Ethik: Der evangelische Weg der Verwirklichung des Guten [Reprint 2020 ed.] 9783112331583, 9783112331576

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Ethik: Der evangelische Weg der Verwirklichung des Guten [Reprint 2020 ed.]
 9783112331583, 9783112331576

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Alfred Dedo Müller

Ethik

Die wissenschaftliche Leitung der Sammlung Töpelmann liegt in Öen

Händen des ord. Professors der Theologie D. Dr. Heinrich Zrick, Marburg

Die Neuordnung in Staat und Kirche soll in der Sammlung Töpelmann auf zweierlei Weise zum Nusdruck kommen. In den Lehrbüchern werden bei neuen Auf­ lagen die bis zum jeweiligen Erscheinen eines Werkes eingetretenen neuen Tat­ bestände vermerkt und bearbeitet. Die wissenschaftliche Grundhaltung der für Stu­ dierende der Theologie, für Pfarrer und Neligionslehrer, für gebildete Laien be­ stimmten Abrisse verbietet es, im innerkirchlichen Tageskampf Partei zu ergreifen. Zür eine theologisch klärende Erörterung zeitgemäßer Probleme der christlichen Kirche und des evangelischen Glaubens bieten die an die Sammlung angeschlossenen Hilfsbücher ausreichende Gelegenheit.

Der Verlag

Sammlung Töpelmann Die Theologie im Abriß: Band 4

Ethik Der evangelische Weg der Verwirklichung des Guten von

Alfred Dedo Müller D. Dr., ord. Professor in Leipzig

1937

Verlag von Alfred Töpelmann, Berlin W 35

Copyright 1937 by Alfred Töpelmann, Berlin W 35

Printed in Germany

Vmck von Walter de (Bruytet L Lo., Berlin w 35

Der hochwürdigen Theologischen Fakultät der Universität Marburg

in Dankbarkeit und Ehrerbietung gewidmet

Vorwort Vie Ethik die hier vorgelegt wird, muhte in einer Zeit geschrieben werden, in der der deutsche Protestantismus sich in einer seit Jahrhunderten nicht dagewesenen Gärung befand, die alle Bereiche seines inneren Lebens wie seines Verhältnisses zur Welt durchdrang. Daraus ergab sich eine solche Sülle von Schwierigkeiten, dah es immer wieder nahe gelegen hätte, auf die Lösung der Aufgabe wenigstens vorläufig zu verzichten und ruhigere Zeiten abzu­ warten. Wenn der versuch gleichwohl zu Ende geführt wurde, so nur deshalb, weil seine Dringlichkeit nie einen Augenblick zweifelhaft sein konnte, von welchen Fragen die Rirche auch aufgewühlt sein mag, wie tief auch die Mei­ nungsverschiedenheiten über ihre theologischen Voraussetzungen, ihre gottes­ dienstliche (Erneuerung, ihre rechtliche Gestalt gehen mögen — die Frage ihrer sittlichen Verantwortung ist auf keine Weise und nicht einen Augenblick von ihrer Existenz abtrennbar. Der Frage: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir tun?" kann und darf die Kirdje wie im ganzen so im einzelnen sich nicht entziehen, ohne ihrem Auftrag untreu zu werden, der ihr, wie er im übrigen auch auszulegen sein mag, jedenfalls jede Art von Flucht vor dem nie verstummenden Anruf Gottes verbietet. Bei dieser Lage ist evangelische Ethik heute nur von einer konkreten Theologie aus möglich. Es geht heute um die Frage, ob die unabgeschwächten und unverwässerten Grundinhalte der christlichen Verkündigung von irgendwie wesentlicher Bedeutung für die konkrete geschichtliche Lage sind, in die Gott uns heute, hier und jetzt, hineingestellt hat. Beides ist heute jedenfalls gleich wichtig: eine Theologie, die der biblischen und reformatorischen Aussage von der Offenbarung Gottes in Jesus Lhristus nichts abbricht und sie so realistisch versteht, wie sie verstanden sein will, und eine Nähe zum wirklichen Leben, die die Dinge dieser Welt bis zum letzten ernst zu nehmen entschlossen ist. heute kann uns weder eine Ethik förderlich sein, die an theologischer Strenge hinter dem zurückbleibt, was in dem der Nirche geschenkten neuen Verständnis der reformatorischen Botschaft an religiöser Erkenntnis aufgebrochen ist, noch eine Ethik, die in einer abstrakten, unverbindlichen, uns der lebendigen Be­ ziehung zur Welt und der konkreten Verantwortung für das hier und Jetzt des geschichtlichen Lebens entftemdenden Rede von Gott stecken bleibt. Die Frage, ob es eine solche konkrete Theologie gibt, kann sich nur am Evangelium selbst entscheiden. Kontrete Theologie ist also nur als radikal­ realistische Theologie möglich. Aus der babylonischen Sprachverwirrung, die heute das religiöse Leben verwirrt und Zusammengehöriges auseinander-

VIII

Vorwort

reißt oder Fremdartiges miteinander vermengt, ist nur herauszukommen, wenn wir allerorten zu den (Quellen zurückkehren, von den Spezialftagen zu den Grundfragen, vom Begriff zur Sache, vom Wort zum Leben, von der Gottesidee zur Offenbarung, von der theologischen Reflexion zum Glauben, von der Frömmigkeit zur Wirklichkeit Gottes, vom geschichtlich gewordenen Christentum zum Evangelium. Solche radikal realistische Hinwendung zur Sache läßt schließlich deutlich werden, daß die Grundfragen des Ethos sich heute nur von einer entschieden kritischen Theologie aus lösen lassen, Daß Glaube und Erkennen, Gott­ erleben und Welthandeln irgendwie zusammengehören, ist heute beinahe Gemeinplatz geworden. Die Hinwendung aus das Evangelium zwingt hier zu den schärfsten Unterscheidungen. Sie enthüllt die Vieldeutigkeit und Irrtumsfähigkeit des Glaubenslebens,- sie läßt erkennen, daß die Unterscheidung zwischem „rechtem" und „unrechtem" Glauben, die das reformatorische handeln Luthers in so entscheidender Weise bestimmt hat, nicht von außen an das Glaubensleben herangetragen ist, sondern einfach zum Wesen der Sache gehört — so gut wie die Unterscheidung von richtig und falsch zum Denken. So drängt sich die Erkenntnis auf, daß die Glaubensftage immer nur von der Gottesfrage aus beantwortet werden kann. Erst die Frage nach dem „rechten" Gott kann auch dem sittlichen handeln ein unerschütterliches Funda­ ment geben. Solche konkrete, radikal-realistische und kritische Theologie wird immer auch kirchlich und völkisch ausgerichtet sein. Sie weiß, daß Uirche und Volk Grundftagen sind, die untrennbar aufeinander Hinweisen. Ruch hier kann das heil weder in einer abstrakten Trennung noch in einer unterschiedslosen Vermengung der Gebiete liegen. Ruch hier gilt es, von den Tagesparolen zur Sache vorzudringen. Es geht auch hier um die Frage der richtigen, dem Wesen der Dinge entsprechenden Verbindung. handelt es sich so in einer evangelischen Ethik heute um ein tief in die Grundftagen unserer religiösen, kirchlichen und völkischen Existenz eingreifendes Problem, so ist klar, daß ein Buch wie das vorliegende keine der in Betracht kommenden Fragen erschöpfen kann. Es konnte sich nur darum handeln, die weit auseinanderliegenden Probleme unter einheitlichen, sich aus dem Wesen der Sache ergebenden Gesichtspunkten zusammenzuschauen und diese dann an den Einzelftagen zu überprüfen und beispielhaft zu erläutern. Rn der Möglichkeit solcher, durch allen Spezialismus hindurchstoßenden und doch zugleich allen Dilettantismus austreibenden Zusammenschau hängt die Lösung des Problems einer evangelischen Ethik der Gegenwart. Ihr mußte deshalb in einer über den Sinn des Ganzen Aufschluß gebenden, aller Konkretisierung an Einzelftagen vorausgehenden Grundlegung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Rur so konnte deutlich werden, daß es nicht die Ausgabe des Ethikers sein kann, in Sachftagen hineinzureden, für die nur der Spezial­ kenner zuständig ist, sondern daß seine Aufgabe nur darin bestehen kann, den in der Sache selbst liegenden Zusammenhang aller Einzelftagen mit den letzten Grundftagen der menschlichen Existenz aufzudecken und das menschliche handeln von daher zu befruchten.

Vorwort

IX

Der Bestimmung des Töpelmannschen Grundrisses entsprechend ist das Buch zunächst für den Studenten der Theologie gedacht, der in den Zwiespalt zwischen Kirche und Welt, zwischen Glauben und wissen, zwischen Religiosität und christlicher Offenbarung mitten hineingestellt und für den es einfach eine Lebensfrage ist, sich darin zurecht zu finden und die innere Unerschütter­ lichkeit und Freudigkeit zu gewinnen, ohne die er seinen Beruf nicht misfüllen kann. Eben dieser Bestimmung wegen war sich der Verlag darüber klar, daß die im Zähre 1922 erschienene Ethik von Emil Walter Mager, die in sehr verdienstvoller weise auf die innere Lage der Nachkriegszeit einging, durch ein ganz neues Buch erseht werden mutzte. Noch deutlicher kann der Fragenkreis, den das vorliegende Buch umschreibt, charakterisiert werden, wenn ich sage, datz es in erster Linie dem Pfarrer eine Grundorientierung für alle die unausweichlichen sittlichen Fragen geben möchte, die sich ihm in predigt, Seelsorge und Unterricht aufdrängen, heute geht es in der kirchlichen Verkündigung in entscheidender weise um die Frage der richtigen Übersetzung. Auch hier gibt es richtig und falsch. Es gibt eine pädagogische Anpassung, die im Grunde Betrug ist, weil sie die Substanz der Verkündigung preisgibt. Es gibt aber auch eine theologische Korrektheit, die im Grunde eine Art pharisäischer Selbstgerechtigkeit und Werkgerechtigkeit darstellt, weil sie ohne Liebe ist. Der Sämann braucht eben beides: den richtigen Samen, den er „lauter und rein" weiterzugeben hat, und zubereiteten Boden, den aufnahmewillig zu machen er keine Mühe scheuen darf, hier Wahrheit und Liebe als die zwei Grundkräste des einen Evangeliums begreiflich und wirksam werden zu lassen — das ist die Aufgabe, der dieses Buch gern dienen möchte. Damit ist dann auch die Frage beantwortet, die während seiner Ent­ stehung vor allem aus der Universitätskirchengemeinde heraus nicht selten an mich gestellt worden ist: ob das Buch auch für Laien bestimmt sei. Sch kann mir kein für die Zurüstung des Pfarrers bestimmtes Such denken, das nicht auch dem Laien zugänglich wäre, wenn es gewitz ist, datz die Kirche einen neuen Pfarrerstand braucht, so ist ebenso sicher, datz sie nur gerettet werden wird, wenn wir uns wieder aus die Lehre vom allgemeinen Priestertum be­ sinnen. Zedenfalls darf ich sagen, datz ich während der ganzen Arbeit an diesem Buche mich im Zwiegespräch ebenso mit den Kirchengliedern, die den Glauben an die Kirche Christi trotz ihrer Knechtsgestalt auf Erden nie verloren haben, wie mit den Gottsuchern aller Lebenskreise gefühlt habe, denen der Zustand der sichtbaren Kirche Not macht und die um deswillen an Kirche und Christentum irre zu werden drohen oder irre geworden sind. Evangelische Ethik in unserer Zeit kann keine Spezialwissenschaft sein, die sich nur an den theologisch interessierten Fachverstand wendet. Sie kann die Hilfe, die von ihr erwartet werden mutz, nur bieten, wenn sie sich mitten in alle Fragen hinein­ stellt und rückhaltlos an allen Nöten teilnimmt, die unser heutiges Leben bestimmen. Und weil es sich hier um eine solche Fülle von Fragen handelt, die der Einzelne gar nicht überschauen und ausschöpfen kann, deshalb bedarf es der Mitarbeit aller. Nur wenn der kirchliche Laie, nur wenn der Sachkenner aller Gebiete sich für eine sittliche Erneuerung aus dem Evangelium heraus

X

Vorwort

mit verantwortlich fühlt, kann es zu einer neuen Entfaltung der unerschöpf­ lichen sittlichen Lebenskräfte kommen, die im Evangelium enthalten sind. In dieser Gewißheit hat mich nicht zuletzt auch die mannigfache Förderung bestärkt, die ich selber, der ich in einer großen Zamilie der einzige Theologe bin, dem Umgang mit Laien und insbesondere der Besprechung der Haupt­ fragen des zweiten Teiles mit Zachwissenschaftlern verdanke. Insbesondere fühle ich mich in dieser Beziehung den Herren Prof. Hans Gerber und Prof. Lutz Richter von der Universität Leipzig und Prof. Erich Egner von der Uni­ versität Frankfurt verpflichtet, von theologischen Kollegen habe ich besonders den Professoren horst Stephan und Heinrich Zrick für das fördernde Interesse zu danken, das sie dieser Arbeit entgegengebracht haben. Dem Verlag danke ich für alles Verständnis, das er für die besonderen Entstehungsbedingungen dieses Buches gehabt hat, Herrn Dr. Alfred Töpelmann außerdem für das Mtlesen der Korrektur. Es mag nicht unerwähnt bleiben, daß das ursprüngliche Manuskript mit Rücksicht auf den Umfang des Buches um etwa 200 Seiten gekürzt worden ist, von denen etwa ein Drittel der historischen Erläuterung des Problems gewidmet waren. Ich habe mich nicht entschließen können, was dort versucht war, den Zusammenhang von Ähos und Glaube an den ethischen hauptsgstemen zu erläutern, auf den engen Raum zusammenzudrängen, der dafür allein zur Verfügung gestanden hätte. Bloße historische Notizen schienen mir nur eine neue stoffliche Belastung des Lesers darzustellen und den Überblick über das Ganze zu erschweren, ohne doch ein lebendiges Verhältnis zur Geschichte der Ethik begründen zu können. Die literarischen Arbeitshilfen, die sich mir erprobt haben, sind in Literaturübersichten den einzelnen Kapiteln voran­ gestellt. Wem über der Arbeit die Zrage, um die es in diesem Buche geht, immer größer geworden ist — wie anders könnte der die Zeder aus der Hand legen als in dem Bewußtsein: „Ich unnützer Knecht ..Ich würde mich am schönsten belohnt finden, wenn sich durch das hier in aller Unzulänglichkeit Gebotene hie und da einer dem Anruf öffnen ließe, der mir über der Arbeit immer beunruhigender geworden ist: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!".

Leipzig, herbst 1936.

kllfrecl Dedo Müller

Inhalt Seite

Einleitung.......................................•.....................................................................

1. Kapitel: Vie Aufgabe der Ethik heute........................................................ 2. Kapitel: Vie Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Grundlegung

1

1 11

Erstes Bud): Grundlegung

Erster Hauptteil: Das Wesensgefüge des Sittlichen 3. Kapitel: Ethos und Glaube ...................................................................... I. Teil: Natürliche Theologie als Tatsache und Problem

23 26

4. Kapitel: Der Lebenssinn (Cxistenüalsinn) dersittlichen Forderung.. 26 5. Kapitel: verwirklichkeitscharakter der sittlichen Forderung................ 29 6. Kapitel: Der Unbedingtheitscharakter der sittlichen Forderung. Gott als Gesetzgeber...................... 31

II. Teil:

Natürliche

Anthropologie ............................................

37

7. Kapitel: Der Glaubenscharakter der sittlichen Forderung ................... 8. Kapitel: Das Freiheitsproblem ................................................................ 9. Kapitel: Das Gewissen ............................................................................... 1. Das Problem ................................................... 2. Die Phänomenologie des Gewissens .......................................... a) Das Gewissen als Ruf ........................................................ b) Der Rufer im Gewissensappell ........................................

37 44 49 49 52 52 54

III. Teil: Natürliche Kosmologie ................................................

59

10. Kapitel: Die welthaftigkeit der sittlichen Tat ......................................... 11. Kapitel: Das Problem der Wertethik ...................................................... 12. Kapitel: Zusammenfassung .......................................................................

59 67 71

Zweiter Hauptteil: Die christliche Grundlegung der Sittenlehre 13. Kapitel: Der Sinn der Wendung zum Christentum. Radikale Theologie

74

Offenbarung Gottes ..............................................

79

14. Kapitel: Die Jenseitigkeit Gottes. Die Heiligkeit Gottes. Der Sinn der Rechtfertigungslehre................................................................. 15. Kapitel: Gott als Schöpfer, Gesetzgeber und Erlöser...........................

79 88

I. Teil:

Die

XII

Inhalt Seite

II. Teil: 16. 17. 18. 19.

Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel:

Christliche

Anthropologie ............................................ 108

Gott und Mensch: Schöpfung, Sündenfall, Erlösung.... 108 Oer Glaube. Die Beziehung des Menschen zu Gott.... 117 Die Liebe. Die Beziehung des Menschen zum Menschen.. 126 Die Hoffnung. Die Beziehung des Menschen zur Welt .... 135

III. Teil:

Christliche

Kosmologie ................................................ 142

20. Kapitel: Die dogmatischen Grundaussagen und die Notwendigkeit und Möglichkeit ihrer Konkretisierung ........................................................ 21. Kapitel: Die Welt als Ort, als Gefäß, als Tempel. Die Welt als Gleichnis 22. Kapitel: Der ethische Ertrag der theologischen Weltschau. Das Derwirklichungsproblem. Das Wertproblem .......................................... 1. Das Derrvirklichungsproblem.......................................................... 2. Das Wertproblem ...........................................................................

142 149 156 156 160

Zweites Such: Verwirklichung

Erster Hauptteil: Die Gottbeziehung als Problem der sittlichen Verantwortung. Die Pflichten gegen Gott 23. Kapitel: Gottesdienst als moralisches Problem...................................... 166 24. Kapitel: Der evangelische Sinn des Gottesdienstes.................................. 171 25. Kapitel: Die Mannigfaltigkeit der geistlichen Übung............................. 180

Zweiter Hauptteil: vieSelbstgestaltung(Jndividualethik) I. Teil:

Grundlegung ......................................................................... 191

26. Kapitel: Die Persönlichkeitsidee. Krisis und Erneuerung..................... 191 27. Kapitel: Der christliche Sinn der Humanität. Idee undGestalt.......... 202

II. Teil: Die Tugenden der Selbstmächtigkeit..................... 207 28. Kapitel: Weisheit, Ehrliebe, Ganzheitswille ................................. 1. Die Weisheit ................................................................................... 2. Die Lhrliebe...................................................................................... 3. Der Ganzheitswille .........................................................................

207 207 210 215

Dritter Hauptteil.- Die Gemeinschaftsgestaltung (Ge­ meinschaftsethik) I. Teil: Die Tugenden der Gemeinschaftsmächtigkeit ... 223 29. Kapitel: Wahrhaftigkeit, Treue, Dersöhnlichkeit, Gerechtigkeit ........... 1. Personalethik und Gemeinschaftsethik .................................... 2. Wahrhaftigkeit .................................................................................. 3. Treue.................................................................................................. 4. Dersöhnlichkeit.................................................................................... 5. Gerechtigkeit ......................................................................................

223 223 225 232 234 237

Inhalt

XIII Seite

II. Teil: Die Formen des Gemeinschaftslebens ................. 246 30. Kapitel: Die Möglichkeit einer theologischen Soziologie.

31. 32. 33.

34.

Der Beruf.. 246

I. Die Familie............................................................................... Kapitel: Die Krisis der The........................................................................ Kapitel: Der christliche Sinn der The ...................................................... Kapitel: Die wirkliche The ......................................................................... 1. Das Gesetz in der The. Die rechtliche Gestalt der Che................. a) Das Gesetz vor der Ehe............................................................ b) Die rechtliche Eheschließung.................................................. c) Die Ehescheidung.................................................................... d) Die Stellung des unehelichen Kindes ............................... e) Das moralische Gesetz in der Ehe...................................... 2. Die Ehe als erbbiologisches Problem. Die biologische Gestalt der Ehe ........................................................................................... 3. Die Ehe als erotisches Problem. Die erotische Gestalt der Ehe . 4. Die Frau und die Ehe................................................................... Kapitel: Die Freundschaft .........................................................................

253 253 258 268 269 269 271 274 277 278 280 293 305 310

II. Dolk, Staat, Reich .............................................................. 313 35. Kapitel: Das Dolk als Gottesordnung .................................................... 1. Methodische Doraussehungen........................................................ 2. Die Realitäten ................................................................................. a) Das Dolk als Sprachgemeinschaft ...................................... b) Das Dolk als Blutsgemeinschaft............................................ c) Das Dolk als Raumgemeinschaft............................................ d) Das Dolk als Geschichtsgemeinschaft.................................... e) Das Dolk als Gestalteinheit.................................................. 3. Die theologische Sicht ..................................................................

313 313 314 314 315 316 318 319 320

36. Kapitel: Staat und Reich als Gottesordnungen................................... 1. Die Notwendigkeit einer neuen Besinnung ............................... 2. Staat und Mensch ........................................................................ 3. Staat und Dolk ............................................................................. 4. Staat und Recht ........................................................................... 5. Staat und Reich ............................................................................

333 333 335 342 348 360

37. Kapitel: Der Krieg als theologisches Problem....................................... 1. Der Krieg als menschlich-politische Wirklichkeit ...................... 2. Der Sinn des Krieges ............................................................... 3. Die sittliche Derantwortung..........................................................

365 366 367 370

vierter Hauptteil: Vie Oingrveltgestaltung I. Teil: Die Tugenden der Dingmächtigkeit......................... 375 38. Kapitel: Ehrfurcht, Tapferkeit, Geduld .................................................... 1. Die Ehrfurcht.................................................................................... 2. Die Tapferkeit ............................................................................... 3. Die Geduld ....................................................................................

375 376 379 382

Inhalt

XIV

Seite

II. Teil: Wirtschaftsethik ................................................................. 384

39. Kapitel: Das Wesen der Wirtschaft......................................................... 1. Die geschichtliche Lage ................................................................. 2. Die Grundtatsachen ..................................................................... 3. Theologische Wirklichkeitsschau ................................................... 40. Kapitel: Wirtschaftsgestaltung ................................................................. 1. Der Mensch in der Wirtschaft................................................... a) Sedarfsgestaltung................................................................... b) Die Arbeit............................................................................... 2. Boden und Wirtschaftsgestaltung ............................................. 3. Die Wirtschaftsordnung ....................... III. Teil:

384 384 388 390 396 397 397 400 407 413

Die Kunst.......................................................................... 419

41. Kapitel: Die Kunst als Glaubensproblem......................

419

fünfter Hauptteil: Die Verwirklichung (Leibwerdung) der Rirche als sittliches Grundproblem 42. Kapitel: Die Eigenständigkeit der Kirche................................................. 43. Kapitel: Die Derantwortung der Kirche für die Welt............................. 1. Kirche und Staat ....................................................................... 2. Kirche und Dolk ........................................................................... 3. Kirche und Kirchen ..................................................................... 4. Ecclesia crucis .......................... 44. Kapitel: Schluß ............................................................................................

428 440 440 446 450 454 455

Personenverzeichnis.............................................................................................. 458 Sachverzeichnis ..................................................................................................... 463

Einleitung

1

Einleitung 1. Kapitel

Die Hufgabe der Ethik heuteT) Eine theologische Ethik entspricht heute zweifellos einem in weiten Kreisen empfundenen und vielfach aus tiefer innerer Not ausbrechenden Bedürfnis. Theologen, treue Glieder der Kirche und an der Kirche, ja am Christentum irre Gewordene sind von ihm in gleicher Unmittelbarkeit bewegt2). Es liegt darin das verlangen, das Christentum möchte jenseits aller lehrhaften Aussage und aller theologischen Problematik seine Lebenskräfte praktisch entfalten und einströmen lassen in das Geschehen der Zeit. Es läßt sich ja doch nicht mehr übersehen, daß der Kreis von Menschen, der den Sinn der christlichen Lehre noch ohne weiteres versteht, jedenfalls auf protestantischer Seite allzu klein geworden ist, um noch das Ganze des völkischen Lebens zu erreichen und zu durchdringen. Es gibt ganze Lebenskreise, die der direkten dogmatischen An­ rede völlig verständnislos gegenüberstehen. Man vergegenwärtige sich, in welcher Versammlung von Gelehrten, Erziehern, Industriellen, Kaufleuten, Arbeitern, in welchem Arbeitslager, in welcher SA-Kameradschaft, in welchem Studentenschulungslager, in welcher Hitlerjugend-, Jungvolk- oder BDMGruppe sie ohne weiteres möglich wäre! Dabei handelt es sich keineswegs schon überall um bewußten Bruch mit dem Christentum. Es ist vielfach eine verborgene, verschämte und oft seltsam verbitterte und verkrampfte Sehnsucht danach da, aber man versteht die abstrakt lehrhafte Rede nicht mehr. Die einfachsten Begriffe wie der Zundamentalbegriff „Gott" sind in ihrem christ­ lichen Sinn völlig undeutlich geworden — von anderen, wie Dreieinigkeit, Erbsünde, Auferstehung, Rechtfertigung, ganz zu schweigen. Da drängt sich denn die Empfindung auf, wie befreiend und klärend es wirken müßte, wenn

x) Bohr: Atomtheorie und Naturbeschreibung, 1932. — Hugo Dingler: Zusam­ menbruch der Wissenschaft, 1926. — Eberhard Grisebach: Gegenwart. Eine kritische Ethik, 1928. — I. w. Hauer: Unser Kampf um einen freien deutschen Glauben, 1933.— Ders.: Grundlinien einer deutschen Glaubensunterweisung, 1934. — Werner Heisen­ berg: „Wandlungen der exakten Naturwissenschaft in jüngster Zeit" in „Die medizi­ nische Welt", 1934, Nr. 46. — Ders.: Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung in den Berichten der math.-phgsikal. Klasse der Sachs. Akademie der Wissenschaften LXXXV. B6. 1932. — Ders.: „Atonüheorie und Naturerkenntnis" in Mitteilung des Universitätsbundes Göttingen, heft 1, 1934. — Adolf Hitler: Die Reden als Kanzler, 1934. — Nietzsche: Zarathustra. — Ders.: Wille zur Macht. — herm. Schwarz: Christentum, Nationalsozialismus und Deutsche Glaubensbewegung. 1934. 2) Es sei etwa an die Neugeist-Bewegung mit ihrem Ringen um ein Christen­ tum der Tat erinnert, sa 4: Müller, Ethik.

es jetzt gelänge, das Christentum aus dem (Element der Rede in das der Tat zu übersetzen. Denn das peinliche Befremden, das weithin der direkten reli­ giösen Rede im Wege steht, kommt vielfach aus enttäuschter Sehnsucht nach einem am liebsten wortlosen Christentum der Tat. So fragwürdig die dogmatischen Anschauungen anmuten mögen, die Geneigtheit, sich vom sitt­ lichen Geiste des Christentums anrühren zu lassen, ist noch groß genug, um die ganze Dringlichkeit der hier vorliegenden Aufgaben zum Bewußtsein zu bringen. Bei näherem Zusehen sind nun aber die Schwierigkeiten, die sich einer theologischen Cthik entgegenstellen, denn doch überaus groß. Insbeson­ dere spricht dabei der Umstand mit, daß Ethik doch nur wieder Theorie der Tat sein kann und jede bloß theoretische (Erörterung religiöser Kragen sofort mit dem verdacht zu rechnen hat, es liege hier nur eben wieder ein versuch vor, sich dem Ruf der Stunde zu entziehen. Diese Lage zwingt den Cthiker mehr denn je zu voller Klarheit über den Augenblick, in dem er seine Arbeit unternimmt, und zu uneingeschränkter Verantwortung gegenüber der lebendigen Geschichte, in der er steht. 1. Kür die innere Lage, in der die Gegenwart dem Christentum gegenüber­ steht, sind vier Wächte bestimmend: Politik, Wissenschaft, Lebensgefühl und Religion. Entscheidend ist offenbar die Politik. Sie steht ganz imZentrum des Zeitgeschehens, hier fallen offenbar „die geschichtlichen Entscheidungen", hier „erfüllen sich die Schicksale", hier sind die stärksten (Energien gebunden1). In der Politik sieht sich der christliche Ethiker einer tiefgreifenden Schicksalswende gegenüber, die glückverheißend ist und ihm seine Aufgabe in vieler Hinsicht zwei­ fellos außerordentlich erleichtert. Die nationale Revolution hat mit einem Schlage dem freidenkerisch-marxistischen Widerspruch gegen das Christentum innerhalb des deutschen Lebensraumes jede Möglichkeit öffentlicher Aus­ sprache und Wirksamkeit genommen. Damit eröffnen sich ohne Zweifel große neue Möglichkeiten. Die breiten Massen, die es bisher sozusagen für Standes­ pflicht hielten, sich jeder kirchlichen Beeinflussung zu entziehen, sind grund­ sätzlich wieder in den Arbeitsbereich der Kirche getreten. Mächtig wirkende Hindernisse sind aus dem Wege geräumt. Der einzelne ist der Umklammerung durch eine Ideologie entzogen, die ihm das Christentum bestenfalls als eine höchst belanglose, weil unaufhaltsam absterbende Privatangelegenheit er­ scheinen lassen mußte, wenn er sich nicht wie im bolschewistischen Rußland zu haßerfüllter Abwehr veranlaßt sah. Statt dessen ist nun eine öffentliche Ordnung aufgerichtet, die, wie immer wieder erklärt worden ist, als die Vor­ aussetzung „für eine wirklich tiefe Einkehr religiösen Lebens" verstanden sein will. „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Kaktoren zur Erhaltung unseres Volkstums"2). Das ist in der Tat eine durchgreifend neue Lage. Und man sollte meinen, daß von hier aus gesehen christliche Sittenlehre als eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit allgemein empfunden werden könnte. 9 Ernst Krieck, Nationalpolitische Erziehung 1932, S. 10. 2) Adolf Hitler 23. 3.1933, Die Reden als Kanzler 21934, 5. 19.

(Einleitung

3

Nun entstehen aber gerade aus dieser Gunst der Lage ganz eigentümliche neue innere Schwierigkeiten. Sie liegen weniger in aufweisbaren Theorien als in einer Grundstimmung. $üt das Empfinden weitester Volkskreise hat der junge Staat selbst die Aufgaben übernommen, die einer christlichen Ethik Zufällen könn­ ten. Vieser Eindruck ist durchaus verständlich. Ethik ist Antwort auf die Frage: „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?"T). Bedarf es dazu heute noch theologisch-kirchlicher Theorie? Der neue Staat und die ihn tragende Bewegung haben ihre unbeschränkten Machtmittel mit mächtigem Schwung an eine Reihe von Aufgaben gesetzt, die in der Tat, recht verstanden, eine Nonsequenz der christlichen weltaufsassung darstellen. Es braucht nur an die dem allgemeinen Bewußtsein einprägsamsten Leistungen wie Arbeitsbeschaffung, Winterhilfs­ werk, die Arbeit der NS-volkswohlfahrt, an „Nraft durch Freude", an das Rin­ gen um Schönheit der Arbeit, an die versittlichung der Ninos und Theater erinnert zu werden — das sind in der Tat alles Aufgaben, denen jeder Ehrist sich im tiefsten verpflichtet wissen mutz. Ist hier der Staat nun in ethischer Be­ ziehung nicht einfach an die Stelle der gründlich versagenden Nirche getreten? Macht sein kräftiges Zupacken nicht mindestens alle theologische Umständlichkeit auf ethischem Gebiet überflüssig? Ist sie nicht gerade daran schuld, daß die Nirche den bedrängendsten Zeitnöten, wie Weltkrieg und Arbeitslosigkeit gegen­ über nur Worte und bestenfalls guten willen gehabt hat, ohne zur Tat zu ge­ langen? Nun hat der Staat geleistet, was sie nicht zustande gebracht hat. Er hat das Wunder der v erwirkli ch un g vollbracht. Er hat das Wort Tat werden lassen. Sollte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß das heil „weder von einer Nirche noch von irgendeinem wirtschaftlichen, parteilichen oder klassenmäßigen partikularismus" kommen wird, „sondern vom volksganzen und seiner Ge­ samtform, dem Staat" *2) und daß Theologie und Nirche überhaupt gut tun, etwa im Sinne Richard Rothes, die Sphäre des handelns ganz dem Staat zu überlassen und sich aus das „rein Religiöse" zurückzuziehen?

2. Ist es von der Seite der Politik das Verwirklichungsproblem, das sich mit einer eigentümlich bedrohlichen Wucht dem Unternehmen einer theo­ logischen Ethik Beachtung heischend in den weg stellt, so erzwingt sich die Wissenschaft trotz aller Minderung ihres Ansehens in der Gegenwart die Aufmerksamkeit des theologischen Ethikers noch immer durch die Eindring­ lichkeit, mit der sie die Frage der Wirklichkeit stellt. Es handelt sich hier um die wie ein Alb auf der Weltwirkung des Christentums liegende Funda­ mentaltatsache, daß seit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltan­ schauung der Wirklichkeitsbegriff der abendländischen Welt nicht mehr von der Bibel, sondern, vielfach in ausdrücklichem Gegensatz zu ihr, von der Wissen­ schaft der letzten Jahrhunderte geprägt ist. Vie Einzelheiten der hier vorliegen­ den weltanschaulichen Problematik brauchen uns in diesem Zusammenhang nicht zu beschäftigen, wir haben uns nur das ganze Gewicht der Tatsache klar­ zumachen, daß seit dem Sturz des ptolemäischen Weltsystems durch Nopernikus die Wissenschaft immer ausschließlicher die Instanz wurde, die die Entscheidung 2) Apostelgeschichte 2, 37. 2) Ernst Nrieck, völkischer Gesamtstaat und nationale Erziehung, 1932, S. 11. 1*

4

Einleitung

über die Frage fällte, was wirklich und was unwirklich sei. welche Bedeutung das für den handelnden Menschen hatte, leuchtet ohne weiteres ein. Der handelnde steht in der wirklichen Welt. Er hat es, gewollt oder ungewollt, ständig mit der Frage zu tun, ob etwas möglich oder unmöglich fei; dazu mutz er zwischen wirklich und unwirklich genau unterscheiden können. Jede Ver­ kennung der Wirklichkeit mutz sein handeln zum Scheitern verurteilen. Es fragt sich, wer hier die unerlätzlichen Aufschlüsse geben soll. Da ist nun kein Zweifel, datz heute kein handelnder auf den Gedanken kommt, sie sich von der Bibel geben zu lassen. Er wird sich im Zweifelssall an die Wissenschaft wenden. So werden der Bauer, der Kaufmann, der Arbeiter, der Wirtschaftzführer, der Politiker, der Sportsmann, der Luftschiffer, der Bergsteiger, der weltreisende verfahren. Das ist so, seit die Entdeckung Amerikas und die erste Weltumsege­ lung für alle Zeiten den Glauben zerstört haben, datz die Welt eine Scheibe sei, seit Kopernikus durch sein Lebenswerk De revolutionibus orbium coelestium eine „Revolution der Denkart" (Kant) begründete, seit Giordano Bruno, Kepler, Galilei, Newton und die ganze mathematisch bestimmte neuere Naturwissen­ schaft und Philosophie einschlietzlich ihrer technischen Konsequenzen das neue Weltbild in unzähligen Erprobungen verdeutlicht und gegen alle Zweifel und widerstände theoretisch und praktisch in einer Weltrevolution von un­ geheurem Ausmatz durchgesetzt haben. Das Problem aber, das hier für den theologischen Ethiker vorliegt, be­ steht in dem Spannungsverhältnis, in dem dieses Wirklichkeitsdenken mit mehr oder weniger deutlichem Bewuhtsein zum Wirklichkeitsbild der Bibel steht. Man braucht hier wirklich nicht nur an die groben Abgrenzungen der landläufigen Freidenkerei zu denken. Man denke an die wissenschaftliche Ethik der letzten Jahrhunderte. Man denke an die Montaigne, Bacon, Machiavelli, Grotius, hobbes, Locke, Shastesburg, hume, Smith, Spinoza, Rousseau, die Idealisten und Positivisten des 19. Jahrhunderts, man denke an Leibniz, Herder, Kant, Schiller, Fichte, Hegel, Schopenhauer, Comte, Mill, Darwin, Spencer, Feuerbach, Marx, bis etwa zu wundt und mache sich die entscheidende Rolle klar, die im Denken dieser Männer das neue Weltbild für die Begründung des Sittlichen spielte und was neben dem erdrückenden Gewicht eines ganz auf sich gestellten Wirklichkeitsdenkens die Bibel noch bedeuten konnte — und man wird begreifen, datz hier das Christentum aufgehört hat, für das sittliche Be­ wußtsein noch die schlechthin begründende Macht zu sein — wie denn folge­ richtig etwa in der „Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft" von Friedrich Zodl anschaulich genug „die christliche Ethik" unter reichlich 1000 Sei­ ten aus 55 Seiten abgehandelt wird. An dieser Lage ändert auch die tiefgreifende Krisis der Wissenschaft nichts; sie hat das Verhältnis der Wissenschaft zum Leben, nicht aber zur Theologie verschoben. Gewitz hat das Aufbrechen des Lebensproblems zu einem „Zu­ sammenbruch der Wissenschaft" geführt — wenn man Wissenschaft im Sinne des Positivismus verstehtx). Wilhelm Diltheg hatte gesehen: „Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben". Ernst Troeltsch sah in *) vgl. das gleichnamige Buch von Hugo Dingler.

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entsprechender weise alle Geschichte auf kämpfende Gläubigkeit gegründet. Hugo Vingler sieht, daß „jede Philosophie überhaupt letzten Endes ein Vo­ luntarismus" ist1). Vas bedeutet gewiß tiefgreifende Wandlungen des Er­ kenntnisbegriffes und der Aufgabenbestimmung. Aber man hüte sich, davon zu rasch eine Hinwendung des Geisteslebens zum Lhristentum zu erwarten. Es ist vielmehr jetzt schon deutlich, daß die Wissenschaft von daher nicht nur eine Erschwerung und Vertiefung ihrer Aufgabe, sondern schließlich auch ein neues Selbstbewußtsein gewinnen wird, wie die „Grenzen der naturwissen­ schaftlichen Begriffsbildung"2) eingesehen sind, so sind, wie allerorten zu beobachten ist, die metaphysischen Probleme mit einem ganz neuen Nachdruck in den Bereich des wissenschaftlichen Nachdenkens getreten. Und zwar in einer weise, die die Lage der Theologie mindestens zunächst zweifellos nicht er­ leichtern, sondern weiter erschweren wird. Vie Wissenschaft ist auf dem besten Wege, neuen Glauben zu finden, wenn sie versichert, daß Lebensfremdheit: nicht zu ihrem Wesen gehöre, daß sie vielmehr durchaus in der Lage sei, all die Zragen in den Bereich ihrer Zorschung auszunehmen, deren Vernachlässi­ gung man ihr so laut vorwars. Wan braucht nun nicht mehr Theologe zu sein, um an die letzten Zragen heranzukommen. So kann denn etwa von der heideggerschen Existenzphilosophie auf das Bewußtsein des Gebildeten, ganz un­ abhängig davon, wie sie ursprünglich gemeint ist, durchaus die Wirkung aus­ gehen, daß hier nun endlich Aufschluß über all die Zragen zu finden sei, deren Beantwortung die Philosophie jedenfalls in der Zeit ihres Absinkens nach Hegel zu ihrem eigenen Schaden der Theologie überlassen hatte. Gder wie sollte der kirchenftemde Leser, der sich hier über „die Weltlichkeit der Welt" oder „die Sorge als Sein des Daseins" oder „das Sein zum Tode" belehrt findet, nicht den Eindruck gewinnen, daß hier nun endlich alle wesentlichen theolo­ gischen Zragen in das philosophische Bewußsein ausgenommen und damit spezifisch theologische Erörterungen darüber überflüssig geworden seien! Dieses Zließendwerden der Grenzen zwischen Philosophie und Theologie ist es vornehmlich, das den theologischen Ethiker in zwingender weise vor die Zrage stellt, wie er denn dem vertieften Ernst der Wissenschaft standhalten könne, ohne seinen eigenen Standort zu verlieren. Und diese Zrage wird um so dringender, als auch die exakte Naturwissen­ schaft soeben im Begriff ist, aus dem Zusammenbruch gewisser Überspannungen des naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriffes eine Vertiefung ihres Wahr­ heilsbegriffes zu gewinnen — damit die Wahrheit bestätigend, daß demütig­ sachliche Anerkennung der eigenen Grenze noch immer zu neuer Lebensent­ faltung geführt hat. Besonders aufschlußreich sind hier die „Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaft", wie sie in der modernen phgsik durch die Relativität- und Quantentheorie hervorgerufen sind, hier ist eingesehen, daß es eine Grenzüberschreitung ist, wenn die Naturwissenschaft von ihren Beobachtungen aus ein Bild vom Ganzen der Wirklichkeit ent­ werfen will und daß „die Ausdehnung naturwissenschaftlicher Venfformen weit über ihren legitimen Anwendungsbereich hinaus" eine Bedrohung der V a. a. G. S. 72.

2) h. Rickert.

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Selbständigkeit der „im engern Sinn lebendigen Bereiche" des geistigen Lebens wie „der Religion und der Kunst" darstellt1). Es ist im Gegensatz zur Über­ zeugung der „klassischen Physik" anerkannt, daß es einen objektiven, „von jeder Beobachtung unabhängigen Ablauf von Ereignissen in Raum und Zeit" nicht gibt und daß Raum und Zeit nicht „feste, von einander völlig unabhängige Schemata alles Geschehens bilden", daß sie keine „objektive, allen Menschen gemeinsame Realität" darstellen2), daß vielmehr naturwissenschaftliche Beobachtungen ein unausscheidbares „historisches Element" enthalten, daß „die Beobachtung" „im allgemeinen das dahinterstehende physikalische Ge­ schehen" verändert3) und datz insbesondere „bei Beobachtung atomarer Phä­ nomene die Störung, die das beobachtete System durch den Akt der Beobach­ tung erfährt, nicht vernachlässigt werden darf"4). Es ist mit anderen Worten zwar ein in Jahrhunderten bewährtes Erkenntnisideal, „das Ziel der klassischphysikalischen Forschung, die Feststellung einer objektiven, von unserm Wahr­ nehmungsvermögen unabhängigen raum-zeitlichen Welt"5) zusammenge­ brochen. Aber es kann keine Rede davon sein, daß dies der Zusammenbruch der Naturwissenschaft sei. „Die modernen Theorien sind nicht aus revolu­ tionären Ideen entstanden, die sozusagen von autzenher in die exakten Natur­ wissenschaften hereingebracht wurden- sie sind der Forschung vielmehr bei dem versuch, das Problem der klassischen Physik konsequent zu Ende zu führen, durch die Natur aufgezwungen worden"6). Die naturwissenschaftliche Forschung sieht sich hier also nur vor gewisse Konsequenzen und Dollstreckungen ihres eigenen Tuns gestellt. So läßt sich auch voraussehen, datz die Wissenschaft aus allen gegenwärtigen Erschütterungen schließlich mit neuer Zuversicht und mit neuem Pathos hervorgehen wird. Sie weiß, „datz es neben der strengen de­ terministischen Gesetzlichkeit der klassischen Physik noch ganz andersartige Gesetzesschemata gibt, die nicht weniger streng durchgeführt werden können wie die ftüheren"7). Und es entspricht durchaus der hier gewonnenen Er­ neuerung und Dertiefung des Erkenntniswillens, datz eine so geläuterte Na­ turwissenschaft sich wieder von einem Sendungsbewutztsein für das Ganze des Lebens erfüllt weitz. „Don jeher hat die exakte Naturwissenschaft auf die andern Wissenschaften einen starken Einfluß dadurch ausgeübt, datz sie durch die Klarheit und widerspruchsfreiheil ihrer Begriffsbildung den Nachweis dafür erbrachte, datz ihre bestimmte Art des logischen Schlietzens zu einem in sich geschlossenen Wissenschaftsgebäude führen kann. Ihre besondere Kraft liegt ferner in dem Umstand, datz in der Naturwissenschaft niemals aus die Dauer Raum ist für reine Spekulation. vielmehr handelt es sich stets um die experimentelle Durchforschung bestimmter Erfahrungsbereiche und deren Reduktion auf einfache Gesetze. In der Naturwissenschaft gibt es daher aus die Dauer nur 'richtig' oder Malsch', für subjektive Deutung ist in ihr kein Raum. T) 2) 3) 4) 5) «) 7)

hei enberg in „Wandlungen . ..." S. 12. hei enberg, a. a. (D. S. 4. hei enberg, Atomtheorie und Naturerkenntnis S. 18. hei enberg, a. a. G. S. 14. Heisenberg, a. a. G. S. 12. heis enberg ' . in ’ „Wandlungen " . ..." S. 5. ~ • .. s. 19. Heisenberg, Atomtheorie

(Einleitung

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Aus diesen Gründen mag es dem Naturforscher nicht als Hochmut ausgelegt werden, wenn er es für möglich hält, daß die lebendige Umgestaltung, die seine Wissenschaft durch die (Erweiterung auf die Welt der Atome erfahren hat, auch übergreift auf andere Arbeitsgebiete des Geistes *)." hier steht die Frage, die heute von der Wissenschaft an die Theologie ergeht, in der ganzen würde ihrer Unausweichlichkeit vor uns. Vas Ansehen der Wissenschaft mag zurzeit geschmälert erscheinen. Aber die Wissenschaft wird der Grt bleiben, an dem für das allgemeine Bewußtsein die Wirklich­ keitsfrage am strengsten gestellt wird*2). Line Theologie, die sie durch all die Unruhe und Erregung einer neu entstehenden Welt hindurch nicht zu ver­ nehmen und nicht gerade auf sich zu beziehen vermöchte — müßte an ihr scheitern. Sie wäre nicht, wofür sie sich ausgäbe. Aber wird die Theologie bei all ihren dogmatischen Bindungen, mit der schweren Bürde einer fast 2000jährigen Tradition, bei ihrer Gebundenheit an die institutionelle Nirche — wird sie den ganz lebendigen Sinn der Frage nach „richtig" oder „falsch" in ihr eigenes Gewissen ausnehmen und so überzeugend auf ihre eigenen Fragen anzuwenden verstehen, daß sie das Ghr der Zeit findet? Das ist die Frage, an der sich das Gelingen einer theologischen (Ethik nicht zum wenigsten ent­ scheiden wird. 3. Der ganze Spannungsreichtum der gegenwärtigen Lage spricht sich nun aber darin aus, daß es nicht nur die Bereiche der Politik und der Wissen­ schaft sind, sondern daß es überhaupt „das Leben" ist, das Aufmerksamkeit heischend und zweifelnd sich dem Unternehmen einer theologischen Ethik gegen­ überstellt. Der Politik gegenüber könnte die Theologie — von außen gesehen — noch immer den versuch machen, sich auf ihre persönliche (Existenz zurückzu­ ziehen, wiewohl solcher versuch es heute schwer genug haben würde, sich zu rechtfertigen. Der Wissenschaft gegenüber könnte sie sich einfach, ohne ein Gespräch zu versuchen, auf ihren (vffenbarungscharakter berufen. Dem „Leben" gegenüber gibt es keine Flucht. Thristentum und Theologie ohne innere Beziehung zu Politik und Wissenschaft könnte man noch versucht sein, wenigstens für denkbar zu halten. Christentum und Theologie ohne Leben sind es nicht. Und „das Leben" steht heute weithin, wenn nicht gegen das Thristentum überhaupt, dann wenigstens gegen die Theologie, hier bricht der widerstand von draußen und von drinnen auf. Vie Unmittelbarkeit des Lebens haßt die Wissenschaft, sie haßt mit doppeltem Ingrimm ein verwissenschaftlichtes Christentum — mag es sich wie im 19. Jahrhundert historisieren oder wie in der Nachkriegszeit systematisieren. In diesem Sinn hat schon ein Nünder wie Johannes Müller das ganze Pathos der Unmittelbarkeit des Lebens gegen die Intellektualisierung des Christentums aufgeboten. Vas aber wirkte doch wohl auch, bei aller Verkehrtheit, die man sonst feststellen mag, in der Leidenschaft, mit der etwa die „Deutschen Christen" sich nach dem nationalen Umbruch gegen die dialektische Theologie und die Behauptung einer „Theolo*) Heisenberg, a. a. G. ... S. 19 f. 2) Bezeichnend für die in dieser Richtung liegende Vertiefung der wissenschaft­ lichen Fragestellung sind auch die Bücher des Zoologen F. Alverdes: Die Totalität des Lebendigen 1935 und: Leben als Sinnverwirklichung, 1936

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gischen Existenz" der Kirche wandten. Man must sich den ganzen Ingrimm klarmachen, mit dem der Dichter Paul Ernst alle aus der Abstraktheit des Den­ kens kommende Not — und es steht für ihn auch die Not eines aus Verzweif­ lung abgebrochenen Studiums der Theologie dahinter — in dem Wort „Ab­ ziehung" geißelt, um das Mißtrauen ganz ernst zu nehmen, das hier vom Leben her gegen alle abstrakte Theologie aufbricht, hier begegnet sich der Le­ bensaufbruch draußen mit dem Lebensaufbruch drinnen in dem tiefgewur­ zelten verdacht, daß sich der abstrakten wissenschaftlichen Rede nur bedienen könne, wer die brausende Melodie des Lebens nie vernommen und sich nie an ihrer alle Begriffe sprengenden Sülle, Süße und Unendlichkeit berauscht hat. Wissenschaft erscheint hier bestenfalls als auf Zlaschen gezogenes, abge­ standenes Leben, und man mag sie gelten lassen—wenn sie nur wenigstens das Leben der Gegenwart auf Zlaschen zieht. Theologie aber ist noch dazu nicht nur abgestandenes, „abgezogenes "Leben, sie ist auch noch abgestandene Wissenschaft — oder bindet sie sich in ihrem Dogma nicht an die Wissenschaft längst ab­ gelebter Jahrhunderte? Man kann die ganze Tiefe und Leidenschaft dieses Protestes noch immer am besten an Nietzsche ermessen, der dem Wort Leben den Goldglan; verliehen hat, mit dem es heute in die Gemüter strahlt. Man vergegenwärtige sich etwa das Tanzlied, mit dem er im „Zaruthustra" das Leben grüßt:

„In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben! Und ins Unergründliche schien ich mir da zu sinken. Aber du zogst mich mit goldener Angel herab,-

von Grund aus liebe ich nur das Leben — und am meisten dann, wenn ich es hasse! Daß ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an das Leben!" Es ist ein „Tanzlied", das hier auf das Leben gesungen wird, „als Cu­ pido und die Mädchen zusammen tanzten". Ein tänzerisches Verhältnis zum Leben voll dionysischer Beschwingtheit wird hier verkündet. Vie Konsequenzen, die Nietzsche daraus für die Wissenschaft zog, sind uns schon begegnet, als wir vom „Zusammenbruch der Wissenschaft" unter dem Ansturm des Lebens­ problems sprachen. Sie wollen hier ihrer Zolgen für die Beurteilung der Theologie wegen noch einmal ins Auge gefaßt sein. Vie Wissenschaft hat hier keinen Wert in sich,- sie ist nur so viel wert, als sie d em aufsteigenden Leben dient. Sie hat nicht mehr nach wahr und falsch zu fragen, sondern dem Leben zu dienen und den Willen zur Macht zu steigern. Vas ist ihre Wahrheit. „Der ganze Erkenntnisapparat ist ein Abstraktions­ und Simplifikationsapparat — nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge"1). „Der Wille zur Macht" wird so zu einer „Auslegung alles Geschehens". Wissenschaft kann hier jedenfalls nur vom Leben her Sinn und Bedeutung gewinnen. Der jeweils mächtigste Lebens­ antrieb wird sie in ihren Dienst zwingen. Aus dieser Grundauffassung heraus *) Der Wille zur Macht.

Krönersche Ausgabe Leipzig 1923 5.190.

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ist in unserer Zeit der Begriff einer „politischen Wissenschaft" entstanden. „Dös Zeitalter der 'reinen Vernunft', der 'voraussetzungslosen' und 'wert­ freien' Wissenschaft ist beendet"1). Nun wird „notwendig auch alle Wissen­ schaft, die sich aktiv an der Gesamtausgabe beteiligt, politische Wissenschaft und mitsamt der Politik rassisch, völkisch und nationalsozialistisch ausgerichtet"2). Der Wissenschaft fällt hier nur mehr die doppelte Aufgabe zu, einmal den die Zeit bewegenden Lebenskräften zu klarem Bewußtsein und Ausdruck zu ver­ helfen und dann technische Hilfe für ihre praktische Durchsetzung zu geben, keineswegs kann ihr hier dem Leben gegenüber das richterliche Amt der

Krisis zufallen. Das muß dann — das ist die andere Wirkung, die wir uns klarmachen wollen — bis in die Kragen der wissenschaftlichen Arbeitsökonomik und der praktischen Lebensgestaltung hinein seine Folgen haben. Jetzt wird zumal für den jungen Menschen alles auf lebendige Kühlung mit dem Leben ankommen. Ein ganz der Wahrheitsforschung gewidmetes Leben wird jetzt mehr und mehr zu einer unvollziehbaren Vorstellung. Das traditionelle Bild des sich ganz in seiner Aufgabe verbrauchenden Gelehrten verliert seinen Glanz und seine Anziehungskraft für die Gemüter. Sein Abstand vom Leben wird jetzt nicht mehr als die notwendige Voraussetzung für die Reinheit seiner Er­ kenntnisarbeit angesehen, sondern als Lebens- und Weltfremdheit für schlechter­ dings verwerflich gehalten. welch tiefgreifender Strukturwandel hier eingetreten ist, mag an einer Äußerung Zichtes deutlich werden, die um so bedeutsamer ist, als sie aus den Erschütterungen des Jahres 1806 heraus getan ist. Kichte — wahrlich kein blutleerer Intellektualist — entwirft hier, von der Krage der Errettung Deutsch­ lands aufgewühlt, das Bild des Gelehrten: „Dem Gelehrten muß die Wissen­ schaft nicht Mittel für irgendeinen Zweck, sondern sie muß ihm selbst Zweck werden,- er wird einst als vollendeter Gelehrter, in welcher weise er auch künftig seine wissenschaftliche Bildung im Leben anwende, in jedem Kall allein in der Idee die Wurzel seines Lebens haben, und nur von ihr aus die Wirklichkeit erblicken, und nach ihr sie gestalten und fügen, keineswegs aber zugeben, daß die Idee nach der Wirklichkeit sich füge, und er kann nicht zu ftüh in dieses sein eigentümliches Element sich hineinleben und das widerwärtige Element abstoßen" 3). wird so klar, wie tief unter allen Umständen das innere Verhältnis zur Wissenschaft gewandelt ist, so hat kein Wissenschaftsgebiet so schwer an der Last dieses Wandels zu tragen wie die Theologie. Nun rächt es sich, daß sie in den letzten Jahrhunderten — gewiß aus zwingenden Gründen! — alles an ihre wissenschaftliche Existenz gesetzt hat. Nun wird sie als Wissenschaft verstanden — auch da, wo sie Leben ist. 4. Schließlich muß noch auf die letzte Erschwerung unserer Aufgabe hin­ gewiesen werden, die in der religiösen Lage liegt. Da ist nun zunächst zu sagen, daß wir in einer Zeit religiösen Erwachens x) Ernst Nrieck, Nationalpolitische Erziehung, 31932 S. 1. 2) Ebenda 5. 11 f. 3) Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden Lehranstalt. im Jahre 1807. Leipzig 1919, S. 16.

Geschrieben

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stehen. Die Zeit der Aufklärung ist ftaglos auch in dieser Hinsicht vorüber. Gerade die geistig wachsten und willensstärksten Menschen der Gegenwart wissen darum, daß einer lediglich rational begründeten Weltanschauung die Kraft fehlen würde, wirklich gestaltend in den Weltlauf einzugreifen und daß darum der mächtige Zormwille, der in der nationalen Bewegung wirksam ist, einer religiösen, glaubensmätzigen Verankerung bedarf. Daraus erwächst nicht nur für die Kirche, sondern auch für das gesamte Geistesleben eine ganz neue Situation. Bisher erschien, um mit Goethe zu reden, „der Konflikt des Unglaubens und Glaubens" als „das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschheitsgeschichte". Nun steht Glaube gegen Glaube. Die „Deutsche Glaubensbewegung", will durchaus als Glaubensbewegung anerkannt sein. „Bei der Deutschen Glaubensbewegung handelt es sich um eine religiöse Bewegung, um einen Glauben eigener fltt" T). Dabei seht sie sich aber aufs deutlichste und mit aller nur möglichen kämpferischen Entschie­ denheit gegen das Christentum, vollends das kirchlich gebundene ab. „In­ nerste Notwendigkeit und Verpflichtung dem arteigenen Genius unseres Volkes gegenüber reiht uns heraus aus dem verband der christlichen Kirche"*2). Und zwar beruft dieser Protest gegen das Christentum sich nicht mehr auf die Wissenschaft oder auf den Fortschritt, sondern aus die Unmittelbarkeit der Gott­ beziehung. „wer unmittelbare Gottverbundenheit besitzt, der kann nicht mehr mit gutem Gewissen bekennen, daß er an eine nur einmalige Gottesoffen­ barung in einem uns fremden Volke glaubt, an eine Gffenbarung zudem, die zugleich den Anspruch erhebt, letzte und für alle Völker und Zeiten gültige Gffenbarung zu sein"3). Damit ist für eine theologische Ethik eine völlig neue Lage entstanden. Die Notwendigkeit einer religiösen Begründung wird hier nicht mehr bestritten. Aber sie wird abseits vom Christentum gesucht. So entsteht etwa für Ernst Bergmann eine „ethische Tgpenlehre", die die griechische Ethik, die jüdische Gesetzesethik, die christ­ liche Sündenethik und die indische Leidensethik nebeneinander stehen sieht, um nun im Gegensatz zu all diesen vergangenen Lösungen den weg zu einer „nordischen Kampfes- und Willensethik" frei zu machen4). Das gibt eine ganz andere Einstellung zu den Grundbegriffen der christlichen Sittenlehre, vor allem entwickelt sich ein scharfer Gegensatz gegen Begriffe wie Sünde, Gnade und Rechtfertigung. Die christliche Sündenethik erscheint als „das Ergebnis aus stoischer Verzweiflungsethik, spätantiker Entartungs- und Nie­ derbruchsweisheit und mosaischem Gesetzes-, Sankttons- und Versöhnungs­ glauben" 5). Man sieht, daß dieser Angriff aufs Ganze geht. Das Christentum wird geradezu für schuldig an dem sittlichen Niederbruch unserer Tage gehalten. „Kann man sich wundern, daß aus dem Schuldgefühl schließlich wirklich Schuld wurde? furchtbare Schuld an sich selbst, die die Menschheit auf sich geladen hat durch zwei Jahrtausende ihrer Geschichte, als sie dem Lrbsündenbolschewismus der Lhristologen Glauben schenkte?" 6) Diese Anschauungen sind um

x) 2) 3) 4)

Wilhelm Hauer, Unser Kampf um einen freien deutschen Glauben, 5. 23 f. 3. w. Hauer,- Grundlinien einer deutschen Glaubensunterweisung 5.11. Ebenda 5.11. Bergmann, Die deutsche Nattonalkirche S. 180. 5) S. 178. 8) S. 179.

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so bedeutsamer, als sie nicht nur die Überzeugung aller organisatorisch oder innerlich zur „Deutschen Glaubensbewegung" gehörigen Kreise unseres Volkes darstellen, sondern auch die Gewißheit in sich tragen, daß sie gewisse Grundstrebungen der deutschen Geistesgeschichte zur Vollstreckung bringen und so einer inneren Entfaltung des deutschen Geistes dienen, die bis jetzt durch das Christentum verhindert worden sei. So glaubt man sich im Einklang mit der deutschen Nlgstik und dem deutschen Idealismus. Ja selbst die Re­ formation Luthers wird hier als „geschichtlich offenbartes Deutschtum"*) für diese Ablösung von der überkommenen christlichen Ethik in Anspruch genommen. Schon I. G. Sichre hat nach dieser Auffassung die Reformation Luthers ausgefaßt als „einen Beweis für die Gabe deutscher Menschen, sich in fremdes Geistesgut hineinzuleben, es mit deutschem Ernst und deutscher Tiefe zu sättigen und es zu einem Bestandteil unserer eigenen inneren Welt zu machen". Schon er hat die Reformation nur als eine „Kirchenverbesserung" angesehen und keine religiöse Vollendung in ihr finden können. Sie hat „nur den äußeren Vermittler zwischen Gott und den Menschen" verändert, statt unter Beseitigung des Mittlers „das Band des Zusammenhangs in sich selber zu finden" 2). Aber schon Meister Eckehart habe hier die entscheidende Ent­ deckung gemacht. Dieser Deutscheste unter allen Großen im deutschen Geistes­ leben, der in der „Urgewalt seines träumenden Ahnens die letzten Ausmaße dessen erreiche, was Deutschen gegeben sei" habe schon mit hohem Stolz und Mut den Menschen Wert und Würde zugesprochen „gegenüber dem Gotte, wie ihn die Lhristenheit glaubte, und gegenüber der Kirche, von der sie sich regieren ließ" 3). Aber wie problematisch auch immer gerade diese Zusammen­ hänge der deutschen Geistesgeschichte sein mögen, daß der Widerspruch gegen das christliche Ethos schon seine Geschichte im deutschen Geistesleben hat, das kann der eine Name Nietzsche offenkundig machen, hier hat der leidenschaft­ liche Kampf gegen das christliche Ethos die Schwere und Wucht eines persön­ lichen Schicksals gewonnen. Nietzsche bedeutet den Anbruch einer neuen Epoche in der Auseinandersetzung des deutschen Geisteslebens mit dem Christentum. Die mächtige Wirkung, die heute spürbar von Nietzsche ausgeht, allein müßte genügen, um uns den ganzen Ernst dessen empfinden zu lassen, was heute im religiösen Leben Deutschlands vorgeht.

2. Kapitel

Vie Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Grundlegung4) Wir haben uns die innere Verfassung, in der der Gegenwartsmensch dem Christentum gegenübersteht, so eingehend klargemacht, um uns so ein für allemal der Lebensnähe zu versichern, aus der heraus allein eine Sittenlehre im *) Hermann Schwarz, Christentum, Nationalsozialismus und Deutsche Glau­ bensbewegung, Berlin 1934. S. 7. 2) Schwarz S. 7. 3) Schwarz S. 8. 4) Paul Althaus, Grundriß der Ethik, 1931. — Heinrich Zrick: Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage, 1936 (J. etwa „Der Grt", „Die Stunde"). Zrick ist bemüht um das hörbarwerden des Evangeliums, um „die Solidarität zwischen Verkündiger und Hörer". — Ernst Krieck: völkischer Gesamtstaat und nationale

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Sinne des Christentums möglich ist. Aus dieser Verfassung kommen die Zragen, die Zweifel, die Hoffnungen, die heute einer theologischen Ethik entgegen­ kommen. wie ist in dieser Lage christliche Ethik als Wissenschaft vom Sittlichen möglich? **) — eine wissenschaftlich objektive Theorie vom Christlich-Sittlichen in einer Zeit, die nicht Theorie will, sondern Praxis, nicht Wissenschaft, sondern Leben, nicht Objektivität, sondern Entscheidung, nicht Christentum, sondern lebendigen Glauben?

I. Da versteht er sich nun, wenn wir zunächst einen Slick auf die Gesamthaltung werfen, die sich daraus für unsere Arbeit ergibt, von selbst, daß eine christliche Ethik nur in engster Gesprächsfühlung mit dem Menschen der Gegenwart gelingen kann — wie er auch über das Christentum denke. 3n dieser Hinsicht ist die Ethikheute mehr denn je in die Lage versetzt, die Sokrates vorfand: auch heute läßt sich die Allgemeingültigkeit des sittlichen Gebots nicht durch bloße abstrakte Lehre begründen,- auch heute bedarf es ständig der Unterredung, die sich aller Elemente der Wahrheit, die der Gesprächspartner, wie keimhast auch immer, in sich trägt, liebevoll annimmt und nur alles Bestreben darauf richtet, sie ans Licht zu heben und in ihre letzten Konsequenzen zu entfalten. Vas gibt der theologischen Ethik heute unvermeidlich einen missionarischen und apo­ logetischen Charakter. Nur kommt dabei alles darauf an, daß Mission und Apologie, Sendungsbewußtsein und Verteidigungswille, ganz die schöpferische Kraft und sachliche Notwendigkeit ihres Ursprungs wiedergewinnen und alle pädagogisch-pietistische Absichtlichkeit, Enge und Ängstlichkeit ver­ lieren, die nicht der letzte Grund für die Ohnmacht des Christentums in der gegenwärtigen Welt sind. So verstanden, ist Ethik eine innere Angelegen­ heit der Gemeinde, die sich hier auf ihre sittliche Existenz und ihre Verantwortung für die Welt besinnt. Solche Selbstbesinnung steht unter einem dreifachen Aspekt: sie muß radikal theologisch, radikal menschlich und radikal sachlich sein. 1. Selbstbesinnung der Gemeinde gibt es für den Christen nur als Erziehung, 1932. — Chr. Ernst Luthardt, Kompendium d. theologischen Ethik, *1921. — Joseph Mausbach: Katholische Moraltheologie, 1922. — Schleiermacher: Reden über Religion. — Paul Tillich: Religiöse Verwirklichung, 1930. — Zum Problem der Anknüpfung: Emil Brunner, Natur und Gnade, 21935. Adolf Köberle, Recht­ fertigung und Heiligung, *1930. *) So die Definition schon bei Chr. Ernst Luthardt: Kompendium der theolo­ gischen Ethik, S. 2, und wieder bei Paul Althaus: Grundriß der Ethik, S. 9. Ebenso Joseph Mausbach, Katholische Moraltheologie S. 1. Unter Sittlichkeit ist dem­ gemäß die dem sittlichen Gebot entsprechende menschliche verhaltungsweise zu verstehen. . Sittlichkeit ist die Übersetzung des Griechischen fjOos = Ethos und des Lateinischen rnoralitas = Moralität, das im katholischen Begriff der Moraltheolo­ gie heimisch ist. Das Wort moralis ist von Cicero im Anschluß an das Griechische ?j0os gebildet (de fato c. 1: quia pertinet ad mores quod fjOos M vocant, nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus; sed decet augentem linguam latinam nominare moralem), vgl. Luthardt, Kompendium der Cthrk, Leipzig* 1921, S. 2 ff. für den evangelischen, Joseph Mausbach, Katholische Moraltheologie, Münster i. w. 1922, S. 1 ff. für den katholischen Sprachgebrauch. Sitte rst ein auf sozialer Ge­ wöhnung beruhendes Verhalten, vgl. Titius in RGG.2 V 593.

Einleitung

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Stehen vor Gott. Vas ist der letzte Sinn aller echten Theologie. Vas ist etwas ganz anderes als ein problematisierendes In-sich-hineinbohren, dem nur das Insichsein des Menschen eine lebendige Erfahrung ist. Auch vor Gott steht der Mensch einsam. Es gibt hier kein voreiliges missionarisches oder apologetisches hinschielen auf den anderen. Das hieße, sich mit eigener Leistung vor Gott rechtfertigen und dem göttlichen Urteil entziehen wollen, vor Gott steht der Mensch in radikaler Einsamkeit. Aber diese Einsamkeit ist ja in Wahrheit Zweisamkeit: das Ich findet sich erkannt und geborgen im ewigen Du. Sich selbst erkennen, heißt hier, sich von Gott in seiner tiefsten Wirklichkeit erkannt wissen: in aller Gottnähe und in aller Gottferne, als Gotteskind und als Sünder. In diesem Sinn muß sich heute die christliche Gemeinde auf ihren letzten Lebensgrund besinnen. Es muß deutlich werden, daß sie sich wirklich dem Urteil Gottes stellt. Kür das Lhristentum kann es keine blinde Selbstverteidi­ gung und Selbstbehauptung geben. Es kann sein Lebensrecht nur aus der Tiefe und Unmittelbarkeit seiner Gottbeziehung, nur aus seinem göttlichen Auf­ trag ableiten. Der Sinn des Christentums ist Gott und sein Reich, heute muß deutlich werden, ob das Lhristentum den lebendigen Gott und sein Reich will oder nur kirchliche Tradition, heute ist uns das Wort gesagt: „wer sein Leben behalten will, der wird's verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetund des Evangeliums willen, der wird's behalten" 1). Ist das Lhristentum bereit, sich dem Evangelium zu beugen und sich mit allen irdischen Sicherungen, über die es noch verfügt, sich zu verlieren — an Gott? weiß es, daß an der Auf­ erstehung Lhristi nur teilnimmt, wer mit ihm „gepflanzt ist zu gleichem Tode"2). 2. Solche radikal theologische Selbstbesinnung schließt für das Evangelium aber radikale Menschlichkeit in sich. Es gibt kein Stehen vor Gott ohne den Bruder. Jawohl: der Lhrist soll seines Bruders Hüter sein. Er ist von Gott nach seinem Bruder gefragt. Und so fragt denn Gott heute vernehmlich genug für den, der (vhren hat zu hören: „wo ist dein Bruder Abel? wo ist dein Volksgenosse? wo ist er, an den Ich dich band durch Blut und Boden? was tatest du für ihn? verstandest du auch wirklich die Blutbindung an ihn in ihrer ganzen Tiefe? Du stehst mit ihm im selben Raum, ein Acker erhält euch das Leben — gabst du solcher Gemeinsamkeit des Bodens auch wirklich die letzte weihe? warst du dir immer klar darüber, daß du auch vor Mir untrennbar mit ihm verbunden und unlösbar für ihn verantwortlich bist? Bist du bereit, die Anklage, die er heute gegen dich richtet, wirklich zu hören? weißt du, daß Ich durch Menschen mit dir rede? verstehst du aus menschlicher Rede, auch wenn sie verworren ist, das ewige Wort herauszuhören, das Kleisch ward in Jesus Lhristus? verstehst du es, aus erbitterter Anklage die Stimme enttäuschter Liebe herauszuhören? hast du den Mut zu wirklicher Nachfolge in deiner Zeit und an deinem Grt? Bist du bereit, auch deinen Keind, den Keind deines Lhristseins wirklich zu lieben und ihn, auch wo er dich haßt, bis zum letzten ernst zu nehmen, ja dich aus Gehorsam gegen Mich für ihn zu opfern?"3) i)~ntarf. 8, 35. 2) Röm. 6 5. 3) Ähnlich bei h. Krick unter Hinweis auf Röm. 9—11 a. a. (D. „wir möchten nicht selig werden, es sei denn zusammen mit unserem deutschen Volk" VIII.

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Nur so kann es in unseren Tagen zu der unerläßlichen Gesprächsgemeinschaft mit dem Volksgenossen, dem Zeitgenossen und dem Raumgenossen, kommen, daß wir alle Begegnung mit dem anderen ausgenommen wissen in die Gottbeziehung. Nur so kann die innere Sicherheit gewonnen werden, die zu rückhaltloser Nusgeschlossenheit und Offenheit gegen den anderen not­ wendig ist. Nur so verbindet sich alles Eingehen auf den anderen mit der Wahrung der christlichen Glaubensehre, um die es heute geht ’). Sn diesem Sinn müssen die Anklagen der Zeit gegen das Christentum und die Kirche nirgends aufgeschlossener angehört und nirgends ernster ge­ nommen werden als dort, wo Kirche und Christentum zu sich selber kommen. Za, diese Haltung wird geradezu ein Kriterium für den christlich-theologischen Charakter solcher Selbstbesinnung sein. Es sind ja vor allem die drei vorwürfe der dogmatischen Erstarrung, der sozialen Verantwortungslosigkeit und der sittlichen Unfruchtbarkeit, die nicht verstummen wollen. Diese vorwürfe müssen nun wittlich „gehört" werden. Es geht ja nicht um das Dogma, auch nicht um den Buchstaben der Bibel, und es geht nicht um die irdische Gestalt der Kirche; sondern es geht um den Gehorsam gegen den lebendigen Gott und die Liebe zum Nächsten. Wenn behauptet wird, daß der Staat um so viel wirksamer als die Kirche die Grundforderungen der christlichen Sittlichkeit zu erfullen vermag, so darf es keinz Ruhe geben, bis die Ursachen hierfür ausgedeckt und nach allen Seiten hin die erforderlichen Konsequenzen daraus gezogen sind. Droht etwa die Gefahr nicht wirklich, daß die Theologie sich in unfruchtbare Problematik verliert und daß die Kirche sich so sehr als ein Sonderbezirk des Lebens versteht, daß von ihr vorwärtsdrängende Impulse für das Ganze des Lebens nicht mehr ausgehen können? Ist die Rede vom „Theologengezänk" so ganz aus der Luft gegriffen? Sind hier menschlich-allzumenschlicher Eigen­ sinn und leidenschaftlicher Wahrheitswille immer reinlich voneinander ge­ schieden? hat die Kirche der sozialen Verwüstung des 19. Jahrhunderts gegen­ über nicht wirklich versagt? Es gehört zum Wesen der Reformation, daß die Kirche sich nur so als Kirche Gottes legitimieren kann, daß sie sich als den Ort versteht, an dem jeder Anruf Gottes wirklich gehört wird —nicht zuletzt das Butzwort, das Gott an sie selbst richtet. 3. Zu den Grundvoraussetzungen christlicher Wissenschaft vom Sittlichen gehött auch, mit radikaler Theologie und radikaler Menschlichkeit unlösbar verbunden, radikale Sachlichkeit. In die Beziehung zu Gott will nicht nur die zum Nlenschen, sondern auch die zur Welt ausgenommen sein. Theologie heißt immer äußerste Radikalität und Universalität der Fragestellung — denn Gott ist „alles in allem". Theologie ist Bereitschaft, aus jeder Frage der Zeit und der Welt das Wort herauszuhören, das in Drohung, Gettcht und Verheißung Gott zu uns redet. Sollte je eine Frage auftauchen, die von den Theologen nicht mehr in diesem Sinn bis zum letzten ernst genommen werden könnte, so wäre das nur ein Zeichen dafür, daß die Theologen keine christliche Theologie mehr tieiben. Das Mysterium der Menschwerdung Gottes bindet Gott und Welt und damit auch Christentum und Kultur, Theologie und Wissenschaft, *) Dgl. helmuth Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 1936: „Dort der Ehre der heiligen Schrift".

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Kirche und Staat, Person und Sache für immer irgendwie zusammen, fraglich ist nicht das Gb, sondern nur das wie. Nur von radikaler Sachlichkeit her ist ja auch wahre Menschlichkeit möglich, wie gut, daß Gott auch in objektiven Sach­ verhalten zu uns redet, die sich gegen alle unsere Deutungsversuche und veutungskriege unabänderlich behaupten! Echte Begegnung von Mensch zu Mensch seht solche Anerkennung transsubjektiver Sachverhalte voraus, was ist Volk, was ist Staat, was ist Wissenschaft, was ist Leben, was ist Religion? Darüber können Kamilien, Geschlechter, Völker, Zeitalter zerbrechen. Aber alle diese Kragen können auch den Menschen zum Menschen führen und auf wundersame Art aneinander binden, wenn anerkannt wird, daß der Sinn unseres Kragens nicht in der Krage, sondern in ihrem hinzielen und Auftreffen auf Sachverhalte liegt, die unserem Belieben völlig entrückt sind. Sn diesem Sinn werden wir die Krage, was denn eigentlich Sittlichkeit sei, in radikaler Sachlichkeit zu stellen haben. Ls muh deutlich werden, daß es dabei nicht um die blinde Behauptung einer — sei es auch noch so ehrwürdigen — Tradition, sondern rein um die Sache geht und daß wir uns ihrem Zwang zu beugen haben. II.

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Aus dieser Grundbesinnung ergeben sich dann auch die methodischen Gesichtspunkte für die Durchführung unserer Aufgabe. Ls sind drei: Über­ setzung, Vereinfachung, Anknüpfung. 1. Zunächst ist klar, daß die Grundbegriffe der christlichen Verkündigung heute alle der Übersetzung in die Sprache, in das Erleben und in das Wirk­ lichkeitsdenken unserer Zeit bedürfen. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der unbestreitbaren Tatsache, daß sie von Millionen nicht mehr verstanden werden, wir wiesen schon darauf hin, daß davon auch der Gottesbegriff keine Aus­ nahme macht. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloß zeitbedingte pädagogische Anpassung an die religiöse Lage der Gegenwart, sondern um eine bleibende im Wesen des Lhristentums enthaltene Aufgabe. Alle christliche Verkündigung ist an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Lhristus und ihre Bekundung in der Bibel gebunden. Dabei mutz nun deutlich bleiben, daß uns in Lhristus der Gott unseres Lebens, unserer Tage und unserer Welt anredet. Das Bibelwort mutz uns verständlich werden als das Wort Gottes an uns. Sonst wäre Gott nicht der Herr aller Herren, der alle Zeiten und Räume durchwaltet. Dann erst ist deutlich, daß Gott für den Hörer oder Leser des Bibelworts nicht nur ein Begriff, sondern eine Wirklichkeit ist, daß er der Lebendige und Ewige ist, der über alle Zeiten und Räume hinweg auch unser Leben trägt. Sn diesem Sinn waren alle großen Verkünder Übersetzer des Bibelworts in die Sprache ihrer Zeit — von Paulus an, der in seiner kühnen Art bekennt, daß er geworden sei „den Juden" „ein Jude", „denen, die unter dem Gesetz sind", „wie unter dem Gesetz", „denen, die ohne Gesetz sind", „wie ohne Gesetz", „den Schwachen", „wie ein Schwacher", „jedermann" „allerlei" 1). Nicht darum also kann es gehen, ob heute Übersetzung notwendig, sondern wie sie möglich ist. Daraus ist nun zu sagen, daß sie nur aus radikaler Theologie heraus in radikaler Menschlichkeit und Sachlichkeit möglich ist. *) 1. Kor. 9, 20 ff.

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Das Ineinander dieser drei Momente zeigt das eben angeführte Apostel­ wort in klassischer weise. Beherrschend ist das theologische Motiv. Paulus tut alles „um des Evangeliums willen" *), um seiner „teilhaftig zu werden", hier steht er ganz auf sich selbst, denn hier steht er ganz allein vor Gott. Das sichert ihn gegen jede Liebedienerei und gegen alles haltlose Anpassungsstreben. Alle pädagogische Anpassung ist theologisch verankert und ge­ zügelt. Nur vom Evangelium her sieht er sich „jedermann zum Knechte gemacht"2), um nur ja allenthalten „etliche selig" zu machen. Nur so kann er in die Denk- und Lebensform der anderen in sachlicher Liebe eingehen, ohne sich in sie zu verlieren. Gb eine Übersetzung richtig oder falsch ist, das kann also zuletzt nur theo­ logisch beurteilt werden. Jede Übersetzung, die theologische Substanz preis­ gibt, ist falsch. Das unverstandene, aber in seiner Ursprache belassene Wort kann sich auch wohl ohne Übersetzung erschließen, wenn Gott die Stunde dazu kommen läßt. Durch das falsch übersetzte Wort läßt sich schwer wieder zum ursprünglichen Sinn zurückfinden. Die Übersetzungsnotwendigkeit und -Mög­ lichkeit aller Inhalte der biblischen Derkündigung beruht zuletzt auf der Tat­ sache der Menschwerdung Gottes: Gott offenbart sich als der Herr aller Geschichte an einem ganz bestimmten Grt der Geschichte. Nun kommt alles daraus an, daß die eine Inkarnation in ihrer Urbedeutung als Inkarnation für alle Zeiten verständlich wird. So ist jede Zeit wieder vor die Ausgabe gestellt, das sich in keiner geschichtlichen Lage erschöpfende Urwort Gottes aus den Worten der Bibel herauszuhören und dieses Urwort nachtastend in ihre lebendigen Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten zu übertragen. 2. Damit ist schon gesagt, daß Übersetzung zugleich Dereinsachung be­ deutet. Das lebendige Sprachgut und Ausdrucksvermögen einer Zeit ist stets beschränkt. Das hängt mit der Enge des menschlichen Seelenraumes zusammen. Der Durchschnittsmensch einer Epoche hat schon nicht die Kraft, den ganzen Kos­ mos der werte oder auch nur den ganzen Inhalt der empirischen Geschichte feines Dolles verstandesmäßig zu umfassen, er hat noch viel weniger die Kraft, ihn wirklich lebendig nachzubilden. Das ist der Grund für die sehr richtige §eststellung Ernst Kriecks, daß die Geschichte „die Lebensmöglichkeiten nachein­ ander" „ergreift" und „jeweils neue zur höhe der Entfaltung" treibt, „während andere der Derkümmerung verfallen"3). Diese seelische Engräumigkeit zieht darum auch dem lebendigen Verständnis des Evangeliums ganz bestimmte Grenzen. Die Übersetzungsmöglichkeit wird sich immer aus das wirklich leben­ dige Sprachgut einer Zeit beschränken, das sich wieder nach der weite des Erlebnisraumes richtet. Das Urwort tarn stets nur vom lebendigen Wort einer Zeit aus verstanden werden, hierin liegt nun die Notwendigkeit der Dereinsachung begründet. Ganz offenkundig begreifen wir INenschen des 20. Jahrhunderts nur Teilausschnitte der Gesamtwirklichkeit, die uns die Bibel erschließen will, wir sind reicher geworden an äußerer Weltkenntnis, aber entsprechend ärmer an innerer Erfahrung, wir brauchen nur einen Augenblick daran zu denken, wie ratlos wir doch im Grund dem Wunderbericht der Bibel

x) 1. Kor. 9, 23. 2) 9, 19. 3) Nationalpolit. Erziehung, 1932. S. 10.

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gegenüberstehen. Offenkundig finden wir da in unserer Welt zu wenig Ent­ sprechung. wir verstehen eben immer nur so viel, als in den Lichtkegel un­ seres Lrlebnisraumes und unseres Bewußtseins fällt. Und dieser ist immer fragmentarisch und kann schon innerhalb eines Menschenalters mehrfach wechseln — je nach der Rhythmik der Zeitgeschichte. Er ist jetzt schon zweifellos anders wie zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts, war wieder anders vor dem Weltkrieg, war wieder anders vor der nationalen Revolution. Es muß nun also die ganze Zülle des Evangeliums für unseren Erlebnisraum überschau­ bar gemacht werden. Damit wird schon deutlich, daß es eine falsche Verein­ fachung gibt, die nur das als wirklich gelten lassen will, was sich in den Dimen­ sionen des engeren Kreises wiederfindet. Neben dieser psychologischen gibt es nun auch eine religiöse und eine sittliche Notwendigkeit der Vereinfachung. Die religiöse ist im Evangelium in dem Wort bezeichnet: „Es sei denn, daß ihr euch umkehrt und werdet wie die Rinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen"x). Damit ist deutlich gesagt, daß die innere Verfassung des Rindes am ehesten Zugang findet zu den Grundwahrheiten der christlichen Religion, vereinfachen heißt hier, von der Peripherie auf das Zentrum zurückgehen, heißt, überflüssigen Ballast abwerfen, heißt, wesentliches und Unwesentliches voneinander scheiden, heißt, aus aller Zersplitterung in das viele zur Sammlung aus das Line zurückrufen. Das Rind ist dafür besonders ausgerüstet, weil es erlebend und schauend, nicht reflektierend, empfangend, nicht ausgreifend erobernd in der Welt steht. Ls erfaßt von der Welt soviel, als es auf seine Erlebniswelt zu beziehen vermag, ohne mit dem Anspruch aufzutreten, daß sich darin die Welt erschöpfend ausdrücken lasse. (Es weiß um das Geheimnis, das jenseits unserer ver­ stehensgrenze liegt. Das Rind ist demütig und ehrfürchtig. Demgegenüber ist die rationale Reflexion ungeeignet zum Verständnis der Wirklichkeit Gottes. Sie weiß nicht,daß wirkliche Erkenntnis nur im schauenden Erleben und in der Hingabe möglich ist. Sie greift deshalb besinnungslos nach den Dingen, die sie erreichen kann, nicht eigentlich, um ihnen demütig empfangend zu begegnen, sondern um sich ihrer zu bemächtigen. In diesem Machtdrang überschätzt sie ihre Kräfte, Denken und Erleben trennen sich voneinander, was sie begriffen hat, glaubt sie auch verstanden zu haben. Ruf religiösem Gebiet entsteht so der Tgpus des Schriftgelehrten, der sich in einer un­ übersehbaren Zülle von Begriffen verliert, ohne überhaupt noch um das Ge­ heimnis ihrer Übertragung in das Leben zu wissen. (Es ist nicht zufällig, daß Jesu leidenschastlichster Kampf den Schriftgelehrten gegolten hat. von da aus leuchtet ohne weiteres ein, wie Vereinfachung eine Not­ wendigkeit besonders auch für das sittliche Leben ist. Zum handeln gehört innere Einfachheit. Der Schristgelehrte kommt nicht zum handeln. Der problematiker verfängt sich in seinen Reflexionen, handeln kann man nur aus inneren Antrieben, die die unmittelbare Kraft des Erlebnisses haben. Sollen religiöse Gedanken sittlich fruchtbar werden, müssen sie erlebt sein. Erleben kann man nur, was einfach ist. Daraus ergibt sich eine Aufgabe von ganz besonderer Dringlichkeit für den christlichen Ethiker. (Er ist einer Jahrtausende

*) Matth. 18, 3. SÖ4: Müller, LthN

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alten Tradition verpflichtet. Dazu steht er inmitten einer ungeheuer kompli­ zierten geistigen Problematik. Aber er mutz dafür sorgen, daß darin nicht jeder sittliche Antrieb erstickt. Zweifellos liegt der Grund für die sittliche Unfruchtbarkeit der Kirchen zum nicht geringen Teil an der Kompliziertheit ihrer Sitten­ lehre. Eine Ethik soll schließlich Wegweisung sein. Dos gilt in besonderer weise für eine Ethik, die wie die vorliegende in erster Linie dem künftigen Pfarrer dienen soll. In einer Ethik darf wahrlich nicht nur für den Arbeiter der Stirn, hier muß auch für den Arbeiter der Zaust gedacht werden. Eine im Sinne der Abschließung vom Blutstrom des werktätigen Lebens akademisierte Ethik verfehlt ihre Aufgabe von vornherein, hier ist nicht Raum für eine Problematik, die den handelnden Menschen nichts angeht. In diesem Sinne müssen wir hier um eine Vereinfachung ringen, die wieder sittliche Wegweisung möglich macht. Alle Denkarbeit, die zu leisten ist, steht hier in der Tat im Dienste des Lebens, nicht im Sinne einer Vergewaltigung der Wahrheitsfrage durch das Leben, wohl aber im Sinne einer Hinleitung der Wahrheit in das Leben. Denken bedeutet hier vereinfachen, die Kompliziertheit einer unübersichtlich gewordenen Tradition durchschauen, aus aller verwickeltheit der kirchlichen Überlieferung und der weltlichen Rultur die Grundfragen Heraushoren, aus aller Abgeblaßtheit der Nachbildungen die Urformen erschauen. Und hier wird noch einmal deutlich, daß Vereinfachung nicht mit Verflachung verwechselt werden darf, vereinfachen heißt wurzelhaft denken, heißt die Probleme im eigentlichen Sinne des Wortes radikalisieren. 3. In diesem Zusammenhang ist nun die Aufgabe der Anknüpfung von großer Wichtigkeit. Übersetzen und vereinfachen heißt immer auch anknüpfen. Es kann nicht in den leeren Raum hinein verkündigt werden. Die Verkündi­ gung ist immer an lebendige Menschen gerichtet. Und in ihnen kann der Ver­ kündigungsinhalt nur wirksam werden, wenn er verstanden wird. Der Anknüpfungspunkt ist immer der Punkt, wo die Verkündigung auf unmittel­ bares Verständnis rechnen kann. Zum Anknüpfungspunkt kann jeder Inhalt der Erlebniswelt des Zeitalters werden. Anknüpfen heißt, um den Erlebnis­ raum einer Zeit und seine Inhalte wissen. In diesem Sinn haben wir uns vier unsere Zeit zutiefst bewegende Fragen vergegenwärtigt: Verwirklichung, Wirklichkeit, Leben, Glaube. An sie gilt es anzuknüpfen, was heißt das? Es bedeutet, daß das Evangelium dem Menschen der Gegenwart als Antwort auf diese seine Kragen verständlich werden muß. Er muß sich hier völlig ernst­ genommen fühlen. Er muß das Evangelium als radikale Theologie, radikale Menschlichkeit und radikale Sachlichkeit verstehen lernen. An eine Zeitsrage anknüpfen darf dann weder heißen, sie von vornherein als Antwort gelten lassen, noch aber auch, auf sie lediglich mit einer gewissen pädagogischen Herab­ lassung eingehen, ohne sie sachlich bis zum Letzten ernst zu nehmen. Beides wäre Säkularisierung des Evangeliums- im ersten Kall wäre es pädagogisiert und um seine dogmatische Substanz, seinen Wahrheitsgehalt gebracht, im zweiten Kall fehlte ihm bei aller dogmatischen Korrektheit die werbende und weckende Rraft hingebender Liebe. An ein menschliches Anliegen anknüpfen heißt, es ganz ernst nehmen, heißt, ihm die letzte Ausrichtung geben, heißt, es vom ewigen Wort Gottes her verstehen.

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In diesem Sinn verstehen wir Ethik nun als wissenschaftliche Lehre vom evangelischen weg der Verwirklichung des Guten, wir stellen uns damit mitten in den Verwirklichungswillen unserer Zeit, auch den politischen, hinein und suchen in ihm den Ausblick zu gewinnen auf das tiefste Mysterium der Menschheitsgeschichte, das uns die Bibel als Fleischwerdung des Wortes kündet. Den Verwirklichungswillen der Zeit radikal theologisch verstehen heißt, ihn von dem Urphänomen aller Verwirklichung, der Menschwerdung Gottes in Christus aus begreifen. In diesem Sinn soll hier Ethik als Verwirklichungs­ lehre verstanden sein. Der Lthiker mutz sich aber auch in das wissenschaftliche Ringen der Zeit mitten hineinstellen. Ruch die Wissenschaft kann freilich nicht Ersatz für das Evangelium sein. Das Evangelium läßt sich — ebensowenig wie Bachsche Musik oder Goethesche Dichtung — nicht philosophisch deduzieren, wo das versucht wird, kommt es zu einer Vermengung von Religion und Wissenschaft, die für beide Teile gleich verderblich ist. Die Offenbarung wird dann verwissen­ schaftlicht, es werden Form und Inhalt, zeitlich lebendiges Wort und ewiges Urwort, Anknüpfung und Erfüllung, Frage und Antwort miteinander ver­ wechselt. Aber auch die Wissenschaft wird um ihre letzte würde gebracht. Rur wo sie sich radikal theologisch als Dienerin — nicht der empirischen Kirche, wohl aber Gottes versteht oder doch verstehen läßt und im willen Gottes selbst, statt nur im menschlichen willen verankert, kann sie ganz zu ihrem Rechte kommen. In diesem Sinne muß theologische Ethik auch um wissenschaftliche Strenge bemüht sein. Es ist nicht zufällig, daß das Lhristentum den Bund mit der griechischen Philosophie einging und schließlich ihren Ertrag gerade in ihrer rationalsten Form, der Philosophie des Aristoteles, in sich aus­ nahm — soviel Fragen gerade damit verbunden waren. Echtes Ringen um Wahrheit gehört in das Zentrum der Gottbeziehung, wenn Gott wirklich Geist und Wahrheit ist. Insofern kann man die geschichtlichen Kämpfe der Wissen­ schaft gegen die falsche Bevormundung durch die empirische Kirche als ein leidenschaftliches, freilich nicht zu Ende kommendes Ringen um die echte Begegnung zwischen Lhristentum und Wissenschaft verstehen. (Es handelt sich hier um eine Frage, die immer wieder aus der lebendigen Mitte der christlichen Frömmigkeit selbst aufbrechen und das Lhristentum auf seinem Gang durch die Geschichte immer begleiten wird. Die Anstöße von außen sind hier durchaus innerchristliche Vorgänge. Nachlassender Wahrheitswille muß immer als ein Zeichen für die Erschlaffung der Glaubenskraft angesehen werden. Insofern wird es nun von besonderer Wichtigkeit sein, daß wir die christliche Deutung nicht von außen an das sittliche Phänomen herantragen, sondern daß wir das Problem der Autonomie, das die philosophische Ethik der letzten Jahrhunderte so tief bewegt hat, ganz ernstnehmen und untersuchen, ob die sittlichen Sach­ verhalte selbst eine Orientierung am Lhristentum möglich oder notwendig machen und wo dies der Fall ist. (Es wird also auch hier die Frage des Ansatz­ punktes von besonderer Wichtigkeit sein. Dabei wird es der Vertiefung der Wahrheitsfrage selbst dienen, daß uns Ethik als Frage nach der Verwirklichung heute nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein Lebensproblem sein muß. hier ist die Entfremdung des 2*

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modernen Geistes vom Christentum besonders tragisch und in besonderer weise auch mit menschlicher Schuld verknüpft, wo der Gegenwartsmensch vom Leben redet, da ist seine Sprache am schöpferischsten. Da ist es besonders verhängnis­ voll, daß er nicht mehr zu verstehen vermag, daß das Evangelium ja nichts anderes sein will als weg zum Leben, hier liegt gewiß auch von feiten der Kirche wirkliche Schuld vor. Und hier vor allem muß der Buhruf gehört werden, den Gott in der Sehnsucht der Zeit an die Kirche richtet. Jedenfalls muh eine theologische Ethik heute in ganz besonderer weise Lebenslehre sein. Sie muh erkennen lassen, dah es auch in aller dogmatischen Aussage immer um ein ganz radikales Verständnis des Lebens geht. Ist es nicht er­ schütternd, dah die Pädagogik der Nachkriegszeit den christlichen Religions­ unterricht vielfach durch „Lebenskunde" ersetzt sehen wollte! hier besonders wird Vereinfachung nötig sein. Probleme von bloh akademischem Interesse, die diesen Sachverhalt eher zudecken als offenbar machen können, müssen bei­ seite gelassen werden. Dah Jesus „der weg, die Wahrheit und das Leben" sein will, — das hat hier Leitstern aller Denkarbeit zu sein. Am wenigsten kann schliehlich eine theologische Ethik der Gegenwart beziehungslos neben dem Aufbruch eines neuen Glaubens stehen, sie wird darin vielmehr eine fruchtbare und zu neuen Aufgaben und Möglichkeiten rufende Situation sehen. Darin liegt, daß das Christentum heute in vieler Hinsicht in die missionarische Situation seiner Urzeit zurückgeworfen ist, und damit ist unzweifelhaft viel Not verbunden. Das rechtfertigt aber in keiner weise eine weinerliche Stimmung. Not ist christlich verstanden immer weg zu neuem Leben. Nun zeigt sich, dah die Auseinandersetzung des Christentums mit dem Heidentum nicht historisiert, nicht als ein für allemal abgeschlossen angesehen werden darf, sondern dah sie eine wesentliche und bleibende Auf­ gabe des christlichen Glaubens ist, nun wird wieder deutlich, dah Glaube immer Entscheidung zwischen Gott und Götze bedeutet. Sind uns damit nicht von neuem Einsichten aufgedrängt, die uns in der Bibel in erstaunlicher Helligkeit und Bestimmtheit begegnen? Könnte es nicht sein, dah die Glau­ bensnot unserer Tage uns wesensgesehe des religiösen Lebens wieder sichtbar machen soll, die wir sehr zum Schaden der Sache vergessen hatten? Könnte es nicht sein, dah uns recht eigentlich die Aufgabe der Wiederentdeckung des Evangeliums zufiele, dah wir unter viel Bedrängnis aus einer mit dem Evangelium durchaus unverträglichen Monotonie des frommen Bewußtseins herausgetrieben werden muhten, um wieder polgphon musizieren zu lernen in dem grandiosen Stile Johann Sebastian Bachs, in dessen Musik das Bibel­ wort so recht eigentlich als die deutende, ordnende und gestaltende Mitte der bedrängenden Fülle alles Geschehens deutlich wird? Jedenfalls will auch die deutsche Gläubigkeit, die sich heute gegen das Christentum wendet, ganz ernst genommen und in allen ihren Anliegen als Frage an das Christentum verstanden sein. So kann der Ethiker heute unmöglich dem Problem der na­ türlichen Theologie ausweichen. Er braucht sie wahrlich nicht selbst zu erfinden. Sie ist da. Er ist nur gefragt, ob er ihr ausweichen oder ihr stand­ halten will. Flucht vor offenkundigen Tatsachen ist theologisch immer un­ möglich, weil sie mit dem Evangelium durchaus unverträglich ist. Auch hier

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wird es sich darum handeln, ob das Christentum auf die im Glaubensleben der Gegenwart aufgebrochenen Fragen Antwort geben kann oder nicht. Es mutz sich entscheiden, wer die Vollmacht zur Antwort hat und wer nicht. Auch hier wird es wichtig sein, Frage und Antwort nicht miteinander zu verwechseln. Auch hier wird eine Ethik ihre Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie radikal verfährt, jeder Art von Wirklichkeitsflucht absagt und den Dingen wirklich auf den Grund geht. Für die praktische Durchführung unserer Aufgabe ergeben sich aus dieser Vorüberlegung folgende Gesichtspunkte. In der Grundlegung mutz es uns darum zu tun sein, den sachlichen Zu­ sammenhang zu begreifen, in dem Sittlichkeit und christlicher Glaube zuein­ ander stehen können. Es mutz deutlich werden, ob der religiöse Gesichtspunkt etwa erst von außen an das Phänomen der Sittlichkeit herangetragen werden mutz oder ob er unabdingbar in der Sachgesetzlichkeit, der Eigengesetzlichkeit des Phänomens selbst enthalten ist. Es mutz deutlich werden, ob es sich in einer theologischen Ethik wirklich, wie doch befürchtet wird, um die heteronome Vergewaltigung und Zerstörung der Sittlichkeit handelt, oder ob es etwa im Interesse der reinsten Entfaltung ihrer Autonomie, der Wiederherstellung ihrer Ursprünglichkeit liegen könnte, den Bannkreis des Gegensatzes zwischen Autonomie und heteronomie überhaupt zu durchbrechen und nach einer ganz neuen theonomen Orientierung zu suchen, von der aus sich der relative Wahrheitsgehalt jener Unterscheidung und überhaupt Sinn und Grenze der traditionellen Betrachtung erst wirklich überblicken lassen. Antwort auf diese Fragen wird sich nur in einer theologisch radikalisierten Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins finden lassen, wir werden uns also der sittlichen Wirklichkeit selbst zuwenden und hier jener Tiefe ansichtig zu werden versuchen, die der christliche Glaube meint. Vas ist natürlich nur mög­ lich, wenn uns beides gleich gegenwärtig ist: der sittliche Akt und der Glaubens­ akt, und das ist nicht von außen, sondern nur von innen, im lebendigen Voll­ zug möglich, wir werden uns immer wieder darum zu bemühen haben, uns in diesem Vollzug zu beobachten, wir suchen also hinauszukommen über jedes Nebeneinander von sittlichem und gläubigem Bewußtsein. Eine rationale Ethik, die den Glaubensakt, nicht vollzieht, scheint uns der heute gestellten Aufgabe ebensowenig genügen zu können wie eine Theologie, die nach der sachlichen Struktur des sittlichen Bewußtseins gar nicht ernsthaft fragt. Die Notwendigkeit einer solchen theologischen Wirklichkeitsschau*) ergibt sich zwingend auch aus der besonderen Art der moralischen Krisis der Nach­ kriegszeit. wenn man etwa das Sexualethos betrachtet, so liegt sie, darin, daß hier mit gutem Gewissen, ja geradezu mit moralischem Pathos gesündigt wird. Zur praktischen Normübertretung und zur Erschütterung der Glaubens­ grundlagen der sittlichen Tradition kommt hier also ein neuer Glaubensanspruch. Die Normübertretung erscheint als sittliches Gebot, so daß von da aus dem l) S. hierzu die Erläuterung des Begriffes der theologischen wesens­ schau bei Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung S. 128 ff. und das Buch von Georg wünsch, Wirklichkeitschristentum, 1932.

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Christentum geradezu der Vorwurf der Unsittlichkeit gemacht werden kann *). Daß es sich hier nicht um vereinzelte Stimmungen handelt, zeigt vor allem die Tatsache, daß die russische Ehegesetzgebung, soweit man von einer solchen reden kann, auf dieses selbe Grundurteil zurückgeht, wie völlig verändert die Lage des Christentums in dieser Hinsicht ist, geht daraus hervor, daß auch grobe Grenzüberschreitungen früherer Jahrhunderte — man denke etwa Boccaccios vecamerone, die voppelheirat Philipps von Hessen und den Lebens­ gang Ninon de Lenclos' (1615—1705) — gleichwohl nicht mit einer grund­ sätzlichen Ablehnung des Christentums verbunden und deshalb auch grund­ sätzlich und praktisch überwindbar waren. Und was vom Sexualethos gilt, gilt auch für andere Gebiete des sittlichen Lebens. Es brechen mit anderen Worten heute Tiefen und Abgründe des sittlichen Bewußtseins aus, deren ebensowenig ein bloßer gläubiger Traditionalismus wie eine bloß rationale Ethik Herr werden kann. Es bedarf einer wissenschaftlichen Betrachtung, die dieser Tiefen und Abgründe in der sittlichen Wirklichkeit selbst ansichtig zu werden vermag. Nur eine theologische Wirklichkeitsschau kann hoffen, der geradezu babylonischen Sprachverwirrung Herr zu werden, in der wir auf religiösem und sittlichem Gebiet stehen. x) So etwa bei R. von Delius „Philosophie der Liebe"

21922.

Das Wesensgefüge des Sittlichen

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Erstes Bud): Grundlegung Erster fiauptteil

Das wesensgefüge des Sittlichen 3. Kapitel

Ethos und Glaube Daß heute inhaltlich ganz verschiedene Verhaltensweisen mit sittlichem Anspruch auftreten, ist glaubensmäßig begründet. (Es mutz also nach der Legitimität oder Illegitimität des Glaubens im sittlichen Bewußtsein der Gegenwart gefragt werden.

Bisher war die Lage die, daß hinter dem Begriff der Autonomie der Ethik im Grund immer der Vorwurf gegen das Christentum gestanden hat, es verfälsche das Sittliche durch seinen Glauben. Die philosophische Ethik der letzten Jahrhunderte leitete daraus die Verpflichtung zu einer rein ratio­ nalen Begründung des Sittlichen ab. Eine neue Lage entsteht heute dadurch, daß der Angriff gegen die christliche Sittenlehre nun selbst in verhüllter oder unverhüllter Form glaubensmäßig begründet ist. Der Glaube begegnet uns heute also als natürliche Tatsache des sittlichen Bewußtseins. Dem läßt sich mit den tradittonellen IRitteln sowohl der philosophischen wie der theologischen Ethik nicht begegnen, weil das Glaubensproblem dort überhaupt, hier in seiner natürlichen §orm außer acht gelassen wurde. (Es kann nur eine Strukturanalgse helfen, die ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich der Rolle des Glaubens im sittlichen Empfinden und handeln zuwendet. Diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierigkeit aber darin, daß es gilt, den Glauben durch die mannigfachen Verhüllungen hindurch auszuspüren, in denen er wirksam zu werden pflegt. (Es kann also in gar keiner Weise ge­ nügen, etwa in der zeitgenössischen ethischen Literatur nach Glaubens aus sagen zu suchen. Das würde weder aus dem Wortstreit Heraushelsen, der die eigentlich sachlichen Probleme der Ethik nur vernebelt, noch dem Wesen des Glaubens entsprechen. Ihm ist es eben gerade eigentümlich, daß er sich in den Grenzen des Bewußtseins nicht erschöpft. (Er kann in das Bewußtsein hinein­ leuchten, braucht es aber nicht. (Er kann sich auch ganz im Dunkel des Un­ bewußten verbergen. Diese Verborgenheit ist ihm wesenseigentümlich. Sie hängt mit seiner Tiefe zusammen. Er wird sich deshalb ausdringlicher Hellig­ keit des Bewußtseins um so eher entziehen, je mehr er sich von daher bedroht fühlt. Denn der Glaube ist immer Lebensfrage. Der Lebensinstinkt selbst

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Grundlegung

wird ihn in das Unterbewußtsein drängen, wenn er vom Bewußtsein her Gefahren wittert. Der Glaube erschöpft sich also nicht im Glaubensurteil. Gr stellt eine Verfassung des ganzen Menschen, und zwar von den wurzeln seiner Existenz her dar. Es ist deshalb auch keineswegs ausgemacht, daß sich in den Glaubensaussagen eines Menschen seine wirkliche Glaubensver­ fassung unmißverständlich ausspricht. Die Aussage kann geradezu aus der mehr oder weniger bewußten Tendenz entspringen, den wirklichen Glauben zu verhüllen. Sie kann Glaubenskulisse sein, von der Keuschheit, die um die notwendige Verborgenheit alles Lebensursprungs weiß und sich scheut In­ nerstes preiszugeben, bis zum absichtlichen Täuschungsversuch, der Heuchelei, die mehr scheinen möchte, als sie ist, gibt es hier alle Möglichkeiten. Das hat zu ihrem Verhängnis die Kirche immer wieder übersehen. Sie hat sich durch die Korrektheit der Glaubensaussage über den wirklichen Glaubensstand ihrer Glieder immer wieder täuschen lassen — obwohl sie im Evangelium vor den „Herr, Herr"-Sagern mit dem größten Nachdruck gewarnt und immer wieder aus den Lebensgehorsam gegen Gottes Gebot, auf das Kruchtbringen, auf die sittliche Tat als entscheidendes Kriterium für die Echtheit des Glaubens verwiesen war1). Nur so konnte es kommen, daß die Kirche der lebensmäßigen, sittlichen Ablösung ihrer Glieder vom Ehristentum so lange in unbegreiflicher Geruhsamkeit zusah. Nur so konnte es der Kirche vor dem Weltkrieg verborgen bleiben, wie weite Kreise ihrer Glieder längst in einer Glaubensverfassung standen, für die die metaphysischen Kormeln Nietzsches vom willen zur Macht und vom Herrenmenschentum der ungefähr entsprechende Ausdruck waren. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die dieser Sachverhalt vom Ethiker fordert, begegnet in verschiedener Hinsicht besonderen Schwierigkeiten. Sie liegen ein­ mal schon in der Beschaffung des Beobachtungsmaterials. Es versteht sich von selbst, daß es nicht lediglich den Lehrbüchern für Ethik entnommen werden kann. (Es kann nur aus dem Leben selbst kommen. Dafür wird es zwei Möglichkeiten geben: einmal die Selbstbeobachtung und dann das Hinschauen auf das sittliche Tun anderer, soweit es einen Durch­ blick auf seine letzten Motive gestattet. Die zweite Schwierigkeit liegt in dem richtigen Verhältnis zur traditionel­ len Sittenlehre, der philosophischen auf der einen, der theologischen aus der anderen Seite. Die philosophische Ethik wird vorbildlich bleiben müssen hinsichtlich der Strenge ihrer Methodik. Ihr Kragenbereich aber muß ausge­ weitet, das Kragebedürfnis vertieft werden. Das muß sich so auswirken, daß die ethische Reflexion grundsätzlich bereit ist, auch solche Zusammenhänge ernst zu nehmen, die außerhalb ihres traditionellen Beobachtungsfeldes liegen, was realiter in den Strukturzusammenhang des sittlichen Handelns gehört, muß auch rationaliter ernst genommen werden. was aber die theologische Ethik betrifft, so wird es sich darum handeln, über die bloße Glaubens aus sage hinaus die strukturelle Bedeutung des Glaubens zu erfassen. Muß die rationale Ethik das Glaubensproblem, so !) Matth. 3, 8ff.; 7, 16ff.; 12 33, Luk. 6, 44.

Das Wesensgefüge des Sittlichen

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mutz die theologische Ethik das Strufturproblem ernst nehmen lernen. Und was hier von der theologischen gesagt wird, gilt von jeder glaubensmäßig gebun­ denen Ethik. In der Beobachtung des sittlichen Phänomens wird es sich darum handeln, hinter alle direkte Glaubensaussage zurückzugehen. „Lhristlich" wird nicht schon dort gehandelt, wo einer es laut versichert. Nicht jeder rattonale Ethiker ist ungläubig, nur weil er vom Christentum oder von Re­ ligion schweigt. Nicht jeder Deutschgläubige handelt heidnisch, nur weil er sich am Christentum reibt. Immer wird es aus die innerste, vielleicht unausgesprochene Wesensverfassung des handelnden ankom­ men. Und hier eben auch noch für die letzten Motive hellsichttg und hellhörig zu werden, das wird die Aufgabe sein, die einer theologisch ausgerichteten und radikalisierten Wesensschau gestellt ist. Das stellt vor eine Aufgabe, die nur lösbar ist, wenn der Erkenntniswille eine lehtmögliche Steigerung erfährt, und zur eigentlichen Wahrheit- und Wirklichkeitsleid en schäft wird, wir haben also ständig um die Läuterung des Erkenntniswillens zu ringen. Alle Erkenntnisarbeit ist hier mehr noch als sonst gebunden an die größtmögliche weite und Tiefe des Blickes, an die völlige Unerschrockenheit des wahrheits- und Wirklichkeitssinnes, der alle Doreingenommenheit — auch die der eigenen Glaubenshaltung — preis­ zugeben bereit sein muß — um der Wahrheit, um Gottes willen, wer die Frage nach der Legitimität oder Illegitimität des Glaubens im Sittlichen stellt, muß auf jede Antwort gefaßt sein und die Wahrheit auch dann anzuer­ kennen bereit sein, wenn sie seine Gläubigkeit von Grund aus erschüttert, wir wollen nun im folgenden die Nolle des Glaubens im sittlichen Be­ wußtsein zunächst noch nicht mit christlich theologischen Begriffen beschreiben, sondern erst alle natürlichen Darstellungsmöglichkeiten erschöpfen. Dabei werden wir auf diese Naturtatsache des Glaubens mit einem durch das Christen­ tum geschärften Blick schauen — alles andere wäre unnatürlich. Da aber heute die natürliche Theologie mit so großem Selbstbewußtsein auftritt, muß der versuch unternommen werden, sie ganz aus den Sachverhalten des sittlichen Lebens selber heraus zu begreifen. Die Frage, ob die christliche Theologie sich mit dem Problem der natürlichen Theologie beschäftigen soll, beantwortet sich uns also zunächst dahin, daß es eine Forderung der christlichen Theologie ist, die tatsächlich vorhandene natürliche Theologie bis zum Letzten ernst zu nehmen. Dabei sind wir in allem darum bemüht, den historischen Aspett des Sittlichen zu gewinnen, also diejenigen Züge besonders herauszuheben, die sich uns heute in besonderer Deutlichkeit darstellen. Dieser Sachverhalt be­ haftet alle unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Theologie möglichen Feststellungen mit dem Charakter der Vorläufigkeit, den wir uns im folgenden immer gegenwärtig zu halten haben.

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Grundlegung I. Teil

Natürliche Theologie als Tatsache und Problem1) 4. Kapitel

Der Lebenssinn (Lxistentialsinn) der sittlichen Forderung Wir beginnen mit der Tatsache, die uns in der heutigen Lage besonders eindrucksvoll entgegentritt, daß der sittliche Wille zur Grundnatur unseres Daseins gehört. Wer vom Christentum herkommt, der ist auf diese Beob­ achtung vorbereitet durch die Lehre vom Erschaffensein des Menschen. Das Besondere an der heutigen Lage ist, daß sie auch der natürlichen Beobachtung geradezu in die Augen springt. Sie drängt sich auf allen Stufen der Abkehr vom christlichen Ethos auf. Gerade der grundsätzliche Charakter der heutigen Abkehr macht deutlich, daß der Mensch offenbar ein ganz elementares Be­ dürfnis hat, sich auch im Falle der Übertretung ererbter, in einer Tradition verankerter Prinzipien moralisch gerechtfertigt zu fühlen. Der Mensch will nicht als Sünder dastehen. 3n irgendeinem Sinne gut sein zu wollen, gehört zu den Grundbedingungen unserer Existenz. (Es geht ganz einfach an die Wurzeln unseres Lebensgefühls, wenn wir uns sagen müssen: du bist schlecht. 3n Zeiten grundsätzlicher Abkehr von der traditionellen Moral wirkt sich dieser Sachverhalt in dem Bestreben aus, das, was man bisher Laster genannt hat, als Tugend anerkannt zu sehen. So hat es auf erotisch-sexuellem Gebiet in den letzten Jahrzehnten keine Grenzüberschreitung gegeben, die sich nicht als neue Moral darzustellen bestrebt gewesen wäre. Selbst in der eigentlichen Derbrecherpsgchologie tritt dieser Zusammenhang noch hervor2). Es gibt nur einen Menschentgp, von dem man auf den ersten Blick meinen könnte, daß er davon eine Ausnahme mache: das ist der ethische Skeptiker. (Er versichert jedem, der es hören will, er pfeife auf alle Moral. Aber redet er nicht nur so? Dertritt nicht auch er seine moralische Gleichgültigkeit mit einer Art von moralischem Pathos? Ist es nicht auch hier so, daß er ein heißes In­ teresse daran hat, gerade so zu sein und nicht anders und daß er diese innere Lebensmöglichkeit anderen Möglichkeiten vorgezogen hat und nun, als hinge daran sein Leben, zäh verteidigt?3) Das ist bei der Derbissenheit, in der die moralischen Glaubensfronten heute

x) Karl Barth: Nein! Antwort an Emil Brunner, 1934. — Peter Barth: Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, 1935. — Emil Brunner: Das Gebot und die Ordnungen, 1932. — Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, 2 1935. — h. Frick: Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage, 1936 (bes. „Unser weg"). — Nicolai Hartmann: Ethik, 1926, 21935 (zit. 1. Ausl.). 2) Bezeichnend ist hierfür der Bericht, den Ernst v. Salomon in seinem auto­ biographischen Roman „Die Geächteten" von dem inneren Zustand seiner Mitge­ fangenen gibt. „Ein Derbrecher wollte niemand sein, der nicht, der blind und stumpf über die Fallstricke des Gesetzes gestolpert, der nicht, der mit kaltem Zynismus von seiner Straftat sprach, und der nicht, der einen nicht immer einträglichen und jeden­ falls gefährlichen Beruf verteidigte". 3) Dgl. Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, S. 4.

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einander gegenüberstehen, in der Tat eine tröstliche Zeststellung. hier findet sich mitten in der babylonischen Sprachverwirrung der Zeit eine gemeinsame Vokabel. freilich darf die Zeststellung des Existenzialsinnes der moralischen For­ derung, solange man theologisch-dogmatische Konsequenzen noch nicht daraus ziehen will, in ihrem Erkenntniswert nicht überschätzt werden. Sie besagt nur, daß der Mensch nicht gefragt ist, ob er moralisch sein will oder nicht. „Es liegt im Wesen des menschlichen wollens, daß es sich nicht auf etwas Wertwidriges als solches richten kann"x). Vie Grenze dieser Zeststellung vom Lebenssinn der sittlichen Zorderung liegt aber in der Vieldeutigkeit und Dunkelheit des Begriffes Le­ ben. was ist damit gewonnen? Damit sind eine Fülle neuer Zragen gestellt. Was heißt Leben? Die bloß biologische Bedeutung des Wortes hilft nicht weiter, heißt es Trieb? Ist es das verlangen nach Lust? Ist es der Wille zur Macht? Ist es hunger nach Liebe? Ist es absoluter Geist? Ist es Persönlichkeitswille? Mit dieser Vieldeutigkeit des Begriffs der Existentialität hängt es auch zu­ sammen, daß über den Inhalt des Sittlichen sich von hier aus noch keinerlei Bestimmung treffen läßt. Immerhin ist die Zeststellung vom Existenttalsinn der sittlichen Zorderung insofern wichtig, als sie das Ungenügen einer reinen Sollensethik deutlich hervortreten läßt. Kant hat dieser Auffassung des Sittlichen einen solchen Nachdruck und eine solche würde gegeben, daß kein versuch, das Wesen des Sittlichen anders zu bestimmen an seiner Begründung vorübergehen kann. Nun darf keine wesensbestimmung an Sttenge hinter Kant zurückbleiben. Ihm war es darum zu tun, das Sittliche gegen das psychologische abzugrenzen. Das Sittengesetz ist nicht nur ein psychologisches Phänomen. Es ist apriorisch, es erscheint vor aller Erfahrung in der Vernunft und be­ stimmt von da aus die Erfahrung. Es ist unableitbar. Es hat die würde der Autonomie. Aus dieser seiner Zreiheit heraus stellt es unbedingte For­ derungen. Zreilich drängt sich schon hier die Zrage auf, ob das überhaupt anders als theologisch, und zwar vom christlichen Gottglauben her, verstanden werden kann, wenn man davon aber absieht — und Kant selbst wollte den Gottglauben ja nicht als Voraussetzung, sondern nur als Konsequenz der Sitt­ lichkeit gelten lassen —, dann treten hier die Grenzen einer reinen Sollensethik besonders deutlich hervor. Sie kann nur die Zorderung aussprechen, der Mensch solle lediglich aus Achtung vor dem Gesetz handeln, wie er diese Achtung vor dem Gesetz aber finden und wie er aus ihr die Kraft und Zreudigkeit gewinnen könne zu handeln, darüber kann eine Sollensethik keine Auskunft geben, wir stehen hier also und mit derselben Ehrfurcht wie dieser aus der Seite Schillers gegen Kant. Sein Distichon: „Gerne dien' ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin" ist bei aller Kant nicht ganz gerecht werdenden Überspitzung unwiderleglich und muß über Kant hinausführen, hier bietet die Einführung des Begriffs der Existentialität eine Hilfe — zunächst wenigstens zur Auf­ hellung des psychologischen Sachverhaltes. Ich werde nach dem Sittengesetz Nicolai Hartmann: Ethik, S. 246.

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Grundlegung

handeln, wenn es in meinem Lebensgefühl Wurzel schlägt, wenn es mir lebenswichtig wird, wenn es mir den Sinn meines Lebens zu begründen scheint. Darin bestätigt sich uns heute auch die Kritik Schleiermachers an Karrt, der ihm die Welt des Sittlichen und des Natürlichen zu schroff auseinanderzureißen schien, freilich beschränkt sich unsere Übereinstimmung nur auf diese allge­ meine Tendenz, Vernunft und Natur nicht nur in ihrem Gegensatz, sondern auch in ihrer inneren Einheit zu sehen — wobei wir uns die Vorläufigkeit unseres Standpunktes gegenwärtig halten. Sittlich handeln stellt sich uns dar als eine Weise, auf die Welt zu wirken, die vom Lebensgefühl als die Entfaltung und Erfüllung des Sinnes der menschlichen Existenz bejaht wird. Nun mutz freilich gesehen werden, daß hier die Preisgabe alles dessen droht, was Kant in seiner Abwehr der heteronomie, in seinem nach­ drücklichen Bestehen auf der Autonomie des sittlichen Bewußtseins im Auge hatte und was unaufgebbar ist. Es kommt hier also alles auf die nähere Durchführung an, die wieder über alle natürliche Theologie hinaus zu bestimmter Glaubensentscheidung drängt. Immerhin kann gesagt werden, daß die Trennung des willens vom Gesamtgefüge des seelischen Lebens nicht die einzige Möglichkeit der Wahrung der Autonomie des Sittlichen dar­ stellt. In Wirklichkeit ergreift der Mensch das Sittliche jedenfalls nicht nur mit dem willen, sondern mit seinem ganzen Wesen. Allerdings bleibt dann die Krage zu beantworten, worin denn dieses menschliche Wesen sein eigenes Gesetz finde — und das ist eine Glaubensftage von metaphysischer Tiefe. Aber auch Kant blieb ja schließlich nichts anderes übrig als der Sprung in eine „Metaphysik der Sitten", die dann aber eben nur eine Metaphysik des willens werden konnte. Jedenfalls aber „kehrt sich" auch für Kant, wie Nicolai Hartmann besonders klar gesehen hat, von da aus „das Verhältnis von wollen und Sollen um1). Und eben um die Tatsache, daß Sollen ohne wollen nie zur sittlichen Tat führt, mag uns zunächst der Begriff der Existentialität des sittlichen wollens zum Bewußtsein bringen. Zu sittlicher Tat kommt es nur, wenn das Sollen vom Lebenswillen bejaht ist. In der Bibel tritt dieser Zusammenhang ganz deutlich hervor. Schon im Alten Testament kommt die Beziehung zwischen moralischem Gebot und Le­ bensgefühl überall dort zum Ausdruck, wo von der „Lust" am Gesetz Gottes die Rede ist. „Wohl dem, der ... Lust hat zum Gesetz des Herrn"2). Im Neuen Testament kommt dieser Zusammenhang vor allem in der Weise zur Geltung, daß die Offenbarung des göttlichen Gebotes als frohe Botschaft verkündigt wird. Überall ist wert darauf gelegt, den Menschen innerlich für den willen Gottes zu gewinnen. Er soll freudig ja sagen lernen. Er soll das Gesetz „nicht gezwungen, sondern willig", „von Herzensgrund" erfüllen lernen3). Deshalb entscheidet sich Jesus in der Versuchungsgeschichte gegen jede Art von innerer und äußerer Überwältigung durch Wunder oder politische Herrschaft. Er will seine Korderungen als Heilsweg begreiflich machen, wie besonders in den Seligpreisungen beherrschend hervortritt. A. a. (v. S. 89.

2) P(. 1 lf.

2) l. Petr. 5, 2 ff.

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5. Kapitel

Der Wirklichkeitscharakter der sittlichen Sortierung 0 Zu weiterer Verdeutlichung des sittlichen Phänomens ist neben dem der Existentialität der Begriff der Wirklichkeit unerläßlich. Ls muß ja doch gefragt werden, wer es denn eigentlich ist, der dem Menschen „Du sollst!" zuruft. Dabei ist es uns auch hier zunächst nur um den phänomenologischen Befund, um reines Hinschauen auf die Sache zu tun. Offenbar stehen wir hier vor dem grundlegenden Unterschied von Sein und Sollen. Auch der einfachste, naivste Mensch findet sich, wenn ihn das „Du sollst!" trifft, in einem „Sein"' in einem Zustand also, der seiner Verantwortung entrückt ist, in einem schlecht­ hin Gegebenen, das er ohne sein Zutun vorfindet. Begegnet ihm nun das „Sollen", so rückt damit das Sein in eine ganz eigentümlich neue Beleuchtung. Es verliert seine alles ausfüllende Bedeutung. Es wird nicht mehr flächenhaft, es wird perspektivisch gesehen. Es wird zum Vordergrund, hinter dem neue Horizonte auftauch en. Das kann nicht ohne Beunruhigung, ja Bestürzung und Erschütterung geschehen. In der Religion kommt dies darin zum Ausdruck, daß die fordernde Gottheit immer auch als „numinos", unheimlich, furchterre­ gend erlebt wird*2). Der Mensch wehrt sich deshalb zunächst gegen das Sollen. Es stört ihn ja in seiner naturgegebenen Seinsweise. Tragbar wird dieses in alle Lebensruhe einbrechende „Du sollst nicht!" erst, wenn es selbst Seins­ charakter gewinnt. Und zwar erscheint der Seinsbereich, aus dem das „Du sollst!" kommt, der Vordergrundswelt des einfach vorgefundenen Seins gegenüber als das „eigentliche" Sein, als die schicksalhafte „Tiefe", als der „Sinn", der „tragende Grund" der Seinswelt. Wäre das „Du sollst!" nicht in dieser Weise legitimiert, vermöchte es seine Herkunft — danach gefragt — nicht so zu begründen, dann würde es uns gewiß nicht ver­ anlassen können, ihm zuliebe unser einfaches Sosein aufzugeben und uns in all die Beunruhigungen hineinzustürzen, die von ihm ausgehen. Ein Ethos, das sich, sei es begrifflich, sei es gefühlsmäßig, nicht in solcher Weise verständlich zu machen und auszuweisen versteht, ist unleugbar zur Wirkungslosigkeit ver­ urteilt. Das Ehristentum wurde eine moralische Weltmacht, weil es seine For­ derungen aus einem tieferen Wissen um die Wirklichkeit der Dinge ableitete: „Die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind" 3). Ls verlor seine sittliche Wirkungsmacht, als Gott zur „Idee" verblaßte. Wie sehr der Wirklichkeitscharakter der sittlichen Forderung zum Wesen der Sache gehört, tritt in der ethischen Literatur der Gegenwart besonders am Wertbegriff deutlich hervor. Er verdankt die Bedeutung, die er hier ge­ wonnen hat, nicht zuletzt dem verlangen, der Wirklichkeitsfülle der sitt-

*) Berneuchener Buch, 1926. — Reinhold Gross: Wertethik oder religiöse Sitt­ lichkeit, 1933. — Rudolf (Dtto: Das heilige, 221932. — h. Rickert: System der Phi­ losophie I. 1921. — Mar Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 31927. — Frredr. Karl Schumann: Der Gottesgedanke und der Zerfall der Moderne, 1929. — Georg Wünsch: Wirklichkeitsreligion, 1930. Vers.: Wirtschafts­ ethik, 1927. 2) Dgl. den Begriff des Ruminosen bei Rudolf (Dtto: „Das heilige". 3) 1. Kor. 1, 25; vgl. überhaupt das ganze erste Kap. des 1. Korintherbriefes.

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Grundlegung

lichen Forderung ansichtig zu werden. Dabei wird unter Wert diejenige Eigenschaft einer Sache verstanden, die sie überhaupt „geeignet macht, einer Handlung zum Ziel zu dienen", werten gilt „in der Sphäre des praktischen" als „unumgänglich, denn Leben ist ahne handeln undenkbar ... und wo gehandelt wird, da mutz gewertet werden, also ist Leben und werten unzer­ trennlich miteinander verknüpft"1). Es kommt hierbei nicht auf den Begriff, sondern auf die Sache an; ohne diese aber ist sittliches Verhalten un­ möglich, denn „sittliches Verhalten ist sinnvolles Verhalten, und Sinn ist nur möglich als wert"2). So ist eine „Güterethik, wie die Schleiermachers und Richard Rothes" „nur dadurch möglich gewesen, daß sie instinktiv sich nach Wertgesichtspunkten ordnete"3). Aber „selbst die Ethik Kants, die im höchsten Matze formal sein will, kann materiale werte nicht umgehen; sie ist eine vom Schein der Allgemeingültigkeit umhüllte, historisch bedingte, materiale Wertethik"4).* In diesem Sinn wehrt sich — wie vordem schon Max Scheler3) — Nicolai Hartmann gegen eine „reine Sollensethik". Sie ist ihm „sittliche Ver­ blendung", „Wertblindheit für das wirkliche", sie begeht, „den Kehler des vorbeisehens an der Külle des Lebens" 6). Bei solcher Wichtigkeit der Sache ist natürlich die Krage von entscheidender Bedeutung, ob die werte wirklich existieren oder ob sie auf Einbildung beruhen. Auch wenn alles Illusion wäre und die werte „durch menschliches Urteil erst gemacht"7) würden, könnten sie natürlich immer noch zu Handlungen mit sittlichem Anspruch antreiben. Aber damit wäre der Sittlichkeit alle würde genommen, und das wäre bei ihrer tiefen Verankerung im Lebensgefühl eine sehr schwerwiegende Tatsache, die zu völligem Pessimismus führen mützte: denn was könnte das menschliche Leben noch für wert haben, wenn es an so zenttaler Stelle völlig auf Täuschung beruhte! Die Wertphilosophen der Gegenwart sprechen denn auch den Werten in verschiedener Weise Objektivität zu—zumeist so, daß sie von objekttverGeltung reden3). Danach sind diewerte nicht, aber sie gelten. Man will die Seinsweise der Werte damit vom realen Sein der sinnlichen Wahrnehmungswelt unterscheiden, h. Rickert redet des­ halb von „posittvem-irrealem" Sem9). N. Hartmann von „idealem Ansichsein". „Werte sind der Seinsweise nach platonische Ideen", „Werte sind Wesen­ heiten" 10). Es handelt sich bei dieser ganzen Unterscheidung von idealem und realem Sein also um das erkenntnistheoretische Problem der Realität. Darauf können wir hier nicht näher eingehen. Das aber mutz uns deutlich sein, daß der nur erkenntnistheorettschen Reflexion eine Zuschauerhaltung eigentümlich ist, die an das Wirklichkeitserleben des sittlichen Impulses gar nicht heran­ kommen lätzt. Dieses ist nur im Mitvollzug erfaßbar, wir beschränken uns hier also auf die phänomenologische Keststellung, daß es um einen wirkJ) Georg wünsch, Wirtschaftsethik S. 41. 2) Georg wünsch in RGG.2 V 1870. 3) wünsch, Wirtschaftsethik S. 45. 4) Gg. wünsch RGG9 V 1870. 6) „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik". 6) a. a. (D. S. 8. 7) wünsch, Wirtschaftsethik. S. 83. 8) h. Rickert N. Hartmann. 9) Sgstem der Philosophie Teil I. 10) Ethik 108 f.

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lichkeitsanspruch geht, nicht um das bloß erkenntnistheoretische Problem der „Realität". Der sittliche Antrieb offenbart dem Handelndenim strengen Sinne des Wortes eine „Wirklichkeit", die wirkt, die „wirkendes", schaffendes, zum „wirken" drängendes Leben ist — im Unterschiede von der „realen" (res) empirischen Welt, die nur „Gegenstand" der autonomen Welterkenntnis ist und mich innerlich nichts angeht,- die „reale" Welt könnte immer nur auf dem Wege mythischer Übersteigerung zur Quelle des sittlichen handelns werdens. Der Wirklichkeit aber, von der sittliche Imperative ausgehen, kann man nicht als Zuschauer gegenüberstehen — der Zuschauer handelt nicht, er reflektiert und problematisiert. „Einem wert gegenüber... bleiben wir nie ... gleichgültig. Er zieht uns in seine Kreise, läßt uns nicht ruhen... "*2). Der handelnde spürt, daß daran der Sinn seines Lebens hängt — das allein treibt ihn in das Wagnis der Tat. „Niemand erträgt das Leben in einer ent­ werteten und entheiligten Welt"3). Dieses Wirklichkeitserleben allein gibt ihm den Mut zur „Negation" des „ihm widersprechenden Realen, wie wohl­ begründet dieses ontologisch auch sein mag"4).

6. Kapitel

Der UnbeclingtheitscharaKter der sittlichen Forderung Gott als Gesetzgeber Mit alledem stehen wir nun an dem Punkt, an dem der innere Zusammen­ hang unmittelbar verständlich wird, in dem Ethos und Theologie miteinander stehen. Das Phänomen des Sittlichen hat tatsächlich eine Seite, die eigentlich nur theologisch beschrieben werden kann. (Es ist dies der Unbedingtheits­ charakter alles echten Ethos, wo er erlebt wird, steht der Mensch, ob er es weiß oder nicht, in einer Gottbeziehung — d. h. er macht dieselben Erlebnisse durch, die der bewußt Gläubige im Verkehr mit dem Gott seines Glaubens macht. „Alle Ethik, die von einem unbedingten Prinzip ausgeht, beruht fattisch und wesentlich aus einem glaubend ergriffenen Letzten"5). wir versuchen zunächst den Sachverhalt möglichst deutlich zu ersassen, der uns nur theologisch ganz verständlich zu werden scheint, um dann den philosophischen Einwand zu besprechen, der sich gegen den theologischen Aspekt des Ethos erhebt, und schließlich nach dem Verhältnis solcher natürlich theologischen Rede von Gott zur christlichen Gotteserkenntnis zu fragen 6). x) vgl. hierzu auch das eindrucksvolle Buch von Friedr. Karl Schumann, Der Gottesgedanke und der Zerfall der Moderne, das im Anschluß an die „Grundwissen­ schaft" Johannes Rehmkes um „die Möglichkeit einer Befreiung der Theologie aus den erkenntnistheoretischen Fesseln" ringt. — In anderer Werse hat dasselbe An­ liegen das Berneuchener Buch in dem Abschnitt: „Die Überwindung des gegenständ­ lichen Denkens" S. 80 ff., an der alle natürliche Theologie ebenso interessiert ist wie die christliche. 2) h. Rickert System der Philosophie Teil I, S. 117. 3) H. Hartmann S. 8. 4) Hartmann a. a. G. 145 6) Heinrich Benckert: Der Begriff des Glaubensaktes S. 79. •) Heinrich Benckert: Der Begriff des Glaubensaktes Lic. Diff. 1935. — Karl heim: Glaube und Denken 1928. — Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. —

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Grundlegung

1. Der Sachverhalt, den wir hier im fluge haben, besteht zunächst in der eigentümlichen Unmittelbarkeit, in der im sittlichen Erlebnis Existentialität und Wirklichkeitscharakter des Sittlichen aufeinander bezogen und abgestimmt sind. Kus dieser Abgestimmtheit ergibt sich erst der Absolutheitscharakter der sittlichen Forderung. Das kann ein ganz unmittelbares Erlebnis sein, das gar nicht zum Bewußtsein kommt. Aus die Stufe der Reflexion erhoben, wird man von diesem Zusammenhang so reden müssen, wie Karrt es in seiner Formulierung des kategorischen Imperativs getan hat: „handle nur nach der­ jenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde", „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden solle" *). Man wird sich nur vor der Meinung hüten müssen, als entstehe der Unbedingtheitscharakter durch diese Reflexion. Diese kann vielmehr nur einen Zusammenhang aufdecken, der ganz unmittelbar da ist, ohne notwendig ins Bewußtsein zu tteten. Jeden­ falls wird der Unbedingtheitscharakter der sittlichen Forderung nicht wie ein neues Moment zu schon vorhandenem hinzugesügt, sondern ist in der Un­ mittelbarkeit schon mitenthalten, in der Existentialitäts- und Wirklichkeits­ charakter der sittlichen Forderung aufeinander bezogen sind. Im Unbedingt­ heitscharakter einer sittlichen Zorderung erschließt sich mir die Gewißheit, daß sich in ihr nicht nur der Sinngrund meines Lebens, sondern auch die eigentlich ttagende Tiefe der Gesamtwirklichkeit bekundet, in der ich stehe. Faßt man diesen Sachverhalt unvoreingenommen ins Auge, wird man immer empfinden, daß Begriffe wie das Unbedingte, das Absolute, das Letzte ihn nicht ganz zu erreichen vermögen. Ls mag viele Gründe geben, den Gottes­ begriff zu vermeiden, sttukturell gesehen handelt es sich um ein Erlebnis, das nur als Beziehung eines Menschen zum Gott seines Glaubens beschrieben werden kann. Das wird noch deutlicher, wenn wir beobachten, daß in derselben Un­ mittelbarkeit wie Lebenssinn und Wirklichkeitscharakter im sittlichen Phänomen auch Sein und Sollen aufeinander abgestimmt erscheinen. Auch hier ist ein ganz einfacher Sachverhalt gemeint, der sich der Selbstbeobachtung un­ weigerlich aufzwingt. Zur sittlichen Tat kommt es nur, weil an ihre Mög­ lichkeit in der wirklichen Welt geglaubt wird. Bei aller Empfindung für den Gegensatz zwischen Sollen und Sein seht sittliches Tun ein ganz be­ stimmtes Zuttauen auch zur wirklichen Welt voraus: diese darf nicht als eine Stickstoffiammer empfunden werden, die jedes Aufleuchten eines höheren Lebenswillens von vornherein unmöglich macht. Absoluter Pessimismus oder noch deutlicher: hemmungslose Angst würde jede sittliche Regung im Keime ersticken. Da, wo es zu sittlicher Tat kommt, wird immer an eine letzte Einheit von Sein und Sollen geglaubt — allem Augenschein zum Trotz. Seine ganze innere Mächtigkeit gewinnt der sittliche Anttieb erst dort, wo er sich ge­ rufen fühlt, die Seinswelt zu ihrer eigensten Ursprünglichkeit zurückzurufen. Oers.: Kritik der praktischen Vernunft. — Vers.: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Reclam. T) Beide Formulierungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt.

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Das Wesensgefüge des Sittlichen

Daß dieser Zusammenhang auch hier nicht ins Bewußtsein zu treten braucht, zeigt nur, wie tief er in die sachliche Struktur des sittlichen handelns selbst ein­ gesenkt ist. Schließlich sei noch auf die Personalität des sittlichen Impulses hin­ gewiesen. Der kategorische Imperativ trägt schon in seiner sprachlichen Form personalen Charakter. Er heißt nicht zufällig: „Du sollst!" Sittlich wirksam wird er erst dort, wo er zum Wort, zur persönlichen Anrede wird, wo er ein persönliches Gesicht, eine persönliche Würde, Wärme und Leuchtkraft gewinnt. Im Erlebnis der Personalität fassen sich erst alle anderen Züge wie Existentialität, Wirklichkeitscharakter und Unbedingtheit zu einer inneren Einheit und Ganzheit zusammen, die dann fordernd an mich herantreten kann. Personalität bedeutet eben nicht nur Beziehungswärme, sondern auch Abstand, Selbständigkeit und Würde dem Ich gegenüber. Das ist die ewige Bedeutung des Du, daß es mir als ein anderes Ich gegenübersteht — mir tief verwandt und doch auf keine Weise aus meinem Dasein heraus erklärbar. Sittlich ge­ troffen wird der Mensch nicht schon als Individuum, sondern erst als Person. Sittlich anreden kann ihn nicht schon das wortlose Unbedingte, sondern erst die wortmächtige absolute Person. Nur so kommt das Bewußtsein der Derantwortung zustande, das vom sittlichen Geschehen doch völlig unabtrennbar ist. Wo ich mich der unbedingten Forderung gegenüber nicht verantwortlich weiß, wo die Reinheit, in der sie vor mir das Ideal aufleuchten läßt, mich nicht ganz persönlich zur Rechenschaft zieht und mich ebenso die Größe meines Abstandes wie die Mög­ lichkeit meiner Annäherung an die reine Idealität des Geforderten erschreckend und zugleich beseligend empfinden läßt, — da kommt es auch nicht zur sitt­ lichen Tat im Dollsinn des Wortes. Auch vor Dort und Staat, Familie und Beruf — und vor meinem eigentlichen Selbst kommt es zu echter sittlicher Derantwortung doch nur dort, wo das betreffende Sachgebiet „durchtönt" ist von einer letzten Bedeutsamkeit personaler Art, die über alle bloße Sach­ beziehung hinausgeht. „Derantwortung ist ja schon rein sprachlich von Ant­ wort abgeleitet. Einer unpersönlichen Sache kann ich nicht ‘Hebe und Antwort stehen'. .. .Lin ichloser Gegenstand kann mich nie zur Derantwortung ziehen. Derantwortung gibt es nur gegenüber einem Du..." T). „Das Pathos der unbedingten Derpflichtung" ist allein zu haben um den Preis der „Abhängigteit vom ewigen Du" *2).* 2. Nun erhebt sich gegen die hier behauptete theologische Struktur des sittlichen handelns ein Einwand von feiten der philosophischen Ethik. Er sei an Nicolai Hartmanns Ablehnung jedes „metaphysischen Personalismus" erläutert, die in ihrer Begründung höchst aufschlußreich ist. Er befürchtet nämlich „Dernichtung des Menschen und Inversion des kategorialen GrundJ) Karl heim: Glaube und Denken S. 343 f. 341. 2) Dgl. auch Friedrich Seifert: Charakterologie (Handbuch der Philosophie), 1929, das Kap. „Individuum und Person" : „Nur als Angesprochener und Spre­ chender, als Aufnehmender (dem Ruf sich Öffnender) und Antwortender (und eben hierin sich Der-antwortender) tritt das menschliche Individuum aus den Schranken seines naturhaft gegebenen Wesensbestandes heraus", 5. 54. $14: Müller, Lthtt

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Grundlegung

gesehes"T), macht also gegen den Gottesgedanken einen erkenntnistheore­ tischen und einen ethischen Gesichtspunkt geltend. „Nach dem kategorialen Grundgesetz bilden in der Schichtung der Kategorien allemal die niederen die Voraussetzungen der höheren." „Vie niederen Kategorien sind die stärkeren, die höheren die schwächeren" 2). hiergegen verstoße nun „die teleologische Metaphysik", mit ihrer „metaphysischen Vermenschlichung des Alls"3) im Gottesbegriff, „hier wird das höhere Prinzip (Wert, Sollen, Lelos) dem niederen vorangestellt, dieses von ihm abhängig gemacht. Oer Kausalnexus der Natur wird abhängig gemacht vom Zinalnexus, obgleich er ... dessen Voraussetzung ist. Der ganze Weltzusammenhang wird nach Analogie des Menschen und seiner Akte verstanden4)." Dadurch aber gehe die Ligenart des Menschen in seiner kos­ mischen Stellung verloren. „Ist die ganze Welt ihm wesensgleich, so bleibt für ihn keine kategoriale Sonderstellung, kein Vorrecht, keine Überlegenheit übrig. Auf diesem Vorrecht aber beruht das ganze ethische Problem". „Die meta­ physische Vermenschlichung des All ist die moralische Vernichtung des Menschen" 5). Diese Abwehr des Gottesbegriffs ist deshalb so aufschlußreich, weil sie wider Willen Zeugnis ablegt für das, was sie bestreiten will. Denn sie ist durchaus von einem Gott-Glauben bestimmt. Mit diesem Hinweis soll selbstverständlich der Forderung „philosophischer Konsequenz" und „ernsthafter Kategorialanalgse"6), die Hartmann hier einschärst, nichts abgehandelt werden. Ls soll nur der eigentümliche Zwang deutlich werden, der hier den Philosophen an einen Glauben bindet. Lr findet im Gottesbegriff den Menschen um seine Vorrangstellung im Kosmos gebracht und „als sittliches wesen, als Person vernichtet"7). „Die Grundbestimmung des Menschen als sittlicher Person" wird hier nämlich in „Vorsehung und Vorbestimmung, providenz und Prädestination"3) gesehen. Der Gottesbegriff erscheint wie bei Zeuerbach in allem als „das getreue Abbild des Menschen, nur ins Absolute gesteigert", als „die Projektion des menschlich-personalen wesens ins Übermenschliche und Kosmische hin­ aus" 9). So fällt hier der Lthik die Aufgabe der Rettung des Menschen zu. „Die Lthik tut — und muß tun — was in den Augen des Zrommen Gottes­ lästerung ist: sie gibt dem Menschen die Attribute der Gottheit. Sie gibt ihm wieder, was er, sein eigenes Mesen verkennend, von sich abgetan und Gott beigelegt hat, oder, wenn man es anders aus drücken will, sie läßt die Gottheit herabsteigen von ihrem Weltenthron und im willen des Menschen wohnen. Dem Menschen fällt das metaphysische Erbe Gottes zu" 10). was ist das aber anderes als ein Glaube, der den Menschen im struk­ turellen Sinn des Wortes zum Gott macht und der dem Lthiker alles gibt, was ihm eben nur eine Glaube geben kann? hier scheint sich ihm der letzte Sinn des sittlichen Phänomens zu enthüllen, hier allein meint er auf dem Boden einer unerschütterlichen Wirklichkeit zu stehen. „Ls mag nun eine Vorsehung Gottes geben oder nicht — niemand weiß das und niemand wird es jemals *) Lthik S. 184. 2) S. 186. 3) S. 186. 4) 5. 186. 5) S. 186. «) S. 185. 7) S. 186. 8) S. 179. 9) 5.183. 10) S. 180.

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erweisen—aber dieses wissen wir, daß es eine Vorsehung des Menschen gibt'11). So unerschüttert steht hier der Mensch in der Mitte des Daseins, daß das Phä­ nomen des Gottesglaubens nur aus der Überhöhung des Menschen erklärbar scheint. Und es ist deutlich, daß der Lthiker hier den von uns besprochenen Einklang von Sein und Sollen vom Menschen her sucht — das Sein mutz so gedacht werden, daß Raum für die sittliche Bestimmung des Menschen bleibt. Und kann auch die Besorgtheit des Erkenntnistheoretikers um das kategoriale Grundgesetz anders erklärt werden als aus der mgstisch-gläubigen Selbst­ erfassung heraus, in der sich der Mensch hier als die schlechterdings tragende Mitte alles Seins begreift*2)? Aus diesen Feststellungen ergibt sich nun Sinn und Grenze aller Rede von einer natürlichen Theologie, wir sind aus die Tatsache gestotzen, datz für das sittliche handeln der strutturmätzige, in der Sachgesehlichkeit des Sittlichen wirksame Zwang der Glaubensbindung an einen — Gott besteht. Dabei braucht der Gottesbegriff gar keine Rolle zu spielen, es kommt alles auf die Sache an. wir stotzen hier also auf das Phänomen einer natürlichen Religiosität, die überhaupt nicht in das Bewutztsein zu tteten braucht. Natürliche Theologie nennen wir das Bemühen, sie bewutzt zu machen. Ls ist zu einer dringlichen Aufgabe der theologischen Besinnung geworden, weil uns versuche dazu heute von christentumsgegnerischer Seite allerorten begegnen. handelt es sich aber so um eine dringliche Aufgabe, so kann natürliche Theo­ logie doch nie zu einer selbständigen Erkenntnisquelle neben der christlichen Offenbarung werden. Der Grund dafür liegt eben in der Dunkelheit, Undeut­ lichkeit und Unbewutztheit aller natürlichen Religiosität. Das Dunkle kann immer nur vom Hellen, das Undeutliche vom Deutlichen, das Unbewußte vom Bewußten aus offenbar werden, wenn man sich scharf beobachtet, wird man deshalb finden, daß man bei allen Deutungsversuchen auf die posittve Offenbarung angewiesen bleibt. Das ist ein Sachverhalt, dem wir auch sonst allerorten unterliegen, wenn ich wissen will, ob die Zeichenversuche eines Rindes Kunst sind, werde ich mich an die posittven Offenbarungen des Wesens der Kunst in den großen Künstlern halten müssen,- ebenso ist es auf dem Ge­ biete der Musik oder der Dichtkunst oder auch der Wissenschaft — was wir mindestens in der Nachkriegszeit (Expressionismus, Dadaismus usw.) nicht immer gewußt haben. Das Wesen der großen menschlichen Grundbegabungen, auf denen alle höhere Kultur beruht, tritt einfach nicht allerorten in der gleichen Deutlichkeit hervor. Ich habe mich immer an das hellere zu halten, um das Dunklere begreifen zu können. Ich muß vom Urbild aus das Abbild zu ver­ stehen suchen. Der Sinn des Abbildes ist, von sich weg auf das Urbild hinzu­ weisen 3). Von da aus muß nun die Zrage, ob die natürliche Religion eine selbständige *) S. 180. 2) Dgl. hier §riedr. Karl Schumann: Der Gottesgedanke und der Zerfall der Moderne, 1929, des. etwa S. 337 ff. 3) Dgl. den Begriff der Uridee bei Alverdes: Leben als Sinnverwirklichung, 1936.

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Grundlegung

Erkenntnisquelle neben der geschichtlichen Offenbarung bedeutet, mit nein beantwortet werden, vonpositiver Offenbarung reden wir eben dort, wo uns das Wesen der Gottbeziehung des Menschen in urbildlicher Klarheit begegnet. Darüber, warum uns diese Klarheit nur an sehr vereinzelten, aus dem sonstigen Geschehen hochgebirgsmäßig herausragenden Punkten begegnet, ist im Grunde genau so wenig zu räsonieren wie über die Tatsache, daß das Wesen der Musik nur so überaus selten unverhüllt heroortritt. wir haben dies einfach als eine Tatsache ehrfürchtig anzuerkennen. Der Vorrang der posi­ tiven Offenbarung vor der natürlichen liegt in ihrer veutungstiefe und v eutungsfülle: sie ist wie ein Berg, der mächtig aus der Ebene aufragt und Übersichten gewinnen läßt, die von unten aus unmöglich sind. In einer Lage wie der heutigen stellt diese Einsicht vor eine doppelte Aufgabe: einmal muß die Ebene wirklich ernst genommen werden. Es geht nicht an, vor lauter Zn-die-höhe-Starren für die unmittelbare Umgebung blind und unachtsam zu werden. Dazu aber bedarf es der Bergbesteigung. Das Abbild wird ja nur vom Urbild aus verständlich. Für diesen Sachverhalt genügt aber nicht die abstrakte Feststellung, er kann sich nur in immer neuer Erprobung bestätigen. In diesem Sinn gilt es, in der Aufhellung der glaubens­ mäßigen verfaßtheit des sittlichen Phänomens noch größere Klarheit zu gewinnen. Schon jetzt aber läßt sich sagen, daß zwischen Abbild und Urbild nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch sachliche Beziehungen bestehen. Vie natürliche Religion unserer Tage ist auch da, wo sie dies abstreitet, mannigfach abhängig von der christlichen Offenbarung, wer nach Schütz, Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Wagner musiziert, soll seinen Ehrgeiz nicht darein setzen, etwas durchaus Neues zu erfinden, er soll sich der Möglichkeit des Nachtastens freuen. „Vas ewig wahre, greif es an"1).2 Er mag dann sehen, was ihm ge­ schenkt wird. So enthält nicht nur die natürliche Religion der Gegenwart da, wo sie wirklich ernsthaft ist, christliche Elemente, wie auch Nietzsche sie gehabt hat. Auch die phänomenalste Darstellung des sittlichen Bewußtseins in der neueren Geschichte, die Kants, ist ohne das Christentum gar nicht denkbar. Nicht der kategorische Imperativ trägt das Christentum,- er ist vielmehr nur auf Grund des christlichen Gottglaubens möglich — struktur­ mäßig, nicht bewußtseinsmäßig verstanden. Das geht schon daraus hervor, daß es für Kant nur ein ethisches Soll gibt — weil es genau wie für Luthers nur einen Gott gibt. In der Unbedingtheit der sittlichen Forderung sieht Kant sich von der einen letzten Tiefe der Wirklichkeit her ergriffen — daher sie ihm denn auch mit der Unendlichkeit des einen, alles über­ wölbenden Sternenhimmels zusammengehört3). „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehr­ furcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der *) Zum Verhältnis von „natürlicher Religion" und Evangelium, h. Frick, a. a. O. bes. S. 196 ff. 2) vgl. hierzu Gerhard Fricke a. a. G. S. 215. 3) vgl. horst Stephan: Kant und Religion, in Kantstudien Bd. XXIX heftl/2, S. 207 ff.

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bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten, ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz" *). was Kant beschreibt, ist offenbar jener eigentümliche Zusammenklang zwischen Existentialität und Realität, zwischen der Welt des Seins und des Sollens, den wir als den we­ sentlichen Gehalt des Gotterlebens erkannt hatten, hier fühlt Kant wirklich festen Boden unter den §üßen, der aller kritischen Besinnung und Infragestellung standhält. Dieser Boden aber ist der Gottglauben des Lhristentums. Ist so die erkenntnismäßige und sachliche Abhängigkeit aller natürlichen Religion von der geschichtlichen Offenbarung erwiesen, so will nun auch der echte Dienst gesehen sein, den die christliche Offenbarung von der natürlichen Religion empfängt. Sie kann demGffenbarungsglauben zur Konkretisierung verhelfen und ihn vor Erstarrung bewahren. Lin Satz von Kant macht hier alles deutlich: „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote". „Die geoffenbarte (oder einer Offenbarung benötigte) Religion" ist ihm dabei „diejenige, in welcher ich vorher wissen muß, daß etwas ein göttliches Gebot, um es als meine Pflicht anzuerkennen". „Die natürliche Religion", die er allein gelten lassen möchte, ist „dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann" *2). Kant irrt: auch in der natürlichen Religion geht dem sittlichen Gehorsam der Glaube voraus. Ls gibt keinen abstrakten Gottglauben, zu dem die sittliche Derpflichtung erst noch hinzu­ käme. Das aber ist das Uranliegen des christlichen Gottglaubens. Aber es gibt allerdings eine Erstarrung des Gottglaubens zur Abstraktion. Sie mag sich durch die natürliche Religion Kantscher Prägung immer wieder daran erinnern lassen, daß Gott die eben im sittlichen Gebot mit uns redende Wirklichkeit ist. Das ändert nichts daran, daß in solcher natürlichen Religion nur wieder ein Sachverhalt lebendig wird, der der christlichen Offenbarung ureigentümlich ist und erst hier zu voller urbildlicher Klarheit kommt.

II. Teil

Natürliche Anthropologie 7. Kapitel

ver Glaubenscharakter der sittlichen Sortierung3) wir haben versucht, uns das Phänomen des Sittlichen von der Gbjektseite, von der sittlichen Zorderung, vom Gesetzgeber her verständlich zu machen. Alles, was wir bisher gesagt haben, kann aber erst von der Subjektseite, von 0 Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft. 2) Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft S. 165. 3) L. G. darus psgche (Kröner). — Gerhard Zricke: Der religiöse Sinn der Klassik Schillers. Zum Verhältnis von Idealismus und Christentum, 1927. — L. G. Jung: Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben, 31926. — Vers.:

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Grundlegung

der sittlichen Tat, vom Täter, vom Menschen her ganz plastisch werden. Vir sehen den Unbedingtheitscharakter der sittlichen Forderung erst dann ganz deutlich, wenn uns ihr Glaubenscharakter klar ist. Der Mensch „glaubt" an die göttliche würde der sittlichen Forderung. was hier zu sagen ist, kann am besten an der Strukturanalyse deutlich werden, in der Luther im Großen Katechismus das Wesen der Gottbeziehung beschreibt, hier davon auszugehen, empfiehlt sich deshalb, weil sich darin ein Glaubensleben von weltgeschichtlicher Wirksamkeit und von urbildlicher Rein­ heit, Kraft und weite ausspricht. Darin liegt kein Abbruch des Gespräches mit dem Andersdenkenden. Ls soll dabei lediglich um sachliche Klarheit gehen. Nichts würde hier mehr an der Wirklichkeit vorbeiführen, als der versuch einer rationalen Ableitung, wer wissen will, was Glaube ist, muß ihn da fassen, wo er geschichtsmächtig wird. Luther fragt hier nun: „was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott?" Und er gibt darauf die erstaunlich sachliche Ant­ wort: „Lin Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zu­ flucht haben in allen Nöten: also daß einen Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott... denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott." Luther beschreibt hier die Gott­ beziehung als eine seelische Tatsache. Ls kann dabei keine Rede davon sein, daß er damit die metaphysische Realität Gottes in Frage stellen wollte — etwa im Sinne der Äußerung E. G. Jungs, der Gottesbegriff sei „eine schlechthin notwendige psychologische Funktion irrationaler Natur, die mit der Frage nach der Existenz Gottes überhaupt nichts zu tun" habe1). Oie psychologische Realität des Glaubens ist für Luther vielmehr der selbstverständliche Erkenntnis­ grund für das Dasein Gottes. In seiner reinen Form ist Glaube ihm „ein Gotteswerk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott" (E. A. 63,124f.). Das Bewußtsein der Realität Gottes ist vom Glaubensakt also untrennbar. Bei einer Illusion sucht man nicht „Zuflucht in allen Nöten", versucht man von hier aus die Struktur des Glaubensaktes und damit des Gotterlebens zu beschreiben, so heben sich die Züge der Existentialität, der Unmittel­ barkeit und der Entscheidungsnotwendigkeit heraus. Ls ist klar, daß es danach einfach zur Existenz des Menschen gehört, an etwas zu glauben. Dazu drängt die Unsicherheit seiner Lage. Er bedarf immer einer Geborgenheit vor den Unsicherheiten und Gefahren des Lebens. Jeder Mensch ist in irgendeinem Sinn heilsgläubig. Für Luther erschließt sich dieser Sachverhalt in einer religionsgeschichtlichen Überlegung. „Es ist nie ein Volk so ruchlos gewesen, das nicht einen Gottesdienst aufgerichtet und gehalten hat; da hat jedermann zum sonderlichen Gott aufgeworfen, dazu er sich Gutes, Seelenprobleme der Gegenwart, 1931. — Friedr. Paulsen: 5gstem der Ethik, 121921. — Ritter-Stählin: Kirche und Menschenbildung, 1933. — Max Scheler: Dom Ewigen im Menschen, 31933. Oers.: Formalismus in der Ethik. — Schiller: Briefe über ästhetische Erziehung. 92, 93 Bb. XII b. Stuttg. Säkularausg. 333. — Titius: RGG.2 II 400 ff. — Max wundt: Geschichte der griechischen Ethik I u. II, 1908 u. 1911. T) Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben, 1926.

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Hilfe und Trost versehen hat. Als nämlich: die Heiden, so ihr Datum auf Ge­ walt und Herrschaft stellten, warfen ihren Jupiter zum höchsten Gott auf,die andern, so nach Reichtum, Glück oder nach Lust und guten Tagen standen, Hercules, Mercurius, Venus oder andere, die schwangeren Frauen Diana oder Lucina,- und so fort. 6s machte sich jedermann das zum Gott, dazu ihn sein herz ttug. Also, daß eigentlich, auch nach aller Heiden Meinung, einen Gott haben, heißt ttauen und glauben" *). hiermit macht Luther eine für die reli­ giös-sittliche Lage der Gegenwart höchst bedeutsame Feststellung. Es gibt subjektiv echtes Glauben nicht nur auf dem Boden des Christentums. Es ist zur Entwirrung der gegenwärtigen Lage nicht unwichtig, sich das zum Bewußtsein zu bringen, weil es der vorherrschende Rattonalismus und Posi­ tivismus der letzten Jahrhunderte einfach hatte vergessen lassen. Danach schien es ja doch so, daß — wie dies besonders konsequent Auguste dornte und Lud­ wig Feuerbach vertteten haben — Glaube eine Haltung war, die nur dem Kindheitsstadium der menschlichen Entwicklung angemessen ist. Es bedurfte erst in unseren Tagen einer eigentlichen Wiederentdeckung der Urbedeutung des Glaubens *2).3 4wir sind also nicht gefragt, ob wir glauben wollen, sondern nur woran wir glauben wollen. Gehört so der Glaube zur Grundnatur unseres Daseins, so wird auch seine Unmittelbarkeit und mögliche Unbewußtheit verständlich, hier zeigt sich, daß Bewußtsein und Leben sich nicht decken. Dieser Sachverhalt wird am einfachsten an der Beobachtung deutlich, daß die meisten Menschen gar nicht wissen, daß und woran sie — in dem hier erläuterten strukturellen Sinn des Wortes — glauben. Es ist eine verhängnisvolle Entwicklung gewesen, die den Protestantismus im Gegensatz zu Luther und unter Abhängigkeit vom Hu­ manismus immer tiefer in eine Sewußtseinspsgchologie hineingeraten ließ, für die vom Glaubensvorgang nur noch das wahrnehmbar war, was in den Bereich des Bewußtseins hat. So mußte er dann der Tatsache des Unbewußten in allen ihren Erscheinungen unachtsam und, als sie sich nicht mehr leugnen ließ, hilflos gegenüberstehen2). Umso wichtiger ist deshalb die Wieder­ entdeckung des Unbewußten in der Psychologie und Psychotherapie der Gegenwart. So stellt der Züricher Psychologe d. G. Jung fest: „Die moderne Psychopathologie verfügt über eine Fülle von Beobachtungen seelischer Tätigkeiten, welche den Bewußtseinsfunktionen durchaus analog und doch unbewußt sind. Alles, was im Bewußtsein geschieht, kann gegebenenfalls auch unbewußt geschehen, wieso dies möglich ist, kann man sich am besten klarmachen, wenn man sich die seelischen Funktionen und Inhalte wie eine nächtliche Landschaft vorstellt, auf die der Lichttegel eines Scheinwerfers fällt, was in diesem Lichte der Wahrnehmung erscheint, ist bewußt,- was aber außerhalb im Dunkeln liegt, ist zwar unbewußt, lebt und wirtt aber trotzdem"*). 30, I 134, 35 ff. 2) So Max Scheler, wenn er sagt, daß „der religiöse Att von jedem Menschen notwendig vollzogen" wird und daß er „eine wesensnotwendige Mitgift der mensch­ lich-geistigen Seele" ist. Dom Ewigen im Menschen, S. 559 ff. 3) Dgl. Wilhelm Stählin: Menschenführung als Aufgabe der Kirche, in RitterStählin: Ruche und Menschenbildung, S. 31 ff. 4) Seelenprobleme oer Gegenwart, S. 177.

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Grundlegung

Schließlich hastet dem Glauben Entscheidungscharakter an. Auch er braucht nicht zum Bewußtsein zu kommen. Es kann sich jemand ohne die mindeste Empfindung für die Möglichkeit einer Wahl mit seiner Glaubens­ inbrunst einfach auf den nächstgegebenen Lrfahrungsinhalt werfen, über meist wird ja auch dem Bewußtsein die unendliche Mannigfaltigkeit mög­ licher Lösungen der Glaubensstage nicht verborgen bleiben, die die Not­ wendigkeit einer Entscheidung begründet. Jedenfalls kann schlechterdings jeder mögliche Lrfahrungsinhalt mit der Glut des Glaubens umfaßt werden. Luther hat dies sehr plastisch geschildert: „Das muß ich ein wenig groß ausstreichen, daß man's verstehe und merke an gemeinen Exempeln des Wider­ spiels. Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er niemand etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon (Matth. 6, 24), das ist, Geld und Gut, darauf er all sein herz setzt, welches auch der allergewöhnlichste Abgott ist auf Erden, wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist ftöhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies: es klebt und hängt der Natur an bis in die Grube. Also auch, wer darauf traut und trotzt, daß er große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre habe, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten, einigen Gott. Das siehest du abermal dabei, wie vermessen, sicher und stolz man ist auf solche Güter, und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden oder entzogen werden" *). Für Luther ergibt sich aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher Lösungen der Glaubensfrage die Notwendigkeit einer Grundentscheidung zwischen richtig und falsch, zwischen Gott und Abgott. Aber das sind Konsequenzen, die schon wieder den christlichen Gottesbegrift voraussetzen und deshalb erst später ganz deutlich werden können. Dom Standpunkt der natürlichen Theo­ logie aus kann die hier vorliegende Dieldeutigkeit des Glaubenslebens weder scharf gesehen noch überwunden werden. wie sehr es nun ein Glaube in dem hier erläuterten strukturellen Sinn ist, der aller sittlichen Haltung und Entscheidung zugrunde liegt, das sei an einem ganz krassen, deshalb aber auch zwingenden Beispiel verdeutlicht. Es sei der sexualreformerischen Literatur des Bolschewismus entnommen, wenn irgend­ wo, dann ist hier das Experiment der Ablösung der Ethik von jeder Art von bewußter Gläubigkeit kompromißlos durchgeführt und ein brutaler, jede andere Normierung beiseitesetzender Rationalismus an die Stelle aller irrationalen Bindungen gesetzt, hinter dieser positivistischen Fassade sehen wir aber ein Glaubensleben primitivster Prägung wirksam, das für unseren Zusammenhang außerordentlich aufschlußreich ist. Alexandra Kollontag berichtet in ihrem alle Schranken der christlichen Auffassung rücksichtslos niederlegenden Suche „Wege der Liebe" von den Liebeserlebnissen „dreier Generationen". 3n jeder Generation steigert sich die Unbedenklichkeit der erotisch-sexuellen Grenz2) TD. EL 30 I 133. Max Scheler schildert diesen Sachverhalt ganz ähnlich, wenn er sagt, daß „jeder Mensch notwendig ein Glaubensgut habe" ein besonderes Etwas, einen mit dem Akzent des Höchstwertes (für ihn) betonten Inhalt, dem er be­ wußt oder doch in seinem naiv wertenden praktischen Verhalten jeden anderen Inhalt nachseht". vom Ewigen im Menschen S. 561 f.

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Überschreitung. Immer aber wird — auch im letzten Stadium der Auflösung, die der vorhergehenden Generation schon völlig unverständlich ist — mit „moralischem" Bewußtsein gehandelt. Dieses moralische Bewußtsein wurzelt jedesmal in einer primitiven Gläubigkeit. So wird etwa „eine tgpische Rulturarbeiterin der neunziger Jahre, Herausgeberin sozialer Broschüren und un­ ermüdliche Arbeiterin auf dem Gebiete der Dolksausklärung'", geschildert, die in scheinbar glücklicher Ehe mit einem Regimentskommandeur lebt. Ihr Mann liebt sie, und sie ist Mutter zweier Rinder. Diese in höchster bürgerlicher Achtung stehende Zrau bricht eines Tages ihre Ehe, verläßt Mann und Rinder und lebt mit dem Ehebrecher zusammen. Mas kann ein moralisch scheinbar festgefügtes Leben wie das hier geschilderte so aus der Bahn werfen — und dabei noch ein eigentlich moralisches Pathos entstehen lassen? Man wird dafür keine andere Erklärung finden können als die, daß hier nach dem Zer­ brechen des bewußten Gottglaubens eine Glaubenssehnsucht ganz un­ bewußter Art erwacht ist. Da ist ein Mensch, der einen vollgültigen Lebens­ inhalt sucht, an dessen Sinnhaftigkeit er mit ungebrochener Inbrunst glauben könnte. Ein bewußtes Glaubensleben führt er nicht mehr. Die Schriftstellerin, die uns den Bericht gibt, weiß vom Glaubenscharakter dieser Sehnsucht natür­ lich ebensowenig etwas wie die Heldin ihrer Erzählung. Aber die Untertöne ihrer Darstellung lassen ganz deutlich erkennen, worum es sich hier handelt. Rur so ist das — strukturell-formal gesehen — moralische Pathos verständlich, mit dem hier die Ehe gebrochen wird. „Allmählich — so heißt es — begann das passive, zu große Wohlleben der Regimentskommandeuse sie zu bedrücken." Sie sehnt sich nach einer größeren Tiefe des Lebens. Dieses Derlangen wirft sich von einer Befriedigungsmöglichkeit in die andere: leidenschaftliche Lek­ türe, Auslandsreisen, Briefwechsel mit Tolstoi, bis sie eines Tages „das Schick­ sal" mit einem Mann zusammenführt, der ihr Erfüllung zu bringen scheint. Sie ist so lange an ihn gebunden, wie man eben nur an den Gegenstand eines Glaubens gebunden ist — bis er selbst zum Ehebrecher wird und ihr daran die Augen aufgehen, daß er kein Gott, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Mensch ist, der all die tiefen Empfindungen gar nicht verdient, mit denen sie sich ihm zugewandt hatte. Aus der Abhängigkeit vom Glauben erklären sich im Phänomen des Sitt­ lichen all die Züge, die zweifellos nicht aus der Reflexion stammen. Dom Unbedingtheitscharakter war schon die Rede. Er ist nur glaubensmäßig verstehbar und kann seine letzte Ronsequenz nur auf streng monotheisti­ scher Grundlage gewinnen. Jede irgendwie polytheistische Struktur des Glaubenslebens muß der uneingeschränkten Geltung sittlicher Prinzipien Abbruch tun. Die Geltung eines sittlichen Gebotes reicht immer nur soweit wie die Macht des Gottes, an den geglaubt wird. Das Ethos ist immer Spiegelbild seines Glaubens. Dom Glauben her wird auch der Entscheidungscharakter des Ethos deut­ lich. Dabei ist hier noch nicht von der Einzelentscheidung im Falle der Wahl zwischen zwei sittlichen Möglichkeiten die Rede, wir meinen hier die Grund entscheidung, die einem Ethos das Gepräge gibt. Sie bezieht sich immer auf die Entscheidung zwischen verschiedenen Glaubensmöglichkeiten. Natürlich

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Grundlegung

tann hier der einzelne in eine solche Grundentscheidung hineinwachsen — man denke an ein Volk oder sonst einen Lebenskreis mit ungebrochener Glaubenstradition. Erspart aber bleibt die Entscheidungsnotwendigkeit keinem. Das hängt einfach mit der Sülle von Glaubensmöglichkeiten zusammen. Immer neu entsteht die Frage, ob ich — mit Luther zu reden—an meine „große Kirnst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre", ob ich an den Mam­ mon, an den Eros, an den Staat, an die Nation glauben soll oder nicht. Erst von solcher Entscheidung aus gewinnt mein Ethos einheitliche Prägung. Man sieht, wie vieldeutig auch hier alles ist, solange man den Boden der natürlichen Theologie nicht verläßt. vom Glaubensproblem her fällt dann auch Licht aus das Problem des Eudämonismus *). Es geht in ihm um nichts anderes als die Frage der Unmittelbarkeit der sittlichen Bestimmung des Willens. Es handelt sich hier also nicht*2) schon um den Inhalt des Gebotes, sondern durchaus um eine Frage der Grundorientierung. In allen seinen möglichen Spielarten geht er auf eine Glaubensbeziehung zurück — möge er nun an das individuelle oder das allgemeine wohl (Egoismus oder Utilitarismus), möge er an die Sinnenfreude oder die harmonische Wesensverfassung (subjektiver oder objektiver Eudämonismus — Hedonismus oder Energismus) glauben. Immer geht es um die Überwindung der Gesetzlichkeit, immer geht es um die Frage des persön­ lichen Einklangs mit der sittlichen Forderung. Darin aber hebt der Eudämonis­ mus eine Grundeigentümlichkeit alles sittlichen Tuns heraus, deren Recht und Unrecht nur vom Glaubensproblem aus bestimmt werden kann. Darin ist er deshalb auch unüberwindlich. Daß sittliches handeln mit Lust verbunden ist, liegt an seiner Glaubensbedingtheit: sein Glaubensgut ergreift der Mensch immer mit Lust. In ihm gewinnt ja sein Leben Sinn, wie hoch oder wie tief er auch greifen möge. Daß das unbedingte Soll zum Lebensprinzip geworden sein muß, bevor es wirken kann, das haben gegenüber Kant ebensowohl Schiller wie Nietzsche, jeder in seiner Ürt, eingesehen. Schiller spricht das in mannigfacher Form aus3), aber er sucht die Lösung dafür im Ästhetischen. Nietzsche hat dieselbe quellende Unmittelbarkeit des Sittlichen im Rüge, wenn er zum Künder der „schenkenden Tugend" wird: „... eine schenkende Tugend ist die höchste Tugend", wo sie fehlt, da ist „Entartung". Über er sucht die Lösung in einer äußersten Steige­

rung des willens. Ganz klar ist der Zusammenhang zwischen beglückender Lebensfülle und sittlicher Tat von Luther gesehen. Ihm ist der Glaube „ein lebendig, schästig, tätig, mächtig Ding", das nicht anders kann als „ohne Unterlaß" Gutes wirken. Gb diese Glaubensbedingung der Reinheit der sittlichen Motivierung abträglich ist oder nicht, das hängt also nicht schon am T) vgl. Kant: Kritik der prakt. Vernunft. Maxwundt: Geschichte der griech. Ethik Iu. II. Friedr. Paulsen: System der Ethik, bes. II S. 171 ff. Max Scheler: For­ malismus in der Ethik 1916. Titius RGG.2 II400 ff. 2) wie Mthaus annimmt, Ethik S. 20. 3) So in: „Vie Philosophen": Gerne dien ich...; besonders schön in „Das höchste": Siehst du das höchste, das Größte? Vie Pflanze kann es dich lehren, was sie willenlos ist, sei du es wollend — das ists! vgl. Gerhard Fricke: ver religiöse Sinn der Klassik Schillers, S. 242.

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Mitschwingen von Lustempfindungen, sondern ganz an der Art des Glaubens­ gutes. Wer deshalb den Eudämonismus in seiner ethisch-anfechtbaren Form angreifen will, der mutz seinen Glaubensgrund ändern, der muß seinen Gott entthronen. Erst von da aus wird auch der Zundamentalfehler aller bloß eudämonistischen Begründung des Sittlichen deutlich. Er tritt darin zutage, daß hier das Gute in Güter umgefälscht wird. Oie Güter werden mit dem Guten identtfiziert, sie werden so behandelt, „als ob" sie das Gute wären — weil an sie geglaubt wird. Vie vom Eudämonismus aufgegebene Frage läßt sich also in keiner Weise nur moralisch lösen. Wenn somit Kent dem handeln aus Neigung das handeln aus Pflicht entgegensetzt, so verfängt das nur dann, wenn hinter der Pflichtforderung — was bei ihm ja sicher der Fall war — auch ein heimlicher Gottglaube mit seinen Verheißungen steht. An diesem Sachverhalt ändert der theoretische Atheismus der meisten Ludämonisten ebensowenig wie der rigoristische Autonomismus der Pflichtethik Kants, der die Gottesidee erst nachttäglich in Form des Postulats zulassen will. Kants historisches und sach­ liches Verdienst, das ihm nicht geschmälert werden darf, liegt darin, daß er in einer Zeit sich verdunkelnden und verflachenden Gottesbewußtseins die sachliche Würde und Unantastbarkeit des sittlichen Bewußtseins zur Geltung brachte und damit auch den einzigen Weg religiöser Erneuerung beschritt,- seine Grenze liegt darin, daß er die Eigenständigkeit übersteigerte und ihre Unablösbarkeit vom Gottglauben nicht schon in ihren Ursprung, sondern erst in die Frage ihrer Ver­ wirklichung setzte. Diese ganze Abspaltung war ihm nur deshalb möglich und der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Glaube und Ethos blieb ihm nur deshalb verborgen, weil bei aller Erschütterung des Glaubensbewußtseins praktisch für ihn doch nur ein Monotheismus christlicher Prägung in Bettacht kam und deshalb auch da stillschweigende Voraussetzung und in Wirk­ samkeit blieb, wo absichtlich von ihm abgesehen wurde, heute zwingt uns das hervorbrechen eines neuen Glaubensbewußtseins, die Vieldeutigkeit des Glaubenslebens zu erkennen und eröffnet damit auch eine neue Sicht für das Problem des Eudämonismus. Der Mensch kann nicht anders als nach Glückseligkeit streben, weil er das sittliche Gebot nicht anders als glaubend hören und erfüllen kann. Die Entartungsmöglichkeit seines Glücksverlangens hängt mit der Entartungsmöglichkeit seines Glaubens zusammen. Sofern das Gebot besteht, erst bei der letzten Erklärungsmöglichkeit stehen zu bleiben, drängt also das Problem des Eudämonismus über sich hinaus zum Freiheits­ problem als der Frage, wie es zu der eigentümlichen Vieldeutigkeit und vielstufigkeit des Glaubenslebens hat kommen können. Nur so kann der unaufgeb­ bare Satz des deutschen Idealismus gerettet werden: „Glückseligkeit zu suchen, ist nicht der höchste Zweck des Menschen"Der Mensch soll nicht nach seinem Glücke, aber er wird und darf immer nach seinem Gotte fragen. Und nur so wird Schiller recht behalten: „Der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen" *2). -1) Schiller, Asth. Dori. 92, 93 Bö. XII der Stuttgarter Säkularausg. 333. 2) Anmut und würde, vgl. noch weitere Belege bei Gerhard Fricke 5. 220 ff.

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Grundlegung

8. Kapitel

Das Zreiheitsproblem Mit dem Glaubensproblem haben wir auf die letzten, zugleich aber mannig­ fachster Deutung ausgesetzten Zusammenhänge hingewiesen, die im sittlichen Tun erscheinen. Wie verwickelt auch das Zreiheitsproblem ist, wird schon daran deutlich, daß hier Philosophen wie Leibniz, Spinoza, Kant, Sichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer — um nur einige Namen zu nennen, die doch alle in denselben geistesgeschichtlichen Zusammenhang hineingehören — innerhalb gewisser Grundüberzeugungen zu weit auseinanderliegenden Antworten gekommen sind. Dabei leuchtet ohne weiteres ein, daß Zreiheit eine sittliche Grundtatsache ist. Zurechnung, Derantwortung und Schuld — alle diese kon­ stitutiven Momente des Sittlichen — setzen unleugbar Zreiheit der Entschei­ dung für das Gute voraus. Nur so kann der Mensch im Dollsinn des Wortes als „der Angelpunkt des Seinsollens im realen Sein"*2) verstanden werden. Aber was ist Zreiheit? Bedeutet Zreiheit die Leugnung des Kausal­ zusammenhanges, also Unabhängigkeit von den Gesetzen der Natur? Mutz man sich also auf den Standpunkt des Indeterminismus stellen? Dann mützte man freilich auch mit der ewigen Gegenrede des Determinismus rechnen — und der Zall wäre hoffnungslos. Denn hat nicht jeder dieser beiden Standpunkte in dem, was er behauptet, recht, ohne doch die Argumente des Gegenredners überhaupt auch nur zu treffen? Der Determinismus hat recht, wenn er auf der Undurchbrechbarkeit des Kausalzusammenhanges auch im Willensvorgange besteht. Der Indeterminismus hat recht, wenn er den sittlichen Gehorsam, wenn er das Bewutztsein der Derantwortung und Schuld nicht einfach in ein mechanisches Spiel der Beweggründe verfälschen will, bei dem — unter dem dann doch immer noch einer Erklärung bedürftigen Schein der Zreiheit — nur der jeweils stärste Antrieb über den schwächeren siegt. Wie ist aus diesem Widerstreit herauszukommen? Zweifellos nur durch ein Denken, das dialektischen Charakter, also Ge­ sprächsform hat und bei dem die eine Seite die andere wirklich anhört und ernst nimmt. Dann mutz die lückenlose Geltung des Kausalitätsgesetzes ebenso wie das Bewutztsein der Zreiheit, Derantwortung und Schuld als ein Tatbestand genommen werden, der durch theorettsche Dergleichgülttgung nicht einfach autzer Kraft gesetzt werden kann. Dazu hat in epochemachender Weise Kant die Wege geebnet. In Bettacht kommt hier die Art, wie er den Widerstteit zwischen Kausalität und Zreiheit löst. Er weist nach, datz der hier vorliegende Gegensatz nur scheinbar ist. Die Synthese wird aber nicht so erreicht, datz der Geltungsanspruch der Kausalität angetastet, sondern so, datz neben der unein2) Heinrich Benckert: Der Begriff des Glaubensattes, a. a. G. — Friedrich Brunstäd: Willensfreiheit RGG? V 1938 ff. — Gerhard Fricke: Der religiöse Sinn der Klassik Schillers. — Arnold Gehlen: Theorie der Willensfreiheit, 1935, S. 156. — Nicolai Hartmann: Ethik a. a. ®. — Emanuel Hirsch: Die idealistische Philosophie und das Christentum, 1926. — Kant: Kritik der reinen Dernunft, Ausgabe v. Kehrbach (Reclam). 2) nie. Hartmann S. 159.

Var Wesensgefüge der Sittlichen

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geschränkten Gesetzlichkeit der Natur noch eine Gesetzlichkeit ganz anderer Art anerkannt wird. Denn der Mensch ist nicht nur „Naturwesen", sondern auch „Dernunftwesen". AIs solches gehört er nicht nur zur Erscheinungswelt, in der er unweigerlich dem Kausalitätsprinzip unterliegt, sondern auch zu einer „intelligiblen Welt", in der er frei ist. Und zwar greift er mit dieser Freiheit nun in den Kausalnexus ein, nicht um ihn aufzuheben, sondern um in ihm eine „Kausalität aus Freiheit", also eine neue Kausalreihe zu begründen. Kant nimmt also eine Kausalität an, „durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, das ist eine absolute Spontaneität der Ursache, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Lauf der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist" r). Die „Freiheit im positiven verstand" ist also, wie Nicolai Hartmann den Sinn dieser Kantischen Entdeckung erläutert, „nicht ein Minus an Determination (wie die „negative"), sondern offenkundig ein plus an Determination. Ein Minus läßt der Kausalnexus nicht zu. Denn sein Gesetz besagt, daß eine einmal im Ablauf begriffene Reihe von Wirkungen auf keine weise außer Kraft gesetzt werden kann. Lin plus dagegen läßt er sehr wohl zu — wenn nämlich es ein solches gibt —, denn sein Gesetz besagt nicht, daß zu den kausalen Bestimmungsstücken eines Vorganges nicht noch ander­ weitige Bestimmungsstücke hinzutreten könnten". „Der Prozeß wird durch solches hinzukommen nicht unterbrochen, sondern nur ab­ gelenkt. Das eben ist das Eigentümliche des Kausalnexus, daß er sich zwar nicht aufheben oder abbrechen, wohl aber ablenken läßt. Der weitere Verlauf des Prozesses ist dann ein anderer, als er ohne die neue Determinante gewesen wäre". Die Lösung des Problems bei Kant liegt also in einer „Sgnthese kau­ saler und unkausaler Determinanten"*2). Der Angriff des Determinismus auf die Freiheit ist somit hier so abgewehrt, daß sein Wahrheitsanliegen in eine Betrachtung ausgenommen ist, in der es voll zur Geltung kommt, ohne doch das Phänomen der Freiheit einfach zu ersticken. Der Angriff des Indeter­ minismus auf das Kausalitätsprinzip aber ist so abgewehrt, daß wiederum sein Wahrheitsanliegen in eine Betrachtung ausgenommen ist, in der es voll zur Geltung kommt, ohne doch den Tatbestand der kausalen Bedingtheit des Naturlebens zu verdunkeln. Einen anderen weg zur Wahrheit als den der dialektischen Begegnung der jeweils einander gegenüberstehenden Gegen­ redner gibt es nicht. Darin kommt nur einfach der metaphysische Sachverhalt, daß Gott das Ich und das Du geschaffen und unlösbar aneinander, zugleich aber an den ewigen Grund seiner, alles umfassenden Wahrheit gebunden und damit auch allem Relativismus entrissen hat, auch auf dem Gebiete der Wahrheitsforschung zur Geltung. wir verbinden dieses Ergebnis der Kantischen Lösung des Freiheits­ problems nun mit unserer Betrachtungsweise, indem wir sagen: ftei wird der Mensch nur in der Hingabe an den Gott seines Glaubens. Nur so wird der J) Kritik der reinen Vernunft. 2) Hie. Hartmann, S. 591.

Ausgabe von Kehrbach 2. (Reclam) S. 370.

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Grundlegung

wirkliche Vorgang getroffen. Das Zreiheitsbewußtsein hat seinen Ursprung nicht in der Reflexion, sondern in jener tiefsten Schicht menschlicher Existenz, der der Glaube zugehört. Der handelnde Mensch macht im Gehorsam gegen die sittliche Forderung staunend die Entdeckung, daß er frei wirdx). Die Frei­ heit wird erlebt nicht als bloße Unabhängigkeit den niederen Begehrungen und Abhängigkeiten gegenüber, sondern vor allem als das Tor zu neuen höheren Beglückungs- und Erfüllungsmöglichkeiten, nicht als ein bloßer Verzicht, nicht als bloße „negative Freiheit von etwas", sondern als „Freiheit im positiven verstand" (Kant), als ein positiver Zuwachs an Leben, der entdeckt, vom inne­ ren Menschen ergriffen und als persönlicher Besitz zugeeignet sein muß, bevor er zur Tat führen kann. Dieser Akt der Zueignung aber vollzieht sich nicht in der bewußten Reflexion, sondern in jener letzten persönlichen Lebens­ tiefe, die sich uns als Glaube erschlossen hat. Erst in der Begegnung mit seinem

*) So schildert etwa der Bildhauer Ernst Rietschel in seinen Zugenderinnerungen, wie er der „Gelüste des Appetits" Herr geworden sei, die geweckt wurden, wenn er sie andere sorglos befriedigen sah. „Als ich während des Fastnachttages meine Mit­ schüler duftende Pfannkuchen essen sah, nahm ich mir vor, des Abends, wenn ich nach Hause ging, bei einem Bäcker, wo diese Rüchen als besonders gut gerühmt wurden, einige zu kaufen. Ich kämpfte mit meiner Neigung als einem Unrecht, das ich an meinen Eltern verübte, indem ich das Geld, das sie sich abdarbten, so wenig es auch sein mochte, für eine Nascherei ausgab,- doch die Entschuldigung, daß es ja doch nur diesmal geschähe, blieb nicht aus. Ich ging also nach Schluß der Stunde den von meiner Wohnung abführenden weg zum Bäcker, meinend, ich habe bis dahin noch Zeit, zum Entschluß der Entsagung zu kommen. Allein in die Nähe des Bäckerhauses gekommen, machte ich dem kindischen Begehr dadurch ein Ende, daß ich anfing, heftig zu laufen, so daß ich bald vorüber war. wieder umzukehren war nicht möglich, ich hätte mich ja vor mir selbst schämen müssen. Der Appetit war weg und ich ging vergnügt nach Hause." (Ausg. v. Hesse $. 58). hier handelt es sich um das Erlebnis der Freiheit. Die Flucht vor dem Bäcker ist eine freie Tat, zu der keinerlei äußerer Zwang antreibt. Es ist lediglich das Gefühl der Verantwortung gegenüber einer idealen Forderung wirksam, deren mögliche Übertretung als Schuld empfunden wird, woher stammt hier nun das Gefühl der Befreiung, das Aufatmen nach der überwundenen Ver­ suchung? Sicherlich ist das „Vergnügen", mit dem der junge Akademiestudent nach errungenem Sieg nach Hause ging, nicht durch die Reflexionen ausgelöst, die den ganzen inneren Komps begleiten. Der Vorstellung, wie seine Eltern haben darben müssen, steht ja vielmehr die doppelte Überlegung der Geringfügigkeit und Einmalig­ keit der Ausgabe gegenüber. Es ist vielmehr ein Vorgang von durchschlagender Un­ mittelbarkeit und Tiefe, der dem inneren Kamps ein Ende macht und seinen sehr be­ zeichnenden Ausdruck in der Beschleunigung der Gangart findet, die nun in raschem Lauf an der Gefahrenquelle vorüberführt. Das Bezeichnende ist doch, wie hier die „intelligible" Welt, aus der der widerstand gegen den Appetit auf Pfannkuchen kommt, als der eigentliche Sinn des eigenen Lebens ergriffen und gegen seine Be­ drohung in einer Entscheidung sichergestellt wird. Die Unmittelbarkeit, die Lebens­ bedeutung, der Entscheidungscharakter und dann die zur Entladung drängende Dgnamik dieses ganzen Vorganges — das alles sind Züge, die dem Glaubensakt eigen­ tümlich sind. Das Erlebnis der Freiheit ruht auf einer Glaubensentscheidung. Das bestätigt auch das Verhalten des Lindauer Kaufmanns Friedrich Gruber (1805—1850), oon dem es heißt, daß er das Theater und die Kaffeehäuser nicht be­ suche: „um die für junge Leute beinahe immer daraus entstehenden Übeln Folgen der Sittenlosigkeit zu vermeiden" und der für seine Einsamkeit „eme süße Vergeltung" findet „in dem Selbstgefühle, sich nichts vorzuwerfen zu haben". („Friedrich Gruber, ein Lindauer Kaufmann." Nach Briefen und Tagebüchern von Zan Thorbecke. Felix Krats Verlag, Stuttgart, S. 75).

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Gott entdeckt der Mensch seine Freiheit. Denn „hier kommt alles auf die Ein­ sicht an, daß das Gottesbewußtsein nicht zu ‘erarbeiten’, sondern nur freizu­ legen ist, und daß diese Freilegung des Gottesbewußtseins eben eine Frei­ legung ist und mit der Selbstbefreiung wesentlich zusammenfällt" T). Die Unablösbarfeit des Freiheits- vom Glaubensproblem und damit die Notwendigkeit einer Überwindung der idealistischen positton wird besonders deutlich von den Einwänden aus, die N. Hartmann gegen jede „Derschiebung des Freiheitsbegriffes ins Religiöse" erhebt. Dorbilülich an Kant findet er, daß „der mit seinem metaphysischen Gewicht alles erdrückende Gottesbegriff" „ausgeschaltet", „vom ens realissimum zum ‘Ideal der reinen Dernunft' depotenziert" und „in dieser Abschwächung" „ungefährlich" geworden fei*2). Tadelnswert findet er, daß Kant die volle Entfaltung der Freiheitsidee durch gewisse Reste einer religiösen Metaphysik gefährde. Diese stecken seiner Mei­ nung nach in Kants transzendentalem Idealismus, der die Naturwelt mit dem Kausalnexus nur als die „Erscheinung" einer hinter ihr stehenden, aber nicht selbst in Erscheinung tretenden „intelligiblen" Welt versteht, die nur eben in der positiven Freiheit in die Erscheinungswelt hineinwirke. So werde die Freiheit in ein überindividuelles Bewußtsein, die prakttsche Dernunft, verlegt und damit eine eigentliche „Freiheit der Person" vernichtet, denn der „Freiheit gegenüber der Naturgesetzlichkeit", entspreche keine „Freiheit gegen­ über den sittlichen Prinzipien und ihrer Sollensforderung"3). Es müsse aber „Freiheit in doppeltem Sinne"4) sein, darin habe die scholastisch-religiöse Fassung des Freiheitsproblems Kant gegenüber recht5). „In einer ‘Freiheit des Menschen gegenüber Gott' mußte notwendig der ganze Sinn der ethischen Freiheit enthalten sein". „Ist der Mensch bloß dem Naturlauf gegenüber frei, nicht aber den Geboten Gottes gegenüber, so steht es gar nicht in seiner Macht, die Gebote zu übertteten, also auch nicht, sich für sie (und damit für Gott) zu entscheiden. Nun aber ist gerade dieses die charakteristisch religiöse Stellung des Menschen zu Gott, daß er wider Gott gehen d. h. ‘sündigen' kann und auch tatsächlich sündigt". Stecke somit „im religiösen Freiheitsproblem durchaus mehr als die bloß ‘ttanszendentale Freiheit'", so müsse die Ethik nun „den vollen Doppelsinn der alten Freiheitsidee wiedergewinnen, ohne doch die Kantische Errungenschaft, die Ablösung vom religiösen Problem, preiszugeben". „Erst in der Synthese des scholastischen und des Kanttschen Problems läßt sich der volle Gehalt der Freiheitsidee, und damit der zweiten und höheren Problemlage gewinnen"3). In dieser Krisis sehen wir Hartmann durchaus die Wege gehen, die auch uns notwendig scheinen. Nur daß wir hier im Gegen­ satz zu ihm die Unmöglichkeit einer- rein anthropologischen Begründung der Freiheit bestätigt sehen. Hartmann meint die Glaubensfrage völlig ausschalten zu können, uns scheint sie zur Aufklärung des Phänomens der Freiheit un­ erläßlich. Denn erst dort wird Freiheit in ihrer ganzen Tiefe erfaßt, wo man sie in dem doppelten Sinn der Entscheidung für und gegen Gott als den Glau­ bensgrund alles sittlichen Tuns versteht. Seine Dieldeutigkeit gewinnt das *) Arnold Gehlen: „Theorie der Willensfreiheit", 1933, S. 156. 2) Ethik S. 576. 3) S. 642. *) 5. 642. 5) S. 629. «) S. 630.

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Grundlegung

Glaubensleben darin, daß der Mensch zwar dem formalen Zwang unterliegt, an etwas zu glauben, also einen Gott zu haben, daß er aber die Freiheit hat, sich das Glaubensobjekt, also einen Gott zu wählen — und dabei den Sinn des Glaubensaktes, nämlich die Bindung an einen tatsächlich absoluten Lebens­ inhalt, zu verfehlen und etwas Relatives zu verabsolutieren. von hier aus gesehen liegt dann der Fehler Konts nicht darin, daß er dem Freiheitsproblem eine metaphysische Wendung gab. hier folgte er nur dem Zwang der Sache- die Grenze seines Verfahrens liegt darin, daß er, mit Recht abgestoßen durch seine Verflachung in der zeitgenössischen Religiosität, das Glaubensproblem außer acht ließ, so im Bereiche der transzendentalen Idee und des unerkennbar bleibenden intelligiblen Urgrundes blieb und den intelligiblen Grund der Welt nicht als Person, als Ich zu verstehen vermochte. Uber gerade dieses Ausweichen vor dem Glaubensproblem läßt erkennen, wie selbstverständlich noch für Kant seine monotheistische Lösung gewesen ist und wie sehr es sich in seinem ganzen Ringen um die Autonomie des Sitt­ lichen, um eine nun freilich den vollen Gehalt doch preisgebende und verflüch­ tigende Übersetzung der christlichen Anschauung in ein reines Vernunftdenken handelt — eine Leistung, deren wahrer Sinn sich gewiß von keiner Art von Empirismus aus erfassen läßt, sondern nur durch Rückgang auf die letzten Glaubensquellen, aus denen sie dabei schöpft. wie unentrinnbar nun aber für jede Aufhellung des Zreiheitsproblems die Glaubensfrage ist, geht besonders zwingend aus der von N. Hartmann vorgeschlagenen Lösung hervor. Es ist eben doch, wenn man nicht an den Worten hängen bleibt, auch bei ihm durchaus ein Glaube, von dem aus sich ihm die Freiheitsfrage löst, was er unter der „Autonomie der Person" x) versteht, steht im seelischen Raum durchaus an der Stelle, an der für den Chri­ sten Gott steht. Lr will den Menschen auf gar keine Weise „in seiner Selb­ ständigkeit" 2) bedroht sehen. Er möchte „das Determinierende", die „positive Freiheit" „nicht unbegrenzt tief in das Subjekt hineinverlegt" sehen, sondern „gerade nur in die bewußte Schicht"3) — doch schließlich nur, um dem Men­ schen „die Attribute der Gottheit" zu geben und dem Menschen „das meta­ physische Erbe Gottes" zufallen zu lassen, was ist das schließlich anderes als ein Glaube? Und nur dieser Glaube an den ganz ins Absolute erhobenen Menschen wird Wohlgefallen an solcher Art von Freiheit haben. Einer anderen Gläubigkeit wird diese Freiheitsidee nichts Befreiendes haben, sondern viel­ leicht nur Abscheu, Angst oder Beklemmung erzeugen4). Vieser Sachverhalt tritt dann auch bei Kant ganz deutlich hervor, wenn er aus seinem verschämten und keusch verhüllten, aber darin auch wieder die Sache verhüllenden Gottglauben heraus den Menschen *) S. 641. 2) 676. 3) S. 642. 4) von demselben Gesichtspunkte aus lehnt h. nicht nur Spinozas Pantheismus ab, der dem Menschen nur noch „die Rolle der Drahtfigur auf der Bühne der Weltkomödie" (614) übrig läßt, sondern auch Fichtes Freiheitslehre, sowohl die der Wissenschaftslehre von 1794, die „ein wollen vor dem wollen", „ein metaphysisches vor dem bewußten" (632) annimmt, als auch be­ sonders die der „Anweisung zum seligen Leben", die ihm mit ihrem Begriff der „höheren", ein für allemal auf der Bahn des Guten festhallenden „Moralität" zu einer wirklichen „Vernichtung der Freiheit" zu führen scheint (634).

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in der Unterwerfung unter das Gesetz der Pflicht seine Freiheit finden läßt. „Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Ein­ schmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Ver­ ehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Ab­ kunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben tonnen?1)" Mit dieser ihrer Abhängigkeit vom Glauben läßt fteilich auch die Erörterung des Freiheitsproblems noch in keiner Weise über die Vieldeutigkeit hinauskommen, die aller natürlichen Begründung des Ethos anhaftet. Es ist vielmehr diese Unsicherheit nur in eine noch tiefere Wesensschicht hinein verfolgt. Aber auch das mutz ja als Ge­ winn gelten, wenn es uns nur dem wirklichen Sachverhalt näher bringt.

9. Kapitel

Das Gewissen 2) 1. Das Problem

Auch das Gewissen ist ein Sachverhalt, der in seiner verwirrenden vieldeutigteit nur theologisch vom Glaubensproblem her aufgeklärt werden kann, wir verstehen darunter das eigentümliche innere Wahrnehmungsvermögen, das uns unser Verhältnis zum Sittengesetz anzeigt. Damit gewinnt das Bild vom Menschen die Abrundung, die wir für eine erste Orientierung brauchen. Der Glaube stellt die Beziehung zum Gesetzgeber her, das Freiheitsbewußtsein hat das Selbstsein des Täters im Auge. Das Gewissen beleuchtet den sittlichen Charakter der Tat, bzw. der konkreten sittlichen Haltung des Täters2). Auch O Kritik der prakt. Vernunft HecL S. 121. 2) Emil Brunner: Das Gebot und die Ordnungen, 1930. — Claus Harms. 95 Thesen 1817 (des. These 9 ff.) — Martin Heidegger: Sinn und Zeit, Halle 1931. — Gunter Jacob: Der Gewissensbegrifs in der Theologie Luthers, 1929. — Friedr. Zodl: Geschichte der Ethik, 1930. — Käbler: Das Gewissen 1878, Art. in Haucks Realenzyklopädie3. * — Kant: Metaphysik oer Sitten II. Metaphysische An­ fangsgründe der Tugendlehre, Meinersche Ausgabe. — Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1887. — Richard Rothe: Theol. Ethik II, 1869. — R. Seeberg in RGG3. — Herbert Spencer: Prinzipien der Ethik, 1901. — h. G. Stoker: Das Ge­ wissen, Erscheinungsformen und Theorien, 1925. 3) Kant versteht unter Gewissen einen „Instinkt, sich selbst nach moralischen Gesehen zu richten" (Eine Vorlesung Kants über Ethik, herausgegeben von Paul Menzer, Berlin 1924, $. 161). Max Scheler sieht den „berechtigten Sinn des «Gewissens'" darin, „daß es 1. nur die individuelle Hkonomisierungssorm sittlicher Einsicht, 2. diese Einsicht nur insoweit und in den Grenzen darstellt, als sie auf das ‘für mich' an sich Gute gerichtet ist" („Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik", Halle 1921, S. 336). Reinhold Seeberg ver­ steht unter Gewissen „die Betätigung des Selbstbewußtseins in seiner Beziehung zum moralischen handeln" (in RGG2 Bd. II. Sp. 1166). 4 Sa 4: Müller, Lthtt

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Grundlegung

das Phänomen des Gewissens ist nicht bewußtseinsmäßig, wohl aber strukturell von Elementen eines natürlichen Gotterlebens durchzogen, die aus dem Dunkel des Unbewußten, in dem sie zumeist wirksam sind, herausgehoben werden müssen, wenn das Ganze durchschaubar werden soll. Dies mag deutlich werden, indem wir dem lebendigen Sprachgebrauch zwei der landläufigsten Wendungen, die Bezeichnung des Gewissens als „Stimme Gottes" und den Begriff der „Gewissensfreiheit" herausgreifen und genauer zu bestimmen versuchen. Die Bezeichnung des Gewissens als „Stimme Gottes" darf in der heutigen religiösen Lage nicht schon monotheistisch verstanden werden. Das Ge­ wissen ist zunächst lediglich die Stimme des Gottes, an den ich glaube und unterliegt allen Täuschungen und Störungen des Glaubenslebens. Über das Verhältnis dieses Gottglaubens zum christlichen ist damit schlechterdings noch gar nichts ausgesagt. Das mag eine erschreckende Zeststellung sein für den, der sich gewöhnt hat, von Gottglauben überhaupt nur im Sinn des Ehristentums zu reden. Der Aufbruch eines wildwuchernden natürlichen Glaubenslebens in der Gegenwart zwingt uns hier zu schärferer Unterscheidung*). Das Gewissen ist ein Beweis für die religiöse, nicht schon für die christliche Struktur des sittlichen Phänomens. Daraus allein erklärt sich das vielbeklagte „Viel­ deutigkeitschaos", von dem die eindringendste Untersuchung des Gewissens­ problems in der neueren Zeit, die von h. G. Stoker*2), so bewegend zu reden weiß, das aber schon Richard Rothe zu dem verzweifelten Vorschlag veran­ laßte, die Wissenschaft möge sich des Wortes Gewissen „gänzlich enthalten" und es für einen „wissenschaftlich unanwendbaren Begriff" erklären, weil der Sprachgebrauch „ein so ungeheuer chaotischer und vager" fei3). Der Sachverhalt sei an der „Nacht über Rußland" betitelten Selbstbio­ graphie wera Zigners erläutert, einer hochgebildeten, aus der besten mora­ lischen Tradition des Bürgertums stammenden russischen Revolutionärin der Vorkriegszeit, die an der Ermordung Alexanders II. am 1.3.1881 beteiligt war und dafür zuerst zum Tode verurteilt, schließlich aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wurde. Eigentümlich an diesem Bericht ist das „gute Gewissen" über einer Tat, die im krassesten Widerspruch zu allen überkom­ menen moralischen Ruffassungen stand. Schon der Bericht über die Vorbe­ reitungen macht deutlich, wie hier der Glaube an eine politische Sendung ganz in die Mitte des persönlichen Lebens gerückt ist. Aller Lebenssinn ist in das Gelingen des Mordanschlages auf den russischen Kaiser gelegt. So heißt es von einer drohenden, aber dann abgewendeten Entdeckung der Verschwörung: „Alles konnten wir ertragen, nur das nicht! Nicht die persönliche Gefahr des einen oder anderen von uns war es, was uns so maßlos erregte. Unsere ganze Vergangenheit, unsere revolutionäre Zukunft, alles hatten wir auf diese Karte gesetzt, den 1. März,- die Vergangenheit, in der wir 6 Anschläge auf den Zaren ausgeführt hatten, und die uns 21 Todesurteile eingetragen hatte, und die Zukunft, die Helle und weite, die wir den kommenden Ge-

0 Tl. Harms nennt das Gewissen den Papst und Antichrist seiner Zeit a. a. G. These 9. 2) Das Gewissen. Erscheinungsformen und Theorien, 1925. s) Theol. Ethik, II. Bd., 1869, S. 21.

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schlechtem erobern wollten: dies alles stand auf dem Spiel." Es ist klar, daß hier ein politisches Ziel mit der Inbrunst des Glaubens erfaßt wird, vom Attentat selbst heißt es: ... „Einige Stunden später waren sowohl der Zar wie Grinewihkrj tot... Ich weinte ebenso wie die anderen,- der Alp, der jahrzehnte­ lang auf dem jungen Rußland gelastet hatte, war beseitigt." Nur aus gläubiger Inbrunst erklärt sich die tiefe Gewissensruhe, mit der das Todesurteil aus­ genommen wird. „Die letzte Pflicht war erfüllt und eine unendliche Ruhe zog in meine Seele ein... Ich war mir dessen bewußt, daß ich alles getan hatte, was in meinen Kräften gelegen hatte, daß ich alles, was ich von der Gesellschaft und vom Leben je genommen, dieser Gesellschaft und dem Leben zurückerstattet hatte." Deutlicher als in diesem Beispiel kann nicht hervortreten, wie das Ge­ wissen immer die Bekundung jenes allerpersönlichsten Lebensgrundes ist, der sich nur im Glaubensleben erschließt. Es kann aber auch die erschreckende Viel­ deutigkeit des Glaubenslebens nicht erschütternder zum Bewußtsein kommen, hier kann also kein Appell an das Gewissen helfen, nur eine Klärung und Wandlung im Glaubenszentrum selbst kann weiterführen. Dasselbe ist von der Parole der Gewissensfreiheit zu sagen. Sie ver­ dankt ihre Geschichtsmächtigkeit zweifellos der Reformation. In dieser ihrer ursprünglichen Bedeutung sagt sie nun etwas unantastbar Richtiges. Sie wendet sich dann gegen jeden Glaubenszwang. „Es ist ein freies Werk um den Glauben, dazu man niemand zwingen kann. Za, es ist ein göttliches Werk im Geist, geschweige denn, daß es äußerliche Gewalt sollte zwingen und schaffen. Daher ist der gemeine Spruch genommen, den Augustinus auch hat: zum Glauben kann und soll man niemand zwingen." „Denn wahr ist das Sprichwort: Gedanken sind zollfrei. was ist's denn nun, daß sie die Leute wollen zwingen zu glauben im herzen, und sehen, daß (es) unmöglich ist? Treiben damit die schwachen Gewissen mit Gewalt, zu lügen, zu verleugnen und anders zu sagen, denn sie es im herzen halten und beladen sich selbst also mit greulichen stemden Sünden. Denn alle die Lügen und falsche Bekenntnisse, die solche schwachen Gewissen tun, gehen über den, der sie erzwingt"*2). Das Gewissen bezeichnet von hier aus einen innersten Lebensbereich, der allem menschlichen Zugriff entrückt ist. Das hat auch Calvin mit aller Deutlichkeit ausgesprochen: „Ich behaupte mit allem Nachdruck, daß man in Dingen, die Christus freigelassen hat, den Gewissen keinen Zwang auflegen darf: denn nur, wenn sie innerlich frei sind, können sie ihre Ruhe in Gott finden." „Denn unser Gewissen hat es nicht mit Menschen, sondern allein mit Gott zu tun" 2). Dabei ist deutlich, daß die Reformatoren die Zorderung der Gewissensfreiheit im Hinblick auf den christlichen Glauben erheben. Das macht sie völlig eindeutig. Die Klarheit der Glaubenssituation ist also die Voraussetzung für den ver­ nünftigen Gebrauch des Begriffes der Gewissensfreiheit. Diese Lage wandelt sich aber grundsätzlich mit der fortschreitenden Säkularisierung des Geistes*) Luther in: „von weltlicher Gbrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei", WA 11, 264, 19ff., 28ff. 2) Calvin, Inst. IV 6, 1 (Übers, von Karl Müller).

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lebens. So kann sich schließlich alle Willkür eines schrankenlosen Individualis­ mus dahinter verbergen. Merkwürdigerweise ist es gerade der Begründer des Positivismus, Auguste Comte, der dies scharfsichtig erkannt und gerügt hat. Ihm schien das Prinzip der Gewissensfreiheit zu den Grundlagen der nichtigsten aller geistigen Epochen der Menschheitsgeschichte, der metaphysischen oder kritischen, zu gehören. Er schrieb ihm deshalb nur auflösende Wirkungen zu. Seine Sinnlosigkeit ergab sich ihm aus der Überlegung, daß in den exakten Wissenschaften, der Mathematik, Physik und Chemie, ja selbst in der Biologie, niemand auf den Gedanken kommen könne, die Parole der Freiheit für die Verwerfung und Anerkennung wissenschaftlicher Resultate auszugeben. Es entscheide hier eben schlechterdings die Krage, ob eine Behauptung richtig oder falsch sei. Er wollte es deshalb nur für zerstörerisch halten, daß ausgerechnet auf dem so außerordentlich lebenswichtigen Gebiete der Moral jeder Beliebige das Recht haben sollte, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Comte kann nur nicht sehen, wie sehr diese bedrohliche Lage auf die Unklarheit des Glaubens­ lebens zurückgeht. Aus undurchsichtigen Glaubensentscheidungen ist die Rot entstanden, die Comte im Auge hat. Sie kann nur behoben werden, wenn die Glaubensgrundlage des Gewissens ihre Undurchsichtigkeit verliert. Es gilt deshalb heute, den Glaubenszusammenhang, in dem das Gewis­ sensproblem steht, aus seiner Dunkelheit an das Licht zu heben. Vies ist nur so möglich, daß der Strukturzusammenhang gesehen wird, in dem Glaube und Gewissen stehen. 2. Vie Phänomenologie des Gewissens a) Das Gewissen als Rus

wenn wir das Wesen des Gewissens so beschreiben, daß wir von den­ jenigen Zügen ausgehen, die sich der Selbstbeobachtung am ehesten ausdrängen, und dann zu denen weitergehen, die weniger leicht erkennbar sind, so drängt sich uns zunächst der Rufcharakter des Gewissens auf. Gewissen ist „die innere Stimme’, die Gut und Böse des eigenen Verhaltens anzeigt, die da warnt, fordert oder richtet"x). Es kann sich jeder leicht Erfahrungen ver­ gegenwärtigen, die das deutlich machen. Rufcharakter hat der Gewissensappell deshalb, weil er gewissermaßen aus weiter Kerne kommt. Der Rus durchstößt den ganzen Vordergrund meines Denkens und Seins. Er kommt aus irgendeinem „Jenseits" meiner gewöhn­ lichen Weise zu existieren, mag ich an Beruf, soziale Stellung, politische und völkische Existenz denken. Er sagt mir, was ich „eigentlich" sein, was ich „eigent­ lich" tun sollte, und es ist, als ob dieser eigentlich tragende Sinngrund meines Lebens sich aus einer Klut von unwesentlicheren Eindrücken und Ansprüchen erst allmählich wieder herausheben und vernehmbar machen müßte. Run bekommt mein Leben Perspektive. Alle Dinge, die mir vordem wichtig waren, verändern unter dem Anruf des Gewissens ihren Bedeutungsakzent. Es

*) Nie. Hartmann: Ethik, S. 120.

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liegt dabei nicht in meiner Vollmacht, diesen Ruf laut werden oder wieder verstummen zu lassen. Er behauptet sich gegen alle Beschwichtigungsversuche, die ich ihm entgegensetze. Das ist die Seite am Gewissen, die Kant besonders tief empfunden hat: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten... Er kann sich zwar durch Lüste und Zer­ streuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Lr kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden" *). Mit diesem seinem „Aus-der-Ferne-Kommen", mit seinem Rufcharakter hängt eine andere Eigentümlichkeit des Gewissens, seine Irrtumsfähigkeit zusammen. Gb ich verstehe, wer da ruft und was mir zugerufen wird, das hängt vom Grad meiner Hellhörigkeit und meines Unterscheidungs- und Deu­ tungsvermögens ab. „Das Gewissen ist Gehör" 2). vielleicht bin ich schon einfach erbmäßig so grob, so stumpfsinnig organisiert, daß ich eine so feine und überhörbare Stimme gar nicht wahrnehme, vielleicht befinde ich mich auch unter äußeren Verhältnissen, die mich so in Anspruch nehmen, daß sie mit ihrem Getöse jeden Gewissensruf zudecken. Offenbar wäre es falsch, daraus den Schluß zu ziehen, das Gewissen wäre überhaupt nur eine Spiegelung biologischer Instinkte oder soziologischer Abhängigkeiten, worauf Herbert Spencers An­ schauungen hinauskommen. Ich kann sehr wohl in meiner Hörfähigkeit durch meine biologische und gesellschaftliche Lage beeeinträchtigt sein, so daß ich überhaupt nur noch Laute wahrnehme, die ich auf biologische oder soziologische Formeln bringen kann, über den Ursprung des Gewissensrufes ist damit noch nicht das Mindeste gesagt. Der Schwerhörige hat nicht das Recht zu sagen, es werde da überhaupt nicht geredet. vielleicht aber ist es auch so, daß ich gar nicht hinhören will. Meine hörfähigkeit kann also biologisch, sozial, intellektuell — sie kann aber auch moralisch bedingt sein. Ich habe mir etwa von vornherein vorgenommen, mich durch keine Beunruhigung von meiner nächstliegenden Aufgabe abbringen und mir die Geradlinigkeit der Energieentfaltung in meinem Lebensraum durch keinerlei Gewissensskrupel zerstören zu lassen. Jedenfalls waltet hier eine unleugbare Abhängigkeit des Gewissensrufes nicht nur von meiner Wahr­ nehmungsfähigkeit und meinem Unterscheidungs- und Deutungsvermögen, sondern auch von meiner Hörwilligkeit. Das bedingt nicht nur die Irrtums-, sondern auch die Entwicklungs­ fähigkeit des Gewissens. Ohne Zweifel ist das Gewissen in Bezug auf hörfähigkeit, Unterscheidungs- und Deutungsvermögen entwicklungsfähig, hier liegt offenbar das berechtigte Anliegen des ethischen Evolutionismus. Es dürfen nur geschichtliche Entstehung und psychologischer und metaphysischer Ursprung nicht miteinander verwechselt werden, wenn etwa Herbert Spencer 0 Metaphysik der Sitten. Tugendlehre I. § 13, 5. 290 (Meiner). 2) Paul Althaus: Grundriß der Ethik 5. 15.

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seinen konsequenten (Evolutionismus so begründen will, daß er die sittliche „Denkweise durch den Wechselverkehr mit den Verhältnissen der Außenwelt bestimmt" sein Iäfct1) und demgemäß eine genaue Kenntnis der wirklichen Welt und ein scharf entwickeltes „Bewußtsein von der Kausalität"2)3 für eine unerläßliche Vorbedingung echter sittlicher Erkenntnis ansieht, so kann man ihm darin nur zustimmen. Je schärfer ich alle kausalen Erklärungs­ möglichkeiten durchzudenken und demgemäß die biologische oder soziologische Herkunft seelischer Vorgänge von moralischer im Sinne Kants zu unterscheiden vermag, um so heilhöriger werde ich für die Stimme des Gewissens werden. Wan muß nur sehen, daß die Frage nach dem Ursprung des Gewissens sich immer nur vom Glaubensproblem aus beantworten und daß erst von da aus das Gewissen sich verstehen läßt2). b) Der Rufer im Gewissensappell

Die Vieldeutigkeit im Gewissensphänomen, die uns auffiel, kommt in besonders greller weise bei der Frage nach dem Ursprung des Gewissensrufes zum Bewußtsein. Und hier wird nun ganz offenkundig, wie sie in letzten welt­ anschaulichen Entscheidungen begründet liegt. Da es sich schließlich doch nur um die Erklärung des einen Phänomens der eigentümlichen Unwidersprechlichkeit des Gewissensanrufes handelt, muß es hier sozusagen zu einer meta­ physischen Demaskierung des Erklärers kommen, wir verdeutlichen uns das an vier typischen Erklärungsmöglichkeiten: der idealistischen, der werttheolo­ gischen, der biologistischen und der psychanalytischen. Kant versteht unter Gewissen „das Bewußtsein eines inneren Gerichts­ hofes" („vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschul­ digen") 4). wer ist, so fragen wir, der Rufer, der Gerichtsherr im Gewissens­ ruf? Kant antwortet: Die „ursprüngliche intellektuelle und (weil sie Pflicht*) Prinzipien der Ethik, II. Bö. I, S. 61 (Übers, v. Vetter). 2) Prinzipien, I. Bö. I, S. 61 f. 3) Die Rolle Öes Glaubenslebens ist Spencer übrigens aufgefallen. So, wenn er sagt: „Es finöen sich inBezug auf alle Ausschlag gebenöen Gebiete öes menschlichen Betragens bei verschieöenen Menschenrassen unö auf Öen verschieöenen Entwicklungs­ stufen öer nämlichen Rassen einanöer entgegengesetzte Glaubensansichten unö einanöer wiöersprechenöe Empfinöungen" (I, S. 487). Göer wenn er öarauf hinweist, wie sich in öer englischen Geschichte im Laufe öer letzten Zahrhunöerte öie Anschau­ ungen über öie Sklaverei geänöert haben. „Zur Zeit öer Königin Elisabeth führte Sir John hawkins Öen SklavenhanÖel ein unö zur Erinnerung an diese Tat wuröe ihm gestattet, in sein Wappen 'einen halben Reger oröentlich mit einem Strick gebunöen' aufzunehmen: öie Ehrbarkeit seiner hanölung wuröe öanach von ihm selbst voraus­ gesetzt unö von Öer Königin unö öem Volke anerkannt. In unserer Zeit aber wirö öas Sklavenmachen, welches Wesley 'öie Summe aller Richtswüröigkeiten' nennt, mit Abscheu betrachtet,- unö viele Zahre lang hielten wir eine Flotte, Öen SklavenhanÖel zu unterörücken" (I, S. 486). Seine eigentlichen Erkenntnisse gewinnt Sp. inöessen aus öer Überzeugung, öaß öie menschliche Entwicklung einen ähnlichen Gang nehmen weröe wie öie Welt überhaupt unö öaß alles auf öie Anpassung innerer Verhältnisse an äußere unö auf Öen Ausgleich zwischen öer Natur öes Menschen unö seiner Um­ gebung unö zwischen Inöiviöuum unö Gesellschaft Hinauslaufe, womit über Öen Ursprung öes Gewissens noch nichts gesagt ist. 4) Metaphysik Öer Sitten, TugenÖlehre § 13, S. 289.

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Vorstellung ist) moralische Anlage", die indessen „das Besondere in sich" habe, „daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäft des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genötigt sieht, es als aus das Geheiß einer anderen Person zu treiben"J). Vas Phänomen ist hier sehr deutlich gesehen. Kant will beides festhalten: die unwidersprechlich wirkende, wie von außen kommende Gewalt und die Autonomie des Gewissensanrufes: „Diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt"2). Kernt will also strukturell alles festhalten, was in der christlichen Auffassung des Gewissens enthalten ist. Es ist ihm aber um die Abwehr alles gegenständlich Heteronomen Verständnisses dieser Auffassung zu tun, wie er sie von der Orthodoxie her drohen sah. Des­ halb vermeidet er in seiner Beschreibung den Gottesbegrifs, den er schließlich nur unter dem äußersten Zwang der Sache und mit fortwährenden Kautelen überhaupt einführt — verstehen kann man Kant gleichwohl nur von daher. So wird denn Gewissen „die dem Menschen in jedem Zall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder verurteilen vorhaltende praktische Vernunft"3). Im Gewissen stehen in derselben Person Kläger und Angeklagter einander gegen­ über: „Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin ebenderselbe Mensch (numero idem); aber als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der §reiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt, (homo noumenon) ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie di versus), aber nur in praktischer Rück­ sicht, zu betrachten". Es treten hier also „das Intelligible" und „das Sensible" einander gegenüber4). Dabei sieht Kant, daß es eine „ungereimte Vorstellungs­ art" wäre, sich Angeklagten und Richter als eine und dieselbe Person zu denken. — „Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen an­ deren (als den Menschen überhaupt), das ist einen anderen als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Diese andere mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft." Schließlich sieht sich Kant unter dem Zwang eigentlich theologischer Rede vom Gewissen. „Eine solche idealische Person (der autorisierte Gewissensrichter) muß ein herzenskündiger", „zugleich muß er aber auch allverpflichtend" sein und „zu­ gleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) haben", er muß also „Gott" sein: „so wird das Gewissen als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen,- ja es wird der letztere Begriff (wenngleich nur auf dunkle Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein." Er will aber streng daran festgehalten wissen, daß diese „idealische Person" nicht als wirklich angesehen werden darf, da sie nicht objektiv von der theoretischen Vernunft, sondern bloß subjektiv von der prak­ tischen gegeben ist. „Der Begriff von der Religion überhaupt ist hier dem x) Tugendlehre I, § 13, 5. 290. 2) Tugendlehre § 13, S. 290. 3) Tugendlehre XII, 5. 243. 4) Tugendlehre § 13 Hum. S. 291.

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Grundlegung

Menschen bloß 'ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als gött­ licher Gebote'"1). Alle diese Aussagen Rants können schließlich nur von der christlichen Gottesgewißheit aus wirklich plastisch werden. Die Zurückhaltung, mit der er hier vor den Toren des Glaubens bleibt, und sich ganz darauf beschränkt, die autonome Struktur des Gewissens aufzuzeigen, muß als eine erschütternde Mahnung zu sachlichem Denken an die Religion verstanden werden — zugleich aber ist deutlich, daß die Rantsche Erklärung des Gewissens nur so lange noch in ihrem eigentlichen Sinn verstanden und wirksam werden konnte, als die Lebensbeziehung zu der Religion noch fortwirkte, aus der heraus er sprach, solange die von Rant verfochtene und nur theologisch verstehbare Autonomie noch nicht von ihrem religiös-christlichen Lebensgrunde losgelöst und noch aus das intelligible, statt auf das empirische Ich bezogen wurde. Denn die Grenze der Rantschen Auffassung liegt offenbar darin, daß er sich jede Aussage über die Realität Gottes versagt, daß er Gott wohl als das unbedingte Soll, aber nicht als das heilige Du begreift — und daß er deshalb der nun drohenden Gefahr einer Vergötterung des intelligiblen Ich kaum ansichtig werden, jeden­ falls aber nicht wehren kann. So sehen wir uns hier zu vollem Derständnis der Anliegen Üants über ihn hinaus auf die christliche Offenbarung hingewiesen. In ähnlicher Weife drängt auch die wertphilosophische Gewissensdeutung R. Hartmanns über sich hinaus zu eigentlich theologischer Bestimmung. Er versteht das Gewissen als „eine Grundform des primären Wertbewußtseins" und als „die — vielleicht urwüchsigste — Art und Weise, wie das Wertgefühl im Menschen sich Geltung schafft." Er meint, „das Rätselhafte, das dieser 'Stimme’ anhaftet, das der fromme Sinn zu allen Zeiten als Ein­ wirkung höherer Macht, als Stimme Gottes im Menschen" ausgefaßt habe, passe „nur gar zu genau auf den Begriff des emotionalen A priori." Denn es spräche nicht, „wenn man es ruft, oder forschend nach ihm sucht", es spräche nur ungerufen, „nach eigener Gesetzlichkeit, wo man sich seiner nicht versieht." „Es ist eine offenbar selbständige und selbsttätige Macht im Menschen, die seinem Willen entzogen ist. Es ist wirklich Einwirkung einer 'höheren’ Macht, eine Stimme aus einer anderen Welt — aus der idealen Welt der Werte" 2). So deutlich hier die Unmittelbarkeit der Gewissenserfahrung zum Ausdruck kommt, und damit der Eindruck abgewehrt ist, als ent­ stamme das Gewissen in irgendeinem Sinn der Reflexion, so sehr fehlt wieder der Totalcharakter des Gewissensanrufes, der, wie Schopenhauer richtig gesehen hat, nur „zunächst und ostensibel" das betrifft, was der Mensch tut, „im Grunde aber das, was er ist" — „im Esse liegt die Stelle, welche der Stachel des Gewissens trifft" 3). In jedem echten Gewissensanruf ist der Schreck über das „Adam, wo bist du?" enthalten — der Schreck über das, was wir eigentlich sein sollten und doch nicht sind. Alles, was Luther über die „Beschwernis des Gewissens" zu sagen und was er nur in der Rechffertigung durch Dergebung der Sünde aufgehoben weiß, was andere (Brunner) die „Unheimlichkeit des Gewissens" nennen, was Heidegger über „das Gewissen als Ruf der Sorge"

n Tugendlebre § 13, S. 291 f. 2) Ethik S. 121 f. 3) Die Grundlage der Moral, § 10.

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sagt — das alles bezieht sich stets auf das Ganze unseres Seins. Da steht immer der Grundcharakter und der Sinn unseres Lebens in Frage. Darüber aber kann nicht mehr nur wertphilosophisch geredet werden. 3n alledem bricht die letzte, die Gottesfrage auf, und deshalb kann über das Gewissen nur Auskunft geben, wer sich ihr stellt. Das wird nun auch dort, wenn auch in seltsam verzerrter Farm deutlich, wo man sich dieser Frage ausdrücklich und mit Ingrimm entzieht. Darin aber gehören Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud in ihrer Gewissensdeutung zusammen. Friedrich Nietzsche vertritt einen radikalen biologischen Evolutionismus, der doch durchaus verkappte Metaphysik, ja Religiosität ist. So findet er im schlechten Gewissen „die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Deränderungen verfallen mutzte,... als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wassertieren ergangen sein mutz, als sie ge­ zwungen wurden, entweder Landtiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so ging es diesen der Wildnis, dem Kriege, dem herumschweisen, dem Aben­ teuer glücklich angepatzten Halbtieren — mit einem Male waren alle ihre Instinkte entwertet und 'ausgehängt'". Diese Instinkte suchen sich nun „neue und gleichsam unterirdische Beftiedigungen". „Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen", hierin findet Nietzsche den Ursprung des schlechten Gewissens. „Der Mensch, der sich aus Mangel an äußeren Feinden und widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerritz, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stoßende Tier, das man „zähmen" will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folter­ stätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schassen mutzte, — dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des 'schlechten Gewissens'. Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Er­ krankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewalt­ samen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklä­ rung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furcht­ barkeit beruhte" 1). So sehr hier alles in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer theologischen Erklärung des Gewissensphänomens zu stehen scheint, — was Nietzsche hier sagt, kann gerade auch in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit, als „äußerster Auswuchs des Versuchs, eine neue Sittlichkeit durch die einfache Anwendung biologischer Entwicklungsgesetze aus die menschliche Gesellschaft zu begründen" 2) nur — theologisch verstanden werden, was Nietzsche hier unter sorgfältiger Vermeidung theologischer Begriffe treibt, ist natürliche Theologie. Der Mensch sieht hier in der ungehemmten Entfaltung seiner angeborenen Raubtierinstinkte den eigentlichen und allein möglichen Sinn *) Zur Genealogie der Moral. Krönersche Ausgabe, S. 575 ff. 2) Friedr. Zodl: Geschichte der Ethik II. Bö., S. 467.

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Grundlegung

seines Lebens. (Er „glaubt" an die alleinige Sinnhastigkeit der Raubtier­ existenz. Sie gilt ihm als der Ursprung und die (Erfüllung seines Lebens. Vie Raubtierexistenz ist seine Religion. Man mag sich die Empfindungen, die ihn an jenen Zustand fesseln, noch so dumpf und unbewußt vorstellen: jedenfalls leuchtet jenes Raubtierdasein in „göttlichem" Glanz in seine Gegen­ wart hinein, in der er nun wie ausgestoßen aus dem Paradiese steht. Das Gewissen ist die (Erinnerung daran, das Brüten darüber, die Sehnsucht danach. (Es ist der grollende Ausbruch einer wilden, in das Dunkel des Unterbewußtseins abgedrängten, mit elektrischen Spannungen geladenen Gläubigkeit an die blinde, elementare, in keiner rationalen oder moralischen Formel ausdeutbare Schaffenskraft der Bestialität, der „gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit..., dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere ein­ gekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen" 1). Im Gegensatz zu der tiefen persönlichen Leidenschaft Nietzsches scheinen sich die trockenen Ableitungen Sigmund Freuds jeder Möglichkeit einer irgend­ wie metaphysisch oder gar theologisch gearteten Deutung zu entziehen. Aber auch hier ist der wissenschaftliche Habitus nur die Tarnung einer fteilich nun auf der untersten Stufe der Primitivität angelangten Gläubigkeit. Anders als aus gewissen letzten Entscheidungen über den Gesamtsinn des Lebens heraus läßt sich offenbar über ein Phänomen wie das Gewissen nicht reden. Freud will das Gewissen wie Nietzsche aus der Verdrängung und Verflüchtigung (= Sublimierung), aber nun nicht der Raubtierinstinkte, sondern der sexuellen Begehrlichkeit, der Libido, erklären. Vas Gewissen soll insbesondere aus dem Ödipuskomplex entstanden sein, also der libidinös bedingten Abneigung des Rindes gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil, der als Rivale empfunden wird. Oie Libido drängt danach zunächst zur Identifizierung des Rindes mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, daraus soll das Über-Ich oder Ich-Ideal entstehen. „Vas Über-Ich wird den Lharakter des Vaters bewahren, und je stärker der Ödipuskomplex war, je beschleunigter (unter dem Einflüsse von Autorität, Keligionslehre, Unterricht, Lektüre) seine Verdrängung er­ folgte, desto strenger wird später das Über-Zch als Gewissen, vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl, über das Ich herrschen. Vas Ich-Ideal ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit Ausdruck der mäch­ tigsten Erregungen und wichtigsten Libidoschicksale des Es" 2). Die Einzelheiten dieser von Unwahrscheinlichkeiten strotzenden Theorie brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Sie enthält keine Spur von Erklärung für das Phänomen des Gewissens. Sie erklärt vor allem nicht, wie aus dem Ödipuskomplex, der in seiner ursprünglichen Form doch einfach sexuelle Be­ gehrlichkeit ist, seine Verdrängung und Vergeistigung im Über-Ich entstehen soll. Man mag es dabei Freud gern glauben, daß er mit dieser Theorie alles andere als eine Entbindung sexueller Zügellosigkeit im Sinne hat. Zweifellos aber sind die Beziehungen zu einem Lebensprinzip, dem so weitausgreifende

*) Zur Genealogie der Moral, S. 379. 2) worunter Freud die unbewußte Triebwelt versteht (das Ich und das (Es).

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schöpferische Wirkungen zugedacht sind, nicht sachlich, sondern in irgendeinem Sinn glaubensmäßig begründet. So ist hier die Libido an die Stelle gerückt, an der doch eben auch noch für Kant Gott stand. Jedenfalls findet dort, wo von einem Lebenselement wie der Libido so weitreichende Aufschlüsse über das Gewissen erwartet werden, unvermeidlich eine metaphysische Selbstde­ maskierung statt, wer nach dem Ursprung des Gewissens fragt, mutz eine — theologische Antwort geben, sonst redet er nicht mehr vom Gewissen, wer über den Ursprung des Gewissens Auskunft gibt, verrät, was für eine Religion er hat — wie sie im einzelnen auch beschaffen sein möge. 3n dieser Feststellung aber bestätigt sich wieder, daß eine auf sich gestellte und nicht an der Offenbarung, als einer Selbsterschließung des Absoluten orien­ tierte natürliche Theologie ein hoffnungsloses Unternehmen ist. Dabei gibt es von hier aus kein Zurückbiegen in einen bloßen philosophischen Positivismus mehr. Man kann sich von da aus nur weiter zur Sache und das heißt zur realen Offenbarung drängen lassen.

III. Teil

Natürliche Kosmologie 10. Kapitel

Vie IvelthaftigKeit der sittlichen TatT) Die Unmöglichkeit, mit den Mitteln der natürlichen Theologie aus dem Labyrinth ihrer Vieldeutigkeit herauszukommen, ergibt sich auch aus der Bindung des Sittlichen an die „Welt". Natürliche Theologie bedeutet uns die Aufstellung derjenigen zumeist unbewußten Glaubensbindungen, von denen wir die Sittlichkeit gerade auch dort durchzogen sehen, wo sie sich vom Christen­ tum ablöst. Glaube und Ethos gehören strukturell zusammen. Der Theoretiker und der Praktiker der sittlichen Tat sind nicht gefragt, ob, sondern nur wie sie diesem Zusammenhang Rechnung tragen wollen — bewußt oder unbewußt, blind oder sehend. Dieser Sachverhalt gibt dem Sittlichen die Tiefe und Wucht der Entscheidung und des Wagnisses, wer das nicht sehen will, banalisiert das Sittliche. Zugleich aber gilt es, alle Gefahren zu sehen, die mit dieser 2) Dilthey: Die Typen der Weltanschauung, 1911 (in „Weltanschauung", Hrsg, von Frischeisen-Köhler). — 3. w. Hauer: Deutsche Gottschau. Grundzüge eines deut­ schen Glaubens, 1934. — Martin Heidegger: Sein und Zeit, 1931. — Karl heim: Glaube und Deuten2,1931. — Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen3,1925. — Theodor Litt: Erkenntnis und Leben, 1923. — Ders.: Philosophie und Zeit­ geist2, 1935. — Ders.: Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung, 1928. — Hein­ rich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philoso­ phischen Modeströmungen unserer Zeit, 1922. — Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik2 1921; Dom Ewigen im Menschen 1921. — Eduard Spranger: Der Sinn der Doraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, 1929. — Dgl. horst Stephan: Glaubenslehre2,1928 („Die Weltanschauung des evan­ gelischen Glaubens"). — Helmut Thielicke: Geschichte und Existenz, 1935. — Werner Wiesner: Die Lehre von der Schöpfungsordnung, 1934.

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Grundlegung

Glaubensbindung verbunden sind. Wer darum nicht in aller Strenge bemüht ist, gerät unweigerlich in die Gefahr, in den brauenden Nebeln einer ungebändigt umherschweifenden natürlichen Religion jede (Orientierung zu verlieren,- das mag uns von der Seite der Welthaftigkeit des sittlichen Tuns aus noch deutlicher werden. Diese Klarstellung ist um so wichtiger, als es der Ethik überall da, wo sie sich um eine rein rationale Begründung bemühte, nicht zuletzt darum zu tun gewesen ist, diesem Faktor zu seinem Rechte zu verhelfen, mag man dabei mehr zu einer eudämonistischen, utilitaristischen, biologischen, soziologischen oder evolutionistischen Ableitung gekommen sein. Vieser Weltbeziehung kann eine phänomenologische stnalgse leicht an­ sichtig werden. Oie Welt stellt sich als der (Ort aller sittlichen Verwirklichung dar. „Venn das Seinsollen der Werte, auch das ideale, besteht nicht für die ideale Sphäre selbst — in der die Werte ja gar nicht seinsollend, sondern „seiend" sind — sondern ausschließlich für die reale Sphäre"x). stuf die Welt stößt der sittlich tätige Mensch also schon in der grundlegenden Erfahrung, daß das Sollen im Gegensatz zu einem Sein steht. Dabei erfährt er das „In-derWelt-Sein" als zur „Grundverfassung des Daseins" gehörig3*).2 Er kann der Welt auf keine Weise entrinnen, er ist nicht gefragt, ob er in der Welt sein will oder nicht. Lr hat nur die Wahl, sich so oder anders zur Welt zu stellen. Der sittlich tätige Mensch erlebt dabei die Welt ebenso in ihrer Wertwidrigkeit als „die Ganzheit des dem menschlichen Sein als Fremdes gegenübertreten­ den Seienden" 3) wie in ihrer Wertausgeschlossenheit. Erst an der Welt und ihrem Widerstand erfährt dabei schon der naive Mensch, daß das sittlich Geforderte — mag er es nun Pflicht oder Wert oder sonstwie nennen — eine andere Seinsart hat als das „Welt"-sein: „Vas Anderssein und der Wider­ stand erst machen das Seinsollende nichtseiend und damit das Seinsollen selbst aktual." „Erst gegen dieses in seiner Geschlossenheit und Gleichgültigkeit den Werten überhaupt gegenüber hebt es sich mit seiner Seinsart als Unerfülltes ab. Denn die Erfüllung kann, wenn überhaupt irgendwo, so nur in eben dieser gleichgültigen, in sich geschlossenen realen Welt liegen"4). Es geht uns nun um die Frage, wie der sittlich handelnde die nötige Welt­ kenntnis gewinnen und ob er von daher vielleicht gegen die Vieldeutigkeit der natürlich theologischen Elemente des Sittlichen ohne die Wendung zur (Offenbarung im strengen Sinne des Wortes gesichert werden könnte, hier bietet sich nun als die wesentlichste Möglichkeit der Orientierung das wissen­ schaftliche Weltbild5) an. Ls ist durch die Strenge charakterisiert, in der es ganz auf den Begriff der Realität gegründet ist, der hier seine bestimmte Prägung findet. Als real gilt hier nur, was vor den in Jahrhunderten entwickelten und erprobten streng kausalen Erkenntnismethoden insbesondere

T) Hartmann, a. a. (0. S. 195. 2) Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 52. 3) Werner Wiesner, „Die Lehre von der Schöpfungsordnung", 5. 41. 4) Hartmann, 5. 156. 5) Zur Unterscheidung von Weltbild und Weltanschauung h. Stephan: Glaubenslehre S. 264 ff., wo der Begriff der „wissenschaftlichen Weltanschauung" als unhaltbar erwiesen ist.

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des naturwissenschaftlichen Denkens bestehen kann. Alles Bemühen ist hier also darauf gerichtet, die Illusion, den Irrtum und die Willkür auszuschließen. (Es sind einheitliche wahrnehmungs- und Denkgesehe, die angewendet und in weltumspannender, durch Jahrhunderte immer neu bewährter Denkgemeinschaft erprobt werden. So entsteht nun ein Weltbild von grandioser (Einheitlichkeit, das doch für immer neue (Entdeckungen offen bleibt. (Es leuchtet ohne weiteres ein, welche ungeheuere Leistung hier vollbracht ist, wie Jahr­ tausende an sie in immer neuem Anlauf die ganze Glut ihres Wahrheitsstrebens gesetzt haben und welche Sicherheit der Lebensorientierung damit auch dem einzelnen Menschen gewonnen war. In dieses Wirklichkeitsbild gehen mühelos die wirklichkeitserfahrungen ein, die in einer fortlaufenden Kette von Ent­ deckungen schon das staunende Kind macht, wenn es sehen, greifen und laufen lernt. (Es gewinnt seine besondere Bedeutung für den jungen Menschen, wenn er daran geht, einen eigenen Lebensplan zu gewinnen. Wahrlich, dieses Wirk­ lichkeitsbild hat der Menschheit ein gutes Teil der Angst vor den Unsicherheiten des Lebens genommen. Schließlich hat es dem Menschen ein ganz neues Selbstbewußtsein geschenkt, das auch von unmittelbarer sittlicher Bedeutung ist. Denn es hat in den technischen (Erfindungen der letzten Jahrhunderte eine ganz neue innere Sicherheit gewinnen lassen und ihm unermeßliche Möglichkeiten der Weltgestaltung und der Überwindung unüberwindbar scheinender Welt­ widerstände eröffnet. So ist von ihm eine Weltrevolution von ungeheueren Ausmaßen ausgegangen, deren Bedeutung für unseren ganzen inneren und äußeren Lebenszustand wir kaum überschätzen können, wahrlich, „Die Welt' dieser ewige Singular ist weit entfernt bloß die Welt der Sachen zu sein ... dieselbe Welt ist vielmehr ebenso ursprünglich die Welt der Personen,- sie umschließt den realen Lebenszusammenhang der Personen, einschließlich ihrer spezifisch ethischen Beziehungen, genau ebenso primär wie den allgemeinen Seinszusammenhang des Realen überhaupt" *). Das < alles bedeutet für den sittlich aktiven Menschen die unaufhebbare Derpflichtung zu nüchterner Berücksichtigung alles dessen, was die Wissenschaft über die wirkliche Welt sagen kann. (Es kann für den sittlichen Willen keine heilsamere Zucht geben als das wissen um eine Welt, die unabhängig von allem subjek­ tiven Meinen und wünschen besteht — „auch sofern sie gar nicht angeschaut, niemandem gegeben ist" 2). (Es darf keine Welttatsache geben, die vom sitt­ lichen willen nicht bis zum letzten ernst genommen würde. Run wäre es aber ein großer Irrtum, zu meinen, die Sittlichkeit könne durch Hinwendung auf die Welt sich aller Glaubensnötigung entziehen. Dielmehr sehen wir diese Derstrickung in den Glauben hier nur in neuer Form auftauchen. Denn erst im Glaubensproblem deckt sich die tiefste Schicht aller jener Grund­ voraussetzungen des Weltdenkens auf, die sich der geisteswissenschaftlichen For­ schung aufgedrängt haben. Das wissenschaftliche Weltbild kann mit den Mitteln des kausalen Denkens nie zur Weltanschauung werden. Das aber ist es, was der sittlich handelnde Mensch braucht. Alle Wissenschaft hat unausschaltbare Grundvoraussetzungen, hierher gehört schon die grundlegende *) Hartmann S. 215.

2) Hartmann S. 215.

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Grundlegung

Entdeckung Kants, „daß die allgemeinen Bedingungen des menschlichen Er­ kennens selbst das Weltbild färben mit Farben von solcher Echtheit, daß auch die schärfste Selbstbesinnung und Kritik nicht imstande ist, sie zu beseitigen, und das farblose Bild der Welt, wie sie ‘an sich' ist, herzustellen"x). Zur die Geisteswissenschaften aber hat Herder die nationale, Sichte die charakterliche, Schleiermacher die religiös-erlebnismätzige, Hegel die geschichtliche Bedingtheit des Denkens aufgedeckt, und die Forschungen von viltheg, Ernst Troeltsch, Max Scheler, Jaspers, Eduard Spranger, Theodor Litt haben diese Zusammen­ hänge neu entdeckt und ihre Erkenntnis vertieft. Man ist sich darüber klar, daß es „kein anderes Mittel" gibt, „die geisteswissenschaftlichen Begriffe und Methoden voll zu verstehen als dies: sie in ihre weltanschaulichen Ursprünge zurückzuverfolgen"*2). vollends ist „jede Philosophie ein Voluntarismus" 3). Damit entschwindet jede Möglichkeit, in der Sittlichkeit dem Glaubens­ problem durch Hinwendung auf ihre welthaftigkeit zu entgehen. Vie Glau­ bensbindung des sittlichen Tuns begegnet uns hier vielmehr nur in neuer und nun ganz besonders schwer durchschaubarer Verhüllung. Sie tritt hier auf im Gewand der Objektivität. Sie beruft sich aus Tatsachen — heißen sie nun persönliches Glück, Entwicklung, Staat, Volk, Menschheit. Man denke sich von hier aus in die Lage des heutigen Menschen, der sich über die Grundsätze seines handelns klar werden, aber sich nicht der Führung der überlieferten Re­ ligion anvertrauen will. Entweder muß jeder sittliche Antrieb sich im Gestrüpp undurchdringlicher Problematik verfangen. Oder er wird einem besonders wirkungsmächtigen „Voluntarismus" verfallen. Gder er wird einfach seinem Belieben folgen — sich also durchzusetzen versuchen, so gut es geht, und die wahrheitsftage auf sich beruhen lassen. In alledem aber wird es nicht zu der unerläßlichen Voraussetzung echten sittlichen Tuns, zu einer Klärung der Gottes­ und der Glaubensfrage kommen können. Bietet somit auch die Wendung zur Welt keine Möglichkeit, dieser letzten Frage zu entgehen, so taucht gerade an diesem Punkt die Möglichkeit einer Lösung auf, die wieder über alle natür­ liche Theologie hinaus aus die Offenbarung hindrängt. Nur wenn der Urgrund aller Dinge unbedingte Person im Sinne des Lhristentums ist, kann nämlich zugleich das Weltdenken eine letzte Ernsthaftigkeit und Unbeirrtheit gewinnen. Erst wo die Welt als Gedanke Gottes begriffen wird, sind an ihrer Erkenntnis die tiefsten Kräfte des Menschen beteiligt, erst so ist das weltdenken in den innersten Sinnbereich des menschlichen Lebens ausgenommen, welches Maß von innerer Leidenschaft und geistiger weite am Welterkennen beteiligt ist, das hängt ganz von der Art des Glaubens­ objektes ab, an dem der Mensch mit letzter Inbrunst hängt. Im Grunde gibt es dafür aber nur zwei Möglichkeiten. Das Glaubensgut kann der Welt des Endlichen oder des Unendlichen entnommen sein. wir fassen zunächst die Möglichkeit ins Auge, daß es der endlichen Welt entnommen ist. Dann wird ein Weltinhalt mit der Inbrunst des Glaubens umw. Stern: Person und Sache I, 1923, S. 6. 2) Erich Rothacker : Logik und Systematik der Geisteswissenschaften in: Handbuch der Philosophie, Hrsg. v. fl. Bäumler u. M. Schröter S. 36. 2) Hugo Dirigier: Der Zusammenbruch der Wissenschaft, 1926, 5. 72ff.

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faßt, aus dem Weltzusammenhang herausgehoben und im Struktursinn des Wortes behandelt, als ob er Gott wäre. Man denke an Nietzsches „Wille zur Macht", welche Wirkung hat dies auf das Welterkennen? hier fällt auf den Weltausschnitt, der vom Glauben umfaßt wird, das magische Licht, das aus der Erregung des Glaubens stammt. $ür die Stellung zum rationalen Welter­ kennen hat dies die denkbar schwersten Kolgen. Der Glaube wird hier imperiali­ stisch aus Selbsterhaltungstrieb: er muß das wissen in seinen Dienst zwingen. Der Glaube schlingt das wissenschaftliche Interesse in sich hinein. Er wird die Arbeit der Wissenschaft begrüßen, soweit sie der Rechtfertigung seines Glau­ bensobjektes, — der Verherrlichung seines Gottes dient, wenn also etwa die „Deutsche Glaubensbewegung"x) erklärt: „Das Leben selbst ist unser Gott!" so wird ihr gewiß jede wissenschaftliche Bemühung erwünscht sein, aus der sich ein Lobpreis aus das Leben entweder ableiten oder wenigstens nicht bestreiten läßt. Und insofern mag sie erklären: „Lebensglaube duldet keine Geistesfesseln", wie aber wird das Verhältnis zu einer wahrheitsforschung sich gestalten, die Wasser in den wein dieser dionysisch gesteigerten Lebensauffassung gießt — etwa auch nur im Sinn der Bedenken, die Heinrich Rickert gegen die Le­ bensphilosophie *2)* geltend macht? Kein Glaube wird dulden, daß sein Gott vom Thron gestoßen wird. So werden hier diejenigen weltinhalte, die mit der Inbrunst des Glaubens umfaßt werden, der wissenschaftlichen Betrachtung entzogen. Damit aber sind die Universalität und die Unbedingtheit in Krage gestellt, die der Krage nach der Wahrheit ihre eigentliche würde geben. Nietzsche hat diesen Zusammenhang deutlich gesehen und sich zu ihm bekannt, wenn er in „Wille zur Macht" dem Denken nur noch biologische Bedeutung zuschreibt. Er spricht damit nur aus, was auf dieser religiösen Grundlage tat­ sächlich geschieht. Im Erkennen überwältigt dann der Mensch die widerstre­ bende Welt der Tatsachen und zwingt sie in den Dienst seines Glaubensgutes, dessen Behauptung und Rechffertigung für ihn unter allen Umständen be­ herrschendes Lebensinteresse ist. „Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können. Der ganze Erkenntnisappartlt ist ein Abstraktions- und Simplifikationsapparat — nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge"2), wir sehen so das Weltwissen in letzter Hinsicht durchaus von der Weite und Tiefe des Glaubens abhängig, von dem es getragen ist. Nietzsche, der für diesen ganzen Zusammenhang die Bedeutung hat, auf­ gedeckt und ausgesprochen zu haben, was sonst nur in einer Art von schamhafter Verhüllung praktiziert wurde, sah nicht, daß dieser Perspektivismus die Einheit des Weltbildes in Krage stellen und auf die Dauer zerstören muß. Er meint also, nur eine „unendliche Ausdeutbarkeit der IDelt"4) — der einen Welt — gewonnen zu haben, in Wirklichkeit muß so schließlich die Welt in eine Külle re­ ligiöser Provinzen auseinanderbrechen. Der Weltbegriff erweist sich im Grunde als Korrelat zum Gottesbegriff, was Heidegger die Zemeinigkeit der Welt nennt, *) in einem Klugblatt der Grtsgemeinde Leipzig im Mär; 1935. 2) „Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit". -) Wille zur Macht. Krönersche Ausgabe Bö. 9, S. 190. 4) S. 207.

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ist in letzter Hinsicht glaubensmäßig bedingt. Jeder Glaube hat einen Licht­ hof um sich herum, der der Reichweite seines Glaubensgutes entspricht. Dabei liegt hier gerade in der Unbewußtheit des ganzen Vorgangs die größte Gefahr, welche Folgen mutz dieser Zustand für das Welterkennen und Welt­ handeln haben? Jedenfalls mag man sich keiner Täuschung darüber hingeben, daß die Krisis der Wissenschaft, in der wir stehen, zuletzt in jener lianenhaften Unübersichtlichkeit des Glaubenslebens verwurzelt ist, die die Folge von jeder unbewußten Verabsolutierung von Weltinhalten ist. Jeder solche Glaube wird, so korrekt auch das Bewußtseinsleben des Gläubigen sich noch darstellen mag, unvermerkt das Erkenntnisinteresse auf die Rechtfertigung des Glaubens­ gutes einschränken und damit aller anderen Wahrheitsforschung jene leiden­ schaftliche Teilnahme entziehen, ohne die große Leistungen auch hier un­ möglich sind. Vie Fundamente des überlieferten wissenschaftlichen Welt­ bildes werden dadurch immer mehr unterhöhlt. Es wird in den Geruch lebensftemder Abstraktheit kommen, die nur noch zuschauen, aber nicht mehr lebendig Mitschwingen und sich nicht entscheiden, die nur noch von draußen kritisieren, aber nicht mehr verantwortlich mithandeln kann. Und diese vorwürfe werden auch recht haben — wenn die Wissenschaft nicht selber der Unausweichlichkeit des Glaubensproblems und der Gottesfrage inne wird. In dieser Lage gibt es nur zwei Möglichkeiten: man muß entweder die Einheitlichkeit des Weltbildes einer „Vielheit letzter Entscheidungen"*) opfern, oder man muß einsehen, daß einheitliches Weltbild und Monotheismus un­ trennbar zusammengehören. Unter Monotheismus wäre aber zunächst einfach die äußerste Vertiefung und Ausweitung der Gottesftage zu verstehen, wenn es keine Flucht vor Gott gibt, bleibt nur diese Möglichkeit. Alles andere wäre Selbstzerstörung. Vas wissenschaftliche Denken selbst wird dabei nicht weiter als zu dieser Feststellung kommen können. Es kann einsehen, daß alle Gefahren, von denen das Ringen um die Wahrheit im Sinne des wissenschaftlichen weltdenkens vom Glauben her bedroht wird, sofort hinfällig werden, wenn der Glaube sich aus einen Gott richtet, der selbst Wahrheit will. Es kann einsehen, daß „die Gottesidee mit der Einheit und Identität und Einzigkeif der Welt auf Grund eines Wesenszusammenhanges mitgegeben"*2) ist, daß nur „die Einheit Gottes die mögliche Einheit der Welt" garantiert, daß das „profan und endlich wirkliche" „nur innerhalb der theistischen Kulturzone als jenes eine, geordnete Ganze erscheint, das wir die Welt' nennen" — und daß dieser Zusammenhang auch dort noch wirksam bleibt, „wo man in der Erforschung dieses Wirklichen ausdrücklich und mit Absicht vom Bestand eines Göttlichen absieht und wo man seine Realität leugnet" 3). Im übrigen stehen wir hier nun wieder vor der Grenze aller natürlichen Religion. Ein solcher Gottglaube läßt sich nicht konstruieren, es läßt sich nur nach seiner reinsten Ver­ körperung in der Geschichte Umschau halten, und dann die probe daraus *) Eduard Spranger, Der Zinn der voraussetzungslosigk. i. d. Geisteswissen­ schaften. 5. 18, wo das Problem durchaus gesehen, nur sein letzlich theologischer Charakter noch nicht herausgestellt ist. 2) Scheier: Formalismus in der Ethik 5. 411/2. 3) Zcheler: vom Ewigen im Menschen, S. 400.

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wagen. Dies einsehen heißt aber nichts anderes als vor dem Problem der wirklichen Offenbarung stehen. Denn nur, wo der Urgrund aller Dinge selbst aus seiner Verborgenheit heraustritt und uns als persönliche IRacht begegnet, kann die Gewißheit entstehen, daß wir nicht einer letzten Illusion verfallen. Jedenfalls sind die Dinge auf einen Punkt gekommen, wo Glaube und Wissen­ schaft sich einander bis zum Letzten ernst nehmen müssen. Der Glaube muß den unbedingten Wahrheitswillen der Wissenschaft, die Wissenschaft den bei keiner vorletzten Position haltmachenden Radikalismus des Glaubens in sich auf­ nehmen. Die Wissenschaft muß es lernen, ihre eigenen Glaubensvorausfehungen aufzudecken, der Glaube muß es lernen, sich immer neu der Wahr­ heitsfrage zu stellen. So allein kann das Welldenken die innere Klarheit und Sicherheit gewinnen, die unerläßlich sind, wenn es der sittlichen Wegweisung dienen soll. Richt also darum geht es, daß der Glaube — etwa im Sinn eines flach gegenständlich verstandenen philosophia ancilla theologiae — die Auto­ nomie des wissens, oder das wissen — etwa irrt Sinn der Gottesbeweise — die Autonomie des Glaubens verfälsche, die Aufgabe liegt vielmehr in einer wirklichen Begegnung des wissens mit dem Glauben und des Glaubens mit dem wissen. (Es muß so „eine höhere Stufe der Wissenschaft errichtet werden, in der die nunmehr aufgedeckten, teilweise unbewußten weltanschaulichen Voraussetzungen selbst noch zum Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung gemacht werden"1). Und es muß eine „höhere Stufe" des Glaubens gewonnen werden, die alles Ringen um Wahrheit als göttliche Forderung begreift. Dies aber bedeutet nichts anderes als durch alle Vielheit der Glaubensentscheidung hindurch die Begegnung mit einem Urgrund der Wahrheit suchen, der nicht mehr getragen wird, sondern trägt, der nicht mehr erschlossen wird, sondern sich erschließt, und der nicht mehr nur als „Idee der Wahrheit"2), sondern nur noch als der göttliche Ursprung bezeichnet werden kann, dem gegenüber alle unsere Ideen nur als mehr oder weniger deutliche Abbilder erscheinen. Und damit ist das letzte Wort über natürliche Offenbarung und natürliche Theologie gesagt. Sie weisen über sich selbst hinaus auf den in allen ihren Ahnungen, Schauungen und Vorstellungen gemeinten Ursprung. Sie sind zu Unrecht übersehene Bekundungen dieses Ursprungs. Aber ihre Undeutlichkeit und Vieldeutigkeit läßt nur um so drängender nach dem Ort fragen, wo uns volle Klarheit werden kann. Dieser Ort ist die positive geschichtliche Offenbarung. Die Zrage nach der Verwirklichung des Guten, um die es in der Ethik geht, läßt keinen anderen Ausweg. In seiner letzten Zuspitzung bedeutet Verwirk­ lichung das Wirksamwerden eines irgendwie gearteten Gottglaubens in der Welt. Der IRensch steht dabei zwischen zwei Welten. Er erschließt sich dem Gebot je seines Gottes im Glauben. Zugleich bestätigt ihm tausendfältige Erfahrung, daß er in der „Welt" steht. Die Wissenschaft, an die er sich hierüber um Aus­ kunft wendet, aber ist in ihren letzten Voraussetzungen wieder vom Glauben abhängig. Radikales Durchdenken dieser Abhängigkeit ist hier der einzige Aus­ weg. So drängt den Ethiker alles zur Ausschau nach dem Urbild der Gott­ beziehung. v Spranger S. 19. 514: müllet, Lthil

3) So Spränget S. 19.

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Grundlegung

Dahin drängt aber auch die unverkennbare Abhängigkeit vom Christentum, in der wir die konkrete Gestalt der natürlichen Religion sehen, die unter uns wirksam ist. Keiner der Kronzeugen, auf die sich die Deutsche Glaubens­ bewegung beruft, kann aus dem Zusammenhang mit dem Christentum, in dem ihre „Gottschau" sich entwickelt hat, herausgelöst werden — weder Meister Eckehart noch der deutsche Idealismus. Gewiß sind hier im einzelnen viele Stagen zu beantworten. Aber welcher abstrakte Kops wollte behaupten, daß „Goethes Religion der Ehrfurcht, Schillers Religion des Ideals, Kants Reli­ gion der unbedingten Sortierung, Achtes Religion der Sreiheit, Nietzsches Religion des schöpferischen Lebens" *) bei aller zugestandenen Umdeutung des Inhaltes, über deren Umfang erst noch genauere Bestimmungen nötig wären, ohne Zusammenhang mit dem Christentum entstanden feien*2)? Läßt sich, um nur dieses eine Beispiel herauszuheben, etwa das Christentum aus dem Leben Nietzsches wegdenken? Bleibt es nicht der große Gegenspieler, ohne den gerade sein tiefstes Schicksal gar nicht verstanden werden kann? Mag man sagen, es habe in der verzerrten Gestalt, in der er es vor sich hatte, ihn für sein ganzes Leben vergiftet. Begründet aber ein Widerspruch, der so tief ins Gemüt hineinwirkt und die eigene Sragestellung so unablässig begleitet, nicht etwa auch eine positive Beziehung? Ist es nicht gerade ein evangelischer Gedanke, daß in offener, aber aus innerster Not ausbrechender Absage mehr innere Nähe zu Gott liegen kann als in allzu raschem Einverständnis, das nicht aus letztem Ernst stammt3)? Und was selbst die Berufung der Deutschen Glaubens­ bewegung aus das Glaubensleben unserer heidnischen Vorfahren betrifft, — wer könnte den Einfluß des Christentums aus der neuen Deutung weg­ denken, die hier der heidnischen Mythologie zuteil wird? Hauers sehr leben­ dige Deutung ist durchaus monotheistisch — so wenn er vom „indogermanischen Menschen" sagt: „Die Götter aber, d. h. die Göttergestalten, wie er sie ver­ ehrt, sind ihm nicht ein unbedingt Letztes, sondern eine Erscheinungsform der ewigen Gotikraft, krastlebendige Gestaltwerdung der Gotturmacht, die keinen Namen trägt und auch keinen Namen braucht"4). . verdankt dieser Mono­ theismus seine Geschichtsmächtigkeit im abendländischen Kulturkreis nun etwa Indien? Oder ist es nicht vielmehr so, daß hier auch der Gegner des Christen­ tums noch in seinem Schatten ficht? So erweist sich die natürliche Religion, in dem hier angedeuteten dialektischen Sinn verstanden, nach dem Seindschaft immer ein Zeichen existentiell noch sortwirkender Gemeinschast ist, — durchaus als ein innerchristlicher Vorgang, der jedenfalls nur vom Christentum hcr voll verstanden werden kann. Als eine in diesem kühnen und seines vorgrei­ fenden Charakters wegen noch nicht ganz verständlichen Sinn innerchristliche Erscheinung erwies sich uns die natürliche Religion ja auch insofern, als

*) Siehe horst Stephans ausführliche Behandlung des weltanschauungsproblems in seiner „Glaubenslehre", 21928, auf die hier nachdrücklich verwiesen sei, sowie: „Weltanschauung, natürliche Religion und Christentum", Zeitschr. f. Theo­ logie u. Kirche, 1934, heft 4, S. 318. 2) vgl. das aufschlußreiche Buch von Gerhard Zricke: Der religiöse Sinn der Klassik Schillers. 3) Matth. 21,28-32. 4) Deutsche Gottschau 1934, S. 199.

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es gar nicht anders möglich war, sie aus ihrer mehr oder weniger dichten Selbstverschleierung heraus zu klarer Auskunft über sich selbst zu nötigen als dadurch, daß wir sie in die Gesprächsnähe zum Christentum brachten und von daher Fragen an sie stellten. Nunmehr deutlich geworden ist, wo die Grenzen ihrer Aussagemöglichkeiten liegen, die auch in allen Einzelheiten zu erschöpfen nicht unsere Aufgabe sein kann, wird es Zeit, daß wir uns dem Gesprächspartner zuwenden, der sich bis jetzt im Hintergrund hielt, und Klarheit darüber suchen, was das Christentum uns über das sittliche handeln zu sagen hat. Bevor wir uns dieser Ausgabe zuwenden, sei nur noch eine letzte Möglich­ keit berührt, einer ausgesprochen theologischen Erörterung des Problems der Ethik zu guter Letzt doch noch zu entgehen. Das ist die wertphilosophische Grundlegung der Ethik.

11. Kapitel

Das Problem der Wertethik 0 Das Problem der Wertethik gerade an dieser Stelle unserer Erörterungen herauszuheben, liegt deshalb nahe, weil es seine neuerliche Bedeutung der Besinnung auf die welthaftigkeit des sittlichen Tuns und die Möglichkeit der Derwirklichung verdankt. Nur vom Wertproblem her schien der Formalismus der Kantischen Sittenlehre überwindbar, nur von daher schien eine konkrete Ethik möglich, „in der es sich endlich wieder um den Inhalt, um das Substan­ tielle ethischen Seins und Nichtseins handelt"2). Der Begriff des wertes scheint nun auch hervorragend geeignet, dem Ethos eine objektive Grund­ lage zu geben und damit über alle Unsicherheiten hinauszuführen, die in der von uns behaupteten Glaubensgrundlage des Ethos enthalten sind. So wehrt sich insbesondere Nicolai Hartmann gegen jede Derbindung der Wert­ ethik mit metaphysischen oder gar theologischen Gesichtspunkten, wir haben uns also zu fragen, ob sich hier etwa ein weg eröffnet, ohne alle theo­ logischen Umständlichkeiten zu einer Lösung der uns bewegenden Fragen zu kommen. Eine Besinnung auf Sinn und Grenze des Wertbegriffs soll uns Klarheit geben. werte sind „der Seinsweise nach platonische Ideen". „Sie gehören zu jenem von Platon zuerst entdeckten anderen Reich des Seins, das man wohl geistig erschauen, aber nicht sehen und greifen kann"3). In die heutige Vegriffssprache überseht sind sie „Wesenheiten"4). Sie stammen also „weder von den Dingen her", „noch aus dem Subjekt"5). Sie sind ferner nicht nur *) Reinhold Gross: Wertethik oder religiöse Sittlichkeit? 1933. — Nicolai Hart­ mann: Ethik, 21935 (zit. 1. stufl.). — Hugo Münsterberg: Philosophie der werte2, 1921. — Heinrich Rickert: System der werte, Bb. I, 1927. — Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik2 u. 3, 1927. — William Stern: Person und Sache, Bd. III: Wertphilosophie, 1924. — Walter Wiesenberg: Das Verhältnis von Formal- und Materialethik, erörtert an dem Streit zwischen Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch, Diss. Leipz. 1934. — Georg wünsch: Theologische Ethik, 1925. — Ders.: Evangelische Wirtschaftsethik, 1927. 2) Nie. Hartmann, „Ethik", S. V. 3) Hartmann, S. 108. 4) S. 109. 5) S. 109.

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Grundlegung

formale Gebilde, sondern „Inhalte, Materien', Strukturen, die ein spezi­ fisches Quäle an Dingen, Verhältnissen oder Personen ausmachen, je nachdem, ob sie ihnen zukommen oder fehlen"1). Und schließlich sind sie nicht der Re­ flexion, sondern nur einer inneren „Schau", dem „wertfühlen" zugänglich. Dieses Wertgefühl ist apriorisch und geht genau so aller Erfahrung voraus wie die Kategorien etwa der Einheit, Vielheit, Allheit, Realität, Kausalität, Möglichkeit, die aller natürlichen Auffassung der Dingwelt vorangehen. „Auch das Emotionale des Geistes, das Kühlen, vorziehen, Lieben, hassen, wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom Denken' erborgt und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat. Es gibt eine apriorische ordre du coeur, oder logique du cceur, wie Blaise Pascal treffend sagt"2). Die Werte haben also „kein reales Ansichsein", aber „ideales Ansichsein" 3) kommt ihnen in derselben Weise zu wie etwa den logischen und mathematischen Gegenständen. Als solche gehören sie einem für sich bestehenden „Reich der Werte" an4). In dieser Erkenntnis weiß sich der Wertforscher mit Plato, Aristoteles und der Stoa, aber auch mit der christ­ lichen Ethik einig. „Der Wille Gottes ist hier das Vehikel der Werte, nicht anders als bei den Stoikern die 'Natur'"5). Auch das Gewissen wird als „primäres, einem jeden im Gefühl liegendes Wertbewußtsein" verständlich 6). Der wert einer solchen wertphilosophischen Grundlegung der Ethik erweist sich aber vor allem darin, daß sie die Ethik von allem abstrakten For­ malismus erlöst und ein konkretes Verhältnis zur Welt begründet. Aus der unabsehbaren Külle von Weltinhalten heben sich nun die Güter, die Wertdinge heraus. Werte erweisen sich, ohne ihre Unabhängigkeit einzubüßen, als „Be­ dingungen der Möglichkeit' der Güter"7). Rur so erklärt sich ja, wie dem Menschen Dinge als Güter gelten können. „Wert haftet ja nicht unterschiedslos allen Dingen an- es gibt Güter und Übel." Durch ihre Seinsweise unterscheiden diese sich nicht. Sie sind alle in gleicher Weise real. Rur sein Wertgefühl kann den Menschen unterscheiden lehren. „Er muß den Maßstab, etwa den des Angenehmen und Unangenehmen bereits haben, und die Dinge müssen ihm von vornherein unter diesen Maßstab fallen, sich nach ihm scheiden in angenehme und unangenehme Dinge. Er muß ein primäres Lebensgefühl haben, welches alle Dinge und Verhältnisse, die in seinen Gesichtskreis treten, auf den Lebenswert bezieht und danach seligiert in Güter und Übel"8). Die Krage, die uns jetzt besonders beschäftigen muß, ist nun die, ob uns der Wertbegriff etwa der ganzen Mühseligkeit einer theologischen Grundlegung der Ethik entheben könnte. Nicolai Hartmann ist entschieden dieser Meinung. Max Scheler, der eigentliche neuere Begründer der Wertethik, ist es nicht. Auch er besteht zwar auf der Selbständigkeit der philosophischen Besinnung. Aber es ist bei ihm doch so, daß sein grundlegendes Werk „Der Kormalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" — jedenfalls „von hinten gelesen" — „eine wesentlich theologische Ethik" darstellt9), in der anerkannt ist, daß

x) S. 109. 2) Scheler, „Kormalismus...", S. 59. 3) Hartmann 5.136. 4) Hartmann S. 140. 6) Hartmann S. 123. 6) 5. 121. 7) Hartmann S. 109. 8) Hartmann 5. 110. 8) Emil Brunner: Das Gebot und die Ordnungen, S. 564.

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„alle möglichen Werte" „fundiert" sind „auf den Wert eines unendlichen persön­ lichen Geistes und der vor ihm stehenden Welt der Verte" 4). Hartmann aber ist der entschiedenen Meinung, daß es „für die Ethik überhaupt gleichgültig" sei, „welche metaphysische Deutung man dem wertreich gibt, welche religiöse oder philosophische Weltanschauung man dahinter beginnen läßt"2). Ihm scheint jede „Metaphysik des Wertes" „eine Vergewaltigung des Wert­ problems", ja, sie gilt ihm als „eine Verkennung des Menschen in seiner kosmischen Stellung." Jede wertmetaphgsik mache aus den werten „onto­ logische Kategorien", und als solche seien sie schlechterdings realisiert. Alles Wirkliche stehe dann von Haus aus unter Wertprinzipien — man möge dabei an Platon denken, der die Idee des Guten an die Spitze des Ideenreiches hob, an den aristotelischen Begriff des voü$3) als der höchsten Vollendung und des äpiCTTov4), an den stoischen Begriff des Logos als des moralischen und zugleich kosmischen Urprinzips, an die scholastische Gleichsetzung von en,s realissim,um und ens perfectissimum oder an Kants Primat der praktischen Vernunft. Dadurch aber werde der Mensch überflüssig. „Die Werte setzen sich auch ohne sein Wertbewußtsein und ohne sein Zutun in Wirklichkeit um" 5). vollends wird von diesem Standpunkt aus, wie wir schon sahen, jede ausgesprochen theologische Ethik entschieden verworfen, weil der Gottesbegriff den Menschen „als sittliches Wesen, als Person vernichtet"6) und so direkt eine Bedrohung der Sittlichkeit darstellt. Dieser Gedankengang vermag aber nun in keiner Weise zu überzeugen. Zunächst erweist sich, daß diese Bestreitung der Metaphysik selbst metaphysisch, diese Abwehr der Theologie selbst verkappt theologisch ist. hier kommt alles aus der Sorge um die „kosmische Stellung" des Menschen7). Das Problem der Theodizee8) wird deshalb abgewehrt, weil alles Interesse auf Anthropodizee9) gerichtet ist. Aber auch die sachliche Frage wird so nicht gelöst. Einmal bleibt das Ursprungsproblem unaufgeklärt, das ja nicht nur metaphysisch, sondern auch psychologisch bedeutsam ist. Wie kommt es eigentlich zur sitt­ lichen Tat? Offenbar reichen dazu das ideale Gelten und das Wertgefühl nicht zur Erklärung aus. Es gibt ja doch auch außersittliche, nicht zur sittlichen Tat drängende Werte, die ich nur einfach genieße. Der sittliche wert muß also außer dem Wertgefühl noch ein Moment enthalten, das zur Tat drängt. Das ist eben der „Glaube" an den Existentialsinn des Wertes, der, wie Scheier ganz richtig sieht, als „Huf an diese Person und sie allein ergeht, gleichgültig, ob derselbe Huf auch an andere ergehe oder nicht"49), das Ergriffensein von der unbedingten Lebensnotwendigkeit des Wertes, die Anerkennung des Wertes als „göttlichen" Gebotes. In diesem Sinne sagt auch Hickert, freilich ohne die notwendigen theologischen Konsequenzen zu ziehen: „An objektive werte... glauben wir im Grunde alle, auch wenn wir uns vielleicht... einbilden, es nicht zu tun, denn: 'Ohne ein Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinne des Wortes nicht auftecht gehen' (Kulturwissenschast und Haturwissenschaft2 1921, S. 169). Erst wenn ich mich im Werterleben an eine *) Formalismus 5. 94. 2) Ethik S. 123. 3) Sinn. 4) Besten. 5) Ethik S. 152. 6) S. 184. 7) S. 186. 8) Hechtfertigung Gottes. 9) Hechtfertigung des Menschen. 10) Formalismus S. 510.

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Grundlegung

Wirklichkeit gebunden fühle, von der mein heil abhängt, erst wenn ich mich in der letzten Tiefe meines Gefühls von dem wert angesprochen fühle, kommt es zur sittlichen Tat1).2 So allein werden Wille und Kraft zum Kampf um die Verwirklichung entbunden. Es bleibt aber auch unverständlich, wie es ohne Glauben zu einer Rang­ ordnung der werte kommen soll. Es wird anerkannt, daß „der Gedanke einer im Wertteich bestehenden Rangordnung" „die stillschweigende Voraus­ setzung" aller Wertethik ist-). Da ergibt sich nun eine ganz katasttophale Lage. Hartmann gesteht: „Zu einer wirklich durchgehenden Wertordnung reicht auch die Einzelanalgse, wie sie sich bestenfalls geben läßt, nicht hin. Man darf nie vergessen, daß wir in den Anfängen der Wertforschung stehen, und daß eigentliche Spezialuntersuchungen noch gar nicht vorliegen. Rian darf also gesicherte Resultate überhaupt nicht erwarten"3). So bleibt unverständlich, wie es überhaupt noch zu einheitlicher sittlicher Haltung, ja noch zu sittlicher Tat kommen soll, da doch anerkannt wird, daß das Gute „Auslese der werte selbst nach dem Prinzip der werthohe" ist4). Soll der sittlich handelnde warten, bis die wissenschaftliche Ethik hier zu einem Ergebnis gekommen ist? Müßte ein solcher unerträglicher Wartezustand nicht zu einem Moratorium der Sitt­ lichkeit führen, das noch weit schlimmer wäre, als das wildeste Darauslos­ experimentieren? Auch hier kann nur die Feststellung helfen, daß eine Rangordnung der werte nur von einem irgendwie gearteten Gottesglauben aus möglich ist, von dem aus sich dann die Werthöhe je aus der Nähe zum absoluten Ursprung aller werte ergibt. Und schließlich wird nur aus dem Zusammenhang des Wert­ problems mit dem Glaubensproblem begreiflich, welche ungeheuere Rolle nicht nur die Wertblindheit, sondern auch das Wertwiderstreben spielt. Die Tatsache der sittlichen Wertblindheit sieht Hartmann wohl. Aber schon bei ihr ist fraglich, ob sie „vollkommen auf einer Linie mit dem theoretisch nicht einsehen können des mathematisch Ungeschulten oder Unbegabten" liegt5). Daß eine Analogie vorliegt, ist unbestreitbar. Ebenso unleugbar ist aber doch, daß hier aus einer letzten Tiefe des Menschseins Hemmungen aufsteigen können, die gegen mathematische Einsichten einfach nicht vorkommen. Die hochgebildete russische Revoluttonärin, die sich an 21 Attentaten gegen den Zaren beteiligt, ist bestimmt für weite Gebiete des Sittlichen wertblind, wer aber wollte behaupten, daß hier einfach Mangel an Begabung vorliegt? Da läßt sich ohne die Annahme eines eigentlichen, tief im Personenleben begründeten Wert­ widerstrebens nicht auskommen. Das braucht noch lange nicht eine Selbst­ entwürdigung des Menschen im Sinn einer Übertragung der Autonomie des sittlichen Bewußtseins auf Gott zu bedeuten, wie Hartmann geneigt ist anzu­ nehmen — man muß nur um den Entscheidungscharakter des Glaubens wissen und darf den Begriff der Sünde nicht von vornherein aus dem ethischen Zragebereich verbannen ^). x) R. Groos hat insofern recht, wenn er gegen Hartmann einwendet, die Wirk­ lichkeit sei das von diesem verfehlte Prinzip, a. a. O. S. 77. 2) Hartmann S. 245. 3) 245. 4) S. 351. 5) S. 142. 6) S. 25.

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Damit erweist sich, daß der Wertbegriff keine Möglichkeit darstellt, um eine theologische Grundlegung der Ethik herumzukommen. Er verlangt viel­ mehr seinerseits nach einer Aufklärung der Glaubenszusammenhänge, in denen er steht. 12. Kapitel

Zusammenfassung wir stehen nun an einem entscheidenden Wendepunkt unserer Über­ legungen. Sie gingen aus von der Auflösung des christlichen Ethos in der Gegenwart. Diese schien uns dadurch in ihr entscheidendes Stadium einge­ treten, daß eine wildwachsende und nur zum kleinen Teil bewußte natürliche Religion die Glaubensfundamente der christlichen Moral unterhöhlt und zu ersetzen bestrebt ist. Line rein rationale Ethik im Sinne der philosophischen Traditton der letzten Jahrhunderte kann dieser Lage ihrer Glaubensblindheit wegen nicht gerecht werden. (Es gilt, eine Untersuchungsart anzuwenden, die den unverkennbaren religiösen Einschlag in das sittliche handeln auszu­ decken vermag, wir nennen dieses Verfahren theologische Wirklichkeitsschau und verstehen darunter ein Denken, das bis zu den letzten glaubensmäßigen Voraussetzungen der Sittlichkeit vordringt und radikale Theologie mit radi­ kaler Sachlichkeit verbindet, also theologische Gesichtspunkte nicht von außen an das sittliche Phänomen heranträgt, sondern in der Sache selbst aufsucht. Zn der unter diesem Gesichtspunkt durchgeführten Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins hat sich uns nun gezeigt, daß an allen wesentlichen Punk­ ten in das sittliche Geschehen ungefragt und unausschaltbar Glaubensbindungen hineinspielen, die nicht in das Belieben des sittlich tätigen Menschen gestellt sind, sondern auf eine Grundverfassung des menschlichen Wesens zurückweisen. Dabei kam nun alles daraus an, diese Glaubensbindungen aus ihrer Unbewußtheit und ihren mannigfachen Verhüllungen heraus in das Licht des Bewußt­ seins zu heben. Dieses Mühen um das Bewußtmachen der natürlichen Religion nannten wir natürliche Theologie, wir sehen sie heute gerade dort eine ent­ scheidende Rolle spielen, wo man von christlicher Theologie nichts mehr wissen will, wir verstehen darunter also alle Bemühungen, religiöse Klarheit unter Absetzung von der christlichen Offenbarung zu gewinnen. Uns ging es dabei um die religiösen Verschlingungen, in denen die sittliche Tat steht. Die Ent­ schleierung dieser natürlichen, durchaus zum menschlichen Wesen gehörigen Religiosität drängte überall zum Gespräch mit derjenigen Gestalt von Religion, in der für uns das Wesen der Religion seine größte Deutlichkeit und Mächtigkeit gewonnen hat. Das hängt mit den Grundbedingungen des verstehens zu­ sammen. Unbewußtes kann nur vom bewußten, unentwickeltes nur vom entfalteten Leben aus verstanden werden. Rur der Magnet kann Eisen an­ ziehen und aus allen seinen Verhüllungen herausholen. Rur gestaltete Re­ ligion kann uns die ungestaltete, nur das Urbild kann uns das Abbild ver­ ständlich machen. Rur die fragen, die von der in der Geschichte offenbar ge­ wordenen, schon gestalteten Religion an die noch nicht geformte und ttotz alles Ringens über nebelhafte und vieldeutige Umrisse nicht hinauskommende

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Grundlegung

Religion gestellt werden, können Aufschluß geben über die Gestaltmöglich­ keiten, die hier vorliegen. Natürliche Theologie ist ein dialektischer Begriff, den man ohne ein „stilles Messen"T) an wirklicher Religion gar nicht sinnvoll gebrauchen — deshalb aber nun auch wirklich gebrauchen kann. Der wirklichen Religion fällt hier die Rufgabe der Enthüllung, auch der Entlarvung, jedenfalls aber der Erfüllung zu. Insofern ist natürliche Religion, in welcher Form sie auch begegne, immer ein Rnruf an Lhristentum, Kirche und Theologie und insofern immer ein innerchristliches, innerkirchliches und innertheologisches Ereignis*2). Dabei hat sich nun gezeigt, daß die natürliche Religion zwar alle wesent­ lichen formalen Eigentümlichkeiten der positiven Religion hat, über eine gewisse verschwebende Unbestimmtheit der Umrißzeichnung aber nicht hinauskommt. Vas gilt nicht nur von der Unmittelbarkeit und Lebendigkeit, in der ihre Gläubigkeit auftritt, sondern noch mehr von den Objekten, auf die sie gerichtet ist. Ruch aus den dunkelsten Wallungen der natürlichen Religion lassen sich die Umrisse einer Schau von Gott, Welt und Mensch ablesen. Vas alles aber leidet an einer unerträglichen Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und Unnüchternheit. Zwei Möglichkeiten könnten von hier aus ins Rüge gefaßt werden. Einmal könnte man daraus eine neue Rechtfertigung der traditionellen Mißachtung der natürlichen Religion — sei es in einer rein rationalen, sei es in einer von vornherein positiv theologischen Behandlung der Ethik — ab­ leiten. Das würde die natürliche Religion von neuem in das Dunkel ihrer unbewußten Existenz zurückdrängen, von wo aus sie dann ihre Unterminie­ rungsarbeit von neuem beginnen könnte. Oder es wäre möglich, das Urbild der Rhnungen, die Erfüllung der Sehnsüchte zu suchen, die uns in nebelhafter Undeutlichkeit in der natürlichen Religion begegnen, wir wären dann vor dieselbe Rufgabe gestellt, die Schleiermacher in der fünften seiner „Reden T) Spränget: Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit, S. 17. 2) In dem Streitgespräch, das über öie Stage der Möglichkeit einer natürlichen Theologie auf protestantischem Boden zwischen Karl Barth und Emil Brunner ent­ standen ist, stellen wir uns also auf die Seite Brunners, ohne doch, wie wir meinen, das Anliegen Barths dabei zu kurz kommen zu lassen. Ihm ist es darum zu tun, „die Offenbarung als Gnade und die Gnade als Offenbarung zu verstehen" (Nein! Antwort an Emil Brunner, München 1934, S. 7). Er meint, natürliche Theologie existiere gar nicht als etwas, das innerhalb der „wirklichen Theologie" „selbständiges Thema werden könnte". „Mit wirklicher Theologie beschäftigt", könne man „an der sogenannten natürlichen Theologie immer gerade nur vorbeikommen wie an einem Rbgrund" (S. 12). Dazu ist zu sagen, daß die „wirkliche Theologie" ja gar nicht gefragt ist, ob sie natürliche Theologie zulassen will oder nicht. Sie ist nur gefragt, ob sie die faktisch vorhandene natürliche Theologie ernst nehmen oder ignorieren will. „Der großen Versuchung und Fehlerquelle" der natürlichen Theologie kann man dabei freilich nur von der wirklichen Theologie, nur von der Offenbarung her entgehen. Darauf wird der natürliche Theologe aber nur hören, wenn er sich bis zum Letzten ernst genommen weiß. Daß natürliche Theologie auch im praktischen Sinne des Wortes ein dialektisches, ein Gesprächszählern ist, muß also immer gesehen werden. Dgl. hierzu heim. Frick, Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage, 1956, des. S. 197: „wir kommen also zu dem Schluß, daß es auch hinter dem Evangelium her .Religion', ja sogar .natürliche' Religion geben kann. Rber nur, sofern und so­ lange sie sich offenhalt dem Evangelium."

Das Wesensgefüge des Sittlichen

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über die Religion" sich gestellt sah. Ruch ihm war es ja um die „bestimmte Ge­ stalt" der Religion zu tun, der gegenüber die natürliche Religion mit ihren „dunkeln Ahnungen" *) „nur eine unbestimmte, dürftige und armselige Idee ist, die für sich nie eigentlich existieren kann"2). Urbilder aber kann man nicht er­ finden. Man kann sie nur in der Geschichte aufsuchen dort, wo sie wirkungs­ mächtige geschichtliche Gestalt geworden sind, wir haben mit anderen Worten nun das Christentum zu Worte kommen zu lassen, das von vornherein der andere sich bisher nur mit eigenen Äußerungen zurückhaltende Gesprächs­ partner war. Es fragt sich, ob es die unmittelbare Lebendigkeit und die Wirk­ lichkeitsnähe, die Bestimmtheit und die weite hat, die für die sittliche Aus­ richtung unerläßlich sind und ob es in dieser Hinsicht als Erfüllung dessen ver­ standen werden kann, wonach wir die natürliche Religion Ausschau halten sahen. 2) Ausg. v. Gtto, Göttingen, S. 170.

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Grundlegung

Zweiter tzauptteil

Die christliche Grundlegung der Sittenlehre 13. Kapitel

Der Sinn cler Wendung zum Christentum. Radikale Theologiex) (Es ist uns bisher darum zu tun gewesen, die Struktur des sittlichen Phäno­ mens aufzuzeigen. Diese Bemühungen waren uns nahegelegt durch die gegenwärtige Lage der Sittlichkeit. Das sittliche Bewußtsein hat sich in einem langen Abtrennungsprozeß vom Christentum losgelöst. Zn der philosophischen (Ethik der letzten Jahrhunderte handelt es sich im Zuge dieser Entwicklung um das Bemühen, dem sittlichen handeln eine rein rationale Begründung zu geben. So allein hoffte man, wieder zu festen Fundamenten Vorstößen zu können. Uns ist es um die Frage zu tun, was das Christentum in dieser Lage zu bedeuten hat. (Es kann sich dabei nicht um Apologetik im Sinne der bloßen Abwehr und Selbstbehauptung um jeden Preis, sondern nur um die sachlichste Lösung des Problems der Ethik handeln, was uns zwingt, weiterzudenken, ist die erschreckende Vieldeutigkeit all der glaubensmäßigen Voraussetzungen, die sich unserer Strukturanalyse enthüllt haben, wir stießen auf die formale Struktur der Gottbeziehung. Aber es wurde uns deutlich, daß im Grunde jeder seinen Gott hat. (Es hat sich uns bestätigt, daß „der religiöse Akt von jedem Menschen notwendig vollzogen" wird *2). Aber es hat sich gezeigt, daß er sich mit den allerverschiedensten Inhalten füllen kann. Allem mit sittlichem Anspruch auftretenden Tun liegt ein Glaube zugrunde, aber er kann sich auf die verschiedensten Götter richten. Und wir sehen, wie diese theologische Vieldeutigkeit ihre anthropologischen und kosmologischen Konsequenzen hat. Ze nach der Gottbindung, in der einer steht, füllt sich der Glaubensakt, füllt sich die Stimme des Gewissens mit andern Inhalten, wird die Freiheit anders erlebt- und jede Gottbeziehung trägt ein Weltbild in sich, das, wie undeutlich es immer entfaltet sein mag, den Grt des menschlichen handelns je in der Beleuchtung des zugrunde liegenden Gotterlebnisses anders erscheinen läßt. Diese Lage ist aber nun deshalb völlig unhaltbar, weil es sich um die Grundftagen der sittlichen Existenz des Menschen handelt, hier wird KlarKarl Barth: Nein! Antwort an Emil Brunner, 1934. — Peter Barth: Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, 1935. — Emil Brunner: Natur und Gnade, 1935. — Fr. h. N. Frank, System der christl. Sittlichkeit l 1884 II 1887. — Karl holl: Der Neubau der Sittlichkeit (Ges. Aufs. Sd. I Luther). — Gtto Piper: Die Grundlagen der evang. Ethik I 1928, II 1930. 2) Scheier: Dom Ewigen im Menschen, 1921, S. 559.

Die christliche Grundlegung der Sittenlehre

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heit einfach Lebensfrage. Neben der unerträglichen Vieldeutigkeit des Glaub ensinhaltes und der anthropologischen Grundbestimmungen über Freiheit und Gewissen wurde uns das besonders an dem unvermeidlichen Zusammenstoß mit dem wissenschaftlichen Weltbild deutlich. Gr entsteht so, daß der natürliche Glaube offenkundig die Möglichkeit und die tiefgewurzelte Neigung hat, Teilgebiete des Weltbildes absolut zu setzen, das Erkenntnis­ streben nur noch im Dienste seiner Glaubensinhalte gelten zu lassen und ihm dadurch seine Nüchternheit, seine würde und seine weite zu nehmen. Das alles sind Grundfragen unserer persönlichen und kulturellen Existenz, die durch­ aus auf Klarheit über Gott, Mensch und Welt angewiesen ist. wie ist hier weiterzukommen? Die philosophische Ethik kann nicht helfen, weil sie die hier vorliegenden Kragen nicht beachtet und selbst verkappt theologisch ist. Die theologische Ethik aber ist selber weithin einem gegenständlichen Denken ver­ fallen, aus dem heraus sie zu rasch und unvermittelt Antworten geltend macht, deren Beziehung zu den heute aufbrechenden Kragen nicht deutlich ist. Hilfe kann nur von einer eigentlichen Wiederentdeckung des Evangeliums kommen. wir werden sie nicht ohne weiteres von der theologischen und kirch­ lichen Tradition erwarten dürfen. Es hätte wohl die ganze schwere Lage, die uns bedrängt, der weithin wirkende Abfall vom Christentum nicht entstehen können, wenn hier alles in Ordnung wäre. Unleugbar wird schon einfach die Sprache der Theologie von ganzen Menschengruppen nicht mehr verstanden. Theologische Rede scheint abstrakte, zeit- und lebensfremde, an tote Traditionen gebundene, unfreie Nede zu sein. Das hat zu einem allgemeinen und lange vorbereiteten Aufstand gegen die Theologie geführt. In solcher Lage kann es sich nur um Rückkehr zu den Quellen, kann es sich nur um Wiederentdeckung des ewig lebendigen Evangeliums handeln, wenn unserem Geschlechte nicht zugerufen zu werden braucht: „Laßt alle Hoffnung fahren", dann nur, weil manche Anzeichen dafür sprechen, daß eine solche Rückfindung zum Ursprung — zweifellos wie der Abfall ein Vorgang von Jahrhunderten — unter uns angefangen hat. Die theoretische Auswirkung dieser Wiedergeburt wollen wir als radikale Theologie bezeichnen und dabei das Wort Theologie in seiner eigentlichen Bedeutung als Rede von Gott verstehen — wohl wissend, daß alle solche Rede nur stammelnder Hinweis sein kann, von radikaler Theologie aber wollen wir reden, weil wir eine theologische Besinnung im Auge haben, die sich zwar nicht an der Tradition vorbei, aber durch die Tradition hindurch aus die letzten Quellen, also auf die Offenbarung Gottes selbst gewiesen sieht. Radikale Theologie ist ursprüngliche Theologie. Sie tann in allen ihren Bemühungen um Klarheit nichts anderes sein wollen als williges hinhören auf das lebendige Wort, das Gott selbst in Jesus Ehristus zu uns redet. Sie wird sich deshalb durch alle Begrifflichkeit hindurch immer wieder auf die das Glaubensleben begründenden Urtatsachen hingewiesen sehen. Daß Gott selbst zu Wort komme, ist aller Theologie Anfang und Ende. Zwei Kragen bedürfen, bevor wir uns einzelnem zuwenden, dabei in diesem Zusammenhang der Erörterung. Zunächst will überlegt sein, welchen

Sinn es denn haben kann, von einer Wiederentdeckung des Evangeliums zu reden. Das Ziel ist uns schon deutlich geworden. Es sollen an der Stelle von Begriffsgespenstern die Realitäten gesehen werden, die im Lhristentum ur­ sprünglich gemeint sind. Zweierlei ist damit abgewehrt. Einmal ein Dogma­ tismus, der die Grundtatsachen der Verkündigung vergegenständlicht und meint, mit dem Begriff die Sache selbst zu haben. Und dann eine neue Gläubig­ keit, die meint, die Realitäten los zu sein, wenn man den Begriff abtut. Wieder­ entdeckung ist dabei ein Grundphänomen der Geschichte, mag es sich dabei mehr um das wiederaustauchen vergessener, also dem menschlichen Bewußtsein völlig entschwundener, oder um das Wiederlebendigwerden bewußtseins­ mäßig gegenwärtiger, aber begrifflich erstarrter und verblaßter Zusammen­ hänge handeln. Ohne Wiederentdeckung wären die Phänomene der Refor­ mation und Revolution weder auf geistig-religiösem, noch auf politischem Gebiet verständlich — mag man an die Wiederentdeckung der flntite in der Renaissance, des ursprünglichen Ehristentums in der Reformation, gewisser naturrechtlicher Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der franzö­ sischen und der gewachsenen Lebensgrundlagen wie Blut und Boden in der deutschen Revolution denken. In allen Zöllen geht die Notwendigkeit solcher Wiederentdeckung auf die Engräumigkeit der menschlichen Seele zurück, was die neuere Psychotherapie für das persönliche Leben festgestellt hat, gilt offen­ bar auch für die Geschichte: nur einen Eeilausschnitt der Wirklichkeit vermag der Mensch zuweilen in das Licht des Bewußtseins zu rücken und mit der vollen Kraft des Erlebens zu umfassen. So versinkt die Welt der Antike und ent­ schwindet für Jahrhunderte fast aus dem Bewußtsein, weil alle schaffenden Kräfte ganz auf die Entfaltung der neuen christlichen Weltschau gerichtet find; mit der Wiederentdeckung der Antike versinkt umgekehrt das ZUittelalter vor dem inneren Auge des europäischen Menschen. An Stelle äußerster Konzen­ tration auf die innere Welt, die alles auf die eine Lebensmitte bezieht, tritt in der nachreformatorischen Zeit eine nicht minder leidenschaftliche Hinwendung auf die äußere Wirklichkeit, die sich nach allen Seiten ausbreitet und alle inneren Kräfte aufzehrt, bis in der Gegenwart eine mächtige Sehnsucht nach organischer Lebensbindung und gläubiger Lebenserneuerung entsteht, die das wissen um die objektiven Doraussetzungen inneren Lebens erst wieder­ gewinnen muß. wenn diese seelische Engräumigkeit sich so als bestimmendes Gesetz aller Geschichte erweist, so wäre es nur verwunderlich, wenn es nicht auch in der Entfaltung des Evangeliums zutage träte. Die echte Bedeutung des Dogmas liegt dabei darin, die ganze Fülle der göttlichen Wirklichkeit zu ständiger Dergegenwärtigung vor das innere Auge zu bringen. Dabei wirkt sich die Begrenztheit menschlicher Kräfte nun wieder so aus, daß wissen und Leben auseinanderbrechen können und dann ein „Herr, Herr"-Sagen entsteht, das sich nicht mehr zu lebendigem Gehorsam gerufen weiß. Bricht gegen solche Erstarrung im Dogma die Mgstik oder die Unmittelbarkeit reli­ giösen Erlebens auf, droht wieder von der anderen Seite her die Gefahr, daß dieser Krasteinsatz mit neuer Verengung des Horizontes erkauft ist. So läßt in der Gegenwart die Sehnsucht nach unmittelbarer Lebendigkeit den Sinn für die historische Bedingtheit und für die Jrrtumsfähigkeit des Glaubenslebens

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völlig verlieren. So sieht etwa Wilhelm Hauer seine „Haltung Jesus gegenüber einfach davon bestimmt", daß er ihn nicht „als einzig maßgebenden Führer braucht" — wie auch für die Jugend Jesus nicht mehr „Herzensproblem" sei *). Ist damit, daß Jesus zweifellos für weite Kreise nicht mehr Herzensproblem ist, schon erwiesen, daß die Realitäten, die in Jesus verkörpert sind, sich außer Kraft setzen und von ihm ablösen lassen? Gibt es nicht auch Tatsachenblindheit? haben wir hier nicht die Unmittelbarkeit des Erlebens zum Maßstab aller Dinge erhoben? Und geraten wir damit nicht in Gefahr, subjektive Echt­ heit und objektive Richtigkeit der Glaubensentscheidung einfach mit­ einander zu verwechseln? Sollte die Bibel, mit der wir doch immer­ hin eine Geschichte gehabt haben, nicht dasselbe Recht auf unser suchendes Aufhorchen und verstehendes hinhören haben, das wir Wilhelm Hauer etwa der Lhagawadgita zuwenden sehen? Und spricht die ausgesprochene Geist­ losigkeit, mit der man weithin das Dogma interpretiert, um es kurzerhand loszuwerden, wirklich so ohne weiteres gegen das Dogma — ist sie nicht zu­ nächst ein erschreckendes Zeichen für einen weitverbreiteten Mangel an Geist und innerer Ernsthaftigkeit? Damit aber stehen wir nun vor der anderen Frage, die hier im voraus bedacht sein will: kann man dem heutigen religiös suchenden Menschen zu­ muten, sich in seinem verlangen nach religiöser Erfüllung gerade an Jesus zu wenden? welche Gründe kann es geben, hier Aufmerksamkeit auch dem zuzumuten, der sich, wie man heute immer wieder mit Nachdruck sagt, durch sein „Glaubensschicksal" vom Christentum weggewendet sieht? Es kann drei solche Gründe geben. Ruch in religiösen Dingen muß es zunächst geraten sein, sich an den wirklich zuständigen Sachkenner zu wenden. Sachkenntnis ist aber auf religiösem Gebiet mehr noch als anderswo eine Frage der „Begabung", der Begnadung, der charismatischen Ausrüstung. Es kann nun aber kein Zweifel sein, daß auf religiösem Gebiet die wirklich große Begabung noch un­ endlich viel seltener ist als etwa auf dem Gebiete der Kunst, das ihm sonst in dieser Hinsicht wohl am nächsten liegt. Vie religiöse Anlage ist zwar zugleich mehr noch als die künstlerische allgemein menschlich. Vas ist uns am Existentialsinn der Gottbeziehung aufgegangen. Aber zugleich kann nicht übersehen werden, wie verworren und wie vieldeutig diese religiöse Anlage ist. So hoch man hier bei richtiger Führung von der Entwicklungsfähigkeit auch des mensch­ lichen Durchschnittes denken mag, auf sich selbst gestellt kommt er über dunkle Wallungen, Sehnsüchte und Ahnungen selten hinaus. Jedenfalls stehen hier die wirklich großen Begabungen wie Gestirne über der Erde — dazu bestimmt, über die Jahrtausende hinweg der suchenden Menschheit zu klarer Orientierung und Sicht zu verhelfen. Vas ist die eine Tatsache, die hier gesehen sein will. Aber nicht nur erkenntnismäßig, auch lebensmäßig steht die wirkliche Offenbarung unter ganz bestimmten Gesetzen. Offenbarung kann nur ein heiliger bringen, der den Inhalt seiner Lehre auch lebensmäßig zur Darstel­ lung bringt. So allein kann ja deutlich werden, daß es sich nicht nur um Lehre, sondern um Leben und um Wirklichkeit handelt. Gb eine religiöse Botschaft

*) Deutsche Gottschau, S. 252 f.

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Grundlegung

nur Phantasien enthält oder ob sie eine neue Sülle und Tiefe des» wirklichen Lebens erschließt, das kann nur so offenbar werden, daß der Inhalt der Lehre wirklich SIeisch und Blut wird, daß er sich im Zusammenstoß mit der wirklichen Welt behauptet, daß er vor den Verwicklungen des Lebens nicht zurückschreckt. Oer heilige darf nicht nur von Gott reden, er muß die Sülle der Gotterkenntnis im Ganzen seines Lebens verkörpern, er muß die Inkarnation seines Gottes sein. Schließlich muß der Religionsgründer nicht nur erleuchteter Prophet und heiliger, er muß auch Wegbahner sein. Gr muß eine Möglichkeit der Nach­ folge geben, es muß sich die Sülle seiner Erkenntnisse in das Erleben mensch­ lichen Durchschnittes übersetzen lassen, ohne an Substanz zu verlieren, es muß eine Brücke vom Außerordentlichen zum Allgemeinmenschlichen geben. So allein kann er schließlich verstanden werden, so allein kann sich zeigen, ob er Helfer, Heiland, Mittler ist. von da aus ergibt sich der weg, der uns für unsere Besinnung gewiesen ist. wir werden uns an das Evangelium mit Sragen wenden, die uns die gegen­ wärtige sittlich-religiöse Lage stellt, wir werden bei ihm Antwort auf die Sragen suchen, die in unserer Strukturanalyse des Sittlichen offen geblieben sind, vor allem wird es sich darum handeln, eine bestimmtere Antwort auf die Srage zu suchen, wer Gott sei, also über all die Unbestimmtheiten hinauszukommen, die bei der Srage nach dem Ursprung des sittlichen Gebotes geblieben sind, wir werden das Christentum also zunächst nach seiner Gottschau zu fragen haben, soweit sie für die Ethik in Betracht kommt. Neben diesem theologischen Grundproblem werden uns die für die verwirklichungsfrage bedeutsamen anthropologischen nud kosmologischen Konse­ quenzen beschäftigen müssen, die sich daraus ergeben. Oie Antwort werden wir uns von den geschichtlichen Dokumenten geben lassen müssen, die uns von Lehre, Leben und geschichtlicher Wirkung Jesu berichten. Dazu gehören auch die kirchlichen Bekenntnisse, die zwar der Bibel nicht an Tuellenwert gleich­ kommen, aber uns doch helfen können, Haupt- und Nebensachen zu unter­ scheiden und ein Gesamtbild zu gewinnen. Überall werden wir unser Augen­ merk daraus richten müssen, nicht im einzelnen hängen zu bleiben und alles in seiner richtigen Proportion zum Ganzen zu sehen. Das einzelne Bibelwort kann nur vom gestaltenden Zentrum her, das ja auch erst viele einzelne Schriften zu einem Buche werden ließ, also von Christus her verstanden werden,- das Dogma will wieder den übergeschichtlichen Sinn der Erscheinung Jesu erfassen helfen. Es weist damit über alle bloße Geschichte, und damit auch über sich selbst hinaus auf die letzte Lebenswirklichkeit hin, vor der wir stehen. Es ist also zuletzt nach der Bedeutung gefragt, die Leben und wirken Zesu für uns haben, verstanden ist der geschichtliche Prozeß des Christentums erst, wenn die Antworten deutlich geworden sind, die er auf unsere Sragen enthält. Denn Christus will verstanden sein als das lebendige Wort, das Gott an uns richtet. Damit ist die Notwendigkeit der Übersetzung aller biblischen und dog­ matischen Aussagen in unser Wirklichkeitsbewußtsein gegeben. Damit ist zugleich gesagt, daß es dem Ethiker nicht lediglich darum zu tun sein kann, Lehnsähe aus der Dogmatik zu übernehmen. Ihm ist vielmehr die Aus­ gabe gestellt, den handelnden Menschen einen inneren Zugang zu den Grund-

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inhalten der kirchlichen Verkündigung gewinnen zu lassen. Und das ist nur so möglich, daß die dogmatischen Aussagen in die Sprache der sittlichen Verant­ wortung überseht werden. Dabei haben wir damit zu rechnen, daß auch uns nur wieder Bruchstücke des Evangeliums unmittelbar lebendig werden — eben gerade weil es sich in der christlichen Offenbarung um nie erschöpfbare Urtatsachen handelt, die immer neuer Entdeckung bedürfen.

I. Teil

Die (Offenbarung (Bottes 14. Kapitel

Die Jenseitigkeit (Bottes. Die Heiligkeit (Bottes. Der Sinn der RedjtfertigungslebreT) (Es kann sich hier nur darum handeln, diejenigen sittlich bedeutsamen Züge der christlichen Gottlehre ins Auge zu fassen, die ihr Verhältnis zur natür­ lichen Theologie deutlich machen und die dem modernen Empfinden zugleich die größten Schwierigkeiten bieten. Da gibt nun den stärksten Anstoß die Behauptung der Welt-Zenseitigkeit, der Überweltlichkeit, der Transzendenz Gottes*2). Der moderne Geist sieht alle wesentlichen weltlichen Erfahrungs­ inhalte durch den Zenseitsgedanken bedroht und in Zrage gestellt. Ihm scheinen Weltblindheit und Weltfremdheit mit ihr verbunden, was will das Bestehen auf der Weltjenseitigkeit Gottes nun bedeuten? *) Paul Althaus: Grundriß der Dogmatik 1, 41933, II 1932. — Karl Barth: Credo. Hauptprobleme d. Dogmatik (i. Anschluß an d. apostol. Glaubensbek.), 41936; Heini Antwort an L. Brunner, 1934. — Lmil Brunner: Philosophie und Offenbarung, 1925; Hatur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, 21935. — Zrredrich Brunstäd: Die Idee der Religion, 1922; Allgemeine Offenbarung, 1935. — Heinrich Zrick: Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage, 1936. — Karl heim: Glaube und Denken, 21931. — Adolf Köberle: Rechtfertigung und Heiligung, 31930; Das Evan­ gelium im Weltanschauungskampf der Gegenwart. Berlin, Furche-Verlag. — Kurt Leese: natürliche Religion und christlicher Glaube, 1936. — helmuth Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 1936. — horst Stephan: Glaubenslehre, 21928. 2) So will Ernst Bergmann, der hier für die Stimmung weiter Kreise charakteristiscb ist, die Zenseitsvorstellung geradezu für das sittliche Trümmerfeld verantwortlich machen, vor dem wir heute stehen, „heute nun, wo der Gottesund Christusglaube an Glanz verliert, wo sich immer weitere Kreise gegen ihn auflehnen, weil sie erkannt haben, daß er ein Stück finsterstes Mittelalter und ein Krankheitsherd ist für eine reine und sittliche Menschheitsentwicklung — heute nun überläßt uns der abtretende christliche Menschheitslehrer einen unerzogenen und ungebildeten Schüler, dessen Ethos und Autonomie nicht zur Entfaltung gebracht wurde, weil durch Zahrtausende hindurch ihm vorgeredet worden war, Gottsein sei etwas Jenseitiges, und der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er — beichtet" (Deutsche Hationalkirche, S. 67). Bergmann sieht durch die Zensettsvorstellung den Menschen um alle fruchtbare Beziehung zur Wissenschaft, zur Technik und selbst zur Ethik gebracht.

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Zunächst mag gesagt sein, dah das Wort Jenseitigkeit nicht aus dem Selbstverständnis der christlichen Offenbarung, sondern aus der Reflexion über sie stammt. Es hebt in abstrakter und einseitiger Weise gewisse Züge hervor, die für die Bibel in der Vorstellung von der Heiligkeit Gottes mit enthalten sind, vertieft man sich in die Bibel Men und Neuen Testaments, so wird zunächst deutlich, daß die prophetisch alttestamentliche Prägung des Begriffes der Heiligkeit die Wirklichkeit Gottes der Enge unseres Gefühls-, Denk- und Varstellungsvermögens entrücken will. Dieses Bestreben kommt im Nlten Testament schon in der Scheu vor dem Nussprechen des Namens Gottes zum Nusdruckx). völliges, keinem menschlichen Zugriff erreichbares Insichsein Gottes mag schon in der merkwürdigen Selbstbezeichnung Gottes in Ex. 3, 13: „Ich bin, der Ich bin", gemeint Jein*2). Jedenfalls ist es dann das Bestreben der Propheten gewesen, den Namen Gottes jedem intellektuellen Zugriff und aller mißbräuchlichen Verwendung für bloß menschliche Zwecke zu entziehen3). Es ist nicht zufällig, daß diese Scheu vor der intellektuellen Grenzüberschreitung auch für das Gotterleben des Neuen Testaments grundlegend ist, wie die erste Bitte des Vaterunsers zeigt: das wissen um die Unvorstellbarkeit, Undenkbarkeit und Unnennbarkeit Gottes — das ist hier das Eingangstor zu aller echten Gottbeziehung. „Gott ist größer als unser herz und erkennt alle Dinge" 4). Gott offenbart sich nicht im menschlichen Denken, nicht in der Gottesidee. Gott ist das persönliche Du, das sich mir selbst erschließt, wann, wo und wie es ihm gefällt. Ich kann Gott nicht erkennen, aber ich finde mich von ihm erkannt. Das menschliche Gottdenken kann nur den Sinn haben, die Gedanken nachtastend zu begreifen, die Gott vordenkt. In dieser Umkehrung des Subjekt-Gbjekt-Verhältnisses, die Gott schlechthin zum Subjekt, den Menschen zum Objekt macht, liegt der Unterschied der christlichen Offenbarung vom Idealismus. Gott denkt, Gott erkennt den Menschen, aber er wird nicht vom Menschen erkannt. Er versagt sich der Engräumigkeit unseres Denkens, „wer hat des Herrn Sinn erkannt?"5) AIs der Heilig-Jenseitige entzieht sich Gott nicht nur aller ästhetisch­ kultischen, sondern auch aller sittlichen varstellbarkeit. Es gibt keine Identität von Gott und Welt. Nlles Weltleben läßt sich von Gott, aber Gott läßt sich nicht von der Welt aus begreifen. Die Propheten überschütten das mensch­ liche Unterfangen, sich von Gott ein Bild zu machen, mit Zorn und hohn6). Nichts als Gemächte der menschlichen Hand sind alle Götterbilder. „Sagt nicht heilig zu allem, was dies Volk heilig nennt! was es fürchtet, das scheut und fürchtet nicht!"7) T) Daß der ursprüngliche Gottesname, Jahve, wie ihn die Konsonanten Jhvh bezeichnen, späterhin nicht mehr gebraucht wurde, entspringt einmal aus der Empfin­ dung, „daß ein göttlicher Eigenname Polytheismus voraussetzt" (Gunkel RGG2 III, 9), sodann aber doch wohl auch aus der Nbsicht, von vornherein die dem Namen­ glauben des Nltertums entsprechende Meinung abzuwehren, als sei es möglich, Gott durch Nussprechen seines Namens irgendwie in die Verfügungsgewalt des Menschen zu bekommen. 2) vgl. hierzu Gunkel NGG.2 III, 10. 3) 2. Mose 20, 5, 11. 4) 1. Joh. 3, 20. 6) Röm. 11,34. 6) Hosea 8,4 ff., 13, 2, Jes. 28, Zer. 10, 1 ff., dazu 2. Mose 20,4. 7) Jes. 8,12.

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Diese alle menschliche Dorstellungs- und Darstellungsfähigkeit durch­ brechende radikale Andersartigkeit Gottes findet ihren stärksten Ausdruck im Neuen Testament besonders im Erleben des Paulus, dem die letzte menschliche Möglichkeit, Gottes habhaft zu werden, die Sittlichkeit, zerbricht. Das will der Nechtfertigungsgedanke besagen. Er ist wahrlich alles andere als eine ausgedachte Theorie. Er ist der Dersuch, einen Sachverhalt zu beschreiben, der nicht erdacht, sondern nur erfahren werden kann: Gott stellt uns vor For­ derungen, die kein Mensch erfüllen kann. „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer" *). So etwas denkt man sich nicht aus. Das gibt man zu, wenn man nicht mehr anders kann. Der Mensch hat keine Möglichkeit, sich das Wohl­ gefallen Gottes zu erzwingen. Er ist völlig auf Gottes freischenkende Gnade angewiesen. Das macht den Menschen zunächst klein, aber Gott macht er unermetzlich grotz. Es ist deshalb nicht zufällig, daß für Luther die Rechtfertigung zum Ausgangspunkt aller sittlichen Erneuerung wird. Gottes Zorn gegenüber der Sünde und Gottes Gnade gegenüber dem Sünder — auf dieser Paradoxie ruht für Luther alle Möglichkeit sittlicher Wiedergeburt. So allein meint er, deutlich genug von der Souveränität Gottes reden zu können. Gott, der „von Natur aus die Sünden nicht ertragen kann"*2) ist auch darin der ganz andere, datz sich seinem unauslöschlichen Zorn gegen die Sünde die Gnade verbindet, die dem Sünder die Gerechtigkeit schenkt, die er sich aus eigener Kraft nicht gewinnen kann. Nur darauf kommt hier alles an, datz der sündige Mensch sich im Glauben Gott öffne — der ganzen vollen Wirklichkeit Gottes ohne Zutun und Abstrich —und sie in sich wirken lasse. „Mache mich gerecht, gib mir den Geist, gib mir den lebendigen und vollkommenen Glauben, damit ich darin lebe und gerecht sei" 3).4 * Alle * letzten Möglichkeiten sittlicher Erneuerung liegen in Gott — daher denn auch die Conf. Aug. den Arttkel von der Rechtfertigung (IV) aller weiteren Ausführung über das neue Lebens vorausgehen läßt. Man mutz sich darüber klar sein, daß es dem heutigen Menschen nicht leicht gemacht ist, den Lebenzsinn solcher Aussagen über Gott zu begreifen, wenn deshalb eine neue christliche Grundlegung der Ethik ohne Preisgabe wesent­ licher Züge der christlichen Gotteserfahrung gelingen soll, ist hier eine Über­ setzung in die Sprache unseres Wirklichkeitsdenkens von entscheidender Be­ deutung. Der Wahrheitsgehalt des Zenseitsgedankens sei in diesem Sinn nach vier Seiten hin entfaltet. 1. In der Frage nach Gott handelt es sich für die Bibel um eine Frage von unüberbietbarer Radikalität. Das ist der Zug, der durch die ganze christliche Gottlehre hindurchgeht. Sie unterscheidet sich von anderen Gottesanschauungen, von jeder Metaphysik und Theologie nicht nur durch ihre Inhalte, sondern vor allem durch die Radikalität der Fragestellung, hier wird jede andernorts auftauchende Frage Überboten und aus die schlechthin letzte Frage ausgerichtet, die überhaupt gestellt werden kann. So wird hier aus der Krage nach der n 2) 3) 4) XX u.

Röm. 3,10. Enarratio Psalmi LX. E. A. Opera exeget. 19, S. 24. Dictata super Psalterium 1513—16. WA. 4, 325. Art. VI Dom neuen Gehorsam, Art. XII Don der Butze, XVI, XVIII, a.

ST4: Müller, Lthil

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Entstehung des Lebens, der Welt, des Menschen, auf die schon das natürliche Erklärungsbedürfnis stößt, die Frage nach der Schöpfung. „Hm Anfang schuf Gott Himmel und Erde" — das will keine naturwissenschaftliche Erklärung sein. Es will über jede mögliche naturwissenschaftliche Aussage hinaus die Antwort auf die Frage nach dem letzten Sinn und Ursprung alles Lebens sein. Und das stereotgp-monumentale „Und Gott sprach" der Schöpfungs­ geschichte ist im Grund charakteristisch für die ganze Bibel. Aus allem irdischen Geschehen in Natur und Geschichte die lebendige Anrede Gottes herauszu­ hören — das ist schließlich der Gesichtspunkt, der für das Ganze beherrschend bleibt. Ls gibt hier wahrlich keinen Lebensinhalt, der nicht in dieser letzten Lebensausrichtung gesehen sein will, von den paradiesischen Anfängen der Menschheitsgeschichte bis zum apokalyptischen Ende hin sind hier im Aufstieg und verfall, im Guten und Bösen, in Krieg und Frieden, in Tugend und Laster alle menschlich-irdischen Möglichkeiten unter der Perspektive ihrer Beziehung zum letzten Sinn und Ursprung alles Seins gesehen, hier spannt sich alle irdische Geschichte vom Ursprung zum Ende — diese protologisch-eschatologische Sicht will besagen, daß alles irdische Leben Sinn und Gehalt von dem vollmächtigen hervortreten Gottes aus erhält. Alles andere Interesse gewinnt von dort aus Raum und Rang. Das hat natürlich auch seine Gefahren. Alle durchgreifende Radikalität ist gefährlich. Der Mensch kann gottsüchtig werden und sich von der letzten Frage alles gebotene Interesse für die vorletzten Fragen rauben lassen. Er wird dann weltflüchtig und weltftemd werden. Es fragt sich, ob die christliche (Offenbarung in sich Möglichkeiten hat, dieser Gefahren ansichtig und ihrer Herr zu werden. 2. Eine Möglichkeit eröffnet sich nun schon in dem unbedingten Realis­ mus, der hier in allem Radikalismus wirksam ist. Gott will als unbedingte Realität verstanden sein. Die Überzeugung der Überweltlichkeit entspringt hier keinem rauschhasten Überschwang des Ge­ fühls, keiner schwärmerischen Flucht vor der Tageshelle des wirklichen Lebens, keiner Sehnsucht nach „Entsinkung ins weiselose", sondern einer gesteigerten Nüchternheit, einer Schärfung des Blickes für den letzten aller Bedrohung standhaltenden Wirklichkeitsgrund der Dinge, einem Verlangen nach durch­ dringender Klarheit. Dieser Mrklichkeitsanspruch des Gotterlebens steht nun in einem unablösbaren dialektischen Verhältnis zu unserem rationalen wirklichkeitsbild. Ghne den nüchternen Blick für die Welt verlöre das Gotterleben sofort seine Radikalität. Gott wird hier stets als die alle Lebensbedrohung, auch Sünde und Tod überwindende Realität erlebt. Gott ist hier die alle an­ deren Mächtigkeitsgrade umspannende, in sich ausnehmende und überbietende Wirklichkeit. Alles wirken geht auf das Urwirken Gottes zurück. Das bringt Paulus an einer Stelle besonders klar zum Ausdruck, an der er sich mit dem griechischen Wirklichkeitsdenken auseinandersetzt. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; ... der geistliche aber richtet alles und wird von niemand gerichtet" *). Es handelt sich hier also um einen Realismus, der den wirklichen Zustand der Welt nicht vergißt, sondern in grellerer Be') 1. Kor. 2,14,15.

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leuchtung sieht als der bloße Weltverstand. Dieser kann fteilich den „Geist Gottes" nicht erkennen, er hat einfach die Reichweite dafür nicht. Aber der Geist Gottes erkennt ihn. Das in der Gottbegegnung geistlich geweckte Auge übersieht den ganzen Erfahrungsbereich der weltvernunst samt ihren Grenzen. Wie wenig das Christentum mit seinem Jenseitsglauben auf eine Mgstik welt­ flüchtiger Gottversunkenheit aus war, macht die zentrale Bedeutung klar, die hier das Kreuz für den Glauben gewinnt. Es ist nicht, wie Graf Reventlow meint, lediglich „eine mystische und magische, im Sinn des Wortes 'an­ ziehende' Zigur" 2). Ls ist ein ganz realer geschichtlicher Vorgang, ein Staats­ akt, eine Hinrichtung auf Grund eines Fehlurteils, ein grausiges Spiegelbild der wirklichen Welt, wie sehr es sich hier um die ganze brutale Wirklichkeit einer nicht nur im moralischen, sondern im existentiellen Sinn des Wortes gottfremd gewordenen Welt handelt, macht ein Zug des Kreuzigungsberichtes im Johannesevangelium, des mystischsten unter allen, blitzartig deutlich. Da ist von der grausigen Sitte die Rede, gekreuzigten Verbrechern zur Beschleuni­ gung des Todes mit eisernen Keulen die Schenkel zu zerschlagen. „Da kamen die Kriegsknechte und brachen dem ersten die Beine und dem anderen, der mit ihm gekreuzigt war" 2). Line Religion, die um solche Möglichkeiten des Weltlebens auch in ihren höchsten Erhebungen weiß, muß grundsätzlich ebenso vor aller Weltblindheit wie vor aller Weltflucht gesichert sein. Jesus floh die Welt nicht. Er ging ihr entgegen. Er nahm auf seine sehr eigentümliche Art — den Kampf mit ihr auf, weil er wußte, daß man den Mächten, die dem Welt­ leben das Gepräge geben, nicht entfliehen kann. 3. Lin positives Verhältnis zur Welt begründet aber nun vollends der radikale Universalismus, der der christlichen Offenbarung eigentümlich ist. An diesem Universalismus wird erst ganz deutlich, daß auf der Weltjenseitigkeit Gottes deshalb mit solchem Nachdruck bestanden wird, weil hier Gott als die alle denkbaren Wirklichkeitserfahrungen umfassende Realität erlebt wird. So fragt Jesaja: „wer hat mit seiner hohlen Hand die Meere gemessen und die Himmel mit der Spanne seiner Hand abgegrenzt? wer hat den Staub der Erde in den Scheffel gefaßt und die Berge mit der wage gewogen und die Hügel mit Wagschalen? ... Siehe, Völker sind wie ein Tropfen im Eimer und gelten wie ein Stäubchen auf der wagschale; siehe, Inseln sind ihm wie ein Sand­ korn, das er aufhebt"3). Der Prophet will hier alle Lrfahrungsinhalte um­ schreiben, die überhaupt menschenmöglich sind. Das Universum, die Natur, die Menschenwelt, die politische Wirklichkeit — alle diese Weltinhalte umgreift Gott wie mit der hohlen Hand, in keinem erschöpft sich seine Lebensfülle, von keinem Punkte dieser Wirklichkeitswelt läßt er sich überschauen, er aber umgreift sie alle, er überschaut sie alle, er nimmt sie alle in sich auf. von hier aus muß ganz grundsätzlich gesagt werden, daß es schlechterdings keine Aus­ weitung des wissenschaftlichen Weltbildes, keine neue Entdeckung und Er­ findung, keine noch so revolutionierende Erkenntnis geben kann, die nicht von der alles umfassenden Wirklichkeit Gottes doch wieder umfaßt würde. Sollte je der §all eintreten, daß das Christentum sich durch eine neue wissenschaftliche

!) wo ist Gott? S. 184. -) Cv. Joh. 19, 32. 3) Jes. 40,12-16; ähnl. Röm. 11,34 ff.

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Wahrheit endgültig überwunden fühlte, so wäre das nur ein Beweis dafür, daß die „Christen" sich die „hohle Hand" Gottes zu klein vorstellen, wie Platon nach dem Durchlaufen aller irdischen Vorstufen der Schönheitserkenntnis sich an das unendliche Meer der Schönheit geführt sieht, so tut sich dem christ­ lichen Gotterleben an der Grenze aller menschlichen Lrfahrungs- und Erkennt­ nismöglichkeiten erst noch eine letzte Möglichkeit auf, die alles andere einschließt und trägt — ohne sich doch in ihm zu erschöpfen. 4. Das kann freilich erst ganz einleuchten, wenn wir uns neben ihrem Radikalismus, Realismus und Universalismus den dynamischen Charakter der christlichen Gottoffenbarung vergegenwärtigen, hier sind wir vollends vor die Ausgabe einer völligen Wiederentdeckung gestellt. Das hängt damit zusammen, daß die begrifflich-dogmatische Ausformung in der bisherigen Ge­ schichte des Christentums die Aufmerksamkeit der Anhänger und der Gegner des christlichen Glaubens allzu ausschließlich in Anspruch genommen hat. Vas hat verschiedene Gründe: die Lnge des menschlichen Seelenraumes, der die Sülle von Gestaltungsaufgaben, die die christliche Offenbarung stellt, einfach nicht auf einmal zu umfassen und zu ergreifen vermag,- die wachsende Intellek­ tualisierung des Geisteslebens, die schon vom Humanismus der Reformationszeit an auch auf Theologie und Kirche stark gewirkt, das Dogma immer mehr unter den rationalen Gesichtspunkt gerückt, das religiöse Denken immer stärker vergegenständlicht und die ihm eigene Art der Begriffsbildung immer weniger verstanden hat. Run mutz gesehen werden, daß ein statischer Dogmatis­ mus dem Evangelium durchaus widerspricht und immer nur aus menschlicher Enge entstehen kann. Alle neuerlichen Proteste dagegen von Nietzsche bis Wilhelm Hauer, Gras Reventlow, Ernst Bergmann und Hermann Mandel können mit stärkeren Argumenten im Namen des Christentums erhoben wer­ den und beruhen insofern aus einem fundamentalen Mißverständnis, als sie von der Voraussetzung ausgehen, die Freiheit des Geistes und die Lebendigkeit der Gottbeziehung sei durch das Christentum grundsätzlich bedroht. Aber allerdings bedarf es einer immer neuen Sicherung der ganzen Sülle und Weite der christlichen Glaubensinhalte gegen die Anmaßung menschlicher Seelenenge, die meint, mit ihren flachen Händen das Meer der Gottheit ausschöpfen zu können, und das eigentliche Verhängnis in der Geschichte des abendländischen Geisteslebens liegt darin, daß die Freiheit und lebendige Bewegtheit des Geistes sich nicht vom Christentum getragen wußte und vielfach nicht wissen konnte und deshalb, statt den Kampf um seine Bergung im christlichen Glauben zu führen, sich mit seiner Emanzipation zufrieden gab oder, wie im $aU Nietzsche, um die Zerstörung eines Glaubens rang, den man ganz einfach für eine Bedrohung des Lebens hielt. Unzweifelhaft liegt hier Schuld auf beiden Seiten. vom Evangelium her muß dabei der menschliche Schuldanteil der em­ pirischen Kirche in aller Klarheit erkannt und gesehen werden, daß es in der Tat einen Dogmatismus gibt, der die Weltwirkung des Christentums völlig lahmlegen und den echten Sinn des Dogmas in sein genaues Gegenteil ver­ kehrenkann. Vieser liegt in zweierlei. Vas Dogma ist einmal Teilverwirk­ lichung der christlichen Wahrheit in der Sphäre der Erkenntnis. Vie der Kirche

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gestellte Gesamtausgabe heißt Leibwerdung Christi in allen Bereichen des Daseins. Denn Christus will als „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes", als die Derkörperung der das Ganze der Schöpfung tragenden und durchwaltenden Gotteskräftex) anerkannt sein. Sodann will das Dogma Erkenntnishilfe für das Ganze der christlichen Wahrheit sein. Das hängt damit zusammen, daß die Wortgestaltung repräsentative Bedeutung hat. Das Wort hat anders als jede andere Teilverwirklichung, anders auch als die Tat, die viel stärker allen Beschränkungen des Raumes und der Zeit unterworfen ist, die Möglich­ keit der Dergegenwärtigung des ganzen, umfassenden, über Zeiten und Räume hin wirkenden Sinnes der christlichen Botschaft. Aber hier liegt nun auch seine verführerische Kraft. Indem es das Ganze begrifflich vor das innere Rüge bringt, kann es gegenständlich mißverstanden werden und führt dann zur Der5 wechselung von bloß begrifflicher Dergegenwärtigung und realer Gesamt­ verwirklichung. Darin liegt der Wahn, daß aller Derantwortung für reale Gestaltwerdung schon im Aussprechen der Wahrheit, daß dem willen Gottes im „Herr, Herr"-sagen genügt sei. Die echte Bedeutung des Dogmas muß des­ halb in seiner weisenden, über die bloße Wortverwirklichung hinaus zur r e a l e n Totalgestaltung drängenden und sie repräsentierenden Bedeutung gesehen werden. Demgegenüber können dann die Gefahren des Dogmas nach vier Seiten hin charakterisiert werden: als dogmatischer Intellektualismus, der die intellektuell-begriffliche Ausformung mit dem Ganzen der christlichen Wahrheit verwechselt; als dogmatische Statik, die über der Freude, den Wahr­ heitsgehalt des Christentums als bleibende Wahrheit in Jahrhunderte über­ dauernden Sätzen festhalten zu können, die Notwendigkeit immer neuer Ge­ staltwerdung und Aktualisierung der dogmatischen Lehrinhalte zu kurz kommen läßt- als dogmatischer Pharisäismus, der über dem Stolz, die religiöse Wahrheit bewußtseinsmäßig gegenwärtig zu haben, in ihrer wesensmäßigen Entfaltung versagt und überhaupt das demütige Wissen um den Vruchstückcharakter aller menschlichen Derwirklichung verliert- schließlich als dogma­ tischer Materialismus, der den neutestamentlich zu verstehenden Gleichnis­ charakter aller dogmatischen Vegriffsbildung übersieht und die dogmatischen Aussagen unbesehen in die groben Formeln eines positivistischen Wirklich­ keitsverständnisses überträgt, für das nur wirklich ist, was man sehen und greifen kann. Keiner dieser Gefahren läßt sich durch ein neues Dogma ent­ gehen. Ganz abgesehen davon, daß es der ungeheuren Gefahr der Derflachung der Inhalte ausgesetzt wäre — jede denkbare Formulierung kann wieder intellektualistisch, statisch, pharisäisch, materialistisch-gegenständlich mißverstanden werden, helfen kann nur das Ringen um Derwirklichung der Dogmeninhalte. Nur im Experiment, im Lebensversuch, im Wagnis kann auch aufgehen, daß es im Wesen des Dogmas liegt, auf letzte Lebensgeheimnisse hinzudeuten, für die uns das Erkenntnisvermögen heute weithin verloren gegangen, deren Wiederentdeckung aber schlechthin lebensnotwendig ist. Liegen aber so alle Gefahren des Dogmas nicht im Evangelium und auch nicht im Wesen des Dog­ mas, sondern im Menschen begründet, so drängt hier alles in die,Aktualisierung *) Kol. 1 15 f.

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der Inhalte des Dogmas in der sittlichen Tat hinein. Nur so kann wieder faßlich werden, daß sich Gott im Evangelium als die Urkraft offenbart, die in aller ihrer Unerschöpfbarkeit und Unermeßlichkeit den Menschen in ihre eigene Bewegung hineinnehmen und zur „Beweisung des Geistes und der Kraft“T) erwecken will. Gott ist alles Bewegte bewegende Urkraft — das will der Begriff der Jenseitigkeit besagen. Lr ist der König, der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht2), er zertrennt Meere und zerbricht Drachen3). Die Bewegung, die von ihm ausgeht, kann in diesem Non nicht zu Ende kommen und geht von Ewigkeit zu Ewigkeiten. Don hier aus wird schließlich auch der Sinn des strengen christlichen Monotheismus deutlich. Lr mag sich von der Hrt aus erschließen, in der Wilhelm Hauer die germanische Mythologie deutet. Er erläutert die Eigenheit der „germanisch-deutschen Gottschau“ durch den schon erwähnten Gedanken, „die Götter gestalten“seien dem germanischen Menschen „nicht ein unbedingt Letztes, sondern eine Erscheinungsform der ewigen Gottkraft, krastlebendige Gestalt­ werdung der Gotturmacht, die keinen Namen trägt und auch keinen Namen braucht" 4). Gb diese Deutung der germanischen Mythologie vom Christentum so unabhängig ist, wie Hauer offenbar annimmt, ist eine Frage, die hier auf sich beruhen mag. hieran aber kann deutlich werden, welchen lebendigen Sinn der christliche Monotheismus eigentlich hat. Lr ruht auf der Gewißheit, daß schließlich alle menschliche Gottsehnsucht die eine „Gotturmacht" meint, die in Christus offenbar wird. Der eine Gott ist danach die Urgestalt, auf die alle Gottesanbetung abzielt, hier wird Gewißheit, was im Polytheismus Ahnung ist. Der christliche Missionar tritt in die Gottsehnsucht der vorchristlichen Welt mit der Botschaft hinein: „Das Wesen, das ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch"5). Insofern klingt diese Anschauung des großen Heidenapostels mit der Hauers durchaus zusammen. Sie unterscheidet sich nur dadurch, daß die polytheistische Form der Gottesverehrung nicht als eine dauernd notwendige Form angesehen wird. Sie bleibt entschuldbar, insofern sie aus Unwissenheit beruht6), wo aber nun die Urgestalt offenbar wird, wird das sich dem Unspruch des Evangeliums verschließende haftenbleiben am schattenhaften Abbild zur Schuld. Jedenfalls enthält danach die Urgestalt die Fülle aller möglichen „Gottschau" in sich. Sie ist nicht ärmer, sondern reicher. Sie verhält sich wie die Wahrheit zum Wahn, wie die Gewißheit zur Ahnung. Auf den einen Gott weisen alle Götter hin. In diesem Sinn ist der eine Gott der christlichen Offenbarung Deutungs- und Realprinzip aller Gottesanbetung. Der ethische Ertrag der Umrißzeichnung, in der wir die Grundzüge der christlichen Gottoffenbarung festzuhalten versucht haben, liegt aber darin, daß sich uns damit auch die Urgestalt des sittlichen Gesetzgebers enthüllt hat. Es ist das Prinzip gefunden, von dem aus sich all die Strebungen verstehen und deuten lassen, die wir als die religiösen Strukturelemente des sittlichen Phä­ nomens erkannt hatten. Das Unbestimmte läßt sich immer nur von dem Ve-

T) 1. Kor. 2, 4. 2) ps. 74, 12. 3) ps. 74, 13. 4) Deutsche Gottschau S. 199. 6) Apostelgesch. 17, 23. 6) Apostelgesch. 17, 30.

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stimmten, das Schwebende von dem Zestumrissenen, das Ungestaltete vom Ge­ stalteten, das Dunkle vom Hellen, das Begrenzte vom Umfassenden, da? Par­ tielle vom Totalen, das Unbewußte vom Bewußten aus deuten. Denn das Unbestimmte, Schwebende, Ungestaltete, Dunkle, Begrenzte, partielle, Un­ bewußte meint immer, zielt immer ab auf Bestimmtes, Festumrissenes, Gestalthaftes, Helles, Umfassendes, Totales. Je strenger deshalb die ethische Besinnung darauf bedacht ist, das Sittliche in seiner reinen Gestalt zu erfassen und von da aus die ganze Zulle schwebender Gestalten zu verstehen, in der das Sittliche sich darstellt, umso unausweichlicher wird sich auch die mono­ theistische Ausrichtung des sittlichen Geschehens erweisen, hierin liegt es be­ gründet, daß die ethische Reflexion der griechischen Philosophie, die für das ganze Abendland so bedeutsam geworden und bis in die Gegenwart geblieben ist, sich nur in einer immer entschiedener werdenden Ablösung jedenfalls vom bewußten Polytheismus entwickeln konnte,- hier liegt der Grund, warum es der sterbenden Antike nicht gelingen konnte, aus dem drohenden sittlichen verfall durch eine Wiederbelebung der Götterkulte herauszukommen und warum dem Christentum so viel Aufgeschlossenheit begegnete, hierin liegt auch die Erklärung dafür, daß mit der entschwindenden Universalität und der zunehmenden Erstarrung und Dergegenständlichung des christlichen Den­ kens, die Führung in der sittlichen Selbstbesinnung wieder mehr und mehr an die Philosophie überging und daß diese bei aller Entfernung vom Kirchenchristentum doch in allen ihren wesentlichen Vertretern nicht ohne den christlichen Monotheismus denkbar ist. Es ist deshalb nicht zufällig, daß Kant als die in diesem Zusammenhang repräsentativste Gestalt in seinem Be­ mühen, das Wesen des Sittlichen ganz rein aufzufassen und alle Trübungen aus seinem Bereich zu entfernen, den Unbedingtheitscharakter der sittlichen Forderung in einer weise heraushob, die — strukturell gesehen — nur auf dem Boden des christlichen Monotheismus möglich ist — wie denn Hermann Mandel unter Hinweis auf Nietzsches Kritik an ihm Kant deshalb auch einen Vorwurf daraus macht, daß er „in der Tat in der Grundtendenz überweltlich gerichteter Theologe" fei1). von da aus ergibt sich auch ein Überblick über die gegenwärtige Lage und ihre Verwicklungen. Es kann mit voller Bestimmtheit gesagt werden, daß ent­ scheidende sittliche Klarheit und Kraft nicht von den mancherlei Ansätzen zu einer vom Christentum abweichenden „Gottschau" erwartet werden kann, die es heute gibt. Die Anregungen, die von da ausgehen können, werden sich nur dann fruchtbar auswirken können, wenn sie in die monotheistische Urgestalt des Gottglaubens einmünden, die in urbildlicher Radikalität, Universalität, Fülle und Deutlichkeit im Evangelium hervorgetreten ist und deshalb ihre regulative Bedeutung für jede mögliche Gestaltung des Glaubenslebens und des Ethos behaupten wird. T) Deutscher Gottglaube 5. 50.

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15. Kapitel

Gott als Schöpfer, Gesetzgeber und Erlöser1) Zu weiterer Klärung über diese Grundanschauung bedarf es vor allem einer Aufklärung darüber, wie der sittliche Anruf Gottes den Menschen treffen kann. Sie kann nur gewonnen werden, wenn wir einen Blick auf die G ff en barungsweisen Gottes werfen. Davon eine konkrete Vorstellung zu haben, ist für jede Ethik unerläßlich. Ich mutz wissen, wie der Gott zu mir redet, dem ich gehorchen soll. Das Christentum sieht Gott seinen willen auf dreierlei, eine untrennbare Einheit darstellende Weise kundtun: als Schöpfer in der Natur, als Gesetzgeber in den Grünungen des geschichtlichen Lebens, als Erlöser in Jesus Christus. Dabei ist klar, daß erst in der Offenbarung in Christus die Selbstbekundungen Gottes in Natur und Geschichte die Eindeutigkeit gewinnen, die zu wirklichem verstehen unerläßlich ist. Obwohl also dogmatisch gesehen Natur und Geschichte nicht gleichwertig neben Christus stehen, sondern hier das Verhältnis von Vorbereitung und Erfüllung obwaltet, empfiehlt es sich, vom psycho­ logisch-pädagogischen Gesichtspunkt aus, sich die Gffenbarungsweisen Gottes so zu vergegenwärtigen, wie sie sich dem Erleben darstellen, wir haben uns darüber klarzuwerden, welche Drientierungsmöglichkeiten für das menschliche handeln damit zu gewinnen sind. 1. Zunächst ist von der Offenbarung Gottes in der Natur zu reden. Gott offenbart sich als Schöpfer. Schon von hier aus erweist sich jede Ausdeutung des Begriffes der Jenseittgkeit Gottes als unmöglich, die darin irgendwie eine Beziehungslosigkeit zum Weltleben ausgesprochen findet. Gott spricht in dieser Welt zu uns. Und zwar begründet der Fundamentalsatz: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde" schlechterdings für alle Seiten des Weltlebens eine letzte Bedeutsamkeit. Die Sternenwelt, das Mysterium des Lichtes, die unabsehbare Mannig­ faltigkeit der Artung in Tier und Pflanzenwelt, schließlich der Mensch mit seinen besonderen Vollmachten im Gesamtgefüge der Schöpfung — allen In­ halten des Erdenlebens ist im Schöpfungsgedanken eine unermeßliche Tiefe und Bedeutungsfülle gegeben. An jedem Punkt des Lrdenlebens ist Gott weltgegenwärtig. T) Paul Althaus: Theologie der Ordnungen, 1934. — Herrn. Wolfgang Beyer: Luther und das Recht, 1935. — (Emil Brunner: Vas Gebot und die Ord­ nungen, 1932; bes. Kap. 25. — Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Übersetzung v. Karl Müller; bes. I. Buch. — Friedrich Gogarten: politische Ethik, 1932. Vie Schuld der Kirche, 1928. Wider die Achtung der Autorität, 1932. — Franz Lau: „Äußerliche Ordnung" und „weltlich Ving" in Luthers Theologie, 1932. — Alfred de Ouervain: Die theologischen Voraussetzungen der Politik, 1931. — Albert Schweitzer: Kultur und Ethik 3 1923. — Reinhold Seeberg: Vie sozialethische Be­ deutung des vekalogs, 1930. — Wilhelm Stapel: Der christliche Staatsmann, 1932. — Magdalene von Tiling: Grundlagen pädagogischen Denkens, 1932. — August Vetter: „Geistesgeschichte u. Offenbarung". Neue Jahrbücher, heft 5,1935. — Werner Wies­ ner: Die Lehre von der Schöpfungsordnung. Anthropologische prolegomena zur Ethik, 1934.

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Wir greifen, ohne eine vollständige Gotteslehre anzustreben, einige Züge des Weltlebens heraus, die für das Gotterleben der Sibel unmittelbare Be­ kundungen des Schöpfers sind. Wir entfalten sie uns in vier Gegensahpaaren. Nur so kann deutlich werden, daß die Eigenart des biblischen Lotterlebens in der Zusammenschau polarer Spannungen und Gegensätze liegt. a) Gott offenbart sich in der Welt gleichermaßen in der Vielgestalt und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen wie als alles durchwaltende und das viele in ein Ganzes bindende Einheitx). Der Psalm 104 bringt dies in großartiger Weise zum Nusdruck. Gott kleidet sich in das Licht, den Himmel, die Wasser, die Winde, die Zeuerflamme; er macht die Sonne und den Mond, das Jahr zu teilen,- er gründet das Erdreich, läßt die Berge hervor­ gehen, senkt die Täler ein, läßt Brunnen quellen in den Gründen, macht das Land voller Zrüchte, läßt Gras wachsen, Wein, Öl und Brot gedeihen, die Bäume voll im Safte stehen; er sorgt für die Tiere auf dem §elde, die Vögel unter dem Himmel, die Gemsen im Hochgebirge, die Kaninchen in den Stein­ klüften, die jungen Löwen, „die da brüllen nach dem Raub", für den Menschen, der ausgeht an seine Arbeit und sein Ackerwerk bis an den Abend — aller Orten ist es der eine Herr, der das All durchwaltet im Großen und Kleinen: „Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!" b) Das Lotterleben der Bibel umspannt ferner den Gegensatz zwischen Dynamit und Statik. Gott offenbart sich ebenso als alles bewegende, ja, in Un­ ruhe und Schrecken versetzende, allen Widerstand niederbrechende Urkraft, wie als bergender, alle Unruhe und Gehehtheit beruhigender, alle Not und Bedrängnis lösender hort des Zriedens. 3n einer Sülle von Wendungen ringt dieser ebenso bedrängende wie beseligende, alles menschliche Ausdrucksvermögen spren*) vgl. hierzu die neue Sicht der biologischen §orfd)ung für das Problem der „Überwindung der Vielheit und vielerleiheit durch die Einhert' in der Natur, etwa in Albert Wigand: Der Individualismus in der Natur. Aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Dr. med. Armin Müller (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie, Hrankes Buchhandlung, habelschwerdt). Wigand hat die Überzeugungen oer idealistischen Morphologie, wie sie Goethe, Tuvier oder T. E. v. Baer vertraten, durch die Zelt der darwinistischen Hochflut (sein Hauptwerk, „Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Tuviers" erschien Braun­ schweig 1874—75) hindurchgetragen und dadurch der Forschung der Gegenwart den Slick für die Grenzen der mechanischen Naturauffassung geschärft. In Wigands Nachlaß findet sich in einem Aufsatz „Zum Beweis Gottes" folgendes Gedicht von Rückert: Wie von der Sonne gehen viele Strahlen erdenwärts So geht von Gott ein Strahl in jedes Dinges herz, An diesem Strahle hängt das Ding mit Gott zusammen, Und jedes fühlet sich dadurch von Gott entstammen, von Ding zu Dinge geht seitwärts kein solcher Strahl, Nur viel verworrene Streiflichter allzumal. An diesen Lichtern kannst du nie das Ding erkennen: Die dunkle Scheidewand wird stets von ihm dich trennen. An deinem Strahl vielmehr mußt du zu Gott aufsteigen Und in das Ding hinab in seinem Strahl dich neigen. Dann siehest du das Ding, wie's ist, nicht, wie es scheint, wenn du es siehest mit dir selbst in Gott vereint.

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gende Reichtum der Weltgegenwärtigkeit Gottes um Ausdruck. „Der Herr ist König, darum zittern die Völker" *). „Berge zerschmelzen wie wachs vor dem Herrn, vor dem Herrscher des ganzen Erdbodens"2). Da ist Gott der Urgegewaltige, „der die Berge festsetzt in seiner Kraft und gerüstet ist mit Macht3)", „daß sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor seinen Zeichen"4). Man spürt, wie plastisch hier vor dem inneren Auge Ausbrüche unberechenbarer Ur­ gewalten des Naturlebens gestanden haben, wie sie uns im allgemeinen nur noch Erdbebenberichte flüchtig, allzuflüchtig einmal ins Bewußtsein rufen. Zu­ gleich aber überströmt den Schauernden eine unaussprechliche Fülle des Glückes und der Geborgenheit: „Herr, Deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und Deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und Dein Recht wie eine große Tiefe. Herr, Du hilfst Menschen und Vieh, wie teuer ist Deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten Deiner Flügel Zuflucht haben!"5). c) Besonders deutlich kommt diese Polarität des Gotterlebens zum Bewußt­ sein, wenn wir uns klarmachen, daß hier gleichsam die „Duplizität des Apol­ linischen und des Dionysischen"6) in eine letzte Einheit zusammengeschaut ist. Gott offenbart sich ebenso als abgründige, alles $efte immer wieder in den Schöpfungsrausch endloser Bewegung, alles Gewordene in immer wieder neues werden hineinreißende, alles Mattgewordene immer neu beschwingende, wie Lhaos anmutende Unermeßlichkeit und zugleich als die alles Geschehen durchwaltende Macht der Ordnung, des Gesetzes und der Schönheit. „Sie werden trunken von den reichen Gütern Deines Hauses, und Du tränkest sie mit Wonne wie mit einem Strom"7). Der Prophet Jeremia erlebt Gott als überquellende, alle Räume ausMende Lebenssülle, die „Himmel und Erde füllt" und sein Wort wie ein $euer und wie einen Hammer, der Kelsen zer­ schmeißt" 8). Und dieser selbe Gott wirkt in aller gesetzlichen Ordnung, aller Gestalt und Schöne des Naturlebens. So versteht der Schöpfungsbericht Gott als die Urmacht des Gesetzes und der Ordnung, die dem chaotischen Urzustand ein Ende seht, Licht und Finsternis, Erde und Meer voneinander scheidet und das Erdenleben in die weitausgreifenden kosmischen Rhgthmen der Sternen­ welt einordnet, um „zu geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre" 9). Nun „erzählen die Himmel die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk",- „die Sonne geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held zu laufen den weg"; „das Gesetz des Herren ist vollkom­ men und erquickt die Seele", „die Befehle des Herren sind richtig und erfreuen das herz,- die Gebote des Herren sind lauter und erleuchten die Augen ...10). Nun wandelt der Mensch auf Erden als das „Ebenbild Gottes" und die Lilien auf dem Felde sind herrlicher gekleidet als Salomo in aller seiner herrlichkeitn). d) Schließlich mag noch hingewiesen sein auf die Polarität zwischen Leben und Tod, in der sich die biblische Wirklichkeitsschau am weitesten spannt und in der sie die unbegreiflichste Kunde von Gott empfängt. Sie hat

ijpf. 99, 1.

-) ps. 97, 3-5.

3) ps. 65, 7.

4) ps. 65, 9.

6) ps. 36, 6—8, dazu ps. 23,1 f. 6) Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. 7) ps. 36, 9. 8) Jer. 23, 24 u. 29. 9) 1. Mose 1. 10) ps. 19, 2, 6, 9, 11. n) Matth. 6, 29.

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sich der christlichen Gemeinde am wirkungsmächtigsten wohl immer im 90. Psalm vergegenwärtigt. Da ist Gott der Urgrund des Lebens, der ganz allein in sich ruht und Grund und Sinn seiner Existenz in sich selber trägt. Zugleich aber hat der Schöpfer des Lebens auch dem (Tode die Vollmacht ge­ geben. Er setzt allem irdischen Leben die Grenze, er prägt der Schöpfung das Zeichen der Vergänglichkeit auf, er läßt die Menschen fahren wie einen Strom. Darin erst spricht sich die souveräne Verfügungsgewalt Gottes über alles Ge­ schaffene in ihrer letzten Mächtigkeit aus. Er duldet keine Verwischung der Grenzen zwischen Geschöpf und Schöpfer, er wirft alle menschliche Selbst­ überhebung unerbittlich in den Staub. Gott ist nicht nur groß im Schaffen, sondern auch im vernichten. Uber er bleibt auch im vernichten der Schaffende: Gott will auch in seinem Zorn das heil der Menschen. Er vernichtet nicht aus Freude an der Vernichtung, er vernichtet, um zur Ordnung zu rufen, ja um zu retten. So bittet hier mitten in allem Dunkel des Todes der tieferschütterte, hellsichtig gewordene Mensch: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden". Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß diese über die ganze Sülle des Weltlebens ausgebreitete Frömmigkeit gerade in der Nreuzestheologie Luthers und im Kirchenlied des 16. und 17. Jahrhunderts durchaus hei­ misch gewesen ist, wie auch Franz von Assisi und die Mgstiker beider Konfes­ sionen in ihr gelebt haben. Erst mit seiner Verflachung hat das Gotterleben auch seine weltseitigkeit verloren. So ist derselbe Luther, der so tief erschüttert von der Verborgenheit Gottes redet, zugleich voll Staunens über die Nähe Gottes in der Natur: „Dr. Martinus Luther verwunderte sich über die Matzen sehr, da er sah, datz die Bäume so hübsch und voller Gbst waren, und sprach: „wenn Ndam nicht gefallen wäre, so hätten wir alle Kreaturen also angesehen,ein jeglicher Baum und Halm wäre besser und edler gehalten worden, denn wenn er gülden oder silbern wäre gewesen. Denn nach Art der Dinge, wenn man es recht bedenken will, so ist ein jeglicher grüner Baum viel herrlicher, denn so es ein güldener oder silberner Baum wäre"x). „Wahrlich, wer kann das ausdenken, wie Gott das schafft aus dürrem Erdreich, so mancherlei Blümlein, so schöne Karben, lieblichen Geruches, die kein Maler noch Apotheker also machen könnte,noch kann Gott grüne, gelbe, rote, blaue, braune und allerlei Farbe aus der Erde bringen"^). Und in einem Morgenlied bei Michael weise heitzt es: „Die Engel singen immerdar und loben Gott in grotzer Schar, der alles regieret.

Der Himmel, die Erde und das Meer geben dem Herren Lob und Ehr, tun sein Wohlgefallen.

Die hähn und Vögel mancherlei die loben Gott mit ihrem Geschrei, der sie speist und kleidet.

Alles, was je geschaffen ward, ein jeglich Ding nach seiner Art preiset seinen Schöpfer.

So eröffnet sich hier von allen Punkten des Weltlebens aus der Ausblick in das Unendliche und in das Unbedingte, ja hier wird das Ewige im T) WA. Tischreden 4, 198,6-12.

2) WA. Tischreden 4, 197 29-33.

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Zeitlichen als gegenwärtig angeschaut, hier sind im Ewigen in unerhörter Weise alle Seiten der Welterfahrung zu einer Einheit zusammengefaßt. In allen diesen so weit auseinanderstrebenden Zügen der Weltwirklichkeit tritt ja der eine ewige, aber nun nur noch in personhaster Lebendigkeit verstehbare Urgrund aller Dinge aus seiner Verborgenheit heraus. Niemand kann von der Größe Gottes eine Ahnung gewinnen, der eine dieser Polaritäten für sich nimmt, hier wird deutlich, daß das Weltleben tatsächlich seine Einheit nur in Gott hat. Die Welterfahrung bricht mit der Abwendung von Gott unver­ meidlich in lauter unvereinbare Gegensätze auseinander, wer meint, mit der Welt ohne Gott fettig zu werden, verharmlost sie. Die Folge kann nur sein, daß er das Opfer ihrer Abgründigkeit wird — der Kurzsichtige muß ja den Überblick über die Fülle ihrer Möglichkeiten verlieren und nach der einen oder anderen Seite vom Hauptweg abkommen und sich im Gestrüpp ihrer Gegen­ sätze verfangen. Jede Art von Pantheismus, die Gott und Welt in eins seht, ist hier fteilich abgewehrt — aber wahrlich nicht aus dogmatischer Befangenheit, sondern aus der Fülle der Gesichte und aus der Tiefe der weltersahrung heraus. Der sehend gewordene Mensch empfindet die Formel der Gott-Welt-Einheit einfach als zu eng. Aber er sieht nicht weniger, er sieht mehr, als sie zum Aus­ druck bringen will. Die Gottoffenbarung der Bibel stellt den Menschen auf eine höhe, von der aus er alles überschauen kann, was der Pantheist von der Welt sagt — die aber nicht umgekehrt vom Pantheismus her überschaut werden kann, der die Spannungen, Gegensätze und Abgründe einebnen und damit verflachen mutz, weil er die Welt nicht überschreiten will. Der Jenseitsglaube der Bibel kann wahrlich das „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch" als Warnung gegen allen Intellektualismus und Moralismus gelten lassen. Aber er kann von der Welt nicht in den Formeln des Pantheismus reden, weil darin weder Gott noch Welt wahrhaft ernst genommen sind. Daß in der Welt die Überwelt aufleuchtet und daß darin das Weltleben erst seine Tiefe, seinen Sinn und seine würde findet, das ist der ganz nüchterne, aber eben darin alle welthaste Ausdrucksmöglichkeit sprengende Sinn der biblischen Gewißheit, daß Gott der Schöpfer ist. Die sittliche Bedeutung dieser Gottoffenbarung liegt einmal in der All­ seitigkeit und dann in der unausweichlichen Wucht des sittlichen Anrufes. Jetzt erst wird deutlich, was Unbedingtheit und Unentrinnbarkeit der sittlichen Forderung heißt. Man vergegenwärtige sich hier nur, was der 139. Psalm über die Unmöglichkeit der Flucht vor Gott sagt: ich mag sitzen oder stehen, gehen oder liegen — Gott umgibt mich von allen Seiten und hält seine Hand über mich, er versteht meine Gedanken von ferne, er sieht alle meine Wege, er kennt jedes Wort auf meiner Zunge, wollte ich vor Gott fliehen — ich stieße auf Gott im Himmel, auf Gott in der Hölle, auf Gott am äußersten Meer, kein nächtliches Dunkel könnte mich vor ihm verbergen — „solche Er­ kenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,- ich kann sie nicht begreifen" Man darf also schon jetzt sagen: wenn es darum geht, die würde des sittlichen

*) Ps- 139, 6.

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Anrufes neu zu begründen, dann kann es keine tiefere und keine weiter aus­ greifende Begründung geben als diese. Mit der Unbedingtheit der Forderung kommt hier die totale Ansprechbarkeit des Menschen in unüberbiet­ barer Schärfe zum Ausdruck. Der sittliche Anruf ist hier nicht auf die Reflexion des Menschen angewiesen. Der sittliche Gesetzgeber kann vom Menschen gehört, gesehen, ertastet, erfühlt, geschmeckt werden, hier heißt es: „Alle Welt fürchte den Herrn" und zugleich: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist" *). So wird er im Tageslied der nachreformatorischen Zeit im Morgenstern, in der Morgensonne, im Glanz der Mittagshöhe, in der Sternen­ wacht angeschaut: „Die Sonne hoch am Himmel steht, ihr Glanz weit über die Welt hingeht. Laßt uns auftun der herzen Schrein, auf daß darin leucht ihr Heller Schein."

(Ambrosius Lobwasser 1515—85.) Der Existentialsinn des sittlichen Gebotes findet in dieser Theologie seinen schlechthin nicht mehr überbietbaren Ausdruck. Nur eine Theologie, für die Gott alles in allem ist und die alle Bedingtheiten des Weltlebens in das Feuer der Unbedingtheit umschmilzt, kann in der totalen Ansprechbarkeit des Menschen die Unbedingtheit der Forderung dem Zugriff menschlicher Will­ kür völlig entreißen. — Die Grenze des Schöpfungsgedankens liegt nun gerade in seiner Universalität. Er läßt zu viele Möglichkeiten offen, er ist inhaltlich noch zu unbestimmt. Es bedarf gewissermaßen noch weiterer Übersetzung der Unermeßlichkeit Gottes in die Sprache des menschlichen Fassungsvermögens. Der Schöpfungsglaube sichert nur mit zwingender Gewalt die Ehrfurcht der Weltbeziehung, Ehrfurcht vor der Urtatsache des Lebens, Ehrfurcht vor den gewaltigen Kraftentladungen, Ehrfurcht vor dem zarten weben der Schön­ heit in der Hdtur*2). Denn in der Welt stehen heißt: im Reiche des großen Königs stehen. Dies alles bedeutet schon sehr viel. Aber gerade dieses Grund­ erlebnis der Ehrfurcht stellt nur immer wieder vor die Existenz und Größe Gottes, ohne inhaltliche Auskunft zu geben über die Forderungen, die er an mich richtet, wie erkenne ich Gott den Schöpfer als Gesetzgeber?

2. Die Antwort aus die Frage, was ich tun soll, geben mir die „Ord­ nungen", in die Gott mich stellt. Das sind diejenigen Grundformen mensch­ lichen Zusammenlebens, ohne die geschichtliches Leben nicht möglich ist3), also Ehe, Familie, Sippe, Dolk, Staat, Rasse, Amt, Beruf, Stand, Erziehungs-, Arbeits-, Glaubensgemeinschaft. Diese Lebensformen sind im Laus der GeO Pf. 34,9. a) Dgl. Albert Schweitzers „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben" (Kultur und Ethik 237 ff.). 3) Ähnlich Brunner: „... solche Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens, die allem geschichtlichen Leben als unveränderliche Doraussetzungen zugrunde liegen" a. a. (D. S. 194. p. Althaus: ./Ordnungen' nennen wir die Gestalten des Zusammen­ lebens der Menschen, die unerläßliche Bedingungen des geschichtlichen Lebens der Menschheit sind", a. a. G. S. 7.

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schichte zwar mannigfachen Wandlungen unterworfen, behaupten aber in allem Wechsel gewisse Züge einer gleichbleibenden Grundstruktur. Immer jedenfalls binden sie den Einzelnen in die Gemeinschaft. So will denn auch Luther diese Ordnungen mit allem Nachdruck als Gottes Schöpfung aner­ kannt wissen. Und zwar besteht das Keich der Ordnungen vom Anfang der Welt an *) — es besteht schon, als Christus in die Welt kommt*2). Vie Ord­ nungen können also in ihrem Grdnungscharakter und in ihrer Bedeutung für das geschichtliche Leben, wenn auch nicht in ihrem letzten inhaltlichen Sinn von der Vernunft erkannt werden—denn Gott hat den Menschen mit einer anima rationalis geschaffen, das gehört zu seiner Gottebenbildlichkeit, darin ist er über die Tierwelt hinausgehoben. Alle Möglichkeiten vernunftmäßiger Erkenntnis der Ordnungen sind hier also freigegeben und mögen nur bis zu ihrer äußersten Grenze ausgenutzt werden. Vie Ordnungen im Lichte der Offenbarung ansehen, heißt ja doch nichts anderes als alle von der Vernunft aufweisbaren Zusammenhänge in letzter Radikalität, Universalität und Be­ stimmtheit anschauen. So kann schon die Vernunft die Existentialität, den Zwangscharakter, den vienstcharakter und die Unaufhebbarkeit, also gewisse formale Züge an den Ordnungen begreifen,- sie kann ferner über ihre ge­ schichtliche Entstehung und über ihre geschichtlich veränderliche und bedingte Soun nachdenken. Aber sie wird, wenn sie innerhalb ihrer Grenzen bleibt, nichts Bestimmtes über den letzten Ursprung und über Urform und Ursinn der Ordnungen sagen können: welche Gedanken Gott über die Grdungen hat, welche Bedeutung sie im willen des Schöpfers haben, das kann sich nur dem Glauben, also der lebensmäßigen Hingabe an die Offenbarung erschließen. Und eben darum geht es hier. Vie formalen Züge leuchten hier nun im Lichte einer letzten Bedeutsamkeit auf und füllen sich mit einem eindeutigen Inhalt. In der Lebensnotwendigkeit der Ordnungen begreift der Mensch nun eine Seite seiner Gottursprünglichkeit und Gottebenbildlichkeit. Daß die Zortdauer des menschlichen Geschlechtes an die irgendwie gestaltete Geschlechtsbeziehung geknüpft, daß er immer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, daß er immer blutmäßig an den anderen gebunden ist, darin wird nun der göttliche Sinn des menschlichen Lebens begriffen. Nun wird die Vorstellung einer isoliert individualistischen Existenz des Menschen nicht nur als rationale Konstruktion, sondern als Auflehnung gegen Gottes Schöpfungswillen deutlich. Der Zwangscharakter der Ordnungen wird nun nicht mehr nur widerstrebend anerkannt, sondern aus dem Sinngrund des eigenen Lebens heraus als Gottes Wille freudig bejaht, widerstreben heißt hier ja nun, sich gegen Gottes Ord­ nung auflehnen und damit die Wirklichkeit in ihrer Tiefe verkennen „die Blin­ den und Hauptnauen ... sehen den ehelichenStand an, als wäre es ein übriges, fürwitziges, menschliches habe, des man geraten oder entbehren könnte, gleich x) A principio mundi WA. 42, 608,10—15. 2) „Und ist die weltt in ihrem Regiment von unserm Herrgott wohl genug bestellet und gefasset, das nicht von nöthen ist, das Gott drumb fernen lieben Sohn herab in unser elende Zleisch in die weit schickete das ehr für das leibliche, weltliche regiment sein bluth vergießen muste. Den dasselbige reich ist zuvom durch die Eheleuthe und Gberckeit gestiftet gewesen." WA. 47, 242, 20—24.

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wie ich eines übrigen Kocks oder Mantels entbehren kann" *). Daß der Zwangs­ charakter der Ordnungen zuletzt diesen Sinn hat, wird Luther daran deutlich, daß nur die Möglichkeit der Sünde behält, wer sich nicht einordnet. So „dringet" zur Ehe „die Not der Gewissen und täglicher Sünde im kranken Fleisch"1 2). Insbesondere gewinnt der Dienstcharakter der Ordnungen nun erst einen letzten unerschütterlichen Sinn. Die Ordnungen binden Mensch an Mensch zu gegenseitigem Dienst. 3m Gesetz der Liebe sieht Luther alle Ordnungen nach Gottes willen normiert — deshalb eben ist diese Liebesverpflichtung von schlechthin universaler Geltung und bindet auch den nichtchristlichen Amts« träger: „wenn sie nun gleich nicht Lhristen sind, sollen sie dennoch recht und wohl tun nach äußerlicher Ordnung Gottes, das will er von ihnen haben"3). Und schließlich kann erst im Lichte der Offenbarung die Unaufhebbarkeit und Unzerstörbarkeit der Grdungen in ihrem letzten Sinn aufgehen. Keine menschliche Verfälschung kann sie völlig außer Kraft setzen. „Gb auch ein Weib ihres Kindleins vergäße — der Sinn der Mutterschaft ist und bleibt an sich Dienst an dem Kind. Gb ein Fürst nur für sich selber lebt und sein Land und seine Untertanen ausbeutet — der Sinn des Fürstenamtes ist und bleibt Dienst am Volke"4). wirft man von hier aus einen ersten Blick auf das Problem der Eigen­ gesetzlichkeit, so ist klar, daß ein Konflikt mit dem Gffenbarungsdenken nie grundsätzlich theologisch, sondern immer nur praktisch anthropologisch begründet sein kann, wenn man unter Eigengesetzlichkeit alle Seiten des na­ türlichen und geschichtlichen Weltlebens versteht, die sich oernunftmäßig er­ kennen lassen, so besteht schlechterdings die Glaubenspflicht, sie zu sehen. Denn die Welt von Gott her sehen, heißt sie radikal realistisch sehen und alles anerkennen, was wirklich ist. Nur wer den letzten Ernst an die Erkenntnis der wirklichen Welt setzt und durch diese Wirklichkeit hindurch im Glauben Gott den Schöpfer sucht, steht in gelebtem, statt nur bewußtseinsmäßig gewolltem Zusammenhang mit dem Gottglauben der Bibel. Der radikale dynamische Universalismus dieses Glaubens bewährt sich hier darin, daß er schlechterdings jede denkbare Erweiterung der Wirklichkeitserkenntnis umgreift — eben in der Unüberbietbarkeit dieses Universalismus bewährt sich der Glaube an die Welt­ jenseitigkeit Gottes: Gott ist der jeder denkbaren Welt Jenseitige, der Glaube an ihn umspannt jeweils die ganze dem Bewußtsein gegenwärtige Wirklich­ keitswelt. „Der geistliche Mensch richtet alles..."5). Ein Konflikt zwischen Gottglaube und Eigengesetzlichkeit kann somit immer nur in menschlichem Unvermögen, also nur anthropologisch, nicht theologisch be­ gründet sein. Und zwar kann entweder die menschliche Dernunft ihre Grenzen überschreiten und den legitimen Anspruch des Glaubens bestreiten — dann redet sie von Dingen, die jenseits ihres Wahrnehmung?- und Urteilsvermö­ gens liegen. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes es ist ihm eine Torheit,- und er kann es nicht erkennen"6). Dom Glauben 1) Das siebente Kap. 5. Pauli zu d. Korinthern 1523; IDA. 12 93,28—31. 2) An die Herren deutsch; Ordens IDA. 12,244, 8. 3) Db Kriegsleute auch ... WA. 19, 648,25 f. «) p. Althaus, Theol. d. Grd. 5.7. °) 1. Kor. 2,15. •) 1. Kor. 2,14.

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her aber könnte die Tatsache der Eigengesehlichkeit verfehlt werden, wenn er bei abstrakten Aussagen über Gott und Welt stehen bliebe und gar nicht sähe, daß alles auf Verwirklichung ankommt, oder wenn er den Universalis­ mus des göttlichen Herrschaftsanspruches machtmäßig-herrschaftlich in Form einer Heteronomen Vergewaltigung verträte, von der ersten Möglichteit ist, wie die Geschichte zeigt, stärker der Protestantismus, von der zweiten stärker der Katholizismus bedroht. Im einen Fall droht die völlige Privati­ sierung des Glaubens, wie sie etwa Friedrich Naumanns in erschütternder Weise verttat, im andern der machtmäßige Herrschaftsanspruch der empirischen Kirche über die Welt, wie er im Katholizismus schlummert. Im einen wie im anderen Falle ist der wahre Sinn der Lehre von den Ordnungen verfehlt. In alledem aber wird deutlich, daß die Lehre von den Ordnungen ebenso wie die von der Schöpfung aus sich selbst keine letzte sittliche Klarheit zu begründen ver­ mag. Sie bestätigt und verstärkt nur die Tatsache der totalen Ansprech­ barkeit des Menschen. Nicht nur in seiner natürlichen, auch in seiner ge­ schichtlichen Existenz ist er dem Anruf Gottes ausgesetzt. Auch hier redet Gott aus allgemeingültigen Wahrheiten, die nicht an ein frommes Bewußt­ sein gebunden sind. „Als der Schöpfer und Erhalter wirtt er auch dort, wo man nichts von ihm weiß. Darum können seine Schöpfungsordnungen auch dort wirksam sein, wo man ihn nicht als den Schöpfer kennt" *2). Der Mensch wäre also überall da, wo er lediglich aus die Schöpfung und die Ordnun­ gen verwiesen wäre, in die Lage verseht, den willen Gottes aus Sachzusam­ menhängen und Lebensnötigungen kompliziertester Art erspüren und erschlie­ ßen zu müssen. Vie religiös subjektivistische auf der einen, die objektiv-posi­ tivistische Wirklichkeitsdeutung auf der anderen Seite zeigt die Gefahren, denen er dabei ausgesetzt ist: entweder er geht von seiner Innerlichkeit aus und verliert in der Privatisierung des Glaubens den Zusammenhang mit der Außenwelt; oder er wendet sich ganz nach außen und verarmt innerlich. Kosmisches Geschehen in seinem tiefsten Sinn verstehen, aus ihm das Wort herauszuhören, das Gott zu uns redet, das ist offenbar nicht einfach eine all­ gemein menschliche Anlage, sondern an geschichtliche Vorgänge ureigener Art geknüpft, in denen das Wort Offenbarung erst seinen prägnanten Sinn gewinnt. Inhaltlich deutlich wird uns das Wort Gottes erst dort, wo es uns der Mittler so tief und umfassend in die Sprache menschlichen Schick­ sals und menschlicher Verantwortung übersetzt, daß wir darin uns selbst erst ganz in der Tiefe verstanden und befreit finden.

3. Zwei Momente begründen danach die entscheidende Bedeutung Christi für die Offenbarung Gottes. Einmal die Klarheit, Tiefe und Kraft ber Erkenntnis, die für das kosmische walten Gottes das menschliche Wort findet, und dann die Unbedingtheit und Neinheit, die in alle wesent­ lichen Verwicklungen des irdischen Daseins eingeht und das Wort Fleisch werden läßt. x) S. bes. seine „Briefe über Religion", Berlin 1916, 2) Brunner a. a. G. S. 204.

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Daß das durchschnittliche menschliche Erkenntnisvermögen nicht ausreicht, in Natur und Geschichte Gott zu erkennen, ist offenkundig. Das geht ebenso aus der Mannigfaltigkeit der Deutungen hervor, denen das Weltleben unter­ liegt,^wie aus der mangelnden Deutungstiefe. Es ist nun einfach eine Er­ fahrungstatsache, daß die Begegnung mit Lhristus, wenn sie zu einem wirklich befruchtenden Lebensanstoß wird, uns das Wort vernehmbar machen kann, das Gott in Natur und Geschichte zu uns redet. In Lhristi Lehre, Leben und Tod gewinnen alle anderwärts auftauchenden Gottahnungen eine urbildliche Sülle, Tiefe und Kraft. Jesus so als Urbild verstehen, heißt sowohl das bloß historische wie das bloß dogmatisch-begrifflich-abstrakte Derständnis über­ schreiten. Es heißt ihn als die lebendige Gestalt der Geschichte begreifen, von der aus alles Gottoerlangen und alles Ringen um Derwirklichung erst in seinem tiefsten Sinn verstanden wird, hier werden die Dinge beim Namen genannt, die alle Gottsehnsucht meint. Das Urbild vereinigt in sich die Kon­ kretheil geschichtlicher Existenz und die weite und Zeitlosigkeit der begriff­ lichen Nussage. Thristus ist mehr als ein Stück Religionsgeschichte. Die zeit­ geschichtlichen Ereignisse, die sein Leben ausmachen, verlieren hier alle Enge geschichtlichen Seins, wie der ihren übergeschichtlichen Gehalt deutende theolo­ gische Begriff hier alle Abstraktheit verliert. 3n ihm wird Gott Mensch: der tragende Grund alles Lebens geht ein in die $ormen menschlichen Seins. Damit erscheint in dieser einen geschichtlichen Gestalt der Sinngehalt und die gestal­ tende Kraft aller Geschichte. Er ist das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen"T). Damit gewinnt der radikale Realismus und Universalismus der christlichen Gottesoffenbarung erst seinen ganz kon­ kreten Sinn. Nun erst verliert die Gottesidee ihre Dieldeutigkeit, ohne doch damit ihre weite zu verlieren. Zreilich kann das nur deutlich werden, wo als lebendige Gotteskraft verstanden wird, die durch alle Zeiten hin wirkt — als die lebendige Mitte, auf die alles Leben, wie heimlich auch immer, ausge­ richtet ist, denn es ist „alles durch ihn und zu ihm geschaffen"l2). was in Christus persönliche Gestalt gewinnt, muh hier also dem sehend gewordenen Auge auch als der tragende Grund der Natur und der Geschichte offenbar werden. Denn in Christus offenbart sich derselbe Gott, von dem die Schöpfung Kunde gibt, hier schließt jedenfalls der Glaube das tiefste Interesse an der Welt in sich, wer deshalb meint, das Weltinteresse der christlichen Offenbarung erschöpfe sich in den von Jesus überlieferten Worten, der versteht nicht den dynamischen Sinngehalt dieser Lebensgeschichte und ihre immer neu zu ent­ faltende Urbedeutung für alle Grundbeziehungen des Weltlebens. Die Möglichkeiten der Gotteserkenntnis, die sich uns so in Christus er­ schließen, lassen sich nun in dem einen Satz aussprechen: Gott erschließt sich in Christus als die väterliche Urmacht souverän und allumfassend schaffender, richtender und erlösender Liebe. Dabei will bedacht sein, daß alles in Kraft bleibt, was wir über die Begriffstranszendenz Gottes gesagt haben. Das Wort Datei ist kein Begriff, der auf ein Objekt mensch­ lichen Denkens angewendet wird. Es ist eine Anrede an ein ewiges Du, das l) Kol. 1,15. ST4: Müller, «kthil

2) Kol. 1 16.

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sich aller Vorstellbarkeit entzieht, aber in persönlicher Begegnung erfahren werden kann. Zür das wirkliche Gotterleben ist dies durchaus kein Wider­ spruch. Seuse spricht von dieser Polarität zwischen Unvorstellbarkeit und Erfahrbarkeit, wenn er sagt: „wein Gemüt hat von meinen kindlichen Tagen an etwas gesucht mit einem eilenden Durste, Herr, und was das sei, das habe ich noch nicht vollkommen begriffen ... Und es ist doch etwas, was mein herz und meine Seele nach sich zieht und ohne das ich nimmer in rechte Ruhe kann versetzt werden" Augustin beschreibt dieses Mysterium, wenn er sagt: „Die Gffenbarung ist Anziehung. Einen grünen Zweig zeigst du dem Lamm, und ziehst es so. Nüsse weist man dem Unaben, und er wird gezogen: und wohin er läuft, wird er gezogen, in der Liebe wird er gezogen..."*2). Liegt das wesentliche dieser Gotterfahrung also darin, daß der Mensch nicht mehr begreift, sondern ergriffen wird, daß er es aufgibt, Gott zum (vbjekt seines Denkens machen zu wollen, daß er vielmehr Gott gegenüber zum Objekt wird, so bedeutet dies keineswegs ein Erlahmen des menschlichen Erkenntnisund Lebenswillens, keine Zlucht aus der Klarheit in die Verschwommenheit, sondern vielmehr ein Zortschreiten von der Sehnsucht zur Erfüllung. Und eben dies ist die Gewißheit, zu der die Begegnung mit Christus führt. Venn „zu Christus wird der Mensch gezogen, den Wahrheit entzückt, Seligkeit ent­ zückt, Gerechtigkeit entzückt, immerwährendes Leben entzückt — was alles Christus ist" 3). Es ist deshalb nicht zufällig, daß Jesus auf die alle menschliche Unruhe bergende Gebetsanrede „Vater unser" nicht nur das distanzierende „Der du bist im Himmel", sondern noch die ausdrückliche Bitte „Geheiligt werde dein Name" folgen läßt, in der der Beter gegen alle menschliche Zudringlichkeit und Voreiligkeit, die meinen könnten, Gott in menschliche Horizonte bannen und menschlichen Zwecken dienstbar machen zu können, die Hilfe Gottes selbst anrust — wahrlich ein unmißverständlicher Ausdruck für die Größe der Gefahr, der Jesus hier alle Rede von Gott ausgesetzt sah, und ein unvergleichlicher Hinweis darauf, daß es dagegen keine Rettung vom Menschen her, auch keine Zlucht in das Schweigen oder den Agnosttzismus geben kann, sondern nur die Hilfe Gottes selbst, also das Passivwerden des Menschen mitten in aller andringenden Aktivität des Gottsuchens, das immer neue Darangeben aller menschlichen Ausdrucksversuche, das immer neue Jn-die-Knie-Sinken vor der Wirklichkeit Gottes selbst, die immer neue Bitte: „Dein Reich komme!". Hallen wir uns also diese unaufhebbare Warnung ständig vor Augen, dann schließen sich in dem Urwort Vater all die Züge der Gotteserfahrung, die wir uns vergegenwärtigt haben, in unerhörter Weise zu einem Ganzen zusammen, hier wird durch das viele hindurch und zugleich in ihm das Eine, durch alle wogende Unruhe in Natur und Geschichte hindurch ein ewiger, ganz in sich ruhender Friede, durch alle Wandlung ein ewiges Sein, durch alles Sterben unzerstörbares, todüberwindendes Leben geschaut. Dabei ist deutlich, daß Jesus die unverstehbaren härten und vunkelWerke, Denifle, S. 311; s. R. Otto, Das heilige", 1923, S. 144f. 2) Zitiert bei August Vetter, Geistesgeschichte und Gffenbarung. Neue Jahr­ bücher 1935, heft 5, 5.398. 8) Vetter a. a. G. 5.398.

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heilen des natürlichen und geschichtlichen Lebens nicht harmlos übersehen, sondern bis aus den Grund durchschaut hat. Da ist ja einmal ganz deutlich, daß er die Macht des Leides und des Todes und die darin begründete Hilfs­ bedürftigkeit alles naturgebundenen Lebens in der Tiefe gekannt hat. Gr „ergrimmt" über die Allgewalt des Todes, wie es in der Lazarusgeschichte heißt. Er hat ein sehendes Auge und ein liebendes herz selbst für gemein­ gefährliche, aus aller menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossene Kraute. Aber sein Blick bleibt in diesen Dunkelheiten nicht hängen. Er durchgreist auch die Dunkelheiten des Weltlebens mit seinem sehenden Auge. Und er duldet keine kurzatmigen, engsichtigen Erklärungen, seien sie auch moralischer Art. Die achtzehn, die der Turm von Siloah erschlug4), waren nicht schuldiger als andere — aber in ihrem erschütternden Schicksal flammt ein wort vom ewigen Urgrund her auf, das an alle ergeht: „So ihr euch nicht bessert, werdet ihr auch also umkommen". Selbst im Dunkel unerklärbarer, sinnlos erscheinen­ der Krankheit blitzt das Licht der ewigen Liebe auf: „... daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm"2). wie aber so die Ligengesehlichkeit des Naturlebens nicht geleugnet, sondern von Gott durchleuchtet und vom Glauben durchschaut ist, so sind auch die Eigengesetzlichkeiten des geschichtlichen Lebens mit all ihren Dunkelheiten hier mit dem Auge des Glaubens umfaßt, durchschaut und durch­ leuchtet. In zwei Worten ist hier die ganze Zrage der Stellung des Christen­ tums zur Tatsache der Eigengesetzlichkeit umrissen. Einmal in der Antwort aus die Zrage: „Ist's recht, daß man dem Kaiser Zins gebe oder nicht?" Sie geht von der nüchternen Feststellung einer Tatsache aus: das Bild des Kaisers ist der Zinsmünze ausgeprägt. Darin bekundet sich der Kaiser als der un­ bestreitbare Herrscher des Imperiums. Dor dieser Tatsache hilft kein Blind­ sein. Man muß sie sehenden Auges anerkennen. „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist...". Zugleich aber darf sich der Blick darin nicht verfangen. Und nun sieht das durchdringende Auge des Glaubens die eigentlich tragende Tiefe, die auch die politische Wirklichkeit untergründet. Tragender Grund und irdische Erscheinungswelt decken sich nicht. Aber keinesfalls stehen sie doch beziehungslos nebeneinander oder gar feindselig gegeneinander. Gott um­ greift, durchleuchtet und — übergreift die politische Welt. Der tragende Grund gibt sich in die Erscheinung hinein, er erscheint in ihr, ohne sich in ihr zu er­ schöpfen. So sind denn beide Welten in einer Rangordnung einander span­ nungsreich zugeordnet. Die politische Welt ist auf die ewige ausgerichtet, an ihr orientiert, durch sie normiert und begrenzt: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist — und Gott, was Gottes ist"3). Noch schärfer beleuchtet tritt dieser Sachverhalt in der anderen Äußerung hervor: „Ihr wisset, daß die weltlichen Kürsten herrschen und die Gberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch. Sondern, so jemand unter euch will gewaltig sein, der sei euer Diener ..." 4). Man nimmt diesem Wort alle Größe, wenn man in ihm lediglich die abwehrende Geste gegen die Lebens­ form des Staates sehen will. Es werden zwei Grundordnungen einander

2) Luk. 13, 4.

2) Zoh. 9, 3.

') Matth. 22, 21.

4) Matth. 20,25 f. 7*

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gegenübergestellt: Herrschaft und Dienst. Jesus will nicht politischer Führer sein. Diese Entscheidung ist bestimmend für seinen weg durch die Geschichte. Vie Ablehnung der nur politischen Verwirklichung für die Messiashoffnung seines Volkes ist die Voraussetzung für den Ausgang seiner irdischen Wirk­ samkeit. Und es ist nicht zufällig, daß dem Wort über die weltlichen Fürsten der Hinweis auf die Unumgänglichkeit des Kreuzes vorausgeht und folgt. Aber der Ordnung des Dienens wird hier nicht einfach neben der politischen herrschastssorm ein bescheidenes Plätzchen gesichert. Das hieße ihr alle reale und aus das Ganze des irdischen Lebens bezogene Bedeutung nehmen. (Es handelt sich um die Erlösung des Ganzen, nicht um die Flucht in den Sonder­ bereich einer rein privaten religiösen Existenz. Vas Ganze erlösen aber heißt: den Ursinn auch der politischen Seinsform sichtbar werden lassen, heißt: den auch die politische Existenz durchtönenden und durchdringenden Sinngehalt erspüren und darstellen. Ganz unübersehbar ist hier also, daß der Ausblick auf die Urbedeutung des Dienens Jesus nicht blind macht für die auf eigenen Gesetzen ruhende politische Gestaltungswelt. Sie wird an ihrem Orte auch nicht angegriffen oder als überflüssig erklärt. (Es wird nur über sie hinaus-, durch sie hindurchgeschaut. Sie wird an ihren Grt verwiesen. Sie wird durchdrin­ gender, schärfer gesehen als in jeder nur weltlichen Betrachtung der Dinge.

Die besondere Bedeutung Jesu für die Offenbarung Gottes liegt also zu­ nächst in dieser alle Verhüllungen durchstoßenden Schärfe des Erkenntnisver­ mögens für die letzte Tiefe des Lebens. Der Hebräerbrief hat denselben Sach­ verhalt im Auge, wenn er das Wort Gottes „lebendig" nennt und „kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert"x). (Es bedarf hier in der Tat einer unaufhaltsam durchdringenden, unerbittlich sichtenden und scheidenden Kraft des Geistes, wenn sich der Blick nicht im Dickicht der unübersehbaren Mannigfaltigkeit und Bewegtheit der vordergründigen Dinge, in der Undurchschaubarkeit des gestaltgewordenen Lebens verfangen soll. Aber damit ist doch nur die eine Seite der Lebensleistung Jesu bezeichnet. Vie andere liegt in der darstellenden Kraft, mit der hier das Gotterleben den ganzen Menschen ergreift, sich lebensmäßig verkörpert und sich durch alle Verwick­ lungen, Anfechtungen und Niederbrüche des irdischen Lebens hindurch sieg­ haft behauptet, hier bewährt sich, woraus wir uns schon mehrfach hinge­ wiesen sahen: Gott spricht nicht nur unser Bewußtsein an. wie er selbst viel­ sprachig in mannigfacher Gestalt zu uns redet, so will er auch nicht nur geistig, sondern leibhaft, bluthaft, total ergriffen und dargestellt sein. In diesem Zusammenhang will auch die Rede Jesu gesehen sein. Vie Wortgestalt, die er seinen Erkenntnissen gibt, ist ein Teil der Totalverwirklichung, um die es ihm geht. Vie repräsentative Bedeutung des Wortes tritt dabei darin hervor, daß vom Wort her die Bedeutung des Ganzen klar wird, daß also das Wort zugleich die vorform der Totalverwirklichung ist. Da wird nun deutlich, daß es hier um die Übersetzung der kosmisch-geschichtlichen Wirksamkeit des Ur­ grundes aller Dinge in die Sprache der menschlichen Existenz, der menschlichen Erlebnisweise, der menschlichen Verantwortung geht. Vas macht noch einmal x) hebr. 4, 12.

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besonders klar, welch einzigartiger Sinn dieser Wortgestaltung des Evangeliums zukommt: sie kann nur dynamisch verstanden werden. Das Wort Jesu kann sich nur dem erschließen, der sich in die Wirklichkeit wagend und erlebend hinein­ stellt, von der es redet. Darin erweist es dann seine Urbedeutung: durch allen wechsel der geschichtlichen Inhalte hindurch ist das Leben hier in seiner Ur­ gestalt und in seinen Grundbeziehungen gesehen, die die Geschichte nur tausendfältig abwandeln, nie aber erschöpfen oder verändern, und an die uns aller geschichtliche wechsel nur immer wieder erinnern kann. Das gilt insbesondere von dem Wort Liebe, das hier nun Urbedeutung gewinnt. In ihm bezeichnet Jesus das Wesen Gottes, die Beziehung Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott und zum Nächsten. Liebe ist nun ein Geschehen von kosmischer Tiefe und Unermeßlichkeit. Die Urmacht, die zutiefst in Natur und Geschichte zu uns redet, ist Liebe. 3n ihr sieht Jesus alles Leben in der Natur geborgen. Sie sieht er aufleuchten im Zauber ihrer Schönheit. Don ihr ist die Menschenwelt umfangen — kein haar fällt vom Haupt eines Menschen ohne den willen des Daters x). In dieser ihrer göttlichen Urgestalt aber ist Liebe absolut in sich ruhendes Leben: Gott läßt sich die Gesetze seines handeln nicht von außen her vorschreiben. Das Leben sttömt hier aus nie versiegender §ülle. So kann denn auch alle Blindheit und Ungebärdigkeit des Menschen ihn von seinem Liebesweg nicht abbringen: „Er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte" 2). In der Liebe wird hier also auch die Urgestalt aller Autonomie erschaut. Autonomie ist nur so mög­ lich, wie sie in Gott wirksam ist: als ganz in ihrer eigenen Tiefe wurzelnde Liebe. Es ist nur ein Zeichen für die Einengung aller Horizonte, wenn im persönlichkeitsbegriff des letzten Jahrhunderts Autonomie als bloßes Insichsein verstanden wurde. Echte Autonomie ist Theonomie: ist schenkende Le­ bensvollmacht. Sie wehrt das widersttebende nicht feindselig ab, um zu bleiben, was sie ist. Sie nimmt es in ihren eigenen Lebenssttom mit hinein, sie läßt es teilnehmen an ihrem Reichtum, sie übersttömt es mit ihrer Fülle. Darin ist sie unbeirrbar, das ist ihre göttliche Souveränität. Es ist deshalb kein Zu­ fall, daß aus diesen Erkenntnissen die moralische Nonsequenz der Feindesliebe gezogen wird. Die Liebe ist in ihrer göttlichen Urgestalt: Liebe zum Feind, Unbeirrbarkeit allem widersttebenden Leben gegenüber, Attion ohne jede Abhängigkeit von der Reattion, der sie begegnet. Dieser Erkenntnisfülle gegenüber wird nun klar, daß sie nicht nur in Worten bekundet werden kann, sie bedarf, um überhaupt glaubhaft zu wer­ den, der Bekundung in der ganzen Ausdrucksfülle menschlichen Seins. So sehr uns deshalb der ganze Sinn der Erscheinung Jesu in seinem Wort erschlossen wird, das Wort ist nur Teilgestalt einer Totalverwirklichung. Und erst in der Nrast dieser Gesamtdarstellung seiner Erkenntnisse gewinnt Jesus seine volle Bedeutung für die Offenbarung Gottes und für die Gottesgeschichte der Mensch­ heit. In diesen letzten Dingen gewinnt das Wort seine volle Erkenntniskrast erst in seiner Leibwerdung. Und daß Jesus „der Sohn" Gottes, „der Sohn" *) Matth. 6, 25 ff., 10,30.

-) Matth. 5,45.

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„des Vaters" gewesen, daß Gott in ihm Mensch geworden sei — alle diese Wen­ dungen wollen nicht dogmatisch im Sinn einer den echten menschlich-geschicht­ lichen Gehalt der Erscheinung Jesu zwängenden und verflüchtigenden Theorie, sondern als Beschreibungen des einen Sachverhaltes verstanden werden, daß Jesus nicht nur von Gott geredet, sondern daß er in seiner ganzen Existenz die Wirklichkeit Gottes bekundet hat, daß „das Wort" in ihm Fleisch geworden ist, „in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewige Gut" (Luther)*). Diese Seite der Wirksamkeit Jesu tritt in einen Augenblick seines Lebens zu­ sammengedrängt in visionärer Gestalt in der Versuchungsgeschichte hervor2). Jesus sieht hier alle Verwirklichungsmöglichkeiten der Welt vor sich. Sie liegen in drei Seiten der menschlichen Wirklichkeit: im Leib, im Gefühl und im willen. Er fühlt die Vollmacht in sich, in allen drei Bereichen schlechthin Unerhörtes, Übermenschliches zu vollbringen. Den Menschen aus aller leiblichen Not helfen durch Verwandlung von Steinen in Brot, also einer magischen Stei­ gerung aller Hilfsmöglichkeiten des physischen Wirklichkeitsbereiches, — die menschlichen Gemütskräfte zu äußerster Regsamkeit zwingen durch den Sprung von der Zinne des Tempels, also die alle Gesühlstiefen aufregende Sensation eines unbestreitbaren Wunders, — die Vielgestalt und Zerspaltenheit des menschlichen Gemeinschaftslebens zur Einheit zusammenzwingen als Herrscher eines Weltreiches, also durch die Entbindung gewaltiger po­ litisch organisierender Willenskräfte — das sind die drei Möglichkeiten, mit denen Jesus ringt. Es sind visionär in ihrer Urgestalt, in ihren letzten Bewegchtünden und Möglichkeiten gesehen die drei Grundformen irdischer Verwirk­ lichung überhaupt, die sich irgendwie jedem gestaltungswilligen Menschen nahelegen. Man kann sie den weg der sozialen Hilfe, der psgchologisch-pädagogischen Menschenführung und der politisch zwingenden Organisation nennen, warum wies sie Jesus als Versuchung ab? Unzweifelhaft nicht, um sich abseits von diesen Wirkungsbereichen in eine abstrakte religiöse Wirk­ samkeit zurückzuziehen, sondern um sie wieder mit Gott zu verbinden. Jedes der Worte, mit denen die Versuchungen zurückgewiesen werden, drängt von der falschen zur wahren Erfüllung. Keines ist abstrakte Negation. Jedes ruft aus der Abspaltung zur Wiedervereinigung mit Gott zurück, hier sollen Leib, Gemüt und Wille wieder zu ursprünglicher Ganzheit in ihrem Ursprung verbunden werden. von hier aus wird der weg deutlich, auf den Jesus sich gewiesen sieht: er heißt Inkarnation. Darstellung Gottes in allen menschlichen Lebens­ kreisen, Eingehen Gottes in alle Formen menschlichen Seins, in die menschliche Leibhaftigkeit, in die menschliche Erlebnisweise, in das menschliche willens­ leben. Menschwerdung Gottes, Offenbarung Gottes in menschlicher Gestalt. Wie wenig in alledem an Abkehr vom Leben gedacht ist, geht auch daraus hervor, daß alle in der Versuchungsgeschichte von Jesus zurückgewiesenen Wir­ kungsmöglichkeiten dann in seiner Lebensgeschichte in abgewandelter Gestalt wiederkehren. Die Speisungswunder, die Heilungsberichte, die Dämonen­ austreibungen, der Einzug in Jerusalem, die Tempelreinigung lassen ihn doch x) Joh. 1,14; vgl. die Ablehnung des Doketismus in den dogmatischen Ent­ scheidungskämpfen der ersten Jahrhunderte. 2) Matth. 4 1 ff.

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als Leibeshelfer, als seelengewaltigen Menschenführer, ja selbst als willens­ mächtigen Herrscher erscheinen. Aber nun sind alle diese Verwirklichungswege nichts anderes als Ausdrucksmittel für den Herrschaftsanspruch Gottes — nun ist das: „Du sollst anbeten Gott deinen Herrn und ihm allein dienens" durch sie nicht mehr in Frage gestellt. Dieses Gffenbarwerden göttlicher Urkraft in allen Verwicklungen des menschlichen Lebens ist in Jesus nun in einer äußersten Folgerichtigkeit ge­ schehen, die seine einzigartige Bedeutung für die Erkenntnis Gottes erst voll ins Licht treten läßt, hier neigt sich eine alles umfassende Liebe in alle Dunkel­ heiten menschlicher Not und Hoffnungslosigkeit hinab, hier wird der glimmende Docht menschlicher Schwäche und Verzagtheit nicht ausgelöscht, sondern zu neuem Leben angefacht, hier nimmt die höchste Reinheit sich aller mensch­ lichen Fehlsamkeit an, hier läßt sich göttliche Hoheit zum Sünder, ja zu mensch­ licher Verworfenheit erbarmend herab — und zugleich waltet eine Unerbitt­ lichkeit, eine Schärfe des Urteils, eine Härte und Entscheidungsbereitschast in der Auseinandersetzung mit Gegnern, durch die alles das, was oben über die Souveränität des göttlichen Liebeswillens gesagt wurde, erst recht ins Licht tritt. Ein ganz unerschütterliches, durch keine Lockung und keine Drohung ablenkbares Wissen um Gott geht hier seinen weg durch die Welt — bis zum bitteren Ende — und darüber hinaus. Dies alles findet schließlich seinen entscheidenden Ausdruck in der Tatsache des Kreuzes. Was wir uns bisher vergegenwärtigt haben, macht uns Jesus als Erfüllung aller natürlichen Gottsehnsucht und Gotterkenntnis deutlich. Das Kreuz zeigt, was Erl ösung ist. Auch hier muß aber zunächst die Meinung abgewehrt werden, als handle es sich im Begriff der Erlösung um eine lebensfremde dogmatische Theorie, in der der Wirklichkeit Gewalt angetan wird. Insbesondere ist der Begriff der Erlösung mit der Meinung belastet, als liege darin eine Herabwürdigung des Menschen, der so um den Kredit aller eigenen Bemühung und so eigentlich um seine Ehre gebracht werde. Da ist zunächst zu bedenken, daß das Kreuz nicht eine Theorie, sondern eine Tatsache ist. AIs Tatsache hat es die geschichtliche Wirkung gehabt, erst auch über alles das Licht zu verbreiten, was wir als den Zinn des Lebens Jesu bezeichnet haben. In­ sofern ist das Kreuz das Siegel unter alles das, was sich auch sonst aus Lehre und Leben ablesen läßt, die unleugbarste Bestätigung dafür, daß hier einer nicht nur redete, sondern mit Leib und Leben für das einstand, was ihm als Sache Gottes aufgegangen war, der stärkste Ausdruck einer jeder irdischen Bedrohung standhaltenden Folgerichtigkeit der Gotteserkenntnis. Und das sind ja die Züge, die man auch heute etwa unter dem Gesichtspunkt des heroischen Lebenseinsatzes am ehesten gelten läßt. Aber darüber hinaus will noch zweier­ lei gesehen sein. Das Kreuz ist ebenso Offenbarung Gottes wie Demaskierung des Menschen, hier erhält der die Geschichte tragende und ihre Ordnungen voll­ streckende Mensch die Möglichkeit, ganz frei aus sich heraus zu handeln. Jesu bewußter Verzicht auf jede direkte oder indirekte, äußere oder innere Ver­ gewaltigung stellt vor eine ganz freie Entscheidung. Dabei kommt an den Tag, x) Matth. 4,10.

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was der Mensch wirklich ist. Es zeigt sich, daß er sich in einer sein ganzes Wesen durchdringenden Gottblindheit verfangen hat, aus der er sich aus eigenen Kräften nicht wieder herausfinden kann: sie durchdringt seine edelsten mora­ lischen Absichten, ja sein religiöses Bewußtsein. Denn unedel waren die Motive der Gegner, die zur Kreuzigung drängten, gewiß nicht. Die unversöhnlichsten Feinde Jesu waren nicht nur leidenschaftliche, von opferwilliger Daterlandsliebe erfüllte Patrioten, sondern auch um den moralischen und religiösen Zu­ stand ihres Dolles tiefbesorgte Theologen und Kirchenmänner. Der Mensch kann also für Gott eifern und doch — Gott völlig verfehlen. Das ist die Grund­ verfassung, für die die Bibel das Urwort Sünde gebraucht, das also keineswegs ein bloß moralischer, sondern ein durchaus religiöser, die Beziehung des Menschen zu Gott aufdeckender Begriff ist. Sünde ist Gottverkennung,- sie ist ein Augenfehler, der alle Lebensoerhältnisse in falsche Beleuchtung seht. „Die Leuchte des Leibes ist das Auge, wenn nun Dein Auge gesund ist, so wird dein ganzer Leib voll Licht (ein; wenn aber Dein Auge nichts taugt, so wird Dein ganzer Leib im Finstern sein, wenn also das Licht, das sich in Deinem Inneren befindet, Finsternis ist, wie groß muß dann die Finsternis fein!"x) 3n der Unerbittlichkeit, mit der Gott in der Geschichte Jesu die Menschen zwingt, sich zu demaskieren, erweist er sich als der Richter, hier wird nichts verhüllt und vertuscht. Es muß alles an den Tag, so wie es ist. Der Mensch muß erkennbar werden als der, der er tatsächlich ist. Im Guten wie im Bösen, als Gericht und Derheißung gilt das Wort, mit dem Jesus die Jünger über die Derborgenheit der Botschaft getröstet hat: „Nichts ist verhüllt, was nicht offenbar werden wird"*2). So versteht das Johannesevangelium, das wahrlich um den Liebessinn der Offenbarung in Ehristus weiß, seine ganze Wirksamkeit doch zugleich als Gericht Gottes: „Das ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht" ’). Diesen Sachverhalt muß man gegenwärtig haben, um zu begreifen, daß es Befreiung von Sünde nur durch Erlösung geben kann, hier von Selbst­ erlösung zu reden, heißt: sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe ziehen, heißt: die (Quelle vom Zlußlauf her reinigen wollen. Ls wird später davon zu reden sein, daß Erlösung menschliche Derantwortung nicht ausschließt, sondern erst wieder kräftig werden läßt, hier soll nur deutlich werden, daß das Kreuz nicht nur den Menschen in die grellste Beleuchtung rückt, sondern daß es auch eine letzte Selbsterschließung Gottes ist. Und eben nur von Gott, vom Ursprung und Urgrund her, kann die Lösung kommen. Und zwar sind es besonders zwei Züge, die hervortreten. Einmal das, was wir die Heilig­ keit Gottes genannt haben, und dann die wirklich fteimachende, alle Dunkel­ heit austreibende, aber sich auch in das Dunkel herabsenkende, ganz aus eigener Dollmacht und Freiheit handelnde Liebe. Kampf um neue Sicht für die Heiligkeit Gottes ist ja die eine Seite des Lebenskampfes Jesu. Darin ist die unerbittliche Abwehr jeder Derwechselung *) Matth. 6,22 f. 2) Lk. 12,2; Mt. 10,26; Mk. 4,22.

=) J°h. 3,19.

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von Gott und Welt begründet. So ist die Versuchungsgeschichte zu verstehen, hier handelt es sich um die Urform der Verwechselung von Gott und Welt. Der Mensch verwechselt sein Tun mit dem handeln Gottes. Er glaubt an seine Moralität und erwartet davon letzte Erfüllungen — und merkt nicht, daß er der Lockung des Versuchers erliegt. Jesus stellt nun sein ganzes Lebens­ werk darauf ab, Gott wieder als den faßbar zu machen, der er ist: als die heilige, ganz in eigener Vollmacht stehende und wirkende und deshalb auch richtende Lebensvollmacht. Richt einmal die Jünger haben ihn darin verstanden — sie klammerten sich bis zuletzt an irdische Möglichkeiten der Selbstdurchsehung und Selbstbehauptung — wenn auch nicht alle in der krassen §orm des Ver­ räters Judas — bis zum grauenhaften Ende am Kreuz. Dann blieb nur noch die Verzweiflung übrig, und sie waren verzweifelt. Va aber finden sie sich durch die Ereignisse, die wir allerorten im Reuen Testament als Auferstehung Jesu Lhristi von den Toten beschrieben sehen, von der Gewißheit über­ wältigt, daß Gott die heilige, ganz aus eigener Vollmacht handelnde Urmacht des Lebens ist, sie gewinnen „erleuchtete Augen, daß er es ist, der in Lhristus gewirkt hat mit seiner „mächtigen Stärke", „da er ihn von den Toten auferweckt hat und gesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles was genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen" *). Zweifellos handelt es sich hier um Erlebnisse höchst realer Art. Einen solchen Gewißheitsgrad können zutiefst gebeugte und entmutigte Menschen nur gewinnen, wenn sie sich in unzweifel­ hafter Weise von Tatsachen bezwungen sehen. Wenn wir aber einmal alle Unsicherheiten, die der kritische verstand hier finden mag, auf sich beruhen lassen, so steht so viel fest, daß hier Gott als die Urmacht erlebt wurde, die nicht mit der Welt identisch und nicht an irdische Lebensgarantien gebunden ist, sondern durch allen irdischen Zusammenbruch hindurch, über ihn hinweg Tod zu überwinden und in die Bereiche des Todes hineinzuwirken vermag. In der Auferstehung enthüllt sich Gott als die Macht, die Tod überwindet, hier wird das Leben in seiner Urgestalt und in seiner Urmächtigkeit offenbar. In seiner tiefsten Bedeutung ist Leben todüberwindende Vollmacht, Einbruch aus dem Jenseits in das Diesseits: „Es Vas Die Ein

war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen. Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Schrift hat verkündet das, wie ein Tod den andern ftaß, Spott aus dem Tod ist worden." (Luther.)

In diesem Geschehen erschließt sich Gott aber zugleich als unbeirrbare, all­ umfassende, vergebende Liebe. Als solche waltet er auch, wiewohl in verhüllter Form, in der Natur und in den Ordnungen. Nun wird er als solcher offenbar, von der Sünde, von der Gottblindheit und allen von ihr ausgehenden Lebens­ stockungen fteimachen kann nur die Liebe, die Tod überwindet. Venn Sünde, Gottverkennung, Gottentfremdung bedeutet ja Lebensverkennung, Lebens­ feindschaft, Tod. So wird die Sünde als der Ursprung — nicht als geschichtliche 2) Eph. 1,18-21.

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Entstehungsursache — auch des leiblichen Todes verstanden1). Aber er ist ja nur die unverkennbarste unter all den Formen des Todes, die aus der Sünde kommen. Und nun erleben die Jünger, daß Gott auch der Sünde gegenüber bleibt, der er ist. Er entläht den Menschen nicht aus ihren Folgeerscheinungen. Vie nehmen ihren verlaus nach den eigenen Gesetzen, auf denen Natur und Geschichte ruhen. Uber Gott senkt sich bis zu ihrem Ursprung herab, er löst den Kiampf der Selbstabschließung des Menschen von Gott. Er macht die Bahn für ein neues Leben frei. Er erlöst von der Sünde und vom Tode. Er gibt er­ leuchtete 2) Augen — wie sollten damit nicht alle Wege hell werden! Vie Frage nach dem ethischen Ertrag dieser Gottoffenbarung des Neuen Testamentes wird im Evangelium durch den Rus zur Nachfolge beantwortet. In Lhristus nimmt Gott menschliche Gestalt an; Christus macht das kosmische Walten Gottes verstehbar, indem er es ins Menschliche übersetzt. 3n ihm wird der verborgene Gott offenbar — wenn auch in der noch immer'oerhüllenden Form des Kreuzes. 3n der Nachfolge geht es um die Übersetzung der einmaligen Offenbarung Gottes in Christus in die Sprache des allgemein Menschlichen. Erst in dem „Folge mir nach"! des Evangeliums wird das Walten Gottes in Natur und Geschichte zur unausweichlichen persönlichen Anrede an jeden Menschen. Gotteserkenntnis ist nur im Wagnis, im Lebensversuch, im Ex­ periment möglich. Das Wort Nachfolge stellt die bündigste Antwort auf die Frage dar, was Gott mir zu sagen hat, was er von mir fordett. So lösen sich hier erst all die Unklarheiten, über die keine natürliche Theologie hinauskommt. So allein ist auch die intellektualistische Erstarrung überwindbar, die aller dogmattschen Aussage droht. Dabei kommt nun alles freilich darauf an, daß der Rus zur Nachfolge wieder in seinem eigentlichen theologischen Sinn ver­ standen wird. Es geht hier letztlich um die Nachfolge Gottes2). Es geht darum: den Erdenweg nachzugehen, den Gott selbst in Lhristus gegangen ist. Damit ist deutlich gesagt, daß es sich nicht darum handeln kann, den irdischen Lebensgang Jesu äußerlich-gegenständlich nachzuahmen. Das hieße, sich nur an den Buchstaben, statt an den Geist4), nur an den Menschen Jesus, statt an den Sohn des lebendigen Gottes halten, das hieße in der Bindung an den einmaligen Ort der geschichtlichen Existenz Jesu die Universalität Gottes ver­ gessen. Gott will als die alles erfüllende Urkraft auch gerade in seiner Leibwerdung in Lhristus begriffen sein. Recht verstanden, heißt darum Nachfolge: die ewigen Urgesetze vollstrecken, aus die Gott das Ganze des Lebens gegründet und die er in Jesus offenbart hat. So verstanden, ist Nachfolge eine zutiefst schöpferische Aufgabe, die an jedem kontteten Ort der Geschichte neu gelöst werden muß. Und sie kann nur gelöst werden, wenn der große innere Umbruch geschehen, der Mensch sehend geworden und von seiner Gottblindheit geheilt ist. Es geht in der Nachfolge immer um die Grundverfassung des Menschen und ihre Folgen für die Beantwortung der grundlegenden Lebensftagen. Das Leben ordnen kann nur, wer im Innersten in Ordnung gekommen ist. Und das kann nur, wer sich den vom Kreuz als der am tiefsten dringenden Grdnungs-

0 Röm. 6, 23.

«) Eph. 1,18.

=>) Lph. 5,1.

«) 2. Kor. 3, 6.

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macht ausgehenden Einsichten und Kräften praktisch geöffnet hat. Das Ur­ gesetz, um das es dabei geht, bindet alles Leben — auch das widerstrebende: „wer sein Leben will behalten, der wirds verlieren"1). Ls geht in alledem also um die Lösung des Lebensproblems, um die'(Ordnung und Führung des Lebens in dieser Welt. Die große Umkehrung vom Kreuz her, das Aufnehmen des Kreuzes2) bedeutet nicht Weltflucht, sondern den richtigen weg der Lrfüllung in dieser Welt. Drei Momente sind also im Ruf zur Nachfolge enthalten: einmal das Ernstnehmen der irdischen Existenz Jesu, hierin liegt der Unterschied von aller idealistischen Hingabe an eine Idee, die ich auch ohne personale Verkörperung einfach aus dem Wege der Selbstbesinnung in mir vorfinden kann. Sodann die Ablösung von den geschichtlichen Einmaligkeiten seiner Existenz. Nur so kann es zur Gleichzeitigkeit mit Jesus, zur Einung mit ihm, zum Sein „in Lhristus", zur Einwohnung Lhristi kommen. „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Lhristus lebt in mir..." 3). Nachfolge ist mehr als Kopie des Erdenganges Jesu4) — es heißt in Jesus den ewigen Sinn aller Geschichte anerkennen und in eigener Verantwortung in den ganz konkreten Verhältnissen des eigenen Lebens um immer neuen Gehorsam ringen. Nachfolge ist also nur dort möglich, wo man um den ganzen Inhalt des Glaubens­ bekenntnisses weiß — um geschichtliche Existenz und Himmelfahrt Jesu, aber auch um die Schöpfung mit ihren uns verpflichtenden Grünungen und um die Unmittelbarkeit der Gottbeziehung im heiligen Geist. Nachfolge Lhristi ist kein von seinen theologischen Voraussetzungen ablösbares moralisches, sondern durchaus ein religiöses Problem. Dies nicht gesehen zu haben, macht die Tragik Tolstois wie manches anderen Nachfolgeversuches aus. Zu weiterer Verdeutlichung bedarf es nun nur einer Entfaltung und Aus­ arbeitung der gewonnenen theologischen Einsichten ins Anthropologische und Kosmologische. Es muß deutlich werden, welche menschlichen Verantwortlich­ keiten im Ruf zur Nachfolge enthalten sind und welche Bedeutung dem Welt­ leben damit zugesprochen ist. Konkrete Theologie treiben, heißt alle Aussagen über Gott zugleich als Aussagen über den Menschen und über die Welt be­ greifen. Daß die Theologie so in Mißkredit gekommen ist, hängt gewiß auch damit zusammen, daß sie den konkreten anthropologischen und kosmologischen Sinn ihrer Aussagen nicht mehr deutlich zu machen wußte. Die Folge war die Emanzipation der Anthropologie und Kosmologie von der Theologie. Das abendländische Denken seit der Renaissance stellt den gigantischen versuch dar, eine Lehre vom Menschen und von der Welt unter Absetzung von aller Gotteslehre zu entwickeln, wenn diese Entwicklung jetzt zu Ende gekommen und ein Umbruch unvermeidlich ist, so heißt das auch, daß die Theologie sich ihrer anthropologischen und kosmologischen Verpflichtung von neuem bewußt werden muß.

0 Mk. 8, 35 f. 3) Gal. 2, 20.

2) Mk. 8, 34. 4) vgl. 2. Kor. 5,16.

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Grundlegung

II. Teil

Christliche Anthropolog!e 16. Kapitel

Gott und Mensch: Schöpfung, Sündenfall, Erlösungx) Was ist uns nun in den biblischen Aussagen über den jenseitigen Gatt und seine (Offenbarung als Schöpfer, Gesetzgeber und Erlöser über den Menschen gesagt? Erst in der Beantwortung dieser Frage können die sittlichen Konse­ quenzen dieser Gotteslehre nach der Seite des Menschen hin sich mit Inhalten füllen. Da sind es zunächst, bevor wir an eine mehr psychologische Entfaltung Herangehen, drei dogmatische Aussagen, die wir uns in ihrer Bedeutung für das menschliche handeln deutlich machen müssen: der Mensch ist geschaffen, er steht unter dem Fluch der Sünde, er wird von Gott erlöst. Was heißt das? 1. Wir wollen uns den ethischen Sinn der Lehre von der Erschaffung des Menschen durch Gott vom Begriff der Totalität aus faßbar zu machen ver­ suchen, der in der Eharakterkunde von heute eine beherrschende Rolle spielt. Dann liegt die Besonderheit der christlichen Anthropologie in der unüberbiet­ baren Radikalität, in der hier der Mensch als Ganzheit gesehen wird. Daß schlechterdings alle Seiten seines Wesens, daß Leib, Seele und Geist, daß die verschiedenen Lebenskreise, in die sich sein Leben entfaltet, von der Ernährung über das Blutleben und die Atmung bis hin zu den höchsten seelisch-geistigen Erhebungen ein Ganzes bilden, das ist hier nicht lediglich in das vermögen oder die bewußte Entscheidung des einzelnen gesetzt: es ist in der letzten Tiefe der Wirklichkeit, es ist in Gott selbst begründet. Der Mensch ist Ebenbild, er ist Kind Gottes. Damit ist die Einheit seines Wesens all den Unsicherheiten des äußeren und inneren Weltlebens entnommen, die es bedrohen. Damit ist allem Eharakterzerfall gewehrt. Das Wort Charakter verliert seinen bloß formalen Sinn. Mensch sein heißt hier als „Mensch Gottes"2) leben. Damit ist ebenso jede Selbstübersteigerung abgewehrt, wie die tiefste Würde des Menschseins begründet. Der Mensch ist, auf den tiefsten Ursprung und Sinn seines Lebens gesehen, nicht Subjekt, sondern (Objekt, nicht Schöpfer, sondern 0 vgl. zum Folgenden vor allem Luther: von der Freiheit eines Christenmenschen 1520; ferner die Dogmatiken, von denen zwei ältere, die von A. Z. (L Vilmar (Dogmatik, Gütersloh 1874) und die von Alexander von Gttingen 1900 ihrer ausgeführten Anthropologien wegen besonders hervorgehoben seien; dann die Ethiken, die das Eharakterproblem behandeln, so etwa Fr. h. R. Frank: System der christl. Sittlichkeit 1884. Ehr. Luthardt: Kompendium der theolog. Ethik31921. R. Seeberg, System der Ethik, 19202. Ders.: Art. Charakter in RGG.2 I 1487 ff. Dazu Emil Brunner: Natur und Gnade2 1935. S. Kierkegaard: Der Begriff der Angst. Adolf Köberle: Rechtfertigung und Heiligung 3 1930. Adolf Sannwald: Der Begriff der Dialektik und die Anthropologie. Außerdem R. Allers: Das Werden der sittlichen Person4 1935. Gustav Heyer: Der Organismus der Seele, 1932. C. G. Jung: Be­ ziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten2 1935. L.Klages: Die Grund­ lagen der Lharakterkunde6 u. 6 1928. A. Pfänder: Grundproblem der Charaktero­ logie. I. Seifert: Charakterologie, 1929. 2) 2. Tim. 3,17.

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Geschöpf, sein heil liegt nicht in der Eigenmächtigkeit, sondern in der Gott­ mächtigkeit 1). 2. Vie zweite Feststellung von der Sündigkeit des Menschen mag uns in ihrer ethischen Bedeutung unter dem Gesichtspunkt einer ganz wachen, radikal reali st ischenSelb st erkenntnis deutlich werden. Beides wird dem Menschen zugetraut und zugemutet: daß er seine ursprüngliche und unaufhebbare Ganz­ heit als Ebenbild Gottes, und daß er seine innerste Gespaltenheit als nun doch seinem Ursprung entfremdeter Sünder anerkenne, hier ist in der Gottbeziehung das Moment äußerster Nüchternheit enthalten, ver Mensch lernt sich so sehen, wie er vor dem Auge Gottes dasteht — er lernt sich, soweit ihm das gelingen mag, mit dem Auge Gottes anschauen. Dabei zeigt sich wieder, daß Sünde kein bloß moralischer, sondern ein auf den metaphysischen Ursprung der mensch­ lichen Existenz zielender theologischer Begriff ist. Ls handelt sich um die Grund­ verfassung des Glaubenslebens — also um die tiefste Wurzelschicht des mensch­ lichen Wesens, ver Mensch hat danach den unmittelbaren Zusammenhang mit dem letzten Ursprung und Sinn seines Lebens verloren, wie konnte das geschehen? 1. Mose 3 schildert es so, daß der Mensch selber sein wollte „wie Gott". Das Geschöpf wollte sein wie der Schöpfer, der Mensch fing an, an sich zu glauben und sich mit Gott zu verwechseln. Damit will die Bibel den tiefsten Grund aller Fehlleitung und -leistung im Wesen und in der Geschichte des Menschen bezeichnet haben. Er liegt in einer Verfälschung des Glaubens, deren Folgen alle Bereiche menschlichen Seins durchdringen. Der Mensch reicht nun intellektuell, gefühls- und willensmäßig nicht mehr an das heran, was er „eigentlich" in der letzten Tiefe seines Wesens ist. Lr unterliegt einer merkwürdigen Verkürzung aller Perspektiven. Lr entwirft, wenn er von Gott reden will, allzu leicht nur mehr Bilder von — sich selbst. Er verleugnet die tiefsten Ahnungen, die er von Gott hat, immer wieder unversehens und mißt mit seinen Maßen — statt sich messen zu lassen. „Vie Sünde trübt den Blick des Menschen derart, daß er an die Stelle Gottes Götter 'erkennt' oder 'phanta­ siert' ... daß er Gottes Schöpfungsosfenbarung in Götterbilder umlügt"2). wer könnte das leugnen? Aber es bedeutet wahrlich alles andere als eine Herab­ setzung des Menschen, wenn er sich in dieser letzten Tiefe seiner Existenz noch verantwortlich weiß. Oder soll der Mensch seine Freiheit nur an der Ober­ fläche seines Daseins mit Stolz empfinden? Ist es nicht im Grunde ein Zeichen einer tief sitzenden metaphysischen Weichlichkeit, wenn der moderne Mensch die Konsequenzen seiner Freiheit nur da genießen will, wo sie vergnüglich

sind und seiner Selbsterhöhung dienen, aber gerade da ausweichen will, wo das Wort Freiheit die wuchtende Schwere einer Grundentscheidung gewinnt? So hat die Lehre von der Erbsünde nichts mit der Verfemung der leiblich­ sinnlichen Sphäre, nichts auch mit der Herabsetzung des menschlichen Voll­ kommenheitsstrebens oder der Blindheit gegen das Gewicht der rassischen Bindung zu tun. Die Lehre von der Erbsünde will dem Menschen keine reale Möglichkeit nehmen, über die er verfügt. Er bleibt Gottes Geschöpf. Und dieser Ursprung wirkt in der Unzerstörbarkeit gewisser formaler GrundT) 1. Mose 1,27; Matth. 5,4, 7, 8. 2) Cmil Brunner: Natur und Gnade, S. 14.

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eigentümlichkeiten der menschlichen Natur durch alle Trübungen und Ver­ fälschungen hindurch, so darin, daß er Subjekt, Vernunftwesen und ver­ antwortlich ist1). Der Begriff der Erbsünde will nur das Auge dafür schärfen, daß durch alle Lebensäußerungen des INenschen sein Glaubensleben hindurch­ wirkt, so unbewußt es sich vollziehen mag, und daß er hier an diesem tiefsten Ouellpunkt seines Lebens „keinen wahren Glauben an Gott von Natur" (Lonf. Aug. II) hat, sich also nicht mehr im Zustand göttlicher Ursprünglichkeit, Sicherheit und Unbeirrbarkeit befindet, sondern ständig mit Störungen zu rechnen hat, die aus der rätselhaften Neigung zur Verwechselung von Schöpfer und Geschöpf stammen und die allein dann auch den göttlichen Sinn der natürlichen Lebensfunktionen und -tatsachen zu „böser Lust und Neigung" (Lonf. Aug. II) verfälschen. Vieser absolut unideologische, rein realistische Sinn der Erbsündenlehre tritt überall dort klar hervor, wo man über sie nicht abstrakt reflektiert und räso­ niert, sondern in schweren Erschütterungen die Sachverhalte erfahren hat, die sie beschreiben will und die sich schwerlich tiefer und zutreffender beschreiben lassen. Es sei nur an Paulus, Augustinus, Luther und Lhristoph Blumhardt erinnert. Paulus beschreibt den Sachverhalt mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit und Objektivität: „Ich weiß nicht, was ich tue. Venn ich tue nicht, was ich will,- sondern was ich hasse, das tue ich." Diese eigentümliche Nötigung sieht er durch alle Zreude am Guten hindurchwirken, die er in sich vorfindet. „Dos Gute, das ich will, das tue ich nicht- sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." So sieht er sich hier im innersten Bereich seines Willenslebens um all die Einheitlichkeit und Klarheit gebracht, die er doch mit aller Kraft anstrebt. Lr sieht sich einem Zwiespalt unterworfen, der nicht aus seinem Bewußtsein stammt. „So tue nun ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt." Dabei sieht er deutlich, daß es sich um einen Sach­ verhalt handelt, dem man mit bloß moralischenMitteln nicht beikommen samt2). Das Gesetz kann diesen Sachverhalt aufdecken, es kann ihn zum Bewußtsein bringen — aber es reicht nicht bis in die Tiefe der Erkrankung, es kann die Not nicht wenden, es kann nicht heilen3). was hier Sünde heißt, wirkt also in einer noch tieferen Schicht, als es das moralische Bewußtsein ist. Es durch­ wirkt dieses und zwingt es in seinen Dienst. So aktualisiert das Gesetz geradezu die potentielle Sünde — wahrlich, ein Beweis dafür, wie sehr das Wort Sünde nicht lediglich eine moralische, sondern eine theologische, eine existentielle Aus­ sage über den INenschen machen will. „Das Gesetz ist neben eingekommen, auf daß die Sünde mächtiger würde" 4). Mit derselben psychologischen Schärfe beobachtet Augustinus, daß im innersten Bereich der menschlichen Seele widerstände' auftreten, die es in der Beziehung zwischen Leib und Seele nicht gibt: die Seele befiehlt der Hand, und die Hand gehorcht. Die Seele befiehlt der Seele und sie stößt auf wider­ stand. Auch hier also wirkt durch das bewußte wollen eine geheime, aus irgendeiner dunklen Glaubensbindung stammende Hemmung hindurch, die

h vgl. E. Brunner: Natur und Gnade, S. 10. 2) Hörn 7,15-23. 3) Hörn. 7, 7 f. *) Hörn. 5,20.

Vie christliche Grundlegung der Sittenlehre

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die Kraft des wollens bricht. Die Seele will das Gute. „Aber sie will es nicht mit ganzer Kraft." Alles wollen ist somit von einem geheimen Nichtwollen durchwirkt, das auf eine tief sitzende Erkrankung des Glaubenslebens zurück­ weist (Bekenntnisse VIII 9). Wer aber der Meinung Raum geben wollte, daß es sich bei Paulus und Augustinus um eine Skrupulosität handle, die nicht mehr als gesund anzu­ sprechen sei, der möge sich an zwei Äußerungen von Luther und Blumhardt davon überzeugen, daß die Lehre von der Erbsünde auch mit einer Art sachlich­ grimmigen Humors vertreten sein kann, die weitab liegt von innerer Zer­ rissenheit im psychologischen Sinne des Wortes. „Zu Eisleben sagte Doktor Martinus Luther zu Doktor Ionas, als ein Barbier ihm die haare abschnitt und den Bart abnahm, daß die Erbsünde im Menschen gleichwie eines Mannes Bart sei, welcher, ob er wohl heute ab­ geschnitten würde, daß einer glatt ums Maul wäre, dennoch wüchse ihm der Bart des Morgens wieder. Solches wachsen der haare und des Bartes hörte nicht auf, dieweil ein Mensch lebte,- wenn man aber mit der Schaufel zuschlägt (= das Grab zuschüttet), so Horts aus. Also bleibt die Erbsünde auch in uns und regt sich, dieweil wir leben,- aber man mutz ihr widerstehen und solche haare immerdar abschneiden" *). Das ist dieselbe sachliche Nüchternheit, in der Ehristoph Blumhardt von der Sündigkeit des Menschen gesprochen hat. „Es ist etwas verdreht in uns. Nun sind wir alle zum Ebenbild Gottes geschaffen, ein wichtiges Stück, bildlich gesprochen, ein wichtiges Rädlein im großen Gangwerk der Kreatur. Aber an diesem Räderwerk sind die Zinken krumm gebogen; die Achse steht schief; es rutscht die Menschheit verkehrt herum und die ganze Kreatur leidet darunter. Das ist die Sünde"*2). 3. Ist der Mensch im Schöpfungsgedanken in radikaler Weise ganzheitlich, in der Lehre von der Erbsünde radikal realistisch verstanden, so erschließt sich uns die ethische Bedeutsamkeit der Erlösungslehre unter dem Gesichtspunkt einer äußersten Radikalisierung der Zreiheitsidee. Da wird nun vollends deutlich, daß der Mensch hier nicht nur moralisch, sondern theologisch gesehen wird. Und darin liegen alle Schwierigkeiten, aber auch alle neuen Möglich­ keiten des Verständnisses begründet. Den Menschen theologisch sehen, heißt: ihn aus einer Überschau sehen, die auch das Moralische umgreift, sich aber in ihm nicht erschöpft. Es muß nun ein ganz verzerrtes Bild herauskommen, wenn man diese theologische Sicht wieder moralisch mißversteht — wie heute weithin geschieht. Man kann wohl das Moralische theologisch, aber man kann das Theologische nicht moralisch verstehen. Der wahre Sinn der Erlösungslehre ist der, daß Gott selbst im Menschen wirksam wird, daß der Mensch das handeln Gottes an sich geschehen lassen, daß er sich ihm öffnen muß, weil er in Schuld­ zusammenhänge verflochten ist, die auch die verborgensten Tiefen seines Wesens und damit auch sein willensleben so allseitig durchdringen, daß er sich nicht selbst von ihnen lösen kann. iTwH. Tischreden 1, 60, 26-33. 2) Leonhard Ragaz: Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn — und weiter! 1922, S. 74.

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Wie sehr dieser eigentliche Sinn der christlichen Erlösungslehre dem religiösen Suchen der Gegenwart verborgen ist, geht z. B. daraus hervor, daß Wilhelm Hauer gegen die christliche Sündenlehre mit dem Gedanken polemi­ siert, daß nach christlicher Lehre „die Ursache der Sünde nur die menschliche Fragwürdigkeit, im Grund der böse, gottwidrige Wille der Menschen" T) sei — im Unterschied vom germanisch-deutschen Glauben, der „um einen schicksal­ haften Schuldzusammenhang des Einzelnen im Ganzen" wisse und den Menschen „mit einem ftommen herzen" betrachte „als ein Beispiel des rätsel­ vollen Waltens im Weltgeschehen"2) — als ob es nicht der Sinn der christ­ lichen Erbsünden- und Erlösungslehre wäre, heil und Unheil des Menschen eben gerade nicht nur moralisch, sondern religiös und eben gerade nicht in­ dividualistisch, sondern universalistisch, ganzheitlich zu verstehen — von „den Mächten" aus, „die in ihm schon durch Vererbung wohnen und für die man ihn persönlich nicht verantwortlich machen kann"3). Und wiederum, wenn der Pädagoge und Schulpolitiker Adolf viesterweg (1790—1866) in einer für die neuere Pädagogik charakteristischen Weise „die kirchliche Bekehrung" „einer Brechung und Vernichtung der menschlichen Natur" gleichachtet4), so ist hier nicht gesehen, daß es in der christlichen Erlösungslehre eben doch gerade nicht auf die Brechung, sondern auf die Wiederaufrichtung des Menschen, auf die Wieder­ einsetzung in die ursprünglichen Vollmachten seiner Gottebenbildlichkeit ab­ gesehen ist. Zunächst mag das Verhältnis zum idealistischen Freiheitsbegriff ins Auge ge­ faßt sein3). Sein bleibendes und unaufgebbares Anliegen liegt in der Begründung der Personalität des Menschen. Person ist der Mensch nur, insofern er frei ist. Dabei ist es wichtig, den Unterschied zwischen christlicher und idealistischer Freiheitslehre nicht an der falschen Stelle zu sehen. Er liegt weder im Gottesnoch im Glaubensbegriff — sofern man nur die Sachverhalte ins Auge faßt, statt am Wort hängen zu bleiben. Auch Hartmann, den wir jede begrifflich religiöse Begründung entschieden ablehnen sahen, kann seine Freiheitslehre strukturell betrachtet nur glaubensmäßig begründen. Der wahre Unterschied kann nur in der größeren Radikalität und Universalität des christlichen Freiheitsverftändnisses gesehen werden. Vie alle sonst möglichen Fassungen des Freiheitsbegriffes überbietende Radikalität des christlichen Verständnisses kommt nun in der Art zum Ausdruck, wie die Frage nach dem Wovon und Wozu der Freiheit beantwortet wird. Der Mensch wird hier befreit von Sünde und Tod, und er wird erlöst zu der „herrlichen Freiheit der Rinder Gottes" 6). Diese unerhörten Aussagen können nur verstanden werden, wenn man sich klarmacht, daß hier nicht in Be­ griffen, sondern in Urbildern gedacht nrirö7). T) Deutsche Gottschau, 5. 138. 2) S. 139. 3) S. 139. 4) Zahrbuch für 1852, S. 114, These 109. 5) S. hierzu Kap. 8. 6) Röm. 8, 21. 7) Zum Begriff des Urbildes vgl. besonders die Literatur, die seine Bedeutung in der Biologie erweist: Friedrich Alverdes: Leben als Sinnverwirklichung 1936. Edgar Dacque: Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre2, 1929; Hans Andre: Urbild und Ursache in der Biologie, 1931. Ders.: Die dreieinige Selbstüberschreitung als Urprozeß alles Lebendigen, 1935. Armin Müller: Struktur und Aufbau der biologischen Organismen, 1933. Ders.: Ganzheitsbiologie und Ethik, 1933.

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In diesem Sinne sieht Paulus „durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen" und „durch die Sünde den Tod" und „den Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben"*). In Adam ist hier das Urbild menschlicher Unfteiheit geschaut. In ihm wird das Schicksal der ganzen Menschheit begriffen: die Grundeigentümlichkeit menschlichen Schick­ sals kann nicht aus den Zerfaserungen erkannt werden, in denen sich uns das Menschliche in der Geschichte darstellt, sondern nur aus dem Urmenschlichen, das durch alle Individualität geschichtlichen Seins als die eigentlich formende Kraft hindurchwirkt. So erscheint hier als die allen unendlichen Abwandlungen des geschichtlichen Lebens zugrundeliegende und sie durchwirkende Urform des Menschlichen das unlösbare Ineinander von Gottebenbildlichkeit, Sünde und Tod. In ihrer Tiefe verstehbar wird danach die empirische Geschichte erst dort, wo man sie als die Entfaltung dieser Grundelemente alles Menschlichen versteht. Gewiß stellt diese Schau für unser diskursives, nur noch von zeitlichem Ablauf wissendes Denken eine große Zumutung dar, das aber tritt doch ganz deutlich heraus, daß hier das schauende Auge an der empirischen Existenz nicht ideologisch vorbeischaut, sondern alle ihre Möglichkeiten umfassend durch sie hindurchschaut. Alle empirischen Unfreiheiten des Menschen, wie sie der Determinismus im Auge hat, erscheinen danach nur wie der unvermeid­ liche Schatten der urmenschlichen Abkehr von Gott, vom Schöpfer absallen, heißt der Schöpfung hörig werden. Nicht an Gott glauben, heißt an die Welt glauben müssen. Und eben in dieser weltgläubigkeit wurzelt letztlich alle Unfreiheit. So kann es denn auch Zreiheit nur in dieser Sicht geben. Freiheit ist hier kein bloß individuelles Problem. Sie hängt ganz an der Zrage der urbildlichen Erlösung und Erneuerung. Es geht alles darum, ob ein neues Urbild menschlicher Zreiheit den Einfluß Adams brechen und das Steuer Herumwersen kann. Vas ist es, was Paulus in Christus geschehen sieht. Das wesentliche kann hier nicht begrifflich erläutert werden. Es liegt in der Zrage, ob Christus die Urmacht ist, die den Bann jener tiefstverstandenen ur­ bildlichen Unfreiheit zu brechen und die Gottursprünglichkeit wiederherzustellen vermag. Den Bann der urbildlichen Unfteiheit kann nur die urbildliche Zrei­ heit brechen. Zreiheit und Unfteiheit sind Urmächte, die die Grenzen des In­ dividuellen überschreiten. Die individuelle Zreiheit erwacht in der Berührung mit der urbildlichen Zreiheit. An dieser das Individuelle durchwirkenden und formenden, die individuelle Zreiheit entbindenden Ktaft erweist sich die ur­ bildliche Bedeutung Jesu. „Denn wenn dort die Übertretung des Einen den Tod der Dielen zur Zolge gehabt hat, so hat sich hier die Gnade Gottes und das Gnadengeschenk des einen Menschen Jesus Christus erst recht an den vielen überreich erwiesen" 2). heißt somit Erlösung Zreiheit von urmenschlicher Selbstüberhebung, Gottftemde und Weltgläubigkeit, so kann Zreiheit nur als die Zreiheit der Gottes­ kindschaft beschrieben und nur so mächtig werden. Damit erst weichen alle Verkrampfungen und alle Zesseln. Zreiheit gibt es nur als Gottmächtigkeit. So ruht hier die menschliche Geschichte aus dem Widerstreit von Gypus

O Hörn. 5,12. SU 4: Müller, Ethik

-) Röm. 5,15, Menge.

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und (Segentypus, von Adam und Christus. Zreiheit heißt hier durch die Adamitische Verführung hindurch in die gottgewollte Urgestalt des Menschen zurückfinden. Das macht Christus zum Erlöser, daß er diese Urgestalt ist und damit Freiheit als ein für allemal möglich erwiesen hat. Er hat erwiesen, daß es uneingeschränkten Gottgehorsam in vollmenschlicher Existenz gibt. Nach Gottgleichheit läßt sich nicht in der Weise des Adam greisen wie nach einem Raub, sie wird Ereignis nur dort, wo Gehorsam geleistet wird, bis zum Tode am Kreuz *). Und solche Zreiheit läßt sich nicht erdenken und nicht postulieren, auch nicht einfach entdecken wie in der Natur, sondern nur in ge­ schichtlichem Wagnis in Ktaft setzen. So gewinnt Christi Gehorsam durch die Reinheit, in der er die Grundbedingungen des Menschseins wieder in Ordnung bringt, Urbedeutung genau wie der Sündenfall in Adam. „Wie durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen ge­ kommen" 2). Daß hier also einer, der wahrlich alle göttlichen Vollmachten in sich trug, jeder Versuchung zur Selbstvergötterung widerstand und nicht Über­ mensch im Sinne Adams sein wollte, sondern sich entäußerte und Knechtsgestalt annahm, nichts anderes sein wollte als Mensch und alles heil in den Ge­ horsam gegen Gott setzte, das gerade ließ ihn zum Erlöser werden, der in ur­ bildlicher Kraft und Reinheit die Grundverhältnisse des Menschseins darstellte und wieder in Wirksamkeit setzte3). $rei werden kann der Mensch nur in Gott — als „Erbe Gottes"4). Damit aber gewinnt das Erlebnis der Zreiheit kos­ mische Weite. Im eigenen Erleben erschließt sich das Weltleben in seiner Tiefe, das sich als von derselben Sehnsucht nach Zreiheit durchzogen erweist, die wir in uns selbst finden. „Das ängstliche harren der Kreatur wartet auf die Offen­ barung der Kinder Gottes. Auch die Kreatur frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Zreiheit der Kinder Gottes"5). Damit aber ist zugleich deutlich, daß die entdämonisierte Welt keine letzte Binde­ gewalt mehr hat, weil die Kreatur nicht mehr unfrei machen kann, wenn die Zreiheit im Schöpfer gewonnen ist. „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist unserm Herrn" 6). von hier aus wird auch der lebendige Sinn der Prädestinationslehre deut­ lich, in der die christliche Zreiheitslehre ihren paradoxesten Ausdruck findet. Ihr Absehen ist darauf gerichtet, die Abhängigkeit des Menschen von Gott auch dort zu erweisen, wo er sich ihm völlig entzogen zu haben meint. Der Prädestinationsgedanke will also jede rein weltliche Lösung der Zreiheitsfrage als Illusion erweisen, von hier aus erfährt das Problem der Autonomie seine schärfste Beleuchtung. Es gibt keine Autonomie, die die Allwirksamkeit Gottes aufheben oder einschränken könnte. Alle in der Welt vorkommende Ligen­ gesetzlichkeit ist gottgesetzt. Er ist es, der dem Menschen in der Gottebenbild-

3) 5) 6) Geistes,

Phil. Röm. Röm. 1935,

2,8. 2) Röm. 5,18 f. 3) Phil. 2, 8. 4) Röm. 8,17. 8,21. 8, 31, 35, 38 f.; vgl. auch Emit Brunner: vom Werk des heiligen 5.46.

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lichkeit Zreiheit und damit auch die Möglichkeit ihres Mißbrauches gab. Aber auch da, wo der Mensch sich gegen Gott entscheidet, bleibt er in der Verfügungs­ gewalt Gottes. Denn die unverrückbare Grenze, die Gott ihm setzt, liegt ja da­ rin, daß er in allem „Seinwollen wie Gott" doch nie Gott wird, sondern Ge­ schöpf bleibt. So konstruiert der Gedanke der Prädestination also anmuten und so leicht er zu unfruchtbarer Grübelei führen mag, sein Anliegen ist ganz realistisch, hier soll die ganze Wolke von Illusionen durchstoßen werden, mit der der Mensch sich seine wirkliche und unaushebbare Abhängigkeit von Gott verhüllt. Gott bleibt die alle innerweltlichen Vorgänge und ihre Eigengesetz­ lichkeit umfassende und durchdringende Urwirklichkeit. Auch die bewußte Ab­ kehr von Gott hebt die reale Abhängigkeit von Gott nicht auf. Wahre Freiheit gibt es nur in Gott. Das ist der Sachverhalt, der Luther ein besonderes Interesse an der Lehre „vom verknechteten Willen" *) finden ließ: „Da also Gott alles in allem wirkt und schafft, wirkt und schafft er notwendig auch im Satan, im Gottlosen. Er wirkt aber in ihnen so, wie sie sind und wie er sie findet, d. h. da sie sich ab­ gewendet haben und böse sind und von jener Wirkung der göttlichen Allmacht fortgerissen werden, so tun sie nur, was von Gott abgewandt und böse ist. Gleichwie wenn ein Reiter ein Pferd reitet, das nur drei oder zwei Züße brauchen kann, so reitet er es so, wie das Pferd ist, d. h. das Pferd hat einen schlechten Gang ... hier siehest du, daß, wenn Gott in den Bösen und durch die Bösen wirkt, zwar Böses geschieht, Gott jedoch nicht böse handeln kann, mag er auch Böses durch Böse ausrichten,- denn er ist selbst gut und kann nicht böse handeln, er benutzt jedoch die Bösen als Werkzeuge, die der treibenden Ge­ walt seiner Macht sich nicht entziehen können." wir sehen Luther hier also mit dem Problem der Eigengesetzlichkeit beschäftigt; er sieht durch sie eben­ sowenig die Aktivität Gottes wie die Verantwortung des Menschen ausge­ hoben. Für Gott ist sie Werkzeug. Daß Gott dieses Werkzeug so in seinen Dienst nimmt, wie er es findet, daß er den lahmen Gaul also wirklich hinken läßt, hängt damit zusammen, daß er dem Menschen die Freiheit der Entschei­ dung auch zum Bösen gegeben hat. „Es verschulden also die Werkzeuge, die Gott nicht müßig sein läßt, daß Böses geschieht, indem Gott selbst in Be­ wegung setzt. Richt anders als wenn ein Zimmermann mit einem schartigen und stumpfen Beil schlechte hiebe macht. Daher kommt es, daß der Gottlose immer irren und sündigen muß, weil er von der göttlichen Macht fortgerissen, nicht müßig belassen wirt); er muß demnach so wollen, wünschen und handeln, wie er ist." So bleibt der Mensch formal im Besitze der einmal zum gött­ lichen Schöpfungswerk gehörigen Zreiheit. Er kann sich damit gegen Gott entscheiden. Aber er kann das wirken Gottes damit nicht aufhalten, das seinen Weltplan nun unter Einbeziehung des menschlichen Abfalls durchsetzt. „Das ist fest und gewiß, wenn wir glauben, daß Gott allmächtig ist, ferner, daß der Gottlose eine Kreatur Gottes ist, aber von ihm abgewandt und sich selbst überlassen, ohne den Geist Gottes nichts Gutes will oder tun kann. Die All­ macht Gottes bewirkt, daß der Gottlose dem Anttieb und der Wirkung Gottes

x) De servo arbitrio 1525, Wfl. 18, 709, 21 ff.

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sich nicht entziehen kann, sondern notwendig ihm unterworfen und gehorsam ist. Die Verderbtheit aber und Selbstabkehr von Gott bewirkt, daß er nicht in gutem Sinn sich bewegen und fortteißen lassen kann, Gott kann seine All­ macht nicht ausgeben um jenes willen, der Gottlose aber kann seine Abkehr nicht ändern. So kommt es, daß er andauernd und notwendig sündigt und irrt, bis er vom Geist Gottes gebessert wird." Der radikalste Begriff, in dem von solcher Allwirksamkeit Gottes geredet werden kann, ist der der Verstockung. Darin kommt zugleich am schärfsten zum Ausdruck, daß der Mensch auch die Kreatur „Gottes" bleibt, wo er ganz von Gott abgewendet ist: „Der Gott­ lose wie auch sein Gebieter der Satan, hat, wie wir gesagt haben, seinen Blick ganz auf sich und das Seine gerichtet, er fragt nicht nach Gott und kümmert sich nicht um das, was Gott ist. Sein Trachten geht nur auf sein Gut, seine Ehre, seine Werke, seine Weisheit, sein Können und überhaupt sein Reich, und er will dies in Frieden genießen, wenn nun jemand ihm widersteht oder etwas davon mindern will, so läßt er krast derselben Abkehr, der zufolge er nach jenen Dingen trachtet, sich bewegen, wird unwillig und wütet wider den Gegner. Und er ist ebensowenig in der Lage nicht zu wüten, wie nicht zu wünschen und zu trachten, und ebensowenig in der Lage nicht zu wünschen wie nicht zu sein, da er eine Kreatur Gottes ist, wenn auch eine verderbte Kreatur. Das ist jenes wüten der Welt gegen das Evangelium Gottes,- denn durch das Evangelium kommt jener Stärkere, um den ruhigen Besitzer jenes Hauses zu besiegen, und verdammt diese Begierde nach Ehre, Gut, eigener Weisheit und Gerechtigkeit, und alles, worauf der Mensch sich verläßt. Gerade diese Neigung der Gottlosen, wenn Gott ihnen etwas ganz anderes sagt oder tut, als sie möchten, ist ihre Verstockung und Beschwerung" *). hiermit sind gewiß die letzten Aussagen gemacht, die menschenmöglich sind. Aber darin kommt nun auch die ganze Radikalität der christlichen Freiheitslehre zum Ausdruck, die in der Tat unüberbietbar ist, weil sie Freiheit nur als Erlösung durch Gott und zu Gott kennt, hier fällt auf die menschliche Lage das hellste Licht, das denkbar ist. hier ist versucht, des letzten Mysteriums ansichtig zu werden, das in der Freiheit liegt. Die Freiheit des Menschen kann nur von der Freiheit Gottes aus begriffen werden. Als das Ebenbild Gottes auch mit Freiheit ausgestattet, der Versuchung erlegen, sich selbst zum Gott zu machen und nun von Gott genötigt, die Konsequenzen dieser falschen Grund­ entscheidung zu tragen, bleibt er aus das Ganze und auf die Tiefe seiner Existenz gesehen für sein Tun voll verantwortlich. Er wird aus dem Schöpfungszu­ sammenhang mit Gott, er wird aus dem Anruf Gottes nicht entlassen. Es bleibt dabei, daß er den Sinn seiner Existenz selbst erkennen und vollziehen muß. wo die Freiheit des Menschen ganz radikal verstanden wird, enthüllt sie sich als Abhängigkeit von Gott, wo die Abhängigkeit des Menschen ganz radikal verstanden wird, enthüllt sie sich als Freiheit in Gott. So ist hier ein Standort gewonnen, der gleichermaßen alle echten An­ liegen des Determinismus wie des Idealismus umfassen läßt. Die absolute Spontaneität, in der der Idealismus die würde des Sittlichen begründet x) De servo arbitrio, WA. 18, 710, Jf.

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fand, ist hier verankert in dem wissen um die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Abhängigkeiten, denen der Determinismus den Menschen unterworfen sieht, sind mitenthalten in dem wissen um die seine ganze welthaste Existenz durchdringende Urschuld des Menschen. In alledem geht es im Zreiheitsproblem um ein handeln Gottes mit dem Menschen. Gott handelt auf doppelte weise: er läßt den Menschen die ganze Schwere seines Zreiheitsverlustes auskosten und ruft doch zugleich durch alle diese Abhängigkeiten hindurch den Menschen zu sich, und das heißt zu seiner Freiheit. So wird hier die Zreiheit eine in keiner Lage und durch keinerlei Umstände aufhebbare Aufgabe. Die würde des Idealismus liegt in seinem dialektischen Derhältnis zum Determinismus, die würde der christlichen Zreiheitslehre liegt in der Universalität, mit der sie sowohl das deterministische wie das idealistische Anliegen überklammert.

17. Kapitel

Der Glaube *).

Die Beziehung (les Menschen zu Gott

wir hatten gesehen, daß für alle Grundfragen der christlichen Anthropolo­ gie die Gottesfrage entscheidend ist. Daß der Mensch Geschöpf, daß er Sünder und daß er frei ist — das waren alles Aussagen, die ihre Bestimmtheit durch die Gottoffenbarung gewinnen, die ihnen zugrunde liegt. Nicht daß die christ­ lichen Aussagen über den Menschen auf theologischen Doraussetzungen ruhen, macht dabei ihren Unterschied von anderen möglichen Anthropologien aus. Aussagen über den Menschen sind stets in irgendeinem Sinn glaubensmätzig bestimmt, also nur theologisch beschreibbar. Das Christentum unterscheidet sich von anderen möglichen Theologien durch die Klarheit, Tiefe und weite seiner Gotteserfahrung. Daß die Glaubensbindungen des Menschen nicht dem Unterbewußtsein überlassen, sondern aufgedeckt und in das Licht des Bewußt­ seins gerückt und daß alle Dinge in ihrem Lichte gesehen werden, das ist die un­ terscheidende Eigentümlichkeit des Christentums. Nun mutz deutlich werden, welche konkreten Inhalte die sittliche Derantwortung des Menschen bei solch durchgängiger Abhängigkeit von Gott haben kann. Das soll uns an den Grund­ beziehungen und Grundfunttionen aufgehen, in denen der Mensch steht, seiner Beziehung zu Gott, zum Menschen und zur Welt. Es ergibt sich daraus eine dreifache Derantwortung des Menschen: die des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, die durch alle Einzelentscheidung hindurchwirkt und über sein sittliches Gesamtschicksal entscheidet. wenn wir somit zunächst unsere Erörterungen über den Glaubens­ charatter der sittlichen Zorderung wieder aufnehmen, und nun auch hier die christliche Anschauung gewinnen, so finden wir hier ins Bewutztsein gehoben und in klaren Konturen ausgezeichnet, was im Bereich der nattlrlichen Re0 Heinrich Beackert: Der Begriff des Glaubensaktes, Leipz. Diss. Würzburg 1935. — Emanuel Hirsch: Der Glaube nach evang. und röm.-kath. Anschauung, 1931 (in: Der röm. Katholizismus u. d. Evangelium). — h. Stephan: Glaubenslehre, 1928a, S. 34—84. — S- w. Schmidt: Glaube (dogmatisch), RGG 2 II, 1212 ff. — Karl Thieme: Die sittliche Triebkraft des Glaubens, 1895.

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ligion nur in verschwebenden Umrissen erkennbar war und vielfach im Dunkel -es Unterbewußtseins versank. Damit wird die Glaubensgrundlage des Sittlichen auch erst ethisch überschaubar. In einer so entscheidenden Krage wie der des Glaubens ist Klarheit schließlich überhaupt eine einfache Existenzfrage. E§ gehört unaufgebbar zur würde des Menschen, daß er um die sein Leben bestimmenden Mächte wisse. Und vollends läßt die Krage der menschlichen Verantwort­ lichkeit sich nur beantworten, wenn das Tätigkeitsfeld klar vor dem erkennen­ den Blick liegt. In diesem Sinn drängt sich denn nun hier der Urbildcharakter der christlichen Glaubensaussagen auf. Er tritt darin hervor, daß sich von hier aus alle sonst möglichen Gestaltungen des Glaubenslebens ebenso in ihrem Sinn wie in ihrer Grenze verstehen lassen. Darin erschließt sich offenbar eine der Grundvoraussetzungen für die Erkenntnis geistiger und vollends religiöser Phänomene: alles tiefer dringende Erkennen ist hier abhängig von einem wissen um die Urformen, an dem wir unwillkürlich die Erscheinungen messen; das Unvollkommene kann offenbar nur vom vollkommenen, das Unentfaltete vom Entfalteten, das Dunkle nur vom Hellen, das Undeutliche nur vom Deut­ lichen, das Ungestaltete nur vom Gestalteten, das vorbereitende nur vom Erfüllenden, der Teil nur vom Ganzen, das schattenhafte Abbild nur vom leib­ gewordenen, geschichtsmächtigen Urbild aus verstanden werden. Diese allgemeinen Gesichtspunkte bewahrheiten sich nun an den Einzelaussagen, die hier zu machen sind. Im christlichen Verständnis des Glaubens begegnen uns alle formalen Eigentümlichkeiten des Glaubensaktes, die wir uns vergegenwärtigt haben: Existentialität, Unmittelbarkeit und Entschei­ dungscharakter in denkbar größter Radikalität, Bestimmtheit und weite. Vas zeigt sich schon am Merkmal der Existentialität. Es kann, genau ge­ nommen, nur vom christlichen Schöpfungsglauben aus wirklich in der Tiefe verständlich werden, wir hatten gesehen, daß es hiernach zur Existenz des Menschen gehört, etwas zu haben, worauf er „sein herz hängen und verlassen" kann. Er ist nicht gefragt, ob er glauben will. Er steht hier unter einem un­ ausweichlichen Zwang. Leben heißt, glauben können, heißt, etwas haben, „dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten"T). Absolute Glaubensunfähigkeit wirkt schlechterdings tödlich, wir stoßen hier also auf eine Seite des menschlichen Wesens, die unserem Belieben völlig entnommen ist. hier finden wir uns in schlechthinniger Abhängigkeit, hier verfügen wir nicht, hier wird über uns verfügt, hier entwerfen wir nicht, hier sind wir entworfen, hineingeworfen in eine Notwendigkeit, die sich an uns vollzieht auch ohne unser wissen, ja gegen unseren ausdrücklichen willen. In diesem Sachverhalt erkennt die Bibel den Tatbestand der Schöpfung, wenn wir überhaupt unseres letzten Ursprungs ansichtig werden können, dann stehen wir in dieser unausweichlichen Glaubensnötigung vor dem Geheimnis unserer Abhängigkeit vom Schöpfer, von hier aus wird auch der totale, das Ganze unseres Lebens umfassende und durchdringende Eharakter des Glaubens erst voll verständlich, wenn Gott der allwirksame Urgrund alles Lebens, und wenn in der Glaubensnötigung der Schöpfer wirksam ist, dann kann es schlechterx) Luther: Großer Katechismus, 1. Gebot, WH. 30, I, 133, 1 f.

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-ings keinen Lebensbezirk geben, für den der Glaubensvollzug gleichgültig wäre. Wit sind in allen Bereichen unseres Lebens die von Gott Geschaffenen und werden uns, so sehr wir sie verfälschen mögen, dieser Urtatsache auf keine Weise entziehen können. von hier gewinnt nun auch das Moment der Unmittelbarkeit erst seine tiefste Bedeutung. Die Unmittelbarkeit des natürlichen, sich selbst über­ lassenen Glaubenslebens trägt zumeist Teilcharakter: sie quillt nicht aus der letzten Tiefe, sondern nur aus Teilbezirken der Seele, und sie entzündet sich nur an Teilinhalten des Weltlebens — mag es sich um Glauben an „Geld und Gut", den „allergewöhnlichsten Abgott auf Erden" oder an „große Kirnst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre" handeln *). Für das christ­ liche Glaubensverständnis handelt es sich um eine Unmittelbarkeit ursprüng­ lichster, alle seelischen Einzelkräfte durchwirkender, totaler Art. Der Glaube quillt hier aus der letzten Tiefe des menschlichen Wesens, in der die einzelnen Funktionen des Seelenlebens noch zu ursprünglicher Ganzheit vereint sind, und durchwirkt so alle Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensäußerung. Diese alles durchdringende Ursprünglichkeit findet ihren bezeichnendsten Ausdruck darin, daß der Glaube hier den Willen zu klarer Erkenntnis in sich aufnehmen kann, ohne sich selbst zu zerstören, hier hängt ja alles daran, daß es der rechte Gott und nicht ein Abgott ist, auf den die Glaubenssehnsucht sich richtet. Wenn ich an das Geld oder ein anderes irdisches Gut „glaube", so wird sich das Glaubensgut im Dunkel des Unterbewußtseins vor der grellen Beleuchtung durch den Erkenntniswillen in Sicherheit bringen, weil es seine Demaskierung fürchtet. Das Christentum muß die Frage der Wahrheit und Würdigkeit des Glaubensobjektes stellen, wenn es sich nicht selbst aufgeben will. Ihm geht es ja um die Wirklichkeit Gottes, nicht etwa um bloße Veftiedigung religiöser Bedürfnisse, hier hängt alles daran, daß der Glaube nicht daneben greift, sondern wirklich auf Gott trifft, hier ist also äußerste geistige Wachsam­ keit und Helligkeit gefordert. Der Glaube darf keine Selbsttäuschung dulden. Er darf nicht nur subjektiv echt, er muß objektiv richtig sein wollen. Jesus weiß freilich genau, daß dieses Ineinander von wesenhafter Ur­ sprünglichkeit und Klarheit des Glaubens ständig in Gefahr ist, auseinander­ zubrechen. Das hängt mit der Schwäche der menschlichen Natur zusammen, die zutiefst in der Ursünde der Verwechslung von Gott und Welt begründet ist. Der Glaube kann in der Bewußtheit die Wesenhaftigkeit verlieren. Dann entsteht eine Bewußtseinsfrömmigkeit*2), die zu bloßem Wissen um Gott er­ starrt, aber nicht mehr die Kraft hat, das ganze Leben zu durchdringen. Darin hat Jesus die gefährlichste Verfälschung des Glaubenslebens gesehen und sie in den Pharisäern und Schriftgelehrten unerbittlich bekämpft. Der Pharisäis­ mus stellt die am schwersten durchschaubare Form der Gottverfehlung, ja der Gottlosigkeit dar, weil er an und für sich richtige Vorstellungen von Gott unvermertt an die Stelle der lebendigen Wirklichkeit Gottes tteten läßt. So *) Großer Katechismus, 1. Gebot WA. 30 I, 133 f. 2) Ihr gilt der Lebenskampf Johannes Müllers in der für seine ganze Arbeit grundlegenden Unterscheidung von Bewußtsein und Wesen, Bewußtseins- und We­ senskultur, in der er eine wesentliche Seite öes' Evangeliums rviederentdeckt hat.

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entsteht dann ein „Herr, Herr"-Sagen ohne eine Verwurzelung des ganzen Lebens in Gott. Jesus hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß auf dieser Verfälschung des Glaubenslebens das schwerste Gericht liegt. „Der Knecht, der seines Herrn willen weiß und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem willen getan, der wird viele Streiche leiden müssen...; welchem viel be­ fohlen ist, von dem wird man viel fordern" *). helfen kann gegen diesen Zerfall der Ganzheit des Glaubens nicht die Flucht in das bergende vunkel des Unbewußten, sondern nur das Durchdringen zur ganz ursprünglichen Fülle und Tiefe des Glaubens, helfen kann nur die totale Unmittelbarkeit, die Fülle und Klarheit, Bewußtsein und Wesen miteinander verbindet. Gb einer in diesem evangelischen Sinne des Wortes an Gott glaubt, kann ich nicht schon an seinen Aussagen, seiner Rede über Gott, seinem Bekenntnis zu Gott, die gewiß ihre große Bedeutung haben, sondern nur an seiner ganzen Haltung, seinem willen zur Nachfolge ablesen, hier kommt alles auf die innere Verfassung, auf die Wesensstruktur des Glaubens und des ganzen Menschen an, für die der praktische Gehorsam immer das beste Kriterium bleibt. Jedenfalls bedarf es hier eines durchdringenden Blicks für das Ganze, der Schein und Wesen auseinanderzuhalten und alles Blend­ werk zu durchschauen vermag. Sein eigentlich christliches Gepräge aber gewinnt der Glaubensbegriff erst durch die Klarheit, in der der Entscheidungscharakter des Glaubens hier hervortritt. Ruch auf dem Boden der natürlichen Theologie läßt sich zwar von dem Wagnis- und Entscheidungscharakter des Glaubens reden. Und er ist es ja wesentlich, der heute interessiert. Die ganze natürliche Theologie der Gegenwart ist Entscheidungsphilosophie. Man berauscht sich förmlich am Entscheidungs- oder Schicksalscharakter des Glaubens. Dem Evangelium ist dieses Motiv nun durchaus wesenseigentümlich. Man denke an das Wort: „wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes". Oder an das noch härtere: „Laß die Toten ihre Toten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes"*2). Uber hier fällt aller Nachdruck auf das wie der Entscheidung - Entscheidung versteht sich von selbst. Es gibt aber richtige und falsche Glaubensentscheidung. Es kommt alles daraus an, daß ich mich richtig entscheide. Man kann das nicht radikaler aus­ drücken als Luther, der so kühn ist, zu sagen, daß „allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht,- und wiederum wo das vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott"3). wenn somit hier alles auf den richtigen Vollzug des Glaubensaktes an­ kommt, — welches Kriterium gibt es hier für richtig und falsch? Luther sieht es bezeichnet im 1. Gebot, das „fordert rechten Glauben und Zuversicht des Herzens, welche den rechten einigen Gott treffe und an ihm allein hänge"4). (Db der Glaube recht oder unrecht, ob die Glaubensentscheidung richtig oder J) Luk. 12,47 f.; vgl. noch bes. das Gleichnis von den zwei Söhnen, Matth. 21, 28-32. 2) Lk. 9, 62 u. 60. 3) Großer Katechismus, 1. Gebot, WA. 30 1, 133, 3 ff. 4) ebenda 9 ff.

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falsch vollzogen ist, kann danach nicht vom Gläubigen, sondern nur vom Glau­ bensobjekt aus beurteilt werden. Ls gibt subjektiv echten Glauben, der ob­ jektiv falsch ist. hier hängt alles an der Frage nach dem wahren Gott, wie kann ich ihn erkennen? Ich kann ihn finden, wenn ich mich ganz rein an den in­ nersten Sinn des Glaubens hingebe, wenn wir uns den Sachverhalt von Luther erklären lassen, der hier wirklich Sachkenner war, so suche ich im Glauben einen Ankergrund, an den ich mich mit aller Kraft der Hingabe anschliehen kann, weil ich hier heil inmitten aller heillosigkeit, Sinn inmitten aller Sinn­ losigkeit, Sicherheit inmitten aller Unsicherheit des Weltlebens finde. Ich will etwas haben, worauf ich mich „gänzlich verlassen" kann. Letzte Erfüllung kann dieses verlangen nur in der Hingabe an einen Gott finden, der alle Motive des Gottverlangens auf sich zu ziehen, der alle Gottsehnsucht zu stillen ver­ mag, der aller heillosigkeit, Sinnlosigkeit, Unsicherheit wehren kann. „Darum will er uns von allem andern abwenden, das außer ihm ist, und zu sich ziehen, weil er das einzige ewige Gut ist. Als sollte er sagen: was du zuvor bei den heiligen gesucht oder auf den Mammon und sonst vertraut hast, deß versiehe dich alles zu mir und halte mich für den, der dir helfen und mit allem Guten reichlich überschütten will" *). Für Luther ist also der Glaube an den in Christus offenbar gewordenen einen Gott des Glaubensbekenntnisses des­ halb der allein rechte Glaube^ weil sich so allein die Sehnsucht erfüllen kann, die im Glauben wirksam ist. Dieser Gott allein ist „die Fülle, die alles in allen erfüllt". Ein anderer Gott verdient die Hingabe nicht, die sich ihm im Glauben zuwendet. Er kann seiner ganzen Natur nach die Inbrunst nicht stillen, die hier aufbricht. Der richtige Glaube unterscheidet sich vom falschen durch seinen Erfüllungscharakter. Im Glauben sucht der Mensch einen unerschütterlichen, vom Tod und jeglicher andern Unsicherheit und Sinnlosigkeit des Erdenlebens nicht anfechtbaren Wirklichkeitsgrund. Der kann nur weltjenseitig im Sinn der christlichen Gottesoffenbarung sein, da nachweisbar alles welthaste Leben den Bedrohungen unterworfen ist, gegen die wir in der Glaubenshingabe Hilfe suchen-). Eine falsche Losung der Glaubensftage findet danach also dort statt, wo sich der Glaube auf Endliches, Bedingtes, statt auf den unendlichen, unbedingten Urgrund alles Lebens, auf das Geschöpf, statt aus den Schöpfer richtet. Alle Verabsolutierung welthaster Gegebenheiten ist Verwechselung von Gott und Welt, ist Abgötterei, ist Götzen­ dienst — trotz aller edelsten Kräfte, die dabei im Spiele sein mögen. Alle subjettive Echtheit und Aufrichtigkeit kann einen objektiven Irrtum nie aus­ heben. hier wird noch einmal besonders deutlich, was Erbsünde eigentlich ist und welche Wirkung sie auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen hat. Sie besteht nicht in dieser oder jener Einzelsünde, sondern in der tiefgewurzelten 30 I 134, 24-29. 2) Max Sdreier hat dasselbe Kriterium im Auge, wenn er es für den „religiösen Akt" als entscheidend ansieht, ob er das „ihm adäquate Objekt findet, das Ideen­ korrelat, zu dem er wesensmätzig gehört, oder ob er auf ein Objekt zielt und es als heilig und göttlich, als absolutes wertgut bejaht, das seinem Wesen widerstreitet, da es der Sphäre endlicher, kontingenter Güter angehört" (vom Ewigen im Menschen, S. 559).

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Neigung des Menschen, den Glaubensakt falsch zu vollziehen und Gott und Welt, Gott und Abgott miteinander zu verwechseln. Es will nun wieder gesehen sein, daß wir Menschen auf Schritt und Tritt in der Gefahr dieser Verwechselung stehen, daß der Glaube also immer den Charakter einer Grundentscheidung behält. Es war einer der verhängnisvollsten Kurzschlüsse, die sich aus der intellektualistischen Verflachung des Glaubens im kirchlichen Christentum ergaben, daß man der Meinung war, das Heidentum habe von dem Augenblick an alle Aktualität verloren, wo man sich bewußtseinsmäßig von ihm abgewendet hat. In Wirklichkeit sitzt uns die Neigung zu heidnischer Weltvergötterung im Blute — das ist der ganz einfache und keineswegs überstiegene Sinn der Erb­ sündenlehre. In tausend Abwandlungen begleitet uns von der wiege bis zum Grabe die Sucht, Irdisches an die Stelle Gottes zu setzen und es mit einer Inbrunst zu umfassen, die nur Gott zukommt. Vieser unheimliche Sachverhalt ist um so schwerer durchschaubar, als er sich nicht mit dem Glaubensbewußtsein deckt, sondern durchaus eine Frage der Glaubensstruktur ist. Vie for­ malen Kriterien des Glaubensaktes erhalten sich auch in der Abgötterei. „Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies: und wiederum, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott"x). Erst wenn man diesen Zusam­ menhang ganz klar vor Augen hat, wird deutlich, wie tiefgreifend der Wesens­ umbruch ist, den die Erbsündenlehre beschreiben und vorbereiten will. Denn über allen diesen Feststellungen liegt ja kein hauch von Resignation, vielmehr wollen sie das Banner der Verantwortung auch in den verborgensten Bereichen des Seelenlebens auftichten. Venn nun wird ja deutlich, daß es sittliche Verantwortung für den Glauben gibt. Diese Erkenntnis ist grundlegend für alle sittliche Wiedergeburt, vom Standpunkt der natürlichen Religion aus könnte man nämlich sagen, in jenen innersten Bereich der menschlichen Seele, in dem die Glaubensent­ scheidungen tief im Dämmer des Unbewußten sich vollziehen, dringe kein sitt­ licher Anruf, hier sei alles Schicksal. So kann man in den Glaubenskämpfen der Gegenwart denn auch kein wort nachdrücklicher ausgesprochen finden als das wort Glaubensschicksal. In der Cat ist diese Sphäre auch allem mensch­ lichen Zugriff entzogen. So muß denn auch jede autonome Begründung der Ethik hier endgültig versagen — wie denn auch die natürliche Religion hier kapitulieren muß. Venn sie kennt keine höhere Instanz als das religiöse Er­ leben. Ist aber der Glaube bewußt oder unbewußt die (Quelle alles sittlichen Cuns, so hängt alle sittliche Gesundheit, Stetigkeit und Kraft von der Frage ab, ob es ein Richteramt über dem Glauben gibt, ohne diesen in der Wurzel zu verfälschen. Es kann aber nur eine einzige Autorität geben, die auch dieser tiefstverborgenen Wurzel alles sittlichen Tuns, dem Glauben, gegenüber noch ein undedingtes „Du sollst!" geltend machen und dadurch weckend und rei­ nigend, statt lähmend und verfälschend wirken»kann. Diese Autorität ist Gott selbst. Das Gebot aber, das somit zum sittlichen Grundgebot wird, heißt: „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir" *2). Damit ist der x) Gr. Kat., WA. 30, I 133, 25 ff. 2) 2. Mose 20, 3 u. 5. Mose 5, 7.

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Mensch ein für allemal verantwortlich gemacht für die richtige Lösung der Glaubensfrage. Oer Begriff der sittlichen Verantwortung erfährt damit seine letztmögliche Vertiefung und Ausweitung. Erst damit enthüllt sich die unauf­ lösliche Dialektik ganz, in der sich im Evangelium Glaube und Sittlichkeit zu völliger Einheit verbinden. So gewinnt der Glaube weltumspannende weite, das Ethos aber eine letzte Ursprünglichkeit und Tiefe. So erst wird die feinste Form der Verfälschung des Sittlichen erkennbar und überwindbar: jene letzte feinste Form des Götzendienstes, der in der Selbstvergötterung des mora­ lischen Bewußtseins liegt. Jesus hat sie in seinem Kampf gegen den Pharisäismus unerbittlich bloßgestellt. „Kann man auch Trauben lesen von den Dornen und Zeigen von den Disteln?... Ein guter Baum kann nicht arge. Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen... Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen" T). So erklärt sich auch das paradoxe Wort: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirfs von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde"2). Das ist wahrlich kein moralisches Einzelgebot,- es ist ein Weckruf, der sich auf die Glaubensgrundlage aller Moral bezieht, wenn Auge, Hand und Fuß von Gott abdrängen, wenn das irdische Interesse, so berechtigt es sein mag, sich an die Stelle Gottes setzen will, dann ist die (Quelle, bann ist das Ganze des Lebens in Frage gestellt. Dann geht es nicht mehr um dies und das, sondern um das nackte Leben, wo Auge, Hand und Fuß Absolutheitsansprüche stellen, wo sie sich für das Ganze ausgeben, wo sie Glaubensobjekte werden, wo sie letzte Erfüllungen vorgaukeln, müssen sie um des Ganzen willen geopfert werden — nicht im Sinn einer pedantischen Buchstabengerechtigkeit durch mechanische äußere Zerstörung, sondern so, daß der weg zu Gott wieder frei­ gelegt, das Glied dem Ganzen wieder eingeordnet und der Unendlichkeits­ hunger vom Geschöpf wieder auf den Schöpfer abgelenkt wird. Das Evangelium treibt also die sittliche Verantwortung bis in die aller­ tiefste und verborgenste Lebensbeziehung hinein vor, in der der Mensch steht. Damit gewinnt die Glaubensentscheidung den Eharakter einer sittlichen Grundfunktion, der sich nun nach zwei Seiten hin erweist. Das Ethos ge­ winnt, damit eine unerschöpfliche Spannkraft und eine unbegrenzte weite. Beides hängt damit zusammen, daß sich nach dem Verständnis des Evangeliums der Mensch im Glauben Gott öffnet. Seine Gottebenbildlichkeit wird wieder bild- und wirkungskräftig, sobald er den Krampf, sein zu wollen wie Gott, auf­ gibt. Er erkennt sich als Kind Gottes. „Gott widersteht den hoffärttgen, aber den Demüttgen gibt er Gnade" 3). Gnade aber ist ja Ausrüstung mit göttlicher Lebensvollmacht. Nur so erklären sich die unerhörten Glaubens­ worte des Neuen Testaments. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt" 4). „So ihr Glauben habt wie ein Senfiorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein"5). hier gibt die Welt ihren widerstand gegen ein mächtig x) Matth. 7, 16 ff.; dazu 15, 3, 7-9,11,13. 2) Matth. 5, 29-30. 3) 1. Petri 5, 5. 4) Mark. 9, 23. 5) Matth. 17, 20.

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andringendes und alles von Grund aus erneuerndes Leben auf x). Ls ist nicht zufällig, daß sich diese Gewißheit in so vielen heilungsberichten niedergeschlagen hat. In der Krankheit offenbart sich uns die Welt in ihrer ganzen Sinnwidrig­ keit und Lodbedrohtheit am unmittelbarsten. Da werden uns die Augen dafür aufgerissen, daß wir auf einem Kampffeld stehen, auf dem Tod und Leben miteinander ringen, hier hat Lhristus unzweifelhaft die Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, erleben lassen, daß dem Menschen nicht aus eigener Vollmacht, sondern nur in der Lmpfangsbereitschast für Gott geholfen, dann aber auch wirklich geholfen werden kann. Der Glaube schafft also eine völlig neue Lage für den Menschen. Er wird zum Organ göttlicher Schaffens­ kraft. was vorher unmöglich war, wird nun möglich. Denn Gott ist die Ktaft, die alle Weltnot überwindet und die in Lhristus jedem helfen will, der sich ihrem schaffenden, ordnenden und erneuernden walten öffnet. Diese Trieb­ kraft des Glaubens ist auch für Luther Ursprung und Erneuerungsquell alles sittlichen Lebens. Alle sittliche Ktaft entspringt aus der gläubigen Anerkennung der rechtfertigenden Gnade Gottes. Der Glaube ist ihm „ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, Joh. 1, und tötet den alten Adam, macht uns ganz ander Menschen von herz, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den heiligen Geist mit sich. G es ist ein lebendig, schäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß er nicht ohn' Unterlaß sollt Guts wirken" 2). „Christliche Heiligkeit ist die, wenn der heilige Geist den Leuten Glauben gibt an Lhristus und sie dadurch heiliget, d. i. er macht neu herz, Seele, Leib, Werk und Wesen und schreibt die Gebote Gottes nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischliche herzen. 2. Kor. 3" 3). „Die Person macht niemand gut denn allein der Glaub, und niemand macht sie böse denn allein der Unglaub". „wie dir der Glaube die Seligkeit und das ewige Leben bringt, so bringt er dir auch mit sich gute Werke und ist unaufgehalten. Denn gleich wie ein lebendiger sich nicht kann enthalten, er muß sich regen, essen und trinken und zu schaffen haben, und nicht möglich ist, daß solche Werke können außen bleiben, weil er lebt, daß man ihn nicht bedarf heißen und treiben, solche Werke zu tun, sondern, wenn er nur lebendig ist, so tut ess — also auch bedarf man nicht mehr dazu, daß man gute Werke tu', denn daß man sage 'glaube nur, so wirst du es alles von dir selbst tun'. Darum bedarfst du nicht lange gute Werke fordern von dem, der da glaubt. Denn der Glaube lehrt es ihn alles und dann ist's alles wohlgetan, was er tut, und sind eitel köstliche gute Werke, wie gering sie auch pnö; denn der Glaube ist so edel, daß er's alles gut macht, was am Menschen ist. Nun ist es unmöglich, daß so ein *) „Sollten wir nicht in solchen Worten, — so fragt Friedrich Rittelmeuer (in seinem Buche „Jesus" 1912, S. 53) — gerade weil sie so rücksichtslos überkühn aus seinem herzen hervorbrechen, dem innersten Lebensgefühl Jesu am nächsten sein? Und was dann? Dann muß Jesus in sich ein Gewoge des Lebens getragen haben, so gewaltig, wie wenn vor ihm die Welt nicht fest sei, wie wenn die Welt aus ihm neu werden wolle. Dann muß er in sich einen Kraftüberschwang gefühlt haben, so drängend mächtig, wie wenn sich in ihm die Kräfte der Schöpfung regten, wie wenn der Atem des Welterschaffens in ihm die Welt anwehen wolle." 2) Vorrede aus d. Epistel S. Paul an d. Römer. E. A. 63, 124 f. 3) von den Konziliis und Kirchen, 1539. WA. 50, 626, 15, 19.

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Mensch aus Erden lebe, nicht etwas zu thun hab', darum sind solche Werke, so aus dem Glauben geschehen, eitel köstliche Werke" *). Neben dieser dynamischen Spannkraft erweist der Glaube seinen Charakter als sittliche Grundfunktion besonders noch in der Universalität, mit der er den Gesamtbereich menschlicher Aktivität umfaßt und durchwirkt. Das wird von einer Äußerung Luthers aus besonders deutlich: „Das haben wir (sagt 1. Petri 1, 4) durch die Kraft des Glaubens, daß wir teilhastig sind und Gesell­ schaft oder Gemeinschaft mit der göttlichen Natur haben... was ist aber Gottes Natur? Es ist ewige Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit, ewig Leben, Zriede, Zreude und Lust und was man gut nennen kann" *2). Damit ist gesagt, daß der Mensch im Glauben nicht nur an der Kraft, sondern auch an der All­ wirksamkeit Gottes teilgewinnt. Es kann keine Emanzipation des Ethos vom Glauben geben. Jede Privatisierung des Glaubens, jede Aussonderung ein­ zelner Gebiete menschlichen handelns vom Glauben widerstreitet der ethischen Schau des Evangeliums grundsätzlich. Der Mensch kann nur entweder an Gott glauben oder nicht an Gott glauben. Der Glaube an Gott richtet alles mensch­ liche handeln aus. Kein irdischer Lebensbereich kann sich der belebenden Kraft des Glaubens entziehen, wenn Glaube wirklich „Gemeinschaft mit der gött­ lichen Natur", Begegnung des Geschöpfes mit dem Schöpfer, Leibwerdung Gottes im Menschen bedeutet. Damit ist allem sittlichen Tun der Eharakter einer eigentümlichen Polarität ausgeprägt. Glaube an Gott, den Schöpfer und Erlöser, begründet zu allen Inhalten des Weltlebens, immer zugleich radikalen Abstand und radikale Nähe, radikale Entwertung und radikale Erfüllung, radikales Nein und radikales Ja, radikale Dergleichgültigung und radikale Hingabe. Die Lösung dieser scheinbar unvereinbaren Gegensätze liegt darin, daß in ihrer Radikalisierung zugleich ihre Überwindung liegt: in Gott vereinigt sich, was in der sündhaften Zer­ spaltung des wirklichen Lebens getrennt ist. hier wird an Gott, den Schöpfer, aber nicht an das Geschöpf geglaubt. Und Schöpfer und Geschöpf sind hier nicht identisch, sondern bei aller unaufhebbaren Einheit schuldhaft tragisch getrennt. Glaube bedeutet hier, die Trennung durchgreifen, die Verbindung mit dem Ursprung gewinnen, sich den Kräften des Ursprungs öffnen. Das ist eine im wahrsten Sinn des Wortes unendliche Aufgabe, die kein einzelner, keine Generation, kein Zeitalter, kein Kulturkreis, kein Dolk, keine Rasse zu erschöpfen vermag. Glaube heißt hier ja „Leib Ehristi" werden, den zentralen Sinn alles Weltgeschehens, die ewige Aufgabe aller Geschichte in der Gliedschaft am Leibe Ehristi sehen und für Individuen, Dotier, Rassen, Kulturkreise die Dollmacht zu echten Verwirklichungen von Gott, im Organwerden für Gott, in der „Gemeinschaft mit der göttlichen Natur" erwarten. Die hier bezeichnete Polarität aufheben wollen, heißt das Ethos in der Wurzel austrocknen und vergiften. Ihrer wieder ansichtig zu werden und sie wieder tragen zu lernen, das wird der einzige weg sein, aus all den Zerspaltungen herauszukommen, die das Leben zerreißen. Alles in allem stellt der Glaubensakt die äußerste Möglichkeit dar, die

predigten des Jahres 1523, WA. 12, 559, 20 ff.; dazu Lonk. Aug. XX. 2) WA. 14, 19.

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Grundlegung

in die Entscheidung des Menschen gelegt ist. Lr ist nicht Schöpfer, aber er darf die Hand ausstrecken nach dem Schöpfer. Gewiß, es sind, wie die orthodoxe Dogmatik mit Recht betont hat, manus mendici, die Hände eines Bettlers. Gott hat sich die Entscheidung vorbehalten, ob er bittenden Gebärden die Gewährung folgen läßt. Das ist der unumstößliche Sinn der Rechtfertigungs­ lehre. Sicher aber ist, daß die menschliche Empfangsbereitschast in dieser letzten Frage der einzige weg der Rettung ist. Leben gibt es für den Menschen nur so, wie Michelangelo es in seiner Erschaffung Adams dargestellt hat: der Singer Gottes muß die sehnsüchtig ausgestreckte Hand des Menschen berühren, daß der göttliche Funke des Lebens überspringen kann vom Schöpfer in das Ge­ schöpf. „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde" „aus Gnaden" sind wir gerecht geworden, „ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben", „daß sich vor ihm kein Fleisch rühme"1).

18. Kapitel

Die Liebe.

Die Beziehung des Menschen zum Menschen

r Mit den Erläuterungen, die wir dem Glaubensakt gegeben haben, ist der tiefstverborgene Tuellort menschlicher Aktivität bezeichnet, dessen Wirkungen den Gesamtbereich menschlichen handelns durchdringen. Gb unser Ver­ antwortungsbewußtsein bis in diesen verborgensten Wurzelbereich unseres Lebens vordringt oder nicht, das entscheidet letztlich über die schöpferische Kraft, Tiefe und Reichweite unseres sittlichen Tuns. Die Eigenart des Ehristentums liegt darin, daß es diese äußerste Grenze menschlicher Verantwortung uns so scharf ins Bewußtsein hebt, als überhaupt möglich ist. Mit alledem ist aber nun eine zwar entscheidende, aber doch noch immer sehr allgemeine Aus­ sage gemacht, die dringend der Konkretisierung bedarf. Das Leben besteht nicht nur aus Glaubensakten. Es ist davon umfaßt und durchblutet,- aber es ist nicht davon ausgefüllt. Die beiden Grundbeziehungen, an denen sittliches Verantwortungsbewußtsein praktisch werden kann, sind das Verhältnis des Menschen zum Menschen und das Verhältnis des Menschen zur Welt. An ihnen muß sich auch noch deutlicher zeigen, welche konkrete sittliche Bedeutung das Glaubensverständnis des Evangeliums für uns haben kann. wesentlich ist dabei nun, daß im Evangelium die Liebe zu Gott unttennbar mit der Liebe zum Nächsten verbunden ist. Vas Gebot der Gottesliebe schließt 0 Hörn. 5, 1; 3, 24, 28; 1 . Kor. 1,29. 2) p. Althaus: Communio sanctorum, 1929. — G. Baumgarten: Liebe (ethisch), RGG.2 III, 1641 ff. — Maria Fuetth: Caritas und humanitas. Zur Form und Wandlung des christlichen Liebesgedankens, 1933. — L. Grünhut: Eros und Agape. Eine metaphysisch-religionsphilosophische Untersuchung, 1931. — Hans Haas: Idee und Ioeal der Feindesliebe in der außerchristlichen Welt, 1927. — S. Kierkegaard: Leben und walten der Liebe, übers. 1890 u. 1924. — M. Luther: von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520. — Anders Hygren: Eros und Agape. Gestattwandlungen der christlichen Liebe, 1930. — M. Scheier: Wesen und Formen der Sympathie3, 1926. — h. Scholz: Eros und Caritas, 1930.

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das Gebot der Liebe zum Nächsten in sich. Das eine erläutert sich am anderenx). Es ist nicht möglich, Gott zu lieben ohne den Nächsten und es ist nicht möglich, den Nächsten zu lieben ohne Gott. Damit erst ist aller Dieldeutigkeit des natür­ lichen Gotterlebens ein Ende gesetzt. Gerade daß Jesus gewiß ist, hierin auch den Angelpunkt der überlieferten Dolksreligion bezeichnet zu haben, ist we­ sentlich. Das Doppelgebot der Liebe wird so zum Maßstab für den Sinngehalt und zum Schlüssel für das Derständnis aller Gottsehnsucht und Gotterfahrung. Gott lieben heißt dabei, im Glauben an Gott den Ursprung und den tragenden Sinngrund des eigenen Lebens ergreifen. Im Gebot der Gottesliebe geht es um den Existentialsinn, um die Lebensnotwendigkeit des Gottglaubens. Damit ist aller intellektualistischen Erstarrung und Entleerung des Glaubens gewehrt. Den Nächsten lieben, heißt, aus dieser letzten im Glauben gewon­ nenen Lebensmitte heraus eine Beziehung zum anderen gewinnen, ihn in das eigene Lebensgefühl aufnehmen, es heißt, den anderen im Lichte des Glaubens, ja mit den Augen Gottes sehen. Es heißt, das Ja, das Gott zu ihm spricht, nachsprechen. (Es heißt, zum Grgan, zum Medium für das handeln Gottes am Menschen werden. Es ist deutlich, daß damit dem Menschen eine ganz entscheidende Be­ deutung für die Derwirklichung des göttlichen Weltplanes zukommt. Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch wird der entscheidende Grt für die Derwirklichung der Herrschaft Gottes auf Erden. Es ist also von ausschlaggebender Bedeutung, vom sittlichen Sinn der Liebe ein möglichst plastisches Bild zu gewinnen. Da will denn nun zunächst beachtet sein, daß Liebe im Evangelium kein moralischer, sondern ein theologisch-existentieller Begriff ist. Es ist nicht zufällig, daß das Neue Testament dafür auch ein besonderes Wort aycm-äv bzw. ’Ayarn] hat*2). Man könnte es, da wir im Deutschen keinen ent­ sprechenden Ausdruck haben, mit „heiliger Liebe" übersetzen, wenn damit nicht die Gefahr seiner Entrückung in eine vom Leben abgesonderte religiöse Sphäre verbunden wäre. Es bleibt also nur der Dersuch einer möglichst plastischen Beschreibung übrig. 1. wir wollen in diesem Sinn zunächst von radikaler Ursprünglichkeit reden. Diese Liebe ist ursprünglich im eigentlichen Sinn des Wortes, weil sie nicht aus einer anderen seelischen Funktion abgeleitet, sondern nur vom Ursprung des Menschseins her verstanden und wirksam werden kann. Sie hängt mit der Menschwerdung des Menschen zusammen. Sie will deshalb alle Beziehungen zwischen Mensch und Mensch untergründen und erst wahr­ haft menschlich machen, aber sie ist nicht selbst untergründet. Ursprünglichkeit ist nicht dasselbe wie Unmittelbarkeit. Der Trieb ist unmittelbar. Liebe kann nicht auf Trieb, (Eros, Libido oder Sexus zurückgeführt werden — das kann nur O Matth. 22, 36-40; dazu 5. Moses 6, 5 u. 3. Mose 19,18. 2) Das Wort äyonräv = lieben kommt seit Homer vor und hat die bezeichnende Nebenbedeutung des Zufriedenseins und des sich Begnügens. Die sonst im helle­ nistischen Griechisch für Liebe gebrauchten Ausdrücke werden wie das sinnlich gefärbte Spcos und £päv völlig vermieden oder treten ganz zurück.

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ein platter Naturalismus oder Monismus meinen, der das Unterscheidungs­ vermögen für Gefäß und Inhalt verloren hat1). Radikalität eignet der Agape aber deshalb, weil sie aus dem letzten Ur­ sprung des Menschseins abgeleitet wird. Sie strömt mit den Glauben aus der tiefsten Quelle des Lebens. Sie will wie der Glaube als Einbruch Gottes in den Menschen, als Aufbruch des Schöpfers im Geschöpf rerstanden sein. Mit dieser theologischen Bestimmung ihrer Radikalität ist der christliche Lie­ besbegriff gegen jeden psgchologismus, wie überhaupt gegen jede andere Liebesauffassung abgegrenzt. Deshalb vor allem reicht hier )er Begriff der Unmittelbarkeit nicht aus. Gefühlsregungen können ganz unmittelbar, ganz spontan, ganz unvermittelt auftreten, aber sie können aller tiefsten Ursprüng­ lichkeit bis auf formale Reste, etwa den verzerrten Unbedinztheitsanspruch, mit dem sie auftreten, bar sein. Dieser unleugbare Sachverhalt ist ja eben mit der Lehre von der Ursünde gemeint: die falsche Lösung der Glaubensftage durchdringt alle Bereiche des Seins. In der Agape wird nun die rechte Lö­ sung der Glaubensftage konkret. Da fängt die Quelle des Urspmngs wieder an zu fließen. Da wird Gott Mensch. Mit diesem ganz radikalen Verständnis der Liebe hängt es zusammen, daß ihm ihre reine Gestalt von Christus unabtrennbar ist,- nicht als Idee, nur als geschichtliche Wirklichkeit wird glaubhast, was Liebe ist. In Christus ist die Liebe Gottes geschichtsmächtig geworden. Nun ist die Bahn auch für den menschlichen Durchschnitt frei. Nun bekommt der Ruf zur Nachfolge einen ganz konkreten Inhalt. „Die Liebe ist von Gott, und wer Liebe hat, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht Liebe hat, der kennt Gott nicht,- denn Gott ist Liebe ... wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm" 2). 2. Dieser im realistischen Sinn des Wortes theologische Grundcharakter der Agape erweist sich nun weiterhin in der radikalen Cxistentialität des christlichen Liebesverständnisses. Liebe bedeutet hier Leben. Was Leben eigentlich in seiner letzten Tiefe und Wirklichkeit ist, erfahre ich nur in der Liebe. In der Agape wird Gottes Leben offenbar und wirksam. Gott ist der Urgrund und Ursprung aller Liebe. Liebe ist in die Welt verströmtes und sich immer neu verströmendes Gottesleben. „Daran haben wir erkannt die Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat..."3). Gott selbst ist Liebe, und ich kann Gotteserfahrungen nur machen, Gotteserkenntnis nur gewinnen, wenn ich J) Auch Spinoza greift völlig daneben, wenn er unter Liebe quaedam laetitia concomitante causa externa versteht, also Liebe mit einer von außen ter angeregten Lust verwechselt, völlig recht hat Max Scheler, wenn er allen solchen Erklärungs­ versuchen recht eigentlich Blindheit für das Phänomen echter Liebe vorwirft-. „Sähe die naturalistische Theorie die Phänomene der heiligen und der seelischen Liebe: sofort würde sie auch sehen, daß man sie aus keinem Tatbestand, der zur vitalen Sphäre und Liebe gehört, verständlich machen und herleiten kann." (wesen u. Formen d. Sgmp., S. 208.) 2) 1. Joh. 4, 7 f., 16. „Gewiß: ‘selten’ ist — seltener sogar wie jede Art von genialer Intellektualität — das Phänomen der ^heiligen Liebe', dazu absolut un­ beherrschbar, durch kein «Experiment', noch auch durch Erziehung heworzurufen... seinen wert voll und adäquat erfassen, das — sahen wir — ist schon in die geistige Kongenialität der Jüngerschaft geknüpft" (Max Scheler, wesen unL Formen der Sympathie, S. 209). 3) 1. Joh. 3, 16.

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Liebeserfahrungen mache und in ihnen der Urgestalt der Liebe nachtaste. Auch hier ist Christus der Mittler. Er ist das Leben, weil er die Liebe ist.

„Ich habe den Menschen gesehen in seiner tiefsten Gestalt, ich kenne die Welt bis aus den Grundgehalt. Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn, und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin...". Chr. Morgenstern, von hier aus bekommt alles, was wir über die Offenbarung Gottes in den Ordnungen gesagt haben, erst seinen ganz konkreten Sinn. Gott bindet uns in die Ordnungen der Ehe, der Familie, des Volkes, der Rasse, des Be­ rufes, des Staates, um uns sich selbst, um uns das Leben als Liebe zu offen­ baren. So wird dann auch deutlich, daß der letzte Sinn der Ordnungen nur in Christus erkennbar wird, der uns das Wesen der flgape offenbart. Alle Ordnung drängt zuletzt auf die Entbindung von Agape und kann ihre tiefsten Aufgaben nur von daher erfüllen, weil so das Leben seinen Sinn in der Liebe gewinnt, deshalb kann uns auch der Lebenssinn der Liebe nur von der Auf­ erstehung her deutlich werden, hier erst gingen den Jüngern die Augen darüber aus, was Leben „eigentlich" sei. hier erst verstanden sie die Gott­ ursprünglichkeit des Lebens. Nun begreifen sie, daß Leben Einbruch des Jen­ seits in das Diesseits ist, daß es aus keiner Steigerung des Weltlebens erklärt, abgeleitet oder erzeugt werden kann. So wird denn nun hier auch erst völlig offenbar, was Liebe ist. In der Liebe gewinne ich mein Leben. In der Liebe gewinnt das Leben Gottes in mir Gestalt. Da brechen die (Quellen eines Lebens in mir auf, über das kein Tod mehr Vollmacht hat: „wir wissen, daß wir aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen find; denn wir lieben die Brüder,- wer den Bruder nicht liebt, verbleibt im Tode. Jeder, der seinen Bruder haßt, der ist ein Mörder- und ihr wißt, daß kein Mörder ewiges Leben als bleibenden Besitz in sich trägt"1). Daß auch Paulus diesen Lebenssinn der Liebe nur von der Auferstehung her verstehbar sand, zeigt die Bestimmtheit in der er das Leben und walten der Liebe von aller bloßen Steigerung natürlich menschlicher Gefühls-, Erkenntnis- und Willens­ kraft unterscheidet. Es ist nicht zufällig, daß sein „hohes Lied" der Liebe2) seinem hgmnus auf die Auferstehung in 1. Kot. 153) unmittelbar vorausgeht. Lieben heißt hier, um eine Fülle des Lebens wissen, die sich nie erschöpft4). Am erstaunlichsten ist der Existentialsinn der Liebe in der Erzählung von der Salbung Jesu durch die große Sünderin über alle bloß moralische Bedeu­ tung hinausgehoben ^). was tut Jesus hier? Er läßt sich die offenbar aus tiefer seelischer Erschütterung aufbrechenden Erweise ehrfürchtiger Liebe durch eine notorische Sünderin gefallen und verteidigt seine Haltung gegen das hoch­ moralische Kopfschütteln seines pharisäischen Gastgebers. Die Selbstlosigkeit *) 1. Zoh. 3, 14. f. nach Menge. 2) 1. Kor. 13. 3) Daß hier der Kern des ganzen Briefes liegt, zeigt Karl Barth in „Die Auf­ erstehung der Toten", 1924. 4) vgl. auch Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, S. 209. 6) Luk. 7,36-50. 514: Müller, Ethik

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und die Zulle, in der sie sich verströmt, geben ihm die Gewißheit, daß diese Zrau in der Vergebung Gottes steht. Solche Liebe schenkt nur weiter, was sie empfangen hat. Und viel muß empfangen haben, wer so geben kann! Lieben heißt nur weitergeben, was Gott geschenkt hat. wer echte Liebe zu erweisen vermag, in dem waltet Gottes vergebende Gnade.

3. Neben radikaler Ursprünglichkeit und Existentialität eignet der Agape ein radikal heroischer Zug. Gr liegt in der absoluten Souveränität, der unbedingten Freiheit, in der sie sich auswirkt, hier erweist sich, daß es wirkliche Autonomie nur in der Theonomie, echte Selbständigkeit nur in der Gottständigkeit, wahre Eigenbestimmung nur in der Gottbestimmung gibt, hierin unterscheidet sich die Agape charakteristisch vom Eros. Agape ist die irdische Gestalt Gottes *). Vie Liebe ist himmlischen Ursprungs, aber sie ist irdischer Gestalt. In ihr wird der Mensch das Organ Gottes. Daher ihre Sou­ veränität, ihre völlige Unabhängigkeit vom Geliebten, hier schüttet der Reich­ tum Gottes sein Züllhorn über das Leben aus. „von seiner Sülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade"2). hier bricht „die Külle des, der alles in allen erfüllt" 3) in das Weltleben ein. Anders ist es beim Eros. Nach dem tiefsinnigen Mgthos im platonischen Gastmahl ist er der Sohn der Armut vom Reichtum — empfangen am Geburtsseste der Aphrodite. So ist er der ewig Schönheitshungrige. Er ist nicht Gott. Er ist „in der Mitte zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen". Er ist als der „Diener und Herold" der Aphrodite „von Natur aus in alles Schöne verliebt". Er ist „die Liebe zu allem Schönen". Damit aber ist auch gesagt, daß er nur das Schöne lieben kann. Das Geliebte muß hier liebens-würdig sein. Gewiß nicht nur im sinn­ lichen Sinn des Wortes. Es gibt eine Stufenfolge erotischer Anziehungskraft von der körperlichen Schönheit, über die Schönheit der Seele und die Schönheit in den Sitten und Gesehen zur Schönheit in den Wissenschaften bis zum An­ blick des ewig Schönen. Aber soweit er Beziehung von Mensch zu Mensch ist, bleibt der Eros die Sehnsucht der Armut nach dem Reichtum, er bleibt immer bedürftige, Erfüllung heischende und darin vom Gegenstand seiner Sehnsucht abhängige Liebe. Und darin eben liegt die Eigentümlichkeit der Agape, daß sie absolut frei schenkende Liebe ist, daß in ihr Gott selbst die Zülle seiner Gnade dem Bedürftigen, auch dem gottabgewandten Sünder mitteilt. Nur von hier aus kann die Bergpredigt verstanden werden. Sie ist nicht moralisch, sondern nur theologisch verstehbar. In ihren sittlichen Weisungen ist derselbe Sachverhalt, der in Üreuz und Auferstehung offenbar wird, in die Sprache der menschlichen Verantwortung überseht. Die Bergpredigt kann nur vom Lebensproblem und das Lebensproblem nur von der Auferstehung aus verstanden werden: hier erst wird deutlich, daß Leben Einbruch weltunab­ hängiger göttlicher Vollmacht in die Welt ist und deshalb nur dort voll aus­ gelebt werden kann, wo es aus diesem seinem Ursprung heraus gelebt wird. Alle Weisungen der Bergpredigt wollen also zur Gottursprünglichkeit, zur Gotteskindschast zurückrufen und sie wieder in Wirksamkeit setzen: „Auf daß ihr Rinder seid eures Vaters im Himmel" 4) — das ist der Sachverhalt, auf den *) 1. Joh. 4,16.

r) Zoh. 1, 16.

3) Eph. 1, 23.

4) Matth. 5, 45.

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hier alles ausgerichtet ist. Gott aber ist die Lebensvollmacht, die ganz in sich ruht, wirkliche Autonomie, wirkliche Freiheit hat nur Gott. (Er allein handelt ganz nach eigenen Gesetzen: „(Er läßt seine Sonne aufgehen über die Lösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte", wer frei werden will, muß die Freiheit Gottes in sich aufnehmen. (Er muß seine — ja nur vermeintliche — Freiheit an Gott verlieren. (Er mutz Gott lieben mit allen Kräften seines Wesen — so ganz in Gott gefestigt wird kein Einfluß von außen ihn aus der Bahn werfen. So allein werden wir fähig zu heroischer Liebe. Sie ist es, die die paradoxen Weisungen der Bergpredigt im Auge haben. Nun vermögen wir über das Gesetz von Attion und Neattion hinauszuwach­ sen. Das war die alte Ordnung der Dinge: „Auge um Auge, Zahn um Zahn", wer kennt sie nicht die Parole: „Auf einen groben Klotz ein grober Keil!"? In alle Dialekte menschlichen Erlebens ist sie übersetzt. Aber wozu soll sie führen? wir sind zu höherem berufen, Mächtiger soll der Vogen unseres Lebens ausgreifen! wahrlich, das „Ich aber sage euch!" ist eine Fanfare! (Es ist ein Weckruf für Helden. Nun soll sich erweisen, wer gegenüber fremdem Beispiel unbeirrbar Kurs zu halten, die Innenbestimmung gegenüber aller Außenbestimmung unerschütterlich zu behaupten vermag. Mag der andere sich gebärden, wie er will! Laß dich durch seine Begehrlichkeit, seine Rechthaberei, seine zornmüttge Unbeherrschtheit nicht aus der Bahn werfen! willst du dich von deinen Nerven, deiner Empfindlichkeit, deinem aufflammenden Zorn, deinem Dergeltungsttieb übermannen lassen — oder willst du deine Aufgabe erfüllen? Mag er schlagen, rechten, nötigen, nehmen, hassen, fluchen, beleidigen, ver­ folgen — du lebe aus deiner Bestimmung heraus, der ewigen, gottgesetzten „vollkommen zu sein, gleichwie der Dater im Himmel vollkommen ist" *). Paulus nimmt hier durchaus das Grundmotiv der Vergrede auf, wenn er vom Harnisch Gottes, vom Schild des Glaubens, vom Helm des Heils, vom Schwert des Geistes redet — „an den Beinen gestiefelt, als fertig, zu treiben das Evangelium des Friedens"2). Nur von hier aus ist auch das Gebot der Feindesliebe zu verstehen. Wer es isoliert moralisch auffaßt, — wie sollte er sich nicht an ihm reiben oder da­ ran zerbrechen? (Es kann nur theologisch und zwar nur von einer realistischen Theologie der Auferstehung her, nicht als Gesetz, sondern nur als Evangelium begriffen werden. Dagegen waren Nietzsche und Tolstoi gleich blind. Der eine, weil er eine natürliche Theologie des Heroismus dem Ehristentum entgegen­ setzte, statt sie in ihm erfüllt zu sehen. Der andere, weil er das Ehristentum nur als Moral zu verstehen und so über die Not der moralischen Verkrampfung nicht hinauszukommen vermochte. Nur wer den Mut hat, Organ für das handeln Gottes am Menschen zu werden, kann aus aller Moralsklaverei heraus­ kommen. Nachfolge Gottes — das ist die Lösung aller Derwicklungen zwischen Mensch und Mensch. Das ist der Sinn des Gebotes der Feindesliebe. Der Mensch ist der Feind Gottes. Trotzdem liebt Gott den Menschen und schentt ihm Leben. Der Mensch ist der Feind des Menschen. Der Mensch — sich selbst überlassen — haßt den Menschen, haß bedeutet Tod. Tod kann nur überwin*) Matth. 5, 48.

2) Eph. 6,10 ff.

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den, wer gegen Ansteckung gefeit ist, Tod kann nur durch Leben überwunden werden. Gegen Gift hilft nur Gegengift. Darum heißt es hier: „Liebet eure Feinde...". 4. Ganz deutlich kann, was hierüber zu sagen ist, nur werden, wenn wir uns noch den radikalen Realismus verständlich machen, der der Liebe eigentümlich ist. wer die einzelnen Worte des Neuen Testamentes isoliert moralisch versteht, mutz sie für überspannt halten, wer sich auf ihren theologi­ schen Sinn einläßt, wird spüren, daß sie die durchdringende Helligkeit und Frische eines neuen Weltentages habens. Vieser Realismus ist darin be­ gründet, daß Mensch und Welt hier in die grellste Beleuchtung gerückt werden, die möglich ist: der Mensch soll den Menschen so ansehen, wie Gott ihn ansieht. Das bedeutet eine durchdringend nüchtern realistische Beurteilung des Men­ schen. Rn dem Sprichwort: „Liebe macht blind" wird der ganze Unterschied deutlich, hier ist die sinnliche Liebe gemeint, wo sie ganz auf sich selbst ge­ stellt ist, idealisiert sie den anderen. Sie sucht in ihm letzte Erfüllungen, weil sie ja anders nicht leben kann, — um bann enttäuscht zu sein, wenn er sich in seiner wahren Gestalt zeigt. Demgegenüber macht die Agape hellsichtig. Man sehe sich daraufhin die Bergpredigt an! Da ist keineswegs mit einem Idealmenschen gerechnet. Das ist durchaus der Mensch der natürlichen Reak­ tion. Er schlägt und zankt, er erwartet Gefälligkeiten, er bittet und borgt, flucht und haßt, beleidigt und verfolgt*2). Diesen Menschen überwindet nur die Agape. Sie allein trifft die Macht des Bösen in der Wurzel, hier wird gesehen, wie tief sie in der Seele wurzelt. Böse sein heißt ja immer, in der Sünde stehen, heißt, die Glaubensftage falsch lösen, heißt, Gott und Welt miteinander ver­ wechseln, heißt, von irdischen Gütern Erfüllungen erwarten, die nur Gott geben kann, heißt, sich in das Irdische verkrampfen. Daher denn auch die Lähmung der Einsicht, das Abprallen aller theoretischen Argumente, die ver­ krampfte, im Grund aus der Lebensangst kommende Hartnäckigkeit, hier kann nur der Angriff helfen, der auf das Ganze geht. Die Gegenwirkung, die aus dem bloßen Vergeltungstrieb, bloß nach dem mechanischen Gesetz von Stoß und Gegenstoß erfolgt, ruht ja auf völlig ungenügender wirklichkeitserkenntnis und verkennt völlig die Tiefenwirkung und den Totalitätscharakter des Bösen, hier kann nur siegen, wer vom Scheitel bis zur Sohle gerüstet ist. wer hier obsiegen will, muß wissen, daß wir „nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern mit Fürsten und Gewaltigen..., mit den bösen Geistern unter dem Himmel" 3). Dieser kriegerisch-realistische Ton, dieser eherne Fanfarenklang muß aus aller Rede über die Liebe herausgehört werden, wenn wir ihren vollsinn begreifen wollen. Denselben Mann, der das Wort vom Har­ nisch Gottes gesagt hat, hören wir sagen: „Die Liebe ist langmütig und fteundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellt sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht er­ bittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit- sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles" 4). Das alles seht doch wohl einen sehr klaren Blick für die *) vgl. Röm. 13,11 f. 2) Matth. 5, 39-44.

3) Cph. 6,12.

4) 1. Kot. 13, 4-7.

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wirkliche Welt voraus. Das ist der Streiter Christi, der fest wie ein Turm mitten in einem Kampffeld steht und sich nicht anfechten läßt, wie sehr es auch um ihn donnert und blitzt und Himmel und Holle gegen ihn losgelassen sind, „vor allen Dingen habt untereinander eine inbrünstige Liebe- denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge" *). „Einer mutz des anderen Schanddeckel sein"2). Derselbe Realismus wirkt in der eigentümlichen flit, in der die Liebes­ forderung mit der Selbstliebe verquickt ist. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"3) und: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch" 4) heißt es hier. Der Moralist kann darüber nur erschrocken sein. Er kann diese Verbindung nur als eine Gefährdung der Reinheit der sittlichen Forderung empfinden. Mischt sich hier in die Ach­ tung vor dem moralischen Gesetz nicht ein selbstisches Motiv? Sn Wirklichkeit handelt es sich nur um ein besonders deutliches Beispiel für den unbedingten Realismus, mit dem hier die sittliche Forderung im wirklichen Leben ver­ ankert wird. Der Mensch darf sich selbst lieben. Daß das Leben auf Liebe ruht, erweist sich auch darin, daß der Mensch gar nicht leben kann, ohne sich selbst zu lieben5). Diese Liebe ist ein Abglanz der Liebe, mit der er von Gott geliebt wird: in der Selbstliebe dürfen wir das Ja nachsprechen, das Gott zu uns spricht. Insofern gehört die Selbstliebe zur Gottesbildlichkeit des Menschen. Sie wird zur Sünde, wo sie sich zur Selbstsucht verengt und verkrampft. Selbstsucht ist im Grunde Selbstvergötterung,- sie macht ebenso blind gegen Gott wie gegen den Nächsten. Gesunde Selbstliebe wird zur Vorübung und zur vorform für die Nächstenliebe. Der innere Schwung, der in ihr wirksam ist, wird zur motorischen Kraft für die Beziehung zum anderen. Der Mensch lernt das Ja Gottes zum Menschen zuerst im Verhältnis zu sich selber nach­ sprechen. Nun soll er diese Fähigkeit auch im Verhältnis zum Du bewähren. Die Weisung Jesu Matth. 7, 12 ist so genial einfach und so zwingend praktisch, daß man sie einen „Trick" nennen möchte. An der Selbstliebe können wir gewissermaßen den „Dreh" für die Nächstenliebe herausbekommen. Nur ein ganz tiefer Blick für den organischen Zusammenhang von Sein und Sollen, von Gott und Welt, von Schöpfung und Erlösung kann die Vollmacht zu solcher Rede geben. Es ist charakteristisch, daß Jesus über die negative Fassung des­ selben Gedankens, die er vorfand und die auch uns in der Wendung geläufig ist: „was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu" hinausging. Damit erst stieß er ganz bis zum sittlichen Naturgrund der mensch­ lichen Seele vor. Den Nächsten mit denselben Augen ansehn, mit denen wir wünschen, daß er uns ansehe, ihm dasselbe Lebensrecht gewähren, das wir für uns beanspruchen, ihn so ernst nehmen, wie wir von ihm ernst genommen sein wollen, ihn so lieben, wie wir wünschen, daß er uns liebe, das heißt in der Nachfolge stehen und den weg der Liebe gehen. n 1. Petri 4, 8. 2) Luther Hörn. Br. Ficker II, 334, 33. Dazu p. Althaus: Communio sanctorum S. 44 ff. 2) matth. 22, 39.