien nicht bloß Urlaub, sondern suchte Pacelli in Rom auf, besprach mit ihm die Berliner Besetzungsangelegenheit und erhielt mündliche Instruktionen.1190 Diese bestanden offenbar unter anderem darin, „klug die Absichten des anderen Kandidaten, der für die Terna in Erwägung gezogen wurde“1191, zu sondieren, womit er wahrscheinlich auf die Bereitschaft von Heufers anspielte, eine mögliche Wahl anzunehmen. Diesen besuchte Orsenigo auf Pacellis Anweisung unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien persönlich, vermutlich am 24. oder 25. April. Dass es sich um Heufers handelte, legt sich nicht nur deshalb nahe, weil Pacelli ihn vom Heiligen Offizium als Kandidaten überprüfen ließ, wenngleich 1187

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Vgl.: „Qualora il Governo, per quanto ciò non sembri probabile, sollevasse obbiezioni, il Capitolo è tenuto a comunicare subito alla Santa Sede le ragioni addotte dal Governo stesso e ad attendere le istruzioni, prima di procedere ad una nuova elezione, e ciò sub poena nullitatis novae electionis.“ Pacelli an Orsenigo vom 7. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 37v–38r. Hervorhebung im Original. Vgl. Orsenigo an Steinmann vom 25. April 1935 (Entwurf), ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 39r–40r (nur r). Vgl. den Hinweis in der Aufzeichnung Bülows vom 2. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 82f. (Nr. 80). Vgl. die Andeutung: „… in conformità alle istruzioni concordate a voce con Vostra Eminenza …“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 2r–3r, hier 2v. Womöglich bezieht sich darauf auch die Notiz Pacellis aus seiner Audienz bei Pius XI. vom 7. April, also von dem Tag, an dem er die erste Ternafassung für Orsenigo fertigstellte: „Da vedere quando sarà a Berlino e poi là vedrà cosa si possa fare“, was so viel bedeutet wie: „Sehen wann er [sc. Orsenigo, R.H.] in Berlin sein wird und dann wird er schauen, was man in dieser Sache unternehmen kann“. Audienznotiz Pacellis vom 7. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 351, Fol. 79r. „… prudentemente i propositi dellʼaltro candidato preso in considerazione per la terna …“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 2v. 301

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er dann doch nicht auf der römischen Terna zu finden war und eben nur für diese „in Erwägung gezogen wurde“. Sondern auch, weil Orsenigo – wie er berichtete – bei seinem Besuch den Eindruck erhielt, „dass er [sc. Heufers, R.H.] die ersten Schritte zu seiner Wahl nicht behindert hätte, wie er auch nicht den Einschluss in die Terna [sc. des Berliner Domkapitels, R.H.] behindert hat, wiewohl er jedoch erklärt hatte, dass seine Gesundheit nicht für ein ähnlich gewichtiges Amt geschaffen war“1192. In der Tat stand Heufers auf der Dreiervorschlagsliste des Berliner Domkapitels und das obwohl er sich bei der Besetzung des bischöflichen Stuhls von Münster 1933 mit Rekurs auf seine mangelnde Gesundheit geweigert hatte, seine Wahl anzunehmen. Jetzt aber hatte er nichts getan, um seiner Aufstellung als möglicher Nachfolger von Bares entgegenzuwirken. Im Gegenteil habe er sich bei der mündlichen Unterredung – so Orsenigo – zweifelnd und unsicher gegeben, was seine eigenen Ambitionen auf den Bischofshut anbelangte und habe geschwiegen, um vom Nuntius – wie dieser vermutete – zu erfahren, ob er auf der römischen Terna stand oder nicht. Doch Orsenigo erwies Heufers diesen Gefallen nach eigenen Angaben nicht, sondern erklärte ihm nur, dass der Heilige Stuhl sich um seinen Gesundheitszustand sorge. Natürlich war das ein leicht durchschaubarer Vorwand, den Orsenigo hier bemühte, weil ein solcher Besuch zu diesem Zeitpunkt mit der brennenden Besetzungsfrage zusammenhängen musste. Die erhoffte Einsicht, welche Entscheidung Heufers bei seiner etwaigen Bischofswahl treffen würde, hatte Orsenigo durch dieses Gespräch nicht in ausreichendem Maße erhalten. Deshalb legte er sich eine weitere Strategie zurecht, um das Ergebnis der Wahl antizipieren zu können: Er fertigte nämlich zwei Schreiben an mit zwei verschiedenen Ternaversionen. Mit beiden in der Tasche suchte er am 25.  April den Berliner Dompropst Steinmann auf. Die Unterhaltung mit diesem sollte ihm weitere, entscheidende Erkenntnisse liefern: „Dort erfuhr ich, dass, während der erste den Bitten und dem Insistieren der Kollegen widerstanden hatte, die ihn in die Liste eingliedern wollten (eine Nachricht, die ich zuvor vollkommen ignoriert hatte), der zweite still zur Verwunderung der Kollegen angenommen hatte.“1193 Diese vage Aussage bedeutete, dass der erste – nämlich Weber – gerne von seinen Confratres im Domkapitel auf die Vorschlagsliste gesetzt worden wäre, die es am 15. März an die Nuntiatur gesandt hatte. Doch hatte sich dieser

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„… che non avrebbe impedito le prime fasi della sua elezione, come infatti non aveva impedito lʼinclusione nella terna, pur dichiarando che però la sua salute non era fatta per un peso simile.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 2v. Im Staatssekretariat wurde schließlich die anonyme Angabe Orsenigos am Rand handschriftlich mit dem Namen Heufers entschlüsselt, was die Richtigkeit der hier angestellten Überlegungen bestätigt. „… là seppi, che mentre il primo aveva resistito alle preghiere e insistenze dei Colleghi che lo volevano includere nella lista (notizia che prima ignoravo affatto), il secondo aveva silenziosamente accettato con sorpresa dei Colleghi stessi.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 2v–3r. 302

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seiner Nominierung inständig und erfolgreich widersetzt. Der zweite jedoch – Heufers – hatte seine Aufstellung als Kapitelskandidat stillschweigend akzeptiert, worüber man sich selbst im Kapitel wunderte. Für Orsenigo war das eine fundamentale Information, denn auf ihr fußte seine Entscheidung, welche der beiden präparierten Ternen er als die römische Wahlliste aushändigen würde: „Ich wählte also den sichereren Weg und übergab ihm [sc. Steinmann, R.H.] die Liste mit dem Namen Weber.“1194 Was war daran sicherer? Orsenigo konnte davon ausgehen, dass Weber seine Wahl zum Bischof von Berlin nicht annehmen würde, wenn er sich schon händeringend gegen seine bloße Aufstellung auf die Kapitelsliste gewehrt hatte. Heufers hingegen schien seine Wahl zu befürworten. Aus dem Skizzierten folgt: Pacelli suchte einen Alibikandidaten für die Terna, der mit möglichst großer Sicherheit nicht gewählt beziehungsweise eine etwaige Wahl nicht annehmen würde. Derjenige von Weber und Heufers, der die größere Gewähr in dieser Hinsicht bot, sollte auf der römischen Dreierliste platziert und zur Wahl gestellt werden. Zuerst dachte Pacelli an Heufers,1195 da dieser seinen Willen, eine Bischofserhebung abzulehnen, vermeintlich bereits in Münster zum Ausdruck gebracht hatte – doch völlig sicher war er sich hierbei nicht. Sollte Heufers wider Erwarten doch Bischof werden wollen, lag es nahe anzunehmen, dass er als Berliner Domkapitular auch gewählt würde. Um also Klarheit zu erhalten, beauftragte er Orsenigo damit, die Absichten Heufersʼ in einem persönlichen Gespräch herauszufinden. Nachdem dies fehlschlug, kam der Nuntius auf die Idee, den Dompropst auszuhorchen. Um auf jedes Ergebnis vorbereitet zu sein, fertigte er im Vorfeld zwei Ternavarianten an, die folgerichtig lauteten: 1. Preysing, Rauch, Weber und 2. Preysing, Rauch, Heufers. Da Heufers offenbar im Gegensatz zu seinem Kollegen Weber seiner Wahl nicht abgeneigt war, überreichte Orsenigo dem Domkapitel die erste Terna. Um die Platzhalterrolle noch zu verstärken, tauschten Rauch und Weber im Vergleich zur ersten Fassung der Dreierliste, die Pacelli am 7.  April erstellt hatte, außerdem noch die Plätze. Weber, dessen Wahl unerwünscht war, rangierte nun auf dem dritten Platz, Rauch rückte vor. Dies bedeutete nicht, dass Pacelli und Orsenigo sich Rauch als Berliner Oberhirten gewünscht hätten. Vielmehr war der Professor des Mainzer Priesterseminars für die Domherren kein Kandidat, dessen Wahl sich aufdrängte.1196 Sollte er aber wider Erwarten doch gewählt werden, hätte der Kardinalstaats-

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„Scelsi allora la via più sicura e gli consegnai la lista col nome Weber.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 3r. Daher stand dessen Name auch zunächst im Ternaentwurf, der dann jedoch gestrichen und durch den Namen Weber ersetzt wurde. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 5. April 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 34v. So auch die Einschätzung von Wolf, Papst, S. 69 sowie Brechenmacher, Teufelspakt, S. 626, wenn dieser konstatiert, dass die Terna neben Preysing „zwei weitere, bisher nicht genannte und nicht ernsthaft in Frage kommende Kandidaten auf Platz zwei und drei aufführte“. 303

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sekretär sehr gut mit diesem Ergebnis leben können, da Rauch für ihn eine persona gratissima war, die beispielsweise fast zeitgleich an der Spitze der römischen Terna für die Mainzer Bischofswahl 1935 stand.1197 Sein Favorit war aber der Erstplatzierte, sein langjähriger Vertrauter Graf Preysing. Letztlich ging es bei dem Manöver also darum, diesem – nur „notfalls“ Rauch – möglichst sicher auf den Bischofsthron der Reichshauptstadt zu verhelfen. Unter diesem Zeichen stand wohl auch das Gespräch über die Kandidaten, das der Nuntius mit dem Dompropst führte, nachdem er ihm die Liste übergeben hatte. Preysing sei von Steinmann als sympathisch eingeschätzt worden. Der vom Domkapitel eigentlich gewünschte Galen sei – wie Steinmann zugegeben habe  – „vielleicht dort notwendiger, wo er sich befindet“1198. Steinmann habe außerdem eingesehen, dass das Nihil obstat der Regierung für den Münsteraner Oberhirten ein Problem werden könnte.1199 Der dritte Kandidat der Berliner Vorschlagsliste schließlich, Banasch aus den eigenen Reihen, der nicht den Weg auf die römische Terna gefunden hatte, sei ohnehin „wenig ernsthaft“1200 vorgeschlagen worden und zwar eigentlich nur, um wenigstens eine Trias von Geistlichen bieten zu können. Damit hatte der Nuntius der Absicht Pacellis den Weg bereitet und der Plan war von Erfolg gekrönt. Am Sonntag, dem 28. April, wählte das Kapitel zu St. Hedwig nachmittags Preysing zum neuen Bischof von Berlin. Entsprechend seinen Vorgaben erreichte diese Information den Kardinalstaatssekretär auf telegraphischem Wege über die Nuntiatur noch am selben Tag.1201 Allerdings sei das Votum für den Eichstätter Bischof nicht die erste Wahl der Domkapitulare gewesen, wie Orsenigo in dem bereits angeführten Bericht vom 2. Mai anmerkte. Jene hätten Weber starkem Druck ausgesetzt, damit dieser seine Bereitschaft zur Amtsübernahme erkläre. Weil er seine Zustimmung aber von vornherein hartnäckig verweigert habe, habe das Kapitel schließlich einstimmig den römischen Favoriten gewählt.

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Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.5 (Die römische Terna). „… forse più necessario là, ove si trova …“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 3r. Bekanntlich war Galen dem Nazi-Regime bald nach seiner Einsetzung 1933 ein Dorn im Auge. Vgl. dazu unter anderem die in Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 777 angegebene Literatur. „… poco seriamente …“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935, Pos. Scatole, Fasz. 6, Fol. 3r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 28. April 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 52r. Der Nuntius fügte für Pacelli die Notiz hinzu, dass auf der endgültigen Terna Weber (und nicht Heufers) gestanden habe, was der Kardinalstaatssekretär bislang noch nicht wissen konnte – Orsenigos ausführliche Erklärung seines Vorgehens erhielt Pacelli ja erst unter dem Datum des 2. Mai. 304

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Das Nihil obstat der preußischen Regierung und die Kontroverse um das Innsbrucker Studium Wie stand aber die preußische Regierung zur Person Preysings? Schon längst bevor dieser gewählt wurde, kümmerte sich der Nuntius um ein möglichst reibungsloses Zusammenwirken mit der staatlichen Seite. Bereits am 2. April, an dem Tag, als er die verspäteten Kandidatenvorschläge Kleins nach Rom sandte und darüber hinaus seine Italienreise antrat, sprach Orsenigo bei einem Treffen mit Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow im Auswärtigen Amt über die Berliner Besetzungsfrage.1202 Nach den Notizen Bülows ging es dem Nuntius näherhin um die Adresse der Anfrage nach politischen Bedenken für den bald gewählten neuen Oberhirten, damit nicht durch ein intransparentes Verfahren bereits ein Teil der vom Reichskonkordat vorgesehenen 20-tägigen Einspruchsfrist ungenutzt verfloss. Bei den vorangegangenen Fällen überzog die Regierung zum Ärger Roms regelmäßig diesen Zeitraum.1203 Die Frage des Nuntius, ob das Domkapitel die Notifikation an das Reichsinnenministerium oder das Reichskultusministerium richten sollte, konnte Bülow nicht beantworten und versprach deshalb, darüber Rücksprache zu halten.1204 Bei der nächsten Unterredung nach der Rückkehr Orsenigos nach Berlin am 26. April führte Bülow an, dass für Berlin zwei Konkordate gälten und daher eine doppelte Anfrage vonnöten sei: eine an den Reichskanzler (dem preußischen Statthalter) gemäß Reichskonkordat und eine an das preußische Staatsministerium gemäß Preußenkonkordat.1205 Der päpstliche Diplomat hingegen befürchtete, bei diesem Verfahren am Ende zwei unterschiedliche Antworten zu bekommen. Daher schlug er als Adressaten das Auswärtige Amt oder den preußischen Ministerpräsidenten vor – letzteren in seiner doppelten Funktion als stellvertretender Reichsstatthalter und preußisches Staatsober1202

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Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 2. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 82f. (Nr. 80). Vgl. insbesondere die Kontroverse im Anschluss an den Hildesheimer Besetzungsfall 1934 Bd. 2, Kap. II.1.14 (Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist). Der Vatikanreferent Fritz von Menshausen beantwortete die Anfrage wenig später dem Privatsekretär des abwesenden Nuntius, Pater Eduard Gehrmann SVD, dahingehend, dass die Notifikation „wegen des gleichzeitig zu berücksichtigenden preußischen Konkordats nicht nur an den Reichskanzler in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter für Preußen, sondern auch an das Preußische Staatsministerium“ zu richten sei. Gehrmann hielt eine einheitliche Praxis, solcherart Anfragen über das Reichs- und Preußische Innenministerium abzuwickeln, für zweckmäßiger. Weil die Kompetenzverteilung zwischen Innenressort und Kultusministerium aber noch nicht geklärt war  –  die Errichtung des Reichsministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten erfolgte erst durch Erlass vom 16. Juli des Jahres – blieb die strittige Frage bestehen bis Orsenigo und Bülow Ende April eine Lösung vereinbarten. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 5. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 83–85 (Nr. 81), hier 83f. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 26. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 86f. (Nr. 84). 305

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haupt. Mit der zweitgenannten Variante erklärte sich Bülow einverstanden.1206 Orsenigo kündigte die Notifikation durch das Domkapitel binnen Wochenfrist an und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die festgelegte Widerspruchsfrist dieses Mal von staatlicher Seite respektiert würde. Gemäß dieser Absprache richtete das Berliner Domkapitel am 29.  April, einen Tag nach dem es Preysing zum Bischof gewählt hatte, die Anfrage nach etwaigen politischen Bedenken gegen den Eichstätter Bischof an den preußischen Ministerpräsidenten, Hermann Göring. Weisungsgemäß teilte Orsenigo dem Kardinalstaatssekretär am 2. Mai das Notifikationsdatum mit. Bis zum 19. Mai musste die Regierung also dem Domkapitel ihre Antwort vorlegen. Die Staatskanzlei delegierte die Angelegenheit an das Kultusministerium, das im Anschluss an eigene Recherchen am 8.  Mai beim Bayerischen Kultusministerium um Informationen über Preysing ersuchte.1207 Von dort erhielt die preußische Behörde eine Woche später die Information, dass Preysing seine theologischen Studien an der Jesuitenhochschule in Innsbruck absolviert habe. Handfestes Negatives wussten die bayerischen Beamten nicht über den Berliner Bischofsaspiranten zu berichten, obgleich dieser Kontakte zu Dietrich von Hildebrand pflege.1208 An seinen ausschließlich theologischen Publikationen könne Preysings politische Einstellung nicht abgelesen werden. Ministerialrat Johannes Schlüter, der stellvertretende Leiter der Geistlichen Abteilung des Kultusministeriums, notierte sich auf Basis noch weiterer eingeholter Auskünfte: „Er gilt als äußerst gerissener Jurist, ist sehr vorsichtig und schlau, ein nüchterner Beobachter. Er ist sehr beliebt beim Volke wegen seiner persönlichen Einfachheit und Leutseligkeit, er kauft in E. (Eichstätt) selbst ein, geht allein spazieren usw. Besondere Hetzreden hat er nicht gehalten, ein Schritt gegen ihn ist ganz besonders zu überlegen, da er als Jurist äußerst tüchtig ist. Sein Einfluß ist sehr groß.“1209

Weiterhin vermerkte er, dass Preysing den katholischen Adel auf seiner Seite habe, aber als Protektor des Katholischen Frauenbundes auch „enge Beziehungen“ zum bayerischen Reichsstatthal-

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Eine Unterredung zwischen Orsenigo und Menshausen am 29. April betonte noch einmal, dass die Kapitelsanfrage einzig an den Ministerpräsidenten, aber unbedingt in dessen zweifacher Funktion erfolgen sollte. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 29. April 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 88f. (Nr. 85). Vgl. zum Folgenden Heim, Bischöfe, S. 167–179; Knauft, Preysing (2003), S. 60f. Der katholische Philosoph Dietrich von Hildebrand, der ehemals an der Münchener Universität lehrte, 1933 nach Österreich emigrierte und bis zum Anschluss an das Dritte Reich eine Professur in Wien bekleidete, war ein radikaler Kritiker des Nationalsozialismus. Vgl. dazu insbesondere Seifert (Hg.), Hildebrands Kampf. Knauft, Preysing (2003), S. 60. 306

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ter, Franz Ritter von Epp, sowie vor dem 30. Juni 1934 – gemeint ist das Datum des sogenannten „Röhm-Putsches“ – Kontakte „zu hohen SA-Stellen“1210 gepflegt habe. Nachdem dreiviertel der Einspruchsfrist verstrichen waren, hielt Orsenigo es für zweckmäßig, Staatssekretär Bülow am 14. Mai noch einmal die rechtliche Bindung der Regierung an die im Reichskonkordat vereinbarten 20 Tage in Erinnerung zu rufen.1211 Dafür rekurrierte er auf seine Note vom 9. November 1934, in der er im Zusammenhang mit der erfolgten Wiederbesetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls diese Verpflichtung eingeschärft hatte. Bülow bestätigte ihm, das Schriftstück damals an die beteiligten Ressorts weitergeleitet zu haben und versicherte, dass er diese auch aktuell angemahnt habe, den festgelegten Zeitraum einzuhalten. Damit gab sich Orsenigo offenbar zunächst zufrieden. Bülow notierte, dass der Nuntius die Hoffnung geäußert habe, dass „die Ernennung des neuen Berliner Bischofs … glatt und reibungslos erfolgen werde“1212, was die angespannten Beziehungen zwischen Kirche und Staat etwas beruhigen könnte. Am 16. Mai schließlich referierte Schlüter dem Ministerpräsidenten seine Untersuchungsergebnisse, zu denen neben einer Biographie Preysings und der Notiz, dass dieser bei Kardinalstaatssekretär Pacelli in hohem Ansehen stehe, auch vertrauliche Informationen über die Wahl des Domkapitels gehörten. Diese stammten anscheinend – trotz der von Rom auferlegten strengen Geheimnispflicht – aus dem Kreis der Kapitulare: „Nach dem Tode des Bischofs Bares von Berlin wurde hier vertraulich in Erfahrung gebracht, daß das Domkapitel den Bischof von Münster an erster Stelle vorgeschlagen hatte und willens war, diesen zu wählen, daß andererseits die Römische Kurie die Wahl des Bischofs von Eichstätt wünschte, wogegen sich das Domkapitel sträubte. Da eine Wahl des Bischofs von Münster zu erheblichen Bedenken Anlaß geben konnte, so habe ich schon vor der Wahl bei maßgebender Parteistelle vertrauliche Auskunft über den Bischof von Eichstätt eingeholt. Auf Grund dieser Auskunft habe ich dem Domkapitel durch meinen Sachbearbeiter unter allem Vorbehalt zu verstehen gegeben, daß der Person des Bischofs von Münster voraussichtlich Bedenken begegnen werden und daß über die Person des Bischofs von Eichstätt bis dahin solche Bedenken hier nicht bekannt geworden seien.“1213

Auf Basis dieser Einschätzung hätten die Domkapitulare sich entschlossen, Bischof Preysing zu wählen, der – darüber war man sich im preußischen Kultusministerium klar – von Rom favorisiert werde. Im Rückgriff auf die Mitteilung der bayerischen Regierung kam der Untersuchungsbericht auf die Frage der Vorbildung Preysings zu sprechen und konstatierte, dass diese dem Artikel 14 des Reichskonkordats nicht genüge. Dort war als Prämisse zur Übernahme eines geistlichen Am-

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Knauft, Preysing (2003), S. 61. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 14. Mai 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 93f. (Nr. 89). Aufzeichnung Bülows vom 14. Mai 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 94. Kultusministerium an Göring vom 16. Mai 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 168f. 307

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tes eine wenigstens dreijährige philosophisch-theologische Studienzeit an einer deutschen oder römischen Hochschule vereinbart worden.1214 Preysing hatte von 1898 bis 1902 in München und Würzburg lediglich Rechtswissenschaften studiert, bevor er sich entschloss, eine geistliche Laufbahn einzuschlagen und sich in Innsbruck theologisch auszubilden. Dennoch glaubte man im Kultusministerium, über diese Formalität hinwegsehen zu können, freilich nicht, ohne dass von kirchlicher Seite darum ersucht werden müsse: „Dies um so weniger als die Kurie sich stets auf ihre Rechte aus dem Konkordat beruft und ein stillschweigender Verzicht auf dieses Erfordernis in dem ersten vorliegenden Falle zu bedenklichen Folgerungen führen könnte.“1215 Damit lautete das Resultat der Untersuchung, gegen Preysing keine politischen Bedenken zu erheben, aber vom Domkapitel den Antrag auf Befreiung von der Vorbildungsbestimmung des Konkordats zu verlangen. Mit dieser Stellungnahme erklärte sich Göring einverstanden. Mit der offiziellen Antwort an das Domkapitel beabsichtigte die Regierung bis zum 20. Mai – dem letzten Fristtag, sofern man den Eingang der Wahlnotifikation im Staatsministerium als Ausgangspunkt annimmt – zu warten. Am Morgen dieses Tages konferierte Orsenigo mit Ministerialrat Schlüter und erfuhr, dass man staatlicherseits beabsichtigte, zwar nicht Preysings allgemeinpolitische Einstellung, aber dafür das Fehlen eines deutschen Theologiestudiums zu monieren. Laut Schlüters Aufzeichnung akzeptierte der Nuntius die Geltung des fraglichen Artikels 14 des Reichskonkordats für Preußen jedoch nicht. Orsenigo habe aber eingeräumt, dass diese Frage von jener der Einspruchsfrist unabhängig sei und sich schließlich einverstanden erklärt, zunächst einmal vom Heiligen Stuhl die Zustimmung „zu der Befreiung von den Ausbildungserfordernissen“1216 einzuholen. Die Reichsregierung werde sich dieser dann – so Schlüter – anschließen. Im Laufe des Tages revidierte Orsenigo diesen Kompromiss telefonisch bei Schlüter allerdings wieder und zwar mit dem Hinweis, dass „kein Mangel in der Ausbildung des Gewählten vorliege“1217. Eine anschließende Audienz in der Berliner Nuntiatur erbrachte zwischen den beiden kein Einvernehmen, ob das Reichskonkordat oder vielmehr das Preußenkonkordat in der strittigen Frage maßgeblich war. Von diesem Disput berichtete Orsenigo interessanterweise erst einmal nicht an Pacelli, sondern telegraphierte nur die gute Nachricht nach Rom: „Die preußische Regierung hat mir mündlich bedeutet, dass sie keine Einwände gegen den Bischof von Berlin hat und fügte hinzu, dass ein Brief an das Domkapitel folgt.“1218 Erst einige Tage später, nachdem er wohl oder übel davon ausgehen musste, dass die Regierung so bald von ihrer Haltung nicht

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Vgl. Art. 14 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. Kultusministerium an Göring vom 16. Mai 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 169. Heim, Bischöfe, S. 170. Notiz Schlüters vom 22. Mai 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 170. Orsenigo an Pacelli vom 21. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 53r. 308

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abrücken würde, sandte er ein zweites Schreiben hinterher, in dem er feststellte, die Regierung insistiere im Berliner Fall auf der Anwendung von Artikel 14, Absatz 1, c des Reichskonkordats.1219 Dagegen habe er erwidert, es müsse der 9. Artikel, Absatz 1, c des Preußenkonkordats samt der Interpretation des Schlussprotokolls (zu Artikel 9, Absatz 1, c) angewendet werden.1220 Dieses definierte, dass das an einer österreichischen staatlichen Universität absolvierte philosophisch-theologische Studium für die Erfüllung der Ausbildungsanforderung „entsprechend den Grundsätzen gleichberechtigt [wird], die für andere geisteswissenschaftliche Fächer gelten werden“1221. Diese Bestimmung hatte Pacelli seinerzeit mit Ministerpräsident Otto Braun natürlich nicht zuletzt im Hinblick auf die Innsbrucker Katholisch-Theologische Fakultät ausgehandelt, auch wenn ihn die schlussendlich vereinbarte Formulierung aufgrund ihres unbestimmten Charakters nicht völlig zufriedenstellte.1222 Der Nuntius schloss seine knappen Ausführungen mit dem Hinweis, die Regierung habe um einige Tage Geduld gebeten, um die Zweifelsfrage zu klären. Ein Meinungsumschwung war jedoch nicht in Sicht. Unmittelbar nach der Unterredung mit Orsenigo vom 20. Mai hatte sich Schlüter im Reichsinnenministerium, vor allem bei Ministerialrat Rudolf Buttmann, über seine Interpretation der Konkordatsnormen rückversichert und völlige Zustimmung erhalten. Da noch am gleichen Tag die endgültige Entscheidung der Staatsregierung bei den Berliner Domherren eingehen musste, meldete sich Schlüter telefonisch bei Steinmann 1219

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 23. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 54r. Vgl. Art. 9 des Preußenkonkordats sowie das Schlussprotokoll zu diesem Artikel, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325–327. Schlussprotokoll zu Art. 9, Abs. 1, c des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 327. Dennoch hatte Pacelli der völligen Gleichstellung der theologischen Studien in Innsbruck mit denen an deutschen Hochschulen erwartungsvoll entgegengesehen. Vgl. dazu seine Interpretation der Klausel kurz vor Abschluss des Konkordats: „Allʼart. 9 capov. 1 lett. c, dopo lunga resistenza il Governo si è indotto a dichiarare nel Protocollo finale che gli studi filosofico-teologici, compiuti in una Università austriaca dello Stato, sono pareggiati a quelli fatti nelle Facoltà teologiche della Germania corrispondentemente a quanto è già o potrà essere stabilito al riguardo per altre discipline filosofiche, letterarie e giuridiche, e tale pareggiamento sʼintende (come mi è stato dichiarato a voce e per iscritto con lettera del Direttore ministeriale Sig. Trendelenburg in data del 15 corrente) non solo limitatamente ad alcuni semestri, ma eventualmente anche per lʼintiero corso. In altri termini, se (come è assai probabile, data la tendenza ad unificare ed equiparare fra di loro le istituzioni tedesche ed austriache) si stabilisse che più semestri ovvero lʼintiero corso in una delle anzidette discipline, compiuti in una Università austriaca, valgono anche per la Germania, ciò si applica analogamente anche alle facoltà teologiche. È, per così dire, una Meistbegünstigungsklausel (clausola di trattamento della Nazione più favorita) a vantaggio di queste ultime, importante e necessaria nei riguardi dellʼottima Facoltà teologica di Innsbruck, tenuta dai RR. PP. della Compagnia di Gesù, ove si recano a studiare non pochi chierici della Germania.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Mai 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1925–1933, Pos. 563 P.O., Fasz. 80, Fol. 115r–121v, hier 116r-v. Vgl. zu den diesbezüglichen Verhandlungen auch knapp Mussinghoff, Fakultäten, bes. S. 274–276. 309

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und kündigte eine Verzögerung derselben an, „weil die Nachforschungen Bedenken formeller Art hinsichtlich der Vorbildung des gewählten Bischofs ergeben hätten“1223. Der Kapitelsvikar, der dem Nuntius bereits Mitteilung machen wollte, dass noch keine Erklärung seitens der Regierung eingegangen war, zögerte daraufhin seine Benachrichtigung noch eine Woche hinaus. Am 27. des Monats aber informierte er das Kultusministerium, dem Nuntius offiziell bekannt zu geben, dass man auf die Kandidatenanfrage noch keine Replik erhalten habe. Ein entsprechendes Schriftstück findet sich in den vatikanischen Akten allerdings nicht, womöglich geschah diese Mitteilung an den Nuntius in mündlicher Form. Daraufhin scheint Orsenigo der Regierung gegenüber noch einmal Druck für eine baldige Antwort ausgeübt zu haben, insofern er in einem Telegramm an Pacelli am nächsten Tag diesbezüglich bekräftigte: „Ho fatto premure.“1224 Unterdessen wurde in der Staatskanzlei über einen Antwortentwurf des Kultusministeriums diskutiert. Schließlich einigte man sich auf einen Text, den Kultusminister Rust am 4. Juni dem Berliner Domkapitel und abschriftlich auch dem Nuntius zugehen ließ. Das Urteil der Staatsregierung monierte – wie von ihr bereits angekündigt –, dass Preysing das Ausbildungserfordernis nach Artikel 14, Absatz 1, Nummer 1 c des Reichskonkordats nicht erfüllte. Dazu bemerkte Rust: „Ich gebe anheim, die Befreiung von diesem Mangel auf dem zuständigen Wege herbeizuführen. Dabei will ich schon jetzt in Aussicht stellen, daß ich einem Antrage auf Befreiung von dem Erfordernisse entsprechen werde. Unter der Voraussetzung der Behebung des bezeichneten Mangels teile ich zugleich im Namen des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten als Reichsstatthalters mit, daß politische Bedenken gegen den gewählten Bischof Graf von Preysing nicht erhoben werden.1225

Damit sollten einerseits Kooperationsbereitschaft signalisiert und andererseits die eigenen vermeintlichen Rechtsansprüche gewahrt werden. Im Anschreiben für Orsenigo bekräftigte Rust nach einigen internen Kontroversen den Willen nach einer gütlichen Einigung noch einmal: „Ich bitte, daraus meine Bereitwilligkeit zu entnehmen, von dem Mangel der vorgeschriebenen Vorbildung abzusehen, womit ich hoffe, einer baldigen Wiederbesetzung des Bischöflichen Stuhls in Berlin gedient zu haben.“1226

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Heim, Bischöfe, S. 170. Orsenigo an Pacelli vom 28. Mai 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 55r. Rust an Steinmann vom 4. Juni 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 47r; auszugsweise abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 97f. Anm. 1. Vgl. Rust an Orsenigo vom 4. Juni 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 46r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 97f. (Nr. 93). Während diese Zusage einigen Beamten im Kultusministerium zu weit ging, zumal sie aus dem Schreiben an das Domkapitel ohnehin ersichtlich sei, „votierte der stellvertretende Staatssekretär dringend dafür, die Bedenken gegen die umstrittene Formulierung zurückzustellen. Er argumentierte, der Satz vermeide die sonst zu befürchtenden Rechtsstreitigkeiten mit 310

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Anschreiben und offizielle Note des Kultusministers leitete der Nuntius sofort an den Kardinalstaatssekretär weiter, der wiederum Orsenigo im selben Augenblick telegraphisch aufforderte, bei der Regierung eine zügige und definitive Antwort zum Besetzungsfall zu erwirken.1227 Der Nuntius empfahl, der staatlichen Auffassung nachgiebig zu begegnen. Zunächst hielt er es für sinnvoll, sich noch einmal genau rückzuversichern, wo Preysing seine theologischen Studien und Prüfungen absolviert habe – ein Vorschlag, der überrascht, da Orsenigo seit seiner Unterredung mit Schlüter am 20. Mai doch genug Zeit gehabt hätte, die Kritik der Regierung zu verifizieren. Zumindest sei – so Orsenigo weiter – eine schleunige Lösung der Angelegenheit nicht nur vom Domkapitel erwünscht, sondern insbesondere für die Diözese vorteilhaft. Umso mehr, weil der schwache Gesundheitszustand des Kapitelsvikars verhindere, die nötigen Kontakte mit der Öffentlichkeit zu pflegen. Außerdem habe darunter auch die Bistumsleitung zu leiden, was für Orsenigo angesichts der derzeitigen Spannungen mit dem NS-Regime besonders schwer wog. Allerdings dürfe die zügige Klärung wiederum eine prinzipielle Lösung der Zweifelsfrage nicht negativ beeinflussen. Was hielt der Kardinalstaatssekretär von dem Monitum der Regierung, Preysing werde den Erfordernissen für die Übernahme des Berliner Bischofsstuhls nicht gerecht? Ein deutliches Zeugnis von Pacellis Reaktion gibt ein Telegramm des Vatikanbotschafters Diego von Bergen an das Auswärtige Amt vom 1. Juni. Bergen hatte in Erfahrung gebracht, dass Pacelli die vom Nuntius erhaltene Nachricht, die preußische Regierung mache keine politischen Bedenken gegen den Erwählten geltend, befriedigt aufgenommen habe. Umso mehr ärgere ihn jedoch der angebliche Ausbildungsmangel Preysings: „[Der] Kardinal verstehe nicht [die] Geltendmachung dieser Be-

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dem Nuntius, und begünstige, daß der ‚uns erwünschte Kandidat (...) nun endlich Bischof wird.ʻ“ Heim, Bischöfe, S. 172. Diese positive Sicht auf Preysing, zu der man in den zuständigen Ministerien gelangt war, wurde in keiner Weise geteilt vom NSDAP-Mitglied Hermann von Detten. Detten leitete die „Abteilung für kulturellen Frieden“ der NSDAP, bevor er im Juli 1935 in das neu errichtete Kirchenministerium unter Hanns Kerrl berufen wurde. Er war also qua Amt für kirchliche Angelegenheiten zuständig und warnte in zwei Schreiben von Anfang Juni beziehungsweise Juli die Reichskanzlei beziehungsweise die Reichsleitung der NSDAP vor der Translation Preysings nach Berlin, von der er aus der Presse erfahren hatte. Aus dem bayerischen Hochadel stammend und mit dem bayerischen Königshaus gut bekannt, verfolge Preysing partikularistische Ziele, die natürlich nicht mit der NS-Ideologie kompatibel waren. Detten bevorzugte stattdessen den Administrator der Prälatur Schneidemühl, Hartz, oder den Osnabrücker Oberhirten, Berning. Aus der Reichskanzlei erklärte man ihm jedoch, dass die Besetzungsangelegenheit bereits zu weit fortgeschritten sei, um die Ernennung Preysings noch rückgängig machen zu können. Vgl. die Schreiben Dettens vom 5. Juni und 4. Juli 1935 sowie diesbezügliche Vermerke der Reichskanzlei, abgedruckt bei Nicolaisen (Bearb.), Dokumente II, S. 310–314. Vgl. dazu auch Heim, Bischöfe, S. 173f., 177f.; Knauft, Preysing (2003), S. 61f. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 7. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 58r–59r sowie Pacelli an Orsenigo vom 8. Juni 1935 (Enwurf), ebd., Fol. 56r. 311

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denken gegen [den] bewährten Bischof von Eichstätt. Falls es nicht zu einer Einigung käme, wolle [der] Kardinal [den] Kampf aufnehmen.“1228 Weniger drastisch äußerte sich Pacelli etwas später gegenüber dem Nuntius, nachdem er das Schreiben des Kultusministers vom 4. Juni erhalten hatte – offenbar hatte ihn Rusts Bereitschaft, bei einem entsprechenden Antrag von dem angezeigten Mangel abzusehen, wieder beruhigt.1229 Orsenigo sollte dem Domkapitel empfehlen, „sich bei der Regierung einzusetzen, ohne den Heiligen Stuhl einzubeziehen, damit sie, unter Absehung der Frage, ob man im aktuellen Fall das Konkordat mit dem Reich oder mit Preußen anwenden müsse, entsprechend den wohlwollenden im Brief vom 4. des Monats ausgedrückten Bestimmungen, vom Erfordernis hinsichtlich der theologischen Studien absieht“1230.

Unabhängig von der Frage, ob die Norm des Reichskonkordats für den Berliner Besetzungsfall Geltung beanspruchen konnte oder nicht, glaubte Pacelli, dass sie bei Preysing ohnehin unangemessen war. Denn zum einen habe dieser an einer deutschen Universität studiert – Pacelli wies darauf hin, dass der Graf seinerzeit in München die Große Staatsprüfung im bürgerlichen Recht abgelegt hatte – und zum anderen sei dieser gegenwärtig bereits Bischof eines deutschen Bistums, sodass „man den Widerstand der Regierung gegen eine einfache Translation in eine andere Diözese nicht begreifen kann“1231. Ähnlich wie Orsenigo optierte Pacelli also für ein pragmatisches Vorgehen zur Lösung der Angelegenheit, verzichtete für den Moment auf eine grundsätzliche Klärung, überließ die Durchführung aber dem Domkapitel. Offensichtlich wollte er die staatliche Forderung nicht sanktionieren, indem der Heilige Stuhl darauf einging. Das Auswärtige Amt nahm die Nachricht seines Botschafters im Vatikan über die Erzürnung des Kardinalstaatssekretärs offenbar besorgt zur Kenntnis und stellte das preußische Kultusministerium zur Rede. Dort verteidigte man die eigene Haltung und glaubte vielmehr, der römischen Kurie entgegengekommen zu sein. Man äußerte den Wunsch, Bergen möge dem Heiligen Stuhl kommunizieren, dass „der preußischen Staatsregierung jede Unfreundlichkeit gegenüber der Kurie fern liege und sie die Nachricht über die innerhalb der vatikanischen Kreise vorherr-

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Bergen an das Auswärtige Amt vom 1. Juni 1935, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 173. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 16. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 62r. „… adoperarsi presso Governo, senza impegnare S. Sede, perché, facendo astrazione dalla questione se si debba applicare al caso attuale Concordato germanico o prussiana, Governo, conformemente favorevoli disposizioni manifestate lettera 4 corrente, prescinda dal requisito relativo studi teologici.“ Pacelli an Orsenigo vom 16. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 62r. „… non si comprenderebbe opposizione Governo per semplice trasferimento ad altra diocesi.“ Pacelli an Orsenigo vom 16. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 62r. 312

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schende Auffassung unangenehm berührt habe“1232. Das Auswärtige Amt bemängelte hingegen das eigenmächtige Vorgehen des preußischen Kultusministeriums, das mit der Forderung nach einem Antrag auf Befreiung vom Ausbildungsparagraphen nicht nur seine eigene Kompetenz überschritten, sondern auch außenpolitisch unklug gehandelt habe. Den Heiligen Stuhl außenpolitisch nicht noch weiter zu verstimmen, war wohl auch die Intention des Ministerialdirektors des Reichsinnenministeriums, Buttmann, der Pacelli in Rom zu einer privaten Audienz aufsuchte. Der Staatsbeamte beteuerte – wie Pacelli am 22. Juni Orsenigo zur Kenntnis gab –, dass die deutsche Reichsregierung keinerlei Schwierigkeiten mit dem gewählten Bischof habe.1233 Vielmehr sei der Ursprung der Einwände bei Ministerialrat Schlüter im preußischen Wissenschaftsministerium zu suchen, wie Buttmann „nicht ohne ironische Bemerkungen“1234 erklärt habe. Was Pacelli nicht wissen konnte, war, dass besagter Schlüter am 20. Mai von Buttmann selbst klare Unterstützung erhalten hatte, was die Geltung der Studiennorm des Reichskonkordats für Preysing anbelangte. Jedenfalls zeichnete sich mit der pragmatischen Anweisung Pacellis nun ein Ende der Auseinandersetzungen ab. Orsenigo gab den Auftrag an Steinmann weiter, der am 22. Juni im preußischen Kultusministerium mündlich den Antrag stellte, vom fehlenden Ausbildungserfordernis Preysings abzusehen. Noch am selben Tag gab man dieser Bitte statt, wobei die schriftliche Benachrichtigung, die stellvertretend Ministerialdirektor Siegmund Kunisch unterzeichnete, erst einige Zeit später seinen Adressaten erreichte.1235 Steinmann setzte umgehend den Nuntius von der offiziellen Nachricht in Kenntnis, der wiederum noch am Abend seinen römischen Vorgesetzten telegraphisch informierte.1236 In seiner abschließenden Berichterstattung zu diesem Thema am nächsten Tag machte Orsenigo deutlich, wie Schlüter gemeinhin für die lange Dauer der Sedisvakanz verantwortlich gemacht wurde: „Leider ist die Nachricht, dass diese Verzögerung von ungefähr einem Monat1237 der Kleinsichtigkeit und dem lästigen Eifer eines Ministerialrats geschuldet

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Heim, Bischöfe, S. 175. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 22. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 64r. „… non senza ironiche osservazioni …“ Pacelli an Orsenigo vom 22. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 64r. Vgl. Kunisch an Steinmann vom 22. Juni 1935 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 73r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 26. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 70r. Die Kritik, dass vier Wochen seit Ablauf der Einspruchsfrist für die politischen Bedenken allgemeinpolitischer Natur unnötig verloren gegangen seien, brachte Orsenigo auch wenig später gegenüber Bülow zur Sprache. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 10. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 100–102 (Nr. 97). 313

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war, hier nunmehr in aller Munde …“1238 Außerdem sei zu ihm durchgesickert, dass Schlüter seine Ansicht seit Mitte Mai vertreten – am 15. Mai hatte das bayerische Kultusministerium auf Preysings Studium in Innsbruck aufmerksam gemacht – und sogar mit einigen Kanonikern des Berliner Domkapitels darüber gesprochen habe. Diese informelle Verständigung zwischen Domkapitel und Kultusministerium ging bereits aus dem internen Untersuchungsergebnis der Behörde über Preysings politische Unbedenklichkeit hervor. Niemand aber habe angenommen – so der Nuntius abschließend –, dass Schlüter es fertig bringen würde, dieses Thema zu einem offiziellen kirchenpolitischen Streitpunkt zu machen.

Die Einsetzung Konrad Graf von Preysings zum Bischof von Berlin Seit der Wahl Preysings durch die Berliner Domherren am 28. April waren schon einige Wochen vergangen und der Name des electus ließ sich nicht so lange geheim halten. Auch Preysing selbst hörte häufiger seinen Namen, wenn die Nachfolge des verstorbenen Bares thematisiert wurde. Zwar habe er diesem Gerücht „anfänglich keinerlei Bedeutung zugemessen“, aber dann sei in ihm doch „die Besorgnis“ gewachsen, „es möchte etwas an der Sache sein“1239, wie er Anfang Juni an den ihm gut bekannten Kardinalstaatssekretär schrieb. Für den Fall, dass die Vermutungen zuträfen, bat er Pacelli alles daran zu setzen, seine Translation in die Reichshauptstadt zu verhindern: „Ich bin nicht der Mann mit den eisernen Nerven, der in dieser Stunde diesen Posten gut ausfüllen könnte. Euere Eminenz kennen mich und wissen, mit welchen Schwierigkeiten ich, und gerade ich zu kämpfen hätte.“1240 Schon die viel leichteren Verhältnisse in seinem liebgewonnenen Eichstätt würden ihm bisweilen über den Kopf wachsen. Wie würde es dann erst an so exponierter Stelle in Berlin werden?1241 1238

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„Purtroppo la notizia che questo ritardo di circa un mese sia dovuto alla grettezza di veduto e allo zelo importuno di un Consigliere Ministeriale è qui ormai sulla bocca di tutti …“ Orsenigo an Pacelli vom 26. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 71rv, hier 71v. Vgl. Preysing an Pacelli vom 4. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 65r–66r (nur r), hier 65r; abgedruckt bei Adolph, Kardinal, S. 23. Walter Adolph schilderte später die Vorgeschichte zu diesem Brief Preysings an den Kardinalstaatssekretär. Vgl. Aufzeichnung Adolphs vom 2. April 1937, abgedruckt bei Ders., Aufzeichungen, S. 73–75 (Nr. 23). Preysing an Pacelli vom 4. Juni 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 65r. Am gleichen Tag schrieb Preysing auch an Orsenigo: „Ich bin physisch und psychisch nicht der Mann, diesen Posten in dieser Zeit auszufüllen, und ich darf aus tiefster Überzeugung sagen, daß diesen Posten auszufüllen, mir unmöglicher sein wird als anderen in Betracht kommenden Kandidaten. Gewiß spielt der Schmerz, eine geliebte Wirkungsstätte ev. verlassen zu müssen, bei meiner Bitte eine Rolle, aber nicht die ausschlaggebende, sondern die Sorge, es möchte eine unglückliche Wahl für Berlin getroffen werden.“ Preysing an Orsenigo vom 4. Juni 1935, zitiert nach Knauft, Preysing (2003), S. 60. 314

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Pacelli wartete mit einer Entgegnung bis von staatlicher Seite das Nihil obstat vorlag und sandte erst am 27. Juni „im besonderen Auftrag des H[eiligen] Vaters“1242 einen Brief an die Altmühl, der Preysing von seiner einstimmigen Wahl zum Bischof von Berlin informierte. Zwar hielt Pacelli dessen Zurückhaltung für aufrichtig, doch sei die Situation in Deutschland momentan so schwierig, dass „der H[eilige] Vater nach reiflicher Überlegung [glaubt], sowohl das Opfer Ihrer Demut als auch das der begreiflichen und berechtigten Anhänglichkeit an Ihre bisherige Diözese als im Ratschlusse Gottes liegend von Ihnen erwarten zu können“1243. Er beteuerte, den Wunsch Preysings gerne zu erfüllen, aber das klare Wahlergebnis und die deutliche Willensbekundung Piusʼ XI. würden dies unmöglich machen. „Da die an sich schon überlange Sedisvakanz aus dringenden Gründen nach schneller Besetzung verlangt“1244, kündigte Pacelli abschließend die Publikation der Ernennung für den Zeitpunkt an, von dem angenommen werden könne, dass die vorliegende Mitteilung Preysing erreicht habe. Am 5. Juli glaubte der Kardinalstaatssekretär lang genug gewartet zu haben und erteilte Rossi, dem Sekretär der Konsistorialkongregation, den Auftrag, die nötigen Unterlagen für die Translation anfertigen zu lassen.1245 Die daher unter diesem Datum offiziell erfolgte Nomination Preysings zum Berliner Oberhirten1246 wurde zwei Tage später im „Osservatore Romano“ publiziert.1247 Preysing hatte demnach überhaupt keine freie Entscheidungsbefugnis, fügte sich freilich auch sogleich und versicherte Pacelli, er wolle, dankbar und „gehorsam dem Willen des Statthalters Christi, das Amt antreten, das so überaus schwere, menschlich schier untragbare Verantwortung mit sich bringt“1248. Schon bevor Preysing in seine neue Diözese eingezogen war, zeichnete sich 1242

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Vgl. Pacelli an Preysing vom 27. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 67r–68v, hier 67r; Ausfertigung abgedruckt bei Adolph, Kardinal, S. 23f. Pacelli an Preysing vom 27. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 67r–68r. Pacelli an Preysing vom 27. Juni 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 68r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 5. Juli 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 74r. Vgl. AAS 27 (1935), S. 305. Die Präkonisation erfolgte im Geheimen Konsistorium vom 16. Dezember des Jahres. Vgl. ebd., S. 464. Ein Informativprozess fand entgegen der Annahme Ernst Reiters nicht statt. Vgl. Reiter, Ernennung, S. 77. Entsprechend einer Bitte des Berliner Nuntius vom 26. Juni gab ihm Pacelli am 5. Juli telegraphisch über die bevorstehende Veröffentlichung Bescheid. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 5. Juli 1935 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 75r. Vgl. den Entwurf der Ernennungsanzeige, ebd., Fol. 76r. Vgl. auch die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 157 vom 7. Juli 1935. Preysing an Pacelli vom 6. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 77r. Dass Preysing der Gang aus der bayerischen Provinz nach Berlin – „nach Golgatha“, wie Michael von Faulhaber sagte –, der jungen Diasporadiözese und nationalsozialistischen Schaltzentrale, 315

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beim Berliner Klerus und Volk sowie in der Presse eine positive Resonanz auf die Neuigkeit ab – so zumindest skizzierte Orsenigo die ersten Eindrücke für den Kardinalstaatssekretär, die dieser erfreut an den Papst weitergab.1249 Fast zwei Wochen ließ Orsenigo nach der Veröffentlichung der Pressenotiz im „Osservatore Romano“ verstreichen, bis er dem Reichsaußenminister, Konstantin von Neurath, die Nomination Preysings offiziell notifizierte.1250 Am Mittag des 30. August erfolgte die Vereidigung des neuen Bischofs vor Hanns Kerrl, dem Leiter des soeben errichteten Reichsministeriums für die Kirchlichen Angelegenheiten, der den stellvertretenden Reichsstatthalter für Preußen, Hermann Göring, vertrat. Preysing interpretierte dabei den Eid als „Treueversprechen“, „die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten“ und „jeden Schaden“1251 für den Staat verhüten zu wollen, wobei sich diese Verpflichtung für ihn als Bischof aus dem katholischen Sittengesetz ergebe. Zwar sei der Staat naturrechtlich im Wesen des Menschen begründet, doch jede staatliche Gewalt könne nur in göttlicher Vollmacht handeln – hier zog Preysing deutlich „eine Grenzlinie“, „jenseits derer menschlicher Machtanspruch als vermessen und unsittlich zu bezeichnen war“1252. Nachmittags nahm er das Bistum in Besitz, indem

schwer fiel, bestimmte den Tenor der Abschiedsfeier in Eichstätt. Vgl. dazu Knauft, Preysing (2003), S. 62f. Das Preysing Zeit seines Lebens begleitende Heimweh nach seiner bayerischen Heimat beschreibt Garhammer, Konrad. 1249 Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 9. Juli 1935, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1938, Pos. 674 P.O., Fasz. 234, Fol. 78r und Pacelli an Orsenigo vom 15. Juli 1935 (Entwurf), ebd., Fol. 79r. 1250 Vgl. Orsenigo an Neurath vom 17. Juli 1935, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 104 (Nr. 99). Allerdings war Orsenigo sich nicht sicher, ob diese Anzeige genügte, denn fünf Tage später bekannte er Bülow, sich über den Adressaten und die Form der Notifikation nicht im Klaren zu sein. Vgl. Aufzeichnung Bülows vom 22. Juli 1935, abgedruckt ebd., S. 104f. (Nr. 100). Dem Staatsbeamten reichte allerdings schon eine mündliche Mitteilung, die er an die beteiligten Stellen weitergeben wollte. Ebenfalls zweifelhaft war für den Nuntius, in wessen Hand Preysing den in Artikel 16 des Reichskonkordats vorgeschriebenen Treueid leisten sollte. Zwar sah das Konkordat entweder den Reichsstatthalter oder den Reichspräsidenten vor, aber durch die jüngste Errichtung des Reichskirchenministeriums kam für Orsenigo neben Hermann Göring – als Ministerpräsident zugleich stellvertretender Reichsstatthalter für Preußen – auch der Leiter dieser neuen Institution, Hanns Kerrl, infrage. Der Reichsstatthalter für Preußen war der Reichskanzler. Doch hatte Hitler diese Verpflichtung in den vorigen Fällen an seinen Stellvertreter delegiert. Die im Konkordat vorgesehene Möglichkeit, den Eid gegenüber dem Reichspräsidenten abzulegen, lief nunmehr ins Leere, insofern Hitler dieses Amt seit dem Tod Paul von Hindenburgs im August 1934 ebenfalls ausübte. In einer Konferenz am nächsten Tag kam Orsenigo mit dem Vatikanreferenten Menshausen überein, dass Preysing den Treueid gegenüber dem preußischen Ministerpräsidenten in dessen Funktion als stellvertretendem Reichsstatthalter schwören sollte. Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 23. Juli 1935, abgedruckt ebd., S. 106f. (Nr. 102). Doch hatte Göring kein Interesse an diesem Akt und ließ ihn von Kerrl übernehmen. 1251 Preysing/​Kerrl, Ansprachen, S. 625. 1252 Adam, Auseinandersetzung, S. 55. Preysings Rückbindung aller Verpflichtungen dem Staat gegenüber im Sittengesetz stellt auch Antonia Leugers heraus. Vgl. Leugers, Mauer, S. 54f. Kerrl erwiderte, dass 316

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er den Domherren die päpstliche Ernennungsbulle vorlegte. Am 7. September wurde Preysing feierlich in der St. Hedwigskathedrale als dritter Oberhirte des Bistums Berlin inthronisiert. Von staatlicher Seite nahm „demonstrativ“1253 niemand an der Feierlichkeit teil, was seine Ursache in einem wenige Tage zuvor, am 20. August, publizierten gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe sowie einer Denkschrift an Adolf Hitler vom gleichen Tag hatte: Der Episkopat bezichtigte die NS-Regierung, den Kampf gegen das Christentum zu dulden und zu stützen1254 und sprach sogar von dem Eindruck, „es handle sich um einen amtlichen Feldzug von Staat und Partei gegen das Christentum“1255. Am 8. September war der bis auf den letzten Platz gefüllte Berliner Sportpalast der Ort für eine Begrüßungsfeier Preysings in der Reichshauptstadt. Eine reine Pflichtveranstaltung war schließlich sein Antrittsbesuch bei Hitler in der Reichskanzlei am 23. Oktober.1256 Der Graf beabsichtigte, diesem „Klagen und Sorgen über die Unterdrückung der religiösen Freiheit vorzutragen“1257, was jedoch nicht gelang, da Hitler vor ihm eine Stunde lang monologisierte und ihn gar nicht erst zu Wort kommen ließ. Sein Episkopat in schwieriger Zeit hatte hier schon längst begonnen.

Preysings Tätigkeitsgebiet als Bischof seelsorglicher Natur sei, doch seien „die Ihrer geistlichen Führung anvertrauten Menschen zugleich deutsche Volksgenossen und Bürger des nationalsozialistischen Staates“. Daraus dürfe kein Gegensatz entstehen, obgleich gegenwärtig „trotzdem gewisse Trübungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche … bestehen“. Preysing/​Kerrl, Ansprachen, S. 626. Zu Recht qualifiziert Wolfgang Knauft diese Aussage als „verharmlosende diplomatische Umschreibung der zunehmenden gewalttätigen Übergriffe von SA und Gestapo gegen katholische Laien und Priester“. Knauft, Preysing (2003), S. 65. Kerrl steigerte die Absurdität seiner Rede sogar noch weiter und behauptete abschließend: „Wenn Sie, Herr Bischof, mit voller Aufgeschlossenheit für die Erfordernisse der Gegenwart die Treue zum neuen Staat und Führer und die Achtung vor seiner Obrigkeit unter Ihrem Klerus und Ihren Diözesanen pflegen, dann dürfen Sie versichert sein, daß die Reichs- und Staatsregierung jede Gewähr für die ungehinderte Religionsausübung übernimmt und volles Verständnis für die kirchlichen Bedürfnisse beweisen wird.“ Preysing/​Kerrl, Ansprachen, S.  626. Hervorhebung im Original. 1253 Knauft, Preysing (2003), S. 69. 1254 Vgl.: „Es wäre ein unverantwortlicher Widerspruch, das öffentliche Leben zu entchristlichen und jedes Bekenntnis und Bekenntniszeichen des Christentums im öffentlichen Leben zu verbieten und gleichzeitig die öffentlichen Feindseligkeiten gegen das Christentum zu dulden. Darum hat die Bischofskonferenz an den Führer und Reichskanzler eine Denkschrift gerichtet und darin auf die Gefahr des Mißbrauches der neuen Kampflosungen und auf andere Einschränkungen der kirchlichen Freiheiten und Bedrückungen des christlichen Gewissens hingewiesen.“ Hirtenbrief des deutschen Episkopats vom 20. August 1935, abgedruckt bei Stasiewski (Bearb.), Akten II, S. 331–341 (Nr. 230), hier 336. 1255 Denkschrift des deutschen Episkopats an Hitler vom 20. August 1935, abgedruckt bei Stasiewski (Bearb.), Akten II, S. 341–373 (Nr. 231/​I), hier 346. 1256 Vgl. Schwerdtfeger, Konrad, S. 78. 1257 Adolph, Kardinal, S. 16. 317

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Ergebnis 1. Der unangefochtene Wunschkandidat und Favorit Pacellis für die Nachfolge des verstor­benen Bares war Preysing. Er vertrat die Kandidatur seines hoch geschätzten langjährigen Vertrauten1258 mit einer Vehemenz, dass sowohl Domkapitel als auch Regierung klar von der römischen Präferenz wussten. Insbesondere der „Aufwand“, den der Kardinalstaatssekretär den Berliner Nuntius betreiben ließ, um eine Wahl des Grafen sicher zu stellen (vgl. Nr. 2 und 5), zeigt, wie alternativlos dessen Kandidatur für Pacelli war. An vorderster Stelle ist hier die völlig auf Preysing zugeschnittene Terna zu nennen, die faktisch nur eine „Zweierliste“ war und aus Sicht der Berliner Domherren wohl letztlich zu einer „Einerliste“ zusammenschmolz, da Weber nicht gewählt werden wollte und Rauch aus Kapitelssicht kein hinreichend bekannter und damit realiter wählbarer Geistlicher war – folgerichtig hatten weder Bischöfe noch Domkapitel den Mainzer Professor auf ihren Listen für das Amt vorgeschlagen. Bereits bei der vorangegangenen Sedisvakanz des Berliner Bischofsstuhls 1933/34 hatte der Kardinalstaatssekretär Preysing für den Posten in Erwägung gezogen und auf der Terna platziert. Damals rangierte er allerdings hinter Bares, was jedoch nicht mit persönlichen Defiziten des Grafen zusammenhing, sondern in dessen damals erst einjährigem Episkopat in Eichstätt begründet lag. Dass ihn Pacelli nicht für die darauffolgende Wiederbesetzung des Hildesheimer Bischofsstuhls 1934 in Anschlag brachte, sondern erst wieder bei der erneuten causa Berlin, zeigt – ebenso wie der schon beschriebene „Aufwand“ – nicht nur eindrücklich, dass er Preysing als Mann für die besonderen Aufgaben erachtete, sondern auch, welchen Stellenwert er dem Bischofsthron der Reichshauptstadt beimaß: Für das Zentrum von Regierung und nationalsozialistischer Diktatur, die bereits 1935 die Kirche massiv bekämpfte, benötigte Pacelli einen Mann mit außergewöhnlichen Qualitäten, dem er darüber hinaus vorbehaltlos vertraute. Damit rücken die Kriterien in den Blickpunkt, die Pacelli vom künftigen Oberhirten erwartete und welche die vatikanischen Quellen für diesen Fall nicht ausdrücklich überliefern. Mittelbar geht aus dem Gesagten schon hervor, dass die staatlich-politische Komponente für Pacelli wesentlich war, die vom Diözesanbischof eine solide Bistumsleitung und diplomatisches Geschick im Umgang mit den weltlichen Behörden verlangte, sicher etwa für die Nachverhandlungen zum Reichskonkordat.1259 Preysing war als bereits amtierender Oberhirte, der außerdem als ehemaliger Attaché der bayerischen Regierung bereits eine diplomatische Laufbahn absolviert hatte, in diesem Sinne konditioniert.1260 Außerdem muss zur Kenntnis genommen werden, dass 1258

1259 1260

Vgl. Näheres zum Verhältnis von Preysing und Pacelli im Kontext der Eichstätter Besetzung 1932 Bd. 3, Kap. II.2.5 (Ergebnis Nr. 1). Vgl. Unterburger, Friedensverhandlungen, S. 59f. So urteilte beispielsweise schon Ludwig Volk. Vgl. Volk, Konrad, S. 93. 318

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Pacelli in der Person Preysings jemanden in das Zentrum der nationalsozialistischen antikirchlichen Agitationen transferierte, der „von Anfang an ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus“1261 war. Von daher erhoffte er sich zwangsläufig von diesem Standfestigkeit in den katholischen Prinzipien und ein klares Eintreten für die kirchlichen Freiheiten – vermutlich auch bewusst als Gegengewicht zur Eingabepolitik des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram.1262 Schon zwei Jahre zuvor war diese „politische“ Ebene ein wesentliches Postulat Pacellis in der Kandidatenwahl für Berlin gewesen, von wo aus sich diese Gewichtung für den aktuellen Fall noch einmal erhärtet. Dadurch, dass der zweite der Terna, der Mainzer Seminarprofessor Rauch, logischerweise nicht dieselbe Erfahrung in Bistumsleitung und Diplomatie wie der Eichstätter Oberhirte aufweisen konnte und sich damit dieser Kriteriologie nicht in gleichem Maße wie Preysing einfügte, ergibt 1261

1262

Adam, Konrad, S. 209. Aufgrund der strengen Ablehnung des Nationalsozialismus stand Preysing zunächst auch dem Reichskonkordat skeptisch gegenüber, schwenkte dann aber auf Pacellis Linie ein, als er vor dem Hintergrund der NS-Pressionen die Vorteilhaftigkeit erkannte, mit dem Konkordat eine rechtliche Berufungsinstanz zu besitzen. Vgl. dazu Ders., Auseinandersetzungen, S. 29–32. Vgl. zu Preysings Verhältnis zum NS ebd.; Adolph, Hirtenamt, bes. S. 117–131; Ders., Kardinal; Hehl, Konrad; Knauft, Preysing (2003); Ders., Widerspruch. So schrieb Pacelli an den neuen Berliner Oberhirten wenige Monate nach dessen Amtsantritt über die politische Relevanz seines Episkopats: „… benutze ich die Gelegenheit, um Euere Exzellenz in Anbetracht der Schwere der Lage auf die Bedeutung hinzuweisen, die gegebenenfalls etwaigen neuen Besprechungen mit staatlichen Stellen zukommen würde. Ihnen als Bischof der Reichshauptstadt, der die Verhältnisse aus nächster Nähe zu betrachten die Möglichkeit hat und dem persönliche Kontakte direkter oder indirekter Art mehr als andern zur Verfügung stehen dürften, kann dabei unter Umständen eine besonders wichtige Funktion anfallen. … Der Episkopat sollte … – allein schon mit Rücksicht auf die nicht unberechtigten Erwartungen der von den Unterdrückungsmaßnahmen der Staats- und Parteistellen betroffenen Katholiken – alles daransetzen, um in der Öffentlichkeit den Anschein passiven Abwartens zu vermeiden und die Regierung zu zwingen, die Verhandlungen entweder zu beginnen oder in unmißverständlicher Weise abzulehnen. Die Fortführung des gegenwärtigen Schwebezustandes und der, wenn auch sachlich unzutreffende Anschein, als ob der Episkopat sich damit abfinde, könnte auf die Dauer nicht ohne bedenkliche Rückwirkungen gerade auf diejenigen Kreise der deutschen Katholiken sein, deren Treue und Bekenntnisfreudigkeit die Kirche im Falle eines offenen Konfliktes in erster Linie in Anspruch nehmen müßte.“ Obwohl Pacelli wusste, dass der Graf „alles andere als eine kämpferische Natur“ war – wie Walter Adolph Preysings Persönlichkeit charakterisiert (Adolph, Kardinal, S. 16) –, bat er ihn abschließend um ein offensiveres Vorgehen: „Ich verstehe durchaus, aus welchen sachlichen und persönlichen Gründen es Ihnen widerstrebt, in diesen wichtigen Fragen eine, vielleicht nicht überall und sofort verstandene Initiative zu entfalten. Ich bitte aber zu bedenken, daß der Ernst des Augenblicks so groß ist, daß Rücksichten, die in normalen Zeiten maßgebend sein mochten, in den Hintergrund treten vor dem Zwang zu handeln, um Kirche und unsterbliche Seelen vor schweren Verlusten zu bewahren …“ Pacelli an Preysing vom 27. November 1935, zitiert nach ebd., S. 24f. Hervorhebungen R.H. Vgl. dazu auch Brechenmacher, Teufelspakt, S. 627f. Vgl. zum unterschiedlichen Kurs Preysings und Bertrams gegenüber dem NS-Regime Adam, Auseinandersetzung, bes. S.  62–104; Adolph, Hirtenamt, S. 134–180; Leugers, Mauer, S. 241–293; Unterburger, Friedensverhandlungen; Volk, Kirche, bes. S. 75–82, 257–263. 319

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sich auch von hier aus noch einmal die von Pacelli intendierte hervorgehobene und singuläre Anwärterschaft des Grafen auf den vakanten Bischofsstuhl. Das bedeutete jedoch im Umkehrschluss wiederum nicht, dass der Kardinalstaatssekretär Rauch für ungeeignet hielt – was wäre das auch für ein Risiko gewesen, da der Wahlausgang nicht mit letzter Sicherheit vorherzusehen war. Vielmehr war der Theologieprofessor für Pacelli eine in hohem Maße episkopable Person, wie der Seitenblick auf den parallelen Mainzer Besetzungsfall belegt. Seine dortige Favoritenrolle speiste sich vor allem aus der  – nach Pacellis Auffassung  – exzellenten theologischen Ausbildung, die er an der von Jesuiten geführten römischen Gregoriana als Alumne des Germanicums erhalten hatte, und die er als Seminarprofessor bereits für die Mainzer Priesteramtskandidaten fruchtbar machen konnte. Bereits 1928 subsumierte er ihn unter die Ex-Germaniker, aus denen „überaus gute Professoren und Apologeten von tiefer und gesunder Lehre“1263 geworden seien. Pacelli kannte den Professor also ebenfalls bereits aus seiner Nuntiaturzeit, was aber natürlich nicht mit der engen Beziehung zu Preysing vergleichbar war. Dasselbe theologische Motiv wie im Mainzer Fall hatte Pacelli auch im vorherigen Berliner Fall bei der Auswahl seiner Kandidaten für maßgeblich erachtet und bei Preysing als Ex-Alumnen des Jesuitenkollegs Canisianum in Innsbruck bestätigt gefunden. Damit ist klar, dass es auch für den aktuellen Fall die Basis von Pacellis Kandidatenüberlegung bildete. Einen Bayer für die preußische Hauptstadt zu nominieren, hielt er darüber hinaus für unproblematisch und auch der gebürtige Badener Rauch hatte keinen biographischen Bezug zu Berlin – keinen Wert legte Pacelli demnach auf eine lokale „Kompatibilität“. Auch dass Preysing zuvor dem provinziellen, katholischen Eichstätt vorstand und nun eine großstädtische Diasporadiözese leiten sollte, war für Pacelli – anders als für den Grafen selbst – kein entscheidendes Manko. Es lässt sich also zusammenfassen: Persönliches Vertrauensverhältnis, „gesunde“ römische Theologie mit der daraus resultierenden Prinzipientreue, eine klare antinationalsozialistische Haltung, was für Rauch ebenso galt wie für Preysing,1264 die römische Linie in der Priesterausbildung sowie diplomatisches Know-how waren Pacellis entscheidende Kriterien, denen Preysing in Vollform – und nur auf ihn kam es an –, und Rauch in Abschwächung, gerade was die persönliche Beziehung zu Pacelli1265 und die diplomatische Erfahrung anging, gerecht wurden. Stellt sich die Frage nach dem beziehungsweise den dritten Ternakandidaten. Da Heufers und Weber von Pacelli nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurden, lassen sich streng genommen von ihnen keine Schlüsse auf sein präferiertes Bischofsprofil ableiten. Umgekehrt können sie aber auf das bereits skizzierte Bild abgeklopft werden. Heufers, ein gebürtiger Westfale, kannte aus seiner lang1263

1264 1265

„… ottimi professori ed apologisti di profonda e sana dottrina.“ Pacelli an Gasparri vom 29. Februar 1928, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1935, Pos. 579 P.O., Fasz. 88, Fol. 36r–39v, hier 38r. Vgl. dazu den folgenden Besetzungsfall in Fulda 1936/​39. Inwieweit es persönliche Begegnungen zwischen Pacelli und Rauch gab, lässt sich im Einzelnen wohl schwer nachweisen. Die Nuntiaturberichterstattung gibt darüber jedenfalls keinen Aufschluss. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. 320

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jährigen Tätigkeit als Kaplan von St. Matthias, als Pfarrer in Tempelhof und schließlich als Domkapitular die Verhältnisse in der Reichshauptstadt nicht nur sehr genau, sondern hatte darüber hinaus seine theologische Ausbildung genauso wie Preysing bei den Innsbrucker Jesuiten erhalten. In seiner Berliner Nuntiaturzeit war ihm Pacelli verständlicherweise häufig begegnet, bei der Wiederbesetzung des Meißener Bischofsstuhls 1932 gehörte Heufers zu den Kandidaten, die Pacelli in die engere Auswahl nahm und im Münsteraner Fall 1933 wäre er der neue Oberhirte geworden, hätte er seine Wahl nicht abgelehnt. Damit wird deutlich, dass Pacelli völlig auf Nummer sicher ging: Obwohl er unbedingt die Wahl Preysings erreichen wollte, hätte auch eine Wahl Heufersʼ durch das Domkapitel einen Geistlichen getroffen, den er prinzipiell für tauglich hielt – es gilt also das gleiche wie bei der Kandidatur Rauchs. Heufers von der Liste wieder zu streichen, war demnach nur der Sorge geschuldet, dass er seine etwaige Wahl zum Berliner Diözesanbischof akzeptieren würde. Das wird gerade an der Person Webers ersichtlich, der Heufers auf der Dreierliste ersetzte. Weber hatte eine ähnliche geistliche Karriere hinter sich, da er ebenfalls Kaplan und Pfarrer in der Reichshauptstadt gewesen war und anschließend Domkapitular wurde. Anders als Heufers hatte Weber seine Studien jedoch „nur“ in Breslau absolviert – die dortige Katholisch-Theologische Fakultät hielt Pacelli für äußerst defizitär und betrachtete sie als heterodoxen Nährboden, der seine „verdorbene Frucht“ zum Beispiel in der causa Wittig hervorgebracht hatte.1266 Rückte Pacelli jetzt also in einem wesentlichen Punkt von seinem Anforderungsprofil ab, indem er Weber an die Stelle von Heufers setzte? Keineswegs: 1930/31 war Weber seine erste Wahl für die Besetzung der Prälatur Schneidemühl gewesen. Damals hatte er sich überzeugen lassen, dass der Genannte gewissermaßen als „Ersatz“ für das mangelhafte Studium den römischen Anweisungen zur Priesterausbildung mit strengem Gehorsam gegenüberstand.1267 Auch Weber wurde also Pacellis Ansicht nach diesem wichtigen Kriterium gerecht. Entscheidend war jedoch, dass er genauso wie Heufers seine damalige Ernennung abgelehnt hatte. Hier liegt offensichtlich die Erklärung dafür, wie die Alibi-Kandidatur der beiden Domkapitulare zustande kam: Der Kardinalstaatssekretär suchte nach Geistlichen, die es in der Vergangenheit abgelehnt hatten, zum Ordinarius erhoben zu werden. Zu eruieren war lediglich, ob sie bei ihrer Haltung geblieben waren. Während bei Heufers Zweifel bestanden, vertraute Pacelli darauf, dass Weber bei seiner Ablehnung der Bischofsmitra bleiben und dass Orsenigo dessen Absichten im Vorhinein richtig einschätzen würde (vgl. Nr. 5). Brisant war die Alibi-Kandidatur deshalb, weil zu erwarten war, dass sowohl Heufers als auch Weber als Berliner Domkapitulare für das Kapitel nachvollziehbarer Weise am ehesten für eine Wahl infrage kamen, nachdem ihr Favorit Galen nicht auf der Terna stand – folgerichtig hätten sich die Stimmen auf Weber vereinigt, wenn dieser zur Übernahme des Amtes bereit gewesen 1266

1267

Vgl. dazu etwa Bd. 1, Kap. II.1.4 (Das Einlenken Roms und Pacellis Kandidat Maximilian Kaller) mit weiteren Verweisen. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.10 (Ergebnis Nr. 1). 321

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wäre. Wieso ging Pacelli aber dieses Risiko ein und „füllte“ die Terna überhaupt mit einem Berliner Domkapitular auf? Als einzig einleuchtenden Grund wird man wohl eine (vermeintliche) Konzession an das Domkapitel festhalten müssen. Auf ihrer Vorschlagsliste hatten die Domherren mit Heufers und Banasch zwei Namen aus dem eigenen Gremium platziert. Vielleicht wollte Pacelli vor diesem Hintergrund zumindest eine formale „Würdigung“ der Kapitelsliste demonstrieren – auch wenn er den Kandidatenwünschen des Kapitels faktisch nicht entsprach –, indem er wenigstens einen anderen Berliner Domkapitular zur Wahl stellte. Immerhin hatte er in Münster 1933 die Erfahrung gemacht, dass Kanoniker durchaus verärgert reagieren konnten, wenn sie ihre Interessen bei der Bischofswahl in Gefahr sahen. Im Berliner Fall 1933/34 hatte er den Nuntius deshalb sogar angewiesen, dem Domkapitel eine „Rechtfertigung“ zu liefern, warum sein Favorit nicht für die Bischofswahl nominiert worden war. 2. Die formale Basis für die Wiederbesetzung des Berliner Bischofsstuhls war durch Preußen- und Reichskonkordat festgelegt. Das Besondere des Berliner Falls in Verfahrenshinsicht bestand darin, dass Pacelli (erfolgreich) versuchte, die Bischofswahl des Domkapitels durch die Kandidatenzusammensetzung der Terna auszuhöhlen und das Wahlergebnis zu determinieren: Indem er nur einen Kandidaten nominierte, der für die Domherren realiter wählbar war (vgl. Nr. 1), reizte er den konkordatsrechtlichen Rahmen für die Einflussmöglichkeiten des Heiligen Stuhls bis zum Limit aus. Das Kapitelswahlrecht erscheint insofern in Pacellis Sicht als ein nicht-idealer Verfahrensbestandteil, den es zu präparieren galt – und der durch die römische Kandidatenauswahl konkordatsrechtlich auch präparierbar war –, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Wenn auch die Idee, zwei verschiedene Ternen vorzubereiten, von Orsenigo stammte (vgl. Nr. 5), so war es doch die Instruktion Pacellis gewesen, aus der Alternative Heufers  – Weber den passenden Kandidaten für die römische Dreierliste herauszufinden. Insofern waren die zwei Ternen, die der Nuntius während des Gesprächs mit Dompropst Steinmann im Petto hatte, letztlich nur eine Anwendung und Umsetzung der Weisung des Kardinalstaatssekretärs. Das gleiche gilt übrigens auch für die genannte Unterredung selbst, die letztlich zum Ziel hatte, dem Dompropst eine Wahl Preysings schmackhaft zu machen und damit auch auf diese Weise den Wahlakt zu beeinflussen. Wie pikant dieses gemeinsame Manöver von Kardinalstaatssekretär und Nuntius war, zeigt sich in formaler Hinsicht eindrücklich daran, dass Orsenigo sein Vorgehen in dem Bericht vom 2. Mai auffällig vage und andeutend und damit für Außenstehende beinahe unverständlich schilderte. Die übrigen allgemeinen Anordnungen Pacellis schließlich, die das Verfahren betrafen, deckten sich mit jenen, die er in den vorangegangenen preußischen Fällen erlassen hatte. 3. Für Pacelli war der gesamte Berliner Fall essentiell durch die staatliche Komponente geprägt beziehungsweise er führte ihn konsequent in Hinblick auf die NS-Regierung und die Konzentration der nationalsozialistischen Macht in der Reichshauptstadt. Von hier erklärt sich nämlich, dass er 322

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(mit Orsenigo) alles daransetzte, um Preysing unbedingt auf den Bischofsstuhl zu verhelfen: Ihm traute er die nötige Prinzipienfestigkeit und diplomatische Gewandtheit zu, in ihm glaubte er eine Vertrauensperson im politischen Zentrum des Reichs zu installieren, mit der und über die er in Zukunft gegenüber den Regierungsbehörden agieren konnte.1268 Wenn es sich auch um eine mittlerweile standardisierte Floskel bei der Übermittlung der Terna an die Nuntiatur handelte, so bezeugt seine Prognose, ein staatlicher Widerspruch gegen einen der drei zur Wahl gestellten Geistlichen sei unwahrscheinlich, dass Pacelli die politische Klausel bei der Kandidatenwahl nicht aus den Augen verlor. Von daher war er völlig überrascht und in höchstem Maße verärgert, als das Kultusministerium bei Preysing einen „Ausbildungsmangel“ diagnostizierte. Aus der Äußerung Botschafter Bergens, Pacelli wolle „den Kampf aufnehmen“, sollte es zu keiner „Einigung“ kommen, spricht seine ernste Sorge, den einzig für ihn infrage kommenden Kandidaten kurz vor dem Erfolg doch nicht als neuen Bischof durchsetzen zu können. Der Vorwurf von Kultusminister Rust, dass Preysing das Ausbildungserfordernis nach Artikel 14 des Reichskonkordats nicht erfülle, weil er nicht in Deutschland, sondern in Österreich seine theologische Ausbildung erhalten hatte, hielt der Kardinalstaatssekretär schon allein deshalb für unverständlich, weil der Graf zum einen ein juristisches Studium in Deutschland vorweisen konnte und zum anderen als bereits amtierender deutscher Diözesanbischof „lediglich“ von einem Bistum in ein anderes transferiert werden sollte. Dabei erachtete er es offensichtlich als müßig und nicht zielführend, auf dem rechtlichen Faktum zu insistieren, dass anstatt des Reichskonkordats in dieser Angelegenheit eigentlich das Preußenkonkordat Geltung beanspruchte, das im Schlussprotokoll eine „Anrechnungsklausel“ der österreichischen Studien – ungeachtet ihrer tatsächlichen rechtlichen Reichweite1269 – enthielt. Vor diesem Hintergrund beurteilte er die Be1268

1269

Dementsprechend konstatiert Burkhart Schneider hinsichtlich des Zeitraums von 1939 bis 1944, dass „die Korrespondenz zwischen Papst [sc. Pius XII., R.H.] und Berliner Bischof [sc. Preysing, R.H.] in jenen Jahren nicht nur zahlenmäßig, sondern auch inhaltlich die reichste gewesen ist. Von keinem anderen Bischof wurde Pius XII. so eingehend über die deutschen Verhältnisse unterrichtet wie durch Bischof Preysing.“ Schneider (Hg.), Briefe, S. XXXII. Vgl. auch Hausberger, Bischof, S. 326. Dass diese Bestimmung des Schlussprotokolls keine Gleichberechtigung von österreichischen und deutschen Studien konstituierte, betont Bernd Heim nachdrücklich: Auf Basis des preußischen Konkordats „berechtigte das an einer österreichischen Universität abgeschlossene Theologiestudium Bischof Preysing grundsätzlich nicht zur Übernahme des Berliner Bischofsamtes. Diese konnte nur dann korrekt erfolgen, wenn im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Staat und Kirche Artikel 9, Absatz 2 des Preußenkonkordats zur Anwendung kam, der Ausnahmeregelungen für die österreichischen Hochschulen zuließ“ (nämlich bei zweiseitigem Einverständnis von Kirche und Staat). Heim, Bischöfe, S. 180. Insofern hätte der Heilige Stuhl das Einverständnis der Regierung einholen müssen, anstatt sich schlicht auf das Schlussprotokoll des Preußenkonkordats zu berufen. Dem ist zunächst einmal entgegenzuhalten, dass die formale Berufung Orsenigos auf die Geltung von Artikel 9 des Preußenkonkordats samt Schlussprotokoll rechtlich absolut korrekt war (was Heim selbst anerkennt) und man die „Anerkennungsklausel“ bei aller Unklarheit und begrenzten rechtlichen Auswirkung dennoch nicht einfach ignorieren kann, 323

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hauptung eines „Ausbildungsmangels“ Preysings für schlicht unverständlich. Dennoch agierte er pragmatisch, ließ das Domkapitel die von Kultusminister Rust verlangte Befreiung vom Mangel beantragen und verzichtete darauf, die Angelegenheit prinzipiell zu klären. Aus ihm sprach der geschulte Diplomat, als er dem Domkapitel auftrug, den Antrag auf Befreiung ohne Rekurs auf den Heiligen Stuhl zu stellen und ohne die prinzipielle Rechtsfrage anzuschneiden. Unter keinen Umständen wollte er der Regierung einen von Rom sanktionierten Präzedenzfall an die Hand geben. Mit dieser pragmatischen Lösung konnte Pacelli auch deshalb gut leben, weil der Kultusminister keine prinzipiellen politischen Bedenken gegen Preysing anmeldete, mit denen er sich zwangsläufig konfliktbeladen hätte auseinandersetzen müssen.1270 Dies hätte zum Mindesten eine weitere

1270

wie Heim das faktisch tut: „Beim Abschluß des Preußenkonkordats war eine Regelung für die Anerkennung der in Österreich abgelegten geisteswissenschaftlichen Examen noch nicht erfolgt“. Ebd., S. 181f. Anm. 735. Dies erscheint zu einfach, zumal es bereits während der Verhandlungen innerhalb des preußischen Kultusministeriums Überlegungen gab, wie umfangreich bei geistesgeschichtlichen Fächern Semester angerechnet werden könnten. Vgl. Mussinghoff, Fakultäten, S. 276 Anm. 419. Ungeachtet dessen lässt sich aus der von Orsenigo womöglich vorgenommenen Überstrapazierung der „Anerkennungsklausel“ – insofern er nämlich auf ihrer Basis einen „Ausbildungsmangel“ bei Preysing klar zurückwies – noch längst keine rein opportunistische Konkordatsauslegung „hoher kirchlicher Würdenund Amtsträger“ ableiten, die darin den Nationalsozialisten gleichkämen und man daher „von einer erschreckenden Parallelität im Verständnis völkerrechtlicher Verträge zwischen Nationalsozialismus und römisch-katholischer Kirche“ sprechen müsse. Heim, Bischöfe, S. 181. Diese von Heim vollzogene Parallelisierung ist angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und Konkordatsverletzungen eine historische Absurdität. Wie die Aufzeichnungen Schlüters zeigen, war an den Schaltstellen der NSDAP offensichtlich nur sehr begrenzt angekommen, dass der klare NS-Gegner Preysing als Bischof von Eichstätt durchaus auch öffentlichkeitswirksam regimekritisch gehandelt und gesprochen hatte. Dabei wäre ein Blick in Preysings Hirtenbriefe bereits aufschlussreich gewesen. In ihnen verteidigte er das Christentum auf der Ebene des Dogmas und der Sittenlehre, insistierte auf den Prinzipien des Naturrechts und entlarvte den Nationalsozialismus als Antichristentum. Mit konkret-politischen Äußerungen hielt er sich in ihnen freilich zurück. Vgl. dazu Adam, Auseinandersetzung, S. 32–43 und generell zu seinem Verhältnis zum NS während seiner Eichstätter Zeit ebd., S. 23–49; Knauft, Preysing (2003), S. 53–65. Die Warnungen vor einer Translation Preysings nach Berlin, die Hermann von Detten der Reichskanzlei vorbrachte, kamen zu spät. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15 Anm. 1226. Abgesehen davon, dass die kritischen Stimmen ausschließlich partei- und nicht allgemeinpolitische Bedenken konstituieren konnten, waren die Kandidatenüberlegungen der Regierung von der Sorge einer möglichen Wahl Galens überschattet. Jene ging so weit, dass der Kultusminister schon vor dem Wahlakt mit dem Domkapitel Kontakt aufnahm, um dieses Szenario zu verhindern. Der gegenüber Galen nüchternere und zurückhaltendere Charakter Preysings – so konstatierte Schlüter, der Bayer habe keine „Hetzreden“ gehalten – kam ihm hier zugute. Bernd Heim urteilt sogar, dass vor „dem Hintergrund einer möglichen Ernennung des Bischofs von Münster … der Wunschkandidat der Kurie plötzlich auch zum Favoriten der preußischen Regierung [avancierte]. Die Eindeutigkeit, mit der sich das Kultusministerium für den entschiedenen Regimegegner Graf Preysing aussprach, verwundert und erinnert zugleich an die zwei Jahre zurückliegende Bischofswahl in Münster.“ Heim, Bischöfe, S. 185. Schließlich war im Frühjahr 1935 die außenpolitische Situation des Deut324

II.1.15 Berlin 1935

Verzögerung der causa nach sich gezogen, die durch die „Ausbildungsdebatte“ ohnehin schon vier Wochen länger andauerte. Dadurch war letztlich auch sein Drängen auf eine staatliche Observanz der 20-tägigen Einspruchsfrist, die er durch das akribische Festhalten des Notifikationsdatums des electus an die Regierung demonstrierte, Makulatur. Die Verzögerung musste Pacelli gerade deshalb als schmerzlich empfunden haben, da es sein Anliegen war, die Sedisvakanz des Reichshauptstadtbistums besonders schnell beendet zu wissen. Dementsprechend drängte er Orsenigo auffällig oft, den Fall zügig voranzutreiben. Diese Eile des Kardinalstaatssekretärs wird vor dem Hintergrund der aggressiven Anti-Kirchenpolitik der Nationalsozialisten leicht einsichtig. 4. Der Kardinalstaatssekretär ließ sich keine quellenmäßig nachweisbaren Gutachten oder Kandidatenempfehlungen anfertigen. Insofern stellt sich im Hinblick auf das „Informationsnetzwerk“ Pacellis lediglich die Frage, ob und inwieweit er die vom konkordatären Listenverfahren vorgeschriebenen Voten der preußischen Bischöfe und des Berliner Domkapitels in Betracht zog.1271 Hier ist festzuhalten: Sein Wunschkandidat Preysing war mit sechs Unterstützern auch der Favorit des Episkopats. Alle übrigen Vorschläge ließ Pacelli bei Aufstellung der Terna unberücksichtigt – sowohl den mit vier Proponenten auf Platz zwei der preußischen Kandidatenskala rangierenden Dompropst Simon als auch den Münsteraner Oberhirten Galen, den nicht nur zwei Bischöfe auf dem Zettel hatten, sondern der vor allem der Hauptkandidat der Berliner Domherren war. Die Stimmen der Letztgenannten verhallten bei Pacelli ohne jeden Niederschlag auf der römischen Dreierliste. Zu erinnern ist an dieser Stelle lediglich, dass der Staatssekretär durch die Aufnahme des Berliner Domkapitulars Weber in die Terna immerhin eine formale Wertschätzung des Domkapitels suggerierte (vgl. Nr. 1), die den Kanonikern zwar faktisch nichts einbrachte, aber immerhin zur Kenntnis genommen werden konnte. Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass auf dem ersten Ternaentwurf mit Heufers ebenfalls ein Berliner Domkapitular zu finden war. Bleibt noch die Frage, wie maßgeblich für Pacelli die breite Aussprache der Bischöfe zugunsten Preysings war, diesen nicht nur zu nominieren, sondern mit hohem Aufwand auf den vakanten Bischofsstuhl zu befördern. Bereits dieser angesprochene besondere Einsatz von Kardinalstaatssekretär und Nuntius zeigt, dass ihre Motivation für Preysings Kandidatur unmöglich allein auf den bischöflichen Vorschlägen fußen konnte. Im Gegenteil war die Wertschätzung Pacellis für den Grafen so umfangreich und der Gedanke, ihn nach Berlin zu transferieren, bereits 1933 vorhan-

1271

schen Reichs nicht so günstig, dass man sich einen diplomatischen Zwischenfall mit dem Heiligen Stuhl hätte erlauben können. Dies erklärt den beschwichtigenden Besuch Buttmanns bei Pacelli. Vgl. dazu ebd., S.  182. Vgl. auch Leugers, Mauer, S.  52f., die von einer „Umbruchphase in kirchenpolitischen Fragen“ in diesem Zeitraum als begünstigendem Faktor spricht. Die zwei informellen Kandidatenvorschläge, die im April 1935 in Rom eingingen und von katholischen Laien stammten, spielten bei Pacellis Kandidatenfindung nicht die geringste Rolle. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15 Anm. 1182. 325

II.1.15 Berlin 1935

den gewesen (vgl. Nr. 1), sodass man nicht davon ausgehen kann, das Votum des Episkopats hätte irgendeinen substantiellen Ausschlag für Pacellis Entscheidung gegeben. Diese war vielmehr seine ureigene, die durch den Zuspruch der Hälfte des Episkopats eine moralische Legitimation und Bestätigung erhielt. Hätte er tatsächlich den Personalvorstellungen der preußischen Proponenten entsprechen wollen, dann hätte er dem Grafen mit Rauch und Weber wohl kaum zwei Geistliche beigesellt, die nicht eine einzige Listennennung vorweisen konnten. Insofern sticht in diesem Besetzungsfall niemand als besonderer Ratgeber Pacellis hervor. 5. Die vatikanischen Quellen zeichnen das Bild eine Kardinalstaatssekretärs, der die Fäden des Besetzungsfalls an allen entscheidenden Punkten in den Händen hielt. Was sie nicht eindeutig dokumentieren, ist, wie die Kandidatensondierungen innerhalb der Kurie im Einzelnen abliefen. Inwieweit Papst Pius XI. an ihnen beteiligt war, bleibt im Dunkeln. Der Pontifex trat nur durch Pacellis Weisungen in Erscheinung: zum Beispiel als derjenige, dessen Willensbekundung es für Preysing unmöglich machen sollte, seine Wahl zum neuen Bischof von Berlin abzulehnen; oder bei Übersendung der Terna als Instanz, welche die preußischen Vorschlagslisten geprüft habe. Analysierte der Pontifex selbst diese Listen? Wenn Pacelli an Orsenigo schrieb, „dass der Heilige Vater, nachdem er die verschiedenen Listen [sc. der preußischen Bischöfe respektive des Berliner Domkapitels, R.H.] geprüft hat, wohlwollend entschied, dass Eure Exzellenz jenem Domkapitel folgende Terna präsentiert …“1272, dann handelte es sich um eine standardisierte Formel, die er schon in den vorangegangenen preußischen Besetzungsfällen benutzt hatte.1273 Aufgrund verschiedener Indizien ist anzunehmen, dass es sich bei dieser Wendung insbesondere um eine Formel zur rechtlichen Legitimation der Terna handelte, insofern die römische Kurie und damit auch der Kardinalstaatssekretär gemäß geltendem Kirchenrecht nur im Auftrag und in Stellvertretung des Papstes als dem Inhaber der jurisdiktionellen Vollgewalt agierten,1274 und nicht etwa um eine Beschreibung des Faktischen, dass die Dreierliste tatsächlich das Werk des Pontifex gewesen wäre: Das erste Indiz ist philologischer Natur: Pacelli schrieb, dass Pius XI. „die verschiedenen Listen“ untersucht habe, doch Silvani fertigte aus den eingegangenen Listen nur eine einzige an, die sogar – darauf wurde bereits hingewiesen – sämtliche Kandidatenurteile der Proponenten aussparte. Da nicht anzunehmen ist, dass trotz dieser „Aufbereitung“ der Kandidatenvorschläge im Staatssekretariat der Pontifex sämtliche einzelnen Dokumente durchwälzte, hätte der Papst also nur die verkürzte eine Gesamtliste für die angesprochene „Prüfung“ zur Verfügung gehabt. Und wie hätte

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„… che il Santo Padre, … dopo aver preso in esame le varie liste …, Si è benignamente degnato di disporre che lʼEccellenza Vostra presenti a quel Capitolo Cattedrale la terna seguente …“ Pacelli an Orsenigo vom 7. April 1935, ASV, ANB 102, Fasz. 5, Fol. 37r. Vgl. dazu insbesondere Bd. 2, Kap. II.1.14 (Ergebnis Nr. 5). Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 360. 326

II.1.15 Berlin 1935

er letztlich auf dieser Basis – die Liste enthielt nur die Namen der Kandidaten, ihre gegenwärtige Stellung und die Namen der Proponenten – eine Kandidatenentscheidung treffen können? Erschwerend kommt hinzu, dass Rauch und Weber gar nicht vorgeschlagen worden waren und eine auf den preußischen Vorschlägen basierende Kandidatenentscheidung gar nicht zu der faktisch erstellten Terna hätte führen können. Wie hätte der Papst diese beiden, die er vermutlich nicht einmal kannte, auf die Dreierliste setzen können? Die Kenntnisse der deutschen Verhältnisse waren sicher auch ausschlaggebend dafür, dass von den Minutanten gerade Silvani – zwischen 1917 und 1919 Sekretär Pacellis in der Münchener Nuntiatur – die Vorschlagslisten zusammenführte. Um wie viel mehr war dann erst Pacelli durch seine zwölfjährige Nuntiaturerfahrung in München und Berlin disponiert, die Deutschland betreffenden Angelegenheiten in der Kurie zu regeln? Schließlich waren Rauch und insbesondere Preysing zwei nachweislich von Pacelli hochgeschätzte und episkopable Personen, sodass die Folgerung naheliegt, dass er für ihre Kandidatur sorgte.1275 Da Weber schließlich nur um Preysing willen auf der Liste stand, nämlich als „Füllkandidat“, der die Wahl des Grafen sicherstellen sollte, ist anzunehmen, dass der Kardinalstaatssekretär auch für die Aufstellung des Drittplatzierten verantwortlich war. Auf diesem Rang war im ersten Ternaentwurf Heufers zu finden, der erst durch Pacellis (!) Initiative im Kontext des Münsteraner Besetzungsfalls von 1933 in die Reihe der Bischofsanwärter gelangt war und folgerichtig zu Pacellis eigenem Kandidatenfundus gehörte. In der Kandidatenfrage konferierte Orsenigo bei seiner Romreise einzig mit Pacelli, wie dessen Bemerkung in seinem Bericht vom 2. Mai – „in Übereinstimmung mit den mündlich mit Eurer Eminenz verabredeten Instruktionen“1276 – deutlich macht. Angesichts dieser Indizien wird man davon ausgehen können, dass dem Kardinalstaatssekretär die konstitutive Rolle bei der Anfertigung der Terna zukam. Anzunehmen ist allerdings auch, dass er den Papst, in dessen Namen er die Terna der Nuntiatur übermittelte, in seine Pläne zugunsten Preysings einweihte und von ihm die Erlaubnis erhielt.1277 Es ist noch ein Blick auf Pacellis Verhältnis zu Orsenigo zu werfen. In erster Linie muss man konstatieren, dass der Kardinalstaatssekretär auf einen Nuntius zurückgreifen konnte, der sein Anliegen, Preysing nach Berlin zu transferieren, teilte und die ihm in Rom persönlich erteilten Instruk­ tionen engagiert, erfinderisch – man denke an die zwei präparierten Ternen – und schließlich erfolgreich umsetzte. Pacelli vertraute ihm die Entscheidung an, welcher der beiden „Füllkandidaten“ dem Domkapitel letztlich für die Bischofswahl vorgelegt werden sollte – ein „Fehlgriff “ in dieser 1275

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Dass Rauch ein Kandidat Pacellis und nicht in erster Linie Piusʼ XI. war, ergibt sich außerdem bereits aus der einfachen Beobachtung, dass der Professor 1946 und damit nach dem Tod Rattis auf der römischen Dreierliste stand, aus welcher das Freiburger Metropolitankapitel ihn zum neuen Erzbischof wählte. Pacelli, mittlerweile Pius XII., hatte zu diesem Zeitpunkt seinen früheren Schützling also nicht vergessen. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15 Anm. 1190. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Pacellis Audienznotiz vom 7. April 1935, Bd. 2, Kap. II.1.15 Anm. 1190. 327

II.1.16 Fulda 1936/39

Sache hätte den Wahlsieg Preysings ernsthaft gefährdet. Interessant ist, dass Orsenigo bei insgesamt regelmäßiger Berichterstattung seinen Vorgesetzten über seine Besprechungen mit den Staatsbeamten nicht immer ins vollständige Bild setzte. Insbesondere seinen Rückzieher vor Ministerialrat Schlüter – zunächst Akzeptanz des „Ausbildungsmangels“ Preysings, dann nachträgliche Revision noch am selben Tag –, der sicher keine diplomatische Auszeichnung verdient hatte, bekannte er vor Pacelli nicht. Ebenfalls unterrichtete er diesen über das vermeintliche Ausbildungsdefizit erst mit kurzer Verspätung. Klar, dass er mit diesem Thema nicht gern bei Pacelli aufwartete, zumal es auf seine Arbeit als päpstlicher Diplomat ein negatives Licht werfen konnte. Während Orsenigo insgesamt sehr auf ein reibungsloses Benehmen mit der NS-Regierung bedacht war – so drängte er sie zum Beispiel mehrfach, die 20-tägige Einspruchsfrist einzuhalten, um weitere Konflikte zu vermeiden –, schaffte er es jedoch nicht, die Debatte um den „Ausbildungsmangel“ selbst zu lösen. Dafür schien er auch nicht ausreichend gerüstet, wenn man bedenkt, dass es ihm in fast drei Wochen nicht gelang, den Vorwurf der Regierung an der Vita Preysings zu verifizieren. Folgerichtig legte er auch keinen konkreten Vorschlag vor, wie man die Sache aus der Welt schaffen konnte. Ähnlich bei der Kandidatenfrage: Zwar unterstützte er die Kandidatur Preysings, kümmerte sich jedoch nicht um die beiden übrigen Geistlichen, die für die römische Dreierliste gefunden werden mussten. Über die preußischen Vorschlagslisten ging er nicht hinaus, im Gegenteil: Da er wie gesehen nicht einmal Preysings akademischen Werdegang kannte – und denselben offenbar auch gar nicht in Erfahrung zu bringen suchte –, konnte er das Votum der Bischöfe im Wesentlichen nur zusammenfassen. Orsenigo schien demnach wenig eigene Vorstellungen zur Politik der Bischofseinsetzungen zu haben und überließ das Feld der Entscheidungsfindung weitgehend Pacelli.

II.1.16 Dem „Nationalsozialismus gegenüber systematisch feindlich eingestellt“ – Einspruch der NS-Regierung: Fulda 1936/39 (Johann Baptist Dietz)1278 Ein Koadjutor für Fulda und Pacellis Wunschkandidat Wendelin Rauch „Ich erlaube mir achtungsvoll Eure Ehrwürdige Eminenz darauf hinzuweisen, dass die körperliche Verfassung und vor allem der intellektuelle Zustand von Seiner Exzellenz Monsignore Joseph Damian Schmitt, Bischof von Fulda, so sind, dass ihm die Leitung seiner Diözese unmöglich

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Vgl. zur Bestellung des Koadjutors für Fulda 1936 Heim, Bischöfe, S. 282–319; Kaiser, Klausel, S. 168– 172, 218–227; Leugers, Mauer, S. 110f. 328

II.1.16 Fulda 1936/39

ist.“1279 Diese Einschätzung, mit welcher der Berliner Nuntius Orsenigo am 2. Februar 1936 seine Berichterstattung für Kardinalstaatssekretär Pacelli einleitete, bildete den Auftakt, römischerseits über einen Nachfolger des 78-jährigen Oberhirten nachzudenken. Dessen geistige Kräfte  – so Orsenigo – seien dermaßen geschwächt, dass er große Schwierigkeiten habe, sogar die ihm am nächsten stehenden Personen zu erkennen. Dennoch denke Schmitt nicht daran, von sich aus um einen Weihbischof oder Koadjutor als Unterstützung zu bitten, was jedoch – wie der Nuntius durchblicken ließ – durchaus nötig sei, da es der fast vollständig vom Generalvikar geführten Diözese „an nicht wenigen Initiativen“ mangele, „die aber in dieser Zeit umso notwendiger sind“1280. Abschließend bemerkte Orsenigo, er bringe diesen prekären Befund aus eigenem Antrieb zur Sprache und nicht etwa, weil ihn Klagen aus dem Bistum erreicht hätten. Pacelli erwiderte knapp zwei Wochen später, dass Papst Pius XI. diese Einschätzung vollständig teile und bereit sei, Schmitt einen Koadjutor an die Seite zu stellen und zwar – wie Pacelli handschriftlich im Briefentwurf ergänzte – cum iure successionis.1281 Die römische Kirchenspitze wollte die Gelegenheit also nutzen, unabhängig vom eigenen Willen des Fuldaer Oberhirten einen Nachfolger auf diesem „außerordentlichen“ Weg zu installieren. Denn anders als eine „ordentliche“ Bischofseinsetzung erfolgte die Bestellung eines Koadjutors ohne Listenverfahren und Domkapitelswahl. Laut Artikel 7 des Preußenkonkordats von 1929 konnte der Heilige Stuhl einen Kandidaten frei benennen, musste freilich die Staatsregierung wegen politischer Bedenken im Hinblick auf den ins Auge gefassten Kandidaten angehen.1282 Das Reichskonkordat von 1933 hatte diese Bestimmung dahingehend modifiziert, dass der Name des Anwärters zwecks Geltendmachung allgemeinpolitischer Bedenken dem jeweiligen Reichsstatthalter mitgeteilt werden musste.1283 Auch den passenden Geistlichen für das fragliche Amt hatte der Staatssekretär direkt parat: Es „scheine opportun“, Wendelin Rauch „in Erwägung zu ziehen“1284, der  – und mehr schrieb 1279

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„Mi permetto di far rispettosamente presente a Vostra Eminenza Reverendissima, che la condizioni fisiche e sopratutto intellettuali di Sua Eccellenza Monsignor Giuseppe Damiano Schmitt, Vescovo di Fulda, sono tali da renderlo impotente al governo della sua diocesi.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Februar 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 58rv, hier 58r. „… di non poche iniziative, che pur sono tanto necessario in questo tempo.“ Orsenigo an Pacelli vom 2. Februar 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 58v. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 14. Februar 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 60r. „Zum Praelatus nullius und zum Koadjutor eines Diözesanbischofs mit dem Rechte der Nachfolge wird der Heilige Stuhl niemand ernennen, ohne vorher durch Anfrage bei der Preußischen Staatsregierung festgestellt zu haben, daß Bedenken politischer Art gegen den Kandidaten nicht bestehen.“ Art. 7 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 325. Hervorhebung im Original. Vgl. Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. „… sembrerebbe opportuno prendere in considerazione …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Februar 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 60r. 329

II.1.16 Fulda 1936/39

Pacelli über Rauch nicht – Orsenigo ja gut bekannt sei. Damit spielte Pacelli auf die Besetzungen der Bischofsstühle von Berlin und Mainz im Vorjahr an, bei denen der 51-jährige Moraltheologe des Mainzer Priesterseminars jeweils als Amtsanwärter galt und daher beim Nuntius in lebhafter Erinnerung war.1285 Obwohl 1935 bereits geschehen, legte Pizzardo, der Sekretär der AES, dem formalen Geschäftsgang folgend dem Heiligen Offizium den Namen Rauch erneut zur Überprüfung vor.1286 Bevor aber Assessor Alfredo Ottaviani am 17. Februar das Nihil obstat der Suprema Congregatio zurücksandte, hatte Pacelli den Namen des Wunschkandidaten schon längst der Berliner Nuntiatur kommuniziert.1287

Die Klärung des Einsetzungsmodus und Schmitts Zustimmung zum Koadjutorplan Die letzte Koadjutoreinsetzung in Deutschland war in Limburg im Jahr 1929/30 erfolgt. Damals hatte Nuntius Pacelli intensiv und erfolgreich die Nomination Hilfrichs betrieben.1288 Dieses Verfahren schwebte dem Kardinalstaatssekretär als Muster vor, nach dem Orsenigo nun unverzüglich „die opportunen Schritte“1289 einleiten sollte. Was bedeutete das konkret? Orsenigo zumindest konnte mit dieser Anweisung nichts anfangen und meldete daher am Monatsende nach Rom zurück, dass er in dieser Angelegenheit noch nichts unternommen habe.1290 Der genannte Fall sei vor seiner Zeit gewesen und die Akten habe er im Nuntiaturarchiv nicht finden können. Stattdessen konzipierte er ein eigenes, drei Schritte umfassendes Verfahren: 1) Zunächst sei die Zustimmung Schmitts einzuholen, sowohl hinsichtlich der Koadjutoreinsetzung an sich als auch in Bezug auf den vom Heiligen Stuhl ins Auge gefassten Kandidaten.

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Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.15 (Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin) und Bd. 3, Kap. II.3.5 (Die römische Terna). Vgl. Pizzardo an Ottaviani vom 16. Februar 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 61r. Vgl. Ottaviani an Pizzardo vom 17. Februar 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 62r. Die dadurch gewissermaßen erfolgte Vorwegnahme der Entscheidung des Heiligen Offiziums durch den Kardinalstaatssekretär bleibt auch bestehen, wenn man bedenkt, dass es nur der Entwurf der Weisung Pacellis an Orsenigo war, der auf den 14. Februar datiert, denn die Ausfertigung wurde ebenfalls vor Ottavianis Antwort ausgestellt, nämlich am 16. Februar, wie sich aus der folgenden Antwort des Nuntius ergibt. Damit hätte ein möglicher Einspruch der Glaubensbehörde nur nachträglich – und zwar mit allen potentiellen Komplikationen – berücksichtigt werden können. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.8 (Pacellis Plan für Limburg: Hilfrich als Koadjutor mit Nachfolgerecht). „… i passi opportuni …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Februar 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 60r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 29. Februar 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 63r–64r. 330

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Außerdem müssten mit dem Fuldaer Oberhirten die Fragen der Unterkunft und der Bezüge des Koadjutors geklärt werden. 2) Wenn dies alles geregelt sei, würde er entsprechend Artikel 71291 des Preußenkonkordats und Artikel 14 des Reichskonkordats die Reichsregierung wegen eventuell bestehender politischer Bedenken gegen Rauch angehen. 3) Falls die Regierung keine Einwendungen gegen den Kandidaten habe, würde er dessen Einverständnis zur Amtsübernahme einholen. Im Wesentlichen war der Kardinalstaatssekretär mit dem skizzierten Vorgehen einverstanden, wie er dem Nuntius am 10. März mitteilte.1292 Doch auf ein Detail legte er großen Wert: Die Anfrage an die Regierung sollte so gestellt werden, „dass der Antrag auf einen Koadjutor scheint, vom besagten Bischof [sc. Schmitt, R.H.] auszugehen“1293. Schon beim angesprochenen Limburger Fall war dies die Devise Pacellis gewesen und vermutlich bestand hierin der Kernpunkt, weshalb jene causa als Vorbild dienen sollte. Die Motivation für den diplomatischen Kniff ist klar: Es sollte nicht der Anschein erweckt werden, als ob von Rom aus an den ortskirchlichen Instanzen vorbei – das heißt konkret am Wahlrecht der Domkapitel – die Ämtervergabe vorgenommen wurde. Wenn ein deutscher Bischof und Staatsbürger stattdessen aus eigenem Antrieb einen Koadjutor wünschte und vielleicht sogar noch eine konkrete Person bezeichnete,1294 konnte die Reichsregierung leichter annehmen, die deutschen Interessen würden bei allem ausreichend berücksichtigt. Pacelli beschloss seine telegraphische Anweisung mit der Betonung, dass das gesamte Verfahren unter strengster Geheimhaltung zu führen sei. Nachdem das Vorgehen geklärt war, schritt Orsenigo direkt zur Tat. Wie er am 20. März an Pacelli berichtete, habe er umgehend den Fuldaer Oberhirten kontaktiert, „der es leicht aufnahm und sogar mit einigen spontanen Vorschlägen das vorherbestimmte Verfahren unterstützte“1295. Schwieriger hingegen sei es gewesen, Schmitt davon zu überzeugen, die Sache vor dem Domkapitel geheim zu halten. Aber nach seiner Erklärung – so Orsenigo –, dass nur der

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Orsenigo gab hier fälschlich den 6. Artikel an, der das Prozedere für eine „ordentliche“ Bischofsbestellung normierte. Wie oben angegeben ordnete der 7. die staatskirchliche Komponente der Einsetzung eines Koadjutors. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 10. März 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 65r. „… che domanda Coadiutore apparisca fatta dal Vescovo stesso.“ Pacelli an Orsenigo vom 10. März 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 65r. So war es auf Anweisung Pacellis 1929/​30 in Limburg gewesen. „… che accolse facilmente, anzi agevolò egli stesso, con qualche sua spontanea proposta, la procedura prestabilita.“ Orsenigo an Pacelli vom 20. März 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 66r–67r, hier 66r-v. 331

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Papst die Erlaubnis geben könne, die Domherren einzuweihen, und seinem Versprechen, dass die Nomination Rauchs nicht publiziert werde, ohne dass vorher das Domkapitel benachrichtigt worden sei, habe sich Schmitt weitgehend zufrieden gegeben. Bezüglich des Unterhalts des Koadjutors habe er sich nur auf einige generelle Linien beschränkt, die in einem künftigen Gespräch mit dem Generalvikar und dem Domdekan präzisiert werden müssten. Dies könne – so der Nuntius weiter – dann erfolgen, wenn die Stellungnahme der Regierung zum Amtsanwärter eingetroffen sei. Orsenigo berichtete abschließend, dass ihn am Vortag – dem 19. März – der Paderborner Erzbischof aufgesucht habe. Klein habe eine Bitte vorgebracht, mit der zuvor der Dekan des Fuldaer Domkapitels, Prälat Karl Alex Leimbach, an ihn als Metropolit des Bistums Fulda herangetreten sei, nämlich sich um eine Unterstützung für den kranken Schmitt zu kümmern. Auf dieses Anliegen habe er – so unterrichtete Orsenigo seinen Vorgesetzten – nur unbestimmt erwidert, „dass ich versuchen würde, so schnell wie möglich dafür zu sorgen, ohne irgendeine andere Bemerkung zu ergänzen, um nicht etwa Ratschläge zu erhalten, die nicht mehr realisierbar sind“1296. Wenngleich Orsenigo zu Anfang versichert hatte, dass die Idee einer amtlichen Hilfe für Bischof Schmitt ihm selbst entsprungen sei, zeigt dieses Gesuch, in welche prekäre Lage die Bistumsleitung geraten und wie dringend dort der Wunsch nach Abhilfe war.

Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung Gemäß dem dreischrittigen Ablauf wandte sich der Nuntius nach der Aussprache mit Schmitt an das Auswärtige Amt und zwar „mit den angezeigten Worten“1297, die Pacelli in seiner Weisung verwendet hatte. So hieß es in seiner Verbalnote vom 16. März, der Fuldaer Oberhirte „hat den H[eiligen] Stuhl wegen seiner geschwächten Gesundheit um einen Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge gebeten“1298. Da Schmitt mit dem Vorschlag Orsenigos einverstanden war, war diese Behauptung durchaus korrekt. Anders als jedoch Pacelli seinerzeit in Limburg, fuhr Orsenigo fort, dass dem Wunsch des Bischofs entsprechend, „der Heilige Stuhl den Hochwürdigen Herrn Professor Dr. Wendelin Rauch, Professor der Moral am Priesterseminar zu Mainz, in Aussicht 1296

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„… che avrei cercato di provvedere il più presto possibile, senza aggiungere nessun altra notizia, per non espormi a ricevere dei consigli non più attuabili.“ Orsenigo an Pacelli vom 20. März 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 67r. „… nei termini indicati …“ Orsenigo an Pacelli vom 20. März 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 66v. Verbalnote der Nuntiatur an das Auswärtige Amt vom 16. März 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 170f. (Nr. 178), hier 170f.; Kaiser, Klausel, S. 219. 332

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genommen“1299 habe. Formal war das zwar richtig, beugte aber nicht dem Problem vor, dass die Reichsregierung einer einzig von Rom diktierten Personalie sicherlich a priori reservierter gegenüberstand als einem Vorschlag, der von einem deutschen Bischof stammte. Bei der persönlichen Übergabe der Note an den Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Bernhard Wilhelm von Bülow, habe Orsenigo – wie der Staatsbeamte am nächsten Tag dem Reichskirchenministerium mitteilte – um eine strenge Diskretion der Angelegenheit gebeten, da einzig der Fuldaer Bischof davon unterrichtet sei.1300 Über Rauch habe der Nuntius des Weiteren erklärt, dass er in Rom studiert habe und somit den Vorschriften des Reichskonkordats über die Vorbildung von Geistlichen entspreche.1301 Dieser Hinweis ist vor dem Hintergrund des Berliner Besetzungsfalls des Vorjahres zu lesen, als von Seiten des preußischen Kultusministeriums gegen den damaligen Eichstätter Oberhirten Preysing ins Feld geführt wurde, dass er den Ausbildungsbestimmungen des Reichskonkordats nicht genüge. Erneute Schwierigkeiten in dieser Hinsicht konnten nach Auffassung des Nuntius bei der Personalie Rauch also nicht auftreten. Bülow bemerkte gegenüber dem Kirchenministerium schließlich noch, dass Orsenigo um die Einhaltung der 20-tägigen Einspruchsfrist gebeten habe, eine Bitte, die angesichts der Tatsache einleuchtet, dass die NS-Regierung bei bislang keinem Besetzungsverfahren die Rückantwort pünktlich gegeben hatte. Damit begannen die Versuche der staatlichen Behörden, sich Klarheit über den römischen Kandidaten zu verschaffen.1302 Am 17. März reichte das Auswärtige Amt die Anfrage des Nuntius an das Reichsministerium für die Kirchenangelegenheiten weiter, das wiederum – nachdem es festgestellt hatte, keine Unterlagen über Rauch zu besitzen – vier Tage später den hessischen Reichsstatthalter, Jakob Sprenger, in die Untersuchung einbezog.1303 Der Reichsstatthalter sollte biographische Angaben über Rauch besorgen und die „etwaige frühere politische Tätigkeit“ herausfinden sowie „welche Haltung der Genannte gegenüber dem neuen Reich eingenommen hat, insbesondere in letzter Zeit einnimmt“1304. Am 4. April – also ein Tag vor Fristende – meldete die Reichsstatthalterbehörde dem Kirchenministerium zurück, dass der angeforderte Bericht in den

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Verbalnote der Nuntiatur an das Auswärtige Amt vom 16. März 1936, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 171. Hervorhebung R.H. Wie gewöhnlich fügte Orsenigo der Anfrage eine kurze Biographie des Erwählten hinzu, die das Geburtsdatum, das Jahr der Priesterweihe und seine gegenwärtige Anstellung in Mainz enthielt. Vgl. ebd., S. 171 Anm. 2; auch abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 219. Vgl. Bülow an das Reichskirchenministerium vom 17. März 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 218f. Vgl. Art. 14, Abs. 1, c des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 508. Vgl. zum Folgenden Heim, Bischöfe, S. 285–293. Vgl. Reichskirchenministerium an Sprenger vom 21. März 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 220. Damit war die Instanz mit der Untersuchung beauftragt, die laut Reichskonkordat dafür zuständig war. Reichskirchenministerium an Sprenger vom 21. März 1936, Kaiser, Klausel, S. 220. Die Anfrage sollte darüber hinaus streng vertraulich und möglichst schnell erledigt werden. 333

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kommenden Tagen – und damit zu spät – übermittelt werde.1305 Staatssekretär Bülow erreichte deshalb bei Orsenigo eine Fristverlängerung bis zum 15. April, wie er am 7. des Monats an das Reichskirchenministerium schrieb.1306 Laut der Aufzeichnung des Staatsbeamten hatte der Nuntius sich diesbezüglich mit der Kurie abgesprochen, wofür in den vatikanischen Akten allerdings kein Beleg gefunden werden konnte.1307 Ebenfalls am 7. April sandte Staatsrat Heinrich Reiner in Vertretung des Reichsstatthalters einen Zwischenbericht der Untersuchung an das Kirchenministerium, der nur dürftige Kenntnisse aufwies: „In politischer Hinsicht ist der Genannte noch nicht hervorgetreten. Es konnte auch nicht festgestellt werden, ob er einer politischen Partei angehört oder nahegestanden hat. An welcher Anstalt er das Reifezeugnis erworben und wo er studiert hat, konnte ebenfalls noch nicht festgestellt werden.“1308 Das hessische Reichsstatthalteramt hatte allerdings keine eigene Untersuchung durchgeführt, sondern im Anschluss an die Beauftragung durch das Kirchenministerium die Prüfung Rauchs an die Gestapo Darmstadt subdelegiert, deren Bericht Staatsrat Reiner erst am 8. April vorlag. Auf dieser Basis schrieb Reiner erneut an das Kirchenministerium und gab die Auffassung der NS-Geheimpolizei wieder: „R[auch] gehörte dem Zentrum an und war vor der nationalen Erhebung ein besonders gehässiger Gegner des Nationalsozialismus. Er wird auch heute noch als ein besonders gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung angesehen.“1309 Ohne konkretere Erläuterungen kündigte Reiner einen weiteren Bericht der Gestapo über Rauch an. Das Berliner Ministerium wartete in den folgenden Tagen vergeblich auf das versprochene Votum und hakte am 14. April telefonisch bei Reiner nach, „um Näheres über [die] feindselige Einstellung R[auch]s zu erfahren“1310. Dieser Bitte konnte der Staatsrat allerdings noch nicht nachkommen. Da aber die schon verlängerte Frist am nächsten Tag ablief, entschied man sich im Kirchenministerium, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen,

Zweimal hatte unterdessen das Kirchenministerium beim Reichsstatthalter auf die Erwiderung der Anfrage gedrängt. Vgl. Reichskirchenministerium an Sprenger ohne Datum sowie Notiz des Ministeriums vom 6. April 1936, beide abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 221. 1306 Vgl. Bülow an das Reichskirchenministerium vom 7. April 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 221. 1307 Ein späterer Bericht Orsenigos deutet tatsächlich darauf hin, dass Pacelli über die Prolongierung der Einspruchsfrist gewusst hatte, da der Nuntius über die Verspätung kein Wort verlor. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 18. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 77rv. 1308 Vgl. Reiner an das Reichskirchenministerium vom 7. April 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 221f., hier 222. 1309 Reiner an das Reichskirchenministerium vom 8. April 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 222. 1310 Notiz eines anonymen Referenten des Reichskirchenministeriums vom 14. April 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 222f., hier 222. 1305

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dass „erhebliche Bedenken politischer Art gegen die Ernennung des Kandidaten bestehen“1311. Die Grundlage bildete einzig die angezeigte „gehässige“ Gegnerschaft des Moraltheologen gegen den Nationalsozialismus. Auf Nachfrage Fritz von Menshausens vom Auswärtigen Amt bei Hermann von Detten im Kirchenministerium, welche spezifischen Begebenheiten diese Ablehnung begründeten, antwortete dieser, über die näheren Umstände nicht informiert zu sein. Nach kurzem Nachdenken entschied sich Menshausen daraufhin, politische Bedenken gegen Rauch geltend zu machen.1312 Die Verbalnote des Auswärtigen Amts an Orsenigo vom 15. April bemerkte dementsprechend knapp, dass gegen Rauch „erhebliche Bedenken allgemein politischer Natur bestehen“1313, ohne sich eingehender zu äußern. Wie Menshausen sich drei Tage später notierte, sprach Orsenigo nach Erhalt der Note bei ihm vor und machte deutlich, dass er ohne eine nähere Begründung die Ablehnung nicht nach Rom kommunizieren könne.1314 Mit seiner Forderung stieß er jedoch auf taube Ohren. Menshausen erwiderte ihm – so die Gesprächsnotizen des Staatsbeamten –, dass der Heilige Stuhl aus den Bestimmungen des Reichskonkordats keine Verpflichtung der Regierung ableiten könne, ihre Argumente offenzulegen. „Ich sei aber ermächtigt“, so Menshausen, „ihm mitzuteilen, daß Prof[4essor] Rauch ein besonders heftiger Gegner des Nationalsozialismus sei und daß er diese Einstellung nicht nur vor der Machtübernahme gezeigt habe, sondern auch heute noch bekunde. Der Nuntius erklärte hierauf, daß er sich mit einer solchen nicht näher begründeten Behauptung, auch ohne sie anzuzweifeln, nicht zufrieden geben könne …“1315

Der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts blieb jedoch bei seiner Position  – schon allein deswegen, weil er gar nicht in der Lage war, genauere Auskunft zu geben. Jedenfalls argumentierte er mit einer analogen Praxis der Kurie, die zum Beispiel erst kürzlich bei der Ablehnung der von staatlicher Seite gewünschten Ernennung Franz Justus Rarkowskis zum Feldbischof auf Nach-

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Reichskirchenministerium an das Auswärtige Amt ohne Datum [14. April 1936], abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 223. Vgl.: „Da die Fristverlängerung, die vom Nuntius nur ungern zugestanden worden ist, heute abläuft, erscheint es zwecklos, nochmals um eine Fristverlängerung zu bitten, um so mehr, als nach Äußerungen des Herrn von Detten mit einer Zurücknahme der Ablehnung von Seiten des Reichsstatthalters kaum zu rechnen ist. Es empfiehlt sich daher, vorstehende Verbalnote kurzer Hand noch heute an den Nuntius abzusenden und ihm, falls er eine nähere Begründung wünscht, solche nach Eingang in Aussicht zu stellen.“ Aktenvermerk Menshausens vom 15. April 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 181 Anm. 3. Verbalnote des Auswärtigen Amtes an die Nuntiatur vom 15. April 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 78r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 180f. (Nr. 190). Vgl. Aufzeichnung Menshausens vom 18. April 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 181f. (Nr. 191). Aufzeichnung Menshausens vom 18. April 1936, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 181. 335

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frage deutlich gemacht habe, „der Vatikan pflege in solchen Fällen keine Gründe anzugeben“1316. Darüber hinaus seien nicht Einzelheiten von Belang, sondern ausschließlich das Gesamtbild des Kandidaten. Laut Menshausens Notizen gab sich Orsenigo mit dieser Darstellung nicht zufrieden und meldete sich bereits am 18. April noch einmal telefonisch beim Staatsbeamten, der wiederum versicherte, sich diesbezüglich mit dem Kirchenministerium rückgeschlossen zu haben, das schließlich eine nähere Erläuterung der Ablehnung Rauchs in Aussicht gestellt habe. Grundsätzlich bleibe der Regierungsstandpunkt, zur Offenlegung der Gründe nicht verpflichtet zu sein, jedoch bestehen. Daraufhin übermittelte der Nuntius die staatliche Verbalnote nach Rom und fügte für Pacelli die Zusicherung hinzu, der Regierung gegenüber unverzüglich erklärt zu haben, „dass ich die Spezifizierung der vorgebrachten Einwände erwarte, damit der Heilige Stuhl diese gebührend untersuchen kann“1317. Wie Menshausen versprochen hatte, bemühte sich Hermann von Detten aus dem Reichskirchenministerium beim hessischen Reichsstatthalter tatsächlich um weitere Informationen, worauf ihm Staatsrat Reiner am 22. April den früher angesprochenen Ergänzungsbericht übermittelte, der soeben von der Geheimen Staatspolizei Darmstadt bei ihm eingetroffen war.1318 Darin wurde Rauch ein wissenschaftlicher Ruf konstatiert, wenngleich ihm Publikationen nicht nachgewiesen werden konnten. Stattdessen sollte dem Moraltheologen seine frühere Mitarbeit an der Mainzer, die Katholische Aktion unterstützenden Zeitschrift „Der Katholik“1319 zum Verhängnis werden: „Was dies bei der bekannten Haltung dieser Zeitung, die verschiedentlich beschlagnahmt und 1316

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Aufzeichnung Menshausens vom 18. April 1936, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 182. Das Amt des Feldbischofs war bereits in den 1920er Jahren Diskussionsthema zwischen der deutschen Regierung und dem Heiligen Stuhl. Ab 1935 wurde die Frage verstärkt zwischen Nuntius und Regierungsbehörden diskutiert. Von Seiten der Reichsregierung wünschte man die Ernennung des Wehrkreispfarrers Rarkowski, der jedoch auf Widerstand im Episkopat stieß und auch beim Heiligen Stuhl keine Unterstützung fand. Orsenigo erklärte als Begründung lediglich, dass der Genannte zu alt sei. Ein von Rom als Alternative vorgeschlagener Geistlicher fand wiederum nicht die Zustimmung der Reichsregierung. Schlussendlich erhielt Rarkowski im August 1936 das Feldbischofsamt, allerdings nur mit dem Titel eines Apostolischen Administrators. Erst Anfang 1938 wurde er zum Titularbischof von Hierocaesarea ernannt. Bis zu seiner Pensionierung am 6. Februar 1945 übte er das Amt aus. Vgl. dazu Güsgen, Militärseelsorge, bes. S. 374–392; Heim, Bischöfe, S. 218–281. „… che resto in attesa della specificazione delle obbiezioni sollevate, onde la Santa Sede possa prenderli debitamente in esame.“ Orsenigo an Pacelli vom 18. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935– 1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 77rv, hier 77v. Vgl. Reichskirchenministerium an Sprenger ohne Datum, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 223; Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 21. April 1936, abgedruckt ebd., S. 224. Dass Reiner diesen Text am 22. April an das Reichskirchenministerium übersandte, schreibt Heim, Bischöfe, S. 289. Es handelte sich bei „Der Katholik. Sonntags-Zeitung im Geist und Dienst der Katholischen Aktion“, erschienen von 1931 bis 1937, um das Nachfolgeorgan der berühmten, 1821 in Mainz gegründeten und konfessionell-ultramontanem Gedankengut verpflichteten Zeitschrift „Der Katholik“. Vgl. dazu mit weiterer Literatur Schwedt, Katholik. 336

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längere Zeit verboten war, bedeutet, bedarf keiner näheren Erklärung. Diese Mitarbeit stempelt ihn von vornherein zu einem Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung und des neuen Staates.“1320 Da die Gestapo also konkrete Äußerungen Rauchs nicht zur Verfügung hatte, folgerte sie seine Einstellung zum Nationalsozialismus aus den Stationen seiner Biographie. Denn auch allein die Tatsache, dass der Mainzer Oberhirte, Albert Stohr, den Genannten 1936 zum Geistlichen Rat ernannt hatte und dass er die Alumnen am Priesterseminar ausbildete, waren für die NS-Behörde klare Beweisgründe dafür, dass „er als ein Vertreter jenes orthodoxen Katholizismus zu betrachten ist, der nicht nur geistlich religiöse, sondern auch machtpolitische Ziele verfolgt“1321. Diesen Bericht ergänzte das Darmstädter Staatspolizeiamt wenig später durch ein weiteres Gutachten, das auf Informationen fußte, die von der Staatspolizeistelle Freiburg kamen.1322 Dieses prangerte an, dass Rauch es „schon frühzeitig verstanden“ habe, die Mainzer Bistumsleitung „gegen die nationalsozialistische Bewegung aufzuhetzen“, und beigetragen zu haben, „daß es zu den bekannten Verboten des verstorbenen Bischofs [sc. Ludwig Maria Hugo, R.H.], wie Weigerung von kirchlichen Trauungen von Nationalsozialisten usw., kam“1323. Auch die Ausbildung Rauchs am römischen Germanicum, die ihn zu einem „Jesuitenschüler“ mache, und seine Gegnerschaft zum Sterilisationsgesetz von 1933,1324 worin er „von Rom in jeder Weise gestützt“1325 werde, war der Gestapo ein Dorn im Auge. Damit war den Staatsbeamten klar, dass Rauch als ein Feind des Nationalsozialismus eingestuft werden musste. Auch dieses Gutachten übersandte Staatsrat Reiner aus dem Reichsstatthalteramt an das Reichskirchenministerium in Berlin. In seinem Anschreiben befürwortete er das Ergebnis, zu dem die beiden Voten gekommen waren: Rauch sei „nicht tragbar“, „seine Ablehnung“ daher „begründet“1326. Dass keine persönlichen Aussagen des Kandidaten angeführt werden konnten, die als belastendes Material verwendbar waren, versuchte Reiner damit zu rechtfertigen, dass Rauch zu jener Sorte von Geistlichen gehöre, „die auf Grund

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Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 21. April 1936, Kaiser, Klausel, S. 224. Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 21. April 1936, Kaiser, Klausel, S. 224. Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 23. April 1936, auszugsweise abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 225. Dass die Freiburger Gestapo die Informationsquelle war, zeigt Heim, Bischöfe, S. 289. Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 23. April 1936, Kaiser, Klausel, S. 225. Das Mainzer Ordinariat hatte durch seine pastoralen Richtlinien vom 30. September 1930, welche die Inkompatibilität von Nationalsozialismus und Katholizismus herausstellten, die Mitgliedschaft in der NSDAP für Katholiken verboten und diese andernfalls von den Sakramenten ausschlossen, als erste kirchenamtliche Stelle mit einem Verbot der NS-Ideologie auf sich aufmerksam gemacht. Vgl. Generalvikar Philipp Jakob Mayer an die NSDAP-Gauleitung Hessen-Darmstadt vom 30. September 1930, abgedruckt bei Gruber (Hg.), Kirche, S. 2–4 (Nr. 2). Vgl. dazu in römischer Sicht Wolf, Papst, S. 161f. Vgl. Rauch, Probleme, bes. S. 20–39. Ergänzungsbericht der Gestapo Darmstadt vom 23. April 1936, Kaiser, Klausel, S. 225. Reiner an das Reichskirchenministerium vom 23. April 1936, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 224. 337

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ihrer geistigen Beweglichkeit sich selbstverständlich keine Blöße geben“1327, offen die Partei und den NS-Staat anzugreifen. Diese versteckte Taktik sei aber noch gefährlicher als offener Widerstand. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass Reichskirchenminister Kerrl an seiner Ablehnung des Mainzer Professors festhielt, wie er am 27. April dem Auswärtigen Amt mitteilte.1328 In letztgenannter Behörde hatte einige Tage zuvor – am 23. April – noch einmal der Nuntius vorgesprochen und diesmal bei Außenminister Konstantin von Neurath persönlich.1329 Wie er Pacelli berichtete, habe ihm dieser zugesichert, umgehend die Gründe, die zur Ablehnung Rauchs geführt hatten, beim hessischen Reichsstatthalter einzuholen. Wie gesehen war diese Informationsbeschaffung bereits in vollem Gange. Trotzdem lag das abschließende Urteil des Statthalters noch nicht im Auswärtigen Amt vor, als Orsenigo am 8. Mai bei einem Gespräch mit Legationsrat Menshausen erneut auf die Fuldaer Frage zu sprechen kam.1330 Nach dessen Notizen vertröstete der Staatsbeamte den Nuntius mit dem Hinweis, dass er noch ein Schreiben aus Darmstadt über die näheren Gründe der Ablehnung erwarte. Falls dieses neue Gesichtspunkte erbringe, werde er es dem Heiligen Stuhl mitteilen. Nachdem Menshausen kurz darauf die Gutachten der Gestapo vorlagen, kam er jedoch zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war und es sich daher empfahl, „die Angelegenheit unsererseits vorläufig auf sich beruhen zu lassen“1331. Ohnehin habe er schon Rauchs antinationalsozialistische Einflussnahmen auf den Mainzer Ordinarius gegenüber Orsenigo zur Sprache gebracht. Zweimal noch bemühte sich der Nuntius, die konkreten Ablehnungsgründe in Erfahrung zu bringen: Zunächst telefonisch am 15. Mai, wo Menshausen jedoch erklärte, nichts Neues zu diesem Fall vorbringen zu können.1332 Sodann einen Tag darauf bei einem Gespräch mit Staatssekretär Bülow, gegenüber dem Orsenigo „versuchte, eine Analogie zu dem umgekehrten Falle herzustellen, wenn kirchlicherseits die Entlassung von Schulgeistlichen oder Professoren verlangt werde“1333. Bülow jedoch erkannte  – so dessen Aufzeichnung  – die Parallelität des Vergleichs nicht an und insistierte darauf, dass das Reichskonkordat die Regierung nicht zur Offenlegung der Bedenken zwinge. Spätestens jetzt musste Orsenigo klar sein, dass er in dieser Sache nicht 1327 1328

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Reiner an das Reichskirchenministerium vom 23. April 1936, Kaiser, Klausel, S. 224. Vgl. Reichskirchenministerium an das Auswärtige Amt vom 27. April 1936, auszugsweise abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 225. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 292 Anm. 1246. Die beiden Gutachten der Gestapo wurden der Mitteilung abschriftlich beigefügt. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 25. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 79rv. Vgl. nachträgliche Aufzeichnung Menshausens vom 13. Mai 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 186f. (Nr. 197). Nachträgliche Aufzeichnung Menshausens vom 13. Mai 1936, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 187. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 293. Aufzeichnung Bülows vom 16. Mai 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 188f. (Nr. 199), hier 188. 338

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mehr weiter kam. Wohl oder übel blieb ihm nichts anderes übrig, als nach diesem Gespräch dem Kardinalstaatssekretär von der unnachgiebigen Haltung der Reichsregierung zu berichten.1334 Auch Pacelli gegenüber schilderte Orsenigo sein Argument, dass die deutschen Bischöfe stets ihre Bedenken offenlegen würden, wenn sie die Entfernung eines Lehrers aus einer katholischen Schule oder eines Theologieprofessors aus einer Universität verlangten. Dabei stelle es das Preußenkonkordat für den letztgenannten Fall gerade in das Ermessen des jeweiligen Oberhirten, „wie weit der Bischof in dieser Darlegung [sc. der Bedenken gegen den Vorgeschlagenen, R.H.] zu gehen vermag“1335. Damit gingen nach Orsenigos Auffassung die Bischöfe über das vom Konkordat Verpflichtende hinaus. Diese Überlegung habe aber die Regierungsseite trotz mehrmaliger Wiederholung nicht von ihrem Standpunkt abbringen können. Ihm sei aber aus dem Auswärtigen Amt – „wenigstens aus Höflichkeit“ – mitgeteilt worden, dass die hessische Reichsstatthalterbehörde „unzweideutig“ erklärt habe, dass Rauch „dem Nationalsozialismus gegenüber systematisch feindlich eingestellt ist und dass dementsprechend auch die Ratschläge waren, die er dem verstorbenen Bischof von Mainz erteilte“1336. Der Nuntius berichtete dem Kardinalstaatssekretär weiter, dass die Regierung „auch im Besitz eines Briefes eines Priesters sei, der unabhängig geschrieben wurde, ich weiß nicht von wem, jedenfalls ohne von der fraglichen Kandidatur zu wissen; in diesem fällt der Genannte ein missfälliges Urteil über die Haltung des Hochwürdigen Priesters Dr. Wendelin Rauch in politischen Angelegenheiten“1337.

Mit diesem Dokument, von dem Orsenigo in seinem Gespräch mit Menshausen am 8. Mai erfahren hatte, versuchte die staatliche Seite offenkundig zu belegen, dass die Einstellung Rauchs gegenüber dem Nationalsozialismus sogar unter der katholischen Geistlichkeit missbilligt wurde. Schließlich erinnerte Orsenigo Pacelli daran, dass die Reichsregierung schon zwei Jahre zuvor die von Gröber

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Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 16. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 80r–81v. Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 12, Abs. 1, Satz 2 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 327f. Orsenigo sah in dieser Ermessensangelegenheit eine Ausnahme von der gewöhnlichen Praxis, die Bedenken offenzulegen, „eine Ausnahme jedoch, die, weil sie ausdrücklich hervorgehoben wird, die Regel bestätigt“. Orsenigo an Neurath vom 5. Juni 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 95r–97r (nur r), hier 96r. „… almeno a titolo di cortesia … in modo inequivocabile … è sistematicamente ostile al nazionalsocialismo e che secondo questʼordine di idee furono pure i consigli, che egli deve aver dato al defunto Vescovo di Magonza.“ Orsenigo an Pacelli vom 16. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 81r. „… sarebbe anche in possesso di una lettera di un sacerdote, spontaneamente scritta, non so a chi e senza sapere della candidatura in corso, in cui si dà, circa il contegno del Reverendo Sacerdote Dottor Vendelino Rauch in materia politica, questo stesso sfavorevole giudizio.“ Orsenigo an Pacelli vom 16. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 81r. 339

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und Stohr geförderte Erhebung Rauchs auf den Lehrstuhl für Moraltheologie in Freiburg verhindert habe.1338 Damit deutete der Nuntius an, dass es aussichtslos schien, Rauch bei der NS-Regierung durchzusetzen. Er bekannte, dass er aus den vielen Gesprächen mit den Regierungsvertretern nicht habe erschließen können, ob hinter dem Mantel des Schweigens eine innenpolitische Geheimhaltung stehe. Seine Ratlosigkeit konnte Orsenigo also nicht verbergen. Und die Situation wurde noch komplizierter: Denn nun habe ihm Bischof Schmitt, „vielleicht infolge seiner schwachen Gesundheit“1339, einen Brief geschrieben, in dem er nach dem aktuellen Stand der Koadjutoreinsetzung frage. Schmitt machte einen Vorschlag, der alle römischen Pläne über den Haufen warf: „Wenn man je überlegt hat, für mich einen Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge zu ernennen, gäbe es eine Schwierigkeit. Meine körperliche Gesundheit und meine geistigen Leiden erlauben es mir nicht, mich vollständig und umfassend mit den so schweren und schwierigen modernen Fragen zu befassen. Deshalb, so scheint mir, müsste man mir jede bischöfliche Verantwortung entziehen.“1340

Schmitt plante also nichts anderes, als von seinem Amt zurückzutreten. Die etwaigen Konsequenzen waren klar: Die von Pacelli und Orsenigo angestrebte Koadjutoreinsetzung wäre damit unmöglich und eine gewöhnliche Bischofswahl inklusive Listenverfahren der nächste Schritt.

Der römische Alternativkandidat Johann Baptist Dietz und die Not von Bischof Schmitt Wie reagierte Pacelli auf die Sackgasse, in welche das Fuldaer Besetzungsverfahren geraten war? Es dauerte gut eineinhalb Wochen bis er dem Nuntius eine Lösung präsentierte.1341 Die Auffassung der Reichsregierung, nicht zur Offenlegung der politischen Bedenken gegen Rauch verpflichtet zu

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Vgl. Seiterich, Erzbischof, S. 244. „… forse in conseguenza della sua debole salute …“ Orsenigo an Pacelli vom 16. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 81v. „Se mai si pensasse di nominarmi un Coadiutore cum Jure successionis, vi sarebbe una difficoltà. La mia salute fisica le mie sofferenze spirituali non mi permettono di occuparmi pienamente e completamente dell così gravi e difficili questioni moderni. Perciò, pare a me, si dovrebbe levarmi ogni responsibilità episcopale.“ Orsenigo an Pacelli vom 16. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 81v. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84rv. 340

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sein, bezeichnete Pacelli als „nicht hinnehmbar“1342. Pius XI. vertrete sogar die Meinung, dass Orsenigo neben den schon mündlichen Vorbehalten auch eine schriftliche Protestnote bei der Regierung einreichen müsse. Dennoch schienen Papst und Staatssekretär eingesehen zu haben, dass weitere Bemühungen in dieser Sache zwecklos waren und dass es unmöglich war, den Mainzer Moraltheologen auf den Fuldaer Bischofsstuhl – über den „Umweg“ eines Koadjutors – zu befördern. Da jedoch die „körperlichen und moralischen Voraussetzungen von Monsignore Schmitt“ die Ernennung eines Koadjutors mit Nachfolgerecht dringend erforderlich machen würden, sei es – so Pacelli – „nötig, an einen anderen Kandidaten zu denken“1343. Der Papst habe entschieden, dass an die Stelle von Rauch Johann Baptist Dietz treten solle, „geboren am 30. Januar 1879 in Birkach (Erzdiözese Bamberg), Doktor der Philosophie und Theologie, Hausprälat Seiner Heiligkeit, Regens des Bamberger Priesterseminars“1344. Am gleichen Tag, auf den der Entwurf dieser Weisung datiert, ließ Pizzardo den Bamberger Regens vom Sanctum Officium überprüfen, das wie gewöhnlich keine Einwände erhob.1345 Pacellis Auftrag für Orsenigo lautete, „mit größter Eile“ die Regierung über den neuen Kandidaten zu befragen, „dessen Qualitäten jeden vernünftigen Einspruch ausschließen müssten“1346. Wenn Dietz schließlich zum Koadjutor mit Nachfolgerecht ernannt worden sei – „was auch die Kapitelswahl vermeidet, die den aktuellen Stand erheblich verlängern würde“1347 –, könne dieser sofort alle nötigen Vollmachten erhalten, um Bischof Schmitt von jeder bischöflichen Verantwortung zu entlasten. Mit dieser letzten Bemerkung spielte Pacelli auf den Wunsch Schmitts an, von seinem Amt zurückzutreten. Im Anschluss an die Koadjutoreinsetzung war Pacelli bereit, dem Anliegen zu entsprechen. Allerdings hatte der Kardinalstaatssekretär nicht erst durch Orsenigo erfahren, dass sich die Lage in Fulda zuspitzte. Schon unter dem Datum des 24. April erhielt er ein Schreiben des Fuldaer

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„… non ammissibile …“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84r. „… condizioni fisiche e morali di Mons. Schmitt, è occorre … pensare ad un altro candidato …“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84r. „… nato il 30 Gennaio 1879 in Birkach (archidiocesi Bamberga), dottore in filosofia e in teologia, Prelato Domestico di S.S., rettore del Seminario maggiore di Bamberga.“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84r-v. Vgl. Pizzardo an Ottaviani vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 83r und Ottaviani an Pizzardo vom 28. Mai 1936, ebd., Fol. 85r. „… colla maggior sollecitudine …, le cui qualità dovrebbero escludere qualsiasi ragionevole obbiezione.“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84v. „… il che evita anche la elezione capitolare, che prolungherebbe anche più lo stato attuale …“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84v. 341

II.1.16 Fulda 1936/39

Domdekans Leimbach.1348 Dieser erklärte, dass der greise Bischof in der letzten Kapitelssitzung den Domkapitularen mitgeteilt habe, seinen Sekretär, Joseph Wahl, nach Rom gesandt zu haben, um Pacelli „vorzustellen, dass im Preußen-Konkordat eine Lücke sei, weil für die Diözese Fulda kein Koadjutor vorgesehen wäre“1349. Damit deutete Schmitt die Tatsache an, dass das preußische Konkordat für das Bistum Fulda zur „Unterstützung des Diözesanbischofs“1350 keinen Weihbischof bestimmte. Schmitt hatte also dem Domkapitel keineswegs die römische Initiative verraten, einen Koadjutor mit Nachfolgerecht zu installieren, was ihm von Orsenigo strikt verboten worden war. Stattdessen ging es ihm hier zunächst nur um die besagte Hilfe bei der Regierung der Diözese.1351 Wenn man bedenkt, dass Schmitt gegenüber dem Nuntius wenige Tage später im Mai dann seinen Amtsverzicht vorschlug, wird man in dem sprunghaften Wechsel seiner Pläne vielleicht eine Auswirkung seiner prekären Geistesverfassung, sicher aber das starke Bemühen, eine Lösung für die Diözese zu finden, erkennen können. Das Domkapitel habe – so Leimbach weiter – befremdlich auf die Äußerung des Bischofs reagiert, da er mit jenen, die doch die gesamte Diözesanverwaltung stemmen würden, keine Rücksprache gehalten habe. Schlussendlich habe er – so der Dekan – mit Zustimmung Schmitts einen Brief an den Bischofssekretär entworfen, der den erteilten Auftrag wieder zurückgenommen habe. Da er sich jedoch nicht sicher gewesen sei, ob der Bischof angesichts seiner zunehmenden Vergesslichkeit den Brief wirklich abgeschickt habe, habe er sich entschlossen, Pacelli selbst die Lage der Diözese zu skizzieren. Ein Koadjutor als unterstützende Kraft, – so Leimbach – könne die gegenwärtigen Probleme nicht beheben, wie übrigens auch der Paderborner Metropolit finde. Falls dies aber dennoch die römische Entscheidung sein sollte, bat er darum, dass nicht der völlig untaugliche Regens des Fuldaer Priesterseminars, Emil Weber, zum Koadjutor ernannt werde, wie es gerüchteweise kolportiert werde.1352 Pacelli antwortete auf 1348

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Vgl. Leimbach an Pacelli vom 24. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 68r–73v. Ermutigt, sich an Pacelli zu wenden, fühlte sich der Domdekan durch ein Schreiben vom 3. März des Jahres, das er aus Rom erhalten hatte. Wie sich aus den Ausführungen Leimbachs ergibt, ging es darin jedoch nicht um die Fuldaer Bischofsfrage. Leimbach an Pacelli vom 24. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 68r. Vgl. Art. 2, Abs. 10 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 324. Das zeigt sich auch an späterer Stelle des Schreibens. So glaubte Leimbach, dass bei Schmitt aus „dem Bewusstsein der Unzulänglichkeit … der Gedanke des Koadjutors erwachsen“ sei. Leimbach an Pacelli vom 24. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 69r. Dann folgerte er, dass der Bischof vermutlich an eine Hilfe bei den Firmreisen denke, für welche in der Vergangenheit die Nachbarbischöfe eingesprungen seien. Im Folgenden zeigte der Domdekan auf, dass Weber völlig ungeeignet sei, nicht nur für das Amt des Koadjutors, sondern auch für das des Regens. Nur seltene Zelebration der Messe, „Beziehungen, de quibus hic nil ulterius“, häufige Abwesenheit vom Seminar und Nachlässigkeiten in der Verwaltung waren Anschuldigen, die Leimbach gegen Weber erhob. Leimbach an Pacelli vom 24. April 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 70v. Letztlich ging es dem Domdekan in 342

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das Anliegen des Domdekans nicht.1353 Er hätte auch nur die Möglichkeit gehabt, entweder das schwebende Verfahren der Installation eines Koadjutors cum iure successionis preiszugeben oder aber eine ausweichende Replik zu geben. Ersteres wollte Pacelli aus Diskretionsgründen und etwaigen missliebigen Einmischungsversuchen keinesfalls und Letzteres hätte ihm nach Bekanntwerden der römischen Initiative negativ ausgelegt werden können. Stattdessen versuchte er durch den Kandidatenwechsel, die ins Auge gefasste dauerhafte Lösung der Fuldaer Bischofsfrage voranzutreiben, nachdem Rauch keine reale Option mehr war. Bevor Orsenigo den Auftrag Pacellis ausführte und die Reichsregierung erneut über politische Bedenken gegen den neuen Amtsanwärter befragte, überlegte er, ob es nicht ebenfalls nötig sei, dem Fuldaer Oberhirten den Namen des neuen Kandidaten mitzuteilen.1354 Auch hielt er die Zeit für gekommen, die Unterhaltsfrage des neuen Koadjutors mit Generalvikar Robert Günther oder Domdekan Leimbach zu besprechen. Doch traute sich Orsenigo nicht, diese Überlegungen eigenmächtig in die Tat umzusetzen, sondern fragte stattdessen seinen römischen Vorgesetzten um Rat, der ihm prompt widersprach: „Um Indiskretionen und weitere Schwierigkeiten zu vermeiden“1355, sei es besser, zunächst nur die staatliche Seite zu kontaktieren. Bei positiver Rückmeldung könne dann „ohne Gefahr“1356 im Sinne von Orsenigos Überlegungen vorgegangen werden. Das bedeutete, dass insbesondere Bischof Schmitt weiter im Dunkeln tappte, was die Einsetzung des Koadjutors anbelangte, deren Bevorstehen Orsenigo ihm schon im März kommuniziert hatte. Seitdem war nun schon ein knappes Vierteljahr vergangen und so verwundert es nicht, dass der greise Oberhirte zunehmend ungeduldig wurde. Nachdem seine Eingabe bei Orsenigo ohne für ihn erkennbare Wirkung und das Vorhaben, seinen Sekretär zum Kardinalstaatssekretär zu senden, ohne Erfolg geblieben waren, unternahm er Anfang Juni einen neuen Versuch. Dieses Mal wandte er sich direkt an Pacelli und bekannte offen, „dass meine körperlichen und geistigen Kräfte sehr geschwächt und den vielfachen Anstrengungen des bi-

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seinem Schreiben vor allem darum, eine Neubesetzung der Regentenstelle zu erwirken, für die er den Konviktspräses Hermann Schmidt aus Heiligenstadt vorschlug. Auf die Koadjutorfrage oder gar auf eine dauerhafte Lösung für die Bistumsleitung kam Leimbach nicht mehr zu sprechen. Vgl. zu Schmidt Hehl u. a. (Bearb.), Priester, S. 681. Deshalb vergewisserte sich Leimbach Ende Juni, dass Pacelli sein Schreiben erhalten hatte. Vgl. Leimbach an Pacelli vom 30. Juni 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 74rv und Pacelli an Leimbach vom 5. Juli 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 75r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 31. Mai 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 86r. „Per evitare indiscrezioni e ulteriori difficoltà …“ Pacelli an Orsenigo vom 4. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 86r. „… senza pericolo …“ Pacelli an Orsenigo vom 4. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 86r. 343

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schöflichen Amtes, das ich seit dem 19. März 1907 übernommen habe, nicht mehr gewachsen sind“1357. Doch damit nicht genug, denn „auch seelische Leiden – so muss ich offenbaren – suchen mich mit zunehmender Heftigkeit, selbst bei den heiligen Funktionen, heim“, sodass es ihm gänzlich unmöglich sei, „in die modernen Verhältnisse der gegenwärtigen entscheidungsvollen Zeit hineinzufinden und mit der notwendigen Ruhe und Kraft, als verantwortlicher Bischof einer ausgedehnten Diasporadiözese, wichtige Entschließungen zu fassen“1358. Diese Beschreibung seiner prekären Lage kulminierte in dem bereits früher formulierten Vorschlag, dass mit einem Weihbischof beziehungsweise Koadjutor, auch wenn er mit Nachfolgerecht versehen werde, der Not des Bistums nicht hinreichend begegnet würde. Deshalb äußerte Schmitt die dringendste Bitte, dem Papst vorzutragen, dass er von seinem bischöflichen Amt zurücktreten wolle. Wie bereits deutlich wurde, kam für Pacelli eine Resignation Schmitts nicht infrage. Dennoch hatte er Verständnis für dessen Lage, die er auch Pius XI. unterbreitete, wie er wenige Tage später dem niedergeschlagenen Oberhirten brieflich versicherte.1359 „Wenn es bisher noch nicht möglich gewesen ist“, so bemerkte Pacelli, „Ihrem Wunsche mit der von Ihnen ersehnten Beschleunigung Rechnung zu tragen, so liegt dies an Schwierigkeiten, die von anderer Seite in der Frage der Bestellung eines geeigneten Koadjutors und Nachfolgers hineingetragen worden sind“1360. Aus diesem entschuldigenden Hinweis konnte auch Schmitt herauslesen, dass das Vernehmen mit der Regierung Probleme verursachte. Pacelli zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass diese „bald überwunden“ würden und dann werde er dafür Sorge tragen, „für die Bestellung eine Form zu finden“1361, welche Schmitt von der als so schwer empfundenen Verantwortung befreie. Dass es mittlerweile nicht mehr um Rauch als Kandidaten ging, verriet Pacelli nicht. Stattdessen schloss er mit der Bitte, „die Form der Erledigung in unbegrenztem Vertrauen dem H[eiligen] Stuhl zu überlassen, in dessen Schatten Sie einst zum Priestertum heranwuchsen“1362, womit er offensichtlich auf Schmitts Studienzeit im römischen Germanicum anspielte.

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Schmitt an Pacelli vom 5. Juni 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 88rv, hier 88r. Schmitt an Pacelli vom 5. Juni 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 88r-v. Vgl. Pacelli an Schmitt vom 9. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 89rv. Pacelli an Schmitt vom 9. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 89r. Pacelli an Schmitt vom 9. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 89r. Pacelli an Schmitt vom 9. Juni 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 89v. 344

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Der zweite Versuch: das Nihil obstat für Johann Baptist Dietz Nun war wiederum Orsenigo am Zug, das Besetzungsverfahren voranzutreiben. Am 5. Juni, unmittelbar nachdem ihm Pacelli das weitere Vorgehen eingeschärft hatte, übergab er dem Auswärtigen Amt mit der Bitte um Diskretion und zügige Behandlung folgende Verbalnote: „Seine Exzellenz der Herr Bischof von Fulda Dr. Joseph Damian Schmitt hat den H[eiligen] Stuhl wegen seiner geschwächten Gesundheit um einen Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge gebeten. Entsprechend diesem Wunsche hat der Heilige Stuhl den Hochwürdigen Herrn Dr. Johann Baptist Dietz, Regens am Erzbischöflichen Klerikalseminar in Bamberg, in Aussicht genommen. Die Apostolische Nuntiatur beehrt sich anzufragen, ob Bedenken allgemein politischer Natur gegen den Kandidaten bestehen.“1363

Gleichzeitig übermittelte Orsenigo eine Note, um gegen den Umgang der Regierung mit der politischen Klausel des Reichskonkordats zu protestieren, wie es Pius XI. verlangt hatte.1364 Darin stellte der Nuntius fest, dass die Auffassung, dass „die Reichsregierung sich laut des Konkordats für nicht verpflichtet hält, die Bedenken [sc. allgemeinpolitischer Natur, R.H.] selber mitzuteilen, vom Heiligen Stuhl nicht anerkannt werden kann“1365. Unannehmbar sei dieser Standpunkt aus zwei Gründen: 1) Zunächst entspreche es dem allgemeinen Brauch, etwaige bestehende Bedenken zu spezifizieren, „damit sie gemeinsam gewürdigt werden können“1366. Orsenigo begründete dies mit der schon früher angeführten kirchlichen Praxis, Bedenken gegen Lehrer oder Universitätsprofessoren zu äußern. 2) Aus der Formulierung des Reichskonkordats zur politischen Klausel, wenn „Bedenken … bestehen“, müssten diese „vorgebracht werden“, leitete Orsenigo ab, dass die Bedenken inhaltlich konkretisiert werden müssten.1367 Orsenigo sah keinen Grund dafür, dass die Reichsregierung dieser doppelt gestützten Interpretation des Heiligen Stuhls nicht beipflichten konnte. Bei der Übergabe der beiden Schreiben

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Verbalnote der Nuntiatur an das Auswärtige Amt vom 5. Juni 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 190 (Nr. 201). Vgl. zum Folgenden auch Heim, Bischöfe, S. 293–300. Vgl. Orsenigo an Neurath vom 5. Juni 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 95r–97r (nur r) (ital. Übersetzung ebd., Fol. 98r–100r (nur r)); abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 191f. (Nr. 202). Orsenigo an Neurath vom 5. Juni 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 95r. Orsenigo an Neurath vom 5. Juni 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 95r. Orsenigo folgerte aus dem Wortlaut des Reichskonkordats: „‚Es besteht Einverständnis darüber, dass, a) sofern Bedenken … bestehen, solche … vorgebracht werdenʻ; und dass diese Mitteilung b) ‚in kürzester Fristʻ zu erfolgen hat. Hätte das Konkordat nur die Pflicht der Mitteilung von Bestehen der Be345

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an den Bülow vertretenden Ministerialdirektor Hans Heinrich Dieckhoff habe der Nuntius – so die Aufzeichnung des Staatsbeamten – mündlich hinzugefügt, dass der Heilige Stuhl zwar grundsätzlich „auf seinem bisherigen Standpunkt verharre, praktisch aber durch den Vorschlag Dietz eine andere Regelung anrege“1368. Wie er Pacelli gestand, dem er am nächsten Tag die Protestnote abschriftlich zugehen ließ, erwartete Orsenigo jedoch keine unmittelbare Reaktion aus dem Auswärtigen Amt, da die meisten dortigen Staatsbeamten entweder krank oder im Urlaub seien.1369 Die Kontroverse zwischen Heiligem Stuhl und Reichsregierung über die politische Klausel sollte noch bis Anfang 1937 andauern, erbrachte jedoch keinen Konsens, da beide Seiten auf ihrem Standpunkt verharrten.1370 Orsenigos Anfrage zum Kandidaten Dietz wurde am 6. Juni, dem Tag nach der Eingabe, vom Auswärtigen Amt an das Kirchenministerium weitergeleitet.1371 Von dort erhielten das bayerische Innenministerium, das Geheime Staatspolizeiamt, der NSDAP-Gauleiter in Bayreuth und

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denken auferlegen wollen und nicht auch die Pflicht dieselben anzugeben, hätte es nicht den Ausdruck gebraucht, ‚solche … vorgebracht werdenʻ. Orsenigo an Neurath vom 5. Juni 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 96r. Vermerk Dieckhoffs vom 5. Juni 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 294. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 6. Juni 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 93r–94r. Außenminister Neurath sei mit Herzproblemen seit einigen Wochen in Kur, Untersekretär Bülow schon seit Pfingsten wegen schwerer Grippe in einer Klinik, Menshausen schließlich seit drei Wochen beurlaubt. Daher habe er sowohl die Verbal- als auch die Protestnote an Dieckhoff übergeben, „un cattolico praticante“ (ebd., Fol. 93v), und um die strengste Geheimhaltung in der Fuldaer Koadjutorfrage gebeten. Vgl. auch Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 190 Anm. 4. Da Bülow noch im selben Monat verstarb, sollte Ministerialdirektor Dieckhoff bis April 1937 der Gesprächspartner Orsenigos im Auswärtigen Amt werden. Vgl. ebd., S. XLI. Der Reichsaußenminister versuchte mit Note vom 10. August die Protestnote des Nuntius zu entkräften, woraufhin Orsenigo nach Rücksprache mit Pacelli am 30. September eine ausführliche Widerlegung aufsetzte, die vor allem klarstellte, dass eine staatliche Geheimhaltung der allgemeinpolitischen Bedenken letztlich einem staatlichen Vetorecht gegen den vom Heiligen Stuhl ins Auge gefassten Kandidaten gleichkäme. Neurath blieb in seiner Antwort vom 31. Januar 1937 bei seiner Auffassung und ging auf die Argumente des Nuntius nicht mehr ein. Vgl. Neurath an Orsenigo vom 10. August 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 207f. (Nr. 218); Orsenigo an Neurath vom 30. September 1936 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 678 P.O., Fasz. 248, Fol. 4r–7r (nur r); abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 213–215 (Nr. 226); Neurath an Orsenigo vom 31. Januar 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 678 P.O., Fasz. 248, Fol. 11r (ital.); abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 230 (Nr. 244). Vgl. dazu auch den Briefwechsel zwischen Pacelli und Orsenigo vom 22. und 28. August 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 119rv und 130rv. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 300–307; Kaiser, Klausel, S. 151–158; gegen eine Begründungspflicht des Staates argumentiert Weber, Klausel, S. 77–86. Vgl. Auswärtiges Amt an das Reichskirchenministerium vom 6. Juni 1936, auszugsweise abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 225f. 346

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schließlich das bayerische Kultusministerium den Auftrag, Ermittlungen über den Bamberger Regens anzustellen. Letztgenannte Behörde antwortete als erste am 16. Juni. Sie ergänzte die vorhandenen biographischen Informationen über Dietz unter anderem mit dem Hinweis, dass dieser in Rom studiert und zum Priester geweiht worden sei. Was die politische Einstellung anbelangte, sei nichts Abträgliches über ihn bekannt. Mit Rekurs auf einen Regierungsbericht, der im Jahr 1912 anlässlich der Ernennung Dietzʼ zum Bamberger Regens verfasst worden war, schloss die Beurteilung: „In Bayreuth1372 steht Dr. Dietz in guter Erinnerung. Er ist ein begabter, unterrichteter Priester, der seither Schwierigkeiten zu vermeiden wußte. Er ist eine angenehme Erscheinung und hat gute Umgangsformen.“1373 Zwei Tage später meldete sich auch das Münchener Innenministerium zurück und stellte fest, dass gegen Dietz weder in „politischer, strafrechtlicher und sonstiger Hinsicht … Nachteiliges bekannt geworden“1374 und er nie politisch aufgefallen sei. Allerdings stehe zu vermuten, dass er früher Anhänger der Bayerischen Volkspartei gewesen sei. Das Ministerium bescheinigte Dietz geistige Flexibilität, durch die er in der Lage sei, seine Auffassungen nachdrücklich zu vertreten. Seine Einstellung zum Nationalsozialismus sei allerdings alles andere als wohlwollend: „Aus dem Verhalten seiner Schüler (Alumnen) ist aber zu schließen, daß Dietz selbst dem Staat ablehnend gegenübersteht“ und auch künftig die nationalsozialistische Sicht „bei ihm nie Fuß fassen wird“1375. Eine ausgeprägte Mitwirkung an der – von NS-Seite verhassten – Katholischen Aktion könne Dietz nicht nachgewiesen werden, ebenso wenig Handlungen, die als staatsfeindlich qualifiziert werden müssten. Das Kirchenministerium bemaß die Frist, um politische Bedenken geltend zu machen, nach dem Eingangsdatum der Verbalnote Orsenigos, sodass ihr nach dieser Rechnung bis zum 27. Juni Zeit blieb. Da dieses Datum näher rückte, richtete das Ministerium am 25. des Monats sein Urteil an den preußischen Reichsstatthalter und Ministerpräsidenten Göring, obgleich sich die beiden weiteren, ebenfalls angefragten Behörden noch nicht zurückgemeldet hatten. Auf Basis der Voten der bayerischen Ministerien sowie privater Informationen,1376 die von dritter Seite zugegangen waren, kam es zu dem Ergebnis, dass gegen Dietz keine Bedenken erhoben werden könnten. Die preußische Staatskanzlei schloss sich nach Durchsicht der Unterlagen

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Von 1907 bis 1910 war Dietz Kaplan in Bayreuth gewesen. Vgl. Hengst, Dietz, S. 130. Bayerisches Kultusministerium an das Reichskirchenministerium vom 16. Juni 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 295. Bayerisches Innenministerium an das Reichskirchenministerium vom 18. Juni 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 295. Bayerisches Innenministerium an das Reichskirchenministerium vom 18. Juni 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 296. Diese attestierten dem Bamberger Regens „von deutscher Gesinnung erfüllt“ zu sein sowie dem, „was auf sozialem oder nationalem Gebiet geleistet“ worden sei, positiv gegenüber zu stehen. Reichskirchenministerium an Göring vom 25. Juni 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 296. 347

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dieser Auffassung an. Der gleichzeitig im Kirchenministerium eingetroffene Bericht des bayerischen Geheimen Staatspolizeiamtes lieferte keine neuen Erkenntnisse, sodass Ministerialrat Felix Theegarten am 26. Juni dem Auswärtigen Amt zur Kenntnis gab, dass keine allgemeinpolitischen Bedenken gegen Dietz erhoben würden. Von dort ging die staatliche Entscheidung dem Berliner Nuntius zu.

Ein erneutes Hindernis? Dietzʼ zögerliche Annahme des Koadjutoramtes Obwohl die offizielle Verbalnote des Auswärtigen Amtes erst auf den 30. Juni datiert,1377 wurde Orsenigo bereits am 27. des Monats mitgeteilt, dass gegen Dietz kein Einspruch erhoben werde. Damit hatte er die Antwort – wie er noch am selben Tag dem Kardinalstaatssekretär berichtete – ausnahmsweise einmal innerhalb der vorgesehenen Frist erhalten.1378 Entsprechend dem zuvor abgesteckten Verfahren kündigte Orsenigo an, sich nun mit Bischof Schmitt, Generalvikar Günther und Domdekan Leimbach in Verbindung zu setzen, um die Einzelheiten für Unterhalt und Wohnung des neuen Koadjutors zu klären. Gleichzeitig wollte er das Einverständnis des Erwählten einholen. Schließlich erinnerte Orsenigo, dass er dem Fuldaer Oberhirten mehrmals versprochen habe, zunächst das Domkapitel über die Einsetzung des Koadjutors zu informieren, bevor die Nomination publik gemacht werde. Er bat Pacelli deshalb, ihn in die Lage zu bringen, dieses Versprechen einhalten zu können. Womöglich kann man es als ein Signum geringerer Selbständigkeit werten, dass Orsenigo sich hier das bereits abgesegnete Verfahren noch einmal von Pacelli bestätigen ließ. Jedenfalls nahm dieser erneut eine Präzisierung vor und erklärte dem Nuntius am 2. Juli, dass er zunächst Dietz kontaktieren und sich erst anschließend mit der Fuldaer Kirchenleitung ins Benehmen setzen

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Vgl. Verbalnote des Auswärtigen Amtes an Orsenigo vom 30. Juni 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 197 (Nr. 208). Erst am 4. Juli ging das noch ausstehende Votum des Bayreuther Gauleiters im Kirchenministerium ein. Im Wesentlichen konvergierte es mit den übrigen Urteilen. Doch – so Heim – „gab [der Gauleiter] zu bedenken, daß die seit der Machtübernahme zu beobachtende offensichtliche und geschickt getarnte Zurückhaltung, insbesondere hoher kirchlicher Persönlichkeiten, eine einwandfreie politische Beurteilung ungeheuer erschwert. ‚Auch in diesem Falle können deshalb Bedenken allgemein politischer Natur nicht erhoben werden, obwohl angenommen werden muß, daß Dr. Dietz in politischer Hinsicht lediglich seinen kirchlichen Bindungen entsprechend handeln wird.‘“ Heim, Bischöfe, S. 297. Wenngleich dieses Ergebnis den Entschluss des Kirchenministeriums nicht umgestoßen hätte – wie dieses später verlauten ließ –, so war man doch in der Reichskirchenbehörde mit der Verspätung unzufrieden. Vgl. ebd., S. 298. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 27. Juni 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 90rv. 348

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müsse.1379 Klar, dass eine verfrühte Mitteilung für Unstimmigkeiten oder Peinlichkeiten sorgen konnte, wenn beispielsweise der Bamberger Regens seine Ernennung zum Koadjutor kategorisch ablehnte. Und genau dies schien einzutreffen. Wie Orsenigo am 8.  Juli Pacelli berichtete, habe Dietz auf seine – vermutlich in einem Vier-Augen-Gespräch erfolgte – Anfrage negativ geantwortet.1380 Aufgrund einer Herz- und Nervenerkrankung sei Dietz vor Erschöpfung kaum in der Lage, eine längere Sitzung durchzustehen oder auch aufwendigere liturgische Handlungen zu vollziehen. Angesichts dessen kam für den Regens das Koadjutor- beziehungsweise Bischofsamt nicht infrage. Aus gleichem Grund habe er bereits ein Jahr zuvor die von Erzbischof Johann Jakob von Hauck gewünschte Ernennung zum Weihbischof und Domkapitular in Bamberg abgelehnt. Ohne Weiteres wollte Orsenigo die Absage Dietzʼ jedoch nicht hinnehmen, zumal diese eine dritte Kandidatensuche und Regierungsanfrage mit völlig ungewissem Ausgang nach sich gezogen hätte: „Ich hielt es für meine Pflicht, alles zu versuchen, um ihn zu veranlassen, diese neue Einladung in Erwägung zu ziehen, die der Herr ihm eröffnete, um eine höhere Aufgabe in seinem Weinberg zu übernehmen; ich habe ihm die nicht geringen Gewissensbisse vor Augen geführt, die dann ein priesterliches Gewissen quälen, wenn es aus übertriebener Furcht eine sehr ernste Aufgabe zurückweist; ich habe ihm gesagt, dass die neue und vielfältige Beschäftigung, mit der Hilfe, die Gott niemandem verweigert, der gehorsam ist, ein heilsamer Ruck sein könnte für sein Nervensystem und ihm jene Kräfte geben könnte, die er jetzt nicht zu besitzen glaubt.“1381

Doch alles Zureden war vergeblich: Dietz hielt an seiner Untauglichkeit fest. Deshalb schlug Orsenigo nach eigener Angabe vor, dass der Regens sich einer besonderen medizinischen Untersuchung unterzog, um ein Attest vorlegen zu können. Um allen Spekulationen vorzubeugen, sollte Dietz den Medizincheck aber nicht in Bamberg vornehmen lassen, sondern im Kurort Bad Reichenhall, wo er sich gerade eine Ruhepause nach Semesterende gönnte und bereits früher in Behandlung gewesen war.1382

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 2. Juli 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 91r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 8. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 101r–102v. „Io ho creduto mio dovere di tentare tutte le vie, per indurlo a prendere in considerazione questo nuovo invito, che il Signore gli faceva ad assumere un compito più alto nella sua vigna; gli ho prospettato i rimorsi non piccoli che possono poi tormentare una coscienza sacerdotale, la quale per eccessivo timore ricusi un più grave lavoro; gli ho detto che la nuova e ben diversa occupazione poteva, con gli aiuti che Dio non nega a chi obbedisce, essere una scossa salutare per il suo sistema nervoso e dargli quelle forze, che ora egli crede di non avere.“ Orsenigo an Pacelli vom 8. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 101v. Der Nuntius erlaubte nach eigenen Angaben, dem entsprechenden Arzt für eine maßgeschneiderte Untersuchung die Art der Aufgabe, zu der Dietz auserkoren war, mitzuteilen, nicht jedoch spezifischere Aussagen zu machen, wie zum Beispiel den ins Auge gefassten Ort zu verraten. 349

II.1.16 Fulda 1936/39

Der Bamberger Regens folgte der Anordnung des Nuntius umgehend und ließ sich in Bad Reichenhall untersuchen. Der behandelnde Sanitäts-Rat Reisinger diagnostizierte – wie im medizinischen Gutachten festgehalten – neben den schon länger bestehenden Herz-Kreislauf-Beschwerden erhebliche Beeinträchtigungen aus psychischer Ursache, darüber hinaus Diabetes, sodass es nicht empfehlenswert sei, wenn Dietz „sich zur Übernahme einer sehr verantwortungsvollen und führenden Stelle entschließt“1383. In dem Schreiben, mit dem der Regens das Attest an die Berliner Nuntiatur sandte, erklärte er, dass dieses Untersuchungsergebnis mit dem übereinstimme, was sein Bamberger Arzt früher schon festgestellt habe: Er dürfe sich nicht dazu hinreißen lassen, eine neue Arbeitsstelle anzutreten.1384 Deshalb habe er damals auch das angebotene Domkanonikat ausgeschlagen. Der Regens bekräftigte erneut, zu erschöpft zu sein, um das Koadjutoramt anzunehmen, sich häufig sogar schon nach Feier der Heiligen Messe ausruhen zu müssen, von den anstrengenden Vorlesungen für die Alumnen mal ganz abgesehen. Die von Orsenigo vorgebrachten Argumente habe er ernsthaft erwogen, jedoch hätten sie seine Bedenken nicht zerstreuen können. Erst zum Schluss seines Briefes zeigte Dietz eine gewisse Nachgiebigkeit: „Ich gebe jedoch trotz der inständigen Bitte, von meiner Person absehen zu wollen, die Versicherung ab, dass ich mich, falls die angeführten Gründe als nichtgenügende erachtet würden, im h[eiligen] Gehorsam fügen würde.“1385 Damit entblößte er freilich eine Stelle, wo der Heilige Stuhl den Hebel ansetzen konnte und daher überrascht es nicht, dass Orsenigo gegenüber Pacelli hierzu bemerkte: „Eure Eminenz wird sehen, wie man von dieser Erklärung Gebrauch machen kann.“1386 Dass die Zeit drängte, eine Lösung im Fuldaer Fall zu finden, untermauerte der Nuntius, indem er den Gesundheitszustand Schmitts als nach wie vor sehr beunruhigend bezeichnete.1387 Dieser wünsche sich zwar eine Unterstützung in der Bistumsleitung, doch scheine dem

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Medizinisches Gutachten Dr. Reisingers vom 6. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 103rv, hier 103v. Vgl. Dietz an Orsenigo vom 6. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 104rv. Dietz an Orsenigo vom 6. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 104v. „… Vostra Eminenza vedrà che uso si può fare di questa dichiarazione.“ Orsenigo an Pacelli vom 8. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 102r-v. Den geschilderten Verzicht des Regens auf die Stelle als Domkapitular habe er übrigens sub secreto Pontificio bei Erzbischof Hauck überprüft, wie Orsenigo versicherte. Hauck habe ergänzend darauf hingewiesen, dass Dietz nicht nur erst im Vorjahr das Angebot auf den Posten des Weihbischofs mit Rekurs auf seinen Gesundheitszustand abgelehnt, sondern vor zwei Jahren sogar eine längere Kur angetreten habe, um seine Verpflichtung als Professor und Regens überhaupt weiter ausüben zu können. Diese Verpflichtung erfülle er freilich „mit großer Kompetenz und Würde“. Ebd., Fol. 102r-v. Diese Einschätzung wurde Pacelli gleichzeitig erneut vom Fuldaer Domdekan zugetragen, dem es ansonsten um die prekäre (finanzielle) Lage des Priesterseminars ging: „Er [sc. Bischof Schmitt, R.H.] be350

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Fuldaer Domkapitel die Einsetzung eines Koadjutors mit Nachfolgerecht weniger willkommen zu sein. Wie Pacelli bereits wusste, spielte Schmitt stattdessen mit dem Gedanken, sein Amt sofort zur Verfügung zu stellen, worin ihn – so Orsenigo in seiner Berichterstattung abschließend – auch andere Bischöfe bestärkt hätten. Ein erneuter Kandidatenwechsel war doppelt inopportun: Zum einen, weil die Lage in Fulda ernst war und eine Lösung drängte, zum anderen, weil in diesem Fall wiederholt das keineswegs sichere Einvernehmen mit der Regierung erzielt werden musste. Papst und Staatssekretär waren dazu nicht bereit. Daher war die Anweisung, die Pacelli Mitte Juli an die Berliner Nuntiatur sandte, klar und eindeutig: „Der Heilige Vater verpflichtet den Kandidaten, in Anbetracht der Situation, anzunehmen.“1388 Pacelli hatte also tatsächlich von der nachgiebigen Äußerung Dietzʼ „Gebrauch gemacht“. Um nicht die skurrile Situation zu schaffen, den Kranken mit einem anderen Kranken zu unterstützen, stellte Pacelli in Aussicht, dass Dietz einen Weihbischof erhalten könne, der – so darf man folgern – die pontifikalen Handlungen, insbesondere die Firmreisen, übernehmen sollte. Jetzt ging alles recht schnell: Orsenigo informierte umgehend den Bamberger Regens und daraufhin Bischof Schmitt, Generalvikar Günther sowie das Fuldaer Domkapitel.1389 Wie er am 24. Juli an Pacelli telegraphierte, könne die Ernennung nun öffentlich gemacht werden, bat aber darum, vorher darüber in Kenntnis gesetzt zu werden. Bereits am nächsten Tag beauftragte Minutant Silvani den Sekretär der Konsistorialkongregation Rossi damit, die nötigen Ernennungsdokumente für Dietz anzufertigen.1390 Damit stand der 25. Juli als amtliches Nominationsdatum fest.1391 Auf die ausdrückliche Bitte Silvanis, zügig vorzugehen, wies die Konsistorialkongregation dem Regens umgehend Janopolis als Titularbistum zu.1392 Seiner Bitte folgend unterrichtete Pacelli Orsenigo am 27. des Monats telegraphisch, dass der „Osservatore Romano“ die Ernennung

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findet sich in einem wirklich bemitleidenswerten Zustande … Wir brauchen bald in unserer schwierigen Lage einen gubernator, der mit fester Hand, wenn es nötig ist, auch ohne Rücksichtnahme, mit klugem Bedacht vorzugehen imstande ist.“ Leimbach an Pacelli vom 8. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 92rv, hier 92v. „Santo Padre, attesa situazione, obbliga candidato accettare.“ Pacelli an Orsenigo vom 18. Juli 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 105r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 24. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 106r. Vgl. Silvani an Rossi vom 25. Juli 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 107rv. Vgl. AAS 28 (1936), S. 297. Vgl. Santoro an Pizzardo vom 28. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 109r. 351

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Dietzʼ zum Fuldaer Koadjutor mit Nachfolgerecht in zwei Tagen publizieren werde.1393 An diesem Datum schließlich notifizierte Orsenigo die Nomination dem Auswärtigen Amt.1394

Dietzʼ Amtsantritt als Koadjutor und Diözesanbischof Wie nahmen die Betroffenen in Fulda und Bamberg diesen zentral von Rom aus gesteuerten finis causae auf? Bischof Schmitt bedankte sich höflich bei Pacelli für alle Bemühungen um die Diözese Fulda.1395 Auch Dietz bedankte sich mit einem Ergebenheitsschreiben bei Pius XI. und versicherte ihm seine Treue.1396 Überschwänglicher berichtete Orsenigo, dass die Ernennung des Regens „eine ausgezeichnete Aufnahme“1397 beim Fuldaer Bischof und Domkapitel gefunden habe. Eine Abordnung des letzteren habe sich unmittelbar nach der Veröffentlichung der Ernennung nach Bamberg begeben, um Dietz ihre Aufwartung zu machen. Dieser wiederum sei anschließend sofort nach Fulda gereist, um Bischof Schmitt zu besuchen. Bei diesem Anlass seien auch die noch offenen Unterhalts- und Unterkunftsfragen des neuen Koadjutors geklärt worden. Erzbischof Hauck weihte den neuen Koadjutor am 27. September in Bamberg zum Bischof. Anschließend siedelte Dietz nach Fulda über und trat sein neues Amt an. Nicht ganz vier Wochen später zog Schmitt in einem Schreiben an Orsenigo ein erstes positives Fazit der noch jungen Zusammenarbeit.1398 Die Bestellung eines Weihbischofs, der womöglich weder von Schmitt noch von Dietz

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Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 27. Juli 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 108r. Vgl. auch den Entwurf der Ernennungsnotiz ebd., Fol. 110r und die Bekanntmachung im „Osservatore Romano“ Nr. 176 vom 30. Juli 1936. Vgl. Verbalnote Orsenigos an das Auswärtige Amt vom 29. Juli 1936, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 204 (Nr. 216). Vgl. Schmitt an Pacelli vom 30. Juli 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 111r. Vgl. Dietz an Pius XI. vom 4. August 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 114r. Vgl. auch das Antwortschreiben Pacellis vom 18. August 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 117rv (lat.) (der erste italienische Entwurf ebd., Fol. 116r). „… unʼottima accoglienza …“ Orsenigo an Pacelli vom 6. August 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 112rv, hier 112r. Dietz habe bereits viele Firmreisen absolviert und schicke sich an, bald die heiligen Weihen zu spenden. Die Zusammenarbeit sei gut: „Bald ist es ein Monat, dass der vom Heiligen Vater ernannte Coadjutor cum jure successionis des Bischofs von Fulda sein Amt angetreten hat. In dieser Zeit haben der Episcopus Fuldensis und seine Diözese gute Erfahrungen gemacht. Wir halten uns für verpflichtet, dem Heiligen Vater und Euer Exzellenz unseren ehrerbietigsten und herzlichen Dank abzustatten. … Der Bischof, der in seinem hohen Alter und seiner Schwäche nicht fähig ist, die jetzt so dringenden, aber so wichtigen Pflichten ganz zu erfüllen, hat in seinem Coadjutor eine treue Hilfe.“ Schmitt an Orsenigo vom 352

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leistbare Aufgaben übernehmen konnte, sollte in der folgenden Zeit nicht erforderlich werden.1399 Die Zusammenarbeit dauerte noch fast drei Jahre an, bis Bischof Schmitt am 10. April 1939 verstarb. Sofort übernahm Dietz als neuer Ordinarius mit allen Rechten und Vollmachten die Regierung der Diözese. Vier Tage später zeigte Orsenigo dem damaligen Reichsaußenminister, Joachim von Ribbentrop, an, dass Dietz als ordentlicher Diözesanbischof die Amtsgeschäfte übernommen habe.1400 Was war aber mit der im Reichskonkordat vorgeschriebenen Eidesleistung, die neue Diözesanbischöfe vor dem Reichsstatthalter zu leisten hatten? Das Kirchenministerium betrachtete zu diesem Zeitpunkt – wie Bernd Heim zusammenfasst – „die Eidesformel des Reichskonkordats als teilweise überholt und eine Vereidigung des Bischofs zum gegenwärtigen Zeitpunkt als wenig sinnvoll“1401.

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25. November 1936, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 132rv, hier 132r. Eine Nachfrage stellte Schmitt bezüglich der Vollmachten seines neuen Koadjutors: Entsprechend den Festlegungen des kanonischen Rechts (Can. 351 § 1 CIC 1917) glaubte er, Dietz an allen bischöflichen Rechten und Pflichten des Diözesanbischofs teilhaben lassen zu können. Nun habe jedoch Orsenigo am 24. August an Dietz geschrieben, dass der Heilige Stuhl ihm alle Vollmachten erteilen werde – also künftig –, die zur Leitung der Diözese nötig seien. Der Nuntius hatte diese Mitteilung auf Basis der Anordnung Rossis gegeben, denn dieser hatte Orsenigo zuvor am 18. August mitgeteilt, dass Dietz „quale Coadiutore cum iure successionis potrà avere tutte le facoltà necessarie per sgravare Monsignor Schmitt da ogni responsabilità“, wie der Nuntius gegenüber Pacelli resümierte. Orsenigo an Pacelli vom 27. November 1936, ebd., Fol. 131rv, hier 131r-v. Hervorhebung im Original. Schmitt und Dietz erwarteten also eine künftige Anweisung aus Rom, welche die versprochenen Vollmachten übertragen würde. Das Missverständnis ging offenbar auf die Absprache zwischen der AES und der Konsistorialkongregation zurück, denn in der bereits angesprochenen Bitte Silvanis an Rossi, die Ernennungsdokumente für Dietz auszustellen, hieß es: Dietz als Koadjutor „potrebbe avere tutte le facoltà“, während Schmitt notfalls noch – wie Pacelli in Aussicht gestellt hatte – „potrà chiedere un Ausiliare“. Silvani an Rossi vom 25. Juli 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 107v. Hervorhebungen R.H. Rossi hatte diese Aussagen offensichtlich nicht in dem Sinne verstanden, dass Dietz bei Amtsantritt bereits alle notwendigen Vollmachten übertragen werden sollten, sondern diese offenbar nur eine künftige Option darstellen würden ebenso wie die Berufung eines Weihbischofs. Orsenigo schlug Pacelli zur Lösung des Problems vor, dass Schmitt schlichtweg nach Can. 351 § 2 verfahren könne, der einem neuen Koadjutor alle Rechte und Pflichten eines Diözesanbischofs zuerkannte, sofern kein Apostolisches Schreiben etwas anderes anordnete. Pizzardo gab das dubium zur Klärung an die Konsistorialkongregation weiter. Vgl. Pizzardo an Santoro vom 6. Dezember 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 133r und Pacelli an Orsenigo vom 11. Dezember 1936 (Entwurf), ebd., Fol. 134r. Von hier verliert sich die Spur in den Akten der AES, weshalb zu vermuten ist, dass diese an der Lösung der rechtlichen Frage nicht mehr beteiligt war. Entweder beließ es die Konsistorialkongregation gemäß Orsenigos Vorschlag dabei oder sie fertigte ein klärendes Dokument an, in dem auch die Zuweisung der Quinquennalfakultäten an Dietz erfolgte. Einen Weihbischof erhielt Dietz erst 1945 in der Person von Propst Adolf Bolte. Vgl. Hengst, Dietz, S. 131. Vgl. Orsenigo an Ribbentrop vom 14. April 1939, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 313 (Nr. 346). Heim, Bischöfe, S. 298. Vgl. zur innerstaatlichen Debatte über den Eid ebd., S. 298–300. 353

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Insbesondere die Parenthese, „wie es einem Bischof geziemt“, schien der Behörde unpassend, weil dadurch die politische Tragweite der Treuebekundung offenkundig eingeschränkt wurde.1402 Nachdem das Kirchenministerium jedoch einige Wochen später eine Nachricht des thüringischen Reichsstatthalters, Fritz Sauckel, erhalten hatte, dass Dietz sein Amt ohne Eidesleistung angetreten war, schwenkte es um und wandte sich an den Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau in Kassel, Prinz Philipp von Hessen. Im Juli merkte die Behörde diesem gegenüber an, dass der bisherige Koadjutor „[i]m Rahmen des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Staat und katholischer Kirche in Deutschland“1403 ohne Treueid den Bischofsstuhl nicht besteigen dürfe. Der Oberpräsident wurde angewiesen, Dietz darauf aufmerksam zu machen, dass er keine Amtsgeschäfte vollziehen dürfe, ohne zuvor vereidigt worden zu sein. Auch sollte Philipp von Hessen darauf hinweisen, wie entgegenkommend der preußische Staat gewesen sei, da dieser die Bischof Schmitt zustehende Dotation auch nach dessen Tod schlichtweg weiter bezahlt habe. Der Oberpräsident erwiderte darauf, dass Dietz bereits am 11. April seine Amtsübernahme notifiziert habe. Eine Aufforderung zur Eidesleistung habe er damals jedoch nicht ausgesprochen. Auf Anweisung des Kirchenministeriums holte er dies nun nach, sodass sich Dietz schließlich am 1. September des Jahres an die Reichsbehörde wandte und um einen Vereidigungstermin ersuchte. Den Eid leistete der neue Oberhirte schlussendlich am 18. Oktober vor dem Oberpräsidenten. Mit einiger Verzögerung, die letztlich aus dem deutschen Behördenchaos resultierte, war diese Vorschrift somit erfüllt.

Ergebnis 1. Die beiden Kandidaten, die Pacelli dem Nuntius für den Koadjutorposten präsentierte, tauchen in den Quellen unvermittelt auf. Dennoch ist die Kandidatur zumindest des ersten von

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Vgl.: „Bevor die Bischöfe von ihrer Diözese Besitz ergreifen, leisten sie in die Hand des Reichsstatthalters in dem zuständigen Lande bzw. des Reichspräsidenten einen Treueid nach folgender Formel: ‚Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande … Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.ʻ“ Art. 16 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 509. Hervorhebung R.H. Der Einschub „sicut decet Episcopum“ war erstmals im Konkordat mit Österreich 1855 verankert worden, um „im Sinne eines Eidesvorbehalts zum Ausdruck“ zu bringen, „daß der Bischof sich durch den Treueid zu keiner Handlung verpflichte und auch zu keiner Handlung verpflichtet werden könne, die in Widerspruch zum göttlichen Gesetz und zu den Grundlagen der kirchlichen Rechtsordnung stünde.“ Vgl. dazu Dahl-Keller, Treueid, S. 61–63, 120–123, hier 121. Reichskirchenministerium an Philipp von Hessen vom 22. Juli 1936, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 299. 354

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ihnen, Rauch, dann keine Überraschung, wenn man einen doppelten Seitenblick vornimmt, nämlich auf die Besetzungen der Bischofsstühle in Berlin und Mainz im Jahr zuvor. Bereits im ersten Fall stand Rauch auf der römischen Terna, aus der die Berliner Domkapitulare schließlich Preysing zum neuen Oberhirten wählten.1404 Dieses Ergebnis war damals das klare Ziel Pacellis gewesen, sodass die Kandidatur Rauchs zuerst einmal nur den Zweck erfüllen sollte, die Terna „aufzufüllen“. Aber schon damals und nicht zuletzt aus diesen aktuellen Entwicklungen in Fulda lässt sich ablesen, dass Rauch per se jemand war, der in Pacellis Anforderungsprofil passte. Deutlicher trat die Wertschätzung für Rauch im Mainzer Besetzungsfall zutage, als er den Genannten auf den ersten Rang der römischen Terna setzte, aus der die Domkapitulare dann aber Stohr zum neuen Diözesanbischof bestimmten.1405 Schließlich – gewissermaßen als dritten und zeitlich nahen Referenzpunkt, der hier nicht vergessen werden darf – wurde Rauch vom Freiburger Erzbischof Gröber auf einer Kandidatenliste vom Juli 1935 als episkopabler Geistlicher benannt.1406 Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu als folgerichtig, dass Pacelli im nächstfolgenden Besetzungsfall nach Berlin und Mainz wieder auf den ihm seit Nuntiaturzeiten bekannten Rauch zurückgriff. Das bedeutet freilich implizit auch, dass die Kriterien, die Pacelli damals für Rauchs Episkopabilität anlegte, jetzt wiederum für ihn maßgeblich waren, allem voran die „gesunde“, scholastische philosophisch-theologische Lehre, die Rauch bei den Jesuiten der päpstlichen Universität Gregoriana als Alumne des Germanikerkollegs gelernt hatte und in seiner Funktion als Professor für Moraltheologie im Mainzer Priesterseminar für den priesterlichen Nachwuchs anwenden konnte. Deutlich schwieriger erscheint demgegenüber die Frage, wie der Staatssekretär auf Dietz als Alternativkandidaten kam, insofern er diesen hier zum ersten Mal als Bischofsaspiranten in Erwägung zog. Den Regens des Bamberger Priesterseminars lernte Pacelli bereits in seinen Anfangsjahren als Nuntius in München kennen. Als er im November 1919 einen umfassenden Bericht über die Situation der Priesterseminare in Deutschland für die Studienkongregation anfertigte, dabei die einzelnen Seminare in rechtlich-struktureller, organisatorischer und ökonomischer Perspektive begutachtete sowie auch in theologischer und disziplinärer Hinsicht bewertete, notierte er sich zum Regens des Bamberger Seminars: „Johannes Baptista Dietz, 38 Jahre  – ehemaliger Alumne des Collegium Germanicum – Regens seit 8 Jahren. Er ist der Größe der Aufgabe ge-

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Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.15 (Die römischen ‚Ternen‘ und die Wahl Preysings zum Bischof von Berlin). Vgl. Bd. 3, Kap. II.3.5 (Die römische Terna). Dies erfolgte im Kontext der Kandidatenlisten, welche die Oberhirten aus Freiburg, Rottenburg, Mainz und Meißen gemäß Artikel 14 des Reichskonkordats – der die in Artikel 3 Absatz 1 des badischen Konkordats von 1932 festgelegte Regelung aufgriff – jährlich in Rom einzureichen hatten. Vgl. dazu Bd. 3, Kap. II.3.5 Anm. 1946. 355

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wachsen.“1407 1924 war Pacelli anlässlich des Heinrichsfests persönlich nach Bamberg gereist und hatte den Regens womöglich dort getroffen. Jedenfalls hatte ihn Pacelli gewiss in positiver Erinnerung, als er 1936 über einen Alternativkandidaten für den Fuldaer Koadjutorposten nachdachte. Allerdings wird daraus noch nicht einsichtig, wieso er Dietz gerade jetzt nominierte. Die Lösung ergibt sich bei einem Blick auf die bayerischen Triennallisten, der insofern nahe liegt, als dass Dietz aus Bamberg und damit aus Bayern kam.1408 Auf der Liste der in Freising versammelten bayerischen Bischöfe von 1932 wird man fündig: Dietz belegte den ersten Rang aller Kandidaten,1409 da alle sieben anwesenden Oberhirten ihm damals ihre Stimme gegeben hatten. Die knappen biographischen Angaben, welche diese Triennalliste zu Dietz bot, sind – und das ist eine wichtige Beobachtung – völlig identisch mit jenen, die Pacelli jetzt im Fuldaer Fall in seiner Weisung vom 27. Mai für Orsenigo zur näheren Charakterisierung von Dietz anführte.1410 Daher darf man mit Fug und Recht behaupten, dass genau diese Liste der unmittelbare Bezugspunkt für den Kardinalstaatssekretär war, den Bamberger Regens als Nachfolger Schmitts in Erwägung zu ziehen – er verknüpfte hier also seine eigene Personenkenntnis mit einer eigentlich für Bayern geltenden Vorschlagsliste des Episkopats, um einen Geistlichen zu finden, der in sein Anforderungsprofil passte.1411

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„G. B. Dietz, anni 38 – ex alunno Collegio Germanico – Rettore da 8 anni. È allʼaltezza del suo compito.“ Votum Pacellis zum Bamberger Priesterseminar ohne Datum [1919] (Abschrift), ACEC, 1920, Pos. 334/​ 19, S. 5–7, hier 6. Vgl. auch den angesprochenen Bericht Pacellis an Bisleti vom 14. November 1919 (Abschrift), ebd., S. 78–105. Vgl. zu den Triennallisten Bd. 3, Kap. II.2.1 (Die Ausarbeitung des Triennallistenverfahrens) sowie die Listen selbst in Bd. 4, Anhang 1.2. Gemeinsam mit Michael Rackl, der 1935 bereits zum Bischof von Eichstätt ernannt worden war. Vgl. die Angabe des Wahlprotokolls von 1932: „Johannes Baptista Dietz, doctor phil. et theol., praelatus domesticus Sanctitatis Suae, natus 30. Januarii 1879 in Birkach, archidioecesis Bambergis, rector Seminarii maioris.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 42r–47v, hier 42v. Wie der Entwurf von Pacellis Weisung vom 27. Mai 1936 zeigt, übernahm er sogar zunächst die Sortierung der biographischen Angaben aus dem bayerischen Protokoll und fuhr dementsprechend nach Nennung des Namens fort mit „dottore in filosofia e in teologia“. Dann strich er diesen Passus jedoch durch und ordnete die Angaben chronologisch: „Giovanni Battista Dietz, nato il 30 Gennaio 1879 in Birkach (archidiocesi Bamberga), dottore in filosofia e in teologia, Prelato Domestico di S.S., rettore del Seminario maggiore di Bamberga.“ Pacelli an Orsenigo vom 27. Mai 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 84r-v. Die Abhängigkeit der Weisung von der Triennalliste ist damit offenkundig. Die Triennalliste des bayerischen Episkopats von 1935, welche die zum Fuldaer Fall unmittelbar nächste war, enthielt den Namen Dietz übrigens nicht. Den Grund dafür wird man in den angesprochenen gesundheitlichen Problemen sehen können, die den Regens auch veranlasst hatten, das Amt des Weihbischofs auszuschlagen (vgl. Bd. 2, Kap. II.1.16 Anm. 1386). Warum Pacelli von der 1935er-Liste niemanden auswählte, obwohl zum Beispiel dort auch Namen zu finden waren wie Philipp Kaiser, der in Mainz 356

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Damit gewinnen schließlich auch die wertenden Aussagen über Dietz, welche die genannte Triennalliste an die biographischen Informationen anschloss, besondere Bedeutung: „Der Erzbischof von Bamberg empfiehlt ihn im höchsten Grade; dieser war Alumne des Collegium Germanicum-Hungaricum in Rom und hat dort den Doktorgrad in der Philosophie und Theologie erworben. In der Lehre und den guten Sitten ragt er hervor; er pflegt die Priesteramtskandidaten sehr gut zu unterrichten und hat sich verdient gemacht um das neue Priesterseminar, das neulich gebaut wurde; sehr geschickt ist er in der Verwaltung der wirtschaftlichen Angelegenheiten des Seminars. Dieser Meinung pflichtete der Ehrwürdige Herr Bischof von Speyer [sc. Ludwig Sebastian, R.H.] bei, der ihn [sc. Dietz, R.H.] gut kennt.“1412

Die Parallelen zu Rauch sind evident: Auch hier lag der Schwerpunkt wieder auf der theologischen Ausbildung und kirchlichen Prägung, die Dietz ebenfalls an der Gregoriana beziehungsweise im Germanicum erhalten hatte und die dieser als langjährig erfahrener Regens bei der Heranziehung der Priesteramtskandidaten nach Pacellis Ansicht zufriedenstellend anwandte und umsetzte. Wenn es Pacelli also aufgrund des staatlichen Widerstands (vgl. Nr. 3) auch nicht gelang, seinen Favoriten in Fulda zu installieren, so reüssierte er immerhin mit einer Alternative, die hinsichtlich dieses Kriteriums, auf das es ihm offensichtlich essentiell ankam, dasselbe Profil besaß. Abschließend bleibt noch zu berücksichtigen, dass Pacelli den Bamberger Regens unter dem Vorzeichen der vorherigen staatlichen Ablehnung nominierte. Hier stellt sich von selbst die Frage, inwieweit letztere seine Entscheidung für Dietz beeinflusste und noch grundlegender muss man von hier aus fragen, ob er bereits bei der Wahl Rauchs „Rücksicht“ auf den NS-Staat und die Gefahr eines (partei-) politisch motivierten Widerspruchs nahm. Die zweite Frage wird man wohl ziemlich eindeutig mit Nein beantworten müssen: Abgesehen davon, dass er das Faktum ignorierte, dass schon Rauchs Erhebung auf den Freiburger Lehrstuhl für Moraltheologie 1934 von der Reichsregierung abgelehnt worden war, musste es ihm klar sein, dass dessen Einsatz für die katholische Sittenlehre von nationalsozialistischer Seite nicht gern gesehen wurde, da sie deren rasseideologischen Vorstellungen und Intentionen diametral entgegenlief. Von daher schien Rauchs klare Verteidigung der sittlichen Prinzipien für Pacelli geradezu erwünscht und ein Bestandteil von dessen Episkopabilität gewesen zu sein. Aus dem staatlichen obstat zog Pacelli für die Suche 1935 auf Pacellis Terna stand, oder Simon Landersdorfer OSB, der 1936 gewissermaßen parallel zum Fuldaer Koadjutorfall neuer Diözesanbischof von Passau wurde, wird sich letztlich wohl nicht eindeutig beantworten lassen. 1412 „Archiepiscopus Bambergensis eum quam maxime commendat; ipse Romae alumnus Collegii Germanici-Ungarici erat ibique gradum in philosophia et theologia adeptus est. Doctrina et bonis moribus excellit; alumnos optime educare solet et optime meritus est de novo Seminario maiore nuperrime aedificato; admodum habilis in administratione rerum oeconomicarum Seminarii. Huic voto accessit R. D. episcopus Spirensis, qui eum bene novit.“ Wahlprotokoll und Triennalliste des bayerischen Episkopats vom 6. September 1932, S.RR.SS., AA.EE.SS., Baviera, 1926–1938, Pos. 165 P.O., Fasz. 15, Fol. 42v. 357

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des Alternativkandidaten dann freilich Konsequenzen, denn schließlich schrieb er Dietz „Qualitäten“ zu, die „jeden vernünftigen Einspruch ausschließen müssten“. Was meinte er mit diesen „Qualitäten“? Man wird wohl nicht davon ausgehen können, dass er darunter eine von Rauchs abweichende theologisch-sittliche Auffassung verstand, denn da beide Kandidaten dieselbe Moraltheologie an der päpstlichen Gregoriana studiert hatten, speiste sich auch ihre Theologie logischerweise aus denselben naturrechtlich-scholastischen Prinzipien. Mit anderen Worten: Hätte Pacelli eine andere (moral-) theologische Einstellung des Kandidaten gewünscht, damit dieser dem NS-Staat genehm wäre, hätte er einen Kandidaten mit einer anderen akademischen Biographie gewählt. War demnach der „materiale Gehalt“ und damit die Haltung zum Nationalsozialismus von Rauch und Dietz mutatis mutandis dieselbe,1413 konnte es Pacelli nur darum gehen, dass letzterer diesbezüglich in der Öffentlichkeit noch nicht hervorgetreten war und dass dieser in Publikationen oder öffentlichen Äußerungen noch keine „systematisch feindlich[e]“ Einstellung zum Nationalsozialismus – wie das Auswärtige Amt dem Nuntius gegenüber die Kritik an Rauch zusammenfasste – gezeigt hatte.1414 Dies war also ein zusätzliches Kriterium des Kardinalstaatssekretärs für die Wahl Dietzʼ und in dieser Hinsicht kam er dem NS-Staat entgegen, um die drängende Koadjutorfrage zu lösen. 2. Bislang ist man in der Forschung davon ausgegangen, dass die Initiative, einen Koadjutor für Fulda zu bestellen, von Bischof Schmitt selbst stammte.1415 Diese Auffassung war folgerichtig vor dem Hintergrund, dass Orsenigo die Angelegenheit in entsprechender Diktion dem Staat gegenüber zur Sprache brachte. Wie die vatikanischen Quellen zeigen, war diese Formulierung aber von Pacelli ausdrücklich gewünscht, um zu verschleiern, dass die Initiative eigentlich von ihm selbst ausgegangen war. Während der Nuntius in seiner Analyse der Situation in Fulda nur von einem Weihbischof oder Koadjutor als Unterstützung für den gesundheitlich eingeschränkten Schmitt ausging, modifizierte Pacelli diesen Vorschlag  – wie seine handschriftliche Ergänzung im Entwurfstext eindrücklich zeigt – zu einem Koadjutor cum iure successionis, also zu einer Installati1413

1414

1415

Es ist ja auch interessant, dass die Gestapo aus den biographischen Stationen Rauchs – Studium in Rom, „Jesuitenschüler“, Tätigkeit in der Priesterausbildung  –  eine prinzipielle Gegnerschaft desselben zum Nationalsozialismus ableitete und diese Punkte ebenso auf Pacellis Ersatzkandidat Dietz zutrafen. Diese Haltung verfolgte Dietz im Wesentlichen auch nach seiner Einsetzung zum Koadjutor beziehungsweise Fuldaer Diözesanbischof. So zieht Wolfgang Hamberger vor dem Hintergrund der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ den Schluss: Joseph Damian Schmitt und Johann Baptist Dietz „haben in dieser Auseinandersetzung keine für die Öffentlichkeit wahrnehmbare oder gar herausragende Rolle gespielt. Sie standen in der Sache loyal zu allen anderen Bischöfen, und Bischof Dietz nahm die wichtige, keineswegs ungefährliche Position als Vertreter der Bischofskonferenz im Ausschuss für Ordensangelegenheiten wahr … Aber zu allem, was in der Reichspogromnacht vom 9./​10. November 1938 geschah, schwieg er.“ Hamberger, Bischofskonferenz, S. 169. Hervorhebung im Original. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 285; Kaiser, Klausel, S. 168. 358

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on des künftigen Diözesanbischofs auf diesem außerordentlichen Weg. Im Laufe des Verfahrens qualifizierte Pacelli die Domkapitelswahl, die der normale Besetzungsmodus gewesen wäre, nur in dem Sinne negativ, als diese den Besetzungsfall „erheblich verlängert“ hätte. Dennoch ist klar, dass eine solche aus römischer Perspektive noch weitere Nachteile enthielt: Das Ergebnis einer Kapitelswahl war nicht so leicht vorauszusehen, selbst wenn man drei Geistliche zur Wahl vorgeben durfte, die im Übrigen auch erst einmal gefunden werden mussten. Jedenfalls war der römische Einfluss bei einer Koadjutoreinsetzung größer, denn laut Preußenkonkordat (Artikel 7) stand es dem Heiligen Stuhl zu, den Koadjutor zu ernennen, wenn auch erst nachdem die preußische Regierung beziehungsweise gemäß Reichskonkordat (Artikel 14) der zuständige Reichsstatthalter nach politischen Bedenken gefragt worden war. Abgesehen von dieser staatlichen Komponente war es also nichts anderes, als was der Can. 329 § 2 CIC 1917 als Ideal der Bischofseinsetzung bestimmte. Insofern leuchtet es ein, dass sich Pacelli, nachdem sich die Gelegenheit des Koadjutor-Modus erst einmal eröffnet hatte, von diesem Weg nicht wieder abbringen ließ. Daher gestattete er Bischof Schmitt auch nicht, sein Amt zur Verfügung zu stellen, sondern pochte auf das Vertrauen zum und den Gehorsam gegenüber dem Heiligen Stuhl, die der Bischof zu Studienzeiten in dessen „Schatten“ gelernt hatte. Die allgemeine Verfahrensnorm des Konkordats musste freilich in praxi konkretisiert werden, wofür Pacelli die Limburger Koadjutoreinsetzung von 1929/30 als Schablone veranschlagte. Da Orsenigo dieser Fall aktenmäßig nicht zur Verfügung stand, überlegte er sich ein eigenes Prozedere, das Pacelli allerdings wiederholt korrigierte und präzisierte: a) Besonders wichtig war ihm der bereits erwähnte diplomatische Schachzug, den Koadjutorplan als von Schmitt selbst ersonnen aussehen zu lassen – den Eindruck, als oktroyiere der Heilige Stuhl am lokalen Wahlrecht des aus deutschen Staatsbürgern bestehenden Domkapitels vorbei einer deutschen beziehungsweise preußischen Diözese einen „römischen“ Germanikerbischof auf, wollte er unbedingt vermeiden, zumal ein solcher Eindruck in Regierungskreisen – insbesondere innerhalb einer nationalsozialistischen Regierung – nur Ressentiments und Widerstände schüren konnte. Daher hatte Pacelli seinerzeit in Limburg dafür Sorge getragen, gegenüber der Regierung nicht nur die formale Koadjutoreinsetzung, sondern auch die konkrete Kandidatenwahl als Wunsch des hilfsbedürftigen Oberhirten darzustellen. Vermutlich erwartete Pacelli im Fuldaer Fall von Orsenigo ein analoges Vorgehen, doch dieser deklarierte in seiner Verbalnote für das Auswärtige Amt ausdrücklich den Heiligen Stuhl als Urheber der Kandidatur Rauchs. Wenn man auch nicht so weit gehen möchte, zu behaupten, dass dies für die staatliche Ablehnung des Genannten mitverantwortlich war, so bildete Orsenigos Formulierung dennoch eine Schwachstelle in Pacellis diplomatischer Strategie – besonders, wenn man bedenkt, dass Rauch von Seiten der Gestapo eine zu enge Rombindung negativ ausgelegt wurde, die durch dessen römische Nominierung natürlich nur noch verstärkt werden konnte. 359

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b) Zum zweiten schärfte Pacelli des Öfteren Diskretion und Geheimhaltung ein, die so weit gingen, dass er Schmitt nicht einmal die veränderte Kandidatensituation mitteilte, obwohl der Bischof sich bei ihm sehr besorgt über den Stand des Koadjutorverfahrens erkundigt hatte. Joseph Kaiser bezeichnete dies seinerzeit als „ein hervorragendes Beispiel kirchlicher Arkandisziplin“1416, da auch Rauch selbst von seiner Kandidatur im Fuldaer Fall erst einige Jahre später erfuhr. Pacellis Betonung der Geheimhaltung führte dazu, dass jeder Verfahrensschritt strikt nacheinander gegangen wurde. c) Dabei war es eine von Pacelli angeordnete Verfahrensänderung, dass Schmitt – wie schon erwähnt – über die neu ins Auge gefasste Kandidatur des Bamberger Regens im Gegensatz zur vorherigen Kandidatur Rauchs zunächst nicht informiert und stattdessen die Anfrage nach politischen Bedenken bei der Regierung vorgezogen wurde. Dies zeigt, dass der Kardinalstaatssekretär, obwohl er die politische Situation dezidiert in die Wahl seines Alternativkandidaten einfließen ließ (vgl. Nr. 1), die politische Klausel als größte Hürde im „zweiten“ Verfahren betrachtete und nicht riskieren wollte, der Fuldaer Bistumsleitung einen weiteren Namen zu kommunizieren, der womöglich wieder von staatlicher Seite abgelehnt würde. Letzteres schien Pacelli also durchaus möglich, was besonders vor dem Hintergrund Kontur gewinnt, dass er mit Dietz in der Substanz seines Kandidatenprofils gegenüber Rauch keinen Abstrich vornahm (vgl. Nr. 1). Die Gefahr und Schwäche dieses strikten Nacheinanders der einzelnen Verfahrensschritte zeigte sich schließlich, als Dietz seine Erhebung zum Koadjutor ablehnte. Dem damit drohenden dritten Verfahrensanlauf mit allen Folgen einer weiteren Verzögerung, einer erneuten Kandidatensondierung und eines etwaigen neuerlichen staatlichen Einspruchs entgingen Papst und Staatssekretär nur knapp, weil Dietz sich nachgiebig zeigte. d) Diesen übrigens nach seinem Einverständnis zu befragen, bevor die Fuldaer Bistumsleitung über den Kandidaten in Kenntnis gesetzt werden sollte, war die zweite Änderung, die Pacelli an Orsenigos Verfahrensplan vornahm. Auch hier gilt, was vorhin analog zur politischen Klausel gesagt wurde: Pacelli wollte nicht riskieren, der Fuldaer Bistumsleitung einen weiteren Kandidaten zu benennen, der vielleicht seiner Ernennung gar nicht zustimmte. Der Kardinalstaatssekretär sortierte die einzelnen Teile des Verfahrens also strikt nach dem Maß ihres Einflusses auf den erfolgreichen Abschluss: zuerst die politische Klausel, dann das Einverständnis des Kandidaten und schließlich die Bekanntgabe an die kirchliche Hierarchie in Fulda, die damit letztlich nur ein passiv-empfangendes Element im Koadjutorfall bildete (vgl. Nr. 4). 3. Die wichtige Rolle, welche die nationalsozialistische Regierung für Pacellis Auswahl der Kandidaten und die Ausgestaltung des Koadjutorverfahrens spielte, wurde bereits erörtert. Zu ergänzen ist an dieser Stelle vor allem, dass Papst und Kardinalstaatssekretär den staatlichen Einspruch 1416

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gegen Rauch faktisch akzeptierten, indem sie dessen Kandidatur schließlich fallen ließen. Ungeachtet der rechtlichen Frage nach der Verbindlichkeit der politischen Klausel in Preußen- und Reichskonkordat für den Heiligen Stuhl1417 und ohne die Debatte über die Verpflichtung des Staates, die Bedenken offen zu legen, hier skizzieren zu können,1418 kann festgehalten werden, dass für Pacelli der Fall eindeutig war: Es kam für ihn einem staatlichen Vetorecht gleich, wenn die Regierung ihre Bedenken gegen den römischen Kandidaten nicht spezifizierte, da dem Heiligen Stuhl damit die Möglichkeit entzogen wurde, die Bedenken zu bewerten und zu prüfen, ob es sich um legitime allgemeinpolitische Einwände handelte. Da ein solches Vetorecht seiner Ansicht nach aber nicht bestand,1419 „hätte der Heilige Stuhl die Befugnis, ohne Weiteres zur Ernennung des Bischofs zu schreiten“1420, wie er an Orsenigo schrieb. Doch auch angenommen, die Reichsregierung hätte ihre Bedenken offengelegt, wäre die Situation wohl kaum anders gewesen: Wie die von Seiten des Auswärtigen Amts geäußerte Einschätzung, Rauch sei gegenüber dem Nationalsozialismus „systematisch feindlich eingestellt“, schon sichtbar machte, handelte es sich einzig um parteipolitische Bedenken, welche die NS-Regierung ins Feld führte und die Pacelli wohl kaum als gültig akzeptiert hätte.1421 Das Dilemma wäre also dasselbe gewesen, nämlich entweder den Einspruch trotzdem hinzunehmen oder sich über die Bedenken hinwegzusetzen. Vielleicht gab Pacelli auch deshalb das schlussendlich aussichtslos erscheinende Unterfangen auf, die staatlichen Ablehnungsgründe in Erfahrung zu bringen, wenn er auch die Praxis der Regierung als „nicht hinnehmbar“ bezeichnete. Stattdessen beschränkte er sich auf einen förmlichen Protest, um kein rechtliches Präjudiz für künftige Fälle zu schaffen, in denen er weiterhin Anspruch auf die Offenlegung etwaiger staatlicher Bedenken anmelden wollte.1422 Für Pacellis politisches Handeln ist aber wichtig festzuhalten, dass er die von ihm erklärte „Befugnis“, die von Regierungsseite nicht spezifizierten Bedenken zu ignorieren und seinen Wunschkandidaten zu installieren, nicht in die Tat umsetzte. Er vermied den daraus unvermeidlich resul1417 1418 1419

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Vgl. dazu Bd. 1, Kap. II.1.5 Anm. 1380 und Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 571. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.16 Anm. 1370. So lautete es auch im Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats: „Ein staatliches Vetorecht soll nicht begründet werden.“ Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. „… la S. Sede avrebbe facoltà procedere senzʼaltro alla nomina del Vescovo.“ Pacelli an Orsenigo vom 28. August 1936 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 677 P.O., Fasz. 247, Fol. 130v. Dass von Seiten des totalitären NS-Staats zwischen partei- und allgemeinpolitischen Bedenken nicht mehr unterschieden werden konnte beziehungsweise wollte, wirft die Frage auf, ob eine Verständigung unter diesen verschiedenen Grundvoraussetzungen überhaupt möglich gewesen wäre. Für Bernd Heim hängt die Tatsache, dass der Heilige Stuhl schließlich aufgab, die staatlichen Gründe für die Ablehnung Rauchs offenzulegen, damit zusammen, dass er seine eigenen Ablehnungsgründe gegen die Kandidatur Rarkowskis für das Amt des Armeebischofs nicht preisgeben wollte: „Hatte sich Nuntius Orsenigo zunächst noch bemüht, die gegen Professor Rauch konkret vorgebrachten Ablehnungsgründe zu erfahren und mit seinen Gesprächspartnern im Auswärtigen Amt zu diskutieren, so traten diese nunmehr 361

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tierenden Konflikt und vielleicht sogar diplomatischen Bruch mit dem NS-Staat sowie alle nicht genau absehbaren Folgen, die ein solcher Schritt für die Kirche in Deutschland im Allgemeinen hinter die grundsätzlichere Frage der Offenlegung der Ablehnungsmotive zurück. Die Kurie hatte vermutlich erkannt, daß eine detaillierte Diskussion der einzelnen Ablehnungsgründe geeignet war, die deutsche Haltung weiter zu verhärten. Zu offensichtlich schien die deutsche Regierung mit ihrer Weigerung, die ihm ‚Fall Fulda‘ gegen Wendelin Rauch bestehenden Bedenken zu begründen, das vatikanische Verhalten gegenüber dem deutschen Wunschkandidaten, Wehrkreispfarrer Rarkowski, im Fall der Feldbischofsernennung zu kopieren. Für die Kurie lag es somit nahe, auf eine explizite Diskussion der Ablehnungsgründe in den aktuellen Fällen generell zu verzichten, denn eine Erörterung der strittigen Fälle im Sinne der Freundschaftsklausel des Reichskonkordats hätte die Kurie dazu gezwungen, ihre eigenen, wenig plausiblen Ablehnungsgründe gegen die Ernennung Franz Justus Rarkowskis zum Feldbischof offenzulegen und gegenüber der deutschen Regierung zu rechtfertigen.“ Heim, Bischöfe, S. 308. Hervorhebung R.H. Heim argumentiert hier wie die Reichsregierung, wohingegen jedoch zu bedenken ist, dass dem Heiligen Stuhl bei der Bestellung des Feldbischofs nicht die analoge Rolle zukam, wie der Reichsregierung bei der Einsetzung des Koadjutors. Der Heilige Stuhl, das heißt in diesem Fall Pacelli und Orsenigo, dachte hier streng rechtlich, wie eindeutig aus dem Schreiben des Nuntius an Reichsaußenminister Neurath im September 1937 hervorgeht: „Indem ich auf den ‚allgemeinen Brauch‘ hinwies, die Bedenken, um deren willen ein Kandidat abgelehnt wird, auch auszusprechen, dachte ich in meiner Note offenbar an die Fälle, in denen dem Vorschlagenden das Ernennungsrecht zusteht und der Opponent nur das Recht hat, Bedenken zu äußern. Als ich aber sagte, dass der Heilige Stuhl die Gründe nicht anzugeben pflegt, aus denen er einen vorgeschlagenen Kandidaten nicht annehmen kann, lag der Fall ganz anders [gemeint ist die Bestellung des Feldbischofs, R.H.]; es handelte sich nämlich um einen Vorschlagenden, der das Ernennungsrecht nicht hatte.“ Orsenigo an Neurath vom 30. September 1937 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1935–1940, Pos. 678 P.O., Fasz. 248, Fol. 4r-v. Mit anderen Worten: Der Heilige Stuhl ist die Ernennungsinstanz sowohl beim Koadjutor als auch beim Feldbischof und muss daher der Regierung – so die Argumentation – in beiden Fällen auch nicht Rede und Antwort stehen, warum er einen bestimmten Kandidaten nicht erwählt. Die Regierung ist im Gegensatz dazu in beiden Fällen „Opponent“ und muss deshalb die Bedenken gegenüber der Ernennungsinstanz äußern. Diese Auffassung war auch der Grund dafür, dass Orsenigo in der Diskussion das Beispiel der Religionslehrer anführte, denn hier war die Sachlage tatsächlich umgekehrt: Die Regierung ernannte die Lehrer, die Kirche durfte Bedenken äußern und in dieser „Opponentenrolle“ legten die Bischöfe – so Orsenigo – ihre etwaigen Bedenken folgerichtig offen. Für den Heiligen Stuhl folgte daraus völlig eindeutig, seine Gründe gegen die Nomination Rarkowskis nicht mit der Regierung erörtern zu müssen und trotzdem gleichzeitig für sich das Recht reklamieren zu können, die staatlichen Einwände gegen Rauch zu erfahren. Da die römische Seite diesen Rechtsstandpunkt aufrecht erhielt, gibt es keinen Grund anzunehmen, sie hätte angesichts ihrer restriktiven Informationspolitik in der Feldbischofsfrage im Fuldaer Fall auf die staatliche Preisgabe der Ablehnungsgründe verzichtet. Vielmehr mussten Orsenigo und Pacelli davon ausgehen, dass die Regierung ihrem Anliegen nicht entsprechen würde und daher alle weiteren diesbezüglichen Versuche – wie gesagt – aussichtslos sein würden. Wie aus dem Gesagten bereits hervorgeht, glaubt Heim, dass es für den Heiligen Stuhl „dringend geboten gewesen wäre“ (Heim, Bischöfe, S. 311), „im Sinne der Freundschaftsklausel“ die eigenen Ablehnungsmotive gegen Rarkowski preiszugeben. Außerdem sei es eine „scheinheilige, allein auf die Bedürfnisse des Vatikans abgestimmte Lösung“ (ebd., S. 311), wenn der Vatikan in künftigen Anwendungsfällen der politischen Klausel eine Offenlegung der staatlichen Bedenken erwartete und gleichzeitig seine eigene Informationspolitik in der Feldbischofsfrage nicht revidieren wollte. Schließlich fügt er die Frage an: „War es vermessen, naiv oder nur eine subtile Ausprägung eines kirchlichen Totalitarismus, vom Vertragspartner 362

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und den „leidtragenden“ Koadjutor im Besonderen mit sich gebracht hätte – für einen hier realpolitisch-diplomatisch denkenden Pacelli konnte die Koadjutoreinsetzung in Fulda dieses Spektrum von Konsequenzen offensichtlich nicht rechtfertigen. Während Bernd Heim diese Auffassung teilt,1423 konstatiert er in der „vatikanische[n] Strategie … eine recht merkwürdig anmutende Unstimmigkeit“ und „Inkonsequenz“1424, da diese einerseits auf ihrem Rechtsstandpunkt insistierte, was die prinzipielle Offenlegung der politischen Bedenken durch die Regierung anbelangte, und andererseits im konkreten Fall entgegengesetzt handelte, nämlich die Kandidatur Rauchs fallen ließ, ohne die konkreten Einspruchsgründe zu kennen. Diese „Inkonsequenz“ der Weisungen des päpstlichen Staatssekretariats ist gewiss nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen. Doch gab es für Pacellis Handeln durchaus Gründe, die zum Teil auch schon angeklungen sind: Erstens war die Regierung nach mehrmaligem Drängen nicht zur Preisgabe der Gründe zu bewegen, wobei diese erwartbar parteipolitischen Charakter hatten und daher eine zielführende Diskussion über ihre Legitimität a priori praktisch ausgeschlossen war. Zweitens drängten sowohl Bischof Schmitt als auch die Situation der Diözese Fulda auf eine schleunige Einsetzung des Koadjutors. Auch dies verlor Pacelli nicht aus den Augen – vermutlich stellte er sich die Frage, ob eine von vornherein fruchtlose Debatte mit der

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Entgegenkommen zu fordern, ohne selbst von den festzementierten eigenen Positionen abrücken zu wollen?“ (ebd., S. 312). Weil aber – so Heim – das beharrliche Festhalten am juristischen Standpunkt letztlich nur in eine „politische Sackgasse“ (ebd., S. 311) führen konnte, wäre die Freundschaftsklausel die einzig logische Orientierung gewesen. Diese harrsche Kritik geht von dem irrationalen Standpunkt aus, dass beide Vertragspartner letztlich im Recht beziehungsweise Unrecht waren (vgl. ebd., S. 308f.). Hier stellt sich jedoch die Frage, ob die Freundschaftsklausel tatsächlich den Zweck hatte, die Forderung zu legitimieren, dass die eine Vertragspartei von ihrem – gut begründeten – Rechtsstandpunkt absehen müsse, „nur“ weil die andere denselben nicht teilt. Dass die Forderung des Heiligen Stuhls an die Regierung, ihre Bedenken offenzulegen, eine gut begründete war, ergibt sich nicht nur aus den hier zu Sprache gekommenen Argumenten, sondern hat auch in der Kanonistik Zustimmung gefunden. Vgl. Kaiser, Klausel, S. 151–158. Bedenkt man schließlich, warum die Regierung ihre Bedenken nicht äußern wollte, nämlich nicht eigentlich wegen des kurialen Schweigens in der Feldbischofsfrage, sondern weil sie keine legitimen allgemeinpolitischen Einwände besaß, erscheint Kritik in erster Linie an der staatlichen Position angebracht. Deshalb hätte es faktisch auch nichts genutzt, wenn der Heilige Stuhl offengelegt hätte, warum er Rarkowski nicht zum Feldbischof ernennen wollte – die Regierung hätte dennoch darauf bestehen müssen, ihre Gründe gegen Rauch zu verschweigen, weil sie schlicht nichts Geeignetes hatte, das sie vorbringen konnte. Daher stimmt es schließlich auch nicht, wenn Heim behauptet, dass wegen der kurialen „Einseitigkeit … auch eine demokratisch geführte Reichsregierung dem Lösungsvorschlag der Kurie ihren Widerstand entgegensetzen und auf eine ausgewogenere Lösung des Konflikts [hätte] drängen müssen“. Heim, Bischöfe, S. 312. Mit einer demokratischen Regierung wäre es nämlich gar nicht erst zu diesem Konflikt gekommen, da diese – weil nicht totalitär – zwischen allgemein- und parteipolitischen Bedenken hätte differenzieren können und daher gegen Rauch entweder erst gar keine Bedenken erhoben oder aber, falls bei allgemeinpolitischen Einwänden fündig, überhaupt keinen Grund gehabt hätte, diese geheim zu halten. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 310. Heim, Bischöfe, S. 312. 363

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Regierung es wert war, den Verfahrensabschluss weiter zu verzögern. Drittens war der Kandidatenwechsel zwar eine Konzession an die Regierung, jedoch in der Substanz nicht so weitreichend, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint (vgl. Nr. 1). Auf der anderen Seite gehört es zum kleinen Einmaleins eines Diplomaten, einen Rechtsanspruch – in diesem Fall hinsichtlich der politischen Klausel  – formal und für die Zukunft aufrecht zu erhalten und dürfte daher wohl nicht besonders sein. Wenn also Heim den Eindruck äußert, „als habe man halbherzig alles, die Wahrung der eigenen Position wie den äußeren Frieden mit der Reichsregierung gewollt, und am Ende keines von beiden erreicht“1425, so könnte man diese Wertung ebenso gut umkehren. Pacelli hat beides zum Teil erreicht: auf der einen Seite den formalen Rechtsanspruch und – wenn nicht seinen Favoriten, so doch – einen seinem Wunschprofil im Wesentlichen entsprechenden neuen Koadjutor; auf der anderen Seite – wenn auch keine Einigung in den Rechtsfragen, so doch zumindest – keine Verschlimmerung des Kirchenkampfes durch die Fuldaer Koadjutoreinsetzung. 4. Laut vatikanischer Quellen suchte der Kardinalstaatssekretär für seine Überlegungen zum Verfahren oder zu den Kandidaten keinen Rat bei Informanten. Als einzige für ihn relevante Referenzquelle konnte die Meinung des bayerischen Episkopats aufgedeckt werden, auf die er in Form der Triennalliste von 1932 zurückgriff – und das, obwohl diese in formaler Hinsicht gar nicht für das Bistum Fulda Geltung beanspruchte.1426 Nach der Ansicht der betroffenen Fuldaer Hierarchie zum Koadjutorplan fragte er nicht. Weder der Domdekan, der immerhin brieflich bei ihm vorstellig wurde, noch der Oberhirte selbst waren einbezogen. Dieser sollte zwar immerhin zustimmen, doch eine wirkliche Wahlfreiheit gewährte ihm Pacelli nicht.1427 Auch einen Kandidatenvorschlag wünschte er von Schmitt nicht, was vielleicht nahegelegen hätte, insofern Bischof und Koadjutor künftig eng zusammenarbeiten würden. 5. Wenn Pacelli keine Informanten hinzuzog, dann weil er klare Vorstellungen besaß, in welcher Form der Fuldaer Fall abgewickelt werden sollte. Wie allerdings die innerkuriale EntscheidungsHeim, Bischöfe, S. 312. Die Ansicht der bayerischen Domkapitel hingegen war für Pacelli nicht von Bedeutung. Von allen Kapiteln stimmte über den Bamberger Regens einzig das seines Heimatbistums ab und in dessen Abstimmungslisten fand Pacelli kein schlagkräftiges Argument, das eine Nomination Dietzʼ nahelegen würde: War 1926 die Stimmenzahl für ihn noch ausgeglichen (6 mal ja und 6 mal nein), so überwogen in den Folgejahren die Negativvoten (im Jahr 1929 hieß es 4 mal probo und 6 mal non probo, 1932 ähnlich 4 mal ja und 5 mal nein). Die Mehrheit der Bamberger Domherren hielt Dietz also nicht für episkopabel. 1427 Laut den Cann. 350 § 1 und 353 § 1, 2 CIC 1917 über Einsetzung und Amtsantritt des Koadjutors war die Zustimmung des betroffenen Bischofs nicht erforderlich. Vgl. auch Mörsdorf, Lehrbuch I, S. 411. 1425

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findung, näherhin die Interaktion von Pontifex und Staatssekretär, im Einzelnen erfolgte, ist quellenmäßig nicht nachvollziehbar.1428 Pacelli erwähnte den Papst freilich an allen entscheidenden Stationen des Verfahrens: Dieser wolle Schmitt einen Koadjutor beigesellen, er halte eine Protestnote an die Regierung für angebracht, er habe sich für die Dietz als Alternativkandidaten entschieden und er verpflichte den Regens, das Amt anzunehmen. Legitimationsinstanz war also die päpstliche Autorität, doch die Grundlage für ihre Entscheidungen konnte letztlich nur Pacelli legen, was gerade an der Kandidatenfrage deutlich wird: Abgesehen davon, dass Rauch dezidiert sein Kandidat war,1429 erscheint es auch als schwer denkbar, dass Pius XI. selbst die bayerischen Triennallisten durchblätterte und sich einzig auf dieser Basis für den Bamberger Regens als Alternativkandidaten entschied. Dass Dietz sich außerdem anders als Rauch mit NS-kritischen Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückgehalten hatte, was als Profilergänzung nach der Ablehnung des Letztgenannten hinzutrat, war der Triennalliste sogar nicht einmal zu entnehmen. Nur aus einer zumindest vagen persönlichen Kenntnis heraus lässt sich die Nominierung Dietzʼ verstehen – und diese besaß Pacelli (vgl. Nr. 1). Von daher wird man annehmen müssen, dass der Kardinalstaatssekretär sich die Bischofsaspiranten überlegte und dem Papst vermutlich zur Bestätigung vorlegte.1430 Wenn allerdings die Kandidatenentscheidungen bereits vor dem Hintergrund persönlicher Kenntnis getroffen wurden, dann ist dies für die Verfahrensfragen ebenso anzunehmen, wenn schon diese Fachkenntnis in der Person des früheren Berliner Nuntius vorhanden war. Dementsprechend gab Pacelli zum Verfahrensablauf detaillierteste Anweisungen und zwar auch in Korrektur und Widerspruch zu Orsenigo. Insofern trat er auf als jemand, der glaubte, die Entscheidungen von Rom aus besser treffen zu können als der Nuntius vor Ort. So verwundert es auch nicht, dass er von diesem keine Kandidatenvorschläge verlangte und ihn rein als ausführendes Organ, nicht aber als beratende Instanz betrachtete. Orsenigo fügte sich weitgehend in diese Rolle und verzichtete darauf, eigenständig episkopable Geistliche ins Spiel zu bringen. Auch traute er sich nicht, eigenmächtig zu handeln, sondern rückversicherte sich zuerst bei seinem Vorgesetzten. Immerhin kam der Anstoß, das Verfahren überhaupt zu initiieren, von ihm und zwar von ihm persönlich, wie er vielleicht vielsagend in seiner Berichterstattung schrieb, um seine eigene „Leistung“

Auch den Fuldaer Fall betreffende Audienznotizen Pacellis konnten nicht gefunden werden. Vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, 1930–1938, Pos. 430a P.O., Fasz. 353. 1429 Vgl. dazu die Nr. 1 der Ergebnisse von Berlin und Mainz jeweils 1935. 1430 Auch dass Pacelli das Nihil obstat des Heiligen Offiziums für Rauch nicht abwartete, sondern dessen Namen vorher an die Nuntiatur kommunizierte, zeigt, welchen Stand er sich in der Personalfrage zuerkannte. Allerdings wird man dieses Faktum auch nicht überbewerten dürfen, da der Mainzer Theologieprofessor schon am 2. April 1935 im Kontext der Berliner Sedisvakanz von der Suprema Congregatio überprüft worden war und es sich daher gegenwärtig nur um eine reine Formalität handeln konnte. Außerdem hielt Pacelli bei der Nomination des Bamberger Regens den üblichen Geschäftsgang ein. 1428

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II.1.17 Aachen 1937/38

zu beziffern. Die Weisung, den Limburger Koadjutorfall als Paradigma zu nehmen, brachte ihn dann aber sofort wieder in die Situation als „Unwissender“ nach Rom schreiben zu müssen, wobei Pacelli durchaus hätte klar sein können, dass Orsenigo die entsprechenden Unterlagen nicht zur Verfügung standen, die er selbst mit nach Rom genommen hatte. Während er Orsenigo hinsichtlich der einzelnen Verfahrensschritte korrigierte, kritisierte er jedoch nicht, dass es dem Nuntius nicht gelang, die Ansprüche des Heiligen Stuhls gegenüber der Reichsregierung durchzusetzen – zu genau kannte der Kardinalstaatssekretär die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unlösbarkeit dieser Aufgabe angesichts der politischen circumstantiae. An dem mangelnden Einsatz Orsenigos war die Kandidatur Rauchs gewiss nicht gescheitert, wie Pacelli aus der Berichterstattung entnehmen konnte. Was der Nuntius dem Kardinalstaatssekretär voraus hatte, war die Sorge, die Fuldaer Kirche über den neuen Koadjutor rechtzeitig vor der Publikation in Kenntnis zu setzen. Ob dahinter freilich eine stärkere „Würdigung“ der Ortskirche oder „lediglich“ die Absicht stand, das diesbezügliche Versprechen, das er Schmitt gegeben hatte, einzuhalten, muss offen bleiben.

II.1.17 Diplomatisch geschickt – Ein Administrator gegen das ‚Veto‘ der Regierung: Aachen 1937/38 (Hermann Joseph Sträter)1431 Der Tod von Bischof Joseph Vogt und die Kandidatenvorschläge von Episkopat und Domkapitel Nach fast achtjähriger Amtszeit verstarb am 5. Oktober 1937 der erste Bischof der 1930 errichteten Diözese Aachen, Joseph Vogt. Noch am gleichen Tag wählte das Domkapitel den Generalvikar und Weihbischof des Bistums, Hermann Joseph Sträter, zum Kapitelsvikar. Höchstwahrscheinlich gelangte die Trauernachricht und die Wahlanzeige Sträters über die Berliner Nuntiatur zur Kenntnis von Kardinalstaatssekretär Pacelli.1432

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Vgl. zur Besetzung des bischöflichen Stuhls von Aachen 1937/​38 Evers/​Willing (Hg.), Persönlichkeiten I, S. 81f.; Gatz, Besetzung, S. 228–235; Ders., Bischofswahlen, S. 154f.; Heim, Bischöfe, S. 357–403; Kaiser, Klausel, S. 160–168, 207–217; Meyers, Hüter, S. 65–71; Poll, Aachener Bischöfe, S. 332f.; Wäckers, Kirche, S. 44–46, 50f. Da die Akten aus dem Nuntiaturarchiv nicht überliefert wurden, ist ein Beleg nicht möglich. Es war jedoch übliche Vorgehensweise, einen Bischofstod und die darauffolgende Wahl eines Kapitelsvikars bei der Nuntiatur anzuzeigen. Ein entsprechendes Schreiben, mit dem Orsenigo diese Informationen an den Kardinalstaatssekretär weitergab, konnte allerdings in den Akten des Staatssekretariats nicht gefunden werden. Auf Basis der Überlieferung des Aachener Diözesanarchivs bemerkt Bernd Heim, dass Sträter seine Erhebung zum Kapitelsvikar neben einigen Regierungsstellen den Kardinälen Schulte, Bertram 366

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In der AES rief sich daraufhin Sekretär Pizzardo den Wiederbesetzungsmodus in Erinnerung, wie ihn der 6. Artikel des Preußenkonkordats festlegte.1433 Dementsprechend lautete das von ihm notierte dreischrittige Vorgehen: 1. das Aachener Domkapitel und der preußische Episkopat sollten dem Heiligen Stuhl episkopable Kandidaten präsentieren; 2. dieser musste anschließend drei Namen bezeichnen, aus denen 3. das Kapitel den neuen Bischof zu wählen hatte; schließlich folgte die Vergewisserung der Domherren bei der preußischen Regierung, ob politische Bedenken gegen den Gewählten bestanden. Nachdem Pacelli diese grobe Verfahrensskizze abgesegnet hatte, wies Pizzardo den Berliner Nuntius Orsenigo am 16. Oktober an, „die nötigen Maßnahmen für die Besetzung des Bistums Aachen einzuleiten“1434. Darunter verstand er das im Laufe der vergangenen preußischen Besetzungsfälle sich etablierte Rundschreiben, mit dem der Nuntius den preußischen Episkopat und das jeweilige Domkapitel aufforderte, getrennt für sich der Apostolischen Nuntiatur sub secreto Sancti Officii „einen oder mehr Kandidaten mit allen nötigen Informationen“1435 zu bezeichnen. Das Zirkularschreiben verschickte Orsenigo zügig am 19. Oktober.1436 Die Vorschläge liefen bis Mitte November in der Nuntiatur ein. Eine Frist, wie in früheren Fällen, setzte der Nuntius dieses Mal nicht.1437 1. Schon am 23. des Monats meldete sich Franz Rudolf Bornewasser aus Trier zurück und brachte den Kölner Weihbischof, Wilhelm Stockums, in Vorschlag: „Ein Mann, der sich durch Frömmigkeit und Wissenschaft auszeichnet, der die Diözese Aachen und seinen Klerus sehr gut kennt.“1438 2. Der Berliner Oberhirte, Konrad Graf von Preysing, dessen Erwiderung auf den gleichen Tag datiert, gestand, aus den ihm bekannten (Erz-) Diözesen München-Freising, Eichstätt, Berlin und

und Faulhaber notifizierte. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 370. Eine gleichzeitige Mitteilung an die Nuntiatur ist daher anzunehmen. 1433 Vgl. Notiz Pizzardos ohne Datum, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 3r. 1434 „… ad iniziare le pratiche necessarie per la provvista di Aquisgrana …“ Pizzardo an Orsenigo vom 16. Oktober 1937 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 4r. 1435 „… uno o più candidati con tutte le opportune informazioni.“ Pizzardo an Orsenigo vom 16. Oktober 1937 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 4r. 1436 Das Datum ergibt sich aus den Antwortschreiben der Bischöfe. 1437 Im Münsteraner Besetzungsfall von 1933 hatte er eine 15-tägige Rücksendungsfrist eingeführt, die in den darauffolgenden preußischen Besetzungsfällen zur Regel werden sollte. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Kandidatenlisten Kardinal Schultes und des Münsteraner Domkapitels). 1438 „Vir est et pietate et scientia insignis, qui optime cognovit dioecesim Aequisgranensem ejusque clerum.“ Bornewasser an Orsenigo vom 23. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 15r. 367

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Meißen keinen tauglichen Bischofskandidaten zu kennen.1439 Das Bistum Aachen sei ihm nicht vertraut, ebenso wenig kenne er den Klerus aus den benachbarten Sprengeln. Daher verzichtete er auf sein Vorschlagsrecht. 3. Der Kölner Erzbischof, Karl Joseph Schulte, hatte zwei Namen für den Bischofsstuhl seines Suffraganbistums im Sinn: a) Den Meißener Koadjutor Heinrich Wienken, der  – so war sich Schulte gewiss – „die Qualitäten besitzt, ein ausgezeichneter Bischof genau der vakanten Diözese zu werden“1440. b) Den Trierer Weihbischof, Albert Fuchs, den er als Mann „mit vielen und großartigen Vorzügen“, „reicher pastoraler Erfahrung“, „klarer Intelligenz“1441 und Tatkraft charakterisierte. 4. Dem Bischof von Limburg, Antonius Hilfrich, schien der oben genannte Sträter, Weihbischof, Generalvikar und jetzt Kapitelsvikar in Aachen, „passend und geeignet“1442 für die Übernahme des vakanten Bischofsstuhls zu sein. Dass Sträter bereits 70 Jahre alt war, hielt Hilfrich für irrelevant, weil dessen Gesundheit noch stabil sei und dieser in keine ihm unbekannte Diözese eintrete. Da er darüber hinaus keine weiteren Priester aus dem fraglichen Bistum kenne, könne er niemand anderen vorschlagen. Daran, eventuell auch Geistliche in Betracht zu ziehen, die nicht in Aachen inkardiniert waren, dachte Hilfrich offenbar nicht. 5. Immerhin zwei Vorschläge konnte Orsenigo im Manuskript lesen, das ihm Wilhelm Berning am 29. Oktober aus Osnabrück zusandte: a) Zum einen Paul Simon, den Propst des Metropolitankapitels von Paderborn, „ein Mann, der in der Wissenschaft und in den Sitten hervorsticht, der ein hohes Ansehen und eine große Autorität im gesamten katholischen Volk Deutschlands besitzt“1443. b) Zum anderen Joseph Pascher, Propst des Kölner Metropolitankapitels, früher Kanoniker in Aachen und daher bereits mit der Diözese bekannt, sowie jemand,

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Vgl. Preysing an Orsenigo vom 23. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 16rv. „… posiede le qualità per diventare un vescovo eccellente appunto della vacante diocesi …“ Schulte an Orsenigo vom 24. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 17r. „… di molti e grandi pregi … ricca esperienza pastorale, chiara intelligenza …“ Schulte an Orsenigo vom 24. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 17r. „… aptus et idoneus …“ Hilfrich an Orsenigo vom [28.] Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 21r. Das Schreiben datiert formal auf den 18. Oktober. Da Orsenigo jedoch erst am 19. des Monats sein Zirkularschreiben absandte, auf das sich der Limburger Oberhirte auch ausdrücklich bezog, ist ein Schreibfehler anzunehmen und mit dem 28. Oktober als tatsächlichem Datum zu rechnen. „… virum scientia et moribus eccellentem et magnum honorem ac autoritatem in toto populo catholico Germaniae habentem …“ Berning an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 23rv, hier 23r. 368

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der „besonders in Schulfragen und was den Religionsunterricht betrifft, ein Mann von großer Erfahrung ist“1444. 6. Wen hielt Adolf Bertram, Erzbischof von Breslau, als Nachfolger Vogts für geeignet? Wie schon sein Berliner Amtskollege bat der Kardinal den Nuntius, von einem Vorschlag absehen zu dürfen, denn es sei „ratsam, dass zum Nachfolger … ein mit den Verhältnissen der rheinischen Diözesen vertrauter Priester ausgewählt werde“1445. Über den rheinischen Klerus traute er sich aber kein fundiertes Urteil zu. 7. Im Gegensatz dazu hatten die Aachener Kanoniker eine profilierte Vorstellung, wer ihr neuer Oberhirte werden sollte. Am 28. Oktober trafen sie sich zur Aufstellung ihrer Kandidatenliste, wie Sträter in seiner Funktion als Domdekan dem Nuntius am Folgetag mitteilte.1446 Mit drei Namen legten sie die bislang umfassendste Liste vor: a) An erster Stelle rangierte Emmerich David, Päpstlicher Hausprälat und Generalvikar von Köln, Jahrgang 1882, 1905 zum Priester ordiniert, „der außer allen vom kanonischen Recht verlangten Qualitäten für das Bischofsamt1447 eine besondere Kenntnis der Angelegenheiten und Personen der Diözese Aachen besitzt“1448. Über viele Jahre sei David Rektor des deutschen Priesterkollegs am Campo Santo in Rom gewesen und daher bestens mit Kontakten zu den höchsten Kirchenkreisen ausgerüstet. b) Die Domkapitulare dachten sodann an den Diözesanbischof von Hildesheim, Joseph Godehard Machens. Neben der Nennung der – in Rom natürlich bekannten – biographischen Stationen von Geburt (1886), Priesterweihe (1911) und Bischofsnomination (1934), attestierten sie ihm „Erfahrung in der Diözesanverwaltung, vortreffliche Redegewandtheit“ und „furchtlose Standhaftigkeit in der Verteidigung der Rechte der Kirche“1449. Die Relevanz der letztgenannten Eigenschaft musste vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Kirchenkampfs verstanden werden. c) Schließlich zogen die Kanoniker noch einen weiteren amtierenden Diözesanbischof in Betracht, nämlich Maximilian Kaller aus Ermland. Dem 1880 geborenen, 1903 zum Priester geweihten und 1930 an die Spitze des 1444

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„… praesertim in questionibus scholam et religiosam institutionem pertinentibus vir magnae experientiae est.“ Berning an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 23v. Bertram an Orsenigo 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 19r. Vgl. Sträter an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 24r–26r (nur r). Vgl. dazu Can. 331 § 1 CIC 1917 beziehungsweise Bd. 1, Kap. I.6. „… qui praeter omnes qualitates ab canonico jure in promovendo ad episcopatum requisitas specialem cognitionem rerum et personarum huius dioecesis Aquisgranensis habet.“ Sträter an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 24r. „… experientia dioecesis administrandae, eximia eloquentia, constantia intrepida in vindicandis iuribus Ecclesiae …“ Sträter an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 25r. 369

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ostdeutschen Bistums promovierten Oberhirten schrieben die Kanoniker „Klugheit“ und „pastoralen Eifer in der Verbreitung der Katholischen Aktion“1450 zu. Bemerkenswert ist, dass kein Geistlicher aus Aachen für das Domkapitel geeignet schien. 8. Die beiden vom Domkapitel an zweiter und dritter Stelle vorgeschlagenen Diözesanbischöfe nutzten jeweils den Allerheiligentag, um ihre Kandidatenüberlegungen zu verbalisieren. Joseph Machens aus Hildesheim benannte ein Personenquartett, das er freilich nur mit extrem knappen Informationen versah: a) Heinrich Wienken, Koadjutor in Meißen; b) Franz Hartz, Prälat in Schneidemühl, gebürtiger Krefelder, also vom Niederrhein stammend; c) Paul Simon, Dompropst in Paderborn, der in philosophischen wie theologischen Fragen kundig sei, ebenso praktisch veranlagt und rhetorisch begabt; d) Konrad Algermissen, Theologieprofessor am Hildesheimer Priesterseminar.1451 Bei ihm hob Machens hervor, dass er durch seine pastoralen Kurse für den gesamtdeutschen Klerus gut bekannt sei. Außerdem habe er Bücher gegen den Bolschewismus1452 und „Neopaganismus“, also den Nationalsozialismus, verfasst. Was letztere Ideologie angeht, spielte der Bischof vermutlich besonders auf Algermissens Buch „Germanentum und Christentum“1453 von 1934 an. Darin hatte dieser nicht nur das wechselvolle Verhältnis von Christen- und Germanentum in der Geschichte nachgezeichnet, sondern in klarer und konziser Form vor allem die „Doktrin“ des „Grundbuches“ der nationalsozialistischen Weltanschauung destruiert: „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“1454 vom „NS-Chefideologen“ Alfred Rosenberg, das praktisch zeitgleich auf den römischen Index librorum prohibitorum gesetzt wurde.1455 Ein als Sonderdruck publiziertes Kapitel aus Algermissens „Germanentum und Christentum“ wurde 1935 von der NSDAP verboten und brachte dem Verfasser fortan staatliche Repressalien ein.1456 Die Frage, inwiefern Algermissen angesichts dessen öffentlich propagierter Kritik am Nationalsozialismus kein „Opfer“ des politischen Bedenkenrechts des Staates werden sollte, stellte Machens nicht.

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„… prudentia, pastorali industria in augenda causa actionis catholicae …“ Sträter an Orsenigo vom 29. Oktober 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 25r. Vgl. Machens an Orsenigo vom 1. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 27r. Vor allem ist hier „Die Gottlosenbewegung der Gegenwart und ihre Überwindung“ von 1933 zu nennen. Vgl. Algermissen, Gottlosenbewegung. Das Werk „Der Bolschewismus, die größte weltanschauliche und ethische Gefahr der Menschheit“, das Algermissen 1937 verfasst hatte, wurde nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone indiziert. Vgl. Ders., Bolschewismus. Vgl. Algermissen, Germanentum. Vgl. auch Bd. 2, Kap. II.1.14 Anm. 1112. Vgl. Rosenberg, Mythus. Vgl. zur kirchlichen Auseinandersetzung mit Rosenberg Baumgärtner, Weltanschauungskampf; Scherzberg, Katholizismus; zur römischen Verurteilung Rosenbergs Burkard, Häresie; Wolf, Papst, S. 278–285. Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.14 Anm. 1014. 370

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9. Maximilian Kaller aus Ermland brachte zwei Namen in Vorschlag: a) Wiederum Hartz, der die Freie Prälatur Schneidemühl sei fast sieben Jahren lenke und zwar „mit großartiger Wirkung, geschickt in der Seelsorge sowie in der Verwaltung der zeitlichen Güter, gelehrt und fromm“1457. Allerdings wisse er nicht, ob die sittliche Verfehlung seiner Nichte ihm nicht zu sehr zugesetzt habe. Diese Verfehlung, auf die Kaller sich bezog, bestand in einer Affäre dieser Nichte mit einem Priester aus Schneidemühl, aus der ein Kind hervorging, wie Orsenigo später ausführte. b) Kallers Nummer zwei bildete der ebenfalls schon proponierte Meißener Koadjutor Wienken. Dieser sei vom gesamten deutschen Episkopat sehr geschätzt als „ein gottesfürchtiger Bischof, klug, demütig, geschickt und versiert in vielen Dingen“, der jedoch in Meißen „keine Gelegenheit hat, seinen Eifer und alle seine anderen guten Talente zu zeigen“1458. 10. Am 4. November sandte schließlich Clemens August Graf von Galen aus Münster seine Vorschläge nach Berlin.1459 Ähnlich wie Machens konnte sich Galen vier Geistliche als Bischof von Aachen vorstellen und genau wie jener machte er zu jedem im Umfang sehr divergente Angaben: a) Zuerst den Trierer Weihbischof Fuchs, der bereits von Schulte genannt worden war. Zu ihm brachte der Graf nur die nötigsten Angaben, nämlich dessen Geburt in Koblenz 1876, die Priesterweihe 1900 sowie die Ordination zum Bischof 1935. b) Dann dachte er an den Regens seines Priesterseminars, Domkapitular Arnold Francken, gebürtig aus dem niederrheinischen Kervenheim (1875) und genau wie Fuchs im Jahr 1900 zum Priester geweiht. Dieser schien ihm besonders für den vakanten Stuhl geeignet, weil „ein großer Teil der Geistlichen der jetzigen Diözese Aachen, bis 1930 zum Bistum Münster gehörend, von ihm im Priesterseminar erzogen ist und ihn hoch verehrt“1460. Galen fügte freilich hinzu, dass er den Verlust seines Regens bedauern würde. c) Der nächste war erneut Hartz, der aus der Nähe Krefelds stamme, das – wie Galen bemerkte – mittlerweile zum Bistum Aachen gehöre.1461 Von Jahrgang 1882 und Ordinationsjahr 1908 war er jünger als die Erstgenannten. d) Das gleiche Geburtsjahr hatte schließlich Dechant Wilhelm Holtmann, der laut Galens Angaben 1906 geweiht worden und derzeit Pfarrer in Kevelaer am Niederrhein war:

„… cum magno effectu, peritus valde in cura animarum et in procuratione bonorum temporalium, doctus et pius.“ Kaller an Orsenigo vom 1. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 28rv, hier 28r. 1458 „… ut episcopus religiosus, prudens, humilis, peritus et versatu in multis … non habet occasionem ostendendi fervorem suum et omnes alias indoles suas bonas.“ Kaller an Orsenigo vom 1. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 28v. 1459 Vgl. Galen an Orsenigo vom 4. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 30rv. 1460 Galen an Orsenigo vom 4. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 30r. 1461 Vgl. Art. 2, Abs. 2 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 323. 1457

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„Derselbe hat sich durch musterhaftes priesterliches Leben und eifrige Arbeit als Seelsorger und als Religionslehrer in Duisburg, seit 1930 als Pfarrer und Leiter der viel Klugheit, Umsicht und Energie erfordernden Wallfahrt in Kevelaer bestens bewährt und ist seit 1935 Ehrendomkapitular der Kathedrale zu Münster.“1462

11. Da Bischof Joseph Damian Schmitt – wie Orsenigo nach Rom berichtete – momentan gesundheitlich nicht in der Lage sei, Personalentscheidungen zu treffen und sich wohl wegen der strengen Diskretion nicht traue, seinen Koadjutor, Johann Baptist Dietz, einzubeziehen, kamen keine Kandidatenvorschläge aus Fulda.1463 12. Daher war der Paderborner Metropolit, Kaspar Klein, mit seinem drei Namen umfassenden Manuskript vom 10.  November der Letzte in der Reihe der preußischen Proponenten.1464 Die ersten beiden Geistlichen gehörten zur Erzdiözese Paderborn: a) Weihbischof Augustin Baumann und b) der schon vorgeschlagene Dompropst Simon. Beide seien „kirchlich durch und durch treu, wissenschaftlich hochstehend und für die mannigfachen und wichtigen Aufgaben auf dem Gebiete der modernen Seelsorge sehr interessiert. Nach meinem Dafürhalten würde das Bistum Aachen in jedem der erwähnten Herren einen ganz vorzüglichen Leiter erhalten“1465. c) Schließlich warf Klein noch den Namen Wienken in den Ring. Da – wie er gehört habe – Petrus Legge in Meißen wieder einigermaßen genesen sei und die volle bischöfliche Amtsgewalt ausübe, sei der Koadjutor für eine andere Aufgabe frei. Dessen Berufung nach Aachen konnte seiner Ansicht nach daher für beide vorteilhaft sein.

Orsenigos Votum für Wienken und die römische Terna Als am 12. November alle Rückäußerungen auf das Rundschreiben Orsenigos in der Nuntiatur eingetroffen waren, machte sich der Nuntius an die Auswertung der Kandidatenvorschläge. Für Pacelli sortierte er die Namen entsprechend der Anzahl der Proponenten: Wienken (4), Hartz (3), Simon (3) und Fuchs (2).1466 Alle übrigen Geistlichen waren jeweils nur einmal genannt worden.

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Galen an Orsenigo vom 4. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 30r-v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 12. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 12r–14r, hier 12r-v. Vgl. Klein an Orsenigo vom 10. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 29rv. Klein an Orsenigo vom 10. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 29r. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 12. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 12r–14r. 372

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Eine deutliche Mehrheit für einen der insgesamt 14 verschiedenen Kandidaten konnte Orsenigo also nicht feststellen. Über keinen der Vorgeschlagenen habe er – so der Nuntius – Nachteiliges in den Nuntiaturunterlagen finden können. Nach dieser Bestandsaufnahme nahm er Wienken und Hartz genauer unter die Lupe, nicht jedoch Simon, obwohl er ebenso viel Voten wie Hartz auf sich vereinte. Wienken hielt Orsenigo für würdig, in die engere Auswahl genommen zu werden, insbesondere wegen dessen „großen Fingerspitzengefühls“, das dieser immer wieder bewiesen habe, „speziell durch die feinfühligste Art, mit der er seine Aufgabe als Koadjutor und Generalvikar [sc. von Meißen, R.H.] gelöst hat“1467. Dazu komme, dass sein finanzieller Unterhalt – und damit eine gesicherte Zukunft – in Bautzen keineswegs gewiss sei.1468 Eine Translation nach Aachen konnte für Orsenigo dieses praktische Problem aus der Welt schaffen. Ebenso anerkennend, aber ausführlicher, äußerte sich der Nuntius über Hartz. Dieser habe sich hohe Verdienste in der nunmehr schon sechs Jahre andauernden geschickten Leitung der Freien Prälatur Schneidemühl erworben. Dabei sei diese Aufgabe keineswegs einfach, handle es sich doch bei der Prälatur um ein an Polen grenzendes Gebiet, womit Orsenigo auf die damit verbundenen Nationalitäten- und Sprachkonflikte anspielte. Positiv beurteilte der Nuntius, dass Hartz immer jeden ernsteren Konflikt mit den staatlichen Autoritäten vermieden habe, ohne freilich auch nur ein Iota der kirchlichen Rechte preiszugeben. Gewiss – so überlegte Orsenigo  – wäre es für Hartz eine willkommene Gelegenheit, Schneidemühl zu verlassen, um nach Aachen zu wechseln. Allerdings – und damit kam der Nuntius auf die von Kaller angesprochene Problematik zu sprechen  – „befindet er sich, nicht persönlich, aber auf ihn zurückfallend, in einer peinlichen moralischen Situation“1469, für die seine Nichte verantwortlich war. Diese habe mit Hartz sogar unter einem Dach gelebt, bis ihre intime Affäre mit einem städtischen Priester publik geworden sei. Zu den übrigen vorgeschlagenen Namen konnte Orsenigo nichts Besonderes ergänzen. Allerdings lieferte er noch eine Einschätzung zur vermeintlichen Haltung der Regierung zu den Kandidaten: „… nur gegen den einen oder anderen ist eine besondere Feindschaft von Seiten der Regierung vorherzusehen, aufgrund von Gesinnungen indes, die auf die Ehre der Kandidaten zurückgehen, wie zum Beispiel der Ehrwürdige Priester Professor Algermissen, Verfasser

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„… il gran tatto … specie per il modo delicatissimo, con cui ha risolto il problema del suo ufficio di Vescovo Coadiutore e di Vicario Generale.“ Orsenigo an Pacelli vom 12. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 13v. Petrus Legge hatte ihm keine Domkapitularstelle übertragen, mit der Wienken ein geregeltes Einkommen hätte bestreiten können. „… egli si trova, non personalmente, ma di riflesso, in una penosa situazione morale …“ Orsenigo an Pacelli vom 12. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 14r. 373

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eines gewichtigen Bandes gegen die Rosenbergschen Theorien, der die Ehre hatte, von der Regierung verboten worden zu sein.“1470

Für Orsenigo war daher mit Sicherheit klar, dass der löbliche, ja „ehrenhafte“ Widerstand Algermissens gegen die nationalsozialistische Weltanschauung es praktisch unmöglich machte, für ihn das Nihil obstat der Regierung zu bekommen. Die Berichterstattung Orsenigos ist wohl dahingehend zusammenzufassen, dass er lediglich Wienken als geeigneten Kandidaten benennen konnte, obwohl auch dieser sich für die Nachfolge Vogts nicht unbedingt aufdrängte. Denn zumindest das pragmatische Argument, Wienkens finanziellen Unterhalt durch seinen Transfer nach Aachen zu sichern, war wohl kaum ein schlagkräftiger Anhaltspunkt, sich für ihn zu entscheiden. Der Kandidatur Hartzʼ hatte Orsenigo durch das skizzierte malum morale einen herben Dämpfer verpasst, der sicher nicht geeignet war, ihn bei den römischen Entscheidungsträgern zu empfehlen. Und genau dieses Defizit gab Pacelli als Grund dafür an, dass Hartz nicht auf die Terna gelangte. Wie er dem Nuntius bei Übersendung der Dreierliste mitteilte, habe er den Papst durchaus auf den Prälaten hingewiesen, der ihn auch „gerne in Erwägung gezogen hätte“1471, gerade angesichts dessen hoher Verdienste. Doch die skizzierte Peinlichkeit habe es nicht erlaubt, ihn in die Dreierliste aufzunehmen. Umso spannender ist die Frage, wen Pacelli und Pius XI. tatsächlich auf der Terna platzierten. Knapp zwei Wochen nach Orsenigos Bericht, am 25. November, sandte der Kardinalstaatssekretär die Trias an die Berliner Nuntiatur: 1. Arnold Francken, Münsteraner Domkapitular und Regens des dortigen Priesterseminars; 2. Konrad Algermissen, Domvikar in Hildesheim und Seminarregens; 3. Wilhelm Holtmann, Pfarrer von Kevelaer. Für alle drei Kandidaten hatte Pizzardo zuvor vom Heiligen Offizium die Bestätigung eingeholt, dass keine negativen Vorgänge gegen sie in der höchsten Kongregation anhängig waren.1472 Pacelli erteilte Orsenigo für das Wahlprozedere eine Reihe von Instruktionen, die nach der Verabschiedung des Preußenkonkordats 1929 üblich geworden waren: Liste und Kapitelswahl standen unter dem secretum Sancti Officii; der Wahlakt hatte gemäß den Normen des kanonischen Rechts stattzufinden; entsprechend dem im Preußenkonkordat vereinbar-

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„… solo contro qualcuno è previdibile qualche particolare ostilità da parte del Governo, per atteggiamenti però che tornano di onore ai candidati, come per esempio il Reverendo Sacerdote Prof. Algermissen, autore di un poderoso volume contro le teorie Rosenberghiane, che ebbe lʼonore di essere proibito dal Governo.“ Orsenigo an Pacelli vom 12. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 14r. „… avrebbe volentieri preso in considerazione …“ Pacelli an Orsenigo vom 25. November 1937 (Ent­ wurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 31r–32r, hier 31v. Vgl. die entsprechenden Formulare in der Korrespondenz zwischen Pizzardo und Ottaviani vom 24. November 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 5r–10r (nur r). 374

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ten Modus musste das Domkapitel nach erfolgter Wahl den electus bei der preußischen Regierung anzeigen. Wichtig sollte die Bestimmung werden, wie mit etwaigen politischen Bedenken von Seiten des Staates umzugehen war: In diesem Fall mussten die Einwände umgehend dem Heiligen Stuhl kommuniziert werden. Das Domkapitel durfte nicht eigenmächtig zur Neuwahl schreiten, ohne die Entgegnung aus Rom abzuwarten, andernfalls war diese Wahl nichtig.

Die Wahl Wilhelm Holtmanns und der Einspruch der Staatsregierung Die römische Terna samt den ergänzenden Anordnungen schickte Orsenigo am 29.  November an das Aachener Domkapitel. Über das, was dort im Einzelnen geschah, blieb der Nuntius im Dunkeln. Ein Wahlprotokoll oder ein genaues Wahlergebnis bekam er nicht. Erschwerend kam hinzu, dass die Verantwortlichen in Aachen versehentlich die Briefumschläge der Wahlanzeigen für Orsenigo und für das Reichskirchenministerium vertauschten. So ging das handschriftliche, lateinische Schreiben, das eigentlich für den Nuntius gedacht war, am 20. Dezember der Staatsbehörde zu.1473 Da die ursprünglich für die Regierung geschriebene Wahlanzeige – anders als das lateinisch-innerkirchliche Skriptum – offenbar nicht das Datum der Wahlversammlung enthielt, wusste der Nuntius zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht einmal, dass der 18. Dezember der Wahltag gewesen war. Deshalb erklärte er Pacelli am 24. des Monats nur knapp, erst jetzt eine Mitteilung erhalten zu haben, dass die Domherren Wilhelm Holtmann, den Dritten der Liste, gewählt und am Vortag1474 die entsprechende Anfrage an die Regierung gestellt hätten.1475 In Vertretung des Reichsministers für die Kirchlichen Angelegenheiten, Hans Kerrl, erwiderte Ministerialrat Joseph Roth dem Domkapitel sofort, dass die vom Reichskonkordat vorge-

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In dieses Schreiben war der deutsche Text, der an die Regierung gehen sollte (nun aber bei Orsenigo einging), zur Information des Nuntius zusätzlich eingefügt. worden. Vgl. Sträter an das Reichskirchenministerium (beabsichtigt eigentlich an Orsenigo) vom 20. Dezember 1937, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 207. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 372. Mit dieser Anfrage vom „Vortag“ meinte der Nuntius wahrscheinlich nicht die schon am 20. des Monats durch das Kapitel erfolgte Notifikation der Wahl beim Reichskirchenministerium, sondern eine nachträgliche Anzeige der Wahl Holtmanns, die das Domkapitel am 22. Dezember an den preußischen Ministerpräsidenten, Hermann Göring, machte. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 372. Streng genommen erfolgte diese letztgenannte Wahlanzeige aus Sicht von Orsenigos Bericht vom 24. Dezember dann aber nicht am Vortag, sondern am vorgestrigen Tag. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 24. Dezember 1937, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 34rv. 375

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schriebene 20tätige Einspruchsfrist1476 angesichts der bevorstehenden Weihnachtsfeiertage mit Sicherheit nicht eingehalten werden könne.1477 Kapitelsvikar Sträter gab diese Ankündigung am 1. Januar des neuen Jahres an den Nuntius weiter, der sie umgehend nach Rom vermittelte.1478 Als Reaktion auf die angekündigte Unterminierung der Vorschrift des Reichskonkordats bereitete man im Staatssekretariat eine Weisung vor, die den Wunsch Piusʼ XI. ausdrückte, dass Orsenigo „die angebrachten Beschwerden bei der Regierung gegen den Brauch vorbringt, der schon fast zur Gewohnheit geworden ist, nicht in den Grenzen der vorgesehenen Zeit zu antworten“1479. Tatsächlich hatte die Regierung seit 1933 regelmäßig die Frist verletzt. Doch wurde dieser Auftrag, – wieder einmal1480 – eine Protestnote aufzusetzen, gar nicht mehr auf den Postweg gebracht, weil unter dem Datum des 8. Januar 1938 ein neuer Bericht Orsenigos in Rom eintraf, der die Situation grundlegend veränderte: Wider Erwarten hatte die Regierung doch rechtzeitig geantwortet.1481 Doch bevor darauf näher eingegangen werden kann, ist zunächst die innerstaatliche Entscheidungsfindung in den Blick zu nehmen.1482 Das Kirchenministerium zog am 23. Dezember 1937 drei weitere Stellen hinzu, um die Frage nach politischen Bedenken gegen den Kevelaerer Pfarrer zu klären: den Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz, Gauleiter Josef Terboven, das Berliner Gestapoamt und Adolf Hitlers Stellvertreter in München, Rudolf Heß.1483 Weil Gauleiter Terboven im Urlaub war, stellte an seiner statt Vizepräsident Karl Eugen Dellenbusch am Silvestertag einen ausführlichen Bericht über Holtmann für das Kirchenministerium zusammen, der auf Informationen fußte, die zum einen von den staatlichen Behörden in Kevelaer stammten, also von vor Ort, und

Vgl. Schlussprotokoll zu Art. 14, Abs. 2, Ziffer 2 des Reichskonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 514. 1477 Roth an das Aachener Domkapitel vom 23. Dezember 1937 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 36r; abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 209. 1478 Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 1. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 35rv. 1479 „… faccia le opportune rimostranze presso codesto Governo contro uso, divenuto quasi abituale, di non rispondere nei limiti di tempo previsti …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Januar 1938 (nicht abgesandte Ausfertigung), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 37rv, hier 37r-v. 1480 Vgl. insbesondere die Kontroverse im Anschluss an den Hildesheimer Besetzungsfall 1934 Bd. 2, Kap. II.1.14 (Debatte über eine Lappalie? Noch einmal die Einspruchsfrist). 1481 Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 8. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 39r–40r. 1482 Vgl. zum Folgenden vor allem Heim, Bischöfe, S. 372–378. 1483 Die drei fast identischen Schreiben sind abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 208f. Der rheinische Oberpräsident sollte anders als die beiden anderen Adressaten auch Auskünfte über den Ausbildungsgang Holtmanns liefern. 1476

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zum anderen von der Gestapoleitstelle in Düsseldorf geliefert wurden.1484 In einem ersten Teil seines Gutachtens skizzierte Dellenbusch knapp die Stationen von Holtmanns Vita, so vor allem dessen theologische Ausbildung in Münster – ob dieser eventuell auch an ausländischen Hochschulen studiert hatte, war für den Vizepräsidenten nicht in Erfahrung zu bringen gewesen – und dessen leitende Funktion an der bedeutenden Wallfahrtsstätte Kevelaer. Nicht unwichtig schien ihm der Hinweis, dass der Genannte vor einigen Jahren zum Ehrendomherrn ernannt worden sei. Ein zweiter Punkt war Dellenbusch die negative Einschätzung wert, dass Holtmann „als ausgeprägter Anhänger des Bischofs Graf Galen in Münster [gilt], und es wird angenommen, daß dieser ihn auch sehr stark persönlich für die Bischofswahl in Aachen empfohlen hat“1485. In einem letzten Abschnitt erklärte der Vizepräsident, dass Holtmann in seiner Duisburger Zeit – zwischen 1912 und 1931 war dieser dort Kaplan, Religionslehrer und Jugendpräses gewesen – politisch nicht auffällig geworden sei. Später in Kevelaer (1935) sei einmal ein Strafverfahren gegen ihn aufgrund staatsfeindlicher Äußerungen anhängig gewesen, das jedoch aufgrund von Amnestieverordnungen nicht durchgeführt worden sei. Darüber hinaus sei der Pfarrer einmal wegen Nichtbeflaggens verwarnt worden. Positiv hätten sich hingegen der Kevelaerer Bürgermeister und der Kreisleiter von Geldern über Holtmanns Einsatz für die Stadt geäußert. Die Genannten hatten bei diesem Urteil die in enger Abstimmung mit der Zivilgemeinde Kevelaer 1933 erfolgten Renovierungen der päpstlichen Basilika und des Pfarrhauses im Blick, welche die hohe lokale Erwerbslosigkeit zwischenzeitlich nennenswert verminderte.1486 Der Kern der Kritik an Holtmann bestand also letztlich in dessen (vermuteter und unter anderem aus dessen Ernennung zum Ehrendomkapitular abgeleiteter) enger Verbundenheit mit Bischof Galen. Gleich lautete das Urteil, dass die Berliner Gestapobehörde über Holtmann fällte: „Der Vorschlag zur Ernennung des Pfarrers Holtmann zum Bischof geschieht zweifellos auf Betreiben des Bischofs Clemens Graf v[on] Galen. Holtmann ist sein engster Freund. Durch ihn ist er Ehrendomkapitular geworden, da die Zugehörigkeit zum Domkapitel Vorausset-

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Vgl. Dellenbusch an das Reichskirchenministerium vom 31. Dezember 1937, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 211f. Kommissar Friedrich aus dem Düsseldorfer Gestapoamt widersprach einer Aussage des Ortspolizeiverwalters von Kevelaer, der Holtmann bescheinigte, politisch solide zu sein, und bemerkte gegenteilig, dass dieser nie eine affirmative oder loyale Auffassung vom Nationalsozialismus vertreten werde. Wenn Holtmann auch nicht politisch hervorgetreten sei, so müsse doch aus dessen enger Beziehung zum Münsteraner Bischof Galen eine distanzierte Haltung des Pfarrers zum NS-Staat gefolgert werden. Auch dessen Predigten bezeichnete Friedrich als häufig hart am Rande des Vertretbaren und urteilte damit dezidiert anders als etwa der Kevelaer Bürgermeister. Schließlich monierte Friedrich, dass sich Holtmann auf einer diesjährigen Seelsorgerkonferenz kritisch zum Nationalsozialismus geäußert habe. Vgl. zum Gutachten Friedrichs ausführlicher Heim, Bischöfe, S. 373–375. Dellenbusch an das Reichskirchenministerium vom 31. Dezember 1937, Kaiser, Klausel, S. 211. Diese positive Wertung hatte der bereits genannte Sachbearbeiter des Düsseldorfer Staatspolizeiamtes Friedrich keineswegs geteilt, da er Holtmann unterstellte, bei dieser Wirtschaftsmaßnahme lediglich die kirchlichen und diözesanen Interessen verfolgt zu haben. Vgl. Heim, Bischöf, S. 375. 377

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zung für die Ernennung zum Bischof ist.1487 Gegen die Wahl des Pfarrers Holtmann zum Bischof der Diözese Aachen bestehen hier schwerste Bedenken.“1488

Anfang Januar 1938 lagen dem Kirchenministerium diese beiden identisch ausfallenden Voten aus Koblenz und Berlin vor. Als Staatssekretär Hermann Muhs am 5. des Monats auf ihrer Grundlage die offizielle Entscheidung der Reichsregierung über die Personalie Holtmann an das Aachener Domkapitel übermittelte, war das eingeforderte dritte Gutachten aus der Münchener Parteikanzlei noch nicht eingetroffen. Wegen der beschränkten Einspruchsfrist hatte sich Muhs entschlossen, auf diese Rückmeldung nicht mehr zu warten. Das ist insofern bedeutsam, als dass diese, die erst am 7. Januar im Ministerium eintraf, über den Pfarrer von Kevelaer anders urteilte, als die bereits vorhandenen Gutachten: „Auf Grund der positiven Angaben, die mir über Pfarrer Holtmann gemacht wurden, habe ich gegen seine Wahl zum Bischof der Diözese Aachen keine besonderen Bedenken zu erheben.“1489 Auf die Entscheidung der Reichskirchenbehörde nahm diese Stimme jedoch keinen Einfluss mehr. Nach dem Skizzierten ist nicht überraschend, dass Muhsʼ Bescheid vom 5.  Januar negativ ausfiel: „Auf das Schreiben vom 20. Dezember v[origen] J[ahre]s teile ich ergebenst mit, dass der Pfarrer Wilhelm Holtmann in Kevelaer wegen seiner Einstellung zum heutigen Staat politisch nicht genehm ist. Seine

Diese Behauptung zeigt einmal mehr die Unkenntnis der NS-Funktionäre in kirchlichen Belangen. Gestapo Berlin an das Reichskirchenministerium vom 31. Dezember 1937, auszugsweise abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 210. Neben der engen Bekanntschaft Holtmanns mit dem Münsteraner Diözesanbischof betrachtete man negativ, dass Holtmann bis zu ihrer Auflösung Mitglied der Zentrumspartei gewesen sei; dass er anlässlich einer Gedenkfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gesagt habe: „Die Toten seien zwar als Helden gefallen, aber sie fielen für eine Phrase, für Mammonismus und Selbstsucht“; dass seine Predigten häufig grenzwertig seien; dass er auf der Pastoralkonferenz im September des Jahres eine Anregung, man möge kirchlicherseits endlich eine positive Haltung zum NS-Staat einnehmen, mit der Bemerkung zurückgewiesen habe, dies „sei nicht katholisch und vor allen Dingen auch nicht priesterlich gedacht“. Ebd., S. 210. Auch das von der Düsseldorfer Staatspolizei bereits genannte Strafverfahren wegen staatsfeindlicher Äußerungen (1935) sowie die Verwarnung wegen Nichtbeflaggung (1937) wurden kritisch festgehalten. 1489 Bormann an das Reichskirchenministerium vom 5. Januar 1938, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 378. Martin Bormann, der Leiter der Parteikanzlei, der das verlangte Gutachten zusammenstellte, konstatierte, dass Holtmann in politischer Hinsicht nicht auffällig geworden sei, dessen Predigten keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben hätten und dessen reiche Spenden für das „Winterhilfswerk des Deutschen Volkes“ Holtmanns Ablehnung, dem Verein der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ beizutreten, aufwiegen würden. „Vorbildlich“ – so paraphrasiert Heim Bormanns Beurteilung – „sei die Beflaggung des Pfarres, der 1933 als erster Pfarrer im Kreis Geldern die Hakenkreuzflagge am Pfarrhaus gehißt habe und sich um ein gutes Verhältnis zur Partei bemühe, allerdings nur aus materiellen Motiven“. Ebd., S. 378. Anders als Sachbearbeiter Friedrich aus Düsseldorf beurteilte Bormann die für den wirtschaftlichen Aufschwung in Kevelaer bedeutenden Renovierungsmaßnahmen Holtmanns positiv. 1487 1488

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Ernennung zum Bischof von Aachen müsste ich als einen unfreundlichen Akt gegenüber der Staatsregierung ansehen.“1490 Domdekan Sträter reichte die Antwort der Regierung umgehend an den Nuntius weiter,1491 der diese daraufhin seinem  – oben schon erwähnten  – Bericht vom 8.  Januar für Pacelli beifügte. Orsenigo stellte fest, dass im Gegensatz zur früheren Ankündigung Roths, die Regierung könne die 20-tägige Frist nicht einhalten, die Replik aus dem Reichskirchenministerium sogar verfrüht eingetroffen sei. Das negative Ergebnis kommentierte der Nuntius nicht. Er vermerkte nur, dass Sträter ihm versichert habe, das Domkapitel werde entsprechend den erhaltenen Anweisungen keine Schritte unternehmen, bis es neue Instruktionen aus Rom erhalten habe. In früheren Fällen, in denen eine auf den Bischofsstuhl gewählte Person aus irgendeinem Grund das Amt nicht antreten konnte oder wollte, erhielt das Domkapitel den Auftrag, erneut zu wählen und zwar aus den zwei verbliebenen Namen der Terna.1492 Vielleicht in Hinblick auf ein analoges Verfahren im gegenwärtigen Fall kam Orsenigo auf einen „Umstand“ zu sprechen, den er „mit voller Gewissheit“1493 über Regens Francken erfahren habe. Es hätten nämlich vor etwa drei Jahren die Geistlichen des Münsteraner Seminars während einer Pause „unter lautem Beifall“ Hitlers Porträt verbrannt, Francken jedoch keinerlei „strafende oder ermahnende Maßnahmen gegen die Schuldigen“1494 verhängt. Diese „Nachsicht“ des Regens kreidete der Nuntius nicht an, vielmehr machte er sich Sorgen, dass dieses Ereignis publik werden könnte: „Jetzt fürchte ich, dass einige Seminaristen, wie es in diesem Land  – kann man sagen  – Brauch ist, besonders weil auf die Strafe verzichtet wurde, eines Tages aus niederer Rache diese Aktion anzeigen 1490

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Muhs an das Aachener Domkapitel vom 5. Januar 1938 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 41r; abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 212. Eine Abschrift des Bescheids ließ Muhs auch dem preußischen Ministerpräsidenten zukommen, mit dem eine vorherige Kontaktaufnahme gescheitert war und der sich nachträglich beim Kirchenministerium beschwerte, übergangen worden zu sein. Vgl. ebd., S. 213 und Heim, Bischöfe, S. 377, 382f. Vgl. auch die Eingangsbestätigung Sträters an das Reichskirchenministerium vom 6. Januar 1938, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 213. Vgl. etwa die Praxis in Münster 1933 Bd. 2, Kap. II.1.12 (Die Bischofswahl des Domkapitels, Teil eins: Heinrich Heufers). Vgl.: „… una circostanza, che ho appreso con ogni sicurezza a proposito della persona, che figura al primo posto nella terna presentata.“ Orsenigo an Pacelli vom 8. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 39v. Aus Diskretionsgründen nannte der Nuntius den Namen Franckens nicht und vermied auch persönliche Angaben, aus denen eindeutig auf den Münsteraner Regens zu schließen war. Vgl.: „… che circa tre anni or sono nel Seminario, di cui detto ecclesiastico è rettore, i chierici un giorno durante la ricreazione fra una gazzarra di approvazioni abbruciarono il ritratto di Hitler e che il rettore poi non prese alcuna misura punitiva nè ammonitiva verso il colpevole.“ Orsenigo an Pacelli vom 8. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 39v. 379

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könnten.“1495 Ob gar das Aachener Domkapitel von diesem Ereignis wisse, könne er nicht sagen. Von wem er – zufällig, wie er beifügte – von diesem „Umstand“ erfahren hatte, verriet Orsenigo nicht. Da sich der Nuntius zu dieser Angelegenheit nicht weiter äußerte, bleibt nichts anderes übrig, als zu vermuten, dass er Pacelli auf die Inopportunität einer Wahl Franckens aufmerksam machen wollte. Die Gedanken Orsenigos lassen sich leicht weiterführen: Sollte das skizzierte Ereignis anlässlich der Wahl Franckens bekannt werden, wäre ein erneuter Einspruch der Regierung wohl vorprogrammiert. Sollte diese Porträtverbrennung jedoch erst nach der Inthronisation in die Öffentlichkeit gelangen, wäre gewiss ein verschärfter Kampf des Regimes gegen den Neubischof im Besonderen und die Kirche im Allgemeinen die Folge. Jedenfalls schien dem Nuntius Francken ebenso „unwählbar“ zu sein wie der Zweitplatzierte Algermissen, dessen Beanstandung durch die staatliche Seite als genauso gewiss eingestuft werden musste, insbesondere nachdem schon Holtmann kein Plazet erhalten hatte. Eine zweite Wahl aus den verbliebenen beiden Kandidaten war nach Orsenigos Ansicht demnach sinnlos.

Staatliche Intransigenz und der Nullpunkt des Verfahrens Wie sollte das Besetzungsverfahren nun weitergeführt werden? Etwa mit einer neuen Dreierliste? Wie Pacelli auf Orsenigos Berichterstattung am 14. Januar erwiderte, habe der Papst die Ablehnung Holtmanns „schmerzhaft überrascht“1496 zur Kenntnis genommen. Nun ging es den beiden Kirchenfürsten zunächst einmal darum, die genauen allgemeinpolitischen Bedenken zu erfahren, die zur staatlichen Entscheidung geführt hatten. Dass es für Orsenigo keine leichte Aufgabe war, das Auswärtige Amt zur Preisgabe der Argumente zu bewegen, hatte der Besetzungsfall in Fulda gezeigt. Damals war die Regierung nicht zur Kundgabe der Ablehnungsgründe gegen Wendelin Rauch bereit gewesen und hatte den festen Standpunkt vertreten, dazu auch vom Reichskonkordat her nicht verpflichtet zu sein.1497 Dennoch wünschte Pacelli jetzt einen neuen Versuch, der ihm vielleicht auch deshalb erfolgversprechend schien, weil der Heilige Stuhl wenige Tage zuvor – am 8. Januar – Franz Justus Rarkowski zum Armeebischof ernannt und damit dem offensiv vor-

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„Ora io temo che, come è uso – si può dire – in questo paese, qualche seminarista, specie se dimesso per punizione, possa qualche giorno per bassa vendetta denunciare un simile atto.“ Orsenigo an Pacelli vom 8. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 39v. „… dolorosamente sorpreso …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Januar 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 42r. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.16 (Ein „gehässiger Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ – Die Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung). 380

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getragenen Wunsch der Reichsregierung Rechnung getragen hatte.1498 Vielleicht erwartete er auf dieses Entgegenkommen jetzt eine Revanche des Staates. Jedenfalls schrieb Orsenigo am 19. des Monats weisungsgemäß eine Note an Außenminister Konstantin von Neurath, in der er erklärte, von Rom den Auftrag erhalten zu haben, die Gründe der Ablehnung Holtmanns zu erfragen.1499 Bei der persönlichen Übergabe des Schriftstücks tags darauf habe Neurath  – wie Orsenigo an Pacelli schrieb  – keinerlei Schwierigkeiten gemacht, sondern nur daran erinnert, dass es bereits ähnliche Fälle gegeben habe.1500 Er habe zudem versprochen, die gewünschten Informationen in Erfahrung zu bringen und mitzuteilen. Aus diesem Versprechen schloss Orsenigo, dass Neurath den bereits angedeuteten Notenwechsel von 1936/37 vergessen habe, in dem die Regierung die Verpflichtung zur Nennung der politischen Bedenken vehement von sich gewiesen hatte. Doch die etwaigen mit der Note an Neurath verbundenen Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen: Zwar kam Legationsrat Richard Haidlen im Kirchenministerium, dem Orsenigos Schriftstück aus dem Auswärtigen Amt zugegangen war, zunächst zu dem Schluss, dass „der Sinn der staatlichen Verpflichtung, auftretende Bedenken innerhalb kürzester Frist vorzubringen, nur der sein [kann], dem Heiligen Stuhl Gelegenheit zur Nachprüfung und Aufklärung der staatlicherseits vorgebrachten Tatsachen zu geben“1501. Daher müssten dem Heiligen Stuhl diese Tatsachen mitgeteilt werden. Doch nach Intervention Ministerialrats Roth revidierte Haidlen seine Auffassung und notierte sich, dass „im Gegensatz zu seiner wenige Tage zuvor geäußerten Ansicht, die Bitte des Nuntius um Bekanntgabe der Gründe abzulehnen sei“1502. Der Nuntius rief seinerseits am 3. Februar bei Staatssekretär Hans Georg von Mackensen im Auswärtigen Amt an und erbat für den nächsten Tag ein Treffen mit dem Außenminister.1503 Ein Gespräch mit Neurath fand jedoch nicht mehr statt, da dieser am 4. Februar von Hitler aus seinem Amt entfernt und durch den NSDAP-Politiker Joachim von Ribbentrop ersetzt wurde. Daher sprach Orsenigo an jenem Tag nur bei Mackensen vor, um – wie dieser sich anschließend notierte – „in sehr höflicher aber eindringlicher Form in der Angelegenheit der Besetzung des Bistums Aachen Antwort auf die Frage zu erbitten, die er unter Überreichung einer entsprechenden Notiz am 20. v[origen] M[onats] an den Herrn Reichsminister hinsichtlich der Gründe dieser Ableh1498 1499

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Vgl. dazu Bd. 2, Kap. II.1.16 Anm. 1316. Vgl. Orsenigo an Neurath vom 19. Januar 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 275 (Nr. 295); Kaiser, Klausel, S. 215. Vgl. zum Folgenden auch Heim, Bischöfe, S. 379–385. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 20. Januar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 43r–44r. Aufzeichnung Haidlens vom 26. Januar 1938, zitiert nach Heim, Bischöfe, S. 379. Heim, Bischöfe, S. 379. Vgl. Aufzeichnung Mackensens vom 3. Februar 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 277 (Nr. 297). 381

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nung gerichtet habe“1504. Der Nuntius habe darauf hingewiesen, dass seit dieser Eingabe mittlerweile zwei Wochen verflossen seien und er täglich aus Rom mit einer neuen Anweisung rechnen müsse, die Sache voranzubringen: „Der Papst persönlich interessiere sich für die Angelegenheit und fühle sich berechtigt, die Offenlegung der Gründe ‚in kürzester Zeit‘ (der Nuntius hatte damit offenbar den Wortlaut der entsprechenden Konkordatsbestimmung im Sinne) zu erwarten. Der Papst stehe auf dem Standpunkt, daß eine Ablehnung ohne Grundangabe dem Konkordat [sc. mit dem Reich, R.H.] widerspreche, in dem ausdrücklich festgestellt sei, daß die dort vorgesehene Einschaltung der staatlichen Instanz nicht ein Vetorecht bedeute.“1505

Das „persönliche“ Interesse Piusʼ XI. hatte Orsenigo offensichtlich aus der „schmerzlichen Überraschung“ abgeleitet, mit der Pacelli die Reaktion des Papstes auf die Antwort der Regierung beschrieben hatte. Im Anschluss an den Verweis auf den Papst, habe der Nuntius – so Mackensens Aufzeichnung – die dringende Bitte geäußert, ihm nach Möglichkeit vor einer neuen Order aus der Kurie die konkreten Ablehnungsgründe bekannt zu geben.1506 Der Staatsbeamte habe erwidert, die Anfrage an das Kirchenministerium weitergeleitet, aber von dort noch keine Entgegnung erhalten zu haben. Auch in den nächsten Tagen sei keine Antwort zu erwarten. Ohne Antwort blieb laut Notiz Mackensens der abschließende und nicht von der Hand zu weisende Kommentar des Nuntius, dass er die Verzögerung nicht nachvollziehen könne, da das Reichskirchenministerium „ein klares Bild über die wirklichen Gründe haben müsse“1507, wenn es Holtmann schon vor mehreren Wochen ablehnen konnte. Nachdem Orsenigo am 10. Februar telefonisch ein weiteres Mal erfolglos um eine Bekanntgabe der Ablehnungsgründe gebeten hatte,1508 unterrichtete ihn Mackensen am 12. des Monats auf Basis der mittlerweile aus dem Kirchenministerium eingetroffenen Mitteilung, dass die Reichsregierung nach wie vor denselben Standpunkt einnehme, den sie mit Schreiben vom 31. Januar 1937 vertre-

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Aufzeichnung Mackensens vom 4. Februar 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 278f. (Nr. 298), hier 278. Aufzeichnung Mackensens vom 4. Februar 1938, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 278. Wie schon 1936 in Fulda hatte Orsenigo offenbar versucht, einen Vergleichsfall anzuführen, demgemäß die Regierung ihrerseits den Einspruch eines Diözesanbischofs gegen eine staatliche Maßnahme mit der Begründung zurückgewiesen hatte, weil der Einspruch ohne Angabe von Gründen erfolgt war. Auf Nachfrage Mackensens habe der Nuntius jedoch diesen Fall nicht spezifizieren wollen, um den entsprechenden Diözesanbischof nicht zu kompromittieren. Wohl schon allein deshalb war dieser Versuch, den eigenen Standpunkt zu untermauern, erfolglos. Aufzeichnung Mackensens vom 4. Februar 1938, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 279. Vgl. Aufzeichnung Mackensens vom 10. Februar 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 279 (Nr. 299). 382

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ten habe.1509 Damit hatte man auf Regierungsseite diesen Notenwechsel, der aus dem Fuldaer Fall erwachsen war, entgegen der Hoffnung Orsenigos doch nicht „vergessen“. Folglich scheiterte der Nuntius wie damals in dem Bestreben, der Regierung eine Konkretisierung der Bedenken gegen den von kirchlicher Seite ins Auge gefassten Kandidaten zu entlocken. Das Besetzungsverfahren war nun in eine Sackgasse geraten und stand praktisch wieder am Anfang. Dabei waren seit dem Tod Bischof Vogts schon über vier Monate vergangen. Auch in Aachen wurde man langsam ungeduldig. Die Domherren wussten nicht, wie und ob der Heilige Stuhl nach der Absage durch die Regierung tätig geworden war. Zwar gab sich Kapitelsvikar Sträter in einem Schreiben an den Nuntius vom 9. Februar verständnisvoll: „Ich weiß wohl, wie unendlich wichtig die Aachener Bischofsfrage ist, und ich würde es nicht verantworten können, zu einer Übereilung zu drängen.“1510 Aber er gab Orsenigo deutlich zu verstehen, dass er den Bischof – wie bereits im vergangenen Jahr – bei den zahlreichen Firmreisen und sonstigen Verpflichtungen im ganzen Bistum unmöglich vertreten und gleichzeitig die umfangreiche Verwaltungsarbeit leisten könne. Auch der Ad-limina-Besuch mit dem dazugehörigen Bericht über die Lage der Diözese müsse dieses Jahr noch erledigt werden.1511 Eine baldige Erledigung der Sedisvakanz war dem 73-jährigen daher ein dringendes Anliegen.

Die römische Lösung: neuer Modus und neuer Kandidat Die Mitteilung Mackensens vom 12. und das Bittschreiben Sträters vom 9. übermittelte Orsenigo am 18. Februar an Pacelli.1512 Lösungsvorschläge für das weitere Vorgehen machte der Nuntius nicht. Stattdessen rechtfertigte er sich gegenüber seinem Vorgesetzten mit dem Hinweis, zweimal gegenüber Staatssekretär Mackensen erfolglos insistiert zu haben. Nun lag es an Pacelli, einen Ausweg zu finden und dafür ließ er sich Zeit. Erst volle vier Wochen später hatte er sich zusammen mit Pius XI. eine Lösung überlegt, die er dem Nuntius am 18. März vorlegte:

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Vgl. Mackensen an Orsenigo vom 12. Februar 1938 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937– 1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 47r; abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S.  280 (Nr. 300); Kaiser, Klausel, S. 216f. Das von Ministerialrat Roth unterzeichnete Schreiben aus dem Kirchenministerium an das Auswärtige Amt vom 9. Februar 1938 ist abgedruckt ebd., S. 216. Sträter an Orsenigo vom 9. Februar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 48r. Wie Orsenigo kurz darauf an Pacelli schrieb, habe er Sträter angewiesen, die Relation für die Ad-limina-Reise nach Rom zumindest vorzubereiten. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 18. Februar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 45r–46r, hier 45v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 18. Februar 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 45r–46r. 383

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„Da er eine solche Anmaßung weder zulassen noch tolerieren kann, dass in einer so gewichtigen Angelegenheit ein Präzedenzfall geschaffen wird, hat sich der Heilige Vater entschlossen, sich der Bestimmung des Artikels 9 Absatz 3 letzter Satz des Preußenkonkordats zu bedienen, demzufolge für die Ernennung eines vorläufigen Administrators einer Diözese eine Mitteilung sofort nach der Ernennung ausreicht.“1513

Papst und Staatssekretär hatten auf weitere Diskussionen mit der deutschen NS-Regierung keine Lust mehr, sie betrachteten deren Interpretation des Reichskonkordats, die Ablehnungsgründe zu verschweigen, für sachlich haltlos und sogar als „Anmaßung“. Die Angst vor einem Präzedenzfall war nicht unbegründet, hatte die Regierung doch schon 1936 in Fulda den Kandidaten der Kurie auf diese Weise zurückgewiesen. Damals war also schon der missliebige Präzedenzfall geschaffen worden, auf den die römische Kirchenleitung mit einem Kandidatenwechsel – also sehr defensiv – reagiert hatte. So leicht wollten sich Pius XI. und Pacelli jetzt nicht wieder ergeben und griffen daher auf den rechtlichen Kniff zurück, einen provisorischen Bistumsverwalter einzusetzen. Für einen solchen Fall bestimmte die von Pacelli herangezogene Stelle des preußischen Staatskirchenvertrags: „Eine entsprechende Anzeige [sc. an die Staatsbehörde, R.H.] wird alsbald nach der Bestellung eines Bistums- (Prälatur-,) Verwesers, eines Weihbischofs und eines Generalvikars gemacht werden.“1514 Ein politisches Bedenkenrecht stand dem Staat für einen Administrator also nicht zu, nur eine nachträgliche Notifikation der Ernennung. Ein weiterer Widerspruch der Regierung war mit diesem Modus rechtlich ausgeschlossen. Pacelli erklärte dem Nuntius weiter, dass der Papst dem Administrator alle Vollmachten erteilen werde, die einem Diözesanbischof zustanden, um die ordentliche Leitung des Bistums zu gewährleisten. Damit stellte sich lediglich noch die Personalfrage: Wer sollte das Amt übernehmen? „Seine Heiligkeit hält es für angemessen zu diesem Amt, im Interesse größerer Einfachheit, einen Geistlichen zu bestimmen, der schon mit der Bischofsweihe ausgezeichnet ist, und seine Wahl fiel auf den Ehrwürdigen Monsignore Heinrich Roleff, Titularbischof von Elea, Weihbischof des

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„Non potendo ammettere tale pretesa nè tollerare che si costituisca un precedente in materia così grave, il S. Padre è venuto nella determinazione di valersi della disposizione dellʼarticolo 9 capoverso 3 periodo ultimo del Concordato colla Prussia, in virtù del quale per la nomina di un Amministratore provvisorio di una diocesi è sufficiente una notificazione subito dopo la nomina medesima.“ Pacelli an Orsenigo vom 18. März 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 49rv, hier 49r. Hervorhebung im Original. Die Koadjutorlösung entstand in Rom also nicht erst in der zweiten Aprilhälfte, wie Bernd Heim annimmt. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 401. Art. 9, Abs. 3, Satz 2 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 326. Hervorhebung R.H. 384

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Bischofs von Münster.“1515 Die Administratoreinsetzung sollte offensichtlich auf Regierungsseite nicht den Eindruck einer verkappten Bischofseinsetzung erwecken und darum eine Bischofsweihe unbedingt vermieden werden. Diese Prämisse schränkte den potentiellen Kandidatenkreis praktisch von selbst auf die Gruppe der Weihbischöfe ein. Orsenigo erhielt von Pacelli den Auftrag, Roleffs Zustimmung einzuholen. Anschließend könne zur Publikation der Ernennung und zur Mitteilung an die Regierung geschritten werden. Für den Fall, dass Roleff „sich aus ernsten Beweggründen nicht im Stande sehe, zu akzeptieren“1516, hielt die Weisung schon einen Ersatzkandidaten bereit: den Paderborner Weihbischof Augustin Baumann. Der Nuntius verlor keine Zeit und lud den Münsteraner Weihbischof sofort in die Berliner Nuntiatur vor. Doch am 26. März berichtete er Pacelli, dass sich Roleff noch nicht bei ihm vorgestellt hatte.1517 Den Grund dafür habe er beiläufig erfahren: Roleff sei derzeit auf einer Firmreise. Orsenigo musste also warten, bis dieser nach Münster zurückkehren und das Nuntiaturschreiben erhalten würde. Am nächsten Mittwoch, dem 29. März, war es schließlich so weit: Roleff erschien zur Audienz und hörte vom Nuntius, dass es der Wunsch des Papstes war, ihn zum Apostolischen Administrator des vakanten Bistums Aachen zu ernennen. So schilderte es Orsenigo zwei Tage später seinem römischen Vorgesetzten.1518 Zur näheren Erklärung habe er lediglich hinzugefügt, „dass für eine normale Besetzung des Aachener Bischofsstuhls allerlei Schwierigkeiten entstanden waren, die der Heilige Vater für den Moment mit dieser Methode zu beheben wünscht“1519. Roleff – 59 Jahre alt – zeigte sich nach Einschätzung Orsenigos als ziemlich gut bei Kräften. Nachdem sie Einzelheiten über dessen künftige Beschäftigung durchgesprochen hätten, „erklärte er sich bereit, zu gehorchen und war entschlossen, alles ihm Mögliche zu unternehmen, um auch diesen Vorfall im Kampf, den die Kirche in seinem Land zum Schutz der heiligen Rechte ausfechten muss, zu

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„A tale ufficio Sua Santità ha ritenuto opportuno, per maggiore facilità, di destinare un ecclesiastico già insignito del carattere vescovile, e la sua scelta è caduto sul Revmo Mons. Enrico Roleff, Vescovo Titolare di Elea, Ausiliare del Vescovo di Münster.“ Pacelli an Orsenigo vom 18. März 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 49r-v. „… per seri motivi non fosse in grado di accettare …“ Pacelli an Orsenigo vom 18. März 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 49v. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 26. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 50rv. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 31. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 53r–54v. „… che per una provvista normale della sede di Aquisgrana erano sorte difficoltà, a cui il Santo Padre desidera rimediare per il momento con questo metodo.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 53v. 385

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einem siegreichen Ende zu führen“1520. Roleff halte es für sinnvoll, in Münster wohnen zu bleiben, zumal die Entfernung bis nach Aachen nicht mehr als 200 Kilometer betrage und die Regierung es wohl beanstanden würde, wenn er in das leer stehende Bischofspalais zöge. Darüber hinaus habe Roleff auf die Verpflichtung eines Weihbischofs verwiesen, in der Stadt seines Ordinarius zu residieren.1521 So könne er mit den entsprechenden Einschränkungen am Chorgebet teilnehmen und Bischof Galen zu Diensten sein. Dadurch sei ihm auch sein Gehalt als Weihbischof, das ihm der Staat zahle, gewährleistet. Für das Prozedere der Publikation überlegte der Nuntius, sofort nach dem Eintreffen des päpstlichen Ernennungsschreibens alle Beteiligten zu informieren: Schulte als Metropolit, natürlich Bischof Galen, die Regierung1522 und das Aachener Domkapitel, welches das Nominationsdekret umgehend im Amtsblatt der Diözese veröffentlichen könne. Darüber, wie die Domherren den neuen Gang der Ereignisse aufnehmen würden, machte sich Orsenigo Sorgen. Deshalb fragte er Pacelli, ob es nicht sinnvoll sei, „auch mitzuteilen, welche Hindernisse entstanden sind, um zu verhindern, dass man unwirkliche Mängel bei dem vom Kapitel gewählten Kandidaten unterstellt, während wir allein einen staatlichen Übergriff in die elementare Freiheit des Verfahrens vor uns haben“1523. Eine Beschädigung der fama Holtmanns wollte Orsenigo ebenso verhindern wie den Vorwurf, der Heilige Stuhl ignoriere die Wahl des Domkapitels. Die Überlegungen des Nuntius schienen also schon ausgereift und der Fall beinahe erledigt.

„… si dichiarò pronto a ubbidire e deciso di fare tutto il suo possibile per avviare ad una soluzione vittoriosa anche questo incidente della lotta, che la Chiesa deve sostenere nel suo paese a tutela di sacri diritti.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 53v. 1521 Vgl. Art.  2, Abs.  10, Satz 3 des Preußenkonkordats, Huber/​Huber (Hg.), Staat und Kirche IV, S. 324. 1522 Orsenigo präsentierte Pacelli bereits den Entwurf der Notifikationsnote: „La Santa Sede, attese le difficoltà frapposte, con la Nota N. Pol. III. 382, in data 12 febbraio dellʼanno corrente, da questo Governo ad uno sviluppo normale della procedura per la nomina di un nuovo Vescovo per la Diocesi di Aquisgrana, è venuta nella determinazione di provvedere per ora (vorläufig) con la nomina di un Amministratore Apostolico nella persona di Sua Eccellenza Monsignor Enrico Roleff, Vescovo Ausiliare di Münster. Tanto si comunica a Vostra Eccellenza in conformità allʼArticolo 9, n. 3 del Concordato Prussiano.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 54r-v. Besonderen Wert legte der Nuntius also darauf, den provisorischen Charakter der Administratoreinsetzung zu betonen, um einen eventuellen Verdacht der Regierung zu zerstreuen, der Heilige Stuhl nehme eine verkappte Bischofseinsetzung vor. 1523 „… far conoscere anche quali ostacoli sono sorti, onde impedire che si vada sospettando fantastiche mancanze del candidato scelto dal Capitolo, mentre siamo solo dinanzi a un sopruso governativo di una elementare libertà di procedura.“ Orsenigo an Pacelli vom 31. März 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 54v. 1520

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Pacellis geheimer Auftrag für Bischof Galen und dessen Lösung der Aachener Frage Der Kardinalstaatssekretär war jedoch mit den Absprachen, die der Nuntius mit Roleff getroffen hatte, nicht zufrieden. Zudem schien Pacelli nicht zu glauben, dass Orsenigo in der Lage war, die Problematik der Sachlage korrekt einzuschätzen, denn er wählte nun einen anderen Weg, um die Aachener Sedisvakanz endlich einer glücklich Lösung zuzuführen. Pacelli nutzte den Umstand, dass Bischof Galen zu Beginn der Karwoche nach Rom gereist war und lud ihn für Palmsonntag, den 10. April, zur Audienz vor.1524 Da die Akten keine Gesprächsnotizen enthalten, kann zunächst einmal nur gesagt werden, dass Pacelli dem Münsteraner Oberhirten den Auftrag erteilte, diverse Unterredungen mit den am Aachener Fall beteiligten Personen vorzunehmen.1525 Was das konkret bedeutete, geht aus dem umfangreichen Ergebnisbericht hervor, den Galen am 20. April nach Rom übermittelte.1526 Demgemäß hatte Galen eine ausgiebige Besprechung mit seinem Weihbischof geführt, der übrigens sehr erleichtert gewesen sei, über seinen Besuch in der Nuntiatur reden zu können, den er ja bislang als sub secreto für sich behalten musste. Wie schon gegenüber Orsenigo habe Roleff seine unbedingte Bereitschaft erklärt, die ihm zugedachte Aufgabe als Administrator von Aachen zu erfüllen, „ohne freilich zu verkennen, dass voraussichtlich die Übernahme dieses Amtes mehr Schwierigkeiten und Bedrängnisse bringen würde, als ihm die Möglichkeit, als Oberhirt der Diözese Aachen wirksam die Ehre Gottes und das Heil der Seelen fördern zu können“1527. Bereits der Nuntius habe dem Weihbischof unverblümt prophezeit, dass die Regierungsbehörden, beispielsweise in der Person des rheinischen Oberpräsidenten Terboven – „ein Apostat“ –, im Widerspruch zu dem im Preußenkonkordat vereinbarten freien kirchlichen Ernennungsrecht „voraussichtlich der Amtsführung des bisherigen Weihbischofs von Münster als Apost[olischen] Administrator des Bistums Aachen den stärksten Widerstand entgegensetzen, ja vielleicht es ablehnen werden, ihn als solchen anzuerkennen und mit ihm dienstlich zu verkehren“1528. Galen rekapitulierte, dass aus diesen Überlegungen heraus die Vorschläge erwachsen waren, die Orsenigo in seinem Bericht vom 31. März unterbreitet hatte. Der Graf kannte diesen Bericht, weil

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Laut seinem Terminkalender war der Münsteraner Bischof vom 1. bis zum 11. April 1938 in Rom. Während darin für den 8. des Monats eine Audienz beim Papst notiert ist, fehlt ein Eintrag über die genannte Audienz bei Pacelli. Vgl. Löffler (Bearb.), Bischof I, S. LXXXIX. So lautete eine auf den 11. April datierende handschriftliche Notiz auf Orsenigos Bericht von Ende März, dass Galen „qualche cose“ (Fol. 53r) erledigen werde, wenn er nach Münster zurückgekehrt sei. Vgl. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 60r–66r (nur r). Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 60r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 61r. 387

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Pacelli mit ihm in der Audienz am Palmsonntag darüber gesprochen hatte. Diese praktischen Regelungen, nämlich dass Roleff sein jetziges Amt behalten und auch in Münster wohnen bleiben sollte, unterzog Galen eingehender Kritik. Zwar habe Roleff den Überlegungen Orsenigo gegenüber seine Zustimmung gegeben – der Nuntius hatte es in seiner Berichterstattung so dargestellt, dass sie von Roleff und nicht etwa von ihm selbst stammten –, doch sei er „mit mir der bestimmten Meinung, dass mit einer solchen Regelung den Bedürfnissen des Bistums Aachen nur wenig gedient sein würde“1529. Es würde wohl nur der Auftakt zu einer kaum zu lösenden offenen Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem Aachener Ordinarius sein, der die Seelsorge aufs Schwerste behindern könnte. Konkret führte Galen die vom Administrator – und das hieß in den Augen der Regierung ja letztlich vom Münsteraner Weihbischof – vorgenommenen Besetzungen der Pfarrstellen an, welche die staatliche Seite rechtlich nicht anerkennen und damit auch nicht vergüten würde. Mit Erlaubnis Pacellis konferierte Galen am 19. April darüber hinaus mit dem Aachener Domdekan und Kapitularvikar, Weihbischof Sträter. Dieser sei – so Galen weiter in seinem Bericht für den Kardinalstaatssekretär – „voll von Dankbarkeit gegen den Heiligen Stuhl und freudig bewegt“, dass der Papst „den von ihm hochgeschätzten Weihbischof Roleff als Oberhirten der Diözese Aachen in Aussicht genommen habe“1530. Sehr gerne wolle Sträter die Bistumsleitung in jüngere Hände legen und Roleff sei dafür seiner Ansicht nach gut geeignet und in Aachen willkommen. Im weiteren Verlauf der Unterredung, zu der schließlich auch Roleff hinzugekommen sei, habe Sträter jedoch betont, dass eine erfolgreiche Lenkung des Bistums durch einen Administrator und der notwendige Einfluss auf Klerus und Kirchenvolk nur dann gegeben sei, wenn dieser vor Ort residiere und dauerhaft persönlich die Amtsgeschäfte abwickle. Eine Administratur von Münster aus, „wie es der Apostol[ische] Nuntius vorgeschlagen hat“1531, werde bei Geistlichen und Diözesanen kein Vertrauen schaffen, das gerade in der gegenwärtigen Situation so dringend gebraucht werde. Daher sei es das innigste Anliegen des Kapitelsvikars, dass Roleff von allen amtlichen Verpflichtungen in Münster entbunden und vollständig nach Aachen übersiedeln möge. Galen, Roleff und Sträter waren sich einig, dass ein ohne Zustimmung der Regierung von außen nach Aachen kommender Administrator „eine erbitterte Ablehnung der Regierung“1532 und eine heftige Gegenreaktion hervorrufen würde. Aber – so ließe sich an dieser Stelle fragen – wäre mit 1529

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Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 61r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 62r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 62r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 63r. 388

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dieser Überlegung eine Berufung Roleffs nicht grundsätzlich ausgeschlossen? Immerhin käme er von außerhalb nach Aachen, ganz gleich ob er in Münster wohnen blieb oder nach Aachen umzog. Daher war die Lösung, die sich innerhalb dieses Dreiergesprächs herauskristallisierte, in gewisser Weise folgerichtig: „Aus dieser ernsten Erwägung heraus meinte Exzellenz Sträter schließlich, unter wiederholter Betonung, dass er jede Entscheidung des Heiligen Stuhles dankbar annehmen und ihre Durchführung nach Kräften fördern werde, dass es vielleicht zur Zeit am besten sei, wenn der bestehende Zustand zunächst noch ertragen und weitergeführt werde. Er sei bereit, ‚ad majora mala vitandaʻ die Pflichten und Aufgaben des Kapitularvikars und Weihbischofs weiter zu führen, solange seine Kräfte dazu ausreichen, und der Heilige Stuhl nicht eine andere Lösung der schwebenden Frage anordne.“1533

Auf dieser Basis machte Galen dem Kardinalstaatssekretär einen Vorschlag, der Standfestigkeit mit Vorsicht kombinierte: Da es angesichts der Weigerung der Regierung, die Gründe für die Ablehnung Holtmanns anzugeben, nicht möglich sei, den vakanten Bischofsstuhl ordentlich wieder zu besetzen, sei es der Rechtslage und den situativen Erfordernissen entsprechend, den derzeitigen Zwischenzustand aufzuheben und einen Administrator einzusetzen. Ein solcher Schritt „würde zugleich vor der Reichsregierung und vor der Öffentlichkeit unzweideutig bekunden, dass der Heilige Stuhl im Interesse der Freiheit der Kirche und der Sorge für das Heil der Seelen unbeugsam entschlossen ist, der von der Reichsregierung versuchten Einführung einer Exklusive ohne Angabe nachweisbarer Ablehnungsgründe gegen ordnungsmäßig erwählte Bischofskandidaten nicht stattzugeben, und in derartigen Fällen durch Einsetzung eines Bistumsverwesers für das Heil der Seelen zu sorgen“1534.

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Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 63r. Um möglichst reibungslos die Diözese regieren zu können, kümmerte sich Sträter seit Februar darum, vom Heiligen Stuhl die nötigen Weihevollmachten beziehungsweise die Erlaubnis zu erhalten, Weiheentlassschreiben auszustellen. Schon im Februar hatte der Kapitelsvikar von der Sakramentenkongregation die Befugnis erhalten, Dimissorien für jene zu erteilen, die bereits höhere Weihen empfangen hatten, sowie das Recht, Bewerber zu Subdiakonen zu weihen. Dem Berliner Geheimen Staatspolizeiamt blieb diese Übertragung von Vollmachten nicht verborgen. Vgl. Gestapoamt Berlin an Kerrl vom 26. Februar 1938, abgedruckt bei Kaiser, Klausel, S. 217. Dort interpretierte man sie jedoch – als Recht zur Spendung der Priesterweihe missverstanden – fälschlich als Indiz dafür, dass mit einer baldigen Wiederbesetzung des vakanten Bischofsthrons nicht zu rechnen sei. Da für Sträter die römischen Konzessionen nicht durchsichtig waren, bat er im April den Kardinalstaatssekretär selbst, ihm Klarheit zu verschaffen über seine Befugnisse, zu weihen und Dimissorien auszustellen. Vgl. Sträter an Pacelli vom 11. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 56r–57r (nur r) und Pacelli an Sträter ohne Datum (Entwurf), ebd., Fol. 59r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 64r. 389

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Um jedoch den absehbaren Konflikt mit der Regierung, den sie konsequent, dauerhaft und effektiv führen würde, möglichst zu vermeiden, sollte Sträter selbst zum Apostolischen Administrator ernannt werden. Ihm die Anerkennung zu verweigern, dem Dompropst, bisherigen Generalvikar und momentanen Kapitularvikar, sei für die Regierung schwerlich möglich. Vielmehr würde sie es „voraussichtlich hinnehmen müssen“1535, wenn Sträter als Administrator die Diözese weiterhin regiere. Galen war sich bewusst, dass der Genannte schon 73 Jahre alt war, hielt ihn aber in physischer wie geistiger Hinsicht für diese Aufgabe absolut gerüstet. Außerdem könne er einen tüchtigen Generalvikar ernennen, während Roleff, der dem skizzierten Plan beipflichte, zugesagt habe, Sträter bei Pontifikalhandlungen und insbesondere Firmungsreisen zu unterstützen. Der Münsteraner Oberhirte hoffte, dass Sträter noch mehrere Jahre in der Lage sein würde, das Bistum zu lenken. Wenn jedoch vor der ordentlichen Wiederbesetzung Gegenteiliges eintreten sollte, „so würde die Regierung der Bestellung eines Nachfolgers des ersten Administrators, also z[um] B[eispiel] der Ernennung des Weihbischofs Roleff zum zweiten Administrator des durch ihre Schuld immer noch verwaisten Bistums Aachen nicht mehr jenen Widerstand entgegensetzen können, der jetzt bei der ersten Bestellung eines Administrators fast sicher zu erwarten ist, falls dieser bisher der Aachener Diözesanverwaltung nicht angehört hat“1536.

Galen vermutete, dass die Reichsregierung gegebenenfalls sogar lieber eine konkordatsmäßige Besetzung des Bistums zuließ, als ein weiteres Mal ohne Einfluss auf die Einsetzung eines Administra­ tors zu bleiben. Alles in allem glaubte der Graf, eine gut durchdachte Lösung der schwelenden Aachener Frage ersonnen zu haben und hoffte, mit ihr dem Auftrag Pacellis gerecht geworden zu sein.

Die Einsetzung Sträters zum Apostolischen Administrator des Bistums Aachen Tatsächlich war der Kardinalstaatssekretär mit den Überlegungen Galens zufrieden und entschloss sich, den Plan in die Tat umzusetzen. Am 4.  Mai, also gut zwei Wochen nach Galens Berichterstattung, schrieb er dem Berliner Nuntius, dass der Papst wünsche, Kapitelsvikar Sträter zum Apostolischen Administrator ad nutum Sanctae Sedis der Diözese Aachen zu ernennen.1537 Diesen Entschluss habe der Papst angesichts der von Orsenigo im Gespräch mit Roleff erörterten Schwierigkeiten gefasst. Gewiss kam dieser römische Bescheid für Orsenigo überraschend: Hatte er doch keine Kenntnis, wie diese Lösung zustande gekommen war, und schien er doch überzeugt, 1535

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Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 64r. Galen an Pacelli vom 20. April 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 65r. Vgl. Pacelli an Orsenigo vom 4. Mai 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 55r. 390

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die genannten Schwierigkeiten mit Roleff ausreichend geklärt zu haben. Nun musste er feststellen, dass seine Ausführungen Papst und Staatssekretär nicht überzeugt hatten. Dass Pacelli ihn nicht einweihte, an der Nuntiatur vorbei mit dem Bischof von Münster die Angelegenheit erledigt zu haben, ist nicht überraschend. Der Nuntius hätte gar nicht anders gekonnt, als sich übergangen zu fühlen, was er ja auch tatsächlich wurde. Jedenfalls erhielt er nun den Auftrag, die nötigen Schritte zu unternehmen, um Sträter als Administrator zu installieren. Auf diese Weise wurde der gewöhnliche Geschäftsgang also wieder aufgenommen. Dementsprechend telegraphierte der neue Auditor der Berliner Nuntiatur, Joseph di Meglio, der erst wenige Wochen zuvor von der aufgehobenen Wiener Nuntiatur nach Berlin gewechselt war,1538 am 12. Mai an das Staatssekretariat, dass Sträter seine Ernennung angenommen habe.1539 Für Pacelli war die Zusage natürlich kein Novum, nachdem Galen bereits informell von Sträters Zustimmung berichtet hatte. Daher war seine Anweisung für Rossi, den Sekretär der Konsistorialkongregation, die nötigen Unterlagen für die Einsetzung Sträters erstellen zu lassen, schon längst fertig, als das Telegramm der Berliner Nuntiatur eintraf.1540 Im Entwurf ergänzte Pacelli das wichtige Detail, dass Sträter mit seiner Ernennung zum Administrator auch alle Vollmachten eines Diözesanbischofs übertragen bekam. Das Nominationsdekret wurde zügig angefertigt und nach Berlin verschickt, sodass Orsenigo es bereits am 7.  Juni nach Aachen weiterleiten konnte.1541 Am darauffolgenden Tag notifizierte er die Ernennung Sträters dem neuen Reichsaußenminister Ribbentrop und verschwieg dabei nicht, dass dieser Schritt – den Orsenigo deutlich als provisorisch qualifizierte – durch die vom Auswärtigen Amt „in den Weg gelegten Hindernisse gegen eine normale Entwicklung der Ernennung eines Bischofs von Aachen“1542 motiviert war. 1538

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Vgl. darüber die Aufzeichnung von Ernst Heinrich Freiherr von Weizsäcker vom 13. April 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 286 (Nr. 310). Vgl. di Meglio an Pacelli vom 12. Mai 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 68r. Vgl. Pacelli an Rossi vom 15. Mai 1938 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 67r. Der erste Entwurf dieses Schreibens datiert auf den 7. Mai, war also fünf Tage vor di Meglios Mitteilung verfasst worden. Dies berichtete Orsenigo wenig später dem Kardinalstaatssekretär. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 17. Juni 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 71rv, hier 71r. Heim und Wäckers gehen dagegen davon aus, dass der Nuntius das Ernennungsdekret am 10. Juni persönlich an Sträter übergeben habe. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 385; Wäckers, Kirche, S. 50. Da der Nuntius aber bereits am 8. Juni der Regierung Bescheid gab, ist es wahrscheinlich, dass Orsenigos Angabe korrekt ist und er das Dokument vorher nach Aachen schickte, wenngleich es womöglich erst am 10. Juni dort eintraf. Orsenigo an Ribbentrop vom 8. Juni 1938 (Abschrift), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 72r (ital. 73r); abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S.  287 (Nr. 311). Der Nuntius benutzte für das Schreiben den früheren, für die Ernennung Roleffs konzipierten Entwurf. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.17 Anm. 1522. 391

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Wie nahm die staatliche Seite das Vorgehen des Heiligen Stuhls auf? Als Orsenigo am 10. Juni bei einem ersten Gespräch mit dem Außenminister die Bestellung des Administrators erwähnte, äußerte sich dieser laut eigener Aufzeichnung nicht näher zu der Angelegenheit.1543 Der Nuntius habe bekräftigt – so Ribbentrops Notizen –, dass es nicht dem „internationalen Brauch“ entspreche, die Ablehnungsgründe bei Stellenbesetzungen geheim zu halten und die Bereitschaft bekundet, vor der offiziellen Eingabe von Kandidatenanfragen, „sich freundschaftlich vorher mit uns abzusprechen“1544. Falls das von Regierungsseite nicht gewollt sei, möge die Regierung bei negativen Kandidatenurteilen zumindest eine Begründung mitliefern. Der Außenminister, dem dieses schon mehrfach geäußerte Anliegen noch neu war, habe daraufhin versprochen, den Vorschlag zu prüfen. Im Kirchenministerium war die bisherige Haltung jedoch unverändert und das über das Konkordat hinausgehende Entgegenkommen Orsenigos traf auf keine Resonanz.1545 Als Orsenigo eine Woche später dem Kardinalstaatssekretär von dieser Unterredung mit Ribbentrop Bericht erstattete, zeigte er sich unschlüssig, ob dieser auf die Formulierung in der Notifikationsnote vom 8. des Monats: „Hindernisse gegen eine normale Entwicklung der Ernennung eines Bischofs“1546, zurückkommen werde. Im Moment  – so Orsenigo  – scheine der Minister eher verwundert darüber zu sein, dass die Regierung bislang ihre Gründe nicht offengelegt habe. Auch die Berliner Tageszeitungen hätten bislang keine Reaktion auf das mittlerweile im Aachener Amtsblatt publizierte Ernennungsdekret gezeigt.1547 Insgesamt diagnostizierte der Nuntius demnach eine gewisse Überraschung auf Seiten des Staates, der nicht damit gerechnet hatte, dass die Kurie so agieren würde, wie sie es getan hatte. Tatsächlich blieb eine unmittelbare Reaktion aus, 1543

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Vgl. Aufzeichnung Ribbentrops vom 10. Juni 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 287f. (Nr. 312). Aufzeichnung Ribbentrops vom 10. Juni 1938, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 288. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 389. Bernd Heim interpretiert diesen Vorschlag des Nuntius als „einen von den Bestimmungen des Reichskonkordats abweichenden modus vivendi“. Ebd., S. 389. Vielleicht ist es besser von einem über die „Bestimmungen des Reichskonkordats hinausgehenden modus vivendi“ zu sprechen, insofern nicht anzunehmen ist, dass Orsenigo eine folgenreiche Abänderung des Vertrags im Sinn hatte, welche diesen als ganzes diskreditieren musste. Und nichts war dem Heiligen Stuhl weniger gelegen. Vielmehr zeigt sogar die Aufzeichnung des Außenministers, dass Orsenigo an eine zum Konkordatsmodus hinzutretende informelle Absprache dachte: So hieß es, der Nuntius „wäre gern bereit, bevor solche Vorschläge offiziell unterbreitet werden“ – das heißt gemäß Konkordat –, „sich freundschaftlich mit uns abzusprechen“. Aufzeichnung Ribbentrops vom 10. Juni 1938, Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 288. Hervorhebung R.H. Ob dieses Zugeständnis auch im Sinne Pacellis gewesen wäre, steht freilich auf einem anderen Blatt. „… ostacoli al normale svolgimento per la nomina di un Vescovo.“ Orsenigo an Pacelli vom 17. Juni 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 71r. Hervorhebung im Original. Vgl. Ernennungsdekret Sträters vom 15. Mai 1938, in: Kirchlicher Anzeiger für die Diözese Aachen Nr. 12 vom 15. Juni 1938. 392

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obgleich intern die Administratoreinsetzung scharf verurteilt wurde, weil man sie als „klaren Angriff auf das staatliche Erinnerungsrecht“1548 verstand. Das Nominationsdekret der Konsistorialkongregation traf spätestens am 10.  Juni in Aachen ein, wo es der neue Administrator am darauffolgenden Tag dem Domkapitel vorlegte und damit offiziell das Amt übernahm.1549 Am Sonntag, dem 19. Juni, wurde von allen Kanzeln der Diözese ein Hirtenwort verlesen, das Sträter zum Amtsantritt verfasst hatte.1550 Zu seinem Generalvikar, der ihm zur Seite stand und – wie Galen es im April betont hatte – die Arbeitslast des 73-jährigen mittragen konnte, erwählte sich Sträter Wilhelm Boeckem, der zuvor Direktor des Pfarrbesoldungsamtes im Generalvikariat gewesen war.1551

Ausblick Während damit die Aachener Besetzungsfrage erledigt oder zumindest ihre endgültige Lösung auf unbestimmte Zeit vertagt war, entwickelte sich der damit verbundene Konflikt zwischen Heiligem Stuhl und Reichsregierung „in den folgenden Monaten und Jahren zu einer grundsätzlichen Kontroverse um die Reichweite des staatlichen Erinnerungsrechts, bei der die Person des beanstandeten Kandidaten und das betroffene Bistum immer stärker gegenüber den grundsätzlichen Erwägungen an Bedeutung verlor“1552. In seiner Studie unterteilt Bernd Heim den Zeitraum der Auseinandersetzung von 1938 bis 1943 in vier Phasen, die jeweils durch weitere Besetzungsfälle in den von Deutschland annektierten Gebieten geprägt sind.1553 Der „Fall Aachen“ stand dort jeweils

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Heim, Bischöfe, S. 391. Unter den staatlichen Behörden löste das Vorgehen des Heiligen Stuhls mitunter eine grundsätzliche Debatte über den „Umgang“ mit der katholischen Kirche in Deutschland aus. Während das Auswärtige Amt und sein Vatikanbotschafter Diego von Bergen eher eine mäßigende Haltung einnahmen, waren es insbesondere die Beamten des Reichsministeriums für die Kirchlichen Angelegenheiten, die sich über die Einsetzung des Administrators echauffierten und für eine härtere Gangart gegenüber der Kurie plädierten. Vgl. ebd., S. 389–392. Am 14. Juni zeigte Sträter seinen Amtsantritt dem Kirchenministerium und dem Aachener Regierungspräsidenten an. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 385. Vgl. Hirtenbrief Sträters, in: Kirchlicher Anzeiger für die Diözese Aachen Nr. 12 vom 15. Juni 1938. Der Nuntius nahm davon interessiert Notiz und unterrichtete den Kardinalstaatssekretär. Vgl. Orsenigo an Pacelli vom 21. Juni 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 69r. Eine weitere Formalität war Sträters Bitte an den Papst, von der Teilnahme am Chorgebet des Domkapitels befreit zu werden, zu der er als Dekan verpflichtet war. Vgl. Sträter an Pius XI. vom 23. Juni 1938, ebd., Fol. 77r; Orsenigo an Pacelli vom 24. Juni 1938, ebd., Fol. 76rv sowie die Erlaubnis Pacellis an Orsenigo vom 9. Juli 1938 (Entwurf), ebd., Fol. 78r. Heim, Bischöfe, S. 386. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 385–388. 393

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als Schatten im Hintergrund. Angesichts des in dieser Arbeit behandelten Zeitraums kann auf diese Entwicklungen insgesamt nicht näher eingegangen werden. Gewissermaßen als Nachtrag zum Aachener Besetzungsfall, der die auf beiden Seiten verhärteten Fronten eindrücklich widerspiegelt, lässt sich auf eine Unterredung zwischen Nuntius Orsenigo und Staatssekretär Ernst Woermann aus dem Auswärtigen Amt vom 29. November 1938 verweisen, also fast ein halbes Jahr nach der Einsetzung Sträters. Anfang November hatte der Heilige Stuhl wiederum einen Administrator eingesetzt, nämlich an die Spitze der Administratur Innsbruck-Feldkirch.1554 Österreich war schon im März des Jahres Hitler-Deutschland einverleibt worden und der Reichsregierung missfiel es, dass sie vom Heiligen Stuhl vor der Einsetzung nicht gefragt worden war.1555 Auch vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Woermann gegenüber Orsenigo die Ansicht der Reichsregierung zur Sprache brachte, dass „erledigte Bischofsstühle wieder durch einen Bischof besetzt werden müssten und zwar durch einen solchen, gegen den politische Bedenken nicht bestünden“1556. Auch für Aachen gelte dies. Wie der Nuntius später am Tag in seinem Bericht für Pacelli darlegte, erwiderte er darauf, dass aus den Unterlagen des Ministeriums hervorgehen müsste, dass „dies auch der Gedanke des Heiligen Stuhls war“1557. Der Heilige Stuhl werde erst dann wieder eine ordentliche Bischofseinsetzung vornehmen, wenn die Regierung ihre Bedenken offenlege. Ansonsten könne Rom die Argumente nicht durchleuchten und gegebenenfalls für unstatthaft erklären. Wie Orsenigo für den Kardinalstaatssekretär anschließend zusammenfasste, war es bei dem Gespräch seine Absicht gewesen, „zu zeigen, wie dieses Vorgehen der Regierung dem Heiligen Stuhl jedes Mittel entzieht, die Vorwürfe gegen seine Kandidaten zu überprüfen und der Regierung die unkontrollierbare Möglichkeit verschafft, noch eine unbegrenzte Anzahl abzulehnen. Ich habe erklärt, dass ich – unter den gegebenen Umständen – seine Mitteilung nicht hinnehmen konnte, bevor man einen Verstehenspunkt in dieser Meinungsverschiedenheit gefunden habe.“1558 1554 1555

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Vgl. dazu Heim, Bischöfe, S. 444–466. Die von Deutschland annektierten Gebiete waren letztlich eine konkordatsfreie Zone. Die Reichsregierung anerkannte das österreichische Konkordat nicht und eine Ausdehnung des Reichskonkordats auf die entsprechenden Gebiete lehnte sie ab. Vielmehr verlangte sie, dass das politische Bedenkenrecht von nun an generell auch für Vikariate und Administraturen gelten sollte, eine Forderung, die der Heilige Stuhl natürlich nicht akzeptierte. Aufzeichnung Woermanns vom 29. November 1938, abgedruckt bei Albrecht (Bearb.), Notenwechsel III, S. 301f. (Nr. 329), hier 301. „… questo era pure il pensiero della Santa Sede …“ Orsenigo an Pacelli vom 29. November 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 79r–80r, hier 79v. „… mostrare come questa procedura del Governo toglie alla Santa Sede ogni mezzo di controllo delle accuse a carico dei suoi Candidati, e dà al Governo la infrenabile possibilità di respingere anche un numero infinito. Ho dichiarato che – dato questo – io non potevo accettare la sua comunicazione, prima che si fosse trovato un punto dʼintesa su tale divergenza preliminare.“ Orsenigo an Pacelli vom 29. November 1938, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 79v. 394

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Darauf replizierte Woermann nach eigenen Angaben, dass dieses Thema schon mehrfach erörtert worden sei und die Regierung an ihrer Auffassung festhalte, die Details der Ablehnung nicht mitteilen zu müssen. Damit war die Angelegenheit wieder vom Tisch. Das von Orsenigo eingeforderte Verständnis war weder jetzt noch in den folgenden Monaten und Jahren zu erreichen. Fast fünf Jahre leitete Sträter die Diözese Aachen als Bistumsverweser. Nach seinem Tod am 16. März 1943 wählte das Domkapitel Johannes Joseph van der Velden, den Regens des Priesterseminars, zum neuen Oberhirten. Überraschend erfolgte ohne staatlichen Widerspruch seine Ernennung durch Papst Pius XII. am 7. September des Jahres. Diese Besetzung mitten im Zweiten Weltkrieg, wo sich die Prioritäten der Nationalsozialisten deutlich verschoben, war also wieder auf „normalem“ Wege vonstatten gegangen.1559

Ergebnis 1. Nicht weniger als fünf Kandidaten zog Pacelli als mögliche Nachfolger von Bischof Vogt in Erwägung: in erster Linie die Ternakandidaten, in zweiter Linie die Weihbischöfe Roleff und Baumann. Die Frage, wie die Erstgenannten in das unmittelbare Blickfeld des Kardinalstaatssekretärs rückten, wird bereits durch die Beobachtung beantwortet, dass alle drei mit zumindest einer Nennung auf den konkordatären Vorschlagslisten zu finden waren: a) Für den erstplatzierten Francken war es bereits das dritte Mal, dass er auf einer römischen Terna stand: 1933/34 in Berlin und 1934 in Hildesheim rangierte der Münsteraner Regens jeweils auf dem letzten Platz der Terna. Für Pacelli, der ihn seit 1919 persönlich kannte, war Francken also bereits ein etablierter Bischofskandidat, wenn auch bisher nie in der Favoritenrolle. b) Auch den Hildesheimer Domvikar Algermissen hatte der Kardinalstaatssekretär schon länger als Bischofskandidat auf dem Schirm: Im bereits genannten Hildesheimer Fall stand er auf der vorläufigen Terna, wurde dann aber gestrichen und von niemand anderem als durch Francken ersetzt. Dieser stand also schon damals in etwas höherer Gunst bei Pacelli als Algermissen, was sich bis zum gegenwärtigen Fall nicht geändert zu haben schien, wenn man die Rangfolge der Terna berücksichtigt.1560 Der Grund für die damalige Streichung Algermissens von der Hildesheimer Terna schien in dessen offener Ablehnung des Nationalsozialismus bestanden zu haben, die ein staatliches Nihil obstat praktisch unmöglich machte. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass Pacelli ihn jetzt vier Jahre später zur Wahl stellte und zwar in einer Situation, die sich in politischer Hinsicht noch erheblich verschärfter darstellte: Nicht nur, dass der nationalsozialistische Kampf ge1559 1560

Vgl. dazu Gatz, Velden, S. 773; Heim, Bischöfe, S. 706–728. Auch Erwin Gatz leitet aus der Tatsache, dass die Liste nicht alphabetisch sortiert war, ab, dass Francken der „römische Wunschkandidat“ war. Gatz, Besetzung, S. 231. 395

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gen die Kirche seitdem vehement forciert worden war, sondern auch das staatliche Plazet war nicht mehr so leicht zu bekommen, wie die Ablehnung Rauchs in der Fuldaer causa 1936 gezeigt hatte. Obwohl also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das NS-Regime eine Wahl Algermissens niemals akzeptiert hätte – worauf immerhin auch Orsenigo aufmerksam machte –, platzierte ihn Pacelli auf der Terna. Wieso? Zwei Antworten scheinen denkbar: Entweder wünschte sich Pacelli einen Kandidaten, der dezidiert und offen antinationalsozialistisch aktiv war. Gleichzeitig war er von der allgemeinpolitischen Legitimität der Kandidatur Algermissens überzeugt, sodass eine staatliche Ablehnung des Genannten – etwa aufgrund dessen Verteidigung der kirchlichen Doktrin gegen die Rosenbergsche Ideologie – nur aus parteipolitischer und das heißt unrechtmäßiger Motivation erfolgen konnte. Sich so im Recht wissend wollte Pacelli in dem Augenblick, in dem die Ablehnung Algermissens amtlich wäre, den „Kampf “ gegen die Regierung um die kirchlichen Rechte im Allgemeinen und die konkordatär verbürgte Freiheit der kirchlichen Ämterbesetzung im Besonderen aufnehmen. Oder Pacelli wollte das Risiko, dass es nach den Fuldaer Erfahrungen erneut zu einem staatlichen obstat nach einer Bischofswahl kam, nicht wirklich eingehen. Deshalb intendierte er auch gar nicht, dass Algermissen gewählt wurde, sondern ging davon aus, dass die Aachener Domherren die erwartbaren Schwierigkeiten hinsichtlich der politischen Klausel antizipierten und sich daher gar nicht erst für den Hildesheimer Regens entschieden. Damit wäre Algermissen nicht mehr als ein Alibikandidat, um die Terna „aufzufüllen“ und letztlich der Wahl des erstplatzierten Francken zu dienen. Dies setzte jedoch voraus, dass das Domkapitel seine eigene Auswahlmöglichkeit eigenständig beschnitt, wo doch von Rom aus faktisch alle drei Geistlichen als wählbar präsentiert wurden – aus Pacellis Sicht wäre ein solcher Plan also mindestens unsicher gewesen. Eine zweite Prämisse wäre, dass der Drittplatzierte, Ehrendomkapitular Holtmann, ebenfalls nur eine Alibifunktion erfüllte. Doch dazu war Holtmann wohl nicht geeignet, im Gegenteil: Der Kevelaerer Dechant und Wallfahrtsdirektor war über die Münsteraner Diözesangrenzen bekannt, Kevelaer von Aachen geographisch nur ungefähr 100 km entfernt und die Beziehungen der beiden Bistümer ohnehin ziemlich eng. Insofern war er für das Domkapitel eine dezidiert wählbare Option, wie der Wahlausgang letztlich auch belegt. Daher erscheinen alle drei Ternakandidaten als tatsächlich gewünschte Geistliche Pacellis, sodass die erstskizzierte Alternative angenommen werden muss: Pacelli wollte seine Kandidatensondierung nicht a priori von der Komponente „Nationalsozialismus“ einschränken lassen, riskierte einen staatlichen Widerspruch gegen Algermissen und stellte ihn zur Wahl im vollen Bewusstsein von dessen stringent öffentlich vorgetragener Verteidigung der kirchlichen Lehre gegen die NS-Ideologie. c) Der soeben genannte dritte Ternakandidat, Dechant Holtmann, war schließlich ein völlig neuer Name im Fundus von Pacellis episkopablen Klerikern. Ob Pacelli ihn in seiner Nuntiaturzeit persönlich kennengelernt hatte, erscheint unwahrscheinlich, insofern Holtmann erst 1931 seine Aufgaben in Kevelaer übernommen und zuvor als Kaplan und Religionslehrer in Duisburg 396

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eine weniger exponierte Stellung innegehabt hatte.1561 Anzunehmen ist jedenfalls, dass Holtmann seit dem genannten Datum dem Kardinalstaatssekretär kein Unbekannter – zumindest dem Namen nach – war. Immerhin ragte er durch das Münsteraner Ehrenkanonikat von 1935 aus dem Diözesanklerus heraus. Denkbar ist, dass Pacelli aber noch eine weitere Referenz zugunsten Holtmanns zur Verfügung stand, denn der Wallfahrtsleiter rangierte lediglich an vierter Position des Votums Galens – wie hätte sich der Kardinalstaatssekretär für ihn entscheiden können, ohne eine zumindest geringe darüber hinausgehende Kenntnis über Holtmann zu besitzen? Entstand die Kandidatur der Ternakandidaten also letztlich aus einer Kombination von Pacellis eigener mehr oder weniger umfassenden Personenkenntnis und den preußischen Vorschlagslisten, stellt sich noch die Frage nach den Kriterien, die der Kardinalstaatssekretär bei seiner Sondierung anlegte. Angesprochen wurde bereits Algermissens stringente Verteidigung der kirchlichen Lehre gegen die NS-Ideologie. Wichtig ist, dass der Hildesheimer Domvikar dieses Anliegen unter den drei Ternakandidaten nicht exklusiv besaß. Im Gegenteil: Wie bereits ein Blick in das Verfahren zeigt, waren sowohl Francken als auch Holtmann dezidiert antinationalsozialistisch eingestellt, wenngleich sie dies wohl nicht mit derselben Intensität wie Algermissen in der Öffentlichkeit propagiert hatten.1562 Insofern bleibt als wesentliches Kriterium festzuhalten, dass Pacelli sich einen neuen Bischof wünschte, der diesbezüglich klar Position bezog. Weitere Eigenschaften, die ihm maßgeblich waren, werden aus den Quellen unmittelbar nicht ersichtlich. Da er Algermissen und Francken jedoch schon früher für das Bischofsamt in Erwägung gezogen hatte, scheinen die Beweggründe von damals für Pacelli auch jetzt noch relevant gewesen zu sein: So war für die (vorläufige) Nominierung des ersteren im Hildesheimer Besetzungsfall 1934 seine korrekt-theologische Ausbildung in Rom als Alumne des Germanicums ein wichtiger Faktor, zu dem vermutlich dessen Erfahrung in der Priesterausbildung, die sich aus dessen Tätigkeit als Seminarprofessor ergab, hinzutrat. Da Francken ebenfalls auf der Hildesheimer Terna stand, waren für seine Nominierung damals dieselben Kriterien maßgeblich: die theologische Ausbildung, die Pacelli als solide erachtete, wenn auch in Abstrichen gegenüber Algermissen, 1561

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Folgerichtig wird Holtmann in Pacellis Nuntiaturberichterstattung nicht genannt. Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Die Ablehnung des Nationalsozialismus verband beide Geistliche schon seit der Anfangszeit der NS-Diktatur: „Im August 1933 bekam Holtmann Besuch durch den Regens des Priesterseminars, Domkapitular Prälat Arnold Francken aus Münster … und den Rektor des Jesuitenkollegs Valkenburg (Holland), P. [Heinrich, R.H.] Keller SJ. Die drei Geistlichen erörterten die politische Lage und kamen überein, daß der Nationalsozialismus eine Häresie sei, die ‚durchaus abgelehntʻ werden müsse. ‚Wohl stand bei mir fest, daß ich das Nazitum radikal ablehnen mußte. … Diese Ablehnung, die ich als meine Pflicht betrachtete, hat mir manche Verkennung und Schwierigkeit in meiner Amtsführung gebracht; doch ich habe durchgehalten. Die treu kirchlich Gesinnten verstanden mich wohl. Die Nazis waren keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß sie an mir einen unerbittlichen Gegner hattenʻ, hielt Wilhelm Holtmann schriftlich fest.“ Evers/​Willing (Hg.), Persönlichkeiten I, S. 79f. 397

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da Francken an der staatlichen Fakultät in Münster studiert hatte;1563 und die Erfahrung in der Priesterausbildung, die dieser als Regens in besonderem Maße besaß.1564 Appliziert man diese beiden Kriterien auf Holtmann, so ergibt sich jedoch ein zurückhaltendes Bild: Der Dechant hatte ebenfalls in Münster studiert und konnte also die gleiche solide, wenn auch nicht hochkarätige theologische Wissenschaft aufweisen. Völlig unbeschrieben war er sogar auf dem Feld der Ausbildung des priesterlichen Nachwuchses. Insofern ergibt sich der Eindruck, dass Pacelli beide Kriterien in der Person Franckens beziehungsweise Algermissens zwar berücksichtigte, sie für ihn gegenüber dem „politischen“ Kriterium jedoch etwas in den Hintergrund rückten  – einen ebenso klar wie Holtmann die kirchlichen Rechte verteidigenden Geistlichen, der eine „bessere“ theologische Ausbildung als jener erfahren hatte oder gar in der Heranziehung der Alumnen tätig war, hatte Pacelli offensichtlich nicht parat. Man könnte auch denken, dass die Priesterausbildung deshalb in diesem Fall weniger von Belang war, weil Aachen zwar seit 1932 ein Seminar, jedoch keine Theologische Fakultät besaß und die wissenschaftliche Ausbildung der Alumnen vornehmlich in Bonn erfolgte.1565 Da Pacelli die dortige Katholisch-Theologische Fakultät allerdings ausgesprochen negativ beurteilte,1566 gab es für ihn durchaus Verbesserungspotential  – zum Beispiel konnte der neue Oberhirte den Nachwuchs vermehrt an die Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt schicken. Daher musste ein Bischof, der den entsprechenden sensus für diese Angelegenheit besaß, für den Kardinalstaatssekretär prinzipiell nach wie vor wünschenswert sein. Da er mit Francken und Holtmann zwei Münsteraner Diözesane auswählte, stellt sich schließlich noch die Frage, ob die Herkunft der Kandidaten für den Kardinalstaatssekretär eine Rolle spielte. Auch hier wird man eine ambivalente Antwort geben müssen: Einerseits nominierte er keinen Geistlichen aus Aachen selbst, noch aus den angrenzenden (Erz-) Bistümern Trier oder Köln – trotz entsprechender Vorschläge in den Kandidatenlisten –, sondern mit Algermissen so-

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Diese Wertung ergibt sich aus Pacellis Bemerkung innerhalb seiner Schlussrelation von 1929, die Katholisch-Theologische Fakultät Münster sei „la relativamente migliore in Germania“. Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 42v. Schon bei der Wiederbesetzung des Bistums Berlin 1933 hatte Pacelli diese Kriterien bei Francken als erfüllt angesehen. Vgl. Gatz, Bistum Aachen, S. 35. Vgl.: „Noch unglücklicher ist die Lage der theologischen Fakultät Bonn, wo einige Professoren, vor allem [Fritz, R.H.] Tillmann und Rademacher, einen schädlichen Einfluss ausüben. So geschieht es, dass nicht wenige Studenten von einem Geist des Misstrauens gegenüber dem Hl. Stuhl infiziert werden und in der theologischen Lehre von einer Geisteshaltung, die ‚Minimismusʻ genannt werden könnte, d.h. die nichts zulässt als nur das, was strenggenommen Dogma ist, und sich für den gesamten Rest, auch gegenüber den Entscheidungen des Hl. Stuhls, volle Kritikfreiheit erlaubt. … Aber es ist sehr schmerzlich, dass sie die Jahre ihres Theologiestudiums fast wie eine Gefahr durchmachen müssen.“ Pacelli an Perosi vom 18. November 1929, S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1927–1931, Pos. 511 P.O., Fasz. 24, Fol. 30r-v, Übersetzung zitiert nach Wolf/​Unterburger (Bearb.), Lage, S. 193. 398

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gar jemanden aus einer anderen Kirchenprovinz. Andererseits waren alle drei Ternakandidaten nicht nur preußischer Herkunft, sondern zwei  – wie gesagt  – immerhin aus dem mit Aachen eng verbundenen Münster. Ein gewisser geographischer Bezug schien Pacelli also durchaus wünschenswert, war für ihn aber nicht entscheidend. Ihre Provenienz hing sicher auch mit der Person Galens zusammen, dessen Votum für den Staatssekretär in dieser causa von hervorgehobener Bedeutung war (vgl. Nr. 4). Schließlich muss noch ein Blick auf die eingangs genannte „zweite“ Reihe von Kandidaten gerichtet werden, die Pacelli aus Opportunitätsgründen aus der Gruppe der Weihbischöfe nahm. Da seine Wahl durch diese fundamentale Prämisse determiniert war, lassen sich aus ihr nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf Pacellis Kandidatenprofil ziehen. Interessant erscheint allerdings die Frage, wieso Pacelli aus der Gruppe der Weihbischöfe Roleff (Münster) und Baumann (Paderborn) auswählte und nicht etwa die potentiell ebenfalls möglichen Fuchs (Trier) und Stockums (Köln), die immerhin beide genauso wie Baumann auf den preußischen Vorschlagslisten standen. Roleff hingegen stand zwar im Hildesheimer Fall 1934 auf Galens Kandidatenliste, wurde jedoch aktuell nicht vorgeschlagen. Noch viel mehr drängt sich die Frage auf, wieso er sich nicht für Sträter entschied, der seit 1922 in Aachen residierte und zumindest von Hilfrich als episkopabler Kandidat genannt worden war. Bereits die Erstbesetzung des Aachener Bistums 1930/31 zeigte jedoch, dass Sträter bei Pacelli in keinem guten Ansehen stand, besonders was die Fähigkeiten in der Diözesanadministration und die Reinerhaltung der katholischen Lehre anbelangte.1567 Von daher überrascht es nicht, dass Pacelli ihn zunächst überging  – umso mehr allerdings, dass er dessen Einsetzung zum Administrator schlussendlich akzeptierte (vgl. Nr. 3). Während er Sträter noch in seiner Nuntiaturzeit beurteilte, findet sich eine analoge Wertung der anderen Weihbischöfe nicht.1568 Ein Ansatzpunkt lässt sich jedoch finden, warum er sich gegen Stockums entschieden haben könnte. Dieser begutachtete im Kontext der Imprimaturerteilung bereits 1921 das Werk des Bonner Theologen Arnold Rademacher „Der Einheitsgedanke in der Theologie und der Parallelismus von Natur und Gnade“1569 und kam dabei zu dem Ergebnis – wie Erzbischof Schulte zusammenfasste –, dass die „Vereinbarkeit“ einiger Stellen der Schrift „mit dem Dogma … nicht sicher sei“1570. Berücksichtigt man, dass Pacelli seinerzeit erheblich klarer diagnostizierte, dass Rademachers Werk Anlass zu „schweren Kritiken“1571 gebe, erscheint Sto1567 1568 1569 1570

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Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.11 (Ergebnis Nr. 1). Vgl. Wolf u. a. (Hg.), Kritische Online-Edition. Vgl. Rademacher, Einheitsgedanke. Vgl. Schulte an Pacelli vom 30. Juni 1921, ACDF, SO CL 1924, Nr. 9, Fol. 5r–6r, hier 5r; abgedruckt bei Unterburger, Lehramt, S. 309f. Anm. 428. Hervorhebung R.H. Vgl. zum Fall Rademacher ebd., S. 308–317 sowie Bd. 1, Exkurs II (Priesterausbildung versus Kapitelswahl: Pacellis Ansicht zum Modus der Bischofseinsetzung). Unterburger, Lehramt, S. 311. 399

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ckums Urteil doch sehr zurückhaltend und aus Sicht des damaligen Nuntius vermutlich viel zu passiv. Ungeachtet der großen zeitlichen Diskrepanz könnten es also theologische Zweifel gewesen sein, die bei Pacelli gegen einen Nominierung Stockums sprachen. Ob er sich aus ähnlichen Gründen auch gegen Fuchs und für Roleff und Baumann entschied oder ob die Auswahl letztlich dem übergeordneten „NS-Kriterium“ geschuldet war, muss angesichts fehlender Quellenbasis offen bleiben.1572 Auffällig ist jedoch, dass Pacelli die Rheinländer ignorierte und zwei Westfalen für den Posten veranschlagte. Denkbar ist also, dass diese schon bei den Ternakandidaten angemerkte Komponente für ihn hier eine wesentliche Rolle spielte. 2. In verfahrenstechnischer Hinsicht ist interessant, dass Pacelli nach dem erfolglosen Versuch, gemäß Artikel 6 des Preußenkonkordats einen ordentlichen Diözesanbischof zu installieren, von diesem Ziel abrückte und stattdessen auf das Modell eines Apostolischen Administrators ad nutum Sanctae Sedis nach Artikel 9 Absatz 3 zurückgriff. Obwohl dem Heiligen Stuhl hierbei das Recht zustand, den Administrator frei zu ernennen, war es für Pacelli dennoch nur eine Notlösung, die sich aus dem Dilemma ergab, dass die Reichsregierung ihre Ablehnungsgründe gegen den vom Aachener Domkapitel gewählten Holtmann nicht preisgeben wollte – darauf, dass diese Notlösung in hohem Maße geschickt war, wird gleich noch einzugehen sein (vgl. Nr. 3). Da der

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Appliziert man das theologische Kriterium auf die akademischen Biographien, so ergibt sich folgendes Bild: Baumann hatte in Paderborn, Fuchs im Trierer Priesterseminar, Roleff in Münster und Stockums in Bonn Theologie studiert. Bei diesem Befund überrascht es beispielsweise, dass Pacelli angesichts seiner enormen Hochschätzung für das im Geist von Bischof Felix Korum geführte Trierer Priesterseminar nicht Weihbischof Fuchs in Erwägung zog. Dass er sich für Baumann entschied, könnte wiederum an dem Urteil liegen, das Erzbischof Klein nicht nur im aktuellen Besetzungsfall über Baumann fällte, sondern insbesondere an dem, das er Pacelli im Jahr 1932 mit der Bitte übermittelte, jenen zu seinem Weihbischof zu ernennen. Darin hieß es: „Ich bin fest überzeugt, dass durch die Ernennung des genannten Priesters ein Mann in die Reihe der Bischöfe aufgenommen wird, der ganz für die Kirche und ihr Oberhaupt und für das Heil der unsterblichen Seelen lebt und wirkt und, wenn es sein muß, auch das Letzte hinzugeben bereit ist. … Nicht unerwähnt soll bleiben, dass er seit einigen Jahren als Diözesanpräses den Verband katholischer Müttervereine mit einer gewaltigen Anzahl von Mitgliedern mit reichem Erfolg leitet und in letzter Zeit eifrigst bemüht ist, die Grundsätze des höchst zeitgemäßen Päpstlichen Rundschreibens ‚Casti connubii‘ im Familienleben überall zur Geltung zu bringen.“ Klein an Pacelli vom 11. Juli 1932, S.RR.SS., ­AA.EE.SS., Germania, 1922–1932, Pos. 526 P.O., Fasz. 51, Fol. 8r–9r, hier 8v. Auch hier finden sich also die für Pacelli in diesem Fall relevanten Kriterien durchaus wieder: Die stringente Verteidigung der kirchlichen Prinzipien – „auch das Letzte hinzugeben“ – und das rechte Verständnis von Theologie, da Baumann offensichtlich die päpstliche Morallehre vertrat. Die Nominierung Roleffs schließlich könnte nicht zuletzt einmal mehr mit dessen Protektion durch und Nähe zu Galen zusammenhängen. Damit ließe sich jedoch nicht so recht vereinbaren, dass der Münsteraner Oberhirte seinen Weihbischof in seiner Vorschlagsliste nicht nannte, sondern stattdessen Weihbischof Fuchs an erster Stelle seines Kandidatenquartetts positionierte. 400

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Administrator alle Rechte eines Diözesanbischofs erhalten sollte  – worauf Pacelli ausdrücklich hinwies –, bedeutete dieses Vorgehen für die Bistumsleitung faktisch keinen Nachteil. Das Verfahren der Aachener causa war für Pacelli also fundamental durch die staatliche Komponente bestimmt und nicht erst seitdem er den Administratorplan verfolgte, sondern bereits von Anfang an. Das zeigte sich nicht nur bei seiner Kandidatenwahl (vgl. Nr. 1), sondern lässt sich außerdem an seinen begleitenden Anweisungen zur Bischofswahl ablesen: Während Instruktionen wie die Betonung des secretum Sancti Officii oder die Nichtigkeit einer Neuwahl ohne vorangegangene römische Weisung zu seinem gängigen nachkonkordatären Repertoire gehörten, sind zwei Veränderungen im Vergleich zur bisherigen Praxis zu beobachten: Hatte Pacelli vorher immer standardisiert formuliert, dass ein Widerspruch der Regierung unwahrscheinlich sei, so verzichtete er jetzt auf diese Formel. Spätestens seit der Ablehnung Rauchs durch die Reichsregierung 1936 war ihm klar, dass ein solcher Fall keineswegs unwahrscheinlich war  – im Gegenteil musste er bei seiner Kandidatenwahl sogar mit einem Widerspruch rechnen. Die zweite Abweichung von den vorherigen analogen Weisungen bestand darin, dass Pacelli nun nicht mehr ausdrücklich verlangte, ihm das Datum mitzuteilen, an dem die Regierung nach politischen Bedenken angefragt worden war. Dies hatte er früher deshalb gefordert, um die durch das Reichskonkordat festgelegte 20-tägige Einspruchsfrist der Regierung im Auge haben zu können. Dass dies nicht mehr Bestandteil seiner Weisung war, könnte als frustrative Frucht der Tatsache gedeutet werden, dass die NS-Regierung diese Frist meistens ohnehin nicht eingehalten hatte.1573 Als jedoch noch zu erwarten war, dass auch dieses Mal der Zeitraum überschritten würde, intendierte er wie schon häufig zuvor, zumindest Rechtsverwahrung gegen die Konkordatsverletzung einzulegen. Diese Beobachtungen verweisen bereits auf den nächsten Punkt. 3. Pacellis Handeln im Aachener Besetzungsfall stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Staat, was nicht überrascht, da die Spannungen zwischen der Kirche und dem NS-Regime im Jahr 1937 einen neuen Höhepunkt erreichten. Es genügt, an die Stichworte Devisenprozesse gegen katholische Geistliche und vor allem die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ zu erinnern.1574 Unter diesem Vorzeichen ist das Vorgehen des Kardinalstaatssekretärs zu betrachten, das von einer deutlichen Dialektik gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite nominierte er Kandidaten für die Bischofswahl unter dem Grundprinzip, dass sie eine strikt ablehnende Haltung zur NS-Ideologie und eine ebenso klare apologetische Ein-

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Außer im Fuldaer Fall 1936 hatte die Reichsregierung die 20 Tage regelmäßig deutlich überschritten. Vgl. zu den Devisenprozessen Bd. 3, Kap. II.3.5 Anm. 1900 und zur Enzyklika vom 14. März 1937 Brechenmacher, Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (2009); Raem, Pius XI.; Sale, Hitler, S. 127–150; Voderholzer, Enzyklika; Wagener, Enzyklika; Wolf, Kampftaktik. 401

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stellung zur kirchlichen Lehre besaßen (vgl. Nr. 1). Auf der anderen Seite jedoch akzeptierte er de facto den Einspruch der Regierung gegen die Wahl Holtmanns, obwohl er diesen im Prinzip für unwirksam erachtete, da er ohne Begründung erfolgt war.1575 Mit anderen Worten ging er nicht so weit, beim Papst die Bestätigung Holtmanns zu erwirken, die er formal-rechtlich für legitim erachtete. Um aber dem Staat das „Veto“ nicht unbescholten durchgehen zu lassen, für das er keine Präzedenz schaffen wollte, nahm er den staatlichen Widerspruch wiederum auch nicht einfach hin. Ein ebenso defensives Vorgehen wie in Fulda, als er der Regierung nach Ablehnung des ersten Kandidaten schlicht einen zweiten zur Beurteilung vorgelegt und, wie er nun feststellen musste, diesen missliebigen Präzedenzfall bereits geschaffen hatte, kam für ihn deshalb nicht mehr infrage. Zunächst startete er freilich erneut einen diplomatisch-korrekten Versuch, die Ablehnungsgründe der Regierung zu erfahren,1576 musste jedoch die enttäuschende Erfahrung machen, dass die Regierung es nicht honorierte, dass der Heilige Stuhl erst kurz zuvor den von staatlicher Seite gewünschten Rarkowski zum Feldbischof ernannt hatte und offensichtlich an einem quid pro quo nicht interessiert war. Angesichts dessen ließ er nicht etwa eine zweite (vermutlich ähnlich aussichtslose) Bischofswahl durchführen – sei es aus den verbliebenen beiden Kandidaten, sei es aus einer mit einem Ersatzkandidaten wiederaufgefüllten Terna. Stattdessen verfolgte er die vom Preußenkonkordat gedeckte Option, einen Bistumsverweser einzusetzen, was nicht nur eine „ausgesprochen scharf[e]“1577 Reaktion, sondern vor allem ein diplomatisch sehr geschickter Schachzug war, da er damit ein Doppeltes erreichte: Einerseits konnte er so dem von der Regierung zum zweiten Mal faktisch praktizierten Veto bei der kirchlichen Bischofseinsetzung wirksam begegnen. Die Regierung musste hinnehmen, dass sie keinen Einfluss auf die Bestellung des neuen Bistumslenkers ausüben konnte. Außerdem musste ihr klar sein, dass der Heilige Stuhl 1575

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Vgl. dazu auch Bd. 2, Kap. II.1.16 (Ergebnis Nr. 3). Während die Regierung nach politischen Bedenken gegen Holtmann suchte, hielt Pius XI. übrigens seine Weihnachtsansprache, in der er die Verfolgung der Kirche in Deutschland durch den Nationalsozialismus anprangerte. Vgl. Ansprache Piusʼ XI. vom 24. Dezember 1937, in: AAS 30 (1938), S. 20–25. Die dadurch im Reichskirchenministerium ausgelösten weiteren kirchlichen Antipathien könnten mittelbar an Holtmanns Ablehnung mitgewirkt haben. Vgl. auch Heim, Bischöfe, S. 396. Drängend bleibt hier natürlich die Frage, welche Konsequenzen es letztlich nach sich gezogen hätte, wäre die Regierung darauf eingegangen, ihre Bedenken gegen Holtmann offenzulegen. Zwar waren die Einwände sachlich korrekt – Holtmann war ein Gegner des Nationalsozialismus –, jedoch in ihrer Beweiskraft nicht überzeugend, gerade wenn man bedenkt, dass ein Hauptvorwurf darin bestand, dass der Kevelaerer Pfarrer Anhänger Bischof Galens war. Doch selbst bei in dieser Hinsicht aussagekräftigen Argumenten, hätten sie doch nur partei- und nicht allgemeinpolitische Bedenken konstituieren können, die für Pacelli nicht nur rechtlich irrelevant, sondern – wie gezeigt – sogar ausdrücklich erwünscht waren. Eine Einigung unter diesen Vorzeichen erscheint daher schwer vorstellbar, sodass es die Situation wohl nicht grundlegend verändert hätte, hätte die Regierung ihre Bedenken konkretisiert. Heim, Bischöfe, S. 399. 402

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damit ein Instrumentarium gefunden hatte, das sich in künftigen analogen Fällen problemlos anwenden ließ und ihr bisheriges Vorgehen daher nicht mehr möglich war1578 – dementsprechend scharf verurteilte sie intern das römische Vorgehen, während sie davon zunächst völlig überrascht wurde.1579 Andererseits führte der diplomatische Kniff aber nicht zu einer Totalopposition gegen die Regierungsposition. Hätte sich Pacelli über den staatlichen Einspruch hinweggesetzt und Holtmanns Einsetzung zum Aachener Oberhirten dennoch betrieben, wäre ein offener Konflikt wohl unvermeidlich gewesen, der nicht nur antikirchliche Reaktionen des NS-Regimes gegen die Kirche also solche, sondern insbesondere auch gegen den Neubischof hervorgerufen hätte. Diese Konsequenz war allen Beteiligten evident und führte zu einer akribisch durchdachten Ausgestaltung der Administratoreinsetzung, die nicht wie eine verkappte Bischofsinstallation aussehen durfte. Um eine solche nicht zu suggerieren, entnahm Pacelli die Kandidaten der Gruppe der Weihbischöfe, sodass eine Bischofsordination mit der entsprechenden Signalwirkung vermieden werden konnte. Pacelli war so peinlich besorgt, der NS-Regierung keinerlei Angriffsfläche zu bieten und dem propagandistisch verwertbaren Vorwurf, die Kirche nehme im Widerspruch zum Konkordat ohne staatliche Erlaubnis eine Bischofseinsetzung vor, keinen Anhaltspunkt zu liefern, dass er mit Sträter schlussendlich sogar einen Kandidaten aus reinen Opportunitätsgründen akzeptierte, den er für sich betrachtet nicht als episkopabel einstufte (vgl. Nr. 1). Während die kämpferische Entscheidung zugunsten des Administrator-Modus bereits im März getroffen wurde, fiel dieser vorsichtige Schritt zeitlich und fügte sich inhaltlich genau in die von Dominik Burkard ausgemachte „Befriedungsoffensive des Hl. Stuhls im Mai/Juni 1938“1580, die den Zweck verfolgte, die seit der Enzyklika bestehende diplomatische Kälte zu mindern und erneute Verhandlungen zu ermöglichen. Triebfeder dafür war insbesondere auch die Sorge um die Zukunft der Kirche in Österreich, das soeben vom Dritten Reich annektiert worden war. Damit sind die Pole markiert, um die Pacelli im Aachener Fall rang: einerseits das höchst angespannte Verhältnis zur Regierung zu deeskalieren, andererseits sich gegen ihre Unterdrückung der kirchlichen Freiheit zur Wehr zu setzen. 4. Galen nahm in diesem Fall die Rolle einer besonderen Vertrauensperson Pacellis ein: Dieser adap­tierte mit Francken und Holtmann nicht nur zwei der von Galen vorgeschlagenen Kandidaten für die römische Terna, sondern beauftragte den Münsteraner Oberhirten informell sogar 1578

1579 1580

So urteilt auch Bernd Heim: „Es ist anzunehmen, daß das Reichskirchenministerium diese Praxis [sc. die Ablehnung der zum Bischof gewählten Kandidaten ohne Angabe von Gründen, R.H.] auch in den nachfolgenden Jahren in analoger Form fortgesetzt hätte, wäre ihm nicht durch die Bestellung Weihbischof Sträters zum Apostolischen Administrator aufgezeigt worden, daß die Kurie nicht gewillt war, diese Praxis dauerhaft widerspruchslos hinzunehmen …“ Heim, Bischöfe, S. 398. Vgl. Heim, Bischöfe, S. 399. Burkard, Politik, S. 273. 403

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damit, die Administratoreinsetzung nach ihrer personellen und strukturellen Seite einer Lösung zuzuführen, die der oben skizzierten kirchenpolitischen Direktive entsprach. Vergegenwärtigt man sich, wie delikat diese Angelegenheit war, wird ersichtlich, welch hohes Maß an Vertrauen der Kardinalstaatssekretär Galen entgegenbrachte. Dieses zeigte sich in besonderer Weise noch einmal, als er auf dessen Rat hin von seinen Administratorkandidaten Roleff und Baumann abrückte und die Einsetzung des ihm an und für sich missliebigen Sträter akzeptierte. Wieso Galen für Pacelli diese wesentliche Stellung inne hatte, ist leicht einsichtig: Das Grundanliegen, das der Kardinalstaatssekretär in der Aachener causa in allen Belangen verfolgte und von seinen idealtypischen Kandidaten verlangte, nämlich die standhafte Verteidigung der kirchlichen Lehre und Rechte sowie die klare Positionierung gegen die NS-Diktatur, bestimmte logischerweise auch die Wahl seines Informanten und Unterstützers. Immerhin galt Galen schon zu diesem Zeitpunkt in dieser Hinsicht als der Exponent des deutschen Episkopats.1581 Schon 1935 hatte sich Galen ein deutliches Lob des Kardinalstaatssekretärs als „freimütige[r] Bekenner in schwerer Zeit“1582 erworben, nachdem er in einem Hirtenbrief zu Ostern 1934 schärfste Kritik am nationalsozialistischen Neopaganismus geübt hatte.1583 Später hatte Galen eine katholische Gegenschrift zu Rosenberg, „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“1584, im Kirchlichen Amtsblatt der Diözese Münster lanciert, womit sich übrigens von selbst wieder ein Bezug zu Algermissen ergibt, dessen Gegenschrift „Germanentum und Christentum“ im gleichen Jahr erschienen war. Zum Kreis der Vertrauten, die Pacelli im Frühjahr 1937 nach Rom einlud, um die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vorzubereiten, gehörte Galen ebenfalls. Die von Pacelli dem Münsteraner Bischof im Aachener Besetzungsfall entgegengebrachte Wertschätzung lässt sich also nahtlos in die mit diesen wenigen Stichworten gezeichnete Linie einfügen. Zu konstatieren bleibt abschließend noch, dass alle Ternakandidaten inklusive des schlussendlich ernannten Sträter auf den bischöflichen Vorschlagslisten standen und Pacelli diese insofern vollumfänglich „würdigte“, wenn auch die Stimmenverhältnisse für ihn keinerlei Rolle spielten. Stattdessen maß er – wie skizziert – einerseits der Stimme Galens Gewicht zu, während er andererseits mit Francken und Algermissen zwei Namen herausgriff, die für ihn ohnehin schon etablierte Bischofskandidaten waren und von deren Tauglichkeit er durch die Proponenten nicht

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Vgl. zu Galens Verhältnis zum NS Bd. 2, Kap. II.1.12 Anm. 777. Pacelli an Galen vom 30. Juli 1935, zitiert nach Wolf, Clemens August (2006), S. 89. Vgl. Hirtenbrief Galens vom 26. März 1934, abgedruckt bei Löffler (Bearb.), Bischof I, S.  67–72 (Nr. 35). Vgl. dazu auch Wolf, Clemens August (2006), S. 85–90. Vgl. Studien. Diese Schrift war in der Erzdiözese Köln entstanden und sollte ursprünglich auch hier publiziert werden. Da Kardinal Schulte jedoch einen Rückzieher machte, übernahm Galen diesen gefährlichen Schritt. Vgl. Hehl, Karl Joseph Kardinal Schulte (1982), S. 270; Stasiewski, Stellung Karl Joseph Kardinal Schultes, S. 575–577. 404

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etwa noch überzeugt werden musste. Von den drei Kandidaten schließlich, welche die Aachener Domherren vorschlugen, berücksichtigte Pacelli keinen.1585 5. Dass Pacelli und nicht etwa der Papst die entscheidenden Weichen des Besetzungsfalls stellte, wird abgesehen von seiner formal zentralen Position als Staatssekretär bei genauer Lektüre seiner Weisungen deutlich. Insbesondere die Formulierung in Bezug auf die etwaige Nominierung von Hartz als einen der Ternakandidaten ist aufschlussreich: Pacelli habe den Papst auf diesen „hingewiesen“ beziehungsweise auf denselben „aufmerksam gemacht“.1586 Demnach war es der Kardinalstaatssekretär, der die entscheidende Vorauswahl der Kandidaten vornahm und diese dem Papst „lediglich“ zur Bestätigung vorlegte. Ein zweites Beispiel betrifft Pacellis ursprüngliche Absicht, auf die erwartete Fristüberschreitung der Regierung hinsichtlich der politischen Klausel mit einer Protestnote zu reagieren. In der Ausfertigung der diesbezüglichen Order an den Nuntius hieß es: „der Heilige Vater“1587 verlange, dass eine Beschwerde eingereicht werde. Doch der Entwurf zeigt, dass der Protest eigentlich die Forderung Pacellis war, denn hier stand zunächst: „ich halte es für angemessen“1588, dass Orsenigo sich bei der Regierung beschwere – von einem Auftrag des Papstes wusste der Entwurf nichts. Pacelli zog demnach die Fäden und agierte nach eigenem Selbstverständnis in Stellvertretung und Vollmacht des Papstes, mit dessen Autorität er daher seine Anordnung untermauerte und den Wortlaut entsprechend umänderte. In dieselbe Richtung weist außerdem, dass es Pacelli war, der Galen die informellen Instruktionen zum Aachener Fall in einer gesonderten Audienz erteilte und nicht etwa Pius XI., bei dem der Graf noch zwei Tage zuvor vorgesprochen hatte.1589 Diese Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die römische Politik gleichbedeutend mit der Politik des Kardinalstaatssekretärs war, insbesondere wenn man bedenkt, dass einige römische Entscheidungen – gerade hinsichtlich der Ternakandidaten – letztlich nur mit persönlicher und über die Nuntiaturberichterstattung hinausgehender Kenntnis der Verhältnisse so zu treffen waren, wie sie getroffen wurden. Diese Kenntnis besaß Pacelli in ausreichendem Umfang, nicht aber Ratti, der seinem Staatssekretär offensichtlich freie Hand ließ.

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Die gegenteilige Aussage bei Gatz, Besetzung, S.  231, ist nicht korrekt, wie die Darstellung der Vorschlagslisten belegt. Vgl.: „… non ho mancato di segnalare allʼAugusto Pontefice lʼIllmo e Revmo Prelato nullius di Schneidemühl.“ Pacelli an Orsenigo vom 25. November 1937 (Entwurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 31v. Hervorhebung R.H. „… il Santo Padre desidera che lʼEccellenza Vostra faccia le opportune rimostranze presso codesto Governo …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Januar 1938 (nicht abgesandte Ausfertigung), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 37r. Hervorhebung R.H. „… crederei opportuno che lʼEccellenza Vostra faccia …“ Pacelli an Orsenigo vom 14. Januar 1938 (Ent­ wurf), S.RR.SS., AA.EE.SS., Germania, 1937–1943, Pos. 726 P.O., Fasz. 343, Fol. 38r. Hervorhebung R.H. Vgl. Bd. 2, Kap. II.1.17 Anm. 1524. 405

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Schaut man auf das Verhältnis Pacellis zum Nuntius, so springt vor allem ins Auge, dass ersterer mit den Absprachen, die Orsenigo mit Weihbischof Roleff über die nähere Organisation der Administratoreinsetzung gehalten hatte, überhaupt nicht einverstanden war. Daher schloss ihn Pacelli im Folgenden aus der Angelegenheit aus und ließ diese an der Nuntiatur vorbei durch Bischof Galen regeln. Erst nachdem der Graf die maßgeblichen Weichen für die Lösung der causa gestellt hatte, kehrte Pacelli zum „ordentlichen“ Geschäftsgang zurück und überließ Orsenigo die unproblematischen formalen Schritte zur Einsetzung Sträters als Apostolischen Administrator. Doch auch schon früher im Verfahren finden sich Indizien dafür, dass das Vertrauen Pacellis in die Meinung und Kompetenzen des päpstlichen Gesandten in Berlin begrenzt war. Zum Beispiel hielt er mit Orsenigo keine Rücksprache über die Ternakandidaten, obwohl diese gänzlich andere Geistliche waren als jene, die der Nuntius zuvor in seiner Berichterstattung bewertet hatte. Dessen Votum für Wienken fand bei Pacelli keinen Widerhall. Mit jenem benannte der Nuntius maximal einen tauglichen Kandidaten, obgleich der Heilige Stuhl eine Trias von Kandidaten für die Terna benötigte. Hierfür Vorschläge zu machen, sah Orsenigo offensichtlich nicht als seine Aufgabe an, sondern er trug lediglich dafür Sorge, die Anweisungen zu erfüllen, ohne selbständig darüber hinaus zu gehen. Das zeigt sich zum Beispiel auch an dem Detail, dass er in diesem Fall – anders als bei den vorangegangenen preußischen Besetzungsverfahren – keine Rücklauffrist für die bischöflichen Kandidatenvorschläge festsetzte. Dazu hatte er nämlich keine Aufforderung aus Rom erhalten und zwar deshalb nicht, weil die Weisung, die ihm auftrug, den Episkopat und das Aachener Domkapitel zur Präsentation von tauglichen Geistlichen aufzufordern, dieses Mal nicht von Pacelli, sondern von Pizzardo stammte, der diese mittlerweile gängige Bestimmung offenbar nicht kannte und daher auch nicht verlangte. Wortgetreu verzichtete Orsenigo deshalb auf die Frist. Auch als der Besetzungsfall nach der Ablehnung Holtmanns durch die Reichsregierung in eine Sackgasse geraten war und Orsenigo zumindest indirekt konstatierte, dass eine erneute Bischofswahl zwecklos sei, machte er keinerlei Vorschläge, wie die schwierige Situation zu lösen war. Völlig passiv überließ er es Pacelli, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. War dem Kardinalstaatssekretär also an den Vorstellungen und Ratschlägen des Nuntius wenig gelegen, so machte Orsenigo kaum Anstalten dieselben zu offerieren und ideell am Fortgang des Besetzungsfalls mitzuwirken, sondern sah sich selbst als rein ausführende Instanz. Doch wie der Geheimauftrag für Galen beweist, war Orsenigo nicht einmal als solche für Pacelli zufriedenstellend.

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