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German Pages 426 Year 2018
Lukas Werner Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 62
Lukas Werner
Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit Eine historische Narratologie der Zeit
An der Bergischen Universität Wuppertal angenommene Dissertation
ISBN 978-3-11-056553-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056685-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056561-4 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2018939769 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung der 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal verteidigten Dissertation. Dass dieses Buch vorliegt, verdankt sich einer Vielzahl von Personen und Gelegenheiten. Die Studie ist nicht im leeren Raum entstanden, sondern wurde in verschiedenen Forschungs- und Arbeitskontexten vorangetrieben. Das Wuppertaler Zentrum für Erzählforschung (ZEF) bildete einen anregenden Diskussionskontext. Mein Dank gilt allen Mitgliedern für die vielen Gespräche und Veranstaltungen, die es immer wieder ermöglicht haben, Ideen vorzustellen und zu diskutieren. Besondere Impulse hat die Studie aus der Arbeit an dem von Antonius Weixler und mir herausgegebenen Band Zeiten erzählen (2015, Narratologia 48) erhalten, der auf eine Tagung am ZEF zurückgeht und der es erlaubte, einige Ideen der Studie vorzuformulieren und durchzuspielen. Bedanken möchte ich mich bei Antonius Weixler für die immer angenehme und konstruktive Zusammenarbeit sowie bei allen Autorinnen und Autoren des Bandes, die sich auf die Konzeption des Buches eingelassen haben. Danken möchte ich auch den Herausgebern einiger einschlägiger Nachschlagewerke und Sammelbände, die mir die Möglichkeit gegeben haben, das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder zu bearbeiten. Die Auseinandersetzung mit neueren Publikationen in Rezensionen hat geholfen, die eigene Linie zu finden und zugleich über den Tellerrand der eigenen Studie hinauszublicken – gleiches gilt für die Tagungen, an denen ich teilnehmen durfte. Überlegungen und vereinzelte Passagen der vorliegenden Studie sind in all diesen Kontexten vorformuliert und teils publiziert worden. Mein Dank gilt insbesondere Professor Dr. Matías Martínez für die langjährige Förderung und die Betreuung dieser Studie, Prof. Dr. Jan-Dirk Müller für seine wertvollen Hinweise und die Übernahme des Zweitgutachtens, Dr. Julia Abel, Dr. Frauke Bode, PD Dr. Christian Klein, Prof. Dr. Maren Lickhardt, Stefanie Roggenbuck und Dr. Antonius Weixler für die vielen fachlichen und geselligen Gespräche sowie die unzähligen gedanklichen Anregungen und die konstruktive Lektüre von Passagen dieser Studie. Kai Spanke habe ich nicht nur für einen überaus lebendigen fachlichen Austausch zu danken, sondern für den seit zehn Jahren währenden Dialog. Für die langjährige Unterstützung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, Philipp Strauchmann sowie meinen Eltern. Lukas Werner
DOI 10.1515/9783110566857-001
Inhalt 1
Einleitung | 1
2
Zeit als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse | 17 Die Homogenisierung der Zeit: Luhmann, Lukács und Lugowski | 20 Die Entdeckung des Neuen: Löwith, Koselleck und Watt | 28 Zeitbeobachtung: Weber und Watt | 32
2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3
Historische Narratologie | 37 Historisierung als methodisches Desiderat | 37 Historische Narratologie: Zeit zwischen Text, Kontext und Theorie | 48 Relationale Narratologie als historische Narratologie | 54
4
Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität | 61
4.1 4.1.1
4.1.2
4.1.3
Zeit und Erzählen: die erzählerische Dimension | 61 Verbalisierung: explizite und implizite Verfahren der Evokation | 61 Beispiellektüre 1: inkonsistente Zeit als poetisches Prinzip in Reuters »Schelmuffsky« | 66 Komposition: Permutationsmöglichkeiten von Handlungssegmenten | 75 Beispiellektüre 2: Episodenpermutation und -ordnung im »Dil Ulenspiegel« | 78 Auswahl: Selektion und Motivation | 82 Beispiellektüre 3: abgerundete Handlung und geschlossener Zeithorizont in Wickrams »Der Jungen Knaben Spiegel« | 85 Beispiellektüre 4: offener Zeithorizont in Ulenharts »Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid« | 88 Beispiellektüre 5: providenzielle Zeitordnung in Grimmelshausens »Keuschem Joseph« | 92 Beispiellektüre 6: offener Zeithorizont in Hunolds »Satyrischem Roman« | 96 Beispiellektüre 7: numerische Komposition und temporale Geschlossenheit der »Sieben weisen Meister« | 102
VIII | Inhalt
4.1.4
4.1.5 4.2 4.2.1
4.2.2
4.2.3
4.2.4 4.3 4.3.1
4.3.2
4.3.3
Beispiellektüre 8: paradigmatische Konstellationen und ihre temporale Wertigkeit in Hunolds »Adalie« | 109 Beispiellektüre 9: komplexes Syntagma im Heliodor’schen Roman | 112 Perspektive: Skalierung von Subjektivität | 119 Beispiellektüre 10: das Ich und seine Zeit in Beers »Verliebtem Oesterreicher« | 122 Beispiellektüre 11: gedehnte Zeit der Liebenden in der »JFngst=erbaweten Sch(fferey« | 125 Erzählte Zeiten I: die erzählerische Dimension | 128 Zeit und erzählte Welt: die diegetische Dimension | 131 Ereignis: Zeitindex, Spur und Ereigniskumulation | 132 Beispiellektüre 12: funktionale ›Spuren‹ in Grimmelshausens »Simplicissimus Teutsch« | 136 Beispiellektüre 13: Gleichzeitigkeit als Möglichkeit der Handlungsmodellierung im »Lazaril von Tormes« | 140 Figur: Zeiträger, Zeitwahrnehmer und Zeitüberwinder | 144 Beispiellektüre 14: Figurenzeiten in der »Melusine« des Thüring von Ringoltingen | 148 Raum: uni- und pluriregionale Welten sowie die Biegsamkeit der Raumzeit | 152 Beispiellektüre 15: pluriregionale Welt in Messerschmidts »Brissonetus« | 156 Erzähle Zeiten II: die diegetische Dimension | 161 Zeit und Begriffe: die semantische Dimension | 163 Zeitlichkeit und Ewigkeit: Begrenztheit, Wandelbarkeit und Nacheinander | 168 Beispiellektüre 16: Zeitlichkeit und Ewigkeit im »Wagnerbuch« | 173 Schicksalssemantiken: Offenheit und Geschlossenheit des zeitlichen Horizonts | 177 Beispiellektüre 17: Providenz und Kontingenz in Dürers »Lauf der Welt und Spiel des GlFcks« | 181 Lebensalter: numerische Strukturierungen von Lebenserzählungen | 184 Beispiellektüre 18: Lebensaltermodelle: die vier Lebensalter der Frau in Grimmelshausens »Courasche« | 189
Inhalt | IX
4.3.4
4.3.5
Weltalter: das Ende und die geschlossene Form der Geschichte | 192 Beispiellektüre 19: punktuelle Referenzen auf Weltaltermodelle: »Apollonius« und »Assenat« | 198 Beispiellektüre 20: ironische Reflexe auf die Idee der ›translatio imperii‹ in Fischarts »Geschichtklitterung« | 203 Erzählte Zeiten III: die semantische Dimension | 205
5
Temporale Heterogenität und ihre Beschreibung – eine Zusammenfassung | 207
6 6.1
Generische Hybridität in Warbecks Die schön Magelona | 215 Differenzen: Die schön Magelona und die Aethiopica Historia | 221 Märchenhafte Formelhaftigkeit: Wiederholung und Dreizahl | 233 Seitenblick: die Nürnberger Magelone | 239
6.2 6.3 7 7.1 7.2 7.3
Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy | 241 Verzögerung und Vollendung der Liebe: ›Lange Zeit‹ und ›kurze Zeit‹ | 243 Zeitlosigkeit vs. ›kurze Zeit‹ – zu Lugowskis Lektüre | 258 Variationen der Kürze: Apollonius und Assenat | 260
8 8.1 8.2 8.3
Doppelte Spannung in der Historia Von D. Johann Fausten | 265 Leitdifferenz: Zeit und Ewigkeit | 271 Spannung zwischen Frist und Episode | 273 Transformationen von Stoff und Zeit | 289
9
Heterogene Raumzeiten in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch | 293 Der väterliche Hof: Differenzlosigkeit als Zeitlosigkeit | 297 Der Mummelsee: paradoxe Zeitlichkeit | 303 Generische Traditionen ›pluriregionaler Welten‹ | 308
9.1 9.2 9.3 10 10.1 10.2
Das zeitlose Abenteuer und die Verzögerung der Frist: Die Asiatische Banise | 313 Spurlose Abenteuer und Eigenzeit der Figuren | 320 Verzögerte Fristen | 327
X | Inhalt
10.3 11 11.1 11.2 11.3 12 12.1 12.2
Die Öffnung des Horizonts bei Anton Ulrich | 335 Numerische Ästhetik in der Insel Felsenburg | 339 Das Subjektivitätspotenzial der erzählerischen Komplexität | 343 Numerische Ästhetik und die erzählte Zeit | 348 Numerische Strukturen in der utopischen Tradition | 357 Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit – ein Rück- und Ausblick | 363 Historische Narratologie: Potenziale, Grenzen und Perspektiven | 365 Erzählte Zeiten: Korrelation – Konterdiskursivität – Eigensinn | 368
Literaturverzeichnis | 377 Index | 407
1 Einleitung Eigentlich hat jedes ver(nderliche Ding das Maas seiner Zeit in sich; dies bestehet, wenn auch kein anderes da w(re; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maas der Zeit […]. Es giebt also (man kann es eigentlich und kFhn sagen) im Universum zu Einer Zeit unz(hlbar=viele Zeiten […].1
Absurde Abenteuergeschichten mögen auf den ersten Blick irritierend sein, doch sind sie häufig aufschlussreicher als ihre konventionell erzählten Pendants. Denn im Bruch mit den gängigen Erwartungen an einen literarischen Erzähltext und die in ihm entworfene Welt rücken sie ihre eigene Verfasstheit in den Vordergrund. Zu diesen Geschichten zählt der Fincken Ritter,2 der in der Absurdität seiner erzählten Welt den Blick auf jene poetischen Verfahren lenkt, durch die eine konsistente Welt erst hervorgebracht wird, und der zugleich die Fragen nach seinem generischen wie historischen Ort virulent werden lässt. An ihm will ich exemplarisch das Thema dieser Studie entwickeln und zeigen, wie poetische, generische und kulturhistorische Aspekte in Fragen nach der Zeit zusammenkommen. Es war einmal: Zu Zeiten des Priesterkönigs Johannes und Jean de Mandevilles begibt sich Policarpus von Kirrlarissa auf Reisen. Die acht Tagesreisen verstricken den selbst erzählenden Helden in wundersame Abenteuer und führen ihn in unwirkliche Gegenden. Am ersten Tag versucht er sich als »grosser Kauffmann« und will »etlich hundert last gedistilliert vernunfft Wasser« in bare Münze umsetzen (FR 135), jedoch wird er von Seeräubern ausgeplündert. Kurzerhand entschließt er sich, der »Ritterschafft nach zu trachten« (FR 135). Und so kommt er in der zweiten Tage-Reise zunächst an einen Ort, »da brandt der Bach / vnnd l=schten die Bauwren mit stro« und »da wurden die Hunde von den Hasen gefangen« (FR 136). Er jedoch zieht unbeeindruckt weiter; die dritte Reise bringt Policarpus mit »drey gesellen« zusammen: einem Blinden, einem Lahmen und einem Nackten. Er weiß zu berichten: »Der Blind der sahe ein Hasen / || 1 Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1799, S. 120 f., H. i. O. 2 Zitiert im Haupttext mit der Sigle FR nach Joachim Knape: »Der Finckenritter. Text und Untersuchung«. In: Philobiblon 35 (1991), H. 2, S. 97–148.
DOI 10.1515/9783110566857-002
2 | Einleitung
der auff der steltzen erlieff jhn / vnnd der nacket schobe jhn inn bůsen« (FR 136). Versuche, mit verschiedenen Personen ins Gespräch zu kommen, um nach dem rechten Weg zu fragen, schließen sich an. Aber die Antwort des »hFbsche[n] / schwache[n] feine[n] / grauwe[n] / junge[n] / bl=de[n] alte[n] sch=ne[n] / hurtige[n]« (FR 136) Mannes, die Policarpus erhält, fällt dabei ebenso nichtssagend aus wie die Äußerungen des Köhlers, des Geistlichen und einer Frau. Während der vierten Tagereise fährt der Held mit einem Schiff, »das nicht da was«, über einen »grossen mechtigen / erschr=ckenlichen / tieffen / vnnd schiffreichen bach / da was kein wasser« (FR 137). Beim Rasenmähen schlägt er sich auf der fünften Tagereise schließlich den Kopf ab und muss ihm hinterherlaufen. Die sechste Tagesetappe führt den Protagonisten in ein FleischSchlaraffenland. Dort trifft er auf einen Lautenspieler, dessen Musikinstrument so groß ist, dass der Held eine Viertelstunde lang durch den Lautenstern ins Innere des Instruments fällt, von wo er nur mithilfe einer Leiter gerettet werden kann. Erst darauf, im Rahmen der siebten Tagereise, wird Policarpus mit einer »růßigen l=cherechten kestenpfannen« zum »Fincken Ritter« geschlagen (FR 139). Damit mehr oder minder am Ziel seiner Reise angekommen, geht es wieder zurück. Mit einem »Windschiff« (FR 140) kehrt er schließlich auf der achten Tagereise heim, stürzt über dem Haus seiner Eltern ab, fällt durch alle Geschosse und wird am Ende, viel Unruhe in der Hausgemeinschaft verbreitend, von seiner Mutter geboren. Dies ist die Geschichte von den »seltzame[n] ding[en]« (FR 134), die der Held gesehen, erlebt und erzählt hat. Die anonym bei Christian Müller in Straßburg wohl um 1560 erschienene Erzählung führt allerlei Kurioses wie Widersinniges zusammen: Wasser brennt und wird mit Stroh gelöscht; tiefe Bäche führen kein Wasser und müssen doch mit Schiffen, die es eigentlich nicht gibt, überquert werden; Blinde sehen und Nackte verstecken Gegenstände unter ihre Kleider. Die Welt wird nicht nur verdreht zu einem mundus inversus, ihre Kohärenz geht vielmehr ex negativo durch die permanente Negation geläufiger Verfahren der erzählerischen Konsistenzbildung hervor.3 Dabei wird eine Vielzahl topischer, bereits im Mittelalter verbreiteter Motive verschränkt.4 Das Disparate der Erzählung, das aus der erzähle-
|| 3 Vgl. Armin Schulz: »Negative Kohärenz. Narrative Inversionen im ›Fincken Ritter‹«. In: Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.): Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger. Berlin/New York 2011, S. 177–195. 4 Vgl. die Anthologie von Horst Brunner (Hrsg.): Von achtzehn Wachteln und dem Finckenritter. Deutsche Unsinnsdichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2014; vgl. Knape (Anm. 2), bes. S. 100–102.
Einleitung | 3
rischen »Verbindung des eigentlich Inkompatiblen«5 resultiert, ist in eine logisch inkonsistente Erzählhaltung eingespannt. Erzählt wird, so der Titel, die History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter / Herrn Policarpen von Kirrlarissa / genant der Fincken Ritter / wie der drithalb hundert Jar / ehe er geboren ward / viel land duchwandert / v] seltzame ding gesehen / vnd zG letst von seiner MGter fFr todt ligen gefunden / auffgehaben / vnd erst von newem geboren worden« (FR 134).
Der Erzähler berichtet also von Ereignissen, die er selbst Jahrhunderte vor seiner Geburt erlebt hat. Mit Blick auf das Erzählte und auf die Erzählhaltung wird im Fincken Ritter die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens akut.6 Die manieristische Absurdität, die fiktional-intertextuelle Verspieltheit und Selbstreflexivität des Fincken Ritters lassen besonders drei Aspekte in den Fokus rücken: einen poetisch-literarischen Aspekt, der die sprachliche Gemachtheit und die evozierten raumzeitlichen Dimensionen der erzählten Welt umfasst, einen generischen Aspekt, der die Gattungsfrage berührt, und einen im weitesten Sinne historischen Aspekt, der die Positionierung des Textes innerhalb des literarischen und kulturhistorischen Feldes der Frühen Neuzeit betrifft. Die Frage nach dem Umgang mit Zeit, so der im Folgenden ausgeführte Gedanke, erweist sich als Klammer, durch die diese scheinbar separaten Felder verknüpft werden. Rhetorische Figuren des Widerspruchs charakterisieren die Evokation der erzählten Welt: Bach, Baum oder Schiff werden begrifflich aufgerufen, aber durch die ihnen zugeschriebenen, einer Alltagssemantik widersprechenden Eigenschaften zugleich in Frage gestellt. Denn der Bach (eigentlich ein kleines Fließgewässer) ist tief, breit und wasserlos; der Baum (eigentlich eine belebte Pflanze) ist steinern; und das Schiff (also ein greifbares Objekt) ist schlicht nicht vorhanden.7 Das Ergebnis dieser Strategie ist die Inkonsistenz der erzählten Welt. Die Verunsicherung über die ontische Beschaffenheit dieser Welt betrifft gleichermaßen ihre einzelnen Bestandteile wie ihre raumzeitliche Dimensionierung. Obwohl es eine Vielzahl von Ortsangaben gibt und die Erzählung durch die »Tagreysen« temporal gegliedert ist, fehlen der erzählten Welt die »Koordi|| 5 Werner Röcke: »Spielräume kultureller Kontakte im Roman des 16. Jahrhunderts: ›Der Finckenritter‹ (Straßburg 1560)«. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 19 (2010), H. 2, S. 21–32, hier S. 22. 6 Die Schiffs-Metapher, die den Text durchzieht, steht – so Sonja Kerth – für den »Dichter und seine Tätigkeit«, Sonja Kerth: »ich quam geriten in ein lant ûf einer blawen gense. Weltbetrachtung und Welterfahrung im Zerrspiegel mittelalterlicher Unsinnsdichtung«. In: WolframStudien 20 (2008), S. 415–434, hier S. 432. 7 Vgl. Knape (Anm. 2), S. 106 ff.
4 | Einleitung
naten räumlicher Ordnung ebenso wie ein gesicherter Ablauf der Zeit«.8 Das Geschehen vollzieht sich in einem »irrealen Raum« und einer »irrealen Zeit«.9 Der Protagonist hat nämlich »manich K=nigreich vnnd landschafften weit vnnd breyt durchzogen / vnd sie besehen«, [e]ben zů denselben zeiten / als der groß Chan vonn Cathay / zG Straßburg inn der Růprechts Auwe regiert / vnnd Herr Johann von Monteuilla / Ritter auß Engelland / die gantze Welt / so weit der Hymmel blaw / vmbzogen ist. Da Priester Johann von Jndia / auff der Haller Wisen zů NFrenberg / bey den Kemmetfegern / neben dem Kettenbrunnen zů Heidelberg / gegen des Babylonischen seyffenwebers hauß vber / ein Probst des Paradeyses war (FR 135).
Die Widersprüchlichkeit gründet in diesem Fall nicht darin, dass Dingen konträre Eigenschaften zugeschrieben werden, sie betrifft vielmehr Raum und Zeit als weltkonstituierende Kategorien.10 Der Geschichte mit ihrem achttägigen Reiseschema liegt eine »Pseudozeitlichkeit« zugrunde;11 die »völlig unsinnigen Zeit- und Ortsangaben« entziehen das Erzählte einem »rationalen Zugriff«12 und verweigern damit einen unmittelbar erfassbaren Sinn.13 Relativ vage fallen auf dem Titelblatt die paratextuellen Gattungsangaben aus: Eine »History« und »Legend« sei der Fincken Ritter (FR 134). Die Bezeichnung ›history‹, wenngleich im 16. Jahrhundert weit verbreitet, benennt keine Gattung im engeren Sinne. Ihre Bedeutung oszilliert – unabhängig davon, ob mit Blick auf Prosa- und Versdichtungen oder auf Malerei – zwischen realem und fiktivem Geschehen.14 Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf die Benen-
|| 8 Vgl. Werner Röcke: »Der Anfang vom Ende. Aufhebung der Zeit und Nähe der Ferne im Komischen Roman der Frühen Neuzeit«. In: Natascha Adamowsky/Peter Matussek (Hrsg.): [Auslassungen]. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Würzburg 2004, S. 319–326, hier S. 325. 9 Thomas Cramer: »Von einem, der auszog, die Welt kaputtzulachen: der ›Finckenritter‹«. In: Werner Röcke/Helga Neumann (Hrsg.): Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn u. a. 1999, S. 283–299, hier S. 286. 10 Zur »Verkehrung von kategorialem und konkretem Wissen« vgl. Schulz (Anm. 3), S. 180– 183. 11 Knape (Anm. 2), S. 120. 12 Kerth (Anm. 6), S. 432. 13 Vgl. Röcke (Anm. 8), S. 322. 14 Vgl. Joachim Knape: ›Historie‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und Gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984; JanDirk Müller: »Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert. Perspektiven der Forschung«, in: IASL 1. Sonderheft (Forschungsreferate) 1985, S. 1–128, bes. S. 71–75. Gerade Jan-Dirk Müller
Einleitung | 5
nung »Legend« attestieren: Obgleich sie in der Regel als Terminus für Heiligenviten fungiert, dient sie darüber hinaus dazu, eine ›Erzählung‹ im Allgemeinen zu bezeichnen. Bereits bei Martin Luther ist die vielsagende Umdeutung von »Legende« zu »Lugende« belegt, mit der die Verschiebung vom Realen zum Erlogenen einhergeht.15 Eine wohl Ende des 16. Jahrhunderts erschienene Ausgabe des Fincken Ritters nutzt diese Umdeutung, indem der Titel zu »Historia v] lugendt« geändert und damit die Fragen nach dem kommunikativen Status des Textes sowie nach dem Status des Erzählten exponiert werden.16 Das Bewusstsein für stabile literarische Formen ist nicht so stark ausgebildet, dass paratextuelle Begriffe zur eindeutigen generischen Bezeichnung bereitstehen; zugleich muss das Wissen um literarische Formen insofern ausgeprägt sein, als die im Fincken Ritter eingesetzten Verfahren der Anspielung und der verfremdenden Abweichung nicht ins Leere gehen. Für das Gelingen dieses voraussetzungsreichen Spiels spricht der Druckerfolg des Textes.17 Mit dieser generischen Offenheit, die im 16. Jahrhundert die Standardsituation darstellt,18 hat sich die Forschung schwergetan. Zunächst in der Tradition des 19. Jahrhunderts als »Volksbuch« bezeichnet, zählt Bodo Gotzkowsky den Fincken Ritter aufgrund seiner Kürze und Episodenhaftigkeit zu den »Schwanksammlungen«.19 Joachim Knape sieht in der Titelgebung der »Erzählung« eine
|| macht sich dafür stark, einen historisch adäquaten Fiktionalitätsbegriff zugrunde zu legen und nicht ein modernes Verständnis von Fiktionalität auf frühneuzeitliche Literatur zu übertragen. 15 Vgl. die entsprechenden Luther-Belegstellen im [Art.] »Legende«. In: DWB, Bd. 12, Sp. 535. 16 Vgl. Bodo Gotzkowsky: »Volksbücher«. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Bd. 1: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Baden-Baden 1991, S. 491; über das VD 16 ist die von Gotzkowsky angegebene Ausgabe nicht nachweisbar. 17 Vgl. Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 489–492 und Bd. 2 (Drucke des 17. Jahrhunderts, Baden-Baden 1994), S. 144–151; zur europäischen Verbreitung vgl. Johannes Bolte: »[Einleitung, ohne Titel]«. In: Das Volksbuch vom Finkenritter. Straßburg, Christian Müller, c. 1560. Zwickau 1913, S. 3–22, bes. S. 19 ff.; Bodo Gotzkowsky: »Die verschiedenen Drucke des Volksbuches ›Der Finkenritter‹ und seine Aufnahme in Dänemark und Schweden«. In: Hessische Blätter für Volkskunde 62/63 (1971/1972), S. 75–87. 18 Man kann Versuchen der Kategorisierung durchaus den Vorwurf machen, historisch unangemessen zu sein, denn es ist »sinnlos, von Gattungsordnungen auszugehen, die sich in einem ausdifferenzierten literarischen System ausbilden« (Jan-Dirk Müller: »Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung«. In: Marcel Lepper/Dirk Werle [Hrsg.]: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011, S. 15–38, hier S. 36); zugleich muss dieses aber nicht bedeuten, dass man auf etablierte Klassifizierungsmuster als synthetisierende Kategorien, die ordnungsstiftend sind, verzichten sollte. 19 Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 489.
6 | Einleitung
Anspielung auf den »Ritterroman der Zeit«;20 Sonja Kerth deutet den Text als »Parodie« auf »Reise- und Wunderberichte«, deren »Bezugstexte […] vor allem Ritter-, Schelmen- und Reiseromane, aber auch bildliche Darstellungen von Tierreitern« seien;21 Werner Röcke bezeichnet den Fincken Ritter mal als »Komischen Roman«,22 mal als »parodistischen Reiseroman[ ]«23 und mal als »kleinen Roman«,24 denn mit weniger als dreißig Druckseiten in der großzügig gesetzten Erstausgabe ist der Fincken Ritter (eigentlich zu) kurz für einen Roman. Dennoch scheint er aufgrund seines ›Helden‹ und der Abenteuer, die dieser in einer raumzeitlich angelegten Welt erlebt, etwas qualitativ ›Romanhaftes‹ zu haben.25 Der Fincken Ritter steht, formuliert man es metaphorisch, irgendwo auf der Schwelle zwischen Erzählung und Roman. In historischer Perspektive wird der Fincken Ritter als Symptom für vielschichtige Umbruchprozesse in der Frühen Neuzeit gelesen: sei es im Hinblick auf die kulturelle Eigenpositionierung oder im Hinblick auf rationalisierte Raum-Zeit-Vorstellungen. Werner Röcke erkennt in der Literatur des 16. Jahrhunderts einen »Paradigmenwechsel der üblichen Modi des Fremderlebens«.26 Das Fremde werde nicht mehr – wie in mittelalterlicher Literatur – als das kategorial Andere wahrgenommen, sondern in das Eigene integriert.27 Der Fincken Ritter eröffne ein third space (Homi K. Bhabha), »der den Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem aufhebt, und auf diese Weise neue kulturelle Konstrukte entstehen lässt«; es sei – so Röcke – die »Hybridisierung von Eigenem und
|| 20 Knape (Anm. 2), S. 108 u. 119. 21 Kerth (Anm. 6), S. 432 f. 22 Röcke (Anm. 8), S. 320. 23 Röcke (Anm. 5), S. 21. 24 Werner Röcke: »Befremdliche Vertrautheit. Inversionen des Eigenen und des Fremden in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts«. In: Renate Schlesier (Hrsg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation. Maskerade und Mimikry. Münster 2003, S. 119–131, hier S. 125. 25 Auch André Schnyder führt den Fincken Ritter im Korpus der Prosaromane auf; André Schnyder: »Das Corpus der frühneuhochdeutschen Prosaromane: Eine tabellarische Übersicht als Problemaufriss«. In: Catherine Drittenbass/André Schnyder (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Lichte neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Amsterdam u. a. 2010, S. 545–556, hier S. 555. In den einschlägigen Arbeiten von JanDirk Müller und Xenja von Ertzdorff hingegen wird der Fincken Ritter nicht berücksichtigt; Müller (Anm. 14); Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt 1989. 26 Röcke (Anm. 24), S. 119. 27 Vgl. Röcke (Anm. 24), S. 124 f.
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Fremden«, die den Text auszeichne.28 Sonja Kerth hingegen deutet die ›Hyperfiktionalität‹ des Textes als distanzierende Reaktion auf die Rationalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit. Die überzogene Fiktionalität des Textes setze eine »Distanz zu den vorherrschenden Rationalisierungstendenzen voraus« und sei »als subversives Spiel mit dem Rationalen« zu verstehen.29 Gerade das Bemühen um eine betont inkonsistente raumzeitliche Dimensionierung des Geschehens kann als ein Indiz für die zunehmende Rationalisierung von Raum und Zeit jenseits ästhetischer Artefakte gelesen werden.30 Die bisherigen Ausführungen haben einen argumentativen Fluchtpunkt: Darauf, dass im Fall des Fincken Ritters poetische, generische und historische Aspekte nicht isoliert gedacht werden können, deuten die thematischen und systemischen Verbindungslinien zwischen ihnen. Innerhalb dieses konzeptuellen Dreiecks ist die Zeit der erzählten Welt ein verbindender Faktor. Sie ist jedoch nicht eine in den drei Kontexten identisch gedachte, substanzielle Größe, sondern fungiert – um eine von Ernst Cassirer benutzte Metapher aufzugreifen – als ein ›funktionales Band‹ (vinculum functionale).31 Relevanz erhält Zeit – dies machen die Inkonsistenzen im Fincken Ritter deutlich – nämlich erstens als welt- und erzählstrukturierende Größe. Der Held agiert in der Zeit, seine Abenteuer bilden eine sukzessive Reihe; und das Erzählen davon gründet auf einer retrospektiven Sicht der Dinge – freilich werden beide Aspekte im Fincken Ritter unterlaufen. Zeit trägt, zweitens, zur ›Totalität‹ der dargestellten Welt und somit zur Romanhaftigkeit des Textes bei.32 Zugleich wird die betont inkonsistente Zeitgestaltung – drittens – verstanden als ›konterdiskursiver Reflex‹ (Rainer Warning) auf außerliterarische Modernisierungsprozesse, oder konkret formuliert: auf die zunehmende Rationalisierung. Der Fincken Ritter führt in der Verschränkung der poetischen, generischen und soziohistorischen Aspekte eine || 28 Röcke (Anm. 5), S. 28. 29 Kerth (Anm. 6), S. 434. 30 Zur raumzeitlichen Dimensionierung der erzählten Welt als Rationalisierungsstrategie vgl. u. a. mit Bezug auf Arbeiten von Klaus Ridder Jan-Dirk Müller: »Rationalisierung und Mythisierung in Erzähltexten der Frühen Neuzeit«. In: Wolfram-Studien 20 (2008), S. 435–456, bes. S. 437–439. 31 Die symbolischen Formen werden, wie Ernst Cassirer betont, von keinem »vinculum substantiale«, sondern von einem »vinculum functionale« zusammengehalten, also von keinem substantiellen Band, sondern einem funktionalen, das Cassirer in der schöpferischen Tätigkeit des Menschen, in seinem Wesen als »animal symbolicum« sieht; vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [amer. 1944]. Hamburg 2007, S. 110, 51, H. i. O.; vgl. Kap. 3 dieser Arbeit. 32 So lautet eines der seit Hegel für den Roman immer wieder in Anschlag gebrachten Kriterien.
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Konstellation vor, in deren Zentrum Zeit steht und die – wie ich in dieser Studie zeigen will – symptomatisch für die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit ist. Mit der Lektüre des Fincken Ritters ist das leitende Erkenntnisinteresse meiner Überlegungen umrissen. Gegenstand im engeren Sinne ist die erzählte Zeit im deutschsprachigen Roman der Frühen Neuzeit. Sie wird dabei gedacht als jene Dimension der erzählten Welt, die den Objekten sowie der Handlung als Rahmen zugrunde liegt. Darin liegt ihre besondere Bedeutung für die erzählte Welt und die Poetik des Romans, denn »[e]ine Erzählung verstehen heißt«, so Anton Fuxjäger pointierend, »vor allem: eine möglichst konsistente raum-zeitliche Vorstellung von der Diegese bilden«.33 Sie ist – wie noch auszuführen sein wird – eine genuin ›relationale Größe‹, die drei Dimensionen besitzt: eine ›erzählerische‹, eine ›diegetische‹ und eine ›semantische‹. Insofern Zeitaspekte ebenso mit der erzählten Welt wie mit der erzählerischen Vermittlung verschränkt sind und sich in narrativ relevanten Semantiken eingebettet finden, erlaubt die Analyse von Zeit einen spezifisch perspektivierten Blick auf die Poetik des Romans. Gegenstand in einem weiteren Sinne ist eine kulturgeschichtlich interessante Konstellation. Denn fragt man nach den Veränderungen der Zeit im Roman der Frühen Neuzeit, so fragt man nicht allein nach der Gattungsgenese und Transformation des Romans und der Funktionsweise literarischer Weltentwürfe, sondern ebenso nach einem kulturellen Leitkonzept, an dem auch außerhalb literarischer Kommunikation einschneidende soziohistorische Prozesse sichtbar werden. Die für diesen Zusammenhang einschlägigen Stichwörter lauten: ›Säkularisierung‹, ›Rationalisierung‹ und ›funktionale Ausdifferenzierung‹. Blickt man auf diese Prozesse, erscheint Zeit als ›Schlüsselkonzept‹ sowohl literarischer als auch soziohistorischer Veränderungen, die sich – sei es nun affirmativ oder konterdiskursiv – in der Verfasstheit der erzählten Welten niederschlagen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Erzählliteratur und kulturellem Umfeld eröffnet ein spannendes Forschungsfeld, zu dem diese Studie beitragen will. Gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung von Zeit für Modernisierungsprozesse erscheint es konsequent, das Augenmerk auf die gesamte Frühe Neuzeit zu richten. Als kulturgeschichtliche Bezeichnung einer Makroepoche umfasst der Begriff in seinem weiten Verständnis den Zeitraum vom 14. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. In einem engeren Verständnis, der mit Blick auf die literarhistorischen Entwicklungen adäquat ist, schließt er die Periode zwi|| 33 Anton Fuxjäger: »Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch einer Begriffsentwirrung«. In: montage/av 16 (2007), H. 2, S. 17–37, hier S. 18.
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schen 1500 und 1720/1750 ein.34 Die epochale Bündigkeit zeigt sich an den Grenzen des Zeitraums sowie an seiner konstitutiven Vielgestaltigkeit. Auch wenn das Romankorpus der Frühen Neuzeit sehr heterogen ist, denn »Diskontinuitäten« und »Disparatheit« bilden das »wesentliche Signum der frühneuzeitlichen Literatur«,35 verweisen medien-, sozial- und literargeschichtliche Aspekte auf die epochale Kohärenz der frühneuzeitlichen Periode. Das Aufkommen des Prosaromans markiert einen ebenso bedeutsamen Einschnitt in der Romantradition wie die Differenz zwischen dem Roman vor und nach der emphatischen Individualisierung und Psychologisierung seines Helden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sprach- und mediengeschichtliche Aspekte spielen bei der Konstitution des Prosaromans zu Beginn der Frühen Neuzeit eine wesentliche Rolle: erstens insofern, als der Prosaroman in ungebundener Sprache und nicht in Versen verfasst ist; und zweites insofern, als er nicht unabhängig vom Buchdruck als der Medienrevolution des 15. Jahrhunderts gedacht werden kann. Der Übergang vom Vers zur Prosa ist ein komplexer Prozess, zu dem »Sprach- und Stilwandel« genauso beitragen wie ein »veränderter Wahrheitsanspruch« und neue Rezeptionsbedingungen.36 Parallel dazu hat sich die Rezeptionsweise vom Zuhören zum Lesen verlagert.37 Der mediengeschichtliche Aspekt betrifft die Verschränkung von medialen Bedingungen und Gattungskonstitution: Denn die Durchsetzung des Buchdruckes ist für den »neueren Roman[ ] und für die Freisetzung seines ästhetischen und ideologischen Potentials von strukturbestim|| 34 Vgl. Kai Bremer: »Die Frühe Neuzeit – Ein Trümmerfeld. Über Anfänge und Ursprünge der Neueren deutschen Literatur«. In: Marcel Lepper/Dirk Werle (Hrsg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011, S. 39–51, bes. S. 45; Klaus Garber: »›Frühe Neuzeit‹ – Early Modernity. Reflections on a New Category of Literary History«. In: Max Reinhart (Hrsg.): Early Modern German Literature 1350–1700 (Camden House History of German Literature, Bd. 4). Rochester 2007, S. 3–30. Dass für eine Einteilung nicht die gesamte literarische Praxis ausschlaggebend sein kann, sondern auch generische Komponenten zu berücksichtigen sind, zeigt z. B. die Studie Dirk Niefangers zum Geschichtsdrama, der den Zeitraum der Frühen Neuzeit auf die Zeit zwischen 1495 und 1773 eingrenzt, vgl. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, 1495–1773. Tübingen 2005. 35 Bremer (Anm. 34), S. 43; dieser Hybridität will das Programm des SFB 573 konzeptuell Rechnung tragen, denn »[i]ndem das Verhältnis von Pluralisierung und Autorität immer wieder konkret ausgehandelt werden muss, gibt es nicht die eine Geschichte, sondern viele miteinander konkurrierende Geschichten […]. Ein solches Konzept ist in der Lage, der volkssprachlichen deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts eher gerecht zu werden. Ihre Hybridbildungen unterlaufen den hegemonialen literarischen Diskurs des europäischen Renaissancehumanismus, indem sie dessen dominante Oppositionen […] auflösen« (Müller [Anm. 18], S. 33). 36 Müller (Anm. 14), S. 16. 37 Vgl. Jan-Dirk Müller: »Prosaroman«. In: RWL III, S. 174–177, hier S. 174.
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mender Bedeutung gewesen«.38 Die durch den Druck verbreiteten Prosaromane wiederum tragen im Wesentlichen zur »Herausbildung des neuen Genres und eines veränderten literarischen Systems« bei.39 Die Veränderungen in der Struktur des literarischen Systems, in der Rezeption des Romans und in seiner sprachlich-stilistischen Gestalt inaugurieren eine Epoche, die von Umdeutungen derselben Kategorien um 1750 abgeschlossen wird. Im 18. Jahrhundert kommt es zu einem tiefgreifenden Wandel des Leseprozesses, der gleich mehrere Aspekte der literarischen Produktion und Rezeption betrifft. Aus dem ›intensiven Lesen‹, im Rahmen dessen man ein Buch immer wieder zur Hand nimmt, wird das ›extensive Lesen‹, das auf immer Neues zielt. Damit verliert auch das ›Wiedererzählen‹ (F. J. Worstbrock), das gerade in der Vormoderne eine besondere Bedeutung hatte, an Relevanz – parallel explodiert die Zahl der Romanpublikationen. Das Lesen dient nicht mehr dem ›Studium‹, sondern der ›Unterhaltung‹; es ist ein ›subjektives Lesen‹, kein ›objektives‹. Aus der ›gelehrten Leserschaft‹ wird das ›bürgerliche Lesepublikum‹.40 Zwischen 1500 und 1750 verschieben sich darüber hinaus einige sozial relevante Leitsemantiken: Vorstellungen von Subjektivität und Individualität, Konzepte sozialer Gemeinschaft wie ›Ehe‹, ›Liebe‹ und ›Freundschaft‹41 sowie Leitkategorien der Weltordnung, die – pointiert formuliert – von Providenz zu Kontingenz wechseln.42 Durch diese Umdeutungsprozesse wird der Bogen geschlagen zwischen dem spätmittelalterlichen Denksystem und demjenigen der Moderne (ab dem späten 18. Jahrhundert). Deshalb kann es nicht befriedigend sein, die frühneuzeitliche Literatur grosso modo unter dem Paradigma der ›Alterität‹ zu deuten oder als bereits programmatisch ›modern‹ aufzufassen.43 Es bedarf eines
|| 38 Fritz Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, S. 11. 39 Müller (Anm. 14), S. 14. 40 Zur Geschichte des Lesens vgl. Hugo Aust: Art. »Lesen«. In: RLW, Bd. II, S. 406–410, hier S. 408. 41 Vgl. z. B. Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001. 42 Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988. 43 Vgl. Anja Becker/Jan Mohr (Hrsg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin 2012; kritische Einwände zu einer Reduktion auf Alterität liefert anhand des Problems ›kausallogischen Erzählens‹ Fritz Peter Knapp: »Kausallogisches Erzählen unter den weltanschaulichen und pragmatischen Bedingungen des 12. und 13. Jahrhunderts«. In: Florian Kragl/ Christian Schneider (Hrsg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Heidelberg 2013, S. 187– 205.
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mehrschichtigen Begriffs der Frühen Neuzeit, der beiden Perspektiven gleichermaßen Rechnung trägt.44 Gerade im Zusammenhang mit aktuellen Bestrebungen, die Literatur des 16. Jahrhunderts in den Blick zu rücken,45 den Bogen zwischen den literarhistorischen Entwicklungen des 16. und 18. Jahrhunderts zu schlagen und somit die (Opitz’sche) Zäsur um 1620 sowie die These vom deutschen »Verspätungsnarrativ«46 zu überwinden und einem kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse nachzugehen, ist das Konzept einer literarischen ›Frühen Neuzeit‹ vielversprechend und erlebt eine »Konjunktur«.47 Damit ver-
|| 44 Sandra Richter argumentiert entlang von fünf »Komponenten«: Sie entfaltet ihren Begriff der Frühen Neuzeit entlang einer ›zeitlichen‹, ›räumlichen‹, ›mentalen‹, ›methodischen‹ und einer ›textuellen‹/›medialen Komponente‹, vgl. Sandra Richter: »Makroepoche der Mikroepochen. ›Frühe Neuzeit‹ in der Deutungskonkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe«. In: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, S. 143–164, bes. S. 158–164. Richter argumentiert im Anschluss an Klaus Garber (Klaus Garber: »Geleitwort zur Buchreihe ›Frühe Neuzeit‹«. In: Ders. [Hrsg.]: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989, S. V–VI). Hans-Gert Roloff konturiert die ›Mittlere Deutsche Literatur‹ als alternativen Begriff ebenso anhand von fünf Parametern: 1) »sprachliche Entwicklung«, 2) »Begegnung« mit der (römischen) Antike, 3) Bedeutung der Poetik und Rhetorik, 4) »Experimentierfeld« neuer literarischer Formen (Drama, Prosaroman), 5) besondere Verankerung in den »sozialen, politischen und konfessionellen« Kontexten der Zeit (vgl. Hans-Gert Roloff: »Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur«. In: Christiane Caemmerer u. a. [Hrsg.]: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Amsterdam u. a. 2000, S. 469– 494, bes. S. 472–477). 45 Vgl. Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.): Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger. Berlin/New York 2011. 46 Bremer (Anm. 34), S. 45. 47 Marcel Lepper/Dirk Werle: »Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011, S. 7–13, hier S. 7; zur Verbreitung des Konzepts trugen die ›Einführungen‹ von Andreas Keller und Kai Bremer bei: Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008; Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation – Späthumanismus – Barock. Paderborn 2008; vgl. des Weiteren den 17. Jahrgang der Zeitschrift für Germanistik (2007), der dem Schwerpunkt »Wiederkehr der Frühen Neuzeit« gewidmet war; zur Epochenkonstitution vgl. Herbert Jaumann: »Frühe Neuzeit«. In: RLW, Bd. I, 632–636; Richter (Anm. 44); Marcel Lepper/Dirk Werle (Hrsg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011; Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.): Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003. Es sei auch auf die Reihe der Publikationen des Sonderforschungsbereichs 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit. 15. bis 17. Jahrhundert« verwiesen (vgl. http://www.sfbfrueheneuzeit.uni-muenchen.de).
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bindet sich eine gleichsam synergetische »Chance« für Forschung und Lehre,48 durch die ein interdisziplinäres Anschluss- und Reflexionspotenzial in Aussicht gestellt ist.49 Die Auswahl der untersuchten Texte versucht die Breite und Vielgestaltigkeit der frühneuzeitlichen Erzählliteratur abzudecken. Das Spektrum reicht von spätmittelalterlichen Erzähltexten (wie der Melusine des Thüring von Ringoltingen) bis zum Roman der Frühaufklärung (wie Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg). In den Blick kommen der Prosaroman des 16. Jahrhunderts (wie Veit Warbecks Magelone), der Schäferroman (z. B. die JFngst=erbawete Sch(fferey), der höfisch-historische Roman des Barock (Die Asiatische Banise) und – wie Grimmelshausens Simplicissimus – der niedere Roman des 17. Jahrhunderts sowie der galante Roman um 1700 (Hunolds Adalie). Einerseits ging es bei der Auswahl der Texte darum, Beispiele zu finden, mittels derer sich systematische Differenzierungen anschaulich vorführen lassen; andererseits ging es auch darum, durch den thematisch perspektivierten Blick auf die Texte neue Lektüren anzuregen. Die Studie versteht sich als ein Beitrag zur ›historischen Narratologie‹, der den heuristischen Wert der vorgeschlagenen Methode für die Analyse zugleich vorführt. Genuin narratologisch ist dabei die Orientierung am begrifflichen Denken, durch das Zeit in ihren verschiedenen Dimensionen systematisch erfasst werden soll. Zugleich ist dieser Ansatz historisch, da Zeitvorstellungen nicht als uneingeschränkt gültig, sondern als kulturhistorisch variabel verstanden werden. Das Ziel liegt in der Rekonstruktion der erzählerischen, diegetischen und semantischen Dimension dieser Historizität. Ausgangspunkt der narratologischen Konzeption von Zeit wie der literarhistorischen Interpretation der Texte ist ein close reading. Die typologische Systematisierung von Zeitaspekten erfolgt anhand von Erzähltexten und versucht ein möglichst breites Spektrum von Phänomenen zu erfassen und so die Typologie historisch zu fundieren. Der Fokus der Einzelanalysen liegt demgegenüber auf der Bedeutung der zugrundeliegenden Zeitvorstellungen für die Poetik der Romane; abgeschlossen werden die Analysen in Kap. 6 bis 11 von vergleichenden Perspektiven auf generische Traditionslinien, andere Bearbeitungen des Stoffes oder stilistischmotivische Kontinuitäten. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich auf narratologische, literargeschichtliche und kulturgeschichtliche Aspekte. Sie will in zweifacher Hin-
|| 48 Vgl. Bremer (Anm. 34), S. 51; Richter (Anm. 44). 49 Vgl. Helmut Puff/Christopher Wild: »Terminologische Erkundungen. Frühneuzeitforschung zwischen den Disziplinen«. In: Puff/Wild (Anm. 47), S. 7–20, hier S. 13.
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sicht ein Beitrag zur Narratologie sein: zum einen dadurch, dass die Möglichkeiten der Historisierung narratologischer Kategorien und der Ort einer historischen Narratologie innerhalb einer literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft vermessen werden, und zum anderen dadurch, dass erstmals eine Theorie ›diegetischer Zeit‹ formuliert wird.50 Aus literarhistorischer Perspektive liegt das Erkenntnisinteresse in der Rekonstruktion literarischer Zeitentwürfe, die gerade mit Blick auf die in der Frühen Neuzeit stattfindenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse mit ihren Zeitimplikationen etwas über die Eigenlogik literarischer Weltentwürfe verraten.51 Indem der Roman der Frühen Neuzeit in den Blick kommt, verhandelt die Studie zugleich seine gattungsgeschichtliche Formationsphase. Schließlich gilt es, diese Befunde im kulturellen Gefüge zu verorten. Die zwei Hauptfragen der Arbeit lauten also: – Wie muss eine historische Narratologie der Zeit angelegt sein, um frühneuzeitliche Zeitkonzeptionen erfassen zu können? – Welche temporalen Eigenheiten und welche Veränderungen in Zeitvorstellungen lässt ein Blick auf frühneuzeitliche Erzähltexte sichtbar werden? Nach der Einleitung umreißt das zweite Kapitel den engen historischen Zusammenhang zwischen Romangenese, gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und dem Wandel von Zeitvorstellungen und arbeitet so eine für die Frühe Neuzeit kulturgeschichtlich bedeutsame Konstellation heraus. Zeit fungiert nämlich als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse (Kap. 2). Ausgehend von der Notwendigkeit, Eigenheiten und Veränderungen von Zeitvorstellungen in literarischen Texten historisch adäquat beschreibbar zu machen, widmet sich das folgende Kapitel den Möglichkeiten einer historischen Narratologie (Kap. 3). Der Entwurf einer historischen Narratologie der Zeit
|| 50 Den Begriff ›diegetische Zeit‹ gebrauche ich in Anlehnung an Étienne Souriau: »La structure de l’univers filmique et la vocabulaire de la filmogie« [1951] dt. »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«. In: montage/av 6 (1997), H. 2, S. 140–157, bes. S. 148 und 151. 51 Arbeiten, die der epochalen Bündigkeit der Frühen Neuzeit insofern Rechnung tragen, als sie die ihr eigene erzählerische Poetik zu erfassen suchen, fehlen bislang; zuletzt Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975; in Geulens Studie spielt das 16. Jahrhundert aber nur sehr begrenzt eine Rolle; im Vergleich mit der eingereichten Habilitationsschrift wurden in der Druckfassung große Teile der Arbeit, die den Fokus auf den vorbarocken Roman richten, gestrichen. Eine narratologisch fokussierte und breit angelegte Untersuchung frühneuzeitlichen Erzählens steht bislang aus, vgl. Dirk Niefanger: Barock. Stuttgart/Weimar 1997, S. 218.
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geht dabei zum einen aus dem skizzierten historischen Erkenntnisinteresse und zum anderen aus einem methodischen Desiderat der Narratologie hervor (Kap. 3.1). Vor dem Hintergrund der Debatten um die Aufgaben und Ziele einer historischen Narratologie (Kap. 3.2) wird ein Ansatz entworfen, im Rahmen dessen Zeit als ›relationale Größe‹ verstanden wird (Kap. 3.3). Operationalisiert wird dieser Ansatz in Kapitel 4, indem ein analytischer Zugriff auf Zeit vorgelegt wird, der eine Reihe von Kategorien bereitstellt, um Zeit synchron und diachron beschreibbar zu machen. In den Blick kommen dabei drei relationale Aspekte von Zeit, die anhand von frühneuzeitlichen Erzähltexten entfaltet werden: die Rückbindung von Zeit an die erzählerischen Grundoperationen (Kap. 4.1), ihre Verschränkungen mit anderen Elementen der erzählten Welt (Kap. 4.2) und ihre semantische Dimension (Kap. 4.3). Das erste Unterkapitel orientiert sich dabei an vier zentralen erzählerischen Operationen, durch welche die erzählte Zeit modelliert wird: ›Verbalisierung‹, ›Komposition‹, ›Auswahl‹ und ›Perspektivierung‹. Dem Zusammenspiel von Zeit mit anderen Elementen der erzählten Welt – ›Ereignis‹, ›Figur‹ und ›Raum‹ – gilt das zweite Unterkapitel. Das dritte Unterkapitel schließlich rekonstruiert wichtige zeit- und erzählungsformende Semantiken, wie sie beispielsweise in der Dichotomie von Zeitlichkeit vs. Ewigkeit, in der Differenz zwischen providenzieller und kontingenter Weltordnung oder in Lebens- und Weltaltermodellen vorliegen. Abgeschlossen wird die systematische Auseinandersetzung mit Zeit von einem typologischen Überblick jener Kategorien, die zu ihrer Beschreibung eingesetzt werden können. Der literarhistorische Teil der Studie (Kap. 6 bis 11) arbeitet mit Hilfe des entwickelten terminologischen Rüstzeugs anhand von exemplarischen Analysen literarische Konzepte von Zeit in der Frühen Neuzeit heraus. Hinter der diachronen Reihe steht kein teleologisches Modell; es geht vielmehr um die »Rekonstruktion von Spannungskonstellationen«,52 denen immer – dies wird auch die Analyse der Zeit zeigen – eine Dialektik inhärent ist. Damit soll der Eindruck einer ›Fortschrittsgeschichte‹ vermieden werden; und die beiden »Großbegriffe von Ursprung und Umbruch«,53 die mit Blick auf die Frühe Neuzeit immer wieder bemüht werden, sollen zwar nicht gänzlich aufgegeben werden, aber auch nicht in einem historische Prozesse simplifizierenden Sinne Verwendung finden. Herausgearbeitet werden soll die Spannung zwischen temporaler Homo-
|| 52 Müller (Anm. 18), S. 32. 53 Valentin Groebner: »Welche Themen, wessen Frühe Neuzeit? Kulturbegriff und Gegenwartsbezug«. In: Puff/Wild (Anm. 47), S. 21–36, hier S. 24. Groebner bezieht sich freilich auf die Zeit zwischen dem 14. und dem ausgehenden 16. Jahrhundert.
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genisierung und der Heterogenität von Zeit. Die Heterogenität der Zeitvorstellungen schlägt sich unter anderem in der ›Pluriregionalität‹ der erzählten Welten, in ›flexiblen‹ Raumzeit-Relationen, in der ›Eigenzeitlichkeit‹ von Figuren oder in der ›Inkonsistenz‹ von Zeitangaben oder temporalen Strukturen nieder. Im Hintergrund dieser Heterogenität zeichnet sich aber zugleich der zunehmende Bedeutungsgewinn einer ›konsistenten‹ und ›kohärenten‹, ›abstrakt‹ gedachten Zeit ab. Diese verdrängt aber nicht ältere Formen des Erzählens. Abgeschlossen wird die Arbeit in Kapitel 12 mit dem Versuch, die historischen Ergebnisse zu synthetisieren, und mit einem kritischen Blick auf das erzähltheoretische, interpretatorische und literarhistorische Potenzial einer historischen Narratologie.
2 Zeit als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse Am Beginn und am Ende der Frühen Neuzeit steht eine ›Verzeitlichung‹ von Literatur und Gesellschaft.54 Dass sich poetische, generische und soziohistorische Aspekte in der Frage nach Zeit überschneiden, hat bereits die Lektüre des Fincken Ritters angedeutet. Dieses in der Einleitung in nuce entwickelte Verhältnis gilt es nun zu explizieren. Geleitet wird das folgende Kapitel von der These, dass es einen engen historischen Zusammenhang zwischen dem Wandel von Zeitvorstellungen, Modernisierungsprozessen und der Herausbildung des Romans als erzählerischer Großform gibt. Zeit ist zum einen als sich wandelndes kulturelles Phänomen interessant; zum anderen dient sie – in ihrer synthetisierenden Qualität – zugleich als ›Interpretationskategorie‹ (U. Ruh mit Blick auf die Säkularisierung), in der Eigenheiten soziohistorischer und literaturgeschichtlicher Prozesse gebündelt werden. Meine Argumentation verläuft entlang programmatischer Modernitäts- und Romantheorien. Auf temporale Implikationen werden Max Webers Rationalisierungskonzept, Karl Löwiths Säkularisierungsthese, die von Reinhart Koselleck aufgegriffen wurde, und Niklas Luhmanns Systemtheorie befragt.55 Gleiches gilt
|| 54 Clemens Lugowskis hat die Veränderungen in der Poetik des 16. Jahrhunderts insofern als zunehmende ›Verzeitlichung‹ gedacht, als das zerfallende ›mythische Analogon‹ (als Synthesebegriff für eine Reihe von Gestaltungstechniken) für ihn Ausdruck einer »wesentlich als zeitlos gesehenen Welt« war (Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 [Hildesheim/New York 1970], S. 106). Am Ende der Frühen Neuzeit hingegen vollziehe sich, so Reinhart Koselleck, ein »tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi« (S. XV), der sich anhand von vier Kriterien gliedern lasse: ›Demokratisierung‹, ›Verzeitlichung‹, ›Ideologisierbarkeit‹ und ›Politisierung‹. ›Verzeitlichung‹ bedeutet für ihn, dass »[ü]berkommene topoi […] gefühlsmäßig aufgeladen [werden], sie gewinnen Erwartungsmomente […]. […] Aus dem systematischen Oberbegriff wird ein geschichtlicher Zielbegriff, ein Erwartungsbegriff« (Reinhart Koselleck: »Einleitung«. In: Otto Brunner/Reinhart Koselleck [Hrsg.]: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997. Bd. 1, S. XIII–XXVII, hier S. XVI). Kritik am Konzept der Verzeitlichung hat Arno Seifert geäußert: »›Verzeitlichung‹. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie«. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 447–477. 55 Rationalisierung, Säkularisierung und Ausdifferenzierung verfügen zwar als makrostrukturelle Begriffe über gemeinsame Schnittmengen (Webers ›Entzauberung‹ als Rationalisierung
DOI 10.1515/9783110566857-003
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für die Romantheorien Clemens Lugowskis, Georg Lukács’, die in ihrer historischen Dimension durch Hans Robert Jauß fortgeführt wurde, sowie die romanhistorischen Überlegungen Ian Watts. Jenseits aller Differenzen zwischen diesen Theorien ist ihnen gemeinsam, dass sie – teils implizit – die Frühe Neuzeit als Epoche konturieren und dass Zeit in den Prozessen der Rationalisierung, Säkularisierung und funktionalen Ausdifferenzierung – und auch des epistemischen Umbruchs der Frühen Neuzeit56 – als tragende und strukturierende Größe fungiert. Oder konkreter formuliert: Max Weber beschreibt die Herausbildung eines ›Zeit-Ethos‹ (Michael Hasenfratz), innerhalb dessen Zeit als Möglichkeitsraum für Heilsvergewisserung und Wertschöpfung begriffen wird. Karl Löwith und Reinhart Koselleck hingegen geht es um den engen Zusammenhang zwischen Prozessen der Säkularisierung und der ›Entdeckung der Zukunft‹, wie sie sich ab dem 16. Jahrhundert abzeichnen und im ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Kumulationspunkt erreichen. Im Rahmen der Systemtheorie postuliert Niklas Luhmann, dass parallel zum Übergang von der stratifikatorisch zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft eine zunehmende Abstraktion der Zeit erfolge. Clemens Lugowski versteht die Verzeitlichung des Romans als Effekt der ›Zersetzung‹ des ›mythischen Analogons‹. Georg Lukács nutzt Zeit als ein Kriterium, um eine Trennlinie zwischen Epos und Roman zu ziehen, zugleich ist sie im Rahmen seiner Romangeschichte und -typologie funktionalisiert. Lukács’ historische Zäsuren, die von Cervantes und Flaubert markiert werden, und die doppelte Funktionalisierung von Zeit denkt Hans Robert Jauß bis in die Literatur
|| hat zugleich einen Säkularisierungseffekt; Rationalisierung als Professionalisierung führt zu einer stärkeren Ausdifferenzierung), aber dadurch, dass sie einen je spezifischen Akzent setzen, gehen sie nie vollständig in einander auf. Zu behaupten, dass der »›okzidentale‹ Rationalismus« das hervorbringt, »was differenzierungstheoretisch als funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft bezeichnet wird«, greift deshalb eindeutig zu kurz (Uwe Schimank: »Max Webers Rationalisierungsthese – differenztheoretisch und wirtschaftssoziologisch gelesen«. In: Andrea Maurer [Hrsg.]: Wirtschaftssoziologie nach Max Weber. Wiesbaden 2010, S. 226–247, hier S. 226). Daher sehe ich davon ab, Bedingungs- oder Ersetzungsverhältnisse zwischen diesen Begriffen zu konstruieren, und behandle sie jeweils gemäß ihrer Eigenlogik. 56 Die Veränderungen des epistemischen Systems in der Frühen Neuzeit führt Gerhart Schröder auf eine Umdeutung innerhalb des Zeitgefüges zurück: »Es sei die These riskiert, daß der entscheidende Faktor in der Veränderung des Wissens – und der Weisheit – in der Frühen Neuzeit der neue Begriff der Zeit ist. Mit dem Einbruch des Faktors Zeit verändern sich alle ›artes‹ und ›scientiae‹. Man kann aus historischer Perspektive auch sagen: mit dem Wiedereindringen des Faktors Zeit in das Wissen.« (Gerhart Schröder: »Weisheit und Gelächter. Zum Begriff der Weisheit in der frühen Neuzeit«. In: Aleida Assmann [Hrsg.]: Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. München 1991, S. 501–512, hier S. 509).
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des zwanzigsten Jahrhunderts fort. Ähnlich verfährt Ian Watt, denn im Rahmen seines Realismus-Verständnisses fungiert Zeit als Kategorie, mit deren Hilfe sich die generischen Veränderungen von der romance zur novel beschreiben lassen, wie sie in der englischen Literatur zu Beginn des 18. Jahrhunderts eintreten. Die Parallelisierung dieser Theorien birgt eine Reihe von Gefahren, denn es handelt sich bei Rationalisierungs-, Säkularisierungs- sowie Differenzierungsprozessen um hochgradig abstrakte Konzepte. Geht es darüber hinaus im Besonderen darum, ästhetische und soziale Prozesse zusammenzudenken, wird das Problemfeld mit Blick auf verbreitete Autonomie-, Korrelations-, Koinzidenz- und Abweichungspostulate umso komplexer – eine dogmatische Grundposition, ganz gleich welcher Art, geht jedoch am komplexen Verhältnis zwischen literarischen Texten und der soziohistorischen Wirklichkeit vorbei. Eine auf Zeit gründende Synthese der im Folgenden vorgestellten Theorien zu liefern, ist deshalb auch nicht das Anliegen. Mein Ziel ist es vielmehr, Parallelen und nicht Abhängigkeitsrelationen zwischen der Geschichte des Romans und Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung aufzuzeigen. Zeit wird so lesbar als ein verbindendes ›Schlüsselkonzept‹ frühneuzeitlicher Transformationen, als ein sich wandelnder kultureller Gegenstand, der in differenten Kontexten unterschiedlich ausgeprägt sein kann, und als synthetisierende Größe, in der Beobachtungen zusammengefasst werden und die deshalb auch als »Interpretationskategorie« fungiert.57 Da sich Roman- und Modernitätsgeschichte im Hinblick auf Zeit nicht durchweg zur Deckung bringen lassen, aber über Schnittmengen verfügen, entstehen zwischen ihnen lockere Verbindungen: sei es im Hinblick auf Erklärungsmodelle, Makrostrukturen oder Mikrostrukturen. Aufgrund von Analogien lassen sich nämlich Luhmann, Lukács und Lugowski zusammenbringen. Es ist bei ihnen das Zerbrechen geschlossener Einheiten, das zunächst zur ›Verzeitlichung‹ der (erzählten) Welt und – in einem weiteren Schritt – zur Homogenisierung von Zeit führt (Kap. 2.1). Ian Watt einerseits sowie Karl Löwith und Reinhart Koselleck andererseits berühren sich in der Frage nach dem ›Neuen‹, sei es in Form einer Absage an den Traditionalismus oder durch das Interesse an einer offenen Zukunft (Kap. 2.2). Für Max Weber und Ian Watt wiederum ist die genaue Zeiteinteilung und -beobachtung nach dem Prinzip des minute-byminute oder day-to-day historisch bedeutsam (Kap. 2.3). ›Verzeitlichung‹ bezieht
|| 57 Ulrich Ruhs Verständnis der Säkularisierung als »Interpretationskategorie« gilt gleichermaßen für ›Rationalisierung‹ und ›funktionale Ausdifferenzierung‹ als Phänomene und Kategorien; vgl. Ulrich Ruh: Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte. Freiburg u. a. 1980.
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sich also auf verschiedene Phänomene; der Begriff bezeichnet keinen einheitlichen Prozess, sondern eine Reihe von Veränderungen, in denen temporale Aspekte eine zentrale Rolle spielen. Zudem soll der Begriff nicht suggerieren, dass vor der frühneuzeitlichen ›Verzeitlichung‹ Zeit keine Bedeutung gehabt oder dass man gar von einer atemporalen historischen Grundsituation auszugehen hätte. Der Begriff steht – in einem emphatischen Sinne – für einschneidende Transformationen in den Zeitvorstellungen der Frühen Neuzeit.58
2.1 Die Homogenisierung der Zeit: Luhmann, Lukács und Lugowski Die Grundstruktur von Niklas Luhmanns systemtheoretischen Überlegungen zum Wandel von Gesellschaftssystemen bildet ein dreistufiges Modell. Er unterscheidet bekanntermaßen zwischen ›segmentär‹, ›stratifikatorisch‹ und ›funktional‹ differenzierten Gesellschaftssystemen. Sowohl für segmentäre als auch für stratifikatorische Gesellschaften gilt das Primat der Ordnung. Sie sind eingebettet in eine stabile Weltordnung, die klar gegliedert und reglementiert ist. Beim Übergang von einer Stufe zur nächsten steigt der Grad der sozialen Komplexität. Mit dem Übergang zu einem »sehr viel komplexere[n] Gesellschaftssystem«, so Luhmanns Überzeugung, ändert sich die Zeitkonzeption: »die Zeithorizonte des gesellschaftlichen Lebens gewinnen an Weite, an Tiefenschärfe und lassen mehr Differenzen im Nacheinander zu«.59 Seine typologisch-historische Differenzierung schließt Luhmann mit einem Blick auf die moderne europäische Gesellschaft, der er einen Sonderstatus zugesteht: Sie habe »einzigartige Züge, die historisch ohne Parallele« seien.60 Die Entwicklung »läuft erst im späten Mittelalter an und erreicht erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts (und zunächst nur in wenigen Regionen Europas) eine
|| 58 Seifert argumentiert in der Auseinandersetzung mit der Studie von Adalbert Klempt, die sich der Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung – so der Titel – widmet, dass es treffender ist, die Veränderungen in der Zeitauffassung »als Wiederherstellung von Diachronie, als Rückverzeitlichung zu definieren« (Seifert [Anm. 54], S. 452; vgl. Adalbert Klempt: Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1960). 59 Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–71, S. 26. 60 Luhmann (Anm. 59), S. 27.
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kaum mehr reversible Lage«.61 Das, was die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft ausmacht, ist die »Umstellung eines gesamten Gesellschaftssystems auf eine primäre, die Gesamtordnung bestimmende Differenzierung«.62 Im Gegensatz zu stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften können diese Funktionssysteme aber »nicht in eine allgemein gültige Rangordnung« überführt werden, da »sich ihr jeweiliger Vorrang oder Wichtigkeitsgrad nur situationsweise regeln läßt«.63 Das ›Ordnungsprimat‹ wird damit abgelöst von einem ›Funktionsprimat‹. Dieses bestimmt das Verhältnis eines Teilsystems zum Ganzen; und Leistungen regeln die Interaktion eines Teilsystems mit anderen. »Der Zusammenhang von Funktion und Leistung ist nicht mehr durch eine gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik der Hierarchie und der direkten Reziprozität gewährleistet«,64 sondern muss anders hergestellt werden. Nur eine zunehmend abstrakter werdende Vorstellung von Zeit ermöglicht, so Luhmanns Argumentation, die Steigerung von gesellschaftlicher Komplexität.65 Er geht in einem systematischen Sinne davon aus, dass [w]enn [sich] die Differenzierungsform der Gesellschaft […] ändert, […] sich auch die Art und Weise ändern müssen, in der Zeit in Anspruch genommen wird. Sobald Realisationen der neuen Formtypik durchgesetzt sind und in ihren Folgen zur Erfahrung werden, wird man deshalb auch Veränderungen in der Semantik des Temporalbewußtseins erwarten müssen. Die Semantik, die Temporalstrukturen abbildet, ist sozusagen das Grobraster, das die Übersetzung gesellschaftsstruktureller Veränderungen auf die Strukturebene der Elemente und Relationen steuert; und erst sekundär gibt es eine darauf bezogene Theorie der Handlung, der Interessen, der Repression. Dabei stellen grundlegende Veränderungen nicht nur den Begriff der Zeit zur Disposition, sondern können im Zusammenhang damit
|| 61 Luhmann (Anm. 59), S. 27. 62 Luhmann (Anm. 59), S. 27. 63 Luhmann (Anm. 59), S. 27. 64 Luhmann (Anm. 59), S. 29. 65 Vgl. Niklas Luhmann: »Zeit und Handlung – eine vergessene Theorie«. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Köln u. a. 1981, S. 101–125; Niklas Luhmann: »Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie«. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Köln u. a. 1981, S. 126–150. Vgl. Niklas Luhmann: »Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme«. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Köln u. a. 1986, S. 103–133.
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auch zur Temporalisierung von vorher überhaupt nicht zeitbezogen begriffenen Sachverhalten führen.66
Luhmann betont also einerseits die Hintergrundfunktion von Zeit, die das »Grobraster« für Veränderungen der Gesellschaftsstruktur bereithält, und andererseits kann sich Zeit selbst seines Erachtens nicht dem semantischen Wandel entziehen. Mit Blick auf historische Prozesse geht er davon aus, »daß komplexere Gesellschaftssysteme weitere, abstraktere und in sich differenziertere Zeithorizonte bilden als einfachere Gesellschaften«.67 Komplexere Gesellschaftssysteme schaffen so eine höhere »Weltkomplexität« und können mittels eines abstrakten Zeitbegriffs »innergesellschaftliche Systemgeschichten besser synchronisieren – und zwar auch Systemgeschichten, die sehr verschiedenartig sind«.68 Mit dem Wechsel von der stratifikatorisch zur funktional differenzierten Gesellschaft, die sich in der Frühen Neuzeit vollzieht, geht eine wichtige Umstrukturierung von Zeitkonzepten einher, die Luhmann unter den Begriff der »Abstraktion des Zwanges zur Ordnung« fasst: Funktionale Differenzierung bedeutet nämlich, daß funktionsspezifische Handlungssequenzen über längere Zeitstrecken hinweg aufgebaut und durchgehalten werden müssen, die untereinander nicht mehr ohne weiteres synchronisiert werden können und die sich auch nicht in den täglichen oder wöchentlichen oder jährlichen Lebensführungsrhythmus der Einzelperson eingliedern lassen. Die Zeit läßt sich dann nicht mehr am Leben der Personen erfahren und im Gang vom Morgen zum Abend oder von der Geburt zum Tod ordnen; sie läßt sich dann auch nicht mehr denken als Dauer (des Lebens, der Welt) oder als sich selbst wiederholender Kreis. Sie wird eine Art Abstraktion des Zwanges zur Ordnung schlechthin.69
Der Aufbau eines abstrakten Zeitsystems erscheint als Notwendigkeit einer zunehmenden sozialen Partikularität. Die global unter dem Begriff ›Abstraktion‹
|| 66 Niklas Luhmann: »Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe«. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 235–300, hier S. 260. 67 Luhmann 1986 (Anm. 65), S. 107 f.; vgl. Luhmann 1986 (Anm. 65), S. 110: »Der Bedarf für die Abstraktion eines relativ kontextfreien Zeithorizontes hängt weiter […] zusammen mit zunehmender Differenzierung des Gesellschaftssystems. In zunehmend differenzierten Gesellschaften, die über Systemgrenzen hinweg kommunikativen Verkehr vorsehen müssen, reicht die Erinnerung an die je eigene Systemgeschichte als Struktur nicht mehr aus. Man braucht Abstraktionen als koordinierende Generalisierungen, die es erlauben, verschiedene Systemgeschichten, wenn nicht zu integrieren, so doch aufeinander zu beziehen.« 68 Luhmann 1986 (Anm. 65), S. 108. 69 Luhmann (Anm. 66), S. 257.
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gefasste Vereinheitlichung der Zeit umschreibt Luhmann als ›Weltzeit‹, für die seines Erachtens vier Dimensionen kennzeichnend sind: ›Homogenität‹, das ist die »Unabhängigkeit von bestimmten Bewegungen und ihren Geschwindigkeiten, eigenen oder fremden«; ›Reversibilität‹, die die Möglichkeit impliziert, Zeit zurückzurechnen (auch wenn sie eigentlich irreversibel ist); ›Bestimmbarkeit‹, das heißt Terminierung durch »Datierung und Kausalität«; ›Transitivität‹, die die »Bedingung des Vergleichs verschieden liegender Zeitstrecken« ist.70 Die aufgehobene feste Ordnung segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaften – oder anders ausgedrückt ein dominantes ordo-Prinzip – und die Aufgliederung in nicht hierarchisierbare Teilsysteme werden teils substituiert durch die abstrakte Struktur einer Weltzeit, die Heterogenes wieder zusammenführt. Eine strukturell analog angelegte Großerzählung über die Genese der homogenen Zeit aus dem Verlust einer übergeordneten Einheit in der Frühen Neuzeit liefert Georg Lukács.71 Seine einflussreiche Theorie des Romans (1916) vereint geschichtsphilosophische, generische und normative Aspekte. Ihren geschichtsphilosophischen Rahmen bildet ein diachron gedachter Verfallsprozess, innerhalb dessen »Lebensimmanenz des Sinnes und transzendentale Obdachlosigkeit, mythische und gottverlassene Welt die zentralen Kategorien bilden«.72 Lebensimmanenz ordnet Lukács der Antike und dem Mittelalter als Epochen ›geschlossener Kulturen‹ und dem Epos als Gattung zu, denn die »Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität«.73 Der Roman hingegen begründe ein ›Zeitalter‹, in dem diese Totalität nicht mehr gegeben ist. Er ist die »Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat«.74 Der ›Roman des abstrakten Idealismus‹, den er bei Cervantes, Balzac, Gogol und Dickens verwirklicht sieht, und der ›Roman der Innerlichkeit‹, für den Gontscharow, Flaubert und Jacobsen stehen, liefern für Lukács zwei unterschiedliche Antworten auf die zerbrochene Ordnung. Während ersterer durch die »Isolation und
|| 70 Luhmann 1986 (Anm. 65), S. 111. 71 Zur Bedeutung der Zeit für Romantheorien des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Tanja Dembski: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke. Würzburg 2000, S. 156–206, zu Lukács vgl. bes. S. 178–183. Bei Dembski finden sich Hinweise zur weiteren Forschung. 72 Rolf-Peter Janz: »Zur Historizität und Aktualität der ›Theorie des Romans‹ von Georg Lukács«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 674–699, hier S. 676. 73 Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1920, S. 49. 74 Lukács (Anm. 73), S. 44.
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ziellose Aktivität des Helden« gekennzeichnet ist, eignet dem Helden des letzteren eine »kontemplative Haltung«, die mit der »Abwendung von der Außenwelt« einhergeht.75 Cervantes’ Don Quijote nimmt in dieser Typologie insofern eine historisch bedeutsame Position ein, als Cervantes’ »Vision […] an dem Punkt [erwuchs], wo zwei Weltepochen sich schieden«.76 Cervantes’ Roman markiert für Lukács den frühneuzeitlichen Wendepunkt. Aus dem Verlust der Totalität speist sich seines Erachtens die Bedeutung der Zeit für den ›Roman der Innerlichkeit‹, denn »[d]ie Zeit kann erst dann konstitutiv werden, wenn die Verbundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehört hat«.77 Die Zeit löst im Roman den ›Sinn‹ und das ›Wesenhafte‹ der Epopöe ab und wird in Lukács’ Perspektive zu einem Spezifikum der Gattung.78 Obgleich die Epopöe durchaus die Zeit als Dauer zu kennen scheint, hat ihre Zeit ebensowenig eine Realität, eine wirkliche Dauer; die Menschen und die Schicksale bleiben von ihr unberührt; sie hat keine eigene Bewegtheit, und ihre Funktion ist nur die Größe eines Unternehmens oder einer Spannung sinnfällig auszudrücken.79
Tragend sei die »Lebensimmanenz des Sinnes« insofern, als »die Zeit von ihr aufgehoben wird«.80 Denn die »Helden erleben die Zeit innerhalb der Dichtung nicht, an ihre innere Wandlung oder Unveränderlichkeit reicht die Zeit nicht heran«.81 Ganz anders, so Lukács weiter, im Roman: »Im Roman trennen sich
|| 75 Ernst Keller: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben. Literatur- und Kulturkritik 1902–1915. Frankfurt a. M. 1984, S. 190. 76 Lukács (Anm. 73), S. 140. 77 Lukács (Anm. 73), S. 129. 78 Eine temporal fundierte Abgrenzung der Epopöe erfolgt bei Lukács auch gegen das Drama und die Lyrik, vgl. Lukács (Anm. 73), S. 127 f.: Er betont, »[d]aß das Drama den Begriff der Zeit nicht kennt, daß jedes Drama den richtig verstandenen drei Einheiten – wobei Einheit der Zeit Herausgehobensein aus dem Ablauf bedeutet – unterworfen ist«; vgl. des Weiteren S. 135 f.: »Das ist das wesentlich epische dieses Gedächtnisses. Im Drama (und in der Epopöe) existiert das Vergangene nicht oder ist vollkommen gegenwärtig. Da diese Formen den Zeitablauf nicht kennen, gibt es in ihnen keinen Qualitätsunterschied des Erlebens zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem; die Zeit besitzt keine wandelschaffende Macht, nichts wird von ihr in seiner Bedeutung verstärkt oder abgeschwächt. […] Für das lyrische Vergangenheitserlebnis ist nur die Veränderung wesentlich. Die Lyrik kennt kein als Gegenstand gestaltetes Objekt, das entweder in dem luftleeren Raum der Zeitlosigkeit oder in der Atmosphäre des Ablaufs stehen könnte: sie gestaltet den Prozeß des Erinnerns oder des Vergessens, und das Objekt ist nur eine Veranlassung für das Erlebnis.« 79 Lukács (Anm. 73), S. 128. 80 Lukács (Anm. 73), S. 129. 81 Lukács (Anm. 73), S. 128.
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Sinn und Leben und damit das Wesenhafte und Zeitliche; man kann fast sagen: die ganze innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit«.82 Neben Cervantes’ Don Quijote nimmt Gustave Flauberts Education sentimentale in Lukács’ Argumentation eine Sonderstellung ein, denn dieser Roman ist aufgrund der Zeitgestaltung, so sein normatives Urteil, »für die Form des Romans am meisten vorbildlich«; Flaubert steht somit für den Beginn der Moderne.83 Es werde nicht versucht, »daß [sic!] Zerfallen der äußeren Wirklichkeit in heterogene, morsche und fragmentarische Teile durch irgendeinen Prozeß der Vereinheitlichung zu überwinden«, zugleich werde die »Zentralgestalt […] weder durch Beschränkung der Personenzahl und straffe Komposition auf den Mittelpunkt hin, noch durch das Hervorheben ihrer die anderen überragenden Persönlichkeit bedeutsam gemacht«.84 Flauberts »für alle Problematik der Romanform typischste Roman des neunzehnten Jahrhunderts« ist der »einzige«, »der die wahre epische Objektivität und durch sie die Positivität und bejahende Energie einer geleisteten Form erreicht hat«. Als Schlüssel zu dieser Form dient laut Lukács die Zeit:85 Es ist die Zeit, die diese Überwindung möglich macht. Ihr ungehemmtes und ununterbrochenes Strömen ist das vereinigende Prinzip der Homogeneität, das alle heterogenen Stücke abschleift und miteinander in eine – freilich irrationale und unaussprechliche – Beziehung bringt. Sie ist es, die die planlose Wirrnis der Menschen ordnet und ihr den Anschein einer aus sich blühenden Organik verleiht […].86
Wie bei Luhmann ist es bei Lukács also die Zeit, die die Partikularität der »heterogenen Stücke« zu überwinden hilft. Lukács’ die Erinnerung betonende Lektüre von Flauberts Education sentimentale sei überzogen, so Rolf-Peter Janz, vielmehr scheint es, »als habe Lukács Erinnerung als ein für den modernen Roman konstitutives Prinzip ›entdeckt‹«; damit »weisen seine Bestimmungen der Erinnerung und der Zeit […] auf Marcel Prousts ›Recherche‹ voraus«.87
|| 82 Lukács (Anm. 73), S. 129. 83 Lukács (Anm. 73), S. 138. 84 Lukács (Anm. 73), S. 132. 85 Alle Zitate Lukács (Anm. 73), S. 132 f., vgl. Dembski (Anm. 71), S. 178. 86 Lukács (Anm. 73), S. 133. 87 Janz (Anm. 72), S. 693; kritisch zu Lukács’ Flaubert-Lektüre auch Bernhard Schubert: »Der ›ästhetische Gottesbeweis‹. Der Roman als Offenbarungsorgan weltlichen Heilsgeschehens«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 396–434, bes. S. 417 f.
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Hier knüpft Hans Robert Jauß’ Beitrag zur Theorie des Romans – so der Untertitel seiner Studie – an.88 Hintergrund von Jauß’ Proust-Lektüre ist eine im Rückgriff auf Thomas Manns poetologische Ausführungen im Zauberberg entwickelte dreigliedrige Zeit-Erzählungs-Typologie, die von Jauß mit Reflexionsstufen korreliert wird. Der »erste[ ] Schritt der Reflexion« besteht darin, dass sich die Erzählung in der Zeit entfaltet, Zeit ist »ihr Element«.89 Wenn sich der »›Inhalt‹ der Erzählung […] im Ablauf einer imaginären Zeit darstell[t]«, dann liegt der »zweite[ ] Schritt der Reflexion« vor.90 Und wenn schließlich die Zeit »selbst, als solche, an und für sich zum Inhalt der Erzählung, zu ihrem Gegenstande werden«, spricht er vom »dritte[n] Schritt der Reflexion«.91 Jene von Lukács begonnene Argumentation, der die Differenz von Epos und Roman zugrunde liegt, führt Jauß fort, indem er Zeit als binnendifferenzierendes Kriterium für die Romangeschichte versteht. Mit dem Don Quijote – so argumentiert Jauß – sei »der Bruch zwischen Epos und Roman […] vollzogen«,92 werde der Roman mit der Zeit wesenhaft verquickt. Dabei stehe die Zeit aber noch unter der »Herrschaft der Fabel«,93 von der sie sich, hier folgt Jauß der von Lukács postulierten Sonderstellung Flauberts, erst mit der Education sentimentale befreit. Denn bei Flaubert »ist zum ersten Mal die Zeit selbst an die Stelle der Fabel getreten«.94 Die Zeit-Romane des frühen 20. Jahrhunderts – Thomas Manns Zauberberg, Marcel Prousts À la recherche du temps perdu und James Joyces Ulysses – führen Flauberts Erbe programmatisch fort. Jauß verschiebt folglich das Augenmerk: Das Verständnis von Zeit aus einer Zerfallsgeschichte heraus tritt zurück, vielmehr geht es ihm bei der Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Roman um eine Skizze historischer Veränderungen und um eine allgemeine Theorie des modernen Romans, für die Zeit zum Kernkonzept wird. Clemens Lugowski hat im Rahmen seiner Theorie des ›mythischen Analogons‹95 die sukzessive Zersetzung dieser Form von Künstlichkeit, die für ihn Residuum eines verlorenen mythischen Weltverständnisses ist, als Grundlage
|| 88 Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ›À la recherche du temps perdu‹. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Frankfurt a. M. 1986, S. 9. 89 Jauß (Anm. 88), S. 9, H. i. O. 90 Jauß (Anm. 88), S. 9, H. i. O. 91 Jauß (Anm. 88), S. 9, H. i. O. 92 Jauß (Anm. 88), S. 10. 93 Jauß (Anm. 88), S. 11. 94 Jauß (Anm. 88), S. 11. 95 Vgl. Lugowski (Anm. 54), S. 56 ff.
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für frühneuzeitliche Individualität beschrieben.96 Auch wenn sein eigentliches Interesse nicht der Zeit gilt, werden die von ihm beschriebenen Prozesse der Auflösung einer verbindlichen Ordnungsfigur als ›Verzeitlichung‹ lesbar. Das mythische Analogon – als diese Ordnungsfigur – manifestiert sich in der ›linearen Anschauung‹, in ›Aufzählung und Unverbundenheit‹, in der ›Funktion‹, im ›Gehabtsein‹, in der ›Motivation von hinten‹ und der ›Begrenzung der dichterischen Welt‹. »Dem Gehalt des mythischen Analogons nach«, so Lugowskis Fazit seiner Ritter Galmy-Lektüre, »erschien alles Einzelhafte als ein Teilhaftes, unlöslich in eins bestehend mit der wesentlich als zeitlos gesehenen Welt«.97 In der durch das mythische Analogon bestimmten Welt hat »Zeitlichkeit […] keinen Rang, so wird ihr keine Gelegenheit zur Entfaltung in materiale Bestimmtheiten (Gleichzeitigkeiten) gegeben«.98 Deshalb verwundert es nicht, dass einige der Dimensionen des mythischen Analogons über einen temporalen Nukleus verfügen. In der linearen Anschauung im Sinne einer »streng lineare[n] Geschehensreihe«99 gibt es keine Gleichzeitigkeit von Ereignissen, keine erzählerischen Vorund Rückgriffe; charakteristisch ist ein Nacheinander. Es ist die »Zeitauffassung«, die »keine Gleichzeitigkeit [erlaubt]«.100 Die ›Motivation von hinten‹ ist nicht in einem teleologischen Sinne auf ein Ziel hin orientiert, sie verbindet vielmehr alle »Erscheinungsformen des Ergebnismoments zur Einheit«:101 Deshalb, so Lugowski, liegt die Motivierung »in nichts anderem als der großartig einfachen Selbstgenügsamkeit des ergebnishaft sich manifestierenden reinen Seins, das alles endlich-zeitlich Bewegte auf sich hin, in sich hinein zieht«.102 Eine Entzeitlichung attestiert Lugowski ebenso im Rahmen der Begrenzung der Welt: »der Roman ist während seines ganzen Verlaufs am Ende. In dieser Tatsache liegt in Wahrheit die Entwertung der Zeitlichkeit; das Ende in seinem Charakter als zeithafter Abschluß hebt sich selbst auf«.103 Das mythische Analogon
|| 96 Damit führt Lugowski implizit die Zersetzungstheorie Lukács’ fort, ändert aber die Bezugsebene, denn es geht ihm nicht um ein mythisches Weltverständnis, sondern um die Reste dieser eigentlich historisch überholten Konzeption von Welterfahrung in der Dichtung. Zur damit verbundenen ästhetischen Theorie vgl. Matías Martínez: »Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie«. In: Ders. (Hrsg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn 1996, S. 7–24. 97 Lugowski (Anm. 54), S. 106. 98 Lugowski (Anm. 54), S. 88 f. 99 Lugowski (Anm. 54), S. 58. 100 Lugowski (Anm. 54), S. 61. 101 Lugowski (Anm. 54), S. 73. 102 Lugowski (Anm. 54), S. 82 f. 103 Lugowski (Anm. 54), S. 90.
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als formaler Ausdruck eines Höchstmaßes an Geschlossenheit ist im Kern atemporal, erst mit dem Abbau dieser Formhaftigkeit wird Zeit als Dimension der erzählten Welt wichtig. Ich spitze meine Lektüren zu: Zeit als Dimension der Welt ist bei Luhmann, Lukács und Lugowski das Produkt einer Ordnungs- und Sinnauflösung, die von einer zunehmenden Partikularisierung begleitet wird. Bei Luhmann ist es die zunehmende soziale Differenzierung, bei Lukács der Verlust des Sinns, bei Lugowski die Auflösung des ›mythischen Analogons‹. Zeit ist in diesen Zusammenhängen aber eine ambivalente Größe; denn wenn sie auch Produkt der Partikularisierung ist, so hilft sie zugleich als abstrakte Dimension, den Zusammenhalt der vereinzelten Teile sicherzustellen und so ein übergeordnetes System aufzubauen – sie ist Folge eines Auflösungsprozesses und fängt diesen zugleich auf.
2.2 Die Entdeckung des Neuen: Löwith, Koselleck und Watt Während Luhmann, Lukács und Lugowski analoge Erklärungsmuster für die Verzeitlichung der (erzählten) Welt und die Etablierung von Zeit als homogener Dimension in der Frühen Neuzeit liefern, beschreiben Löwith und Koselleck aus der Perspektive der Säkularisierung und Watt mit Blick auf die englische Romangeschichte eine makrostrukturelle Erweiterung der Zeitdimension durch die Einführung des ›Neuen‹ und ›Zukünftigen‹. Ihr Augenmerk gilt dabei vor allem den einschneidenden Entwicklungen im 18. Jahrhundert. Löwith denkt Zeit und Säkularisierung theoretisch zusammen, wenn er den (bei ihm) sehr abstrakt bleibenden Säkularisierungsprozess auf »Zeitkonzeptionen« zurückbezieht und damit erst sichtbar werden lässt.104 Er richtet seine Studie zu ›Weltgeschichte‹ und ›Heilsgeschehen‹ an der Grundthese aus, »daß die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet«.105 Der »moderne Mensch« habe eine »Philosophie der Geschichte« konzipiert, »indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte und auf eine ständig wachsende Zahl von empirischen Kenntnissen anwendete«.106 Löwith argumentiert in einem historisch|| 104 Matthias Pohlig u. a.: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Berlin 2008, S. 43. 105 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u. a. 61973, S. 11 f. 106 Löwith (Anm. 105), S. 26.
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typologischen Dreischritt: Die Folie seiner Überlegungen bildet – als erste Stufe – das griechisch-römische Geschichtsdenken, das er – zweitens – mit der jüdisch-christlichen Geschichtsauffassung kontrastiert, um diese wiederum mit einem ›modernen‹ Verständnis von Geschichte und Zeit ins Verhältnis zu setzen. Während der Wechsel von der antiken Geschichtsauffassung zur christlichen mit einer basalen Änderung der temporalen Struktur einhergeht – ein zyklisches Zeitmodell wird durch ein linear-teleologisches ersetzt –, ist der Wechsel von der zweiten zur dritten Stufe durch die Säkularisierung dieses jüdisch-christlichen Geschichtsmodells charakterisiert. Bei Herodot folge, so Löwith, die Geschichtserzählung »eine[r] periodische[n] Kreisbewegung, innerhalb derer das Auf und Ab der wechselvollen Geschicke durch den Ausgleich von hybris und nemesis geregelt ist«.107 Damit fehlt dem antiken Geschichtsdenken jede zukunftsgerichtete Linearität, denn »[i]nnerhalb einer zyklischen Ordnung des Universums, wo jeder Fortschritt zugleich ein Rückschritt ist, ist für einen nicht umkehrbaren Fortschritt kein Raum«.108 Es ist Augustinus, so Löwith, der in De Civitate Dei die »klassische Theorie der Zeit- und Weltbewegung in einer Theologie der von Gott gelenkten Menschengeschichte zu widerlegen« gesucht hat.109 Zeit erhält durch das Verständnis der Welt als einer geschaffenen und durch die Betonung der historischen Einzigartigkeit der Erlösung durch die Auferstehung Christi eine Richtung: »Das eschaton setzt dem Verlauf der Geschichte nicht nur ein Ende, es gliedert und erfüllt ihn durch ein bestimmtes.«110 Der zweite Übergang vollzieht sich für Löwith mit der Säkularisierung: »Insbesondere war es der Bruch mit der Tradition am Ende des 18. Jahrhunderts, der der modernen Geschichte und unserem modernen historischen Denken das revolutionäre Gepräge gab«,111 denn »nur als säkularisiertes und rationalisiertes Prinzip kann die providentielle Absicht Gottes in ein System gebracht werden«.112 Vor diesem Hintergrund gewinnt das ›Neue‹ in der Geschichte an Relevanz. Die »Zukunft« als jener Zeitpunkt, der Neues bringen soll, wird der »wahre Brennpunkt der Geschichte«.113 Während es Löwith um die historische Stabilität (und Zuspitzung) temporaler Konstruktionsmuster geht, skizziert Reinhart Koselleck – implizit an
|| 107 Löwith (Anm. 105), S. 16, H. i. O. 108 Löwith (Anm. 105), S. 106. 109 Löwith (Anm. 105), S. 148. 110 Löwith (Anm. 105), S. 26, H. i. O. 111 Löwith (Anm. 105), S. 177. 112 Löwith (Anm. 105), S. 176. 113 Löwith (Anm. 105), S. 25.
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Löwiths Position anschließend114 – ein differenziertes Bild der temporalen Veränderungen, die im Zuge der Säkularisierung eintreten. Im Rahmen der Frage nach dem Verhältnis von ›Zeitverkürzung‹ und ›Beschleunigung‹ diskutiert Koselleck die durch die Säkularisierung bedingten Konzeptänderungen, die zugleich jedoch mehr sind, als »bloße Säkularisation«.115 Strukturell gibt es eine Analogie zwischen Zeitverkürzung und Beschleunigung, »[d]enn beide Male zehren die Argumentationen von Zielbestimmung, von Teleologie«.116 Während sich aber die Zeitverkürzung als eine heilsgeschichtliche Kategorie erweist, wird Beschleunigung, die ab dem 16. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt und spätestens mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen signifikanten Schub erfährt, so Koselleck, als genuin modernes Konzept lesbar. Innerhalb dieses Konzepts kommt es zur Umdeutung von temporalen Parametern. In der Zeitverkürzung ist die Zeit für Gott beliebig manipulierbar, es gibt keine Garantie für ihre »Regelmäßigkeit«; anders im Fall der Beschleunigung, denn es ist die Regelmäßigkeit der Zeit, die durch eine erhöhte Frequenz von Ereignissen die Beschleunigung als solche erst erfahrbar werden lässt.117 Damit ist nicht mehr »Gott der Herr der Aktion«, sondern der Mensch, »der die Fortschritte provoziert«.118 Das Jenseits als ›Erlösungsraum‹ verliert ab der Mitte des 17. Jahrhunderts an Relevanz, »[v]ielmehr stehen alle geschichtsphilosophischen Deutungsschemata unter dem Vorgebot, daß alle Aufgaben und Herausforderungen in der geschichtlichen Zeit, mit und durch die geschichtliche Zeit selber zu lösen seien«.119 Das entscheidend Andere ist nun, »daß sich jetzt die in die Zukunft erstreckenden Erwartungen von dem ablösten, was alle bisherigen Erfahrungen geboten hatten«.120 Jenes Auseinanderklaffen
|| 114 Vgl. Pohlig u. a. (Anm. 104), S. 46 f.: Pohlig u. a. unterscheiden im Rahmen von geschichtsphilosophischen Säkularisierungstheorien zwei Fortschrittsthesen: »Entweder erscheint die moderne Fortschrittsidee als vollständig von religiös-eschatologischen Prämissen abgekoppelte Ersetzung der christlichen Zukunftserwartung oder als ein ambivalentes Konglomerat säkularisierter traditioneller Vorstellungen und neuer Ergänzungen, die sich aus christlichen Traditionen nicht erklären lassen.« Sowohl Löwith als auch Koselleck argumentieren im Kern entlang der christlichen Tradition. 115 Reinhart Koselleck: »Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation«. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2003, S. 177–202, hier S. 189. 116 Koselleck (Anm. 115), S. 189. 117 Koselleck (Anm. 115), S. 189. 118 Koselleck (Anm. 115), S. 189. 119 Koselleck (Anm. 115), S. 183; vgl. Reinhart Koselleck: »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien«. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten [1979]. Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375, hier S. 361. 120 Koselleck (Anm. 119), S. 364.
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von ›Erfahrung‹ und ›Erwartung‹ – und damit die permanente Möglichkeit des Neuen – ist für Koselleck das Signum eines modernen Verständnisses von geschichtlicher Zeit. Auch wenn Ian Watt mit Blick auf einen anderen Gegenstand argumentiert, zielt auch er schließlich auf das ›Neue‹ als ein distinktives Kriterium, mittels dessen romance und novel unterschieden werden können. Ausgangpunkt von Watts Studie zum Roman des 18. Jahrhunderts ist die Feststellung, dass der Realismus Daniel Defoes, Samuel Richardsons und Henry Fieldings sich von Weltentwürfen älterer Erzähltexte unterscheide. Dieser Realismus gründet nicht (allein) im Dargestellten, sondern in der Art und Weise der Darstellung.121 Watt versteht den damit angesprochenen Zusammenhang als ein teils epistemologisches Problem, das er im Rückgriff auf die philosophischen Zeitgenossen von Defoe, Richardson und Fielding – also unter anderem Réne Descartes und David Hume – zu lösen versucht, ohne aber Literatur und Philosophie in ein Abhängigkeitsverhältnis stellen zu wollen.122 Er entwickelt das Konzept eines ›formalen Realismus‹, der als modernes Pendant zu Lugowskis ›mythischem Analogon‹ verstanden werden kann und der sich gleichermaßen in der Bauweise der erzählten Welt wie ihrer Vermittlung niederschlägt: Formal realism, in fact, is the narrative embodiment of a premise that Defoe and Richardson accepted very literally, but which is implicit in the novel form in general: the premise, or primary convention, that the novel is a full and authentic report of human experience, and is therefore under an obligation to satisfy its reader with such details of the story as the individuality of the actors concerned, the particulars of the times and places of their actions, details which are presented through a more largely referential use of language than is common in other literary forms.123
Der ›formale Realismus‹ setzt sich unter dem Vorzeichen der Originalität durch und geht mit einer Abwertung des rhetorischen Traditionalismus einher. Aus produktionsästhetischer Perspektive erhält die Kategorie des Neuen damit die Schlüsselposition. Der formale Realismus, wie ihn Watt skizziert, betrifft die Gestaltung des Plots, der Figuren124 und der raumzeitlichen Ordnung125 der er-
|| 121 Vgl. Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding [1957]. London 1974, S. 11. 122 Vgl. Watt (Anm. 121), S. 31. 123 Watt (Anm. 121), S. 32. 124 Watt (Anm. 121), S. 15: »To begin with, the actors in the plot and the scene of their actions had to be placed in a new literary perspective: the plot had to be acted out by particular people in particular circumstances, rather than, as had to been common in the past, by general human types against a background primarily determined by the appropriate literary convention.«
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zählten Welt einerseits und ihre sprachliche Vermittlung andererseits. Zeit spielt im Kontext dieser Dimensionen gleich in einem dreifachen Sinne eine wichtige Rolle: Erstens hat die temporale Dimension Einfluss auf die Motivationsstruktur und Kohärenz des Textes, zweitens gibt sie Einblick in die Innerlichkeit einer Figur sowie ihre Wahrnehmung von Welt und drittens dient sie dazu, den alltäglichen Rahmen der Handlung zu skizzieren.126 Zugleich zeigt Watt, wie der klassischen Ästhetik eine Absage erteilt und somit ein Paradigma verabschiedet wird, das in Universalem (und damit auch Ahistorischem) den eigentlichen Gegenstand der Literatur sieht: »quod semper quod ubique ab omnibus creditum est«,127 ist nicht länger das leitende Motto. Löwith, Koselleck und Watt verweisen – dies dürfte deutlich geworden sein – auf die ›Entdeckung‹ einer neuen und unbekannten Zukunft als zeitlicher Dimension, die sowohl die Wahrnehmung und Gestaltung historischer Entwicklungen bestimmt als auch die für literarische Texte geltende Produktionsästhetik beeinflusst. Parallel zur Erweiterung des Zeithorizontes geht Watt einem zunehmenden Bewusstsein für kürzere Zeitintervalle nach, wie es auch Weber im Rahmen seiner Studie zum Verhältnis von Protestantismus und Kapitalismus herausarbeitet.
2.3 Zeitbeobachtung: Weber und Watt Im Zentrum von Max Webers Studie zur Verschränkung von ›protestantischer Ethik‹ und dem ›Geist des Kapitalismus‹ steht die Genese des »modernen Kapitalismus« durch Rationalisierung.128 Rationalisierung ist für Weber die »Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus«.129 Er entwirft kein monokausales Modell historischer Prozesse: Denn er möchte nicht die »törichtdoktrinäre These« vertreten, »daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei«.130 Seine Studie »behandelt vielmehr […] einen kausal relevanten Faktor für die Genese des modernen okzidentalen prakti-
|| 125 Watt (Anm. 121), S. 21: »In the same way the characters of the novel can only be individualised if they are set in a background of particularised time and place«. 126 Vgl. Watt (Anm. 121), S. 22. 127 Watt (Anm. 121), S. 16, H. i. O. 128 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausg. Hrsg. und eingel. von Dirk Kaesler. München 32010, S. 77, H. i. O. 129 Weber (Anm. 128), S. 181, H. i. O. 130 Weber (Anm. 128), S. 105 f., H. i. O.
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schen Rationalismus«,131 deshalb basiert Webers Modell auch nicht auf der ›kausalen Adäquanz‹ der Untersuchungsgegenstände, sondern auf ihrer ››sinnhaften‹ Adäquanz‹, auf – wie er es nennt – »Wahlverwandtschaften«.132 In der calvinistischen Prädestinations- und Gnadenlehre sieht Weber den Endpunkt »[j]ene[s] große[n] religionsgeschichtliche[n] Prozeß[es] der Entzauberung der Welt, welcher […] alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf«133 und entscheidend zur Herausbildung der dem kapitalistischen Geist nahen ›innerweltlichen Askese‹ führte. Die calvinistische Prädestinationslehre geht nämlich mit Umdeutungen der Werkelehre und Berufsarbeit einher. Es ist allein Gottes Wille, der über das Heil des Menschen entscheidet. Auch wenn der Einzelne sich nicht sicher sein kann, ob er zu den Erwählten zählt, ist ihm die »rastlose Berufsarbeit« ein Zeichen seiner Heilsgewissheit. Das Bestreben, einzelne gute Werke zu verrichten, wird substituiert durch eine »zum System gesteigerte Werkheiligkeit«; damit wird die »ethische Praxis des Alltagsmenschen […] ihrer Plan- und Systemlosigkeit entkleidet und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung« transformiert.134 Ergebnis dieser Umdeutungen ist eine »Rationalisierung«, die »der reformierten Frömmigkeit ihren spezifisch asketischen Zug« verlieh.135 Eher en passant thematisiert Weber Fragen nach der Zeit, doch bezeichnenderweise immer dann, wenn Kernpunkte seiner Argumentation in den Fokus rücken. Die calvinistische Prädestinationslehre führt paradoxerweise dazu, dass die temporale Dichotomie von ›Zeitlichkeit‹ und ›Ewigkeit‹ zugunsten der ersteren verschoben wird. Was den asketischen Protestantismus und den Geist des Kapitalismus verbindet, ist ein analoges ›Zeit-Ethos‹.136 Die »Rationalisierung der Zeit« und die »Aufwertung der Arbeit« bilden den frühneuzeitlichen Kristal-
|| 131 Wolfgang Schluchter: Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. Frankfurt a. M. 1998, S. 279. 132 Vgl. Dirk Käsler: »Max Weber«. In: Ders. (Hrsg.): Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 2: Von Weber bis Mannheim. München 1978, S. 40–177, hier S. 93; Weber (Anm. 128), S. 106; vgl. Ingo Schulz-Schaeffer: »Eigengesetzlichkeit, Spannungsverhältnis, Wahlverwandtschaft und Kausalität. Zum Verhältnis von Religion und Wirtschaft bei Max Weber«. In: Andrea Maurer (Hrsg.): Wirtschaftssoziologie nach Max Weber. Wiesbaden 2010, S. 248–278. 133 Weber (Anm. 128), S. 146, H. i. O. 134 Weber (Anm. 128), S. 155, H. i. O. 135 Weber (Anm. 128), S. 155, H. i. O. 136 Vgl. Michael Hasenfratz: Wege zur Zeit. Eine konstruktivistische Interpretation objektiver, subjektiver und intersubjektiver Zeit. Münster u. a. 2003, S. 297–305.
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lisationspunkt von Webers These, gehören aber zugleich in eine »Langzeitgeschichte der Auseinandersetzung von Glauben und Rationalität«.137 Aufschlussreich für die Stellung der Zeit in Webers Theorie ist der Passus aus Benjamin Franklins Advice to a Young Tradesman (1748), den er nutzt, um den Geist des Kapitalismus zu veranschaulichen: Bedenke, daß die Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schilling durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat nebendem noch fünf Schilling ausgegeben oder vielmehr weggeworfen.138
Zeit ist für Franklin ein Möglichkeitsraum, der ganz im Sinne eines Effizienzpostulats für den Prozess der Wertschöpfung aktiv genutzt werden soll. Parallel zu Franklins Ratschlag liest Weber die Warnung im Christian Directory des puritanischen Theologen Richard Baxter: »Zeitvergeudung«, so formuliert Weber pointiert, ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. Die Zeitspanne des Lebens ist unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung ›festzumachen‹. […] Es heißt [bei Baxter, L. W.] noch nicht wie bei Franklin: ›Zeit ist Geld‹, aber der Satz gilt gewissermaßen im spirituellen Sinn: sie ist unendlich wertvoll, weil jede verlorene Stunde der Arbeit im Dienst des Ruhmes Gottes entzogen ist.139
Unter anderem deshalb ist es für den Gläubigen wichtig, Rechnung darüber abzulegen, wie man die Zeit genutzt hat. Als einen gangbaren Weg propagiert Baxter, wie Weber herausarbeitet, eine Arbeitsauffassung, die zweierlei verbindet: Arbeit als ein »asketische[s] Mittel« und als »Selbstzweck des Lebens überhaupt«.140 Daraus folgen harte Lebensmaximen: streng eingeteilte Zeit, Arbeit, Schweigen […], Verzicht auf den Genuß als solchen, sei er im engsten Sinn ›sinnlicher‹, sei er ästhetisch-literarischer Art, überhaupt auf den nicht rational, z. B. hygienisch, zu rechtfertigenden Gebrauch der Güter dieses Lebens.141
|| 137 Silvio Vietta: Rationalität – Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung. München 2012, S. 24, H. i. O. 138 Benjamin Franklin zitiert nach Weber (Anm. 128), S. 75, H. i. O. 139 Weber (Anm. 128), S. 183 f., H. i. O. 140 Weber (Anm. 128), S. 184, H. i. O. 141 Max Weber: »Antikritisches Schlusswort zum ›Geist des Kapitalismus‹« [1910]. In: Ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München 32010, S. 375–429, hier S. 403, H. i. O.
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Zeitkontrolle auf individueller Handlungsebene bedeutet in diesem Sinne immer auch rationale Effizienz. Die Effekte dieses rationalen Verständnisses von Zeit werden von Weber aber für die Ordnungs- und Kulturebene nicht ausgeführt. Die Frage nach Zeit hat für ihn im Rahmen der Studie auf theoretischer Ebene also keine weitreichende Bedeutung, aufschlussreich sind allein die Diskurse über Zeit, die in den von Weber präsentierten Quellen geführt werden. Sie geben – ganz im Sinne einer historischen Semantik – Einsicht in jene Normen, die in diesen impliziert sind. Ein Interesse an der Zeitbeobachtung und ein Bewusstsein für die Bedeutung kleinster Zeiteinheiten, wie sie aus Webers Quellen ablesbar sind, beschreibt auch Ian Watt. Sowohl dem vormodernen Drama als auch der vormodernen Prosa fehlt, so Watt, das Interesse an temporalen Mikrostrukturen: »[T]he weel of time churns out the same eternally applicable exempla.« Das, was diese Texte auszeichnet, ist »a striking lack of interest in the minute-by-minute and day-to-day temporal setting«, »the sequence of events is set in a very abstract continuum of time and space, and allows very little importance to time as a factor in human relationships«.142 Dies ändert sich mit dem ›formalen Realismus‹, der eine neue Akkuratesse mit sich bringt. In Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), so Watt, liegt »for the first time in the history of fiction« ein Roman vor, in dem des Helden »day-by-day mental and moral life is fully shared by the reader«.143 Zu der von Watt attestierten »rigorous moral and religious selfexamination«, die in der Tradition puritanischer Praxis steht, gehören sowohl Crusoes Kalender wie auch sein akribisch geführtes Tagebuch. Neben der sich im Robinson Crusoe abzeichnenden Rationalisierung von Zeit spiele in einem allgemeineren Sinne eine mikroskopische Zeitregie auch für die Innenweltdarstellung der Figuren eine entscheidende Rolle, denn [t]he main problem in portraying the inner life is essentially one of the time-scale. The daily experience of the individual is composed of a ceaseless flow of thought, feeling and sensation; but most literary forms – biography and even autobiography for instance – tend to be of too gross a temporal mesh to retain its actuality; and so, for the most part, is memory. Yet it is this minute-by-minute content of consciousness which constitutes what the individual’s personality really is […].144
Nicht ausschließlich die temporale Langzeitperspektive in Form der Vorstellungen von Zukunft erweist sich also als wichtig, auch den kleinen Zeiteinheiten,
|| 142 Alle Zitate Watt (Anm. 121), S. 23, H. i. O. 143 Watt (Anm. 121), S. 76. 144 Watt (Anm. 121), S. 191 f.
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den temporalen Details, wird ein historisch differenzierendes Potenzial zugesprochen. *** Zu behaupten, dass es einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen Zeit als Parameter von Modernitäts- und Romangeschichte gäbe, wäre – mit Weber gesprochen – »töricht«. Auffällig sind aber die Verbindungslinien und Überschneidungen zwischen Zeitvorstellungen, Modernisierungsprozessen und Romangeschichte – also, mit einer Metapher Webers ausgedrückt, die »Wahlverwandtschaften« zwischen den Entwicklungen. Die Komplexität der Verbindungen zwischen diesen verhindert einen kausalen Kurzschluss; die sich abzeichnenden Überschneidungen verweisen aber auf Zeit als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse. Darüber hinaus – d. h. jenseits des konkreten Wandels von Zeitvorstellungen – fungiert Zeit als interpretativer Synthesebegriff, in dem Veränderungsprozesse gebündelt und abstrahiert werden. In dieser Zweipoligkeit von Zeit als Phänomen und als Interpretationskategorie und vor der Folie der skizzierten historischen Veränderungen liegt die kulturhistorische und -theoretische Relevanz der Frage nach den Eigenheiten und Veränderungen von Zeitkonzepten in Erzähltexten zwischen 1500 und 1750. Methodisch erfordert die Bearbeitung dieser Frage einen Entwurf von Zeit, der die Möglichkeit der Historisierung bietet und mittels dessen Kontinuitäten ebenso sichtbar werden wie Veränderungen. Das etablierte erzähltheoretische Instrumentarium zur Zeitanalyse stößt in diesem Punkt schnell an seine Grenzen, da Zeit in der Regel ahistorisch gedacht wird, wie ich in Kapitel 3 zeigen will. Das Konzept einer ›historischen Narratologie‹ der Zeit erhält seine Berechtigung also mit Blick auf das skizzierte historische Erkenntnisinteresse und – wie nun zu zeigen ist – aufgrund eines methodischen Desiderats der Erzählforschung.
3 Historische Narratologie Nach dem Blick auf die Schlüsselfunktion von Zeit für frühneuzeitliche Transformationsprozesse setze ich nun methodisch an. Diesem Kapitel zur historischen Narratologie, das die methodischen Grundzüge meines Vorgehens begründet, liegt ein argumentativer Dreischritt zugrunde. Die Notwendigkeit, Zeit als erzähltheoretische Kategorie zu historisieren, geht – wie ein Blick auf die gängigen Positionen der Erzählforschung zeigt – aus einem methodischen Desiderat innerhalb der Theoriebildung hervor (Kap. 3.1). In einem zweiten Schritt werden die Möglichkeiten und Grenzen der Historisierung vor dem Hintergrund neuerer Arbeiten zu einer historisch und kontextuell ausgerichteten Narratologie ausgelotet (Kap. 3.2), um in einem dritten Schritt ein Historisierungsmodell zu präsentieren, das auf einem relationalen Konzept von Zeit basiert (Kap. 3.3). Den folgenden Ausführungen liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich eine Historisierung von Zeit nicht in der Einbettung eines Erzähltextes in soziohistorische, diskursive oder andere nicht-literarische Kontexte erschöpfen muss, sondern dass ein relationaler Begriff von Zeit eine Historisierung möglich macht, in der die kompositorische und literarische Gemachtheit des Textes im Vordergrund steht.
3.1 Historisierung als methodisches Desiderat Der grundlegenden Verschränkung von Zeit und Erzählen trug die Erzählforschung in all ihren Ausprägungen von den proto-narratologischen Ansätzen des russischen Formalismus und der deutschen Romanforschung über die klassische strukturalistische Narratologie der späten 1960er Jahre bis hin zu den (postclassical) new narratologies der Gegenwart Rechnung.145 || 145 Einen systematisch-historischen Abriss der erzähltheoretischen Auseinandersetzung mit Zeit liefern Michael Scheffel/Antonius Weixler/Lukas Werner: »Time«. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): Handbook of Narratology. Second edition, fully revised and expanded. Berlin/Boston 2014, S. 868–886; zudem habe ich einige Überlegungen in folgender Überblicksdarstellung skizziert: Lukas Werner: »Zeit«. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150–158. Verwiesen sei zudem auf den von Antonius Weixler und mir herausgegebenen Sammelband (Zeiten erzählen), dort besonders auf die Einleitung, sowie einen Überblicksartikel, den wir für das von Martin Huber und Wolf Schmid herausgegebene Handbuch Erzählen (2017) geschrieben haben. Die folgenden Überle-
DOI 10.1515/9783110566857-004
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Die »Königin Zeit«146 erfreute sich besonderer Popularität, sodass Vertreter des spatial turns der Narratologie immer wieder ›Zeitdominanz‹ vorwarfen.147 Inwiefern sich dieser Vorwurf eher einer forschungspolitischen Positionierung verdankt und weniger in der Sache begründet ist, zeigt die Rekonstruktion der erzähltheoretischen Auseinandersetzung mit Zeit, die nicht nur Forschungslücken, sondern gleichermaßen methodische Unzulänglichkeiten sichtbar werden lässt. Die Erzählforschung hat jenseits der Tempus-Debatten, wie sie von Käte Hamburger und ihren Nachfolgern in Deutschland und Jean Pouillon sowie Roland Barthes in Frankreich geführt wurden, der Zeitdimension des Erzählens vor allem in einem konzeptuellen und einem analytischen Sinne Rechnung getragen.148 Im konzeptuellen Kontext einer Texttypologie fungiert die zeitliche Dimension des Erzählten als Kriterium, um Erzählungen gegen andere Texttypen wie die ›Beschreibung‹ abzugrenzen. Zeit ist der Referenzparameter für ›Narrativität‹. Im analytischen Kontext kommt – die rhetorische Tradition von ordo naturalis und ordo artificialis fortführend149 – das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit des Erzählens in den Blick. Gérard Genette hat dieses Verhältnis im Discours du récit (1972) und im Nouveau discours du récit (1983) mithilfe der Kategorien ›Ordnung‹ (ordre), ›Dauer‹/›Geschwindigkeit‹ (durée/vitesse) und ›Frequenz‹ (frequénce) und einer Reihe von Unterkategorien vielschichtig beschreibbar gemacht.150 Verbreitung fand der Genette’sche Vorschlag in »›Pragmatisierungen‹ dieses Wissenssys-
|| gungen und Ausführungen basieren teils auf diesen Arbeiten, die in Passagen in die vorliegende Studie eingegangen sind. 146 Hartmut Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«. In: Ders. (Hrsg.): Topographien der Literatur. DFG-Symposion 2004. Stuttgart/Weimar 2005, S. IX–XXIII, hier S. XII. 147 Vgl. Melanie Fröhlich: Zeitkonzeptionen in Erzähltheorie und Kulturwissenschaft. Ein kritischer Vergleich. Saarbrücken 2008, S. 18 ff.; Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009, S. 4. 148 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Ken Ireland: »Temporal Ordering«. In: RENaTh, S. 591–592; Monika Fludernik: »Time in Narrative«. In: RENaTh, S. 608–612; Werner (Anm. 145). 149 Vgl. Ulrich Ernst: »Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie«. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Fs. für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199. 150 Genettes Discours du récit erschien als Teil von Figures III (Paris 1972); dt.: »Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch«. In: Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Franz. v. Andreas Knop. München 21998, S. 9–192, bes. S. 21–114; Gérard Genette: Nouveau discours du recit. Paris 1983, dt. »Neuer Diskurs der Erzählung«. In: Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Franz. v. Andreas Knop. München 21998, S. 193–298, bes. S. 205–218.
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tems«,151 wie sie ab den späten 1970er Jahren in der angelsächsischen Welt (Seymour Chatman, Gerald Prince152), den Niederlanden (Mieke Bal153), Deutschland (Matías Martínez/Michael Scheffel;154 Monika Fludernik und Silke Lahn/Jan Christoph Meister) und Israel (Shlomith Rimmon-Kenan155) vorgelegt wurden. Darüber hinaus hat man Genettes Kategorien der Zeitanalyse zu ergänzen gesucht. So erweitert Alfonso de Toro die Genette’sche Taxonomie, wenn er innerhalb der Frage nach der Anordnung (also im Bereich des ordre) zwischen ›expliziten‹ und ›impliziten Anachronien‹ differenziert und weitere Zeitformen wie die ›explizite/implizite Zeitpermutation‹, die ›explizite/implizite Zeitüberlagerung‹, die ›explizite/implizite Zeitverflechtung‹, die ›explizite/implizite Synchronie‹, die ›Simultaneität‹ sowie ›Zirkularität‹ einführt.156 Diese Kapitel aus der Geschichte der Erzählforschung sind hinlänglich bekannt, deshalb verzichte ich auf eine rein historische Rekonstruktion. Nimmt man jedoch das Theoriedesign von Zeit en détail in den Blick, dann werden, durch alle Phasen der Erzählforschung hindurch, vier Problemfelder sichtbar, die auf methodische Desiderate verweisen. Die erzählte Zeit spielt als Kriterium
|| 151 Jörg Schönert: »Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie«. In: Vittoria Borsò/Christoph Kann (Hrsg.): Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 131–143, hier S. 138. 152 Vgl. Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London 1978, S. 62–84: Chatman schließt an Günther Müllers Unterscheidung zwischen ›Erzählzeit‹ und ›erzählter Zeit‹ (bei Chatman »discourse-time«/»story-time«) sowie an Gerard Genettes drei zeitliche Kategorien, Ordnung (»order«), Dauer (»duration«) und Frequenz (»frequency«), an. Vgl. zudem Gerald Prince: Narratology. The Form and Functioning of Narrative. Berlin 1982; Gerald Prince: A Dictionary of Narratology. Aldershot 1988, S. 21, S. 92 und S. 98: Prince behandelt insbesondere Erzählphänomene, die aus der Differenz zwischen »discourse time« und »story time« hervorgehen. 153 Vgl. Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Übers. v. Christine van Boheemen. Toronto/Buffalo/London 1985, S. 37–43; neben der allgemeinen Unterscheidung zwischen Ordnung und Dauer führt Bal analog zur aristotelischen ›Einheit der Zeit‹ die Differenzierung zwischen den temporalen Konzepten »crisis« und »development« ein: »the first term indicates a short span of time into which events have been compressed, the second a longer period of time which shows a development« (S. 38). 154 Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktual. Aufl. München 2012, S. 32–49. 155 Vgl. Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London 1983, S. 43–58: Rimmon-Kenan greift ebenfalls die drei zentralen Kategorien Genettes auf: »order«, »duration«, »frequency«. 156 Vgl. Alfonso de Toro: Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman: Am Beispiel von G. García Márquez’ ›Cien años de soledad‹, M. Vargas Llosas ›La casa verde‹ u. A. Robbe-Grillets ›La maison de rendez-vous‹. Tübingen 1986, S. 26–50, bes. S. 26.
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eine entscheidende Rolle bei der Konzeption von Narrativität, bleibt aber, so der erste Punkt, als Größe unexpliziert und theoretisch unreflektiert. Eine eigenständige Theorie der erzählten Zeit, so der zweite Punkt, gibt es nicht. Bei der Analyse des Verhältnisses von histoire und discours wird jedoch die erzählte Zeit als konstante Größe mit implizit zugeschriebenen Eigenschaften gesetzt, darin liegt das dritte Problem. Den in der Narratologie genutzten analytischen Kategorien wird, so der vierte Punkt, transhistorische Gültigkeit zugesprochen, sodass historische Eigenheiten von Zeitvorstellungen bei einem klassischen Zugriff entweder nicht sichtbar oder gar nivelliert werden. Zum Ersten: Aus der Grundsatzdiskussion um Narrativität ist Zeit als Dimension der erzählten Welt nur schwer wegzudenken.157 Im Rahmen texttypologischer Überlegungen wird Zeit als wesentlich für die Narrativität eines Textes angesehen: Je nach Ansatz ist Zeit allein, Zeit in Verbindung mit Kausalität, Zeit als Grunddimension von Zustandsveränderungen und Zeit im Sinne einer durch den Leser aktivierten Größe das entscheidende Kriterium. Michail Petrovskij, der neben seinem Schüler Aleksandr A. Reformatskij zu den Hauptvertretern der sog. Kompositionstheorie gehört,158 macht die signifikante Differenz zwischen Formen der narratio und der descriptio an der Präsenz bzw. Absenz einer temporalen Dimension fest. Konstitutiv für narrative Texte sei die »zeitliche[ ] Abfolge«, die sie entwerfen.159 Freilich bildet, so auch Boris V. Tomaševskij, Zeit die Grunddimension der »Fabel«, doch die »Fabel [verlangt, L. W.] nicht nur ein temporales, sondern auch ein kausales Merkmal«.160 An der aristotelischen Poetik orientierte Bestimmungen von Narrativität,161 die eine zeitliche und eine
|| 157 Eine Ausnahme bildet hier beispielsweise Monika Fluderniks Modell der ›Erfahrungshaftigkeit‹ (experientiality) im Sinne einer »quasi-mimetic evocation of ›real-life experience‹«, die für sie gleichbedeutend mit der Narrativität des Textes ist. Fludernik sucht die elementare Stellung des Plots durch die emotionale ›Erfahrung‹, die ein Text vermitteln kann, zu ersetzen, Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology. London 1996, S. 12. 158 Vgl. Matthias Aumüller: »Die russische Kompositionstheorie«. In: Wolf Schmid (Hrsg.): Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze. Berlin/New York 2009, S. 90– 140, bes. S. 91 und S. 94. 159 Michail Petrovskij: »Die Morphologie von Puškins Erzählung ›Der Schuss‹« [1925]. In: Wolf Schmid (Hrsg.): Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen. Berlin/New York 2009, S. 67–89, hier S. 68. 160 Boris V. Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931). Hrsg. u. eingel. v. Klaus-Dieter Seemann, aus dem Russ. übers. v. Ulrich Werner. Wiesbaden 1985, S. 215. 161 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2005, S. 35 (1452a): Die Ereignisse einer ›Fabel‹ müssen nicht nur chronologisch aufeinan-
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kausale Komponente verschränken, bestimmen u. a. auch E. M. Forsters Differenzierung zwischen story und plot162 und haben Eingang gefunden in neuere Unterscheidungen zwischen ›Geschehen‹ und ›Geschichte‹.163 Definitionen von Narrativität hingegen, die mit ›Zustandsveränderung‹ als tragendem Konzept operieren, legen eine temporale Kontinuität und die Identität des Gegenstandes zugrunde. Das Kriterium der kausalen Verknüpfung ist in diesem Kontext meist nachrangig. So bringt Arthur C. Danto das Modell historischer Ereignisse, das für ihn strukturanalog zu Erzählungen ist, auf die Formel: (1) x ist F in t-1. (2) H ereignet sich mit x in t-2. (3) x ist G in t-3.164
Zwischen zwei Zeitpunkten (t1 und t3), an denen x jeweils andere Eigenschaften besitzt (F und G), liegt ein dritter Zeitpunkt (t2), an dem sich etwas ereignet, das zu einer Zustandsveränderung führt. Die von Danto beschriebene Struktur entspricht einem ›weiteren Begriff‹ von Narrativität, der alle »Repräsentationen« umfasst, »die die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen«.165 Ebenso wie für die formalen und strukturalen Ansätze spielt Zeit bei der Bestimmung von Narrativität auch für neuere, kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten eine zentrale Rolle. In diesem Kontext ist sie jedoch mehr als eine statische Größe der erzählten Welt, vielmehr geht sie aus der Dynamik zwischen Text und Leser hervor. Meir Sternberg beispielsweise definiert Narrativität über drei Aspekte: »I define narrativity as the play of suspense/curiosity/ surprise between represented and communicative time«.166 Die ›zeitliche Deformation‹, die jene drei für Narrativität konstitutiven Effekte suspense, curiosity und surprise hervorbringt, ist für ihn die Primärbedingung von Narrativität. Denn diese drei Effekte korrelieren mit temporalen Strukturen: »Suspense thus essentially relates to the dynamics of the ongoing action; curiosity, to the dy|| der folgen, sondern »müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen«. 162 Vgl. Edward M. Forster: Aspects of the Novel [1927]. London 1969, S. 82. 163 Vgl. unter anderem die Differenz zwischen ›Geschehen‹ vs. ›Geschichte‹ bei Martínez/ Scheffel (Anm. 154), S. 111–114. 164 Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1980, S. 376. 165 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin/New York 2008, S. 3. 166 Meir Sternberg: »Telling in Time (II): Chronology, Teleology, Narrativity«. In: Poetics Today 13 (1992), H. 3, S. 463–541, hier S. 529.
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namics of temporal deformation.«167 Auch die Überraschung führt Sternberg auf ihre zeitliche Dimension zurück: A surprise narrative, like all narrative/narrativity, is not given in representation – much less in any predetermined form – but (re)constructed in communication to produce the generic interplay between times, abruptly twisted for surprise.168
Während Sternberg Zeit zu seinem konzeptuellen Nukleus macht, entwirft David Herman ein mehrgliedriges Konzept von Narrativität. Vier Parameter seien entscheidend für Narrationen: »situatedness«, »event sequencing«, »worldmaking/world disruption« und »what it’s like«.169 Vor allem Hermans zweites Kriterium zielt auf die ›zeitliche Struktur‹ (temporal structure) des Erzählten, die als ein Schlüssel für den Leser fungiert, »to construct mental representations of narrated worlds, that is, storyworlds«.170 Eingespannt ist Hermans Auseinandersetzung mit der temporalen Dimension von Texten – wie bei Petrovskij – in eine Texttypologie, im Rahmen derer er ›beschreibende‹, ›narrative‹ und ›erklärende‹ Texte (description, narrative, explanation) unterscheidet. Wenngleich Sternberg auf den Effekt temporaler Strukturen beim Leser abzielt und wenngleich Herman versucht, den Anteil des Lesers an der Konstruktion der erzählten Welt mitzudenken, bleibt das Konzept von Zeit, das beide ihren Argumentationen zugrunde legen, unexpliziert. Im Falle von Sternberg bleibt des Weiteren seine Theorie der Dichotomie von Erzählzeit (communicative time) und erzählter Zeit (represented time) – mit all ihren problematischen Implikationen (dazu gleich mehr) – verpflichtet. Zum Zweiten: Eine Theorie der erzählten Zeit, die sie konzeptualisieren und durch Begriffe operationalisieren würde, fehlt bislang, auch wenn es im Rahmen erzähltheoretischer Arbeiten immer wieder Versuche gab, bestimmte Formen der Zeit-Evokation zu klassifizieren und Zeit-Typen als Begriffe einzuführen. Im Hinblick auf die ›Fabelzeit‹ unterscheidet beispielsweise Tomaševskij verschiedene Techniken der Erzeugung von Temporalität. So kann sie durch »Datierung[en]«, die entweder ›absolut‹ (nach dem Schema: ›am 12. Januar 1984…‹) oder ›relativ‹ (›nach sieben Jahren…‹) sind, explizit durch die Benennung von »Zeiträume[n]« (›das Gespräch dauerte drei Stunden‹) und/oder implizit durch den »Eindruck von […] Dauer«, den die erzählten Ereignisse hervor-
|| 167 Meir Sternberg: Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction. Indiana 1978, S. 65. 168 Sternberg (Anm. 166), S. 521. 169 David Herman: Basic Elements of Narrative. Oxford 2009, S. 9 ff. 170 Herman (Anm. 169), S. 19.
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bringen, generiert werden.171 Analoge Versuche finden sich bei de Toro, der zwischen ›punktueller Zeitkonkretisation‹, unter der er »die genaue, fast chronometrische zeitliche Fixierung eines Ereignisses« fasst, und ›nicht-punktueller Zeitkonkretisation‹, die »vage, metaphorische Situierung[en]« bezeichnet, unterscheidet. Im Rahmen der Letzteren differenziert er des Weiteren zwischen ›impliziten‹ und ›expliziten‹ Formen. Im ersten Fall wird »das Vergehen der Zeit« durch Tageszeiten, die »Beschreibung der Figurenphysiognomie«, »die Veränderung des Stadtbildes« oder durch den »Lebenswandel einer Figur« angezeigt. Im zweiten Fall »werden Zeitangaben über das Verrinnen der Zeit von Stunden, Tagen, Monaten und Jahren in einer sehr vagen und unbestimmten Form wiedergegeben«.172 Günther Müller unterscheidet zwar zwischen ›physikalischer‹ und ›psychischer Zeit‹, aber diese Differenzierung bleibt folgenlos für seine systematischen Überlegungen.173 Der momentan differenzierteste Zugriff auf die mikroskopische Evokation von Zeit liegt im Rahmen des computerphilologischen Ansatzes CATMA vor.174 Die neuere Erzähltheorie widmet sich jedoch nur begrenzt Formen erzählter Zeit, die von ihrem Standardmodell abweichen und damit auch die etablierten Kategorien der Erzähltheorie in Frage stellen.175 Brian Richardsons Konzepte von »circular«, »contradictory«, »antinomic«, »differential«, »conflated« oder »dual/multiple« Erzählungen und Zeiten,176 die seines Erachtens zugleich die Dichotomie von histoire (story) und discours (discourse) hinterfragen, stoßen auf kritische Gegenstimmen, die dieses Verhältnis nicht gefährdet sehen.177 In der Gesamtschau bleibt die erzählte Zeit ein ›blinder Fleck‹ der Theorie.178
|| 171 Tomaševskij (Anm. 160), S. 226 f. 172 Alle Zitate de Toro [Anm. 156], S. 49 f. 173 Vgl. Günther Müller: »Erzählzeit und erzählte Zeit« [1948]. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. v. Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 269–286, hier S. 273. 174 Vgl. Lena Schüch: »Computerphilologische Analyse. ›Tagging in a huge meadow of time‹ – Analysen der Zeit in Erzähltexten mit Hilfe des Programms CATMA«. In: Antonius Weixler/ Lukas Werner (Hrsg.): Zeiten erzählen. Ansätze, Analysen, Aspekte. Berlin/Boston 2015, S. 27– 51. 175 Vgl. z. B. David Herman: »Limits of Order: Toward a Theory of Polychronic Narration«. In: Narrative 6 (1998), S. 72–95. 176 Brian Richardson: »Beyond Story and Discourse: Narrative Time in Postmodern and Nonmimetic Fiction«. In: Ders. (Hrsg.): Narrative Dynamics: Essays on Time, Plot, Closure, and Frames. Columbus 2002, S. 47–63, bes. S. 48–52. 177 Dan Shen: »Defense and Challenge: Reflections on the Relation Between Story and Discourse«. In: Narrative 10 (2002), S. 222–243; Brian Richardson: »Antinomies of Narrative Temporality. A Response to Dan Shen«. In: Narrative 11 (2003), S. 234–236; Dan Shen: »What Do
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Zum Dritten: Dieser Befund wäre – über das reine Desiderat hinaus – im Hinblick auf das methodische Vorgehen der Erzählforschung ohne größeren Belang, wenn man die diegetische Ebene und das Verhältnis von histoire und discours autonom denken könnte. Allerdings präsupponiert eine Analyse des Verhältnisses zwischen discours und histoire immer die Beschaffenheit der ›diegetischen Zeit‹. Charakteristisch für die »Bauformen einer Erzählung« ist, so Eberhard Lämmert, »daß die monotone Sukzession der erzählten Zeit beim Erzählen auf verschiedene Weise verzerrt, unterbrochen, umgestellt oder gar aufgehoben wird«.179 Die u. a. von Boris V. Tomaševskij, Günther Müller und Gérard Genette eingeführten analytischen Kategorien suchen diese Abweichungen im Konnex von histoire und discours systematisch zu beschreiben. Zu unterscheiden sind »erzählte Zeit« und »Erzählzeit«: Während – so die bekannte Differenzierung – der erste Terminus die Zeit der erzählten Geschichte bezeichnet, benennt der zweite die »physikalische Zeit«, »die der Erzähler zum Erzählen seiner Geschichte braucht« und als deren Maß der »Umfang« in »Druckseiten« gelten kann.180 Oder mit Tomaševskij formuliert: Zu trennen sind »Fabelzeit« und »Erzählzeit«, dabei ist »die Fabelzeit […] die hypothetische Zeit, in der sich die dargelegten Ereignisse vollziehen, die Erzählzeit […] die Zeit, die das Lesen eines Werkes einnimmt […]; sie deckt sich mit dem Begriff des Werkumfangs«.181 Roland Barthes verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff »Papierzeit«.182 Die Analysen der Anordnung der Ereignisse auf der Ebene der Erzählung gehen immer von der »monotonen Sukzession der erzählten Zeit« (Lämmert) aus, von einer ›chronologischen Folge‹, einer ›zeitlichen Abfolge‹, einem ›Aufeinanderfolgen‹ oder einer ›angenommenen Chronologie‹ – so einige der immer wieder genutzten Phrasen. Shlomith Rimmon-Kenan spricht im || Temporal Antinomies Do to the Story-Discourse Distinction? A Reply to Brian Richardson’s Response«. In: Narrative 11 (2003), S. 237–241. 178 Auch der von Jan Christoph Meister und Wilhelm Schernus herausgegebene Band gibt keine instruktiven Impulse in dieser Hinsicht, vgl. Jan Christoph Meister/Wilhelm Schernus (Hrsg.): Time – From Concept to Narrative Construct. A Reader. Berlin/New York 2011. Vom ›blinden Fleck‹ habe ich bereits ein einer älteren Überblicksdarstellung gesprochen, vgl. Werner (Anm. 145), S. 151. 179 Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens [1955]. 2., durchges. Aufl. Stuttgart 1967, S. 32, H. i. O. 180 Müller (Anm. 173), S. 270; vgl. darüber hinaus Ders.: »Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung« [1946]. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. v. Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 247–268. 181 Tomaševskij (Anm. 160), S. 226. 182 Vgl. Roland Barthes: »Der Diskurs der Geschichte« [1967]. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M. 2006, S. 149–163, hier S. 152.
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Rückgriff auf Todorov von einer Konvention, »which identifies it [d. h. storytime, L. W.] with ideal chronological order, or what is sometimes called ›natural chronology‹«.183 Die Beschreibung der discours-Abweichung im Hinblick auf ›Ordnung‹, ›Dauer‹ und ›Frequenz‹ funktioniert nur dann, wenn Zeit ganz im Sinne der ›natural chronology‹ als gleichmäßig fortschreitende Größe begriffen wird. Konzeptuell rückt Zeit damit in die Nähe von Chronologie. Dabei handelt es sich um einen begrifflichen Kurzschluss, der sich immer wieder auch im terminologischen Umgang niederschlägt. Roland Barthes’ im Rückgriff auf Vladimir Ja. Propp, Claude Bremond, Algirdas Julien Greimas und Tzvetan Todorov konzipierte Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen184 – die erstmals im wegweisenden Jahrgang 1966 der Zeitschrift Communications erschien – ist ein Beispiel dafür. Barthes’ Einführung gründet auf einem aus »drei Beschreibungsebenen« bestehenden Modell: Er differenziert zwischen »Funktionen«, »Handlungen« und »Narration«.185 Zeit behandelt er im Abgleich mit logischen Relationen vor allem im Rahmen der ›Funktionen‹. Seine Unterscheidung zwischen ›Kardinalfunktionen‹ als »Scharniere[n] der Erzählung« und ›Katalysen‹, die den »narrativen Raum [›füllen‹]«,186 operiert mit der Funktionalität von Einheiten im Gesamtzusammenhang der Erzählung, setzt aber diese zugleich in Korrelation zu zeitlichen Strukturen. Während ›Kardinalfunktionen‹ sowohl eine chronologische als auch logische Dimension besitzen (chronologique et logique), haben ›Katalysen‹ »rein chronologische Funktionalität« (purement chronologique). Es ist die Spannung zwischen temporaler und logischer Struktur der Erzählung, die zur »treibende[n] Kraft der narrativen Aktivität« wird. Hier kombiniert Barthes – ganz im Sinne der Grundsatzdiskussionen um Narrativität – eine zeitliche und eine kausale Komponente. Die Kardinalfunktionen aber verursachen das »›Zerreiben‹ der Logik und der Zeitlichkeit« (et cet ›écrasement‹ de la logique et de la temporalité, c’est l’armature des fonctions cardinales qui l’accomplit).187 In den Ausführungen zur »funktionellen Syntax« reflektiert Bar-
|| 183 Rimmon-Kenan (Anm. 155), S. 16. 184 Die französischen Zitate, die hier aus Gründen der Argumentation präsentiert werden, stammen aus der Originalausgabe: Roland Barthes: »Introduction à l’analyse structurale des récits«. In: Communications 8 (1966), S. 1–27; auf den Einzelstellennachweis wird aber verzichtet, nachgewiesen werden die deutschsprachigen Zitate nachfolgender Ausgabe: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen« [1966]. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Franz. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143. 185 Barthes (Anm. 184), S. 108, H. i. O. 186 Barthes (Anm. 184), S. 112. 187 Alle Zitate Barthes (Anm. 184), S. 113.
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thes dieses Problem, indem er es pointiert zu der Frage umformuliert: »Birgt die Zeit der Erzählung eine zeitlose Logik?«188 In Abgrenzung zu Propp, für den in der Morphologie des Märchens die temporale Linearität Grundlage narrativer Inhalte ist,189 stellt Barthes fest, dass »die aktuelle Analyse [bestrebt ist], den narrativen Inhalt zu ›entchronologisieren‹, zu ›relogofizieren‹« (L’analyse actuelle tend en effet à ›déchronologiser‹ le continu narratif et à le ›relogifier‹). Er postuliert, indem er Claude Lévi-Strauss zitiert: »Die Ordnung der chronologischen Sukzession wird in einer atemporellen Matrizenstruktur resorbiert«.190 Zeit wird für Roland Barthes zu einer »chronologischen Illusion«, die es mithilfe »narrative[r] Logik« zu erfassen und damit aufzulösen gilt.191 Wie in den strukturalen Modellen von Claude Bremond und Algirdas J. Greimas wird auch bei Barthes, so Paul Ricœurs zugespitztes Urteil, eine zunehmende ›Logofizierung‹ und ›Entchronologisierung‹ der Erzählung betrieben.192 Unabhängig von der systematischen Abwertung von Zeit zugunsten einer »atemporellen Matrizenstruktur«, oder mit Greimas gesprochen: zugunsten einer »binären semischen« Opposition,193 zeigen Barthes’ Begriffsverwendung und die von ihm in Anlehnung an Lévi-Strauss aufgebauten Wortpaare signifikante Implikationen. Spricht Barthes nämlich von den Eigenschaften der ›Katalysen‹ und ›Kardinalfunktionen‹, ist immer von ›Chronologie‹ im Sinne von ›linear vergehender Zeit‹ die Rede. In seiner Folgerung aber ersetzt Barthes den Begriff ›Chronologie‹ durch ›Zeitlichkeit‹ (temporalité). Analog zur Differenz zwischen ›Logik‹ (logique) und ›Zeit‹ (temporalité) verwendet er mit Lévi-Strauss die Differenz zwischen ›logisch‹ und ›chronologisch‹, sodass in seinen Aussagen ›Chronologie‹ und ›Zeit‹ als Begriffe einander ersetzen können. Zeit wird – um es auf den Punkt zu bringen – reduziert zu Chronologie. Gerade mit Blick
|| 188 Barthes (Anm. 184), S. 116; im Original: »Y a-t-il derrière le temps de récit une logique intemporelle?«, m. H. 189 Vgl. Vladimir Ja. Propp: Morphologie des Märchens [1928]. Hrsg. von Karl Eimermacher. München 1972, S. 28. 190 Barthes (Anm. 184), S. 117; Claude Lévi-Strauss: »La Structure et la Forme«. In: Cahiers de l’Institut de Science Economique Appliquee 99 (1960), H. 7, S. 3–36, hier S. 29: »L’ordre de succession chronologique se résorbe dans une structure matricielle atemporelle«, m. H. 191 Barthes (Anm. 184), S. 117. 192 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung [Temps et récit, 1983–1985]. 3 Bde. München 1988– 1991, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung, das Kapitel »Die semiotischen Zwänge der Narrativität«, S. 52–103, bes. S. 56–58. 193 Algirdas J. Greimas: »Elemente einer narrativen Grammatik« [1970]. In: Heinz Blumensath (Hrsg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, S. 47–67, bes. S. 49.
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auf diese konzeptuelle Verkürzung von Zeit stellen Theorie und Analyse der erzählten Zeit methodisch relevante Desiderate dar. Zum Vierten: Auffällig ist in den erzähltheoretischen Entwürfen darüber hinaus die Absenz jeglicher historischen Perspektive – sowohl im Hinblick auf den Verwendungsbereich der Begriffe als auch im Hinblick auf die Phänomene. Die etablierten Termini werden als transhistorisch einsetzbar gedacht.194 Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob man die Ilias,195 den barocken Roman196 oder den Bildungsroman zum Gegenstand hat. Das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit wird als durchweg bestimmbar gesetzt. Dabei macht ein diachroner Blick auf literarische Texte generisch und historisch bedingte Differenzen sichtbar, die die Verwendung der Kategorien nur bedingt sinnvoll erscheinen lassen.197 Die gerade beleuchteten Probleme umkreisen einen Kernaspekt, denn sie sind miteinander verwoben. Das eigentliche Desiderat liegt im fehlenden Bewusstsein für die Historizität von Zeit, nur so lässt sie sich als fixe Größe setzen und nur so kann man die transhistorische Anwendbarkeit der Kategorien postulieren. Sollen die aufgezeigten methodischen Unzulänglichkeiten aufgehoben und damit die konzeptuelle Schieflage in der Erfassung von temporalen Phänomenen im Spannungsfeld von histoire und discours überwunden werden, müssen – so das Fazit –, erstens, eine Theorie diegetischer Zeit vorgelegt und, zweitens, Zeitausprägungen als historisch variabel begriffen werden. Denn »typologische Ansätze«, zu denen freilich auch die Erzählforschung gehört, sind »so lange unzureichend, als das Moment der geschichtlichen Wandlung ausgeklammert bleibt«.198 Oder anders formuliert: Es bedarf einer historischen Narratologie der Zeit.
|| 194 So auch Dietrich Schwanitz: »Verselbständigung von Zeit und Strukturwandel von Geschichten. Zum Zusammenhang zwischen temporalem Paradigmenwechsel und Literaturgeschichte«. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985, S. 89–109, hier S. 90 f. 195 Vgl. Irene J. F. de Jong/René Nünlist (Hrsg.): Time in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative. Leiden 2007. 196 Vgl. z. B. Eva-Maria Schramek: Die Komposition der ›Asiatischen Banise‹ von H. A. von Ziegler und Klipphausen. Wien 1971 (Diss. masch.). 197 Vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007; Werner (Anm.148). 198 Walter Biemel: Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zur Deutung des modernen Romans. Freiburg/München 1985, S. 13 f.
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3.2 Historische Narratologie: Zeit zwischen Text, Kontext und Theorie Die eine Narratologie im Sinne eines klar konturierten und breit praktizierten Ansatzes gibt es nicht, oder wenigstens nicht mehr.199 Ab den 1990er Jahren hat sich die strukturalistische Narratologie zunehmend ausdifferenziert und es gingen aus diesem Prozess unterschiedliche Ansätze hervor, die neue thematische Schwerpunkte gesetzt haben oder innovativ im Hinblick auf die methodisch-konzeptuelle Herangehensweise waren. Auf 35 new narratologies kommt Jan Christoph Meister bei Ansgar Nünning.200 Ein wichtiger Impuls für die Ausdifferenzierung ging dabei aus der Einsicht hervor, dass man nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort auf die gleiche Weise erzählt hat. Abgeleitet wurde daraus die Forderung nach einer adäquaten Kontextualisierung und Historisierung des Erzählens auf der einen Seite und des narratologischen Begriffsinstrumentariums auf der andern. Die ›historische Narratologie‹ will dieser Forderung nachkommen.201 Unter dem Begriff ›historische Narratologie‹202 werden unterschiedliche methodische Zugriffe mit je eigenen Erkenntniszielen gebündelt; sie verhalten sich in ihrem Anspruch darüber hinaus unterschiedlich zur klassischstrukturalistischen Narratologie.
|| 199 Das vorliegende Kapitel wurde zunächst – in teils abgewandelter Form – in meinem Aufsatz Werner (Anm. 467) publiziert, die Klassifizierung geht auf zurückliegende Rezensionen einschlägiger Publikationen zum Thema zurück, in denen ich diese klassifizierenden Zugänge durchgespielt habe, vgl. u. a. Lukas Werner: »Elemente einer historischen Narratologie. Armin Schulz’ ›Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‹«. In: IASL (http://www. iaslonline.de/ index.php?vorgang_id=3641, 29.06.2013). 200 Jan Christoph Meister: »Narratology as Discipline. A Case for Conceptual Fundamentalism«. In: Tom Kindt/Hans-Harald Müller: What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin/New York 2008, S. 55–71, hier S. 55. 201 Vgl. Ansgar Nünning: »Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects«. In: Bernhard Reitz/Sigrid Rieuwerts (Hrsg.): Anglistentag. 1999 Mainz. Trier 2000, S. 345–373; Monika Fludernik: »The Diachronization of Narratology«. In: Narrative 11 (2003), H. 3, S. 331–348. Vgl. Harald Haferland/Matthias Meyer (Hrsg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin/New York 2010; zu den aktuelleren Arbeiten zur historischen Narratologie zählt das Themenheft der Zeitschrift diegesis (3 [2014], H. 2, vgl. https://www.diegesis.uni-wup pertal.de/index.php/diegesis). 202 ›Historische Narratologie‹ hat sich im Gegensatz zum Terminus ›kulturgeschichtliche Narratologie‹ im Diskurs etabliert, vgl. Astrid Erll/Simone Roggendorf: »Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative«. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 73–113.
Historische Narratologie: Zeit zwischen Text, Kontext und Theorie | 49
Geht man von den bestehenden Arbeiten zur historischen Narratologie aus, so kann man zwischen drei Profilen differenzieren:203 zwischen einem ›kontextualisierenden Ansatz‹, einem ›formgeschichtlichen Ansatz‹ und einem ›theoriegeschichtlichen Ansatz‹. Diese drei Ansätze wiederum können im Hinblick auf das etablierte narratologische Theoriedesign ›affirmativ‹, ›komplementär‹ oder ›revisionistisch‹ sein. Es gibt zwar eine Reihe von methodisch programmatischen Aufsätzen zur historischen Narratologie, aber Arbeiten, die sich als Beiträge zu einer historischen Narratologie verstehen und zugleich einen Fokus auf die Textanalyse und -interpretation legen, sind selten.204 Wichtige Anregungen für eine historische Narratologie und die Historisierung von Zeit geben jedoch altphilologische205 und mediävistische206 Studien – für den in Kapitel 4 skizzierten Entwurf dienen sie deshalb teils als Grundlage.
|| 203 Zwischen vier Bereichen einer kulturgeschichtlichen Narratologie differenzieren Erll und Roggendorf, ohne aber das Verhältnis zwischen diesen Dimensionen genauer zu bestimmen: 1) die »politische Dimension der Literatur«; 2) die »diachrone Dimension narrativer Formen«; 3) »[m]entalitätsgeschichtliche Ansätze« und 4) »[f]unktionsgeschichtliche Ansätze« (vgl. Erll/ Roggendorf [Anm. 202], S. 85–102). 204 Z. B. Barbara Schmitz: Prophetie und Königtum. Eine narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern. Tübingen 2008: Der Autor stellt den Bezugspunkt einer ›historisch-kritischen Narratologie‹ für Schmitz dar. Ziel ist es, diesen Ansatz für eine biblische Exegese zu nutzen, »die den textimmanenten Analyserahmen in methodisch reflektierter Weise überschreitet« (S. 9). Für Fotis Jannidis ist wiederum die ›Figur‹ das Ergebnis des Rezeptionsprozesses, denn der Leser formt sie durch sein Wissen und seinen Verständnisrahmen. Mit den historischen und kulturellen Kontexten verändert sich der Leser (und dergestalt auch seine Projektion der ›Figur‹), für ein historisches Verständnis ist es also wichtig, den historischen Rezipienten zu untersuchen (Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004). 205 Vgl. u. a. Irene J. F. de Jong: A Narratological Commentary on the Odyssey. Cambridge 2001; Irene J. F. de Jong: Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the ›Iliad‹. Amsterdam 1987; de Jong/Nünlist (Anm. 195). 206 Vgl. Evelyn Birge Vitz: Medieval Narrative and Modern Narratology. Subjects and Objects of Desire. New York/London 1989; Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹. Tübingen/Basel 2003; Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder (Hrsg.): Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002 (= Wolfram-Studien XVIII). Berlin 2004; Störmer-Caysa (Anm. 197); Haferland/Meyer (Anm. 201); Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012; Florian Kragl/Christian Schneider (Hrsg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Heidelberg 2013; Udo Friedrich/Andreas Hammer/Christiane Witthöft (Hrsg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014.
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Ansgar Nünning skizziert das Profil einer cultural and historical narratology. Mit der sukzessiven Etablierung der Narratologie seit den ausgehenden 1960er Jahren, so die Grundbeobachtung Nünnings, habe die Kulturgeschichte (cultural history) – für die Narratologie – an Bedeutung verloren. Nünning streicht die besonderen Möglichkeiten, die durch die Verbindung von Narratologie und Kulturgeschichte entstehen, heraus, durch die literarische Texte kontextualisiert werden »by situating them within the broader spectrum of discourses that constitute a given culture«.207 Zweierlei ist ihm dabei ein Anliegen: Es sei – so der erste Punkt – vorschnell, wenn man das ›konzeptuelle Kind‹ der Narratologie, d. h. das terminologische Instrumentarium, das sie bereit stellt, gemeinsam mit dem ›formalistischen Badewasser‹ ausschüttet; die etablierten narratologischen Begriffe seien aber zu überprüfen und ggf. anzupassen, wenn sie im Rahmen eines kulturgeschichtlichen Ansatzes eingesetzt werden sollen.208 Nünnings zweiter Punkt betrifft das Zusammenspiel von literarischen Formen und kulturellem Kontext: Versteht man Erzählungen (narrative fictions) als »active cognitive forces in their own right«, muss man zugleich der Frage nachgehen, in welcher Weise (literarische) Formen die Überzeugungen und Fragen einer historischen Situation spiegeln und auch gestalten,209 dies heißt konkret für ihn: »formal techniques are not just analysed as structural features of a text, but as narrative modes which are highly semantized and engaged in the process of cultural construction«.210 Wenn man sich der ›dichten Beschreibung‹ (also Clifford Geertz’ thick description) bedient, könnten – so Nünning – die methodischen Möglichkeiten besonders gut genutzt werden. Fokussiert Nünning formale Gesichtspunkte, bezieht er sich u. a. auf Fredric Jamesons Entwurf der ideology of the form und fragt nach ihren kulturellen Funktionen. Nünnings cultural and historical narratology rückt so in die Nähe einer »cultural analysis«.211 Die Folie von Nünnings Überlegungen sind die im Rahmen des cultural turns beschwingten Diskussionen über Literatur- und Kulturwissenschaft (ihre Grenzen und ihr Potenzial) auf der einen Seite und den deskriptiven und/oder interpretatorischen Charakter der Narratologie auf der anderen Sei-
|| 207 Nünning (Anm. 201), S. 357. 208 Nünning (Anm. 201), S. 359 f.; vgl. auch S. 361. 209 Vgl. Nünning (Anm. 201), S. 360. 210 Nünning (Anm. 201), S. 360. 211 Vgl. Nünning (Anm. 201), S. 357; Mieke Bal: »Close Reading Today. From Narratology to Cultural Analysis«. In: Walter Grünzweig/Andreas Solbach (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext. Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen 1999, S. 19–40.
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te.212 Die Schwierigkeit eines so konzipierten kontextualisierenden Ansatzes liegt in der Definition und im konkreten analytischen Umgang mit der Relation zwischen Text und Kontext, insbesondere dann, wenn man einerseits nicht auf die Arbeit mit klar definierten Begriffen verzichten möchte und zugleich das Verhältnis von Text und Kontext als dynamisch zu verstehen versucht. Das Augenmerk eines formgeschichtlichen Forschungsprofils liegt auf der »historische[n] Semantik narrativer Formen«,213 es wird aber darauf verzichtet, die »Verwobenheit mit [dem] jeweiligen kulturellen Kontext«214 zu integrieren. Potenzielle Forschungsfelder einer ›diachronen Narratologie‹ führt Monika Fludernik auf: Interessant und aufschlussreich seien Fragen der Gattungsgeschichte, die historisch variable Ausgestaltung von Kommunikationssituationen und die sich wandelnde Funktionalisierung der Metafiktion. Der Ansatz von Fludernik orientiert sich an einigen Leitfragen: Wann werden spezifische literarische Verfahren entwickelt? Wann waren sie als etablierte Formen im Repertoire verankert? In welchen Kontexten werden sie neu eingesetzt?215 Die narratologischen Begriffe sind dabei der Ausgangspunkt und man untersucht diese Kategorien in diachroner Perspektive, so wird beispielsweise nach »[e]rsten Belege[n]« für die ›erlebte Rede‹ gesucht.216 Da die Begriffe gesetzt sind, besteht die besondere Herausforderung dieses Ansatzes darin, der Geschichtlichkeit der Phänomene und Begriffe Rechnung zu tragen. Denn, indem man sich bereits für eine Kategorie bzw. eine spezifische narrative Form entscheidet, ist der Gegenstand bereits vordefiniert und man nimmt an, dass diese Form in ihren Grundzügen in verschiedenen historischen sowie kulturellen Kontexten beständig bleibt. Das Forschungsinteresse liegt aber in der Historizität dieser Form; es gilt also, die Spannung zwischen der || 212 Vgl. Oliver Jahraus: »Text, Kontext, Kultur. Zu einer zentralen Tendenz in den Entwicklungen in der Literaturtheorie von 1980–2000«. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 19– 44; Katrin Fischer: »Die Haug-Graevenitz-Debatte in der ›DVjs‹ als Kontroverse um Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft(en) und wissenschaftliches Argumentieren«. In: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Berlin u. a. 2007, S. 485–500. Einen Einblick in die Darby-Fludernik-Kindt/MüllerDebatte liefert Roy Sommer: »›Contextualism‹ Revisited. A Survey (and Defence) of Postcolonial and Intercultural Narratologies«. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 61–79. 213 Matías Martínez: »Vielheit und Einheit des Erzählens? Möglichkeiten einer historischen Narratologie«. In: www.ivg2010.pl/index.php/page/Sektion-38 (aufgerufen am 01.02.2011 – der Text ist leider nicht mehr verfügbar). 214 Erll/Roggendorf (Anm. 203), S. 96. 215 Vgl. Fludernik (Anm. 201), bes. S. 332–334; vgl. darüber hinaus Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 2010, S. 124–133. 216 Fludernik (Anm. 216), S. 127 f.
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Stabilität der Form und ihren Veränderungen zu operationalisieren und zu erfassen. Das in Kap. 3.3 vorgestellte und in Kap. 4 ausgeführte Konzept einer ›relationalen Narratologie‹, die eine fixe Vorstellung von Zeit in eine Reihe von Konstituenten auflöst und die am begrifflichen Ordnen der Phänomene festhält, versteht sich als Versuch, dieses Problem zu überwinden – freilich spielen dort, wo es im Rahmen meines Entwurfes um historische Semantiken geht, auch kulturelle Kontexte im Sinne des ersten Ansatzes eine Rolle. Ulrich Ernst entwirft eine historische Narratologie mit einem theoriegeschichtlichen Profil. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass die narratologische Theoriebildung »von einem modernen Standpunkt aus theoretisch und systematisch an den Gegenstand herangeh[t] und Kategorien entwickel[t]«. Mit Blick auf diese Beobachtung fragt Ernst, »ob und inwieweit sich die Thesen und Ergebnisse der modernen Erzähltheorie auch historisch fundieren lassen«. Die Untersuchung der poetologischen Diskurse liefert Bausteine zu einer »Theoriegeschichte der Narratologie von der Antike bis zur Neuzeit«.217 Der Schwerpunkt liegt nicht auf literarischen Texten, Untersuchungsobjekt sind die theoretischen Reflexionen, wie sie beispielsweise in rhetorischen und poetologischen Schriften oder Kommentaren vorliegen. Ausdifferenziert wird der Ansatz durch Volker Mertens, der mit Blick auf literarische Texte darüber hinaus ›explizite‹ und ›implizite‹ Formen der Thematisierung der eigenen Gestaltung trennt. Auch diese Formen der Thematisierung in literarischen Texten gehören zu einer ›Theoriegeschichte der Narratologie‹.218 Der Schwerpunkt einer so gedachten historischen Narratologie liegt jenseits des erzählenden (literarischen) Textes. Insofern das Augenmerk der klassischen Narratologie auf der Analyse literarischer Texte und nicht auf der Rekonstruktion poetologischer Diskurse lag, ist die Verwendung des Labels ›historische Narratologie‹ für den theoriegeschichtlichen Ansatz m. E. nicht sinnvoll. Treffender erscheint der von Florian Kragl und Christian Schneider verwendete Terminus ›historische Poetologie‹, unter den für sie die Auseinandersetzung mit Poetiken, mit den metapoetologischen Aussagen in literarischen Texten und anderen Textgattungen fällt, die Aufschluss geben über die ›Logik‹ vormodernen Erzählens.219 ›Historische Poetologie‹ und ›historische Narratologie‹ be|| 217 Alle Zitate Ernst (Anm. 149), S. 179. 218 Volker Mertens: »Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka«. In: Haferland/Meyer (Anm. 201), S. 17–34. 219 Vgl. dazu Florian Kragl/Christian Schneider: »Einleitung«. In: Kragl/Schneider (Anm. 207), S. 1–25, bes. S. 11 f.; vgl. zudem Christian Schneider: »›Narrationis contextus‹. Erzähllogik, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik«. In: Kragl/Schneider (Anm. 207), S. 155–186.
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leuchten – dies soll nicht in Abrede gestellt werden – ›Theorie‹ und ›Praxis‹ als Facetten eines produktiven Wechselverhältnisses und haben beide ihren Ort in einer Geschichte des Erzählens. Diese drei skizzierten Ansätze können sich in unterschiedlicher Weise zu bestehenden narratologischen Klassifizierungen verhalten: Sie können ›revisionistisch‹, ›komplementär‹ oder ›affirmativ‹ sein. Für ›revisionistische Ansätze‹ gründen die klassischen Begriffe der Narratologie auf einer bestimmten historischen Textgruppe, die aufgrund ihrer eigenen Historizität bestimmte Zugänge (und analytische Kategorien) nahelegt; man will diese Geschichtlichkeit der Begriffe in die Konzeption einer historischen Narratologie integrieren.220 Im Rahmen von ›komplementären Ansätzen‹ wird das bestehende Begriffsinstrumentarium vervollständigt. Armin Schulz zum Beispiel skizziert anhand mittelalterlicher Texte eine histoire-Narratologie, da es seines Erachtens mit Blick auf die Relevanz von Handlungselementen und erzählerischer Schemata für diese Texte »töricht [sei], die Ebene der histoire mit interpretatorischer Mißachtung zu belegen«.221 Für ›affirmative Ansätze‹ bleiben die etablierten Begriffe in einem breiten kulturellen und historischen Spektrum gültig, es gilt, diese Phänomene mit Blick auf eine historische Reihe zu bestätigen und zu erfassen.222 Die vorgestellten Ansätze zeigen, wie vielgestaltig die Konzepte einer historischen Narratologie hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen und in ihrer Relation zur strukturalistischen Narratologie sind. Es ist nicht zielführend, methodischen Purismus zu postulieren und die historische Narratologie auf einen Aspekt zu verkürzen, denn in Abhängigkeit von der Fragestellung haben die unterschiedlichen Konzepte ihre Berechtigung. Ein theoretischer Entwurf aber, der die kontextuelle oder formbasierte Historisierung zu Ende denken und den heuristischen Wert zugleich in einer breiten Analyse vorführen würde, wurde bislang nicht vorgelegt.223 An dieser Aufgabe setzen meine Überlegungen an.
|| 220 Vgl. Harald Haferland/Matthias Meyer: »Einleitung«. In: Haferland/Meyer (Anm. 201), S. 3–15, hier S. 7: Eines der Ziele einer ›historischen Narratologie‹ sehen Haferland und Meyer darin, das »kategoriale[ ] Gerüst [der Narratologie, L. W.] historisch gewendet zu sehen«. 221 Schulz (Anm. 207), S. 166, H. i. O. Alle wichtigen Argumente für eine historische Narratologie sind schon bei Vitz formuliert (Anm. 206), S. 8 f. 222 Vgl. z. B. de Jong (Anm. 206); de Jong/Nünlist (Anm. 195). Das bedeutet aber nicht, dass man punktuell auf komplementäre Ergänzungen verzichtet. 223 Eine glückliche Kombination formgeschichtlicher und kontextueller Aspekte und damit einen ersten methodischen Impuls liefert z. B. Martin Klepper: The Discovery of Point of View. Observation and Narration in the American Novel 1790–1910. Heidelberg 2011.
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3.3 Relationale Narratologie als historische Narratologie Im Folgenden entwerfe ich einen formalen, historische Semantiken integrierenden Historisierungsansatz.224 Dieser Entwurf orientiert sich an bestehenden erzähltheoretischen Systematiken, versteht sich jedoch in seiner Gesamtheit als ›komplementärer Ansatz‹, denn er liegt quer zu etablierten narratologischen Verfahrensweisen und stellt das Verhältnis zwischen Kategorien in den Mittelpunkt. Insofern aber eine in der klassischen Theorie verankerte Kategorie wie die ›erzählte Zeit‹ vor der Folie historischer Befunde rekonzeptualisiert wird, ist der Entwurf zugleich ›revisionistisch‹. Der Ansatz soll einige für erzähltheoretisches Arbeiten charakteristische Grundkriterien erfüllen und es zugleich ermöglichen, verschiedene Facetten erzählter Zeit beschreibbar zu machen und Zeit als Dimension der erzählten Welt zu historisieren. In diesem Sinne versteht sich der nachfolgende Entwurf als Antwort auf das skizzierte methodische Desiderat der Erzählforschung (Kap. 3.1) sowie als Versuch, der Eigenlogik literarischer Entwürfe eines Schlüsselkonzepts frühneuzeitlicher Transformationsprozesse nachzugehen (Kap. 2 und Kap. 12). Basis des Ansatzes ist ein relationales Verständnis von Zeit,225 das aus systematischer Perspektive die konstitutive Rolle des Erzählens, die zentrale Bedeutung von Zeit für die Funktionsweise der erzählten Welt sowie Formen ihrer Thematisierung in historischen Semantiken konzeptuell einbindet. Insofern das Erzählen das Erzählte, d.h. die gesamte erzählte Welt, erst erzeugt, ist das Erzählte nicht von den erzählerischen Grundoperationen lösbar. Geschehen findet in Raum und Zeit statt, so Herman Meyer, und Zeit in ihrer »besondere[n] strukturellen Wesenheit« bestimme »die Gesamtstruktur des jeweiligen Erzählwerks«: Raum und Zeit sind deshalb »notwendige Elemente der erzählten Welt«, die als »korrelative[ ] epische[ ] Fügungskräfte[ ]« diese Welt formen.226
|| 224 In nuce sind diese Überlegungen dem von Antonius Weixler und mir konzipierten und herausgegebenen Band Zeiten erzählen zugrunde gelegt, Ideen und Passagen dieses Kapitels sind zudem in der Einleitung zum Sammelband und im Aufsatz Werner (Anm. 467) vorformuliert. 225 Eine abgewandelte Form der Relationalität habe ich bereits mit Blick auf Thürings von Ringoltingen Melusine erprobt, vgl. Lukas Werner: »Relationalität als Schnittmenge oder vom Nutzen der Intersektionalitätsforschung für die Erzähltheorie. Überlegungen zur ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«. In: Christian Klein/Falko Schnicke (Hrsg.): Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Trier 2014, S. 101–120. 226 Herman Meyer: »Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 236–267, hier S. 236 und S. 240. Bei Meyer ist dieser Zusammenhang freilich noch als Frage formuliert.
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Zeit liegt der erzählten Welt als abstrakte Folie zugrunde und definiert damit die möglichen Ereignisse und das potenzielle Geschehen, aber fassbar wird sie nur in jenen Momenten, in denen sie sich in ›Spuren‹ materialisiert, sowie immer dann, wenn sie von Figuren oder dem Erzähler explizit zum Gegenstand gemacht wird. Relationalität bezeichnet folglich das Zusammenspiel von erzählerischen, diegetischen und semantischen Aspekten.227 Verstanden wird ›Relationalität‹ nicht – wie in Genettes Ansatz – im Sinne einer Relation zwischen narrativen Ebenen, durch die die Erzählstruktur eines Textes erfasst werden kann.228 Die drei Dimensionen der Relationalität seien im Folgenden grob umrissen. Zeit und Erzählen. Mit der Gesamtheit der erzählten Welt wird auch Zeit im erzählerischen Akt hervorgebracht. Folgt man Wolf Schmids ›idealgenetischem Modell‹, dann erfolgt dies über die ›Auswahl‹ der erzählten Elemente, ihre ›Komposition‹ und ihre ›Verbalisierung‹.229 Die Folge der Operationen, die für Schmid keine realweltliche Entsprechung haben,230 verläuft in der Rezeption in
|| 227 Dieses Konzept liegt teils dem von Antonius Weixler und mir herausgegebenen Sammelband zugrunde, vgl. Antonius Weixler/Lukas Werner (Hrsg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston 2015. Die darin enthaltenen Aufsätze führen das heuristische Potenzial eines solchen Verständnisses von Zeit vor; die Arbeit an beiden Studien hat sich gegenseitig vorangetrieben. 228 Vgl. Genette (Anm. 150), S. 19 f.: »Die Zeit und der Modus spielen beide auf der Ebene der Beziehungen zwischen Geschichte und Erzählung, während die Stimme sowohl die Beziehungen zwischen Narration und Erzählung wie die zwischen Narration und Geschichte umfaßt« (H. i. O.). 229 Diese Unterteilung orientiert sich an Wolf Schmids ›idealgenetischem Modell‹, Schmid (Anm. 165), S. 251–253, H. i. O.: In Schmids Modell werden vier Ebenen unterschieden, anhand derer die Transformationen von den unendlichen Möglichkeiten der erzählten Welt zum ›eigentlichen Erzähltext‹ nachgebildet werden: 1) »Geschehen«, 2) »Geschichte«, 3) »Erzählung«, 4) »Präsentation der Erzählung«. Das »Geschehen« ist – laut Schmid – die »amorphe Gesamtheit der Situationen, Figuren und Handlungen, die im Erzählwerk explizit oder implizit dargestellt oder logisch impliziert sind«. Die »Geschichte« wiederum stellt »das Resultat einer Auswahl aus dem Geschehen« dar, die durch verschiedene »Selektionsoperationen […] die Unendlichkeit des Geschehens in eine begrenzte, sinnhafte Gestalt überführen«. Die »Erzählung« hingegen ist »das Resultat der Komposition, die die Geschehensmomente in einen ordo artificialis bringt«. Die »Präsentation der Erzählung« ist das Produkt der Verbalisierung und »als einzige der Ebenen der empirischen Beobachtung zugänglich«. Es ist der Text, der dem Leser de facto vorliegt. 230 Das Modell ist in dem Sinne ›idealgenetisch‹, als »die Simultaneität der Ebenen mit temporalen Metaphern in logisch-konsekutive Operationen zerlegt [wird], um die Faktur des Werks, die in ihm angewandten ›Verfahren‹ der Analyse zugänglich zu machen« (Schmid [Anm. 165], S. 259).
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umgekehrter Folge: von der Aufnahme des sprachlichen Materials über die Rekonstruktion der Anordnung der Teile des Geschehens in der Geschichte bis hin zur Rekonstruktion der Selektionsmechanismen, mittels derer aus der Unbegrenztheit der potenziell erzählbaren Welt ein Teil herausgegriffen wurde. Erzeugt wird die temporale Dimension der erzählten Welt im Rahmen der ›Verbalisierung‹ zunächst durch die sprachlichen Ausdrucksformen im Allgemeinen und die Aktionsarten der Verben, Temporaladverbien und Zeitangaben im Besonderen (Kap. 4.1.1). Diese mikrostrukturellen Verfahren werden durch die ›Komposition‹ des Textes fortgeführt (Kap. 4.1.2), d. h. durch die »Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden in einer Darbietungssequenz« und die (fakultative) »Permutation der Segmente der Geschichte«.231 Letztere betrifft dabei die Differenz von ordo naturalis und ordo artificialis und die Episodität (mit ihrer potenziellen Permutation). Durch ›Auswahl‹ werden jene »Geschehensmomente« und »Qualitäten« aus dem ›Geschehen‹ bestimmt (Kap. 4.1.3), die erzählt werden. Sie reglementiert also das, was über Zeit gesagt wird, und sie legt darüber hinaus eine »Sinnlinie« fest, »die bestimmte Geschehensmomente verbindet und andere beiseite lässt«.232 Die Sinnlinie ergibt sich aus der erzählerischen Motivation der Handlung, verweist aber zugleich auf die Logiken des Geschehens.233 Schmid denkt das ›Geschehen‹ als »amorphe Gesamtheit der Situationen, Figuren und Handlungen« ohne spezifische Form. Dabei ist das ›Geschehen‹ noch vor seiner erzählerischen Vermittlung durch die Gesetze der Welt reglementiert und kann durch Handlungsschemata, die über die Logik einer einzelnen erzählten Welt hinausreichen, vorgeformt sein – beide Fälle spielen für Schmid keine Rolle. Sie sind aber mit Blick auf vormoderne Erzählungen insofern relevant, als narrative Schemata (als ›komplexe Syntagmen‹) besonders im vormodernen und populären Erzählen eine wichtige Funktion haben. Durch ihre Geschlossenheit bestimmen sie die Handlungs- und Geschehensmöglichkeiten und gestalten damit auch die erzählte Zeit. Bestandteil der erzählerischen Grundoperationen ist darüber hinaus die ›Perspektivierung‹ (Kap. 4.1.4) des Erzählten. Wolf Schmid lehnt sich in seiner Darstellung der ›Perspektive‹ an Boris A. Uspenskijs Poetik der Komposition (1970) an und unterscheidet fünf Parameter der Perspektive: die ›räumliche Perspektive‹, die || 231 Schmid (Anm. 165), S. 253. 232 Schmid (Anm. 165), S. 257. 233 Aspekte der Motivation sind nicht ausschließlich den narrativen Operationen zuzuordnen, denn die Motivation des Geschehens verrät zugleich etwas über die Funktionsweise der erzählten Welt: Motivation ist insofern erzählerisch, als durch Motivationsarten einzelne Elemente verknüpft werden; und sie ist insofern diegetisch, als sie Rückschlüsse über die Regeln der erzählten Welt erlaubt.
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›ideologische Perspektive‹, die ›zeitliche Perspektive‹, die ›sprachliche Perspektive‹ und die ›perzeptive Perspektive‹. Er kombiniert dieses Merkmalsset mit zwei Merkmalsoppositionen (›diegetisch‹ vs. ›nichtdiegetisch‹; ›figural‹ vs. ›narratorial‹), das Ergebnis ist ein hochkomplexes System der ›Perspektive‹, das man aber – so Schmids eigenes Eingeständnis – im Rahmen der konkreten Analyse zu vereinfachen habe, da nicht alle Informationen in einem Text enthalten seien und da es nicht immer »ergiebig« sei.234 In der Auseinandersetzung mit der Perspektive beschränkte ich mich deshalb auf die erzähllogischen Differenzen zwischen Welten, die von diegetischen und nichtdiegetischen Erzählinstanzen sowie mittels figuraler und narratorialer Perspektive hervorgebracht werden. Zeit und erzählte Welt. Zeit erhält ihre Konturen mit den narrativen Operationen, die das ›Geschehen‹ in die ›Präsentation der Erzählung‹ überführen. Darüber hinaus – das ist der zweite Aspekt ihrer Relationalität – wird sie in der Verschränkung mit anderen Elementen der erzählten Welt gestaltet und sichtbar. Jede erzählte Welt verfügt über ein Grundinventar von Elementen: Raum und Zeit umreißen die Dimensionen der Welt.235 Das Ereignis als dynamisches Element begründet den narrativen Gehalt dieser Welt. Es deutet durch die Differenz zwischen Vorher und Nachher auf Zeit als seine Möglichkeitsbedingung (Kap. 4.2.1). Spuren als Indices von Ereignissen »verweisen auf etwas, was nicht (mehr) da ist«, sie »verräumlichen Zeitlichkeit«.236 Wird das Ereignis zu einer Handlung als dem Kern literarischer Geschichten ausgebaut, dann »sind die Akteure dieser Handlungen zweifellos ein zentrales Element von Erzählungen, oder genauer gesagt: eine Grundkomponente der erzählten Welt«.237 Figuren agieren als »Zeitträger, Zeitwahrnehmer und Zeitüberwinder« (Kap. 4.2.2).238 Sie können über ein eigenes temporales System verfügen, das sich von demjenigen
|| 234 Vgl. Schmid (Anm. 165), S. 128–153, hier S. 153. 235 Dieses basale Verständnis von ›Welt‹ findet sich unter anderem bei Ruth Ronen, die unter einer Welt »a constellation of spatiotemporally linked elements« versteht (Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 199), und Etienne Souriau, demzufolge ein ›Universum‹ »eine Gesamtheit von Wesen, Dingen, Tatsachen, Ereignissen, Phänomenen und Inhalten in einem raum-zeitlichen Rahmen« ist (Souriau [Anm. 50], S. 141). 236 Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München 2009, S. 65. 237 Matias Martínez: »Figur«. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 145–150, hier S. 145. 238 Carmen Lăcan: »Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit als temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs ›Stiller‹«. In: Weixler/Werner (Anm. 228), S. 291–315, hier S. 291.
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ihrer Umwelt abhebt, sie können Zeit unterschiedlich wahrnehmen (dies ist freilich eine Frage der Fokalisierung) und sie können sich als Zeitreisende in die Vergangenheit oder die Zukunft begeben. Der Raum fungiert als Projektionsfläche für Zeit: »Die Merkmale der Zeit«, so Michail M. Bachtins bekannte These, »offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert«.239 Raum und Zeit sind verschränkt (Kap. 4.2.3). Die erzählte Zeit konstituiert sich auf diegetischer Ebene aus dem Zusammenspiel dieser Elemente. Temporale Semantiken. Neben diesen erzählerischen und diegetischen Faktoren – die in jedem Erzähltext enthalten sind – stehen historisch variable Semantiken von Zeit, die in Erzähltexten verhandelt werden. Auch wenn die explizite Thematisierung von Zeit wohl zu den Ausnahmen in der frühneuzeitlichen Erzählliteratur zählt, geben ganz unterschiedliche thematische Konstellationen Aufschluss über Zeitvorstellungen. Vier scheinen mir besonders einschlägig zu sein: die Leitdifferenz zwischen Zeit und Ewigkeit (Kap. 4.3.1), die einen temporalen Kern besitzt, aber auch normative Setzungen ausdrücken kann, Schicksalssemantiken, die zum einen den zeitlichen Horizont der erzählten Welt modellieren und zum anderen Handlung motivieren (Kap. 4.3.2; Kap. 4.1.3), Lebensaltermodelle, durch die die Strukturierung der biographischen Zeit von Figuren bestimmt sein kann (Kap. 4.3.3), sowie Weltaltermodelle, die die Geschichte einer erzählten Welt – hier in einem emphatischen Sinne verstanden als Welt- und Heilsgeschichte – prägen (Kap. 4.3.4). Verhandelt werden können diese semantischen Konzepte – daran ist ihre Verbindlichkeit für die erzählte Welt gekoppelt – gleichermaßen auf der figuralen wie der narratorialen Ebene. Die semantischen Programme müssen nicht mit den formalen Parametern korrelieren (so sind beispielsweise Formen der Motivation nicht zwangsläufig an semantische Programme gebunden); beide Aspekte – das in der Narration formal Enthaltene und das über Begriffe sowie Konzepte Thematisierte – können voneinander abweichen. Relationalität und Historisierung. Das grob umrissene Konzept einer relationalen Narratologie von Zeit ist zwar systematisch angelegt, ist zugleich aber historisch fundiert. Die Entfaltung der erzählerischen, diegetischen und semantischen Dimension erfolgt in Kap. 4 in der Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen Erzähltexten. Das Historisierungspotenzial eines so angelegten und durchgespielten relationalen Verständnisses von Zeit ist vor allem in drei Punkten begründet. Das Konzept ist erstens im Hinblick auf die Kategorie der erzähl|| 239 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008, S. 7.
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ten Zeit historisierend, denn man verabschiedet sich von einer historisch spezifischen Vorstellung von erzählter Zeit und öffnet das Konzept für historisch differente und vielschichtige Formen, ohne bei der Beschreibung auf eine begriffliche Orientierung zu verzichten. Zweitens ist es insofern historisierend, als das relationale Gefüge der verschiedenen Dimensionen und Aspekte als geschichtlich entstandene Konfiguration verstanden wird. Dass sich anhand des Zusammenspiels von erzählerischer Evokation, diegetischen Elementen und historischen Semantiken historische Eigenheiten und Transformationsprozesse rekonstruieren lassen, führt der Hauptteil der Studie vor (Kap. 6 bis 11). Damit kommt das entworfene Modell der von Harald Haferland und Matthias Meyer postulierten Zweipoligkeit einer ›historischen Narratologie‹ nach: Da zum einen »ihr kategoriales Gerüst historisch gewendet« wird und zum anderen die »kategorial fixierten Phänomene selbst als historisch entstanden« gedacht werden.240 Und schließlich – dies ist der dritte Punkt – erweitert das Modell einer relationalen Narratologie mit der Rekonstruktion historischer Zeitsemantiken seinen formgeschichtlichen Kern um einen Aspekt, der den Bogen zu anderen kulturgeschichtlich interessierten Disziplinen schlägt, und es damit anschlussfähig macht. Diesem hier in nuce skizzierten Zusammenhang gilt das folgende Kapitel.
|| 240 Haferland/Meyer (Anm. 201), S. 7.
4 Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität 4.1 Zeit und Erzählen: die erzählerische Dimension 4.1.1
Verbalisierung: explizite und implizite Verfahren der Evokation
Die ›Verbalisierung‹ bildet in Wolf Schmids ›idealgenetischem Modell‹ den letzten Transformationsschritt, durch den die ›Erzählung‹ ihre konkrete sprachliche Form erhält und zur ›Präsentation der Erzählung‹ wird. Das Verfahren basiert auf der Wahl eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks, oder anders gewendet: »Wenn der Erzähler die Erzählung präsentiert, hat er die Wahl zwischen verschiedenen Stilen«.241 Zum Tragen kommen eine ›sprachliche Perspektive‹ und eine ›ideologische Perspektive‹, denn insofern die Texte des Erzählers und der Figuren sprachlich individualisiert sind, entwerfen sie nicht nur ein Bild ihrer Sprecher, mit den Charakteristika der Herkunft, des Status, der Bildung und der Ideologie, sie können […] die aktuelle Bewertung der benannten Geschehensmomente durch die sprechende Instanz anzeigen […].242
Mir geht es im Folgenden darum, ›Verbalisierung‹ nicht allein in ihrer stilistischen Dimension aufzufassen, sondern in einem grundsätzlichen Sinne zu verstehen. Bedeutungsgenerierend und damit auch zeitformend ist jede sprachliche Einheit. Die ›sprachliche Perspektive‹ geht dabei gleichermaßen aus der Wahl eines Wortes wie einer syntaktischen Struktur hervor.243 Eine ideologische Perspektive, die in »Wissen«, »Denkweise«, »Wertungshaltung« und »geisti-
|| 241 Schmid (Anm. 165), S. 276. 242 Schmid (Anm. 165), S. 278. Wie Schmids Argumentation zeigt, geht er von einem realistischen Erzählparadigma aus, seine Ausführungen zu vormodernen Charakteristika von Sprechern bleiben pauschalisierend: Erzähler und Figuren bedienten sich desselben stilistischen Registers. Johann Beer, um nur ein Gegenbeispiel zur These Schmids zu präsentieren, setzt in seinen Erzähltexten gezielt eine figurencharakteristische Sprache ein, die zugleich für einen Figurentypus steht: So lässt er einen Studenten ein von lateinischen Phrasen durchzogenes Deutsch sprechen; Figuren stottern bei ihm oder sprechen stark dialektal gefärbt. 243 Bei der Explikation der unterschiedlichen Perspektiven versteht Schmid die ›sprachliche Perspektive‹ grundsätzlicher (als später im Rahmen des ›idealgenetischen Modells‹), wenn er festsetzt: »Perspektivisch relevant sind in der Sprache vor allem die Teilbereiche Lexik, Syntax und Sprachfunktion« (Schmid [Anm. 165], S. 134 f.).
DOI 10.1515/9783110566857-005
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ge[m] Horizont« enthalten ist,244 kommt in besonderem Maße dann zum Tragen, wenn durch die Wahl spezifischer Begriffe auf Weltmodelle und auf historische Leitsemantiken rekurriert wird (vgl. Kap. 4.3). Im Folgenden gehe ich in einem Dreischritt vor: Wie Zeit mittels sprachlichen Materials evoziert wird, sei zunächst an einigen systematischen Unterscheidungen gezeigt. Dass diese basalen Evokationstechniken zur Strukturierung der erzählten Welt samt ihrer Zeit beitragen und Teil des poetischen Programms eines Romans sein können, führt zweitens die Lektüre von Christian Reuters Schelmuffsky (1696/97) vor.245 Entlang welcher analytischen Kategorien sich die erzählte Zeit beschreiben lässt, sei drittens – nochmals mit einem Blick auf den Schelmuffsky – gezeigt. Am Anfang stehen basale und ubiquitäre Ausdrucksformen der Sprache: Zu unterscheiden sind explizite und implizite Formen der erzählerischen Evokation von Zeit (vgl. auch Kap. 3.1). Explizit evoziert wird Zeit durch temporale Konjunktionen, Temporaladverbien, im weitesten Sinne kalendarische Angaben sowie Präpositionen. Implizit hervorgebracht wird Zeit durch die Kombination von Verben mit unterschiedlichen Aktionsarten, durch die Andeutung des Vergehens von Zeit sowie Referenzen auf Außerfiktionales. Diese Formen der Evokation fungieren zusammen mit dem Tempussystem als mikrostrukturelle Bausteine. Einerseits handelt es sich bei ihnen teils um sprachhistorische Konstanten, andererseits gibt es historisch variable Elemente.246 Temporalen Konjunktionen kommt eine besondere Bedeutung für die Evokation zeitlicher Relationen zu,247 denn sie verbinden einzelne Ereignisse und Zustände auf syntaktischer Ebene. Sie können grob in drei Typen klassifiziert
|| 244 Schmid (Anm. 165), S. 132. 245 Christian Reuter: Schelmuffskys warhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande. Hrsg. von Ilse-Marie Barth. Stuttgart 2006, S. 11 f. Nachweise erfolgen im Haupttext mit der Sigle ›Schel‹. Zu der editorischen Entscheidung Barths, die Ausgabe Schelmerode 1696 für den ersten Teil zugrunde zu legen und für den zweiten Teil die Padua 1697-Version, vgl. Gunter E. Grimm: »Christian Reuter: ›Schelmuffskys warhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande‹. Kapriolen eines Taugenichts. Zur Funktion des Pikarischen«. In: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 47–77, hier S. 57 f.; zur Drucküberlieferung vgl. Wolfgang Hecht: Christian Reuter. Stuttgart 1966, S. 18–23 und S. 29–40. 246 Hinweise zum Wandel der Ausdrücke geben die entsprechenden Artikel aus dem Deutschen Wörterbuch (DWB) und dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch. 247 Vgl. Pavel Petkov: »Die Temporalleistung der Konjunktionen im Deutschen«. In: Harald Weydt (Hrsg.): Die Partikeln der deutschen Sprache. Berlin/New York 1979, S. 215–222.
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werden: in solche Konjunktionen, die Gleichzeitigkeit (›als‹, ›indem‹, ›wie‹248), solche, die Vorzeitigkeit (›nachdem‹249), und solche, die Nachzeitigkeit (›ee‹, ›bevor‹) anzeigen.250 Im frühneuhochdeutschen Prosaroman sind Temporalsätze und Temporaladverbien exponiert, da sie sich häufig in »präpositiver Position zum Hauptsatz befinden«.251 Temporaladverbien hingegen, so die Differenzierung von Veronika Ehrich, modellieren temporale Relationen zum einen zwischen einzelnen Ereignissen und zum anderen zwischen Ereignis- und Wahrnehmungsposition. Deiktische Temporaladverbien werden auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungs- und Sprechstandort klassifiziert, denn sie »kennzeichnen Ti relativ zu einer Bezugszeit Ej«. Erhalten sie ihre Bedeutung in der Rückbindung an einen raumzeitlichen Standpunkt (wie ›gestern‹), dann sind sie insofern ›situativ‹, als sie »im isolierten Satz eine sprechzeitrelative Deutung« besitzen.252 Situative Temporaladverbien sind des Weiteren nach ihrer Bezüglichkeit in solche, die Gleichzeitigkeit (Gegenwart, ›jetzt‹), solche, die Vorzeitigkeit (Vergangenheit, ›damals‹), und solche, die Nachzeitigkeit (Zukunft, ›morgen‹) ausdrücken, zu unterscheiden. Sie können dabei kalendarisch sein oder nicht (›gestern‹, ›heute‹, ›morgen‹ vs. ›vorhin‹, ›momentan‹, ›gleich‹). Haben Temporaladverbien Bedeutung, ohne einen Bezug zu Sprecher- und Wahrnehmungsstandpunkt, dann sind sie ›nicht-situativ‹ (›am Tag vorher‹, ›an diesem Tag‹ und ›am nächsten Tag‹). Die nicht-deiktischen Temporaladverbien differenziert Ehrich in kalendarische (›44 vor Christus‹) und nicht-kalendarische (›in der Römerzeit‹).253
|| 248 Vgl. Schel 39: »Wie ich nun vor das Thor kam, so erkundigte ich mich nun gleich, wo die grosse Wiese wäre?« 249 Z. B. Schel 29: »Nachdem ich nun mit meinen Erzehlen fertig war, so fieng mein Hr Bruder gleich auch an, von seinen Herkommen zu schwazen […].« 250 Eine Übersicht der frühneuzeitlichen Temporalsätze (samt den geläufigen Temporaladverbien/Konjunktionen) bietet Robert Peter Ebert u. a.: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Hrsg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera. Tübingen 1993, S. 455–460, die Beispiele sind u. a. daraus entnommen. Neben den drei genannten Typen führen Ebert u. a. zudem ›allgemein-zeitliche Konjunktionen‹ wie ›als‹, ›da‹ und ›do‹ auf. 251 Franz Simmler: »Makro- und Mikrostrukturen im ›Frühneuhochdeutschen Prosaroman‹, ihr Verhältnis und ihre Funktionen«. In: Yvon Desportes/Franz Simmler/Claudia Wich-Reif (Hrsg.): Mikrostrukturen und Makrostrukturen im älteren Deutsch vom 9. bis zum 17. Jahrhundert. Text und Syntax. Akten zum Internationalen Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris IV), 6. bis 7. Juni 2008. Berlin 2010, S. 193–218, hier S. 213. 252 Vgl. Veronika Ehrich: Hier und Jetzt. Studien zur lokalen und temporalen Deixis im Deutschen. Tübingen 1992, S. 108 f. 253 Vgl. zur gesamten Klassifizierung Ehrich (Anm. 252), S. 108, die Beispiele sind daraus entnommen.
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Kalendarische und chronometrische Angaben ermöglichen die Datierung von Ereignissen mittels Tages- und Jahreszeiten sowie Uhrzeiten. Als nichtdeiktische Adverbien definieren sie »eine absolute Position, die allein aufgrund historischen Faktenwissens als vor-, nach- oder (partiell) gleichzeitig mit einer gegebenen Bezugszeit einzuordnen ist«.254 Entscheidend für den Unterschied zu den deiktischen Temporaladverbien sind ihre überpersonale Verbindlichkeit und ihre Standortunabhängigkeit; zu differenzieren ist aber zwischen vollständigen Angaben (wie 1. März 2016), die Zeit als abstraktes System erscheinen lassen, und Bezugnahmen auf den Bauernkalender und Kirchenfeste, durch die Zeit wesentlich konkreter und zyklisch gedacht wird. Die Verwendung von kalendarischen Maßeinheiten dient nicht allein der punktuellen Verortung von Ereignissen, sondern auch der Quantifizierung von Dauer. Daneben gibt es eine Reihe von temporalen Präpositionen, die gleichfalls danach klassifiziert werden, ob sie Vor-, Nach- oder Gleichzeitigkeit indizieren, und danach, ob sie einen exakten oder nur annähernden Zeitpunkt (bzw. -raum) benennen.255 Die Gleichzeitigkeit anzeigende Präposition ›während‹ ist für die Historizität von Verwendungsweisen aufschlussreich, da sie sich erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts etabliert.256 Implizit evoziert wird Zeit unter anderem durch die Aktionsarten der Verben, insofern Vorgänge mit unterschiedlicher Dauer ausgedrückt werden, durch indirekte Verweise auf das Verfließen von Zeit (Ereignisse, Generationenfolge etc.257) und Referenzen auf Historisches. Folgt man Zeno Vendler, so sind vier Klassen von Verben zu unterscheiden, denen je eigene Zeitschemata (time schema) zugrundeliegen: Tätigkeiten ohne bestimmtes Ende (activities), Aktivitäten mit einem fixen Ende (accomplishments), punktuelle Begebenheiten (achievements) und Zustände (states).258 Je nachdem, welche Verben man z. B. || 254 Ehrich (Anm. 252), S. 108. 255 Vgl. Ewa Majewska: »Semantik der temporalen Präpositionen im Deutschen und Niederländischen«. In: Studia niemcoznawcze 23 (2006), S. 499–508. So wird beispielsweise Nachzeitigkeit suggeriert, wenn es heißt: »Nach dieser geschenen Opera fuhr ich mit meiner Charmante auf den Jungfern-Stieg« (Schel 47). 256 Vgl. den [Art.] »während«. In: DWB, Bd. 27, Sp. 807-812, bes. Sp. 807. Verbreitet sind aber Konstruktionen, in denen die Präposition ›unter‹ die Phrase einleitet: »Unter währender Mahlzeit« (Schel 28). 257 Vgl. Schüch (Anm. 174), 36 f. 258 Zeno Vendler: »Verbs and Time«. In: The Philosophical Review 66 (1957), H. 2, S. 143–160, hier S. 149, H. i. O.: »For activities: ›A was running at time t‹ means that time instant t is on a time stretch throughout which A was running. For accomplishments: ›A was drawing a circle at t‹ means that t is on the time stretch in which A drew that circle. For achievements: ›A won a race between t1 anf t2‹ means that the time instant at which A won that race is between t1 and t2.
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durch die rein additive Konjunktion ›und‹ kombiniert, ergeben sich Überschneidungen, die Ereignisse und Zustände gleichzeitig oder als aufeinander folgend erscheinen lassen. Jenseits dieser mikroskopischen Phänomene wird Zeit indirekt durch Wetterwechsel angezeigt, durch den Bezug auf bereits erzählte Ereignisse, die Darstellung von Generationsfolgen und durch »Zeichen, die das Vergehen von Zeit implizieren, wie z. B. das Ticken der Uhr, das Ergrauen der Haare, angelaufenes Silber usw.«.259 So wird die erzählerische Retrospektive in Johann Beers posthum erschienenem Roman Der Verliebte Oesterreicher (1704) durch solche indirekten Hinweise markiert (auch wenn ein offensichtliches Merkmal – der ergraute Bart – negiert wird):260 Schreite demnach ohne fernern umschweiff zu dem Wercke / und erzehle mein wundersames Leben / so mich von Jugend auf biß in gegenw(rtiges Alter geleitet; Jn welchem ich zwar keinen grauen Schweitzer=Barth / aber wol solche Haare trage / in welche sich tausend GlFckes=Ver(nderungen eingewickelt haben« (OE 3 f.)
Durch Referenzen auf außerfiktionale historische Ereignisse, Personen etc. – wie im Schelmuffsky auf Opernaufführungen in Hamburg (Schel 47 f.), Jean Barth oder auf den Grabstein Michiel Adriaanszoon de Ruyters (Schel 89) – werden temporale Angaben ergänzt und für die erzählte Handlung ein historischer Hintergrund aufgebaut. Diese Referenzen auf Reales und Historisches haben einen anderen Status als die genuin fiktiven Elemente der erzählten Welt: Sie beziehen sich auf Bekanntes, insofern sie dem Weltwissen der Rezipienten angehören, müssen aber nicht in jeder Hinsicht mit den realweltlichen Tatsachen übereinstimmen.261 Diese Referenzen so zu behandeln wie alle fiktiven Elemente eines Erzähltextes, würde an ihrer Funktion für den Text vorbei-
|| For states: ›A loved somebody from t1 to t2‹ means that at any instant between t1 and t2 A loved that person.« Zum Zusammenhang von Verbarten und Ereignissen mit Blick auf Vendler vgl. Matthias Aumüller: »Zeit und Ereignis. Zum Zusammenhang von Ereigniskonfiguration und Textkohärenz in Reiseberichten über die frühe Sowjetunion« In: Antonius Weixler/Lukas Werner (Hrsg.): Zeiten erzählen. Ansätze, Analysen, Aspekte. Berlin/Boston 2015, S. 233–258. 259 Schüch (Anm. 174), S. 37. 260 Mit der Sigle OE im Haupttext nachgewiesen, zitiert nach folgender Ausgabe: Johann Beer: Der verliebte Oesterreicher. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1704. Hrsg. und eingel. von James N. Hardin. Bern/Frankfurt a. M. 1978. 261 Wie stark im Fall der Indien-Reise zeitgenössische Berichte den Prätext des Schelmuffsky bilden, hat Bergengruen in einer akribischen Lektüre gezeigt, vgl. Maximilian Bergengruen: »Der große Mogol oder der Vater der Lügen des Schelmuffsky. Zur Parodie des Reiseberichts und zur Poetik des Diabolischen bei Christian Reuter«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 161–184, hier S. 161–171.
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gehen.262 Die Funktion solcher Referenzen liegt nicht allein im Aufbau eines konsistenten Hintergrunds, sie kann wie im Fincken Ritter (vgl. die Einleitung) und in Johann Beers Printz Adimantus (1678) auch dazu eingesetzt werden, diesen zeitlichen Hintergrund zu destabilisieren.263 Beispiellektüre 1: inkonsistente Zeit als poetisches Prinzip in Reuters »Schelmuffsky« Ein Blick auf Christian Reuters Roman Schelmuffsky zeigt, wie konkrete sprachliche Ausdrücke nicht nur zur Evokation und Formung erzählter Zeit beitragen, sondern auch zu Situationskomik und Widersprüchlichkeit als zwei poetischen Verfahren des Romans.264 Der Roman lässt sich nicht allein aus seinem konkreten Entstehungszusammenhang heraus als erweitertes Pasquill gegen Reuters Leipziger Wirtsfrau Anna Rosine Müller lesen, die Reuter aufgrund nicht beglichener Rechnungen hinausgeworfen hatte. Die den realen Kontext übersteigende Poetizität erhält der Text dadurch, dass er wie kein anderer Roman zwischen
|| 262 Martínez und Scheffel unterscheiden zwischen ›realen‹ und ›fiktiven‹ Elementen, die gleichermaßen Bestandteil fiktionaler Kommunikation sein können (vgl. Martínez/Scheffel [Anm. 154], S. 15 f.). Für Schmid hingegen sind alle Elemente im ›fiktionalen Werk‹ fiktiv: So betont er, dass entgegen der »in der Fiktionstheorie verbreitete[n] Auffassung, in der Fiktion könnten neben fiktiven Objekten auch reale Gegenständlichkeiten (reale Personen, Orte oder Zeiten) erscheinen (mixed-bag conception), […] davon ausgegangen werden [soll], dass die fiktive Welt des Erzählwerks eine homogene Ontologie hat, dass alle in ihr dargestellten Gegenständlichkeiten, gleichgültig wie eng sie mit real existierenden Objekten assoziiert werden können, grundsätzlich fiktiv sind« (Schmid [Anm. 165], S. 40 f., H. i. O.). Denkt man dieses Fiktivitätspostulat konsequent zu Ende, dann würde dies bedeuten, dass man eine Handlung, in der Napoleon eine wichtige Rolle spielt, nicht implizit der Zeit um 1800 verorten dürfte: Dies widerspricht aber dem principle-of-minimal-departure als einer basalen Verständnisoperation. 263 Johann Beer nutzt in seinem Adimantus punktuell poetische Verfahren, die an den Fincken Ritter erinnern, so beispielsweise, wenn er die Geschichte des ›günen Thurms‹ erzählt: »Dieser grüne Thurm lage an denen Gräntzen der Spartanischen Wälder / oder Hiblæantischen See=Klippen / in einer Ebene nebenst einer grossen Schantz / da Alexander der grosse den 4ten Aprill 1644. zu Mittag gegessen / als er den Machomet bey Jerusalem angegriffen / und biß nacher Altorff verjaget« (Johann Beer: »Printz Adimantus und der Königlichen Princeßin Ormizella LiebesGeschicht«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1992, Bd. 2, S. 35–69, hier S. 63, H. i. O.). 264 Zum Schelmuffsky vergleiche meinen Aufsatz zu Formen der Gleichzeitigkeit (Werner Anm. 468), Passagen und Überlegungen dieses Abschnitts gehen auf diesen zurück.
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Barock und Aufklärung im »Spiel um Ironie, Fiktionalität, Artifizialität, Selbstreflexion und Autonomie des Kunstwerks« die eigene Gemachtheit herausstellt.265 Wirklich »curiös« mutet die Geburt des Romanhelden an. Ihre Komik geht dabei aus der temporalen Koinzidenz der Ereignisse, dem dadurch suggerierten Kausalzusammenhang sowie der erzählerischen Akkuratesse hervor, die die privilegierte, denn von anthropologischen Restriktionen befreite Position des Erzähler-Helden sichtbar werden lässt. Schelmuffsky berichtet folgende Geschichte, die er im Laufe seiner Abenteuer immer wieder zum Besten gibt, um die Anwesenden von seiner edlen Abkunft zu überzeugen: Als die grosse Ratte, welche meiner Frau Mutter ein gantz neu seiden Kleid zerfressen, mit den Besen nicht hatte können todt geschlagen werden, indem sie meiner Schwester zwischen die Beine durchläufft und unversehens in ein Loch kömmt, fällt die ehrliche Frau deßwegen aus Eyfer in eine solche Kranckheit und Ohnmacht, daß sie gantzer 24 Tage da liegt und kan sich der Tebel hohlmer weder regen noch wenden. Ich, der ich dazumal die Welt noch niemals geschauet und nach Adam Riesens Rechen-Buche 4 gantzer Monat noch im Verborgenen hätte pausiren sollen, war dermassen auch auf die sappermentsch Ratte so thöricht, daß ich mich aus Ungedult nicht länger zu bergen vermochte, sondern sahe, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte und kam auf allen vieren sporenstreichs in die Welt gekrochen. Wie ich nun auf der Welt war, lag ich 8 gantzer Tage unten zu meiner Frau Mutter Füssen im Bettstroh, ehe ich mich einmal recht besinnen kunte, wo ich war. Den 9ten Tag so erblickte ich mit grosser Verwunderung die Welt. (Schel 11 f.)
Die Aufregung über eine Ratte bringt die Handlung durch die scheinbare Gleichzeitigkeit der Ereignisse in Gang. Am Ende der Reihe steht die Geburt des Helden, der – wie der Fortgang der Episode zeigt – selbst Träger animalischer Eigenschaften ist, sodass die Vermutung naheliegt, Schelmuffsky sei »das nicht geheure Produkt eines teuflischen Inkubus in Gestalt jener großen Ratte«.266 Die Evokation der Simultanität dieser Ereignisse erfolgt mittels der Konjunktionen »als« und »indem«. Die Beschleunigung der Ereignisreihe kulminiert in der Geburt des Helden und wird anschließend in längere Zeit dauernden starren Zuständen, in denen sich Schelmuffsky und seine Mutter zunächst befinden, gestoppt.
|| 265 Alice Villon-Lechner: »Der entschwindende Erzähler. Zur Selbstreflexion des Mediums in Christian Reuters Roman ›Schelmuffsky‹«. In: Simpliciana VIII (1986), S. 89–96, hier S. 90, H. i. O. 266 Hans Geulen: »Noten zu Christian Reuters ›Schelmuffsky‹«. In: Wolfdietrich Rasch/Hans Geulen/Klaus Haberkamm (Hrsg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Bern/München 1972, S. 481–492, hier S. 484; vgl. Bergengruen (Anm. 261), S. 161 und S. 176 ff.
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Das In-Ohnmacht-Fallen und die Geburt des Helden erweisen sich als ›Ereignisse‹, die zu einer Zustandsveränderung führen. Die vierundzwanzig Tage hingegen, die Schelmuffskys Mutter in Ohnmacht liegt, sind ein ›Zustand‹, der sich durch temporale Kontinuität auszeichnet. Die Dauer der Zustände wird mit Hilfe von kalendarischen Angaben spezifiziert (24 Tage, 8 Tage), ohne dass ihre Position im kalendarischen System im Sinne eines vollständigen Nachweises genau bestimmt werden würde. Ein konkretes Geburtsdatum fehlt. Die kategoriale Differenz zwischen den verschiedenen Zuständen und Ereignissen ist bereits in den verwendeten Verben angelegt: So bezeichnet ›(zwischen den Beinen) durchlaufen‹ ein punktgenaues Ereignis ohne signifikante zeitliche Ausdehnung, ›sich regen‹ hingegen einen unabgeschlossenen Prozess, ›in die Welt gekrochen kommen‹ einen Prozess mit einem definitiven Ende und ›(in der Welt) sein‹ einen Zustand. Insofern also bereits die verwendeten Verben teils über einen konkreten Zeitpunkt hinausweisen, erhält Zeit nicht allein eine punktuelle Dimension, sondern wird zu einer Kontinuität verlängert, in der sich Vorgänge teils überschneiden. Durch die unverbundene Reihung der Ereignisse wird die temporale Sukzession des Geschehens nochmals gesteigert. Die gemachten Angaben zur Chronologie lassen sich – trotz der hohen Frequenz der temporalen Marker in dieser Passage – nicht schlüssig verbinden.267 Jene binnentextuell aufgebaute zeitliche Dimension des Romans wird durch Referenzen auf Reales komplettiert, so heißt es über Schelmuffskys Schiffreise von London aus:
|| 267 Schelmuffsky berichtet, dass seine Mutter nach dem Vorfall mit der Ratte 24 Tage ohnmächtig war, er selbst wurde von diesen Ereignissen animiert, schnell in die Welt zu krabbeln (der Erzähler bedient sich des metaphorischen Ausdrucks »sporenstreichs«, der als »bild für die höchste eile eines reiters« steht, »Spornstreich«, In: DWB, Bd. 16, Sp. 2686 f., hier Sp. 2687, H. i. O.]). Zunächst liegt er acht Tage in den Füßen der Mutter, am neunten Tag nimmt er dann die Welt wahr. Zu diesem Zeitpunkt liegt seine Mutter noch in Ohnmacht (es müsste der 9. Tag sein); daraufhin beginnt er, sie ›wach zu rütteln‹, so berichtet er: »Bald kriegte ich sie bey der Nase, bald krabbelte ich ihr unten an den Fußsohlen, bald machte ich ihr einen Klapperstorch, bald zupffte ich ihr hier und da ein Härgen aus, bald schlug ich sie aufs Nolleputzgen. Sie wolte aber davon nicht aufwachen; letzlich nahm ich einen Strohhalm und kützelte sie damit in den lincken Nasen-Loche, wovon sie eiligst auffuhr und schrie: ›Eine Ratte! Eine Ratte!‹« (Schel 12). Sollte die Angabe zur Ohnmacht der Mutter zutreffend sein, so müssten zwischen dem Moment, in dem Schelmuffsky die Welt entdeckt, und dem Aufwachen der Mutter ca. 15 Tage liegen – dies ist aber, u. a. durch die ›bald‹-Konstruktion, die eine relativ engmaschige Sukzession suggeriert, unwahrscheinlich. Bereits in der Geburtsepisode sind die Zeitangaben also nicht miteinander vereinbar.
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Indem wir nun so in der besten Freude waren, sahe ich von ferne ein Schiff auf uns zugefahren kommen, welches ich den Schiffmanne zeigte und ihn fragte, was es vor eins wohl seyn müste? Als der Schiffmann solches gewahr wurde, fing er gleich zu uns an: Daß es frembde Flaggen führete und ihn vorkäme, als wenn es gar ein Raub- oder Caper-Schiff wäre. Sapperment! […]. Es wärete hierauf nicht lange, so kam der Tebel hohlmer das Caper-Schiff wie ein Blitz auf uns zugefahren, auf welchen der bekandte See-Räuber Hanß Barth mit erschröcklich viel Capers war. (Schel 113 f.)
Die Koordination der erzählten Ereignisse und Zustände erfolgt auch hier mittels Konjunktionen und Adverbien, die Simultanität und Sukzession evozieren (»als«/»indem« vs. »hierauf«). Eine für den Hergang der Ereignisse wichtige Figur ist, wie der Erzähler betont, der »bekandte See-Räuber Hanß Barth«, dem Schelmuffsky auf seinen Reisen gleich mehrmals begegnet und der eine historische Figur des ausgehenden 17. Jahrhunderts ist. Barth hat eine doppelte Funktion in Reuters Roman: Er fungiert partiell als Handlungsträger und evoziert durch seinen referentiellen Charakter einen historischen Rahmen, der Reuters Zeitgenossen vor allem aufgrund von zwei Zusammenhängen bekannt gewesen sein wird. Jean Barth war Führer eines Korsarenschiffes, das im Dienste Ludwigs XIV. stand, und soll bei einer Schlacht im Mai 1694 – so berichtet Eberhard Werner Happel im dritten Teil seiner Chronica – dreißig Schiffe des Vizeadmirals de Vries auf flämischer See erobert haben.268 Darüber hinaus war Barth im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Publikation des Romans im sächsischen Raum besonders deswegen bekannt, da er François Louis de Bourbon, prince de Conti (1664–1709) als potenziellen polnischen König nach Danzig begleitete. F. L. de Bourbon hatte Anspruch auf die polnische Krone, nachdem er am 27. Juni 1697 zum König von Polen gewählt wurde. Seinen Anspruch konnte er jedoch gegen den sächsischen Kurfürsten August nicht durchsetzen.269 Solche Bezüge auf realhistorische Personen, Ereignisse und Fakten finden sich im Schelmuffsky immer wieder: So besucht Schelmuffsky während seines Hamburg-Aufenthalts wohl Christian Heinrich Postels Oper Die Zerstörung Jerusalems (erstmals 1692) und Lukas von Bostels Cara Mustapha (ab 1686 auf dem Spielplan), in London besichtigt er eine Kapelle, in der an den Aufstand von Herzog James von Monmouth erinnert wird (1685).270 Der durch die realweltli|| 268 Vgl. Günter Jäckel: »Anmerkungen«. In: Christian Reuter: Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Günter Jäckel. Berlin 1965, S. 333–354, bes. S. 347. 269 Vgl. mit weiteren Nachweisen Jörg-Ulrich Fechner: »Schelmuffskys Masken und Metamorphosen. Neue Forschungsaspekte zu Christian Reuter«. In: Euphorion 76 (1982), S. 1–26, bes. S. 15. 270 Ilse-Marie Barth hat die entsprechenden Stellen in ihrer Edition kommentiert.
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chen Referenzen evozierte historische Hintergrund lässt die erzählte Handlung grob in den 1690er Jahren spielen. Diesen impliziten Formen der Datierung stehen im zweiten Teil des Romans zwei datierte Briefe gegenüber, die Schelmuffsky und seine Mutter einander schreiben. Während seines Aufenthalts in Rom bittet er sie, ihm ein »Fäßgen gut Klebe-Bier« zu senden und beschließt den Brief mit der Formel: »Rom den 1. April im Jahr nach Erbauung der Stadt Rom. 090.« (Schel 187).271 Bereits nach vierzehn Tagen will Schelmuffsky eine Antwort erhalten haben. Seine Mutter berichtet, dass sie im Sterben liege; deshalb ersucht sie ihn um seine Rückkehr. Datiert ist der Brief auf den »1. Januarii 1621.« (Schel 188). Die beiden Datierungen sind weder miteinander in Einklang zu bringen, noch passen sie zum historischen Hintergrund, der durch die Referenzen auf Realhistorisches aufgebaut wurde.272 Die impliziten und expliziten Angaben zur zeitlichen Ordnung der Ereignisse im Schelmuffsky lassen sich also weder in der Geburtsszene noch insgesamt zu einer kohärenten Chronologie zusammenfügen; die »Chronologie ist abstrus«, wie Klaus-Detlef Müller treffend formuliert.273 Die Inkonsistenz der Zeitangaben korreliert dabei mit der erzählerischen Gesamtanlage des Romans, oder anders ausgedrückt: mit seiner inhärenten Poetik. In Frage gestellt ist nämlich der Status jener Erlebnisse, von denen Schelmuffsky erzählt. Der Erzähler verstrickt sich in Widersprüche (besonders im Hinblick auf das Verhältnis zu realen geographischen und historischen Begebenheiten). Schelmuffskys Art zu sprechen, ist eine »konfuse Mischung aus Galanterie-Idiom und dekuvrierender Rüpelsprache«,274 sodass die Unterschiede
|| 271 Die Datierung auf den ersten April verweist auf die an diesem Tag begangenen Narrenscherze, an die Schelmuffsky als Figur durch sein aufschneiderisches Erzählen anknüpft. Spätestens seit den 1630er Jahren sind Aprilscherze im deutschsprachigen Gebiet belegt, vgl. Jungbauer: [Art.] »April«. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens [1927–1942]. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. Berlin 1927/1986, Bd. 1, Sp. 555–567, bes. Sp. 556. 272 Fechner (Anm. 269), S. 7: »Der dortige 1. Januar 1621 ist wohl ein Druckfehler für 1691 und keine von Reuter beabsichtigte, seinem Bestreben nach Aktualität zuwiderlaufende Rückverlagerung des Geschehens um siebzig Jahre.« Fechner versucht durch diese ›Korrektur‹ die grobe historische Einbettung des Erzählten als Zeitgenössisches, wie es durch die realweltlichen Referenzen suggeriert wurde, zu retten. Mit Blick auf die verzerrte Geographie des Romans erscheint es aber als ebenso plausibel, dass der temporale Widerspruch als Pendant zum ›unwirklichen Raum‹ fungiert. 273 Klaus-Detlef Müller: »Einfallslosigkeit als Erzählprinzip. Zu Christian Reuters ›Schelmuffsky‹«. In: Hans Esselborn/Werner Keller (Hrsg.): Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Köln u. a. 1994, S. 1–12, hier S. 7. 274 Grimm (Anm. 245), S. 56.
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zwischen ›Schein‹ und ›Sein‹ sichtbar werden. Im Grunde knüpft die Geographie der erzählten Welt an die reale Geographie (jenseits des Romans) an, doch – glaubt man den Behauptungen des Erzählers – lassen sich Irritationen nicht verhindern.275 Venedig, dies weiß Schelmuffsky zu berichten, sei »auff einen grossen hohen Stein-Felsen« gelegen, der wiederum »mit einen vortrefflichen Wall umgeben« sei (Schel 149). Das Titelblatt, das dem zweiten Teil des Romans vorangestellt ist, enthält den Hinweis, Padua liege »eine halbe Stunde von Rom« (Schel 125, vgl. 162). Rom hingegen sei »in lauter Rohr und Schilff und ist mit einem Wasser, welches der Tiber-Fluß genennet wird, rings umher umgeben«, zudem »fliesset die Tyber mitten durch Rom und über den Marckt weg« (Schel 179). Die Reihe solcher Diskrepanzen zwischen dem, was im Roman behauptet wird, und der Geographie der realen Welt könnte fortgesetzt werden.276 Als Schelmuffsky zu Beginn des zweiten Romanteils kurz nach Hause zurückkehrt, muss er sich von seinem Vetter die Frage gefallen lassen, »was [er] denn schon zu Hause wieder haben wolte, indem [er] kaum 14 Tage weg wäre« (Schel 137). Schelmuffskys hingegen hatte behauptet, er wäre einige Jahre gereist.277 Damit wird explizit ein grundsätzlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit des erzählenden Ichs artikuliert, der sich fortsetzt. Die attestierte Diskrepanz betreffe nicht allein die Dauer der Reise, sondern auch ihre räumlichen Dimensionen. Der Vetter nämlich bringt ein, er habe sich von unterschiedlichen Leuten erzehlen lassen, daß mein Vetter Schelmuffsky nicht weiter als eine halbe Meile von seiner Geburts-Stadt kommen wäre und alles mit einander mit liederlicher Compagnie im Toback und Brantewein versoffen (Schel 137).
Dem autodiegetischen Erzähler Schelmuffsky stehen die Behauptungen einer anderen Figur gegenüber, die als alternative Fakten – unter anderem auch aufgrund der teils widersprüchlichen Erzählung Schelmuffskys – nicht unwahrscheinlich sind. Definitives über die erzählte Welt lässt sich jedoch schwerlich sagen. Der erzählerische Witz des Romans liegt also, wie Klaus-Detlef Müller pointiert formuliert, »weniger in der Entgrenzung ins Phantastisch-Märchenhafte, wie es die volkstümliche Lügendichtung oder die sich zur Groteske emanzipie-
|| 275 »Ähnlich der phantastischen Literatur verläßt die ›Reisebeschreibung‹ nie ganz den Boden der Lebenswirklichkeit«, dies stellt Villon-Lechner heraus, »entlarvt sich die Lügengeschichte erst vor dem Raster des Realismus« (Villon-Lechner [Anm. 265], S. 92). 276 Vgl. Grimm (Anm. 245), S. 59–61. 277 Drei Jahre soll Schelmuffsky in Hamburg geweilt haben (Schel 49), mehr als zwei Jahre in Stockholm (Schel 65, 70) und nochmals zwei in Amsterdam (Schel 91).
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rende Satire praktizieren, sondern in der permanenten Selbstentlarvung des Ich-Erzählers«.278 Der Roman veranschaulicht, wie das Erzählte »durchgängig Projektion seines Ichs« ist und es mittels der Unvereinbarkeiten zum Teil der »Darstellung« macht.279 Die Verfahren der Evokation von Zeit, die keine homogene und widerspruchsfreie Rekonstruktion der Zeitverhältnisse des Romans erlauben, leisten ihren Beitrag dazu. Dem Schelmuffsky und dem Fincken Ritter ist das Herausstellen der Evokations- und Erzählverfahren durch die der erzählten Welt und dem Erzählakt inhärenten Widersprüche gemeinsam. Die Art und Weise, wie Zeit im Schelmuffsky sprachlich evoziert wird, ist Teil dieses poetischen Programms. Formung und begriffliche Klassifizierung von Zeit. Die scheinbar selbstverständlichen expliziten und impliziten Verfahren der Evokation bilden die Basis komplexer temporaler Eigenschaften, denn – dies hat die Lektüre des Schelmuffsky gezeigt – sie formen auf je unterschiedliche Weise die erzählte Zeit. Diese Formung lässt sich – ausgehend von der Verbalisierung als erzählerischer Operation – entlang der Parameter a) ›Qualität‹, b) ›Struktur‹, c) ›Dimension‹, d) ›Konsistenz‹ und e) ›Kohärenz‹ beschreiben. Dies sei im Folgenden vor allem anhand des Schelmuffsky mit Seitenblicken auf andere Romane systematisch erläutert. Die dabei genutzten Parameter sind aber nicht ausschließlich für Fragen der ›Verbalisierung‹ relevant, sondern ebenso für Fragen der ›Komposition‹, ›Auswahl‹ und ›Perspektivierung‹ (vgl. Kap. 4.1.1–4) wie auch für die diegetische und semantische Relationalität (Kap. 4.2 und 4.3). Freilich werden im Rahmen dieser noch weitere Parameter aktuell, die ich an entsprechender Stelle herausarbeiten will. Der Vorschlag für das analytische Instrumentarium wird also prozessual entwickelt. Die ›Qualität‹ bezeichnet die Art und Weise, wie ein Ereignis, eine Episode oder ein Zustand temporal lokalisiert wird. Geschieht dies durch eine Anbindung an ein anderes Ereignis, dann werden Zeitmomente ›konkret‹ gedacht, geschieht dies durch eine (mehr oder minder) vollständige kalendarische Datierung, dann wird auf eine ›abstrakte‹ Vorstellung von Zeit zurückgegriffen. Die Differenz zwischen konkret und abstrakt ist dabei nicht als dichotome Opposition zu verstehen, sondern graduell (unvollständige kalendarische Angaben oder die Orientierung am zyklischen Kirchen- und Bauernkalender bilden Zwischenstufen). Gleiches gilt für die Spezifikation von Dauer, die ebenso über die Gleichzeitigkeit zweier Prozesse und Zustände oder über abstrakte kalendarische Angaben angezeigt werden kann. || 278 Müller (Anm. 273), S. 7. 279 Müller (Anm. 273), S. 11.
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Die ›Struktur‹ auf der Mikroebene umfasst die Differenz zwischen Ereignissen als zeitlichen Punkten und Zuständen als temporalen Kontinuitäten, wie sie in den Aktionsarten der Verben angelegt sind und durch Zeitangaben hinsichtlich der Dauer und Lokalisierung spezifiziert werden können. Überträgt man die darin enthaltenen Differenzen in räumliche Metaphern, so stehen ›ZeitPunkten‹ ›Zeit-Strecken‹ gegenüber. Den Beginn des Schelmuffsky charakterisieren die simultane Dichte punktueller Ereignisse und ihre Überführung in Zustände, durch die das Tempo der Handlung modelliert wird. Der erzählerische Kunstgriff des Romananfangs liegt darin, zunächst konkrete Ereignisse aneinander zu koppeln (und auf eine kalendarische Fixierung zu verzichten) und so erzählerische Geschwindigkeit herzustellen, die anschließend durch die Integration von zeitlich bestimmten Zustandsphasen wieder herausgenommen wird. Obgleich dazu kalendarische Maßeinheiten (Tage und Monate) verwendet werden, wird die Geburtsepisode als Ganzes nicht kalendarisch fixiert. Die Verbindungen zwischen Ereignissen bleiben – wie auch in Grimmelshausens Simplicissimus (1668) und seinem Springinsfeld (1670) – vornehmlich konkret. Viele der im Roman vom Erzähler als Orientierungspunkte gesetzten Angaben stammen aus dem Bauernkalender (z. B. St.-Valentins-Tag, Schel 60; St-GertraudenTag, Schel 77) und haben zyklischen Charakter.280 Die zwei vollständigen kalendarischen Angaben (»1. April im Jahr nach Erbauung der Stadt Rom. 090.«, Schel 187; und 1. Januar 1621), die auf ein abstraktes zeitliches System deuten, sind – wie gezeigt wurde – widersinnig. Die Datierungen anhand des Bauernkalenders sind hinsichtlich ihrer impliziten ›Struktur‹ auf Makroebene – d. h. in ihrem angenommenen langfristigen Verlauf – anders organisiert als die Sukzession der Ereignisse, die einer linearen Ordnung folgt. Lineare und zyklische Formen der Zeit müssen aber nicht einander ausschließen: Sie können in unterschiedlichem Umfang die Handlung organisieren und als Strukturen in einander eingewoben werden (vgl. hierzu die Überlegungen zur Handlungskomposition). Die ›Dimension‹ der erzählten Zeit beschreibt ihre handlungsbasierte Struktur. In all jenen Fällen, in denen die Handlung nur nacheinander geschildert wird, bleibt Zeit als Dimension einwertig; gibt es aber Ereignisse oder Episoden, die gleichzeitig stattfinden, dann ist die erzählte Zeit mehrwertig. Letzteres ist – dies hat bereits die Lektüre der Geburtsepisode deutlich gemacht, deren komische Pointe gerade in der Gleichzeitigkeit der Ereignisse liegt – im Schelmuffsky der Fall. Zu differenzieren ist in diesem Zusammenhang zwischen der Simultanität von Ereignissen als Kleinformen von Gleichzeitigkeit und der Gestaltung || 280 Vgl. Fechner (Anm. 269), S. 7.
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mehrsträngiger Handlungen wie man sie beispielsweise in Veit Warbecks Magelone (1527) oder in Georg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554) findet. ›Kohärenz‹ beschreibt den Grad des temporalen Zusammenhangs zwischen dem Erzählten: Den einen Pol bildet ein durchgängig temporal zusammenhängender Plot, der – in der Tradition Heliodors – zum Beispiel in Anton Ulrichs Aramena (1669–1673) in Form des Tageszyklus einen temporal kohärenten Rahmen für die eingebetteten Figurenerzählungen bildet.281 Den anderen Pol stellen isolierte Ereignisse und Ereignisfolgen dar, die innerhalb des Gesamtgefüges für sich stehen. Im Rahmen der Frage nach der ›Konsistenz‹ lässt sich zwischen einer ›konsistenten‹ und einer ›inkonsistenten‹ erzählten Zeit unterscheiden: Im ersten Fall sind alle im Text gemachten Angaben vereinbar, im zweiten Fall sind sie es nicht. Im Schelmuffsky erweisen sich die inkonsistenten Zeitangaben – wie im Fincken Ritter – als poetisches Verfahren, das eingebettet ist in weitere Strategien, die der ›Selbstentlarvung‹ des Erzählers dienen. Neben solchen ästhetisch avancierten Brüchen in der Chronologie der erzählten Welt stehen Inkonsistenzen, die sich nicht als Teil ästhetischer Verfahren verstehen (und legitimieren) lassen. Pejorativ würde man von ›Fehlern‹ sprechen, die man dem Erzähler, Autor oder Drucker ankreidet. So hat Jörg-Ulrich Fechner die Datierung des Antwortbriefes der Mutter auf das Jahr 1621 als »Druckfehler«282 gelesen und nicht das dahinterstehende Programm erkannt. Die missglückte Chronologie in Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747/ 1748) mag als ein Beispiel für nicht ästhetisch legitimierte Brüche in der Chronologie der erzählten Geschichte dienen, die wohl dem Autor unterliefen.283
|| 281 Adolf Haslinger erkennt in Anlehnung an Karin Hofter in der »›Zeit als Reihung‹« ein wichtiges Prinzip des Erzählens von Anton Ulrich. Gegliedert ist ein typischer Tag nach folgendem Muster: Am Morgen eines Tages wird vom ›erzählenden Dichter‹ ein Ereignis berichtet, im Anschluss daran, am Vormittag, folgt man einer ›fiktiven Romanperson‹ in ein anderes räumliches Umfeld, um dort ein weiteres Ereignis zu berichten. Während des Mittagessens wird über »vergangene und zukünftige Vorfälle« gesprochen. Der Nachmittag steht im Zeichen eines »überraschende[n] Ereignis[ses]« oder die Gesellschaft führt ihre Gespräche fort. Am Ende des Tages steht ein gemeinsames Essen, das wiederum begleitet wird von Gesprächen, »wobei häufig das letzte Vorkommnis des vergehenden Tages auf das erste des nächsten vorausweist«. Dies führt dazu, dass die Handlung, wie Haslinger folgert, »in lückenloser Chronologie« verläuft (Adolf Haslinger: Epische Formen im höfischen Barockroman. Anton Ulrichs Romane als Modell. München 1970, S. 81 f.). 282 Fechner (Anm. 269), S. 7. 283 Werner Frick macht darauf aufmerksam, dass man bei der Rekonstruktion der chronologischen Ordnung des Romans, die durch die »häufigen Zeitangaben« suggeriert wird, »rasch auf gravierende Unstimmigkeiten« stößt: So altere die Gräfin während der zehn Jahre ihres Gatten
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Vorläufig ergeben sich aus den gemachten Beobachtungen also folgende Formen der Zeitausprägung: Im Hinblick auf die ›Qualität‹ lässt sich ›konkrete‹ von ›abstrakter Zeit‹ trennen. Hinsichtlich ihrer ›Struktur‹ kann Zeit ›linear‹ oder ›zyklisch‹ gedacht werden. In ihrer ›Dimensionalität‹ kann sie ›einwertig‹ oder ›mehrwertig‹ sein. Die evozierte Zeit kann des Weiteren ›konsistent‹ oder ›inkonsistent‹ sowie ›kohärent‹ oder ›inkohärent‹ sein. Dieses Begriffsset wird in der folgenden Auseinandersetzung mit den erzählerischen, diegetischen und semantischen Dimensionen der Relationalität von Zeit einerseits als Folie dienen und andererseits ausgehend von den historischen Phänomenen weiter ausdifferenziert.
4.1.2 Komposition: Permutationsmöglichkeiten von Handlungssegmenten Die mikroskopische Evokation der erzählten Zeit durch die Verbindung und Datierung von Ereignissen sowie durch den Aufbau eines historischen Rahmens wird durch die Komposition des Erzähltextes auf einer komplexeren Stufe fortgeführt. Entgegen einem weiten Verständnis von ›Komposition‹ als Überbegriff für verschiedene Modi des ›inneren‹ wie ›äußeren Aufbaus‹ eines Erzähltextes versteht Wolf Schmid unter ›Komposition‹ erstens die »Linearisierung der in der Geschichte gleichzeitig verlaufenden Handlungen zu einer Erzählsequenz«, die er aufgrund der medialen Möglichkeiten von Sprache als »obligatorisches Verfahren« ansieht, und zweitens die »Permutation der in chronologischer Ordnung aufeinander folgenden Sequenzen«, die »fakultativ« ist.284 Schmid fragt in Anlehnung an Boris A. Uspenskij nach den perspektivischen Parametern,285 die durch diese Operationen bedingt sind: Mit der Komposition werden die ›ideolo|| in Sibirien um fünfzehn Jahre. Frick interpretiert diese Unvereinbarkeiten als einen Effekt von Gellerts Erzählweise; diese sei »nicht prozessual und dynamisch«, sondern folge einem »reihenden Stationenprinzip […], zwischen dessen Einzelepisoden eigentlich ein ›chronologisches Vakuum‹ herrscht« (Frick [Anm. 42], S. 258). Gellert arbeitet also im Hinblick auf kleinere narrative Einheiten mit einer ›kohärenten‹ und ›konsistenten‹ Zeit, diese ist aber für die Gesamthandlung nicht mehr gegeben. 284 Schmid (Anm. 165), S. 274. 285 Für Uspenskij bildet die Frage der Perspektive (oder wie er sagt ›des Standpunkts‹) insofern das »zentrale Problem bei der Komposition des Kunstwerks, als es die unterschiedlichsten Kunstgattungen unter einem einheitlichen Blickwinkel zu betrachten gestattet« (Boris Andreevič Uspenskij: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Herausgegeben und nach einer revidierten Fassung des Originals bearbeitet von Karl Eimermacher. Aus dem Russischen übersetzt von Georg Mayer. Frankfurt a. M. 1975, S. 7, H. i. O.).
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gische‹, die ›zeitliche‹ und die ›räumliche Perspektive‹, also die wissensbedingte Haltung zum Erzählten, die zeitliche Situierung (d. h. die temporale Differenz zwischen Erleben und Erzählen) und die räumliche Positionierung (im Sinne eines konkreten Standpunktes), bestimmt. Von Interesse sind hier allein die Folgen der Linearisierung und Permutation für die erzählte Zeit. Die ›Linearisierung der Handlung‹ ist für Schmid nur insofern für die erzählte Zeit interessant, als Formen der sprachlich erzeugten Simultanität medial nicht eins zu eins umgesetzt werden können. Da der alphanumerische Code genuin linear ist, können Formen der sprachlich evozierten Simultanität nur einen Pseudostatus haben. Seinen zweiten Aspekt verengt Schmid – in der rhetorischen Tradition argumentierend – auf die Differenz von ordo naturalis und ordo artificialis. Diese ist zwar für die poetologischen Diskussionen der Frühen Neuzeit und den höfisch-historischen Roman wichtig, aber letztlich perpetuiert ein solches Verständnis von Komposition die problematische Reduzierung von Zeit auf Chronologie (Kap. 3.1). Bei der Auseinandersetzung mit Aspekten der Permutation lohnt es, einen Schritt zurück zu gehen und Permutation nicht nur als Umstellung der Chronologie zu verstehen, sondern allgemeiner als Frage nach derjenigen Ordnung, die Permutation erst erlaubt. ›Komposition‹ wird in diesem Sinne gedacht als ein aufbauendes Ordnungsmuster, durch das Handlungssegmente wie ›Ereignis‹, ›Episode‹ und ›Gesamthandlung‹ orchestriert werden. Diese drei Begriffe seien kurz expliziert, bevor ich im Anschluss anhand des Dil Ulenspiegels zeigen will, wie die Permutationsmöglichkeiten und -grenzen von Episoden ›zeitliche‹ und ›unzeitliche‹ Ordnungsmuster hervorbringen. ›Ereignis‹, ›Episode‹ und ›Gesamthandlung‹ sind hierarchisch verschieden gelagerte Handlungssegmente. Als ›Ereignis‹ wird – in Abgrenzung zu einem bedeutungsvollen Ereignisbegriff, wie er in der Nachfolge Jurij M. Lotmans postuliert wird – die kleinste narrative Einheit verstanden. Der Begriff umfasst ebenso ›dynamische Ereignisse‹, die durch eine Zustandsveränderung charakterisiert sind, wie auch ›statische Ereignisse‹, denen dieses sukzessive Moment fehlt (vgl. Kap. 4.2.1).286 Die ›Episode‹ besteht aus einer Folge von Ereignissen. Sie ist ein »relativ geschlossener Abschnitt des dargestellten Geschehens […],
|| 286 Matías Martínez und Michael Scheffel differenzieren diese beiden Gruppen von Ereignissen weiter: Geht die Zustandsveränderung bei ›dynamischen Ereignissen‹ nicht auf Figuren zurück, dann ist es ein ›Geschehnis‹, geht die Zustandsveränderung auf Figuren zurück, dann wird diese von ihnen als ›Handlung‹ bezeichnet. Im Fall von ›statischen Ereignissen‹ differenzieren sie zwischen ›Zuständen‹ (›es war kalt‹) und ›Eigenschaften‹ (›er war durchsetzungsstark‹), vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 112.
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der der Ausdehnung nach zwischen der Gesamthandlung einerseits und kleineren Einheiten wie Ereignis, Szene oder Tableau andererseits liegt« und dessen »Einheit« aus der »narrative[n] Kohärenz der […] dargestellten Handlungssequenz« hervorgeht.287 Die ›Gesamthandlung‹ hingegen bezeichnet den Plot als Ganzes, der sich aus Ereignissen zusammensetzt und innerhalb dessen episodische und nicht-episodische Segmente kombiniert sein können. Im Rahmen der Frage nach der Permutation kann die chronologische Folge der unterschiedlichen Handlungssegmente nicht als gegeben präsupponiert werden, vielmehr gilt es zu prüfen, inwiefern es der Erzähltext überhaupt erlaubt, auf den verschiedenen Ebenen eine chronologische Folge von Ereignissen zu rekonstruieren, oder ob er sich einer solchen Rekonstruktion verweigert. Die Relation zwischen einzelnen Handlungssegmenten muss nicht über zeitliche Parameter erfassbar sein, sondern kann auch anderen Ordnungsmustern folgen. Vollständig ›episodische‹ Texte und ›Episodenreihen‹ innerhalb einer ›Gesamthandlung‹ beispielsweise erlauben eine beliebige Permutation der Segmente, denn zwischen den einzelnen Episoden fehlt eine fixe temporal-kausale Verbindung oder sie ist widersinnig. In diesen Fällen, die man im Dil Ulenspiegel, im Diogenes (1550)288 oder im Faustbuch (1587, vgl. Kap. 8) findet, macht es im Hinblick auf Handlungsteile keinen Sinn, nach dem ordo naturalis oder ordo artificialis zu fragen. Zu fragen ist vielmehr nach den nicht-temporalen Ordnungsmustern, wie sie über Ähnlichkeitsrelationen, alphabetische oder numerische Strukturen erzeugt werden. Dies ist für die erzählte Zeit insofern bedeutsam, als dadurch ihre ›Struktur‹, ›Konsistenz‹ und ›Kohärenz‹ berührt werden, wie ein Blick auf den Dil Ulenspiegel zeigt.
|| 287 Matías Martínez: »Episode«. In: RLW, Bd. 1, S. 471–473, hier S. 471. 288 Diogenes. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd L(ben Diogenis Cynici des Heydnischen Philosophi. Getruckt zG Zürych / by Rodolff Wyssenbach. M. D. L. Der in fünf Kapitel gegliederte Diogenes-Roman folgt dem biographischen Muster, indem er zunächst die Herkunft und Erziehung des Philosophen behandelt. Das vierte Kapitel gilt »siner leer vnd sinem l(benn / ouch von allen sinen wunderbarlichen worten vnnd wercken / vnnd wie es jm zG letst ergangen syge« (S. Aiiijv); in diesem werden ganz verschiedene Situationen einzeln erzählt, ohne dass sie Teil einer verbindlichen Reihenfolge wären. Es dominiert die unspezifische Verortung der Handlung mittels der Phrase »vff ein zyt« und die einzelnen Episoden (häufig kurze Gespräche) sind im Druck sichtbar und betont voneinander abgesetzt, vgl. Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen 1999, S. 95–100.
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Beispiellektüre 2: Episodenpermutation und -ordnung im »Dil Ulenspiegel« Obwohl die Anfangs- und Endpassagen des anonym erschienenen Schwankromans Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel289 (vor 1515) einem biographisch-chronologischen Muster folgen, ist damit kein durchgängig verbindlicher Rahmen für die Gesamthandlung des Romans vorgegeben. Eine stark episodische Strukturierung der Handlung lässt die Anordnung einzelner Episoden beliebig werden. Je nach Handlungssequenz greifen im Dil Ulenspiegel temporale Ordnungsmuster mal stärker und mal schwächer. Gezeigt sei, dass einzelne Episoden auf zeitlicher Sukzession basieren und dass der Roman einen biographischen Rahmen besitzt, der die Gesamtheit der Ereignisse und Episoden in eine gerichtete Anfang-Ende-Struktur eingliedert, ohne dass aber die ›Episodenreihe‹ als Mittelstück des Romans dieser zeitlichen Ordnung folgen würde. Erzählt wird in 95 »Geschichten« (DU 5) der Lebensweg des Helden von seiner Geburt bis zum Tod.290 Der gleichbleibende Protagonist (nicht seine stabile Identität291) garantiert dabei die Kohärenz des hochgradig episodisch-schwankhaften Romans,292 der drei Schwanktypen vereint: den ›satirischen Schwank‹, den ›grobianischen Schwank‹ und den ›Wortwitzschwank‹.293 Die Wortwitzschwänke, die »die spezifische Pointe der Eulenspiegelschwänke zu vollkom-
|| 289 Von der ältesten überlieferten Ausgabe von 1510/1511 sind nur wenige Blätter überliefert. Im Folgenden wird nach der Studienausgabe des ersten vollständig erhaltenen Druckes zitiert: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 2010. Zur komplexen Überlieferungs- und Druckgeschichte vgl. Peter Honegger: Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und zur Verfasserfrage. Neumünster 1973. 290 Fälschlicherweise werden im Titel 96 Geschichten genannt, es fehlt aber die 42. Geschichte, vgl. den Hinweis bei Lindow. 291 Eulenspiegel ist als Figur schwer fassbar, denn er ist »zugleich rational und vorrational, den Grenzen des Leibes unterworfen, sie zugleich aber auch schon überwindend« (Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987, S. 215). Barbara Könneker betont, dass Eulenspiegel etwas »Proteusartiges« habe, der permanente »Wechsel des Ortes und der Maske, die Kunst der Verkleidung sowie die Fähigkeit, gleichzeitig in allen Ständen und Lebensbereichen zu Hause zu sein«, seien charakteristisch für ihn (Barbara Könneker: »Das Volksbuch von ›Ulenspiegel‹« [1970]. In: Werner Wunderlich [Hrsg.]: Eulenspiegel-Interpretationen. Der Schalk im Spiegel der Forschung 1807–1977. München 1979, S. 108–130, hier S. 117). 292 »Die Schwänke, die Eulenspiegel in seiner Jugend verübt, unterscheiden sich ihrem Charakter nach nicht von denjenigen seiner späteren Zeit, sie sind also jederzeit willkürlich austauschbar und ließen sich, wie ja immer wieder geschehen ist, beliebig umstellen oder ergänzen« (Könneker [Anm. 291], S. 113). 293 Vgl. Könneker (Anm. 291), S. 119.
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mener Entfaltung« bringen,294 variieren ein Schema, dem eine temporal wie kausal kohärente Handlungsführung zugrunde liegt.295 Dieses Schema, so führt Andreas Bässler aus, gründet auf der Reihe: ›Unerkanntsein‹ – ›Aufgabe‹ – ›Wörtlichnehmen‹ – ›Reaktion‹ – ›Auflösung‹ – ›Unerkanntwerden‹.296 Das »Unerkanntsein« des Helden zu Beginn der Episode und sein »Unbekanntwerden« an ihrem Ende bilden einen »zyklischen Rahmen«, innerhalb dessen sich eine »Kette von Funktionen als eine ineinander verzahnte Abfolge von Voraussetzungen« realisiert: Eulenspiegel bekommt von seinem Herrn eine »Aufgabe«, nimmt den Auftrag wörtlich (und richtet so Schaden an); es schließt sich die »Reaktion« des Auftraggebers an, die sich meist in ›Zorn‹ oder ›Lachen‹ entlädt; in der »Auflösung« verweist Eulenspiegel auf den ihm erteilten Auftrag. Am Ende steht Eulenspiegels »Unerkanntwerden«, das eine neue Handlungssequenz ermöglicht.297 Diesen Episoden liegt eine unabänderliche zeitlich-kausale Struktur zugrunde. Gerade die Umsetzung der Wörtlichkeit erfordert einen längeren zeitlichen Aktionsraum für Eulenspiegel. Oder konkret: Der Bierbrauer in der 47. Geschichte geht zu einer »Hochzeit« und beauftragt deshalb seine Magd und Eulenspiegel, den Hopfen zu kochen. Er selbst will erst »[u]ff den Nachtage« helfen (DU 138). Als alles für die Arbeit vorbereitet ist, geht die Magd für »ein Stund«, um »den Tantz [zu] besehen«, und lässt Eulenspiegel allein. Dieser kocht jedoch nicht den Hopfen, sondern »Hopff«, den großen Hund des Brauers (DU 138). Als die Magd zurückkommt, ist es bereits zu spät. Kurz nachdem sie das Gerippe des Hundes aus dem Sud gezogen haben, kommt der Hausherr betrunken heim und erkundigt sich, wie es ihnen ergangen ist. Woraufhin die Magd gesteht: »Ich gang ein halb Stund, den Tantz zu besehen, und hieß unsern nüwen Knecht den Hopffen dieweil gar sieden, so hat er unsern Hund gar gesotten« (DU 139). Auch wenn auf der Episodenebene der Chronologie eine grundlegende Bedeutung zukommt, so hat die temporal-kausale Organisation der Handlung nur begrenzt Geltung für die Gesamtanlage des Romans. Suggeriert wird die zeitliche Kontinuität durch den großen narrativen Rahmen der biographischen Erzählung, die mit der Geburt des Helden beginnt (1. Geschichte) und seinem || 294 Könneker (Anm. 291), S. 123. 295 Vgl. Andreas Bässler: »Eulenspiegel erzähltheoretisch. Vladimir Propps ›Morphologie des Märchens‹ und der ›Ulenspiegel‹«. In: Fabula 46 (2005), H. 3/4, S. 291–304. 296 Vgl. Bässler (Anm. 295), S. 296: »Das Vorhandensein eines klaren Erzählschemas macht hingegen die Motivierung des Handelns ›überflüssig‹ […]. Nicht die Motivation des Protagonisten bestimmt die Handlung, sondern umgekehrt die Handlung determiniert den Protagonisten.« 297 Alle Zitate Bässler (Anm. 295), S. 299–302.
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Tod und Begräbnis endet (93. Geschichte und folgende). Über eine biographisch-temporale »Geschlossenheit« verfügen allein die ›Ränder‹ des Romans.298 Erzählt wird zu Beginn, wie Eulenspiegel nach der Geburt (gleich mehrfach) getauft wird, wie er »biß er 3 Jar alt ward« sich wie ein »Aff« »uff den Küsn und im Graß« tummelt (DU 12 f.), wie er samt den Eltern umzieht, sein Vater stirbt und er mit seiner Mitter zurückbleibt und – »sechzehen Jar alt« – »kein Handtwerck lernen« wollte (DU 13). Das biographische Altern des Helden, das in den ersten Geschichten herausgestellt ist, setzt in den sogenannten »Kernschwänken« aus, man kann ihnen »nie entnehmen, wie alt der Schalk ist«, auch vollzieht sich »keinerlei Entwicklung« bei der Figur.299 Abgebrochen wird die Reihe der Kernschwänke relativ unmotiviert mit dem Alt-Sein des Helden: »als Ulenspiegel alle Land umb louffen het und was alt und verdrossen worden« (DU 253). Am Ende von Eulenspiegels Krankheit steht sein Tod, der als einziges Ereignis grob kalendarisch datiert wird. Die Inschrift des Grabsteins lautet: »Disen Stein sol nieman erhaben, hie stat Ulenspiegel begraben. Anno domini M.CCC.L. Jar.« (DU 266). Innerhalb des biographischen Rahmens sind die Episoden nicht nach einem durchgängigen Prinzip organisiert. Die Kontinuität der Kernschwänke wird durch die fortlaufende Nummerierung der Geschichten suggeriert, ohne dass eine verbindliche temporale Linearität vorhanden wäre. Sie folgen im Druck von 1515 keiner strikten Chronologie, auch keiner durchgehend räumlichen, metaphorischen oder alphabetischen Ordnung. Die Ordnungsprinzipien wechseln einander ab, eingesetzt werden entsprechend unterschiedliche Verfahren der Verknüpfung. Die chronologische Ordnung baut auf einem steten ›und dann‹ auf (z. B. »Bald darnach kam Ulenspiegel uff ein Burg«, DU 30). Die räumliche Ordnung der Episoden kombiniert das ›und dann‹ mit der Reise des Helden (»In dem Land Lünenburg, zu Zell, da thet Ulenspiegel ein abentürliche Büberei«, DU 73; in der darauffolgenden Geschichte heißt es erneut: »Darnach kam Ulen-
|| 298 »Das wirklich Biographische als Folge von Begebenheiten in Ort und Zeit«, so formuliert Hilsberg, »beschränkt sich in der Hauptsache auf die in den Historien 1–9 gegebene Jugendgeschichte und die Altersgeschichte der Historien 89–96. Hier allein ist eine bestimmte, in den Schlußhistorien nicht ganz geordnete chronologische Folge vorhanden.« (Werner Hilsberg: Der Aufbau des Eulenspiegel-Volksbuches von 1515. Ein Beitrag zum Wesen der deutschen Schwankliteratur. Hamburg 1933, S. 27; vgl. S. 30; eine ähnliche Diagnose stellt auch Johannes Klaus Kipf: »Episodizität und narrative Makrostruktur. Überlegungen zur Struktur der ältesten deutschen Schelmenromane und einiger Schwankromane«. In: Jan Mohr/Michael Waltenberger [Hrsg.]: Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014, S. 71–101, bes. S. 84); vgl. Könneker (Anm. 291), S. 110. 299 Bässler (Anm. 295), S. 297.
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spiegel wider und gieng bei Zel in ein Dorff«, DU 75). Innerhalb einer metaphorischen Ordnung werden die Episoden – über mögliche temporale und räumliche Linien hinaus – durch Ähnlichkeiten verbunden; immer dann, wenn z. B. mehrere Schwänke hintereinander einer Berufsgruppe gelten, so geht es in der 39., 40. und 41. Historie jeweils um Schmiede (DU 117–124). Die alphabetische Ordnung ist per se losgelöst vom Geschehen in der erzählten Welt, sie äußert sich in der Sprachlichkeit und Materialität des Textes, denn ausschlaggebend sind die Initialen der Episoden.300 Die unterschiedlichen Ordnungsprinzipien überlagern sich, dabei entstehen Brüche bei den Kapitelübergängen. Die 47. Historie beginnt mit einer raumzeitlichen Verortung, die suggeriert, dass sie sich nach einer Pflaumen-Episode ereignet hat: »Uff ein Zeit, als man nun sein mit den Pflumen zu Einbeck, die er beschissen het, vergessen het, kam er wider geen Einbeck« (DU 137). Der Schwank, in dem Eulenspiegel »dem armen Man sein Pflumen« bekotet (DU 252), folgt aber erst als 88. Geschichte. Solche Fehlverbindungen finden sich an mehreren Stellen.301 Zur Erklärung dieser Brüche wurden vor allem entstehungsgeschichtliche Argumente herangezogen, denn mit der Bearbeitung der ursprünglichen Konzeption des Romans soll seine Ordnungsstruktur verändert worden sein.302 Die Variation der Verknüpfungsformen und die lockere Aneinanderreihung der Episoden haben Folgen für die erzählte Zeit des Romans, denn die Kontinuität der chronologischen Folge wird dadurch für die ›Episodenreihe‹ aufgebrochen. Die erzählte Zeit erweist sich, blickt man über die einzelne Episode hinaus, nicht als homogene Dimension der erzählten Welt. Sie dient nicht als dominierendes und ausschließliches Ordnungsmuster der Erzählung, sondern nur als partielles. Nutzt man die bereits vorgeschlagenen Begriffe zur Beschreibung der Zeit, so lässt sich im Dil Ulenspiegel die zeitliche Dimension als ›inkohärent‹ und ›inkonsistent‹ bezeichnen, denn es wird nicht ein durchgängig
|| 300 Honegger hat versucht, auf der Grundlage des Alphabets die ursprüngliche Reihenfolge der Episoden wiederherzustellen, dabei kombiniert er diese Idee mit Lebenslaufmodellen (vgl. Honegger [Anm. 289], S. 101–116). 301 Lindow weist in seiner Edition die defizitären Verbindungen nach: Die Übergänge zwischen den Geschichten 17 und 18 (18 sollte aus chronologischen Gründen auf 15 folgen), zwischen den Historien 71 und 72 (letztere sollte im Sinne raumzeitlicher Kontinuität gleich auf Nr. 70 folgen ebenso wie die 84. Geschichte der 34. nachfolgen sollte) sind, legt man raumzeitliche Kontinuität als Kriterium zugrunde, fehlerhaft; der räumliche Anschluss der 62. Historie funktioniert nicht, die Übergänge zwischen der 74. und 75. sowie der 80. und 81. Historie sind fragwürdig. 302 Vgl. Honegger (Anm. 289), S. 101; Könneker (Anm. 291), S. 113. Auch Wolfgang Lindow erklärt die Ungereimtheiten vorwiegend mit fehlerhaften Überarbeitungen des Textes.
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temporal zusammenhängender Plot erzählt und die zeitlichen Angaben sind nicht widerspruchsfrei vereinbar. Dort, wo sich die Episodenfolge als beliebig erweist, also die Möglichkeit der Permutation gegeben ist, kann die Zeitstruktur weder als ›linear‹, auch wenn die einzelnen Episoden durchaus auf der Ereignissukzession basieren, noch als ›zyklisch‹ charakterisiert werden, auch wenn es zwischen einzelnen Episoden verbindende motivische Wiederholungsfiguren gibt. Zeit fungiert nicht als verbindendes Strukturmuster auf der Episodenebene, die Verknüpfungsweisen, die immer anderen Mustern folgen, sofern sie überhaupt verallgemeiner sind, sind schlicht ›unzeitlich‹.
4.1.3 Auswahl: Selektion und Motivation In einem grundsätzlichen Sinne bestimmt der Erzähler durch Selektion das, was erzählt wird. Er greift aus der Unzahl von Möglichkeiten Elemente heraus und formt damit eine »Sinnlinie«, »die bestimmte Geschehensmomente verbindet und andere beiseite lässt«.303 Schmid gesteht der ›Auswahl‹ eine fundamentale Funktion zu, denn »[d]ie Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften konstituiert nicht nur eine Geschichte, sondern auch die ihr inhärente perzeptive, räumliche, zeitliche, ideologische und sprachliche Perspektive«.304 Das Verfahren der ›Auswahl‹ besitzt – darauf kommt es mir im Folgenden an – zwei recht unterschiedliche Komponenten: eine im eigentlichen Sinne selektierende und eine motivierende. Die Selektion entscheidet über alle im literarischen Text präsenten Elemente der erzählten Welt und damit auch über den zeitlichen Umfang, der nicht als zufällig begriffen werden kann, sondern konstruktiv zur Bedeutungsgenerierung beiträgt. Unter die ›motivierende Komponente‹ fallen all jene Verfahren, die die Kohärenz eines narrativen Textes herstellen und die sich anhand der Kategorie ›Motivation‹ erfassen lassen: als ›kausale‹, ›finale‹ und ›kompositorische‹ Motivation. Die Sinnlinie kann dabei auf der Handlungsebene über kausale und finale Motivation hergestellt werden. Jenseits der Handlungsebene kann die Bündigkeit des Textes mittels übergeordneter, genuin kompositorischer Ordnungen generiert werden (freilich entspricht der hiesige Begriff der Komposition nicht Schmids Begriff, wie ich ihn eben vorgestellt habe), die sich entweder einfachen Strukturen wie Äquivalenzen oder komplexen Strukturen wie z. B. Handlungsschemata verdanken.
|| 303 Schmid (Anm. 165), S. 257, H. i. O. 304 Schmid (Anm. 165), S. 260.
Zeit und Erzählen: die erzählerische Dimension | 83
Wie die Anlage von Christian Thomasius’ Aristoteles-und-Olympias-Roman (1688)305 und die darin enthaltenen metatextuellen Kommentare zeigen, ist man sich der Variabilität dieser erzählerischen Verfahren und ihrer Effekte im späten 17. Jahrhundert wohl bewusst. Cardenio, der Erzähler des in den dialogischen Rahmen der Monatsgesp(che eingebetteten Romans, präsentiert zunächst einen Abriss von Aristoteles’ Biographie, die er anschließend je nach gewünschtem Muster in verschiedenen generischen Varianten erzählen will. Zunächst wird das biographische Gerüst, dann eine galante Abenteuerreihe, eine Version des Stoffes mit Elementen des heroischen Romans sowie eine, wie Florian Gelzer klassifiziert, »burlesk-französisierende[ ] Fassung« vorgestellt. Freilich geschieht dies nie ohne ironisch-satirische Distanz, sodass der letzte Versuch in der Tradition von Paul Scarrons Roman comique (1651/1657) steht.306 Cardenio unterbricht den zweiten Teil seiner Erzählung mit dem Hinweis: Bis so weit w(re dieses der Entwurff der abentheurlichen Geschichte / oder von dem ersten Theil der Liebe des Aristoteles. Den andern Theil / oder den Roman seroique [sic!307], wolte Jch nun von des Aristotelis Ankunfft zu Atarnien anfangen (AO 480 f.)
Cyllenio – sein Gesprächspartner – ist mit dem, was dann folgt, nicht zufrieden, denn er fühlt sich in dem versprochenen Programm betrogen, »die Forme eines Roman heroique [zu] beobachten / und denselben mit unterschiedenen moralund Politischen Anmerckungen aus[zu]zieren« (AO 496). Er macht Cardenio den Vorwurf, dass er mit seinem Roman – auch wenn er noch so viele Anmerkungen in ihn einarbeite – wenig Ruhm bei den Gelehrten erwerben würde. Dem entgegnet Cardenio:
|| 305 Christian Thomasius: »Schertz= und Ernsthaffter / VernFnfftiger und Einf(ltiger Gedancken / Fber allerhand Lustige und nFtzliche BFcher und Fragen Vierter Monat oder Aprilis, Jn einem Gespräch vorgestellet«. In: Ders.: Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1 (Januar – Juni 1688), S. 447–588. Im Folgenden wird der Roman mit der Sigle AO im Haupttext nachgewiesen; vgl. den aufschlussreichen Aufsatz von Gerhart Hoffmeister: »›Aristoteles und Olympias‹ – Christian Thomasius’ dynamischer Entwurf eines heroi-komischen Kurzromans (1688)«. In: Argenis. Internationale Zeitschrift für mittlere deutsche Literatur 2 (1978), S. 249–261. 306 Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 249–254, S. 251 f. und S. 254 (»In der Tat wird deutlich, dass die nouvelle vor allem ein Ziel verfolgt: Aristoteles und seine Philosophie ins Lächerliche zu ziehen.«, S. 252). 307 Gemeint ist hier sicherlich ›Roman heroique‹.
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Wenn ich nach derer Herren Scholasticorum ihren Geschmack des Aristotelis Leben in eine Roman bringen wolte / mFst ich gantz andere Erfindungen brauchen / sie zu bedienen. Jedoch d(chte ich / es solte sich solches auch wohl thun lassen / ohne die zuerst erzehlte Haupt=Umst(nde des Lebens Aristotelis zu ver(ndern (AO 499 f.).
Entscheidend sind die Fähigkeiten des Erzählers, die Geschichte nach den jeweiligen Anforderungen zu erzählen – programmatisch heißt es bei Thomasius: »Denn es mFste ein einf(ltiger Kerl seyn / der eine Sache nicht auff zweyerley Art erzehlen k=nte« (AO 500). Thematisiert sind damit die verschiedenen Erzählmöglichkeiten samt ihren Konventionen, über die der Erzähler verfügt, um einen Stoff in eine konkrete erzählerische Form zu bringen.308 Inwiefern die Selektion und die Verknüpfungsweisen von Ereignissen den temporalen ›Horizont‹ der erzählten Welt gestalten, sei im Folgenden zunächst anhand von Georg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und Niclas Ulenharts Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid (1617) für die Selektion und sodann anhand von Grimmelshausens Keuschem Joseph (1666/ 1667), Hunolds Satyrischem Roman (1706), der Historia von den syben weisen Meistern (Erstdruck von 1473) sowie am Heliodor’schen Roman für verschiedene Arten der Motivation gezeigt. Der ›Horizont‹ bezeichnet dabei – in Ergänzung zu den bereits in Kap. 4.1.1 und 4.1.2 vorgeschlagenen Kategorien – die Geschlossenheit oder Offenheit der temporalen Erstreckung der Handlung sowie die Möglichkeitsbedingungen des Neuen in der erzählten Welt. Oder konkret ausgedrückt: Es geht um Konzepte von Zukunft. Im Fall eines geschlossenen Horizonts korrelieren Handlungsabschluss und Erzählabschluss; das Erzählte wird final oder kompositorisch motiviert oder die erzählte Handlung folgt einer variierenden Poetik, die dem Diktum aus dem biblischen Buch Kohelet folgt: »Was ists das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ists das man gethan hat? Eben das man hernach wider thun wird / Vnd geschicht nichts newes vnter der Sonnen« (Kohelet 1,9). Bei einem offenen Horizont hingegen
|| 308 In der JFngst=erbaweten Sch(fferey (1632) wird die Auslassung als Kehrseite der Selektion an einer narrativ entscheidenden Stelle, als die beiden Liebenden getrennt werden, thematisiert. Motiviert wird die Auslassung durch das Eingreifen der Figur: »Durch was für ein Verhängnis aber / vnd warumb diese zwey Liebhabende / auff eine zeitlang / entsondert worden / hat der Schäffer Amandus, nach reiffer Erwegung / anhero zu setzen nicht thulich erachtet / vnd hat mir also solches / mit stummer Feder vnd stillem Munde / zu vbergehen / aus wichtiger Erhebligkeit / bey vermeidung seiner Vngnade / höchlich verboten« (AA 73 f.). Zitiert mit der Sigle AA nach folgender Ausgabe: JFngst= erbawete Sch(fferey / Oder Keusche Liebes=Beschreibung / Von der Verliebten Nimfen AmAna, Vnd dem LobwFrdigen Sch(ffer Amandus […]. In: Klaus Kaczerowsky (Hrsg.): Schäferromane des Barock. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 7–96.
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erscheint das Erzählte als Ausschnitt einer fortführbaren Geschichte, die nicht in einem symbolisch-sinnhaften Schluss endet, und die Handlungselemente stellen keine Variationen eines begrenzten Sets von basalen Standardsituationen dar. Der Variation innerhalb eines geschlossenen Horizonts steht die Diversität innerhalb eines offenen gegenüber. Die Selektion betrifft den Umfang der erzählten Geschichte sowie die Auswahl der erzählten Momente. Der temporale Zuschnitt der erzählten Welt im frühneuzeitlichen Roman orientiert sich an unterschiedlichen Referenzparametern: Er kann genealogisch-biographischen Mustern folgen oder als prägnanter Ausschnitt aus einer Biographie gestaltet sein. Genealogisch angelegt sind beispielsweise die Melusine (1456, Beispiellektüre 14), in der die Geschichte zweier Generationen in der Haupthandlung erzählt wird und die Geschichte der dritten als Vorgeschichte in diese eingebettet ist, oder auch der Fortunatus (1509), in dem die Geschichte von Aufstieg und Fall dreier Generationen erzählt wird. In der Insel Felsenburg (1731–1743, Kap. 11) entwirft Johann Gottfried Schnabel gar die Genealogie eines ganzen Staatswesens, die durch Tafeln und Stammbäume erschlossen wird. Die Dominanz einer einzelnen biographischen Linie hingegen findet man beispielsweise im Dil Ulenspiegel, wie bereits erläutert, in Georg Messerschmidts Brissonetus (1559, Beispiellektüre 15) oder im Faustbuch (1587, Kap. 8). Insofern die Romane des 16. Jahrhunderts die Lebensgeschichten ihrer Helden, sei es über eine oder mehrere Generationen hinweg, von Anfang bis Ende erzählen, zeichnen sie sich durch eine besondere temporale Geschlossenheit aus, die nur dort aufgebrochen wird, wo die Taten der Helden bis in die Gegenwart des Erzählers wirken (wie die Bautätigkeit Melusines oder Magelones). Beispiellektüre 3: abgerundete Handlung und geschlossener Zeithorizont in Wickrams »Der Jungen Knaben Spiegel« Eine in mehrfacher Hinsicht biographisch geschlossene Handlung wird in Georg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554) präsentiert. Es wird vom sozialen Aufstieg Fridberts erzählt, der als Sohn eines Bauern vom Ritter Gottlieb zu sich genommen wird. Parallel mit Fridbert steigt auch sein Erzieher Felix auf. Als Kontrast zu dieser doppelten Aufsteigergeschichte wird Wilbalds Bekehrungsgeschichte (und der Untergang des Lottarius) erzählt. Eröffnet wird der Roman von einer Lebensskizze des Ritters Gottlieb, der im Alter von 50 Jahren zum Schenk des Hochmeisters wird. Die Ehe mit der Frau seines Vorgängers bleibt zunächst kinderlos, deshalb nehmen sie Fridbert als Sohn zu sich. Innerhalb eines Jahres jedoch wird Wilbald geboren. Nach der Schilderung der Kindheit der beiden Jungen wird der Plot des Romans geteilt: in einen Handlungsstrang,
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in dem Wilbald und Lottarius den Figurenkern bilden, und in einen Handlungsstrang, bei dem Fridbert und Felix im Zentrum stehen. Einen beispielhaften und damit auch vorbildlichen Aufstieg erarbeiten sich Fridbert und Felix, Wilbald hingegen kommt durch schlechte Gesellschaft ab vom rechten Pfad, was Lottarius sogar das Leben kostet. Dem verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium (Lk 15,11–32) vergleichbar wird Wilbald, der bereut, wieder in das Haus des Vaters aufgenommen. Bezeichnend für den Zuschnitt der erzählten Welt samt dem präsentierten Geschehen sind die Eröffnung und der Abschluss des Romans. Jene zu Beginn des Romans skizzierte Biographie des Ritters Gottlieb endet im letzten Kapitel des Romans mit seinem Tod. Auch die anderen handlungstragenden Figuren sind am Ende des Romans tot, wie in aller Kürze erzählt wird: Als nun Wilbaldus lange zeit mit seiner liebsten gemahel Marina hauß gehalten und freuntlich gelebt / seind sie zG letst Seliglichen gestorben […] Also auch die zwen redlichen und gelerten mann Fridbert und Felix nach langem l(ben verscheiden seind (KS 119 f.)309
Zwar bleiben die Ehen nicht kinderlos, denn eine genealogische Reihe wird angedeutet, aber diese wird nicht über das Leben der Protagonisten hinausgeführt.310 Die Darstellung der erzählten Welt samt ihrer zeitlichen Dimension endet mit dem Tod der Figuren. Die geschlossene Sinnstruktur des Erzähltextes spiegelt sich gleichsam in seiner geschlossenen narrativen und temporalen Struktur. Die Handlung wird bündig abgeschlossen, alle Handlungsträger werden im Laufe des Erzähltextes in die erzählte Handlung eingeführt und verlassen sie durch ihr Ableben. Die zeitliche Linearität erscheint nicht als beliebig fortsetzbar, sondern kommt mit dem Ende des Romans an ihre Grenze.311 Dass || 309 Georg Wickram: »Der Jungen Knaben Spiegel«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1968, S. 1–121. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle KS nachgewiesen. 310 Manuel Braun sieht in der Schilderung der Erziehung der Kindergeneration eine Fortführung des Romanthemas, durch die diese gerechtfertigt erscheint (vgl. Braun [Anm. 41], S. 174). 311 Das zeigt gerade im Vergleich mit Georg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel die Warhafftige History / von einem vngerahtnen Son / in ein Dialogum gestellet. Zweyer gůten Freundt / Georgius. Casparus (wohl 1554 erschienen). Der Dialog, der mit seiner Rechtfertigung des Wahrscheinlichkeitspostulates eine »rudimentäre Romantheorie« enthält (Jan-Dirk Müller), beginnt mit dem zufälligen Zusammentreffen der beiden Gesprächspartner. Es folgt das Gespräch über Georgius’ Roman von Lottarius und Wilbaldus (also über Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel). Am Ende gehen die Gesprächspartner zusammen zum Essen. In das Gespräch eingebettet ist die argumentative Auseinandersetzung mit dem Fiktionsstatus des Romans, die aber von Erzählungen gestützt wird. Auch wenn dieser Binnenteil durchaus über thematische
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diese Geschlossenheit nicht allein der Darstellung eines ganzen Lebens in chronologischer Ordnung zu eigen ist, sondern sich gleichermaßen in einem ausschnitthaften Geschehen wiederfinden kann, führen Romane in der Tradition Heliodors vor. In ihnen wird ein prägnanter Ausschnitt aus der Biographie der Helden in der Haupthandlung präsentiert, wobei in analeptischen Figurenerzählungen die Vorgeschichte einzelner Akteure nacherzählt wird.312 Dabei liefert der Romaneinstieg in medias res – mit einem zerborstenen Schiff wie bei Heliodor oder einem Tigerkampf wie in von Zigler und Kliphausens Asiatischer Banise – den fulminanten Auftakt und die Verbindung des jungen Hauptpaares am Ende einen sinnhaft-symbolischen Abschluss (in Daniel Casper von Lohensteins Arminius bildet die Verbindung von Herrmann und Thußnelda abweichend den Mittelpunkt des Romans). Der ›Ausschnitt‹, der im höfisch-historischen Roman in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle spielt,313 präsentiert sich in diesem Sinne als ebenso geschlossener Rahmen wie die vollständige Lebensgeschichte eines Helden. Diesen sinnhaften und runden Abschluss sieht Clemens Lugowski als Kulminationspunkt der »märchenhafte[n] Enträtselung der Wirklichkeit«, die sich in der »Rätselspannung« niederschlägt: »Für die Rätselspannung ist Zukunft lediglich die Gewißheit, daß ein für sich bereits ganz fest umrissener Sachverhalt dem Menschen, der raten muß, um leben zu können, einmal sichtbar werden wird«.314 In der erzählten Welt erscheint alles »vorgegeben«, es wird nur aus verschiedenen Perspektiven – »als sei es eine Rundplastik« – »beleuchtet«. Dies unterscheidet seines Erachtens den höfisch-historischen Roman von Texten, »in der die Erzählung ihre Welt erst Schritt für Schritt zu erschaffen vorgibt«.315 In beiden Fällen, sowohl im Fall der von Beginn bis zum Ende erzählten Lebensgeschichte als auch im Fall des symbolisch geschlossenen Ausschnittes,
|| und narrative Geschlossenheit verfügt, bleibt die Gesamtstruktur mit ihrem zufälligen Beginn und dem über sich selbst hinausweisenden Ende ›offen‹ – ich danke Jan-Dirk Müller für das anregende Gespräch über den Zusammenhang von Dialog und Roman. 312 Vgl. Haslinger (Anm. 281), S. 250–318. 313 Als Ausschnitt wird im Vergleich mit der Gesamthandlung (samt ihren Vorgeschichten) die Haupthandlung präsentiert; die Wahrnehmung der Figuren zeigt auch immer nur Ausschnitte des Geschehens, die einander ergänzen und unterschiedliche Perspektiven auf einzelnen Ereignisse erlauben. 314 Clemens Lugowski: »Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit im heroischgalanten Roman« [1936]. In: Richard Alewyn (Hrsg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Köln/Berlin 1965, S. 372–394, hier S. 378, H. i. O. 315 Alle Zitate Lugowski (Anm. 314), S. 383, H.i.O.
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wird die präsentierte zeitliche Dimension durch den Zusammenfall des Endes der Geschichte mit dem Ende des Erzähltextes geschlossen. Was jenseits dieses Endes liegt, ist nur schwer vorstellbar oder statisch (da alle Konflikte beseitigt sind). Wickram endet nicht mit einem Ausblick auf das, was kommen mag, sondern wechselt die Ebenen, indem sich der Erzähler kurz an den Leser wendet oder mit einer Formel schließt.316 Beispiellektüre 4: offener Zeithorizont in Ulenharts »Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid« Eine ›offene‹ Struktur, in der der Ausschnitt nicht einen symbolischen Sinnabschluss besitzt, liegt hingegen Niclas Ulenharts novellenhaftem Roman Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid (1617) zugrunde.317 Die Historia setzt mit dem raumzeitlich präzise verorteten Zusammentreffen zweier junger »St=rtzer« ein: NIcht weit von der K=niglichē Hauptstatt Prag / auff halbem weeg zwischen Crusteintz vnnd besagter Statt Prag / an dem Orth / da sich die h=he deß Sandbergs anfahet / von dannen man im holen Weeg auff die kleine Seiten kompt / habē sich einsmals im Sommer / nahend vmb S. Margreten tag / da ohne das die Hitz am gr=sten / zween junge St=rtzer (deren der eine vngefahrlich von ein vnnd zwaintzig / biß in zwey vnd zwantzig Jahr / der ander / dem ansehen nach / etwas wenigs darunder m=cht gehabt haben) ohne gefahr angetroffen (HIW 23 f.)
Die Helden, die als Jünglinge (und nicht wie bei Cervantes als vierzehn- bzw. fünfzehnjährige Knaben) aufeinander treffen, ziehen nach Prag, wo sie in die Gaunerzunft des Zuckerbastels aufgenommen werden. Erzählt wird jedoch nur || 316 Noch vor dem »Beschluß« fügt Wickram ans Ende des Jungen Knaben Spiegels eine Gebetsformel: »Gott der almechtig verlüh allen geleübigen die ewig freüd und seligkeit. In disem zergencklichen l(ben / frid und einigkeit / und am letsten ein seliges end / nach disem l(ben das ewig l(ben / Amen.« (KS 120). Auch im Gabriotto und Reinhart (1551), in dem die Ehe als Verbindungsziel nicht erreicht wird, sowie im Goldtfaden (1557) findet man nach dem Abschluss der Handlung einen entsprechenden Ebenenwechsel. 317 Niclas Ulenhart: Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid. Nach Cervantes’ »Rinconete y Cortadillo«. Kommentiert und mit einem Nachwort von Gerhart Hoffmeister. München 1983. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle HIW abgekürzt. Der Umfang der Novelle von Cervantes wird in der umfassenden Bearbeitung Ulenharts, der die Handlung aus Sevilla nach Prag mit allen motivischen Konsequenzen versetzt, verdoppelt. Die Historia ist dergestalt weniger »reine Übersetzungsarbeit«, vielmehr rückt sie »in den Rang einer originalen Schöpfung« (Gerhart Hoffmeister: »Kommentar zu Niclas Ulenhart: Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid. 1617.«. In: HIW, S. 233–285, hier S. 268). Mit den über zweihundert Druckseiten der Erstauflage wächst die Novelle zu einem kleinen Roman an.
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ein Teil des Geschehens, das Ende des Textes geht nämlich nicht mit der Abrundung der Handlung einher. Was den beiden Protagonisten noch alles widerfährt, bleibt unerzählt. Der Ausgang ist potenziell offen, wenn es abschließend heißt: Fuhren also in disem Leben fort / vnnd triben diß Wesen zu Prag etlich vil Monat / in dem sich solche F(ll vnd sachen zugetragē / welche hie gar zu lang wurden fallen / da mans in minuto beschreiben solt: Lasts aber der Author dahin gestellt seyn / was sich so wol mit dem Zuckerbastel […] als auch mit disem Winckelfelder vnnd Jobstel von der Schneidt ferner zugetragen / sonderlich wie es jhnen mit etlichen Partiten ergangen (HIW 229 f.)
Der Leser wird schließlich auf eine mögliche Fortsetzung vertröstet. Die »offene Struktur«,318 die Ulenhart von Cervantes übernimmt, lässt die Zukunft als potenziell unabgeschlossen erscheinen, denn ein sinnhafter Abschluss, der von einer abgerundeten Handlung begleitet wird, fehlt. Damit steht die Historia nicht allein da: Auch in Johann Thomas’ Schäferroman Damon und Lisille (1663) bleibt das Ende offen,319 denn Damon reißt dem Ich-Erzähler die Feder aus der Hand und verbietet ihm, weiter zu erzählen. Nun wolt ich euch den weitern Erfolg / vnd wie diese kleine Lisille mit grossen Freuden jhrer Eltern daher wuchs / auch was sich bey vnserm Liebes-Paar mehr zugetragen / erzehlen. Aber der Damon der sich heimlich hinder mich gestellet / vmb zusehen was ich schrieb / als er der Lisillen Namen auff dem Papier erblicket / fährt mich unversehens an / vnd reißt mir die Feder auß der Hand. (DL 238)
Einen ähnlichen Schluss findet man in Johann Beers Printz Adimantus (1678), dessen Handlung zunächst mit einem »ENDE / Und dabey bleibts« abgebrochen wird (PA 69); zugleich antizipiert das Ende einen Blick in die Zukunft. Erst im Ritter Spiridon (1679) wird erzählt, wie Adimantus von Spiridon aus dem verzauberten Turm gerettet hat. Auch der Schelmenroman kennt teils das abrupte Ende: Der Ruchlose Student (1681), eine Übersetzung des niederländischen De Leidsche Straat-schender, Of de Roekelooze Student,320 schließt mit einem metatextuellen Kommentar mitten in einem amourösen Abenteuer des Protagonisten:
|| 318 Hoffmeister (Anm. 317), S. 260. 319 Johann Thomas: Lisille. In: Klaus Kaczerowsky (Hrsg.): Schäferromane des Barock. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 161–240. Im Folgenden mit der Sigle DL nachgewiesen. 320 Vgl. Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. 2. Aufl. besorgt von Herbert Singer. Köln/Graz 1957, S. 134.
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Die Nacht wurde bestimmet / und nachdem wir den Abend mit einander in Fr=ligkeit zugebracht / kamen wir endlich / nachdem wir etliche Gl(schen Wein auff die Wohlfahrt dieser k=stlichen Jungfrauschafft getruncken / zu Bette / da mir das wunderlichste UnglFck zustieß / das ich die Zeit meines Lebens gehabt; doch dieweil mein Buchdrucker klaget / daß bereits mehr abgeschrieben / als er zu diesem ersten Theil n=thig / werde ich den Verfolg dieser unglFckseligen Nacht / wie auch aller meiner Buben=StFcken im zweyten Theil erzehlen / welches fast alles fertig / und in kurtzem diesem folgen soll.321
Die Handlung wird mit einem erotisch gefärbten Aufhänger, der einen neuen Spannungsbogen eröffnet, abgebrochen; zugleich wird – wie in Damon und Lisille – der Blick auf den Erzähl- und Produktionsprozess gelenkt. Man vertröstet den Leser auf einen zweiten Band, der aber wohl nie erschienen ist. Die Bedeutung der Selektion, durch die ein bestimmter Handlungsausschnitt und bestimmte Motive ausgewählt werden, liegt unter anderem also in der Modellierung des zeitlichen Horizonts der erzählten Welt, der einen Aspekt ihrer temporalen Struktur ausmacht: Denn auch wenn die Ereignisse der erzählten Handlung in ihrem Nacheinander Teil einer linearen Zeitreihe sind, wird diese durch einen sinnhaft abgerundeten Schluss strukturiert oder gar beendet. Das jenseits dieses Schlusses Liegende wird damit ausgeblendet und eine potenzielle Fortführung der Handlung in der Zeit als Möglichkeit verworfen. Der zeitliche Horizont ist ›geschlossen‹. In jenen Fällen aber, in denen die Handlung nicht über einen solchen sinnhaft-symbolischen Schluss verfügt, sondern schlicht abgebrochen wird, bleibt die Handlung jenseits des erzählten Geschehens potenziell ›offen‹. Die Geschlossenheit und Offenheit der zeitlichen Dimension wird – jedoch in anderer Hinsicht – ebenso von den verschiedenen Formen der Motivation mitbestimmt. Kausale und finale Motivation und ihre temporalen Implikationen. Die Sinnlinie einer Welt gründet zum Teil darauf, auf welche Art und Weise die erzählten Ereignisse motiviert werden. Zu unterscheiden ist im Rückgriff auf Clemens Lugowskis Begriffe der ›Motivation von vorn‹ und ›Motivation von hinten‹ zwischen ›kausaler Motivation‹ sowie ›finaler Motivation‹. Im Rahmen der kausalen Motivation wird ein Ereignis dadurch erklärt, dass es »als Wirkung in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang« gefügt ist, »der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt«. Als Erklärungsparameter dienen dabei nicht allein »Figurenhandlungen«, »nichtintendierte Handlungsfolgen, Gemengela-
|| 321 Anonym: Der Ruchlose Student. Oder Der hochstraffbare und nichtswFrdige Selbst= Ruhm / Eines in allen Uppigkeiten und Lastern ersoffenen Welt=Bruders […]. o. O. 1681 (VD17: 23:330214W), S. 183 f. (im Folgenden mit der Sigle RS abgekürzt und im Haupttext nachgewiesen).
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gen sich überkreuzender Handlungen, gänzlich nichtintentionales Geschehen«, sondern auch »Zufälle« als zentrale Elemente eines kontingenten Verständnisses von Welt. Die providenzielle Weltordnung mit ihrer finalen Motivation hingegen wird durch das Wirken einer göttlichen oder »numinosen Instanz« verbürgt. Der Handlungsverlauf ist nicht offen, wie in einer kontingenten Welt, in der der Zufall alles ändern kann, im Gegenteil: Er ist »von Beginn an festgelegt«, sodass »selbst scheinbare Zufälle […] sich als Fügungen göttlicher Allmacht [enthüllen]«.322 In diesem Sinne sind die Motivationsarten erzählerische Grundoperationen; sie haben zudem insofern auch eine diegetische Dimension, als sie eine spezifische Funktionsweise der erzählten Welt implizieren. Kausale und finale Motivation sind inkompatibel und verfügen über je eigene temporale Implikationen. Denn bei der ›Motivation von hinten‹ bestimmt, so Clemens Lugowski, und »durchdringt« das »reine Sein […] die Sphäre der Vorläufigkeit […]. Es scheint hindurch […] und kann nur in dieser ständigen Anwesenheit die Zeit wahrhaft aufheben«. Das unterscheidet die finale Motivation grundlegend von reiner Teleologie, denn, so Lugowski weiter, »[f]ände es [d. h. das reine Sein, L. W.] sich nur am Ende, so wäre die Zeit alles«.323 Die ›Motivation von hinten‹ ist seines Erachtens Ausdruck einer ›zeitlosen Welt‹, da innerhalb dieser »der zeitliche Ablauf des Geschehens nur die Oberflächenstruktur einer vorgegebenen atemporalen Tiefenstruktur ist«.324 Die Gleichsetzung von finaler Motivation und umfassender Atemporalität scheint über eine klare Konturierung der temporalen Folgen, die sie zeitigt, hinauszugehen. Finale Motivation suspendiert keineswegs die temporale Grundstruktur des Geschehens, wie Matías Martínez mit Blick auf Lugowski feststellt, vielmehr beschränkt sie den temporalen Möglichkeitsraum der Zukunft. Der einzelne Moment ist eben nicht ein Möglichkeitsraum für Neues, sondern dient allein der Verwirklichung des (von der numinosen Instanz) Vorgesehenen. Der zeitliche Horizont der erzählten Welt erweist sich in diesem Sinne als ›geschlossen‹. In Erzähltexten der Frühen Neuzeit wird die finale Motivation häufig, doch nicht zwangsläufig mit einer Semantik der göttlichen Providenz versehen. Es gibt, wie Harald Haferland zeigt, ebenso final motivierte Erzähltexte, die ohne eine Semantik des Numinosen auskommen (dies spricht für die analytische Trennung zwischen erzählerischen Verfahren und Semantiken, wie sie in Kap.
|| 322 Alle Zitate Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 114 f. 323 Alle Zitate Lugowski (Anm. 54), S. 88, H. i. O. 324 Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 19.
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4.1 und 4.3 angelegt ist).325 Häufig ist es aber die Providenz, die direkt oder indirekt Figuren und Handlung lenkt. Ein anschauliches Beispiel für eine final motivierte und zugleich providenziell organisierte Welt liefert Grimmelshausens biblischer Roman Keuscher Joseph.326 Für die göttliche Vorsehung werden Träume, Orakelsprüche und Horoskope funktionalisiert. In der dadurch sichtbar werdenden Ordnung der erzählten Welt sind nicht allein die Ereignisse, sondern darüber hinaus ebenso ihre Zeitpunkte vordefiniert. Die Welt erscheint in ihrem zeitlichen Horizont damit als ›geschlossen‹: zum einen im Sinne der Beschränkung des Möglichen und zum anderen im Hinblick auf das numerisch durchstrukturierte Zeitgerüst der Handlung. Beispiellektüre 5: providenzielle Zeitordnung in Grimmelshausens »Keuschem Joseph« Grimmelshausens wohl 1666 erschienener Keuscher Joseph (vordatiert auf 1667) liefert eine »[e]rbauliche / recht ausfFhrliche und viel=vermehrte Lebensbeschreibung« seines Helden und dient, so der programmatische Titel, »[z]um Augenscheinlichen Exempel der unver(nderlichen Vorsehung GOttes« (KJ 3).327
|| 325 Harald Haferland schlägt mit Blick auf Erzähltexte, in denen eine »providentiell wirkende Instanz gar nicht namhaft gemacht« wird, eine Unterscheidung zwischen »providenzielle[r]« und »narrativ konstruierte[r] Finalität« vor, Erstere betrifft die »Ebene der erzählten Handlung«, Letztere die »Ebene des Erzählens selbst« (Harald Haferland: »Kontingenz und Finalität«. In: Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin [Hrsg.]: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 2010, S. 337–363, hier S. 354). 326 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Des Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung samt des Musai Lebens-Lauff. ( = Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Unter Mitarbeit von Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke herausgegeben von Rolf Tarot). Tübingen 1968. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle KJ abgekürzt. 327 Rüdiger Zymner erkennt im Keuschen Joseph Elemente der finalen wie kausalen Motivierung: »Grimmelshausen entwickelt«, so seine These, »eine ›doppelte Welt‹, eine final und kausal motivierte erzählte Welt. Die Unvorhersehbarkeit der zukunftsungewiss kausal motivierten Welt ist dabei ein Effekt der Poetisierung, der künstlerisch ›anmutigen‹ Behandlung des Stoffes und der Sprache« (S. 105). So treffend seine einzelnen Beobachtungen im Hinblick auf die eingesetzten »Techniken der Literarisierung (insbesondere durch Individualisierung des Figurals, durch Profilierung der Erzählinstanz, durch Versatilität des Stils, durch kommunikative Integration des Lesers, durch Detailrealismus in der Darstellung und durch die Reflexion der medialen Bedingungen im schrifttextuellen, künstlerischen Erzählens ebenso wie durch die Konstruktion von Fiktionskontinua)« auch sind (S. 112), so kann er doch nicht zeigen, inwiefern sie »erzählstrukturell die Providentia-Struktur [unterlaufen]« (110, H. i. O.). Die poetischen Verfahren widersprechen nicht per se einer providenziellen Ordnung; zudem können kausale Formen der Motivierung durchaus für eine finale Motivierung funktionalisiert sein.
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Bereits die paratextuell situierte Inhaltsübersicht lässt die vordefinierte Ordnung der erzählten Welt mit ihrer Ergebnisorientierung deutlich hervortreten: DEmnach GOtt der Allm(chtig in seinem allerweisesten Raht beschlossen / das Geschlecht Jacobs […] aus der Chananeer Land in Egypten zuversetzen / da es sich bis zur wider AusfFhrung durch Moisen beschehen / vermehren solte; Hat Er solche Versetzung durch ein allgemeine Theurung / die seines Volcks Ertzvattern den Jacob in Egypten zwingen muste / ins Werck setzen wollen; Damit aber Jacob und seine Kinder zu ihrer Ankunfft auch Unterschleiff und Lebens=Mittel finden m=chten / hat die G=ttliche ohnver(nderliche Vorsehung Jacobs liebsten / weisesten und sch=nsten Sohn Joseph / den seine BrFder verkaufften / vor ihm her gesandt / und demselben Mittel an die Hand gegeben / dardurch Er den Jacob: seine Kinder / Kindes=Kinder und sich selbsten versorgen k=nnen; Wie es nun ihme Joseph ergangen / bis alles dem G=ttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden / solches wird in diesem Buch einfälig erzehlt. (KJ 6)
Dieser vorgegebene Rahmen wird in Grimmelshausens Roman auf verschiedenen Ebenen thematisiert und schließlich umgesetzt, denn am Ende tritt das ein, was von Beginn an verheißen war. Zum einen sind da Träume, Orakel und andere Zeichen, die von den Figuren gedeutet werden müssen, um ihren Sinn zu erschließen (freilich können sie auch wie im Fall Potiphars missverstanden werden, vgl. KJ 64 f., 90). Joseph träumt davon, wie sich die Garben der Brüder vor den seinigen »die auffrecht gestanden / von sich selbsten zur Erden geneigt und nidergeworffen« (KJ 11), und wie die Sonne, der Mond und elf Sterne vom Himmel niedergekommen seien und ihn verehrt hatten. Jacob liest – zum Verdruß der Brüder Josephs – aus diesen Träumen die Größe Josephs heraus, die einst sichtbar werden wird. Denn »es wird die Zeit kommen«, so richtet er sich an Joseph, »daß du nicht allein Fber deine BrFder erh=het / sondern auch von Vatter und Mutter selbsten geehrt / und gleichsam angebetet wirst werden« (KJ 13 f.). Geht das Vorhergesagte in Erfüllung, verweist es auf die übergeordnete Sinnstruktur der erzählten Welt. Zum anderen gibt es die erzähllogisch privilegierte Deutung des Erzählers, der der Handlung Sinn zuspricht. Aus dem glücklich überstandenen Räuberüberfall auf die Karawane, dem man nur heil entkommen konnte, weil Musai Joseph als Gott Apoll ausgegeben hat, leitet der Erzähler »des gFtigen Gottes Vorsehung und Sorg vor die jenige / so er beschir-
|| Vgl. Rüdiger Zymner: »Gottes Plan und Dichters Werk. Doppelte Welt in Grimmelshausens ›Keuscher Joseph‹«. In: Text + Kritik VI (2008, Sonderband: Grimmelshausen), S. 102–115. Für eine Lektüre, die die Providenz und weniger die politischen Implikationen (Dieter Breuer) oder das erbauliche Potenzial (Rolf Tarot) ins Zentrum stellt, plädiert Siegfried Streller: »Grimmelshausens ›Keuscher Joseph‹ und Zesens ›Assenat‹. Ein Vergleich«. In: Simpliciana X (1988), S. 421–430, bes. S. 422 und S. 427.
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men will« (KJ 35), ab. Die gesamte Geschichte, so sein Schlussplädoyer, soll dazu beitragen, »der unver(nderlichen Vorsehung GOttes [zu] vertrauen« (KJ 125). Bestimmt werden das Eintreten der Ereignisse, die sich in die übergeordnete Sinnlinie fügen, und zudem – durch zwei narrative Bögen sowie Fristen – ihre Zeitpunkte (der Verkauf Josephs und sein Aufstieg zum Verwalter Ägyptens, die insgesamt dreizehn Jahre umfassen; und die sieben fetten und sieben dürren Jahre Ägyptens). Gerade die zeitliche Koordination und Fixierung der Ereignisse geht über die biblische Vorlage hinaus.328 Dort, wo sich von verschiedenen Figuren gemachte Aussagen über die Zukunft und die Deutung des Geschehens überlagern, materialisiert sich die providenzielle Ordnung der erzählten Welt in besonderem Maße: Sie wird selbstevident.329 Der erste narrative Bogen ergibt sich aus der Prophezeiung Musais. Nach dem Überfall durch die Räuber weissagt er Joseph: du hast 11. BrFder / also / daß eurer Zw=lff seynd / und Fber 13. Jahr wirst du anfahen zu zweyen zu werden / also / daß dein Vatter auch dreyzehen / und mit dir selbst vierzehen S=hn haben wird: Alsdann kommt Musai wieder zu dir (KJ 35).
Diese dreizehnjährige Frist bewahrheitet sich: Nach über zehn Jahren im Dienste Potiphars muss sich Joseph den Liebesnachstellungen der Selicha entziehen (vgl. KJ 45), zwei Jahre sitzt er aufgrund der Verleumdungen der von ihm verschmähten Selicha im Gefängnis. Dort lernt er mithilfe eines »alten Sternsehers« (KJ 77), das Horoskop zu erstellen. Er sieht nicht nur den nahenden Tod der Selicha und des Pharaos, sondern »nennete so gar den Tag« (KJ 77), an dem || 328 Grimmelshausen übernimmt aus dem Buch Mose eine Reihe von Angaben: das Alter Josephs (»Joseph war siebenzehen jar alt«, als er von seinen Brüdern verkauft wurde [1 Mose 37,2], »[v]nd er war dreissig jar alt / da er fur Pharao stund / dem k=nige in Egypten« [1 Mose 41,46], »Vnd lebete hundert vnd zehen jar.« [1 Mose 50,22]), die Drei-Tages-Frist der Prophezeiung über das Schicksal des Mundschenks und des Oberbäckers (vgl. 1 Mose 40,12 u. 18) sowie die motivisch dominanten sieben fetten und sieben dürren Jahre. Auch der Zeitpunkt, an dem sich Joseph zu erkennen gibt (vgl. 1 Mose 45,6), ist biblischen Ursprungs, ebenso wie die Angaben über die Dauer von Jakobs Aufenthalt in Ägypten (1 Mose 47,28). Die biblischen Angaben werden von Grimmelshausen aber in ein kohärentes System gebracht, indem wechselseitige Verweise häufiger eingesetzt werden. In der biblischen Vorlage liegen zwischen den Prophezeiungen für den Mundschenk und den Oberbäcker und der Deutung der Träume des Pharaos zwei Jahre (»VND nach zweien jaren hatte Pharao einen Trawm«, 1 Mose 41,1); diese beiden Ereignisse werden von Grimmelshausen zusammengezogen und mit dem Tod des alten Pharaos motiviert. Für die beiden Angaben zum Alter Josephs (17 und 30) konstruiert Grimmelshausen mit Musais Prophezeiung den ersten narrativen Bogen mit der dreizehnjährigen Frist. 329 Vgl. Zymner (Anm. 326), S. 105.
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sie sterben. Er deutet die Träume des ehemals königlichen Mundschenks und Bäckereiverwalters und verspricht dem einen, dass er in drei Tagen wieder freikommen wird, während er dem anderen den Tod am Galgen prophezeit. Beides trifft ein. Der Tod des Pharaos und die bevorstehende Krönung seines Sohnes Tmaus bringen den von Musai prognostizierten Umschwung, denn ohne Auslegung der königlichen Träume kann die Krönung nicht vollzogen werden (vgl. KJ 83). Hieraus ergibt sich der zweite narrative Bogen, denn Joseph leitet aus den Träumen des Pharaos die sieben fetten und sieben dürren Jahre Ägyptens ab (vgl. KJ 86 f.). Die Sinnhaftigkeit des Zusammenspiels eines Teils der in den Prophezeiungen enthaltenen Fristen erschließt sich Jacob in der retrospektiven Deutung von Josephs Himmelstraum: Jetzt sahe er erst / daß gleich wie eilff Stern / samt Sonn und Mond / dreyzehen machen / also auch / daß solche dreyzehen Jahr bedeutet hatten / nach welcher Verfliessung Joseph zu solcher Herrlichkeit gelangen solte; dann im siebenzehenden Jahr seines Alters wurde Joseph verlohren / und im dreissigsten wurde er Obrister Regent in Egypten / welche WFrde er damahls / als Jacob zu ihm zog / schon neun Jahr getragen hatte. (KJ 118)
Ohne dass explizit ein zeitlicher Rahmen in den Traum eingeschrieben war, wird dieser mit Blick auf das Geschehene von Jacob hineingedeutet. Joseph selbst rechtfertigt das Fehlverhalten seiner Brüder, indem er sie als Instrumente des göttlichen Willens versteht: Joseph aber tr=stet die Fbrige / und sagte / es solte sich keiner der geschehenen Ding mehr erinnern / weder sich damit zu betrFben / oder deßwegen sich zu sch(men / noch sich darmit zu erschrecken; Weil alles aus gn(diger Ordnung und Vorsehung GOttes geschehen w(re (KJ 114).
Durch die providenzielle Ordnung der erzählten Welt sind also nicht allein ihre Ereignismöglichkeiten reglementiert, sondern in einem doppelten Sinne auch der zeitliche Horizont: zum einen insofern, als die Zukunft nicht als ›offen‹, sondern als in ihren Geschehensmöglichkeiten ›geschlossen‹ verstanden werden muss, und zum anderen insofern, als die zeitliche Position der Ereignisse in den Prophezeiungen festgeschrieben ist. Demgegenüber zeichnet sich eine Welt, in der der Hergang der Handlung dominant kausal motiviert wird, durch eine potenziell offene Zukunft aus, in der weder Ereignisse gesetzt noch ihre Zeitpunkte bestimmt sind. Der Verlauf der Zeit wird zu einer Dimension, im Rahmen derer sich alles ändern kann. Die Möglichkeiten dessen, was eintreten kann, sind nicht durch eine numinose Instanz beschränkt. Bestimmt wird die Handlung deshalb von den Intentionen
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der Figuren und vom Zufall. Christian Friedrich Hunolds Satyrischer Roman (1706) entfaltet eine solche kontingente Welt.330 Zugleich reflektiert er wie Hunolds Europæische H=fe / Liebes= Und Helden=Geschichte (1705) die Verfahren providenzieller Sinnstiftung,331 wie u. a. Träume und Horoskope, und führt vor, wie diese vielmehr Instrumente der Figuren als des göttlichen Willens sind. Die providenzielle Weltordnung ist im Satyrischen Roman nicht mehr intakt. Dies bedeutet aber nicht, dass die erzählte Welt des Romans frei ist von einer jenseitigen Perspektive, diese wird aber bezeichnenderweise als Text im Text auf einer anderen narrativen Ebene verhandelt.332 Beispiellektüre 6: offener Zeithorizont in Hunolds »Satyrischem Roman« Erzählt wird in Hunolds Roman, wie der Titel bereits zu verstehen gibt, nicht ohne satirisch-kritischen Impetus333 eine galante Welt, in der junge Männer und Frauen und so mancher »verliebte Fincken=Ritter« (SR 123) zu Gespräch, Spiel und erotischem Abenteuer zusammenkommen.334 Dabei geben sie häufig »nicht einen vollkommenen=keuschen Joseph« (SR 89) ab – die literarhistorischen Folien des Romans sind damit klar markiert. Angetrieben werden die Figuren in || 330 Christian Friedrich Hunold: Satyrischer Roman. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1706. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Wagener. Bern/Frankfurt a. M. 1973. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle SR abgekürzt. 331 Bernhard Fischer attestiert die »Entsubstantialisierung des höfischen Romans« in den Europæischen H=fen (S. 67), die sich unter anderem im »Fehlen der Geschlossenheit« (S. 69) zeigt; Bernhard Fischer: »Ethos, Konvention und Individualisierung. Probleme des galanten Romans in Chr. F. Hunolds ›Europäischen Höfen‹ und im ›Satyrischen Roman‹«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 64–97. 332 Selander sendet seiner geliebten Arismenia die »Gedancken Von der Liebe / Da man auf einem GOttes=Acker spatzieren gieng« (SR 96–112), die er von einem »[m]elancholische[n] Amant[en]« erhalten hat (SR 94). Im Gegensatz zur genussfixierten Haupthandlung wird in diesem »allegorischen Zwischenspiel« (Fischer [Anm. 331], S. 92) die Vergänglichkeit irdischer Güter thematisiert, dabei wird punktuell auf eine providenzielle (und in besonderem Maße sinnhafte) Weltordnung angespielt (»Ist dieses ein unversehener Zufall / oder will mir eine h=here Macht was gewFnschtes dadurch prophezeyen: Ja / antwortete mir meine Seele / alles dieses ist nicht von ohngefehr geschehen.« SR 110 f.). Auch wenn dieses Modell in den »Gedancken« partiell eine Rolle spielt, bleibt die Logik der Haupthandlung davon unberührt. 333 Vgl. Fischer (Anm. 331), S. 92. 334 Der Satyrische Roman folgt aber nicht der Poetik des ›galanten Romans‹, wie sie aus der Liebens=WFrdigen Adalie (1702, vgl. Beispiellektüre 8) ablesbar ist, sondern ist vielmehr ein formaler Hybrid, wie Herbert Singer betont: Denn Hunold habe »in dem schwer einzuordnenden Buch Elemente des galanten, des Abenteuerromans und solche der Klatschrelation, selbst der Pornographie vermengt und ein überaus interessantes, aber atypisches Werk geschaffen« (Herbert Singer: Der galante Roman. 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1966, S. 38 f.).
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ihrem Handeln von ihrem Liebesverlangen und -frust, die sie immer neue Konstellationen eingehen lassen. So heißt es über die Entscheidung Tyrsates’ und Selanders, die Stadt Salaugusta zu verlassen: Jn Salaugusta l(nger zu bleiben / war beyden nicht angenehm / und Selandern wegen seiner gehabten unglFcklichen Liebes=Affaire verdrießlich / darum vermeynte er mit dem Orte auch seinen noch Fbrigen GemFths=Kummer zu ver(ndern; Und weil sie das sch=ne Sachsen schon sattsam gesehen / trieb sie die Neugierigkeit / und die zwischen ihnen gemachte feste Freundschaft / nach Italien zu gehen / und zur Zeit des Carnevals sich der Lustbarkeiten in Venedig zu bedienen. (SR 66)
Neben den Intentionen der Figuren steht der Zufall, dem sie ausgeliefert sind und der ihnen einen Strich durch die Rechnung machen kann.335 Als Selander Arismenia nach einem faux pas einen Entschuldigungsbrief schickt, ist sie gerade nicht Zuhause; bei seinem zweiten Brief verursacht das »UnglFck«, »daß sie eben eine gute Freundin besuchet« (SR 132); doch »fFgte es das GlFck / daß er sie in einer Assembleé unverhofft erblickte« (SR 133). Auch wenn der Zufall immer wieder das Zusammenkommen der Liebenden verunmöglicht oder ermöglicht, stehen ›Glück‹ und ›Unglück‹ in Hunolds Roman nicht im Dienste einer übergeordneten Providenz. Die klassischen Handlanger der Providenz werden im Roman als Mittel entlarvt, persönliche Interessen zu verfolgen: Dies gilt für das Wahrsagen aus der Hand ebenso wie für die Deutung der Planetenkonstellation. Fungiert die Schifffahrt (samt Schiffbruch und Piratenüberfall) in der Tradition des Heliodor’schen Romans als funktionales Verzögerungsmoment der Handlung, das aber dennoch letztlich die Verbindung der beiden Liebenden nicht verhindert, so ist sie in Hunolds Roman nur als ironischer Reflex auf diese Tradition samt ihrer geschlossenen Handlungsstruktur präsent. Tyrsates erzählt eine Begebenheit, im Rahmen derer das Wahrsagen aus der Hand nicht der Prophezeiung der Zukunft dient, sondern der geheimen Absprache zwischen einem Studenten und einer Dame. Der Student betont, als er sich die Hand der Dame anschaut, dass er etwas sieht, »das er fast in keiner eintzigen Hand noch gefunden; und wenn ihm dieses nicht eintreffen solte / so wolte er nimmermehr von der Chiromantie etwas halten« (SR 43). Die damit geweckte Neugier der Anwesenden befriedigt er erst auf Nachfrage und erläutert:
|| 335 So heißt es beispielsweise beiläufig: »So wurde die Nacht mit solchen Rathschl(gen zugebracht / dadurch ein eintziger Zufall des Tages einen curiosen Strich machte« (SR 17).
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Unsere sch=ne Kaufmanns-Frau mFsse zu weilen / wenn sie des Abends in den Garten gieng von einem Gespenste geplaget werden / und wFrde sie / wennn [sic!] sie aufrichtig seyn wolte / gestehen / daß sie solches mehrentheils um die und die Stunde bey der kleinen hinter ThFr erschrecket / welches sie aber aus Besorgung / um damit nicht ausgelachet zu werden / bishero verschwiegen (SR 43 f.).
Die Strategie des Studenten geht auf, denn die Dame schickt daraufhin eine Freundin zu ihm und lässt ausrichten: »Daß / wo er morgen um die und die Zeit die Stelle des Gespenstes zu vertreten Belieben trFge / solte ihm frey stehen / vor sothane MFhwaltung eine Gef(lligkeit bey ihr auszubitten« (SR 44). Durch ähnliche Intentionen begründet sich das Interesse von Tyrsates an Horoskopen. Er sieht sich in Selanders Abwesenheit in dessen Bibliothek um und macht dabei eine – wie er findet – hilfreiche Entdeckung. Er studiert »Schriften«, unter welchen er ein artig Urtheil von der Kraft der Sternen fand / wie von derselben Conjunction und Einfluß in der Gebuhrts Zeit nicht allein das GlFck und UnglFck besonders im Lieben dependire / sondern auch durch deren Gleichheit die Gleichheit der GemFther / herstamme (SR 145 f., H. i. O.).
Für Tyrsates geben diese Konstellationen aber weniger Auskunft über den zukünftigen Hergang der Dinge, sondern sie »waren sch=ne Lehr-S(tze / um solche einem geliebten Frauenzimmer beyzubringen / und ihr dadurch eine genaue VerbFndung desto sFsser zu machen« (SR 146). Auch hier sind die Instrumente der Providenz für das amouröse Begehren funktionalisiert. Tyrsates möchte seiner Asterie nach Ravenna folgen. Das Schiff, auf dem er sich befindet, wird auf dem Weg von Räubern gekapert. Vor dem Hintergrund der literarischen Tradition eine klassische Situation, die aber bei Hunold eine ungewöhnliche Wendung nimmt. Denn Tyrsates kann mit den Räubern einen Handel vereinbaren. Sie sollen ihm 24 Stunden in Ravenna geben, da er dort eine »Sache von sehr grosser Wichtigkeit« (SR 226) zu erledigen habe, dann werde er – so verspricht er ihnen – zurückkehren. Zudem stellt er ihnen einen Wechsel über 6000 Dukaten aus, den sie bei einem venezianischen Kaufmann einlösen können, falls er sein Wort nicht halten würde. Der Handel erweist sich als geglücktes Täuschungsmanöver des Helden, denn ob er gleich sonsten seine Parole zu halten sich durch die Ehre verbunden erachtete / so glaubte er doch / nicht den geringsten Abbruch daran zu leiden / wenn er bey den SeeR(ubern sein Versprechen nicht erfFlle; Und was den Wechsel anbelangte / darum war er wenig bekFmmert / weil alle Obligationes in dergleichen F(llen ungFltig / und die See= R(uber ihr Handwerck noch nicht recht verstehen musten / da ihnen dieses unbekandt (SR 227)
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In jenen Passagen des Romans, in denen das »Verhängnis« als Erklärungsmuster herangezogen wird, dient es den Figuren dazu, unklare Motivationen zu verdecken. Wie Hans Wagener treffend feststellt, spielen »›das Verhängnis‹, ›der Himmel‹ oder ›die Vorsehung‹ keine Rolle mehr«; sie seien nicht mehr als ein »reines Lippenbekenntnis zu einer nicht mehr geglaubten Seinsordnung«.336 Die »Handlung«, so Bernhard Fischer, ist im wesentlichen […] zentriert in der subjektiven Entscheidung, so daß man selbst bei der Trennung der Liebenden […] keine Ähnlichkeit mit jenem ›Verhängnis‹ erkennen kann, das – in der Spannung mit der menschlichen Freiheit und der göttlichen Providenz – zu den genuinen geschichtsphilosophischen Themen des höfischen Romans gehört.337
Das Verhängnis ist in Hunolds Satyrischem Roman eine subjektbezogene und keine übergeordnete Größe, damit trägt seine Aneignung und Funktionalisierung durch Figuren zu der von Fischer attestierten »Individualisierung« bei.338 Der Ereignishorizont ist nicht mehr geschlossen, sondern prinzipiell offen. Freilich sind der spielerische Umgang und die Absage an eine finale Motivierung in Hunolds Romans auch – darauf deutet ja bereits der Titel hin – mit der satirischen Schreibweise verbunden. Kausale und finale Motivation betreffen, dies sollten die Lektüren von Grimmelshausens und Hunolds Romanen deutlich gemacht haben, insofern die Temporalität der erzählten Welt, als sie zum einen über die Geschlossenheit und Offenheit ihres Zeithorizonts entscheiden und zum anderen über die zeitliche Position von Ereignissen, die im Fall der kausalen Motivation kontingent und im Fall der finalen fix ist. Freilich stellt die durchstrukturierte Chronologie von Grimmelshausens Roman eine besondere Form der finalen Motivation dar, denn nicht immer muss die zeitliche Rahmung des Geschehens durch Fristen oder Ähnliches derart explizit und verbindlich sein. Kompositorische Motivation und ihre temporalen Implikationen. Die kompositorische Motivation bezeichnet in einem allgemeinen Sinne »die funktionale Stellung einzelner Motive oder Ereignisse im Rahmen der gesamten Komposition«.339 Motiviert werden Ereignisse und Motive nicht über die Funktionsweise der erzählten Welt – wie im Falle kausaler oder finaler Motivation –, sondern über ein gestalterisches Verfahren, oder emphatischer formuliert: über eine extradiegetische Sinnstruktur. Behilft man sich des Begriffs der ›Äquivalenz‹
|| 336 Hans Wagener: »Vorwort«. In: Hunold (Anm. 330), S. 5–32, hier S. 23. 337 Fischer (Anm. 331), S. 96. 338 Fischer (Anm. 331), S. 95. 339 Matías Martínez: »Motivierung«. In: RLW, Bd. 2, S. 643–646, hier S. 644.
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sowie der Differenz zwischen ›Syntagma‹ und ›Paradigma‹, dann lassen sich kompositionelle Aspekte und ihre temporalen Implikationen auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben. Äquivalenzen erfassen motivische Wiederholungsfiguren, die im ›paradigmatischen Erzählen‹ auf episodischer Ebene oder in einzelnen Handlungssegmenten gespiegelt werden. ›Syntagmatisches Erzählen‹ basiert auf Kontiguitätsrelationen, die ›einfach‹ oder ›komplex‹ ausfallen können. Der Vorteil eines solchen Verständnisses von Komposition liegt darin, dass die »kompositorische Motivierung des dargestellten Geschehens« nicht auf die »Erzählschema der jeweiligen Gattung« und die daraus abgeleiteten »(je nach Gattung unterschiedlich gefüllten) Kategorien der Modalität« reduziert bleibt.340 Freilich besitzen aber Erzählschemata und -traditionen für das frühneuzeitliche Erzählen kompositorische Relevanz; als Form ›komplexen syntagmatischen Erzählens‹ sind sie in typologische Überlegungen eingebunden, aber die Kompositionsarten lassen sich nicht allein auf diese reduzieren. Äquivalenz. Als Äquivalenz bezeichnet Wolf Schmid in Anlehnung an Roman Jakobson jene Formen der Verknüpfung, die (scheinbar) nicht genuin temporal sind, sondern ›unzeitlich‹.341 Äquivalenz entsteht durch die Gleichwertigkeit zwischen zwei Ereignissen, Episoden, Motiven zum einen und Formen zum anderen. Hinsichtlich der Qualität sind also zwei Formen von Äquivalenzen zu unterscheiden: Werden Elemente der Geschichte verknüpft, dann handelt es sich um ›thematische Äquivalenzen‹; gründet die Äquivalenz jedoch auf der »Identität bzw. Nicht-Identität zweier Textsegmente hinsichtlich eines der Verfahren, die das Erzählen konstituieren«, dann handelt es sich um eine ›formale Äquivalenz‹.342 Die Gleichwertigkeit zweier Elemente kann sich im Hinblick auf ihre Relation entweder als ›Similarität‹ oder ›Opposition‹ realisieren. Im Fall der Similarität basiert die Äquivalenz auf der Identität zwischen zwei Merkmalen, während die Opposition zwei Merkmale kontrastiert. Wolf Schmid versteht diese Form der Verknüpfung als genuin unzeitlich, denn die »Äquivalenz stellt gegen die Sukzessivität der Geschichte eine Simultaneität von Elementen her, die nicht nur auf der syntagmatischen Achse des Textes, sondern auch auf der Zeitachse der Geschichte oft weit voneinander entfernt sind«. Schmid verweist auf die »kategoriale Differenz zwischen der zeitlichen und unzeitlichen Verknüpfung«, denn »Vorher- oder Nachher-Sein, Ursache- oder Folge-Sein sind ontologische Bestimmungen ganz anderer Art als Äquivalent-Sein«. Dennoch kommt Schmid nicht umhin, den temporalen Effekt zu benennen, den die Komposition eines
|| 340 Martínez (Anm. 339), S. 644. 341 Vgl. Schmid (Anm. 165), S. 22. 342 Schmid (Anm. 165), S. 24, H. i. O.
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Textes nach Äquivalenzen hervorruft: Sie schafft eine »Simultaneität von Elementen«.343 Die ältere Erzählforschung hat andere Effekte aus Äquivalenzstrukturen abgeleitet. Clemens Lugowski beschreibt Formen der similaren, auf Identität beruhenden Äquivalenz in seiner Auseinandersetzung mit dem »Gehabtsein und der Wiederholung«. Das Gehabtsein ist dabei eine thematische Dominanz, die die erzählte Welt bestimmt. Die Wiederholung, die mit dem Gehabtsein »innerlich verwandt« ist, bezieht sich auf formale Äquivalenzen, die auf einer »Übereinstimmung in der formalen Struktur«, auf einer »identische[n] Struktureinheit« basieren.344 Darüber hinaus weist er auf die temporalen Implikationen dieser similaren Äquivalenzen hin, die sich nicht allein im Rahmen des mythischen Analogons als Ausdruck einer »Auffassung der Welt als zeitlosen Seins« niederschlagen.345 In Boccaccios Decamerone bestimme, so Lugowski, die Liebe als thematische Äquivalenz (»Gehabtsein«) die Figuren, die immer als von der übermächtigen Liebe Überwältigte erscheinen, nicht eigentlich Liebe habend, sondern vielmehr von ihr ›gehabt‹, nicht eigentlich ein Substrat, dem Liebe anhängt, sondern selber dem ewigen, zeitlosen Wesen der Liebe, die hier das Substrat ist, anhängend.346
Indem im Dekameron – so fährt Lugowski fort – »die einzelne Novelle im Verhältnis der Wiederholung zu anderen steht, ist sie mehr als nur sie selbst, die Ausschaltung der ›Ob überhaupt‹-Spannung hängt aufs innigste damit zusammen«.347 Der ›Ob überhaupt-Spannung‹ eignet eine kategorial andere Form des Zeitverständnisses als der ›Wie-Spannung‹, denn es sei zu berücksichtigen, daß allein die Frage des ›Ob überhaupt‹ die zeiteigentümliche Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft ermöglicht, während die des ›Wie‹ sich in vollkommen gleicher Weise auf Zukunft wie (noch unbekannte) Vergangenheit richten kann.348
Mittels der Wiederholung wird die zeitliche Differenz zwischen Elementen aufgehoben.349 Jene von Lugowski beschriebene Dominanz des Liebesmotives ist || 343 Alle Zitate Schmid (Anm. 165), S. 25, H. i. O. 344 Lugowski (Anm. 54), S. 69. 345 Lugowski (Anm. 54), S. 48 f. 346 Lugowski (Anm. 54), S. 68, H. i. O. 347 Lugowski (Anm. 54), S. 48, H. i. O. 348 Lugowski (Anm. 54), S. 43. 349 Ähnlich argumentiert Jan-Dirk Müller, der zeigt, wie in der Rabenschlacht u. a. mit Hilfe der Wiederholung die »Grenze zwischen Gegenwart des Erzählens und Vergangenheit des Erzählten kollabiert« (Jan-Dirk Müller: »Heroische Erinnerung – Heroische Präsenz. Die Klage um
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charakteristisch für eine Vielzahl von Erzähltexten zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Im Folgenden geht es mir jedoch nicht um diese Wiederholungen, sondern um äquivalente Wiederholungsfiguren, die sich in numerischen Strukturen realisieren und so einen Erzähltext kompositorisch bestimmen. Als anschauliches Beispiel fungiert der spätmittelalterliche Erzähltext Die sieben weisen Meister. Die numerischen Äquivalenzen führen aber nicht zwangsläufig zu einer Suspension zeitlicher Verhältnisse zwischen Motiven, wie dies Schmid und Lugowski mit je anderen Begriffen andeuten, vielmehr dienen sie als strukturierender Rahmen für das erzählerische Material der Geschichte, sodass eine hochgradig geschlossene erzählte Welt präsentiert wird. Die formalen Äquivalenzen der Sieben weisen Meister, wie sie sich zum Beispiel in der Rede- und Gegenredetechnik abzeichnen, bleiben dabei aber ausgeblendet. Beispiellektüre 7: numerische Komposition und temporale Geschlossenheit der »Sieben weisen Meister« Die sieben weisen Meister gehen auf orientalische Quellen zurück und werden ab dem 12. Jahrhundert Teil der europäischen Erzähltradition; die deutschsprachige Überlieferung setzt jedoch nicht vor dem 15. Jahrhundert ein.350 Bestimmt wird die Tradierung vor allem von der 1473 in Augsburg bei J. Bämler erschienenen Prosafassung;351 bis ins 19. Jahrhundert folgen über sechzig Drucke.352 Die sieben weisen Meister gehören in der Frühen Neuzeit »zu einem der meistgelesenen Bücher, das dem Eulenspiegel in der Popularität nichts nachgab«.353 Der Erzähltext ist zyklisch angelegt und verfügt354 – dies ist für den hiesigen Zu|| die Etzelsöhne in der ›Rabenschlacht‹«. In: Kragl/Schneider [Anm. 206], S. 227–242, hier S. 242). 350 Vgl. Udo Gerdes: »Sieben weise Meister«. In: VL, Bd. 8, Sp. 1174–1189, bes. S. 1183; zur Stofftradition und -transformation vgl. Bea Lundt: Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Beispiel der Erzähltradition von den ›Sieben weisen Meistern‹ (12.–15. Jahrhundert). München 2002. Im Folgenden wird der Text zitiert mit der Sigle SWM nach der Ausgabe: Die sieben weisen Meister. Mit einem Nachwort von Günter Schmitz. Hildesheim/New York 1974. 351 Eine wohl ältere Ausgabe von 1470 ist aufgrund von Kriegsverlusten nicht überliefert, vgl. Gotzkowsky (Anm. 16), S. 280 f. 352 Vgl. zu den Drucken des 15., 16. und 17. Jahrhunderts Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 277– 306; Bd. 2, S. 81–86. 353 Günter Schmitz: »Nachwort«. In: Die sieben weisen Meister. Mit einem Nachwort von Günter Schmitz. Hildesheim/New York 1974, S. 129–146, hier S. 138, vgl. zudem S. 140. 354 Vgl. Walter Haug: »Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom ›Pañcatantra‹ zum ›Dekameron‹«. In: Ders./Burghart Wachinger (Hrsg.): Exempel und Exempelsammlungen. Tübingen 1991, S. 264–287; Sabine Obermaier: »Die zyklische Rahmenerzählung orientalischer Provenienz als Medium der Reflexion didaktischen Erzählens im deutschsprachigen Spätmit-
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sammenhang von Interesse – über eine ausgeprägte numerisch-temporale Komposition. Das Augenmerk liegt im Folgenden nicht auf den eingebetteten exemplarischen Geschichten, sondern auf der Rahmenkonstruktion. In den Sieben weisen Meistern determiniert ein numerisches Prinzip gleich mehrere Aspekte:355 das Figureninventar und die makro- wie mikrostrukturelle Handlungsführung samt ihrer temporalen Dimension. Diese Aspekte werden bestimmt von der titelgebenden Sieben. Eine grobe Skizze des Plots und ein punktueller Abgleich mit Hans’ von Bühel Versversion Dyocletianus Leben (1412) macht dies überaus deutlich.356 Kaiser Pontianus heiratet eine Königstochter und sie gebiert ihm einen Sohn, den sie Diocletian nennen. Als dieser sieben Jahre alt ist, erkrankt die Mutter und stirbt schließlich. Doch vor ihrem Tod erbittet sie, dass der Sohn in der Ferne aufgezogen wird, damit eine Stiefmutter keine Gewalt über ihn habe. Der Kaiser bespricht sich mit seinen Räten, die ihm empfehlen: herr es seind zG rom s9bē gar weiser me9ster die alle dise welt an weißheit v] kunst übertreffen / der selbē einen s=llent ir eẅren sun enpfelchē das er in ziech vnd ler: / auch in allē weltlichen dingen vndterwe9ß (SWM 2).
Der Kaiser lässt die Weisen umgehend kommen und äußert den Wunsch, seinen Sohn bei einem von ihnen ausbilden zu lassen. Der erste will den Kaisersohn sieben Jahre lang unterrichten, der zweite sechs Jahre, der dritte fünf, der vierte vier, der fünfte drei, der sechste zwei und der siebte schließlich ein Jahr lang (vgl. SWM 3 f).357 Der Kaiser entscheidet sich nicht für einen von ihnen, sondern für alle sieben. Er gibt ihnen seinen Sohn mit. Sie errichten ihm einen speziellen Wohnraum, in dem er die sieben freien Künste immer vor Augen hat: vnd also dingten s9 maurer vnd machtē ein steinnine kamer vnd stalten dem kind sein pettstat mitten dar ein / vnd schriben die s9ben freyen künst allenthalben in der kamer] an die maur also / das der iungling zG allen zeitten mocht lesen sein lere lauter vnd klar ab den wenden der kamer als an einem bGch (SWM 5)
Nachdem die sieben Jahre der Erziehung vergangen sind, wird Diocletians Wissen auf die Probe gestellt. In der Zwischenzeit hat der Kaiser auf Wunsch seiner
|| telalter«. In: Regula Forster/Romy Günthart (Hrsg.): Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 189–205. 355 Zur symbolischen Dimension vgl. Lundt (Anm. 350), S. 51–53. 356 Hans von Bühel: Dyocletianus Leben. Hrsg. von Adelbert Keller. Quedlinburg/Leipzig 1841. Der Nachweis erfolgt immer mit Angabe des Verses und der Sigle DL. 357 Bei Hans von Bühel fehlt diese Motivwiederholung, vgl. DL 191–220.
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Räte erneut geheiratet, da ihm seine neue Frau aber bislang keinen Nachkommen geboren hat, überredet sie ihn, seinen Sohn – bezeichnenderweise sieben Jahre nach seinem Weggang – wieder zurückzuholen.358 Der Kaiser gesteht ihr diesen Wunsch zu: »Es seind 9ecz s9bē iar das ich in n9e gesach du solt deiner pett gewert sein« (SWM 7). Zu Pfingsten (also dem klassischen Festtermin des Artusromans359) soll er sich am Hof einfinden, so lautet der Befehl des Kaisers an die sieben weisen Meister. Diese, als sie den Brief erhalten, befragen die Gestirne, ob es gut sei, den Jüngling zu dem gewünschten Zeitpunkt nach Hause reisen zu lassen. Sie erkennen, dass, sollten sie dem Befehl nachkommen, der Junge sein Leben verlieren würde, und dass, sollten sie den Befehl nicht befolgen, sie mit ihren eigenen Köpfen bezahlen müssten. Sie entscheiden sich, zum Wohle des Kaisersohns zu handeln. Diocletian befragt, nachdem sie ihn über die Situation informiert haben, selbst die Gestirne und kann die Vorhersagen der Weisen präzisieren. Nach dem selben geschawet er [also Diocletian, L. W.] dz gestirn fürbaß / da sach er an einen kleinen ster] / w(re das er s9bē tag on gerett m=cht beleiben so behielt er sein leben / doch so würde er alle tag zG dem galgen auß gefüret darumb das man in hencken solt / aber er wurde mit grosser arbeit erl=ßt von dem tode (SWM 8)
Und dann wendet er sich an die Meister mit folgenden Worten, die die Prophezeiung nochmals genauer bestimmen: Nun seint eẅr s9ben vnd ist eẅr 9eglichem ein gar vast klein küntlich ding das er mich nun einen tag vor dem todt bewar vnd mich mit seinen worten beschirmet wān ich alltag zG den galgē gefüret würd v] an dem achten tag so red ich vnd behalt eüch vnd mir das lebē (SWM 8 f.)
Mit der Prophezeiung erscheint das nachher Geschilderte nicht nur als Element einer übergeordneten Ordnung und die einzelnen Begebenheiten werden nicht allein final motiviert. Die Prophezeiung greift mit ihrer Sieben-Tage-Struktur eine numerische Ordnung auf, die bereits im Vorfeld der Prophezeiung massiv herausgestellt wurde: der Knabe ist sieben Jahre alt, als die Mutter stirbt, sieben weise Meister sollen ihn sieben Jahre lang in den sieben freien Künsten unterrichten; nachdem die sieben Jahre des Kaisersohns bei den Weisen vergangen
|| 358 In der Fassung des Hans von Bühel vergehen zwischen der Probe und der Rückkehr des Kaisersohns nochmals neun Jahre, vgl. DL 296 ff.; Lundt (Anm. 350), S. 354 f.; DL 484–486: »Der keyser sprach sechtzehen iar es sint // Das ich myn vil liebes kint // Nie sit her han gesehen«. 359 Dieser Termin fehlt bei Hans von Bühel.
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sind, soll er zurückkehren; der Prophezeiung entsprechend soll er sieben Tage lang schweigen. Die sich anschließenden Erzählepisoden am Hof des Kaisers, die durch Diocletians Schweigen sowie die von ihm zurückgewiesenen Annäherungsversuche der Stiefmutter ausgelöst werden, folgen dem in der Prophezeiung vorweggenommenen Muster. In der Standardsituation erzählt die Kaiserin ihre Geschichten als erste in der Nacht oder am führen Morgen,360 woraufhin Diocletian zur Hinrichtungsstätte geführt wird, um seine Tötung zu verhindern, erzählt einer der Meister eine Geschichte und erwirkt, dass der Kaisersohn an diesem Tag nicht mehr hingerichtet wird. In der folgenden Nacht, am folgenden Morgen erzählt die Kaiserin erneut ein Exempel, womit ein neuer Handlungszyklus initiiert wird. Da die verflossenen Tage nicht explizit gezählt werden und die Koordination der Erzählungen innerhalb des Tagesrhythmus nicht immer aufgeht,361 ist der siebentägige Rhythmus nicht allzu deutlich ausgeprägt, aber doch präsent. Nachdem der siebenteilige Erzählzyklus abgeschlossen ist, wird der Handlungsrahmen im Rekurs auf die Prophezeiung wieder aufgerufen und geschlossen:
|| 360 Anders in Dyocletianus Leben, dort wird bereits die erste Erzählung der Kaiserin als nächtliche Erzählung ausgewiesen: »Vnd do der tag ein ende genam // Der keyser des nachtes kam // In die kammer zG der fr?wen« (DL 934–936); die Handlung setzt sich dann am Morgen fort (DL 5135 ff.), wenn es beispielsweise heißt: »Der keiser sprach ich wil dir iehen // Fr?we mir sol nit also beschehen // Wenn min svn der mGsz morn sterben // Vnd schentlichen verderben // Vnd do ez aber wart morn«, vgl. auch DL 6387–6392). Nur an wenigen Stellen scheint der Rhythmus von nächtlicher Erzählung der Kaiserin und Tageserzählung des Weisen durch, vgl. SWM 63, SWM 73 und SWM 88; zur Standardsituation vgl. Obermaier (Anm. 354), S. 192. 361 Gleich im Umfeld der ersten Geschichte ist die Chronologie der Ereignisse verzwackt, denn es heißt »vnd als nun die nacht hin was / da gieng der ke9ser in sein kamernn vnnd fand die ke9serin sere betrFbt« (SWM 13), er verspricht ihr gleich zu Beginn, dass Dioletian »morgen […] mit dem rechten« getötet wird (SWM 14). Es folgt das erste Exempel der Kaiserin, woraufhin der Kaiser einlenkt: »du hast mir einē gar gGten ratt geben / dem ich volgen sol / dān mein sun mGß sicher morgen get=tt werden eines schantlichenn todes vnd da es nun morgē ward da saß der ke9ser selbs zG gericht« (SMW 16). Am Anfang scheint es so zu sein, dass der Morgen des Tages bereits begonnen hat, doch die Versprechen des Kaisers deuten darauf hin, dass die Kaiserin ihre Geschichte in der Nacht erzählt. Wie ein Abgleich mit Dyocletianus Leben zeigt, ist »nacht« in SWM ein (Druck-)Fehler, denn dort heißt es stimmig: »Vnd do der tag ein ende genam // Der keyser des nachtes kam // In die kammer zG der fr?wen […] Der keiser antwurt jr also // Morn so wirt er gar vnfro // So mGsz er mit gerichte sterben« (DL 934–936, 952–954). Der Übergang in DL ist nach dem erzählten Exempel der Kaiserin schlüssig: »Du hast mir gGten rat gegeben // Fr?we er mGsz morn verderben // Vnd eins schemlichen todes sterben // Des morgens do der tag kam // Der keiser die richter zG ym nam« (DL 1090–1094).
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DArnach kōment die s9ben me9ster zesamen v] h(ttent ratt in welcher we9ß vnd in welcher stund des ke9sers sun solt an fachen ze reden vnnd an dem achtenden tag da h(tten s9 auch ratt zG des ke9sers sun. Er sprach 9ecz ist es ze9tt das ich rede (SWM 94)362
Der Handlungshöhepunkt ist symbolisch (und numerisch) vorbereitet durch den triumphalen Einzug des Kaisersohns: Die s9bē hochen me9ster nament in v] legtent in an mit purpur v] gieng ď me9ster einer neben im zG der rechten se9tten v] der ander zG ď lingken se9tten / die ander] me9ster die giengent im nach vnd viervndzweinczig h=rhoren mitt mengerle9 subtilen se9ttenspil mitt rotten herpffen vnnd mit ge9gen giengent im vor v] tr9ben vil fr=d. (SWM 95)
Bevor Diocletian die Kaiserin als Ehebrecherin entlarvt und seine Geschichte erzählt, nimmt er explizit Bezug auf die Frist, die er aus den Sternen herausgelesen hat, um sein bisheriges Schweigen zu rechtfertigen: »da sach ich v] mein me9ster an dē gest9rē / wer dz ich in s9bē tagē 9cht redte so wurd ich get=dt eins sch(mlichē vnd schnedē tods v] dz ist vrsach gewesē darHb ich geswigē hab« (SWM 97). Die einzelnen Motive und Handlungselemente in den Sieben weisen Meistern werden also von der Sieben strukturiert: Der zeitliche Rahmen der Handlung geht weniger aus der Dynamik der handlungseigenen Ereignisse hervor als aus einer übergeordneten Struktur, die im Gegensatz zur finalen Motivation nicht allein in der Logik der erzählten Welt begründet ist, sondern über diese hinausweist. Denn die Altersangaben des jungen Diocletian, die Anzahl der Meister sowie die siebenfache Antwort der Meister auf die Fragen des Kaisers stehen in keinem Zusammenhang mit der Prophezeiung, vielmehr ist die Prophezeiung samt den anderen, nach der Sieben strukturierten Elementen Teil des übergeordneten numerischen Prinzips. Die finale Motivation ist in diesem Sinne der kompositorischen untergeordnet. Syntagmatisches und paradigmatisches Erzählen als Kompositionsformen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu Syntagma und Paradigma als motivierenden Kompositionsprinzipien ist Rainer Warnings Typologie des Erzählens. Er unterscheidet ein »dominant sujethaft-syntagmatisches« und ein »dominant sujetlos-paradigmatisches Erzählen«, die je eigene »Zeitsemantiken modellieren können und damit imaginär auf kontextuelle Zeitdiskurse reagieren«.363 Das || 362 Etwas anders, aber eindeutiger in Dyocletianus Leben, wenn es heißt: »Also nach der meister sag // So waz morn der achtest tag // So m=cht er reden waz er wolt // Do mit sie alle wol benügt // Do nu frF der morgen kam // Der knab die meister zG ym nam« (DL 6981–6986). 363 Rainer Warning: »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«. In: Romanistisches Jahrbuch (52) 2001, S. 176–209, hier S. 179.
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›einfache syntagmatische Erzählen‹ ist als Standardfall des Erzählens zu verstehen, bei dem es, wie Warning im Rückgriff auf Jurij M. Lotmans Ereignis-Modell erläutert, auf das transgressive Moment ankommt – unabhängig davon, ob es letztlich erhalten bleibt oder nicht: beispielsweise wie in Johann Beers Ritter Hopffen=Sack (1677), in dem sich die Abenteuerreihe des Helden mit ihren wunderbaren Ereignissen schließlich als Traum herausstellt.364 Ein solches Erzählen trägt zur strukturellen Linearität der Zeit bei.365 Auch Beers kurzer satirischer Roman setzt den zu Beginn aufgemachten zeitlichen Rahmen, bei dem es kurz vor Sonnenuntergang ist, nach dem Erwachen aus dem Traum fort, denn der Held geht »in die Schule / weil man allgemach um 8. Uhr zu den Preces leutete« (HS 34). Einfaches syntagmatisches Erzählen tendiert zu einem offenen Ereignishorizont, wenn die Erzählung nicht durch die Selektionsmechanismen einen symbolhaften Schluss erhält. Von diesem Fall einfachen syntagmatischen Erzählens unterscheiden sich Genrekonventionen. Sie sind im Sinne von Handlungsmodellen in ihrer Grundstruktur ebenso syntagmatisch, da sie aber in der Organisation der Handlung vordefinierter sind als einfache Formen syntagmatischen Erzählens bezeichne ich sie als ›komplexes syntagmatisches Erzählen‹. Der spätantike Liebes- und Abenteuerroman bildet eine solche Form. Der Zeithorizont ist dabei nicht allein sukzessiv aufbauend, sondern eben aufgrund des Handlungsmodells geschlossen (kommt eine finale, denn providenzielle Motivierung hinzu, so überlagern sich finale und kompositorische Motivierungsstrategien). Warnings Postulat, dass »Erzählen also als Schließung einer anfänglichen Offenheit, als Teleologie, als Kontingenzbewältigung« fungiere,366 gilt für das komplexe syntagmatische Erzählen in noch stärkerem Maße als für den Standardfall. Von diesen Formen des Erzählens unterscheidet sich das ›paradigmatische Erzählen‹, das – wie die bereits vorgestellten Äquivalenzen – auf Ähnlichkeits-
|| 364 So wird das Abenteuer des Helden plötzlich abgebrochen: »und wie ich erwachte wars ein lauter Traum und befande / daß ich auf dem Felde unter einem Baum eingeschlaffen hatte / allwo mir diese gantze Begebenheit natural præsentirt worden« (Johann Beer: »Ritter Hopffen= Sack«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1992, Bd. 2, S. 5–34, hier S. 34). Im Folgenden wird die Sigle HS verwendet. 365 Ich folge nicht der Einschätzung Warnings, der behauptet, dass »Lotmans wesentlich räumlich organisiertes Sujetmodell nicht eigentlich Zeit modellieren kann. Daher kennt es Zeit nicht als Gegenstand, sondern lediglich als unthematische Zeit der Sujetentfaltung« (Warning [Anm 363], S. 179). Zugleich gesteht Warning aber ein, dass man die »Teleologie dieser Sujetentfaltung […] geradezu der latenten Komplizität mit einem teleologischen Geschichtsverständnis verdächtigen [könnte]« (Warning [Anm. 363], S. 179). 366 Warning (Anm. 363), S. 176.
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relationen basiert. Diese sind aber »nicht formal vorgegeben […], sondern über Sequenzierungen des Erzählflusses selbst, Segmentierungen also, die Jakobsons metonymische Kontiguität ihrerseits paradigmatisieren«. Im paradigmatischen Erzählen werden »formale Kriterien für Äquivalentsetzungen durch inhaltliche, also auf thematisch-semantischer Ebene operierende ersetzt«.367 Im Gegensatz zum numerischen Prinzip der Äquivalenzen liegt der Schwerpunkt hier auf der Wiederholung narrativer Standardsituationen wie thematischer Handlungseinheiten, die man gleichermaßen in den Schwankromanen des 16. Jahrhunderts (vgl. Beispiellektüre 2) und in den höfisch-historischen Romanen des 17. Jahrhunderts findet. Der temporale Effekt, den Warning aus dem paradigmatischen Erzählen ableitet, ist demjenigen des syntagmatischen Erzählens entgegengesetzt: »Die Paradigmatisierung«, so schreibt er mit Blick auf Flaubert, »hebt also eine Einbindung der Jetztzeit in Vergangenheits- und Zukunftsperspektivierungen auf und sucht mittels einer offenen Struktur Kontingenz als solche vorstellbar zu machen«.368 Das ›paradigmatische Erzählen‹ sieht Warning zwar nicht als »spezifisch modernes Phänomen«, denn er versteht auch den Tristan als paradigmatisch erzählt,369 aber durchaus als eines, das mit den Beschleunigungsprozessen ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt.370 Anhand von Christian Friedrich Hunolds Liebens=WFrdigen Adalie (1702) und anhand des Heliodor’schen Romans sei im Folgenden die Differenz von zwei in unterschiedlicher Weise geschlossenen Zeitstrukturen durch ›paradigmatisches Erzählen‹371 und durch ›komplexes syntagmatisches Erzählen‹ gezeigt.
|| 367 Alle Zitate Warning (Anm. 363), S. 179. 368 Warning (Anm. 363), S. 208. 369 Vgl. Rainer Warning: »Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im ›Tristan‹«. In: Gerhard Neumann/Rainer Warning (Hrsg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i. Br. 2003, S. 175–212; vgl. dazu Schulz (Anm. 206), S. 343–348. 370 Warning (Anm. 363), S. 180. 371 Im Gegensatz zu Warning sehe ich keine eindeutige Verbindung zwischen Formen des paradigmatischen Erzählens und der Ausstellung von Kontingenz. Wie jede andere narrative Form und erzählerische Technik ist paradigmatisches Erzählen polyfunktional. Der mittels narrativer Formen erzielte Effekt ist also variabel. Dafür spricht Caroline Emmelius’ Analyse der syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen im deutschen Lazaril, denn sie kommt zu dem Ergebnis, dass die »paradigmatische Organisation der einzelnen Dienstverhältnisse […] Kontingenz [eindämmt]« (Caroline Emmelius: »Das Ich und seine Geschichte(n). Paradigmatische und syntagmatische Erzählstrukturen in der Novellistik, der mittelalterlichen IchErzählung und im deutschen ›Lazaril von Tormes‹ (1614)«. In: Jan Mohr/Michael Waltenberger [Hrsg.]: Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014, S. 37–69, hier S. 69).
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Beispiellektüre 8: paradigmatische Konstellationen und ihre temporale Wertigkeit in Hunolds »Adalie« Das ›Prinzip von Parallele und Kontrast‹, das sich sowohl in »kompositorischmotivisch[er]« als auch »sprachstilistisch[er]« Hinsicht niederschlägt, ist – wie Adolf Haslinger anhand von Anton Ulrichs Octavia herausstellt – »eines der fundamentalen Grundprinzipien im Bau« des höfisch-historischen Barockromans.372 Die ›politische‹, ›erotische‹, ›menschlich-sittliche‹ und ›religiöse Schicht‹ werden durch diese Kompositionsweise miteinander verschränkt. Dabei spielen durch den Irrtum »falsch verbundene[ ] Liebespaare« eine wichtige Rolle, »die sich von der großen Konzeption bis zum winzigen sprachlichen Detail auswirkt«.373 Diese Verfahren bilden die literarhistorische Folie für Hunolds Liebens=WFrdige Adalie. Hunold greift in seiner 1702 veröffentlichten Adalie,374 die eine freie, den Umfang der Vorlage fast verdoppelnde Bearbeitung von Jean de Préchacs L’Illustre Parisienne (1679) ist, Elemente und Verfahren des höfisch-historischen Romans auf, aber entledigt sie ihrer transzendenten und universalhistorischen Stoßrichtung (samt der finalen Motivation). Denn es wird der ›unerhörte‹ Aufstieg einer Pariser Kaufmannstochter zur Herzogin erzählt und nicht die Verbindung legitimer Herrscherpaare; die stilistischen Anleihen am höfischhistorischen Roman sind punktuell; »[n]ur scheinbar […] bleiben die ethischen Normen des höfisch-historischen Romans bei Hunold in Geltung«,375 es dominieren »gesellschaftliche Übereinkünfte«.376 In der Adalie präsentieren sich schließlich die räumliche Anlage und die Plotführung als »eine Schwundform des Kompositionsprinzips des höfisch-historischen Romans«.377 Die Handlung des Romans wird immer wieder – und darin liegt das variierte paradigmatische Element – neben dem stetigen Sich-Verlieben der Figuren von der ›Verwirrung‹ als einem zentralen Handlungselement vorangetrieben. Die ›Verwirrung‹, die gerade in der Romanpoetik der ersten Hälfte des 18. Jahr-
|| 372 Haslinger (Anm. 281), S. 347, vgl. zudem S. 347–352. 373 Haslinger (Anm. 281), S. 351. 374 Christian Friedrich Hunold: Die liebenswürdige Adalie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1702. Mit einem Nachwort von Herbert Singer. Stuttgart 1967. Im Folgenden erfolgt der Nachweis im Haupttext mit der Sigle A. 375 Vgl. Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln/Graz 1963, S. 10–86, hier S. 33. 376 Singer (Anm. 375), S. 51. 377 Singer (Anm. 375), S. 79.
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hunderts in den Vordergrund rückt,378 realisiert sich als absichtliche ›Täuschung‹ oder zufällige ›Verwechslung‹.379 Zur Veranschaulichung greife ich einige Beispiele aus der Rosantes-Adalie- und der Renard-Barsine-Handlung heraus, die als zwei Paargeschichten parallel geführt werden. Prinz Rosantes – sich als Sohn des Kaufmanns Bosardo ausgebend (vgl. A 8) – verliebt sich in Adalie, der er jedoch seine wahre Identität verschweigt. Aufgrund eines politischen Vorfalls muss er Frankreich jedoch wieder verlassen (der Erzähler schreibt dieses dem »Verh(ngnis« zu, das »seinen Beyfall nicht weiter geben [wolte]«, A 55): Adalie und er werden getrennt und finden erst am Ende des Romans wieder zusammen. Auch das geplante Zusammentreffen von Renard und Barsine, Adalies Schwester, scheitert. Renard wird von Lionard, der sich zwischenzeitlich hoffungslos in Barsine verliebt hat (vgl. A 82 f.), überlistet. In der Begegnung mit Barsine gibt sich Lionard als Renard aus, nach einer kurzen Irritation schöpft Barsine in der Situation aber keinen weiteren Verdacht (vgl. A 87). Renard kann sich nur durch ein geschicktes Täuschungsmanöver mithilfe des Kammerdieners den amourösen Annäherungen Louyses entziehen: Darzu schiene ihm sein Cammer=Diener am geschicktesten zu seyn / welcher die Stelle bey Louysen zu vertreten wenig SchwFrigkeit machen wFrde / und in dieser Absicht vertraute er ihm das brFnstrige Verlangen dieser Damen, mit der Erinnerung / nur seine Person hurtig hierinnen zu spielen / und in Fbrigen alles seiner Vorsorge und Gefahr zu Fberlassen. (A 160)
Rosantes glaubt, als er erfährt, dass »Brions Tochter«, die von »sonderlicher Schönheit« ist, entführt wurde (A 109), es sei Adalie, denn von Adalies Schwester Barsine weiß er nichts. Adalie hingegen glaubt, dass Rosantes nicht mehr am Leben sei, als sie vom »vor einer Stunde geschehenen unverhofften Todes=Fall[ ] [ ] des jungen Bosardens« hört (A 114). Am Alleronischen Hof kommt es gleich zu mehreren Verwirrungen: Der an Adalie gerichtete Liebesbrief des Werdigni fällt Julie in die Hände, die ihn auf sich selbst bezieht (vgl. A 186), und Rosantes glaubt, dass Werdigni in Julie verliebt ist und nicht in Adalie, denn in einer Beobachtungssituation »erblickte dieser Julien gar genau« und war der || 378 Singer führt als weitere Beispiele die Romane August Bohses (Die Verliebten Verwirrungen der Sicilianischen Höfe von 1725) und Johann Gottfried Schnabels (Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier von 1752) an, vgl. Singer (Anm. 375), S. 80. 379 Vgl. Singer (Anm. 375), S. 78; die ›Verstellung‹ im Sinne von simulatio und dissimulatio gehört zu den wichtigsten politischen Sozialtechniken der Frühen Neuzeit, vgl. August Buck: »Die Kunst der Verstellung im Zeitalter des Barock«. In: Festschrift der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wiesbaden 1981, S. 85–103.
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Ansicht, »es sey die von Bellemond« (A 194). Die Liste solcher ›Täuschungen‹ und zufälliger ›Verwechslungen‹ ließe sich noch weiter fortführen. Singer kommt zu der treffenden Einschätzung, dass »[d]as Romangeschehen […] dem Verwirrungsschema [folgt]: jede Einzelepisode erzählt wie der ganze Roman von einer Verwechslung und ihrer Aufklärung, von der Schürzung und Lösung eines Knotens, eines ›plots‹ mit glücklichem Ausgang«.380 Mit der Variation dieser narrativen Einheit sind die Möglichkeiten des in der erzählten Welt Erwartbaren begrenzt. Auf die Verwirrung folgt die Auflösung der Konstellation oder die Enthüllung der Identität. Singer liest dieses vor der Folie des höfisch-historischen Romans und argumentiert im Rekurs auf Clemens Lugowski,381 dass »[s]olche Verwirrungen […] nicht durch die Struktur einer verrätselten Welt bedingt [sind]«, wie sie dem höfisch-historischen Roman zugrunde liegt.382 Daraus leitet er den Bedeutungsgewinn von Zeit ab, denn das »Nacheinander von Verwirrung und Lösung ist nicht eine Explikation der immer vorhandenen Weltstruktur, sondern eine echte, wohlerwogene und deutlich erklärte Abfolge«.383 Singer hat in zweierlei Hinsicht Recht: zunächst im Hinblick auf die temporale Struktur der einzelnen Verwirrungssituationen, denn diese sind nur auf der Basis einer ›linearen‹ Zeit vorstellbar, und sodann hat er Recht im Hinblick auf die Differenz zum höfisch-historischen Roman, denn der Adalie fehlt seine geschichtsphilosophische Geschlossenheit. Es bleibt aber, auch wenn das dahinterstehende Programm nicht aktualisiert wird, das dominierende paradigmatische Erzählen als Variation der ›Verwirrung‹. Die zeitliche Dimension ist damit in der Episode wie im gesamten Plot geschlossen: Der Roman kennt in der Wiederholung der Verwirrungssituation das Neue nicht (auch wenn die Aufstiegsgeschichte als solche ›unerhört‹ ist und Hunold in einzelnen Motiven mit der Tradition des höfisch-historischen Romans überdeutlich bricht), sondern allein die Variation.
|| 380 Singer (Anm. 375), S. 84 f. 381 Singer bezieht sich dabei auf eine von Lugowski anhand des Schelmenromans und des höfisch-historischen Romans aufgemachte Differenz zwischen zwei Typen von Romanen: Es gibt zum einen Romane mit einer »Gegenstandswelt«, in der die Gesamtheit »vorgegeben erscheint«, die narrative Eigenheit ist in diesen Romanen dadurch charakterisiert, die Welt »als sei es eine Rundplastik« aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. So wird der fixe Sinn, der dieser Welt eingeschrieben ist, enträtselt. Zum anderen gibt es Romane, in denen die »Erzählung ihre Welt erst Schritt für Schritt zu erschaffen vorgibt«. (Lugowski [Anm. 314], S. 383 f., H. i. O.). 382 Singer (Anm. 375), S. 80. 383 Singer (Anm. 375), S. 80.
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Beispiellektüre 9: komplexes Syntagma im Heliodor’schen Roman Das wohl wichtigste Muster für den frühneuzeitlichen Roman – von Veit Warbecks Magelone (1527) über den höfisch-historischen Barockroman bis hin zu Christian Friedrich Hunolds Europæischen H=fen (1705) – lieferte der hellenistische Liebes- und Abenteuerroman. Zum Textkorpus des griechischen Liebesromans gehören unter anderem Charitons Kallirhoe (1. Jh.), Achilleus Tatios’ Leukippe und Kleitophon (2. Jh.), Longos’ Daphnis und Chloe (2. Jh.) und Heliodors Aithiopika (3. Jh.).384 In den Aithiopika findet der Typus – wie auch die Poetiken der Frühen Neuzeit von Scaliger bis Huet durchweg beteuern – seinen künstlerischen Höhepunkt. Sie sind insofern für das komplexe syntagmatische Erzählen wichtig, als zu ihrer Poetik eine spezifische Zeitkonzeption gehört und die Aithiopika »zu jenen Schriften des klassischen Altertums« zählen, »die auf die Literaturen des Abendlandes nachhaltigsten Einfluß ausgeübt haben«.385 In Bachtins Lektüre des griechischen abenteuerlichen Prüfungsromans werden die temporalen Eigenheiten des generischen Plotmusters und seine Abgeschlossenheit besonders deutlich. Charakteristisch für diesen Roman ist die ›Abenteuerzeit‹, der eine temporale Besonderheiten zugrunde liegt: »[D]ie erste Begegnung des Helden mit der Heldin und das jähe Aufflammen ihrer gegenseitigen Liebe« steht am Anfang und den »Schlußpunkt« des Romans bildet »ihre glückliche Vermählung«. Die Abenteuerzeit nun ergibt sich aus der Relation zwischen der ›biographischen Zeitreihe‹,386 die von der Begegnung einerseits und der Vermählung andererseits begrenzt wird, und der ›Zeit des Abenteuers‹ zwischen diesen Eckpunkten. Sie »liegt außerhalb der biographischen Zeit; sie vermag weder am Leben der Helden etwas zu verändern noch ihm etwas hinzuzufügen«; dergestalt wird die ›Abenteuerzeit‹ paradoxerweise zu einer »außerzeitlichen Spanne«, oder wie Bachtin alternativ formuliert: zu einer »leere[n] Zeit«.387 Obgleich die gesamte ›Abenteuerzeit‹ für den Helden ›spurenlos‹388 bleibt, zählen »[i]nnerhalb des einzelnen Abenteuers […] Tage, Nächte, Stunden, ja sogar Minuten und Sekunden«,389 denn »[o]b etwas einen
|| 384 In Fragen der Datierung folge ich Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman. Zürich 1962. 385 Vgl. Otto Mazal: »Die Textausgaben der ›Aithiopika‹ Heliodors von Emesa«. In: Gutenberg Jahrbuch XLI (1966), S. 182–191, hier S. 182; vgl. zur Wirkung Weinreich (Anm. 384), S. 56–71; Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur. Berlin 1901 (Reprint: Nendeln 1977). 386 Bachtin (Anm. 239), S. 12 f. 387 Bachtin (Anm. 239), S. 13 f. 388 Vgl. Bachtin (Anm. 239), S. 18, S. 29, S. 31 und S. 35. 389 Bachtin (Anm. 239), S. 15.
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Tag, eine Stunde, ja sogar eine Minute früher oder später geschieht, ist hier allenthalben von entscheidender, schicksalhafter Bedeutung«.390 Die Zeit der einzelnen Abenteuer fügt sich jedoch nicht zu einem Ganzen, sondern bleibt immer ›isoliert‹, ›singulär‹ und ›vereinzelt‹ und damit ›umkehrbar‹ und ›austauschbar‹. Dominiert wird, so Bachtin, die ›Abenteuerzeit‹ vom Prinzip der Kontingenz, »[s]etzt sich doch diese ganze Zeit […] aus zufälligen Gleichzeitigkeiten und zufälligen Ungleichzeitigkeiten zusammen«.391 Der ›Held‹ wird dadurch zu einer passiven Figur, mit der ›etwas geschieht‹,392 die selbst aber nie die Initiative ergreifen kann. Die Bedeutung des Zufalls schlägt sich in der Frequenz von Wendungen wie »plötzlich«, »gerade«, »zufällig« oder »Es fügte sich« nieder, die Ausdruck der »reinen Zufälligkeit« sind, denen der Held ausgesetzt ist.393 Bachtins Konzept der ›Abenteuerzeit‹ beschreibt also, überträgt man es in eine analytisch differenzierte Perspektive, das Zusammenspiel zwischen Ereignissen, Figuren und Zeit sowie die Kopplung dieses Zusammenspiels an eine Semantik der Kontingenz, hinter der aber (teils) eine übergeordnete providenzielle Weltordnung steht. Dieses Verhältnis umreißt das generische Muster der Aithiopika als eine Form des komplexen Syntagmas. Einfluss und Rezeption der ›Aithiopika‹. Der Einfluss des spätantiken Romans im Allgemeinen sowie des Heliodor’schen Romans im Besonderen auf den deutschsprachigen Roman der Frühen Neuzeit erfolgt aus unterschiedlichen Richtungen. Seine Wirkung lässt sich nicht auf den höfisch-historischen Roman beschränken, wenngleich sie dort freilich ihren Höhepunkt erreicht. Vermittelt wurde der spätantike Roman über die Historia Apollonii, die sich im Mittelalter besonderer Popularität erfreute und die einer Reihe von mittelalterlichen Erzähltexten als strukturgebendes Beispiel diente. Ab dem 16. Jahrhundert setzte die direkte Heliodor-Rezeption durch zunächst griechische und lateinische Ausgaben ein, früh folgten dann aber auch Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen. So erschien bereits 1559 Johannes Zschorns deutschsprachige Fassung. Darüber hinaus wirkte das Muster über Übersetzungen fremdsprachiger Romane, denen die Aithiopika oder andere spätantike Romane als Prätext zugrunde lagen. Vor allem im 17. Jahrhundert führen diese Übersetzungen zur Verbreitung des Strukturmodells.
|| 390 Bachtin (Anm. 239), S. 17, H. i. O. 391 Bachtin (Anm. 239), S. 18. 392 Vgl. Bachtin (Anm. 239), S. 18. 393 Bachtin (Anm. 239), S. 15 f., H. i.O.
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Die Historia Apollonii aus dem 3. Jahrhundert ist ein »Exponent des sog. spätantiken Liebes- und Abenteuerromans und teilt dessen typische Konstituenten«,394 sie gehörte »in der europäischen Literatur von der Spätantike bis weit über die Renaissance hinaus zu den populärsten Erzählstoffen und übte auf die lateinische wie die volkssprachliche Literaturtradition prägenden Einfluss aus«.395 Die ca. 150 überlieferten lateinischen Handschriften und die volkssprachlichen Adaptionen bezeugen die Verbreitung der Historia Apollonii.396 Mit der Historia, den Pseudoclementinischen Recognitionen und der Eustachiuslegende, die »eigenständige Nachfahren des spätantiken Liebes- und Abenteuerromans« sind, »verfügte die volkssprachliche Erzählliteratur des Mittelalters bereits über eine nicht geringe Zahl von Dichtungen, die dem antiken Roman direkt oder indirekt verpflichtet waren«.397 Zu diesen Erzähltexten gehört die Faustinian-Erzählung aus der Kaiserchronik (um 1150), der Orendel (um 1190) und der Tristanroman. Strukturell schlägt sich der Einfluss der Historia Apollonii in der »typische[n] serielle[n] Anordnung von Abenteuern« sowie im »Schema von Trennung, Prüfung und Wiedervereinigung eines Paares« nieder.398 Im 13. Jahrhundert verliert mit dem Durchbruch des Artus-Romans die Historia ihren »Modellcharakter« für die deutschsprachige Erzählliteratur. Heinrichs von Neustadt Apollonius-Roman (um 1300) ist eine freie Aneignung des Stoffes. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts steigt erneut das Interesse am Apollonius-Stoff merklich an: Es entstehen der sog. ›Breslauer Apollonius‹ (1465), der ›Leipziger Apollonius‹ (um 1465) sowie Heinrich Steinhöwels Apollonius (1460; Druck 1471). Bereits im 15. Jahrhundert wird Steinhöwels Version mehrfach in Augsburg und Ulm gedruckt,399 bis ins ausgehende 17. Jahrhundert bleibt sie auf dem Buchmarkt präsent.400 Die klassischen Texte des griechischen Liebes- und
|| 394 Tomas Tomasek: »Über den Einfluß des Apolloniusromans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts«. In: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Leipzig/Stuttgart 1997, S. 221–237, hier S. 222. 395 Terrahe (Anm. 674), S. 63. 396 Vgl. Ulrike Junk: Transformationen der Textstruktur. ›Historia Apollonii‹ und ›Apollonius von Tyrland‹. Trier 2003, S. 1; zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verbreitung des Apollonius-Romans vgl. Elizabeth Archibald: Apollonius of Tyre. Medieval and Renaissance Themes and Variations. Cambridge 1991. 397 Tomasek (Anm. 394), S. 223. 398 Tomasek (Anm. 394), S. 237. 399 Vgl. Terrahe (Anm. 674), S. 111–146. 400 Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 184–191; Bd. 2, S. 64–67.
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Abenteuerromans sind dem Mittelalter, wohl aufgrund der Sprachbarriere zum Griechischen, unbekannt.401 Jenseits dieser westeuropäischen Tradierung spätantiker Romanmuster gibt es auch Einflüsse aus Byzanz, wo die antike Kultur und auch Literatur bis um 1600 lebendig geblieben ist.402 So wird der wohl im 12. Jahrhundert entstandene Roman Hysmine und Hysminias des Eustathios Makrembolites, den man lange für einen authentischen antiken Text hielt,403 im 16. Jahrhundert unter dem Titel Ismenius gleich drei Mal gedruckt und findet auch Eingang in barocke Poetiken.404 Der Roman ist »offensichtlich im Anschluß an den ›Leukippe und Kleitophon‹-Roman des Achilleus Tatios« gestaltet und folgt »den typischen Erzählmustern des hellenistischen Romans«,405 doch seine Besonderheit liegt im Einsatz eines autodiegetischen Erzählers ohne Rahmenerzählung. Am Beginn der direkten frühneuzeitlichen Heliodor-Rezeption steht die Geschichte eines Soldaten, der den Codex aus der Bibliothek des Matthias Corvinus beim Überfall der Türken auf Budapest vor dem Feuer gesichert haben will – dies jedenfalls berichtet Vincentius Obsopoeus in seiner Vorrede zur editio princeps von 1534 bei Johannes Herwagen.406 Mit der Erstausgabe beginnt
|| 401 Vgl. Alfred Ebenbauer: »Antike Stoffe«. In: Volker Mertens/Ulrich Müller (Hrsg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984, S. 247–289, bes. S. 282. 402 Zur Kontinuität der antiken Kultur in Byzanz vgl. Peter Schreiner: »Ewige Antike oder immerwährende Renaissance? Formen von Verständnis und Akzeptanz der Antike in Byzanz«. In: Ludger Grenzmann u. a. (Hrsg.): Die Präsenz der Antike im Übergang von Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002. Göttingen 2004, S. 389–412. 403 So heißt es in der Vorrede des italienischen Übersetzers, die der 1573 erschienenen deutschen Ausgabe beigegeben ist: »Disser Eustachius Philosophus / welcher ein alter Griechischer Tichter gewesen / ist nach der meinung etlicher Scribenten bald nach der Troianischen zerstörung in flor gestanden« (Eustachius: ISMENIVS Oder / Ein vorbild Stäter Liebe. Das ist Die History von der stäten liebe deß Jünglings Jsmenij v] der Jungfrawen Jsmene […]. Straßburg 1573, n. p.). 404 Vgl. Sylvia Brockstieger: »›Aemulatio‹ und Intermedialität. Kunsttheoretische und poetologische (Selbst-)Reflexionen im Prosaroman ›Ismenius‹ (1573)«. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin/Boston 2011, S. 169– 190. 405 Werner Röcke: »Antike Poesie und ›newe Zeit‹. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit«. In: Joachim Heinzle (Hrsg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Stuttgart/Weimar 1993, S. 337–354, hier S. 338. 406 Vgl. Florian Gelzer: »Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens«. In: Maximilian Bergengruen/Dieter Martin (Hrsg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen 2008, S. 119–139, bes. S. 121.
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der »Siegeszug« des Romans.407 Es folgen weitere Auflagen sowie Übersetzungen ins Lateinische, die teils als Grundlage für volkssprachliche Versionen dienen, die wiederum in andere Volkssprachen übertragen werden. Jacques Amyot greift für seine wirkmächtige französische Übersetzung von 1547 auf die von Obsopoeus besorgte Basler Ausgabe zurück. Johannes Zschorn hingegen übersetzt die lateinische Fassung von Stanisław Warszewicki (1552) ins Deutsche (1559) und Thomas Underdown überträgt sie ins Englische (1587). Zschorns Übersetzung bestimmt bis ins 17. Jahrhundert hinein die deutschsprachige Rezeption Heliodors;408 sie geht in anonymisierter Form in Sigmund Feyerabends Buch der Liebe (1587) und die Volksbuchtradition ein. Volker Meids Einschätzung, dass diese Übersetzung »ohne Wirkung« geblieben war,409 ist angesichts der Breite der Rezeption fragwürdig. Im Vergleich mit anderen antiken Texten setzt die produktive Rezeption der griechischen Liebes- und Abenteuerromane relativ spät ein (der Apollonius bildet hier eine Ausnahme).410 Bekannt waren in der Frühen Neuzeit vor allem Heliodor, Achilleus Tatios und Longos (und fälschlicherweise auch Eustathios Makrembolites),411 wie Sigmund von Birken anerkennend herausstellt: Bei den Griechen / sind berFmt: des Eustachius / Ismene; des Achilles Tatius / Leucippe; des Sophisten Longus / Daphnis; und unter den Christgläubigen / des Heliodorus Bischofs zu Trica in Thessalien / Chariclia412
|| 407 So unter anderem Gerhard Penzkofer: »L’art du mensonge«. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1988, S. 107. 408 Eine Auflistung der Ausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts liefert Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 233–236; Bd. 2, S. 73–75. 409 Volker Meid. Der deutsche Barockroman. Stuttgart 1974, S. 13. 410 In den bibliographischen Verzeichnissen von Lawrence S. Thompson und Franz Josef Worstbrock werden die einschlägigen Autoren nicht aufgeführt, vgl. Lawrence S. Thompson: »German Translations of the Classics between 1450 and 1550«. In: The Journal of English and Germanic Philology 42 (1943), S. 343–363; Franz Josef Worstbrock: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. 1450–1550. Mit einer Bibliographie der Übersetzer. Boppard am Rhein 1976. Auch im Personenregister der Bibliographie von Dünnhaupt zur Barockliteratur fehlen Heliodor, Longos und Achilleus Tatios. 411 Eine Übersicht der griechischen, lateinischen und volkssprachlichen Ausgaben von Heliodor, Achilleus Tatios, Longos und Eustathios Makrembolites gibt Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zu Theorie und Technik des barocken Romans. Göttingen: Univ. Diss., 1955, S. 157–162. 412 Sigmund von Birken: »Vor-Ansprach zum Edlen Leser«. In: Anton Ulrich: Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena. Der erste Teil. Faksimiledruck der Ausgabe von 1669. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Blake Lee Spahr. Bern u. a. 1975, S. )( iiir–[)( )(iijv], hier S.
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Am Anfang der Rezeption dieser Erzähltexte stehen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Aithiopika. 1615 erscheint David Wolstandts Lustgarten der Liebe als Übersetzung von Longos’ Daphnis und Chloe.413 Achilleus Tatios’ Roman Leukippe und Kleitophon wird erst 1631 in einer deutschsprachigen Übersetzung im Rahmen der vierbändigen Sammlung Theatrum Amoris (1626–1631) publiziert;414 die Übersetzung des Romans ist aber bereits ihrerseits vom Heliodor’schen Modell beeinflusst.415 1670 folgt eine zweite anonyme Übertragung, die sich als direkte Übersetzung aus dem Griechischen ausgibt (und nicht wie die Übersetzung von 1631 eine Übersetzung aus dem Französischen ist).416 Charitons Kallirhoe blieb in der Frühen Neuzeit unbekannt, da der Roman – im Gegensatz zu seinen Gattungsgenossen – nur in einer einzigen Handschrift aus dem 13. oder 14. Jahrhundert überliefert ist. Diese war Grundlage der erst 1750 in Amsterdam gedruckten editio princeps.417 Vermittelt wird das Heliodor’sche Romanmodell in den deutschsprachigen Raum drittens durch eine Reihe von Übersetzungen, deren Vorlagen sich direkt
|| )(iiiiv. Birken folgt an dieser Stelle zudem der zeitgenössischen Vorstellung, dass Heliodor Bischof gewesen ist. 413 Der Titel lautet: Lustgarten der Liebe Von steter brennender Lieb und Löffely zweyer libhabenden jungen Personen / Daphnidis und Chloe / zu Mitylenen [sic!] / auch mancherley unglücklicher Hinderung und Zufäll / so in solcher biß zu endlicher vollkommener Besitzung deren Frucht / inen zugestanden […]. In vier Büchern von Longo Sophist. erstmals in Griechischer Sprach beschrieben: Nunmehr zu Ergetzlichkeit auß derselben in die Hochteutsche ubersetzt / durch David Wolstandt. Frankfurt 1615. Zitiert nach VD 16/17 (VD17 23:287448B). 414 Die Sammlung besteht aus Übersetzungen aus dem Französischen, die ihrerseits teils Übersetzungen antiker Romane sind. Vorlage des ersten Bandes ist Pierre de Caseneuves La Caritée (1621), der zweite Band bietet eine Übersetzung von Antoine du Périers Les Amours de Lozie (1599) und der dritte Abraham Rémys Les Amours d’Endymion et de la Lune (1624), vgl. Sebastian Möckels ›Repetitorien‹ zu den entsprechenden Titeln auf der Seite der Herzog August Bibliothek und der Universität Kassel: http://www.theatra.de. Die Vorbildfunktion von Heliodor reicht, wie Volker Meid zeigt, gar über den griechischen Liebes- und Abenteuerroman hinaus, denn auch Daniel Symonis’ deutsche Übersetzung von Vergils Aeneis orientiert sich am Heliodor’schen Modell, vgl. Volker Meid: »Vergils ›Aeneis‹ als Barockroman«. In: Wolfdietrich Rasch/Hans Geulen/Klaus Haberkamm (Hrsg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Bern/München 1972, S. 159–168. 415 Vgl. Sebastian Möckel: »Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der Frühen Neuzeit«. In: Hartmut Böhme/Christof Rapp u. Wolfgang Rösler (Hrsg.): Übersetzung und Transformation. Berlin/New York 2007, S. 137–155. 416 Achilles Tatius: Historie der Liebe des Clytophons und der keuschen Leucippe. Aus dem Griechischen. Frankfurt 1670. Diese Ausgabe gilt als verschollen. 417 Vgl. Karl Plepelits: »Einleitung«. In: Chariton von Aphrodisias: Kallirhoe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Karl Plepelits. Stuttgart 1976, S. 1–32, bes. S. 21.
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oder indirekt auf Heliodor berufen. In die Tradition einer vermittelten HeliodorRezeption gehört Martin Opitz’ Argenis-Übersetzung von 1626, folgt doch John Barclays neulateinischer Roman von 1621 mit seinem Einstieg medias in res, der zentralen Stellung des Liebespaares, das immer wieder Gefahren ausgesetzt ist, am Ende aber glücklich vereint wird, der für den spätantiken Roman charakteristischen Plotstruktur.418 Noch wichtiger für seine Vermittlung sind die Impulse aus Frankreich,419 wo »[g]emessen an der Zahl der Editionen […] der Schwerpunkt der frühen Heliodorrezeption« liegt und wo es »von etwa 1620 an zu einer kontinuierlichen produktiven Rezeption [kommt], die ca. 40 Jahre anhält und in ihrem poetologischen Umfeld auch zu theoretischer Auseinandersetzung mit dem antiken Modell führt«.420 Mit der Übersetzung französischer Romane »kommen die Tugenden des Heliodorschen Romans der deutschen Literatur zugute«.421 In diesen Zusammenhang gehören unter anderem Philipp von Zesens Übersetzungen von François du Soucy de Gerzans L’Histoire afriquaine de Cléomède et de Sophonisbe (1627 f.) und von Madeleine de Scudérys Ibrahim, ou l’illustre Bassa (1641). Gerzans Roman ist »geradezu […] ein Schulbeispiel des reformierten hellenistischen Romans« und mit »Scudéry ist der Höhepunkt in der Entwicklung eines neuen Romans auf der Basis der hellenistischen Vorbilder erreicht«.422 Der Einfluss des Heliodor’schen Romans ist unbestritten, auch wenn er teils direkt und teils über ältere Erzähltexte, primäre oder sekundäre Übersetzungen von antiken oder frühneuzeitlichen Romanen wirkt. Was das Romanmodell auszeichnet ist zweierlei: zum einen seine erzählerische Anlage (als Aspekt des discours) und zum anderen seine charakteristische Handlungsführung (als ein Aspekt der histoire). Der discours-Aspekt war für die poetologischen Diskussionen der Frühen Neuzeit um das generische Differenzierungspotenzial des ordo entscheidend. Geht es aber um die Spezifik der im Heliodor’schen Romanmodell enthaltenen Zeitkonzeption, dann interessiert vor allem das Handlungsschema als Zusammenspiel von Ereignis- und Figurenkonstellation. Mit seinen einzel-
|| 418 Vgl. Susanne Siegl-Mocavini: John Barclays »Argenis« und ihr staatstheoretischer Kontext. Untersuchungen zum politischen Denken der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999, S. 14 f. 419 Vgl. Gerald N. Sandy: »Classical Forerunners of the Theory and Practice of Prose Romance in France. Studies in the Narrative Form of Minor French Romances of the Sixteenth and Seventeenth Centuries«. In: Antike und Abendland 28 (1982), S. 169–191. 420 Günter Berger: »Legitimation und Modell. Die ›Aithiopika‹ als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans«. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189, hier S. 178 und S. 185. 421 Meid (Anm. 409), S. 13. 422 Gelzer (Anm. 406), S. 127 und S. 131; vgl. Lindhorst (Anm. 411).
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nen Stationen ist das Syntagma relativ stark vordefiniert, mit seiner Teleologie ist es zudem als Konzept geschlossen. Freilich handelt es sich bei den frühneuzeitlichen Anlehnungen an das Heliodor’sche Modell nicht um identische Umsetzungen eines statischen Schemas; vielmehr variieren die Romane der Frühen Neuzeit dieses Modell und setzen je eigene Akzente, wie ein Blick auf die Unterschiede zwischen der Magelone und der Asiatischen Banise zeigt (Kap. 6 und Kap. 10). Ich fasse zusammen: Im Zusammenhang mit Selektion und Motivation als erzählerischen Verfahren lag das Augenmerk auf dem entworfenen temporalen ›Horizont‹ der erzählten Welt. Dieser Horizont, der sich als ›offener‹ oder ›geschlossener‹ Möglichkeitsraum verstehen lässt, wird durch die verschiedenen erzählerischen Strategien modelliert. Im Fall eines geschlossenen Horizonts korrelieren Handlungs- und Erzählabschluss wie in Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel, das Erzählte wird final oder kompositorisch motiviert – man denke an Grimmelshausens Keuschen Joseph oder die Sieben weisen Meister – oder die erzählte Handlung folgt einer variierenden Poetik, wie sie das paradigmatische Erzählen in Hunolds Adalie impliziert, oder sie ist komplex syntagmatisch wie im Heliodor’schen Roman. Bei einem offenen Horizont hingegen erscheint das Erzählte als Ausschnitt einer fortführbaren Geschichte, die nicht in einem symbolisch-sinnhaften Schluss endet, sondern wie in Ulenharts Historia abgebrochen wird. Das Erzählte ist vornehmlich kausal motiviert wie in Hunolds Satyrischem Roman und die tragenden Handlungselemente stellen keine Variationen eines begrenzten Sets von basalen Standardsituationen dar. Der Variation des geschlossenen Horizonts steht die Diversifikation des offenen gegenüber.
4.1.4 Perspektive: Skalierung von Subjektivität Durch die drei skizzierten Verfahren ›Verbalisierung‹, ›Komposition‹ und ›Auswahl‹ wird – so kann das bislang Ausgeführte zusammengefasst werden – in Wolf Schmids idealgenetischem Modell das ›Geschehen‹ in eine ›Geschichte‹, die ›Geschichte‹ in die ›Erzählung‹ und die ›Erzählung‹ in die ›Präsentation der Erzählung‹ überführt. Mit dieser Transformation geht, wie bereits ausgeführt wurde, eine spezifische Perspektivierung einher. Schmid differenziert insgesamt fünf ›Parameter der Perspektive‹: 1) die ›räumliche Perspektive‹, die die Wahrnehmung des Geschehens aus einer spezifischen Position meint, 2) die ›ideologische Perspektive‹, die durch das »Wissen«, die »Denkweise« und »Wertungshaltung« sowie »den geistigen Horizont« des Wahrnehmenden bestimmt
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ist, 3) die ›zeitliche Perspektive‹, die sich durch den »Abstand zwischen dem ursprünglichen Erfassen und späteren Erfassens- und Darstellungsakten« ergibt,423 4) die ›sprachliche Perspektive‹, die sich in der Auswahl von »Lexik«, »Syntax« und »Sprachfunktion« niederschlägt, und 5) die ›perzeptive Perspektive‹, der die Fragen zugrunde liegen »›Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt?‹« und »›Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Momente des Geschehens für die Geschichte verantwortlich?‹«.424 Alle fünf Perspektiven kommen Schmid zufolge im Prozess der ›Auswahl‹ zum Tragen, die ›Komposition‹ wiederum bestimmt die ›ideologische Perspektive‹, die ›zeitliche Perspektive‹ und die ›räumliche Perspektive‹. Die ›Verbalisierung‹ hingegen trägt zur ›sprachlichen‹ und ›ideologischen Perspektive‹ bei. Sofern diese Parameter der Perspektive für die bereits diskutierten temporalen Effekte relevant waren, wurden sie thematisiert. Das eigentliche Augenmerk lag aber auf der Modellierung von Zeit durch die erzählerischen Grundoperationen entlang der Parameter: ›Qualität‹, ›Struktur‹, ›Kohärenz‹, ›Konsistenz‹, ›Dimensionalität‹ und ›Subjektivität‹. Als letzter erzählerischer Aspekt rückt nun die ›Perspektive‹ in den Fokus. Quer zu Schmids fünfgliedrigen Differenzierung liegt seine Unterscheidung von ›narratorialer‹ und ›figuraler Perspektive‹. In Ersterer erzählt der Erzähler von seinem Standpunkt aus, in Letzerer wird das Geschehen »aus der Perspektive einer oder mehrerer der erzählten Figuren« präsentiert.425 Eine dritte, gleichsam objektive Position (die Genettes ›externer Fokalisierung‹ vergleichbar wäre) lässt Schmid nicht gelten. Wie Schmid konstatiert, kommt beiden Perspektiven eine grundlegende Bedeutung für den Erzähltext zu, denn »[v]or der figuralen Perspektivierung und der narratorialen Sinngebung gibt es überhaupt keine Geschichte«.426 Je nachdem, ob der Erzähler ›nichtdiegetisch‹ oder ›diegetisch‹ ist, ergeben sich für Schmid aus der Kombination dieser Frage mit der Unterscheidung von ›narratorial‹ und ›figural‹ vier Typen: 1) der nichtdiegetische Erzähler, der aus narratorialer Perspektive berichtet, 2) der diegetische Erzähler, der aus narratorialer Perspektive erzählt, 3) der nichtdiegetische Erzähler, der eine figurale Perspektive nutzt, und 4) der diegetische Erzähler, der ebenso auf die figurale Perspektive zurückgreift.427
|| 423 Schmid (Anm. 165), S. 132 f. 424 Schmid (Anm. 165), S. 136. 425 Schmid (Anm. 165), S. 137. 426 Schmid (Anm. 165), S. 262, H. i. O. 427 Vgl. die Graphik bei Schmid (Anm. 165), S. 139.
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Entscheidend für meinen Zusammenhang ist der erzähllogische Unterschied zwischen diegetischem und nichtdiegetischem Erzählertypus sowie figuraler und narratorialer Perspektive im Hinblick auf die Gestaltung von Zeit. Der Status der mittels dieser Erzähltypen evozierten erzählten Welt ist nämlich ungleich, wie ich im Anschluss an Lubomír Doležel zeigen will.428 Aufgrund seiner distanzierten raumzeitlichen Perspektive entwirft der nichtdiegetische Erzähler bei narratorialer Perspektive (in Doležels Begriffen: ›unsubjektivierte Erform‹429) eine erzähllogisch übergeordnete Welt: »Motifs introduced in the speech act of the anonymous Er-form narrator are eo ipso authentic«; die Behauptungen eines solchen Erzählers sind »narrative facts«.430 Die Sachverhalte, die von einem diegetischen Erzähler mit figuraler Perspektive behauptet werden, besitzen aber einen anderen Status. Eine so evozierte Welt ist laut Doležel nicht »authentic«, sie ist nur »relatively authentic«. Eine auf diese Weise erzählerisch hervorgebrachte Welt ist keine »world of absolute narrative facts«, sie ist eine »authentic belief-world of the Ich-narrator«.431 Ein diegetischer Erzähler mit figuraler Perspektive hat – auf erzähllogischer Ebene – im Standardfall keine privilegierte Stellung.432 Die Folgen für die erzählte Welt lassen sich folgendermaßen umschreiben: Skaliert wird durch die Differenz zwischen einer ›Welt der narrativen Fakten‹ und einer ›vom Ich projizierten Welt‹ der potenzielle Subjektivitätsgrad der erzählten Welt und damit auch der erzählten Zeit. In der figuralen Perspektive bleibt die Wahrnehmung der Zeit auf die subjektive Perspektive der Figuren beschränkt, der Erzähler hingegen verfügt über einen Überblick. Zeit erweist sich somit als Dimension, die – aus narratorialer Perspektive – einerseits als äußerliche Dimension der erzählten Welt und andererseits – aus figuraler Perspektive – als innere Dimension einer Figur (d. h. ihrer Wahrnehmung) begriffen werden muss. Im Gegensatz zum bislang Gesagten, das sich den ableitbaren ›Zeitbegriffen‹ widmete, die unabhängig vom Standort der Wahrnehmungs- und
|| 428 Vgl. hierzu meinen Aufsatz Werner (Anm. 468), in dem ich die Bedeutung des autodiegetischen Erzählers für die Gestaltung von Zeit noch ausführlicher durchgespielt habe. Ideen und Passagen aus diesem Aufsatz sind in meine Studie und dieses Kapitel eingegangen. 429 Lubomír Doležels »subjectivized Er-form« ist eine Form der internen Fokalisierung, denn »sentences of the subjectivized Er-form introduce narrative motifs coupled with attitudes, beliefs, assumptions, etc. of narrative agents« (Lubomír Doležel: »Truth and Authenticity in Narrative«. In: Poetics Today 1 [1980], H. 3, S. 7–25, hier S. 16). 430 Doležel (Anm. 429), S. 12, H. i. O. 431 Alle Zitate Doležel (Anm. 429), S. 17. 432 Vgl. zu solchen privilegierten Formen der Figurenrede Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 101 f.
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Erzählinstanz behandelt wurden, geht es nun um die narratorial oder figural bedingte ›Zeitwahrnehmung‹, also um die Bedeutung des erzählerischen und figuralen Standorts für die Gestaltung von Zeit. Die Kategorie, entlang der diese Eigenheiten beschrieben werden sollen, ist die ›Subjektivität‹, die hier weniger in einem emphatisch modernen Sinne verstanden werden soll, sondern im Sinne eines Wahrnehmungsstandpunktes und der impliziten Standpunktabhängigkeit (vgl. Kap. 4.2.2 zu einer ›diegetischen‹ Form der Subjektivität). Die beiden Lektüren lenken den Blick auf zwei recht verschiedene, aber im frühneuzeitlichen Roman verbreitete Phänomene. Zum einen auf die Absenz einer subjektiven Zeitwahrnehmung in Ich-Erzählungen und zum anderen auf den typisierten Einsatz von subjektiver Zeitwahrnehmung im Zusammenhang mit Liebesaffekten. Beispiellektüre 10: das Ich und seine Zeit in Beers »Verliebtem Oesterreicher« Wie die Erklärung in der »Vorrede des Italianischen Translatoris« zum Ismenius, die der deutschen Ausgabe von 1573 vorangestellt ist, deutlich macht, ist die Stellung des diegetischen Ich-Erzählers, der die eigene Geschichte berichtet, im 16. Jahrhundert erläuterungsbedürftig. Der Übersetzer des Romans schlägt deshalb den Bogen zwischen der »History« und den »Comedispielen«: Damit man aber diß werck recht verstehe / vnd ď Leser ein grüntlichē bericht dari] finden müge / ist zů mercken / dz disse eingebildete geschicht ein Comische dichtung ist / wie man die in den Comedispielen einzuführen pfleget / v] würd als durch ein Dialogum außgesprochen. Dan Jsmenius selber / von welchem diß buch beschriben / sein lebē von Jugent auff seiner gutē freund eim / den er Caridimum (als wolte er sagen Carissimum das ist / Geliebtest ne]e) terzehlet. (IS , Vorrde, n. p.)
Die Erzählung des Ich wird vom Vorredenautor als ein langer Monolog gedeutet, der an einen Freund gerichtet ist. Insgesamt scheint die Ausgestaltung der IchErzählung in der Frühen Neuzeit eine Herausforderung zu sein: Die Spannung zwischen einem ›erlebenden Ich‹ (figurale Perspektive) und einem ›erzählenden Ich‹ (narratoriale Perspektive), die beide innerhalb der Fiktionsgrenzen angesiedelt sind, gehört denn auch, wie Sonja Glauch gezeigt hat, zu den Errungenschaften des Schelmenromans.433 Ausgestattet ist der diegetische Ich-Erzähler in der Regel mit einem Erinnerungsvermögen, das die anthropologischen Grenzen des Möglichen überschreitet. Das Subjektivitätspotenzial, das diese Erzählform || 433 Vgl. Sonja Glauch: »Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte«. In: Haferland/Meyer (Anm. 201), S. 149–185.
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mit sich bringt, wird in der Regel nicht aktualisiert. Die Beteuerung zu Beginn des Ruchlosen Studenten, dass der Ich-Erzähler über die ersten Lebensjahre keine Auskunft geben kann, gehört zu singulären Phänomenen.434 In Johann Beers Verliebtem Oesterreicher wird in einer Episode explizit die Unmöglichkeit thematisiert, ein perfektes Gedächtnis zu besitzen; das Scheitern des Helden Sylvius, diese Fähigkeit zu erlangen, kontrastiert aber mit der ausführlichen Präsentation seiner Lebenserzählung. Denn als Ich-Erzähler verfügt er über jene von Franz K. Stanzel als ›perfect memory‹ bezeichnete Begabung.435 Nach einer Reihe von Wechselfällen des Schicksals, die sowohl an die Abenteuerreihen des antiken Liebes- und Abenteuerromans sowie des Schelmenromans erinnern, zieht sich Sylvius als Einsiedler zurück und verbringt einen Großteil seiner Zeit mit der Lektüre von Büchern. Sein Interesse wird insbesondere von der Geschichte um ein Schloss geweckt, in dessen Nähe ein besondere Kräfte verleihendes Loch liegt. Von diesem wird berichtet, dass derjenige, der die Macht hatte in dasselbe Loch zu kommen / und von einem daselbst enthaltenen Brunnen zu trincken / der k=nte nimmermehr etwas vergessen / sondern seine memori wFrde durch das Wasser dergestalten gest(rcket / daß es weder zubeschreiben / noch auszusprechen w(re (OE 225 f., H. i. O.).
Dieser Bericht veranlasst Sylvius, seine Einsiedelei zu verlassen und sich auf die Suche zu begeben. Der Aufbruch des Protagonisten setzt nochmals die durch sein Einsiedlertum zum Stillstand gekommene Handlung des Romans in Gang und lässt Sylvius auf seinen Antagonisten Pardophir treffen. Pardophir, der Sylvius nicht erkennt, lässt Sylvius’ Wunsch platzen, das Loch samt Brunnen zu finden und von seiner Wirkkraft zu profitieren, denn, wie er ihm gegenüber beteuert, »der Brunn ist vor zwey Jahren verfallen / und die Abentheur hat aufgeh=rt / bist also betrogen und umsonst gegangen« (OE 230). Sylvius’ Abenteuer scheitert und damit freilich auch die Möglichkeit, seine Gedächtnisfähigkeit ins Unermessliche zu steigern. Dem Scheitern dieses Versuchs steht jedoch Sylvius’ Lebenserzählung gegenüber, die sich gerade durch ein fast unbeschränktes Gedächtnis auszeichnet. Die retrospektiv erzählende diegetische Figur, die Zeichen des Alters trägt,
|| 434 Vgl. RS 7; zu den erzählerischen Transformationen dieses Textes vgl. den instruktiven Aufsatz von Maren Lickhardt: »Schwankhaftes und Biographisches im ›Ruchlosen Studenten‹ (anonym, 1681). Zum Um- und Abbau von pikareskem Syntagma und Figur im späten 17. Jahrhundert«. In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit 45 (2017), H. 1–2, S. 277–303. 435 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 82008, S. 275.
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erinnert sich an so manches Detail, an jedes gesprochene Wort sowie an die Zeitpunkte von und Zeitspannen zwischen Ereignissen. Die zeitliche Differenz zwischen Erleben und Erzählen wird so im Hinblick auf die Vorgänge der erzählten Welt nivelliert, bestehen bleibt sie aber in der Bewertung der Handlungen, die aus der Retrospektive in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt werden. Sie betrifft, formuliert man es aus erzähltheoretischer Perspektive, die Differenz zwischen ›theoretischen‹ und ›mimetischen Sätzen‹: Die zeitliche Distanz schlägt sich allein in der Reflexion und nicht in der Darstellung der Handlung nieder.436 Sylvius’ Angaben über Zeitverhältnisse sind genau: Von seiner Kindheit weiß Sylvius zu berichten, dass er als ein Kind »von vier Jahren / in einem verlassenen Schifflein heulen und weinend gefunden« (OE 30); zwischen dem Auffinden des Kindes und der Haupthandlung liegen ca. vierzehn Jahre (vgl. OE 77437); während Sylvius, dessen wahre Identität zunächst unbekannt ist und erst im Laufe des Romans enthüllt wird, bei der Frau von Lützelburg aufwächst, wird er von Zigeunern entführt, »unter welchem Volck [er, L. W.] das aller elendeste Leben biß in das dritte Jahr gefFhret« (OE 31). Nachdem seine wahre Identität entdeckt wird und eine Verbindung mit der Gräfin von Sorona vorerst unmöglich scheint, zieht sich Sylvius als Einsiedler zurück und lebt so »Fber Jahr und Tag« (OE 224). Die temporale Zuverlässigkeit des Erzählers Sylvius geht, im Hinblick auf das, was eine Figur wissen kann, über seine menschlichen Fähigkeiten hinaus. Sylvius schlichtet einen Streit zwischen zwei adeligen Fräulein, und weiter heißt es: Sie gaben sich endlich auf meinen vorgeschlagenen Vergleich zu frieden und lagen still. Aber nach einer halben Stunde erhebte sich wider ein grosses klopffen und stossen / welches mich aus dem Schlaff erweckte (OE 155).
Die genaue Bestimmung der Zeitdauer im Schlaf, versteht man sie wörtlich, sprengt die Möglichkeiten einer figuralen diegetischen Perspektive. Die erzählerische Ordnung der Erzählung kennt keine subjektive Wahrnehmung von Zeit,
|| 436 Zu zum Verhältnis von ›theoretischen‹ und ›mimetischen Sätzen‹ vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 102 f. 437 Die Errechnung der Alters wird zu einem wichtigen Argument bei der Bestimmung von Sylvius’ wahrer Identität, denn Frantz von Oken, der sich als Sylvius von Schwartzenburg ausgibt, ist zu alt, um der wahre Sylvius zu sein (Vgl. OE 133 f.).
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diese ist allein der erlebenden Figur vorbehalten. So berichtet der Einsiedler im Gespräch mit Sylvius Folgendes über seine Erfahrung:438 Jhr thut wol / sprach der Clausner / ich wohne auf disem Berg […] in das eilffte Jahr / aber die Zeit ist wegen der Lust / die ich in geistlichen Sachen gefunden / so geschwind als der gestrige Tage verschwunden. (OE 208)
Wie diese Überlegungen zeigen, scheint es keine erzählerische Verzerrung von Zeit durch eine subjektive narratoriale Perspektive zu geben; allein in der erlebenden Perspektive der Figuren kann Zeit als kurz oder lang wahrgenommen werden. Das Fingieren des Erlebens von Zeit scheint ihrer erzählerischen Aneignung historisch vorangestellt zu sein. Dies korrespondiert mit den Ergebnissen Sonja Glauchs, die zu dem Schluss kommt, dass es in der westlichen Erzähltradition erst wesentlich später gelingt, ein fingiertes erzählendes Ich hervorzubringen als ein erlebendes.439 Oder für diesen Zusammenhang formuliert: Es ist einfacher eine erlebte Verzerrung von Zeit – also Formen ihrer Wahrnehmung – zu gestalten, als eine Verzerrung der zeitlichen Dimension in die erzählerische Retrospektive einzubauen. Dass die Formen der Zeitwahrnehmung in der Regel zudem an spezifische Situationen gebunden sind, zeigt die Lektüre der JFngst=erbaweten Sch(fferey. Beispiellektüre 11: gedehnte Zeit der Liebenden in der »JFngst=erbaweten Sch(fferey« Die 1632 in Leipzig gedruckte JFngst=erbawete Sch(fferey, die die Tradition des deutschsprachigen Schäferromans in seiner Sonderform begründet,440 ist wohl der Autorschaft George Christoph von Gregersdorf zuzuschreiben.441 Den geographischen Bezugspunkt bilden das schlesische Schloss Brieg und sein Umland. Zu den involvierten Personen zählen die Tochter des schlesischen Herzogs || 438 Sylvius greift den Aspekt des Zeitempfindens und der fehlenden Gesellschaft auf, als er selbst als Einsiedler lebt: »Manchem wird die Zeit lang / wann Er wider seine Gewohnheit eine Stunde l(nger als sonsten zu Hauß sitzen solle / aber ich muste nicht allein eine Stund / sondern den gantzen Tag hindurch alleine in der WildnFß wohnen / und durch die gantze Nacht dazu in grosser Furcht wegen der wilden Thier stehen. Meine gr=ste Zeit=VerkFrtzung war Lesen / schreiben und die umligende Landschaft auf das Papier zeichnen« (OE 211). Vgl. auch OE 224 f. 439 Vgl. Glauch (Anm. 433), S. 173. 440 Vgl. Marieluise Bauer: Studien zum deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Diss. München 1979. 441 Zur Verfasserfrage vgl. Ulrich Seelbach: »Logau, Gruttschreiber, Gregersdorf. Zum Verfasser der ›Jüngsterbaweten Schäfferey‹«. In: Daphnis 18 (1989), S. 113–124.
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Sibylle Margarete, auf die sich die Figur der Amœna bezieht, und Hans Adam von Gruttschreiber und Czopkendorf aus Michelau, der hinter der Figur Amandus stehen soll.442 Die »historische Beschreibung zweyer Liebhabenden« (AA 11) erschöpft sich jedoch nicht in ihrer Referenzialisierbarkeit auf reale Personen und Orte, sondern versteht sich auch in der Tradition der »anmutigen Gedichte[ ]« eines Vergil oder Philip Sidney (AA 9) und der Opitz’schen Reformen (vgl. AA 11). Der Blick sei im Folgenden auf eine in der Frühen Neuzeit konventionalisierte Form der inneren Zeitwahrnehmung gerichtet, wie sie für eine figurale Perspektive charakteristisch ist. In der JFngst=erbaweten Sch(fferey ist die Zeitwahrnehmung der Figuren an zwei entgegengesetzten Polen orientiert, die mit typischen Situationen korrelieren. Die Zeitverkürzung gehört zur unterhaltsamen gesellschaftlichen Interaktion, wie sie auch Teil der frühneuzeitlichen Vorstellung der Romanrezeption ist. Die Dehnung der Zeit im Erleben des Einzelnen hingegen ist mit Liebesaffekten verbunden, wie ein Blick auf die genaue zeitliche Planung der Treffen zwischen Amœna und Amandus und die Wahrnehmung der Fristen durch die Figuren zeigt. Amœna schlägt bei einem Treffen mit Amandus vor: »Damit vns aber […] die Zeit nicht zu lange werde / so wollen wir / schöner Schäffer / die Verdrießligkeit der langen Zeit zu vertreiben / eines vmb die Wette singen / vnd vns mit einem Liedlein erlüstigen« (AA 56). Durch Kunst und Gesellschaft wird die ›lange Zeit‹ überwunden. Auf ihren subjektiv empfundenen, zeitverkürzenden Charakter wird im Roman in einer Reihe von Situationen hingewiesen.443 Das Empfinden einer subjektiven Zeitdehnung hingegen sticht im Kontext des Romans heraus. Nachdem Amandus Amœna seine Gegenliebe versichert und, wie Amœna in ihrem Brief vorgeschlagen hat, ein Treffen der beiden Liebenden für den nächsten Tag um acht Uhr geplant ist, erfolgt eine fast prototypische und sinntragende Inszenierung von Amœnas Zeitwahrnehmung, wie in einem längeren Textpassus deutlich wird, der zunächst aus figuraler und sodann aus narratorialer Perspektive erzählt wird:
|| 442 Vgl. Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. München 2009, bes. S. 692–694, Ulrich Seelbach hingegen plädiert implizit für Hans Adams Bruder Karl Christian von Gruttschreiber auf Michelau (1611–1641), vgl. Seelbach (Anm. 441), S. 123 f. 443 So heißt es beispielsweise in einem anderen Zusammenhang über eine Wegstrecke: »Sie kürtzeten jhnen den fast weiten Spatzierweg / vnd die Zeit / mit allerhand kurtzweiligen Schertzreden« (AA 22; vgl. zudem AA 31).
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Die Zeit / biß zu jhres Liebsten morgenden Ankunfft / dauchte sie / ob es gleich kaum noch 14. Stunden war / wol ein Jahr zu seyn / ja sie rechnete alle Viertelstunden an den Fingern / biß zu der Zeit / da der Zeiger bald morgendes Tages die achte Stunde vermelden würde / vnd es kame jhr das abseyn jhres Schäffers so vnerträglich für / daß sie wol mit jener Damen / welche newlich einem Cavalier diese Reyme zugesprochen / hette sagen mögen: Wenn ich gleich einen Tag bey euch gewesen bin / So dünckt mich doch / es sey kaum eine Stunde hin / Hingegen dünckt mich auch ein Viertelstündelein / Jn dem ich von euch bin / ein gantzes Jahr zu seyn. Mit solchen vnd dergleichen Liebes-Gedancken brachten nu diese zwey liebhabende Personen den Tag vnd die folgende Nacht hinweg. (AA 39, H. i. O.)
Variiert wird die Verzerrung der Zeitwahrnehmung durch die Figuren mittels des Blicks in ihr Inneres sowie – ein wichtiges Verfahren des Schäferromans, wie man es auch in extenso in Johann Thomas’ Damon und Lisille findet – durch den lyrischen Einschub, der das Thema aufgreift. Zugleich wird die Zeitwahrnehmung damit nicht als Primärerfahrung der Figuren präsentiert, vielmehr wird sie bezogen auf eine analoge Fremderfahrung, die in die lyrische Passage eingeschrieben ist. Diese subjektiv verzerrte Zeitwahrnehmung kontrastiert mit der genauen Zeitregie des ersten Romanteils, der die letztlich scheiternde Liebesbeziehung zwischen Amandus und Amœna umfasst; der zweite Teil des Romans – die Auseinandersetzung Amandus’ mit Philippus ist nicht narrativ im eigentlichen Sinne, sondern setzt sich diskursiv mit der Liebe auseinander. Die erzählten Ereignisse und die Treffen zwischen den beiden Liebenden sind im ersten Romanteil genau terminiert. Dabei erweist sich Amœna als bestimmend, denn sie schlägt acht Uhr als Zeitpunkt vor. Die Hofmeisterin drängt sie an dem Tag, an dem Amœna und Amandus einander treffen sollen, zur Eile, »de] es were nu bald nahe 7. Vhr« (AA 39). Und der Zeitplan geht schließlich auch auf: »Der Zeiger brachte numehr die achte Stunde / vnd die ernennete Stunde den Schäffer« (AA 39). Die Liebenden bleiben bis zum Mittagsmahl zusammen und verabreden sich anschließend für drei Uhr (vgl. AA 48, AA 50); darauf verbringen sie die Zeit bis zum Einbruch der Nacht gemeinsam. Die folgende Verabredung, die erneut von Amœna terminiert wird, ist auf den nächsten Tag um zwei Uhr angesetzt (AA 63), doch platzt das Treffen, da Amœnas Vater unerwartet wiederkehrt. Diese stereotype Korrelation von Zeitverkürzung mit Unterhaltendem und Zeitdehnung mit Liebe verbindet die JFngst=erbaweten Sch(fferey mit Veit Warbecks Sch=ner Magelona (1527, vgl. Kap. 6) ebenso wie mit Lohensteins Arminius und Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausens Asiatischer Banise. Vor der
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Hochzeit von Herrmann und Thußnelda wird im Arminius im Erleben der Figuren die Zeit durch Verlangen gedehnt. Denn die Zeit »machet bey erlangtem GenFß einen Tag zum Augenblicke; und ihr ungedultiges Verlangen eine Nacht zum Jahre«:444 Diese letztere WFrckung verursachte: daß das wenige Fbrige der FinsternFs / welches doch noch darzu guten theils der Schlaff verkFrtzt hatte; dem großmFthigen Feldherrn Herrma] und der verliebten Thußnelden fFrkam; Als wenn die GegenfFßler das Rad und den Lauff der Sonnen gehemmet h(tte. (AR I, 1173)
Auch in der Asiatischen Banise zieht sich die Zeit für die in Prinz Balacin verliebte Lorangy in die Länge: »Jedwede Minute dauchte ihn ein Monat zu seyn / und alle Augenblicke sahe sie durchs Fenster / wenn die Nacht / als eine SchutzG=ttin der Verliebten / anbrechen wFrde« (AB 204). Die Ausprägung der Subjektivität fällt also in der narratorialen und figuralen Perspektive verschieden aus: Während für die erzählerische Retrospektive der autodiegetischen Erzählung, die allein durch die Erzählform ein inhärentes Subjektivitätspotenzial mitbringt, keine subjektive Verzerrung der Zeitwahrnehmung attestiert werden kann, ist diese in der figuralen Perspektive der erlebenden Figuren zwar gegeben, aber an die Darstellung des Liebesaffekts und stereotyper Situationen gebunden und in diesen Zusammenhängen funktionalisiert. Jene sich hier abzeichnenden Tendenzen bestätigt auch der Blick auf Schnabels Insel Felsenburg (Kap. 11).
4.1.5 Erzählte Zeiten I: die erzählerische Dimension Die erzählerischen Dimensionen der Relationalität von Zeit lassen sich, so mein Vorschlag, entlang von sieben Kategorien beschreiben. Die binär organisierte Typologie gibt, dies sei erläuternd hinzugefügt, immer die äußeren beiden Pole einer Kategorie an. Damit soll keine Beschränkung auf Dichotomien festgeschrieben werden, denn es sind graduelle Abstufungen vorstellbar, zudem können je nach Handlungssegment die Kategorien unterschiedlich ausgeprägt sein (solche Abweichungen habe ich mit Blick auf den Dil Ulenspiegel versucht deutlich zu machen). – ›Qualität‹: Je nachdem, ob Zeit indirekt, d. h. über Ereignisfolgen, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen oder außerfiktionale Referenzen auf Histo-
|| 444 Zitiert mit der Sigle AR nach folgender Ausgabe: Daniel Casper von Lohenstein: Grossmüthiger Feldherr Arminius. Mit einer Einführung von Elida Maria Szarota. 2 Bde. Hildesheim/ New York 1973.
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risches, oder unmittelbar durch genaue kalendarische Daten evoziert wird, hat sie eine vornehmlich ›konkrete‹ oder dominant ›abstrakte‹ Qualität. ›Struktur‹: Auf der Mikroebene sind die Differenzen zwischen punktuellen Ereignissen und der Evokation von temporalen Kontinuitäten interessant. Gründen die erzählten Ereignisse in größeren narrativen Zusammenhängen auf einem stetigen Nacheinander, ist die Struktur ›linear‹. Sind regelmäßige Wiederholungsstrukturen charakteristisch, dann ist die Zeit ›zyklisch‹. Ordnungsstrukturen können aber auch ›unzeitlich‹ sein (dann spielen temporale Relationen keine Rolle). ›Dimension‹: Die Dimensionalität von Zeit kann ›einwertig‹ oder ›mehrwertig‹ sein. Im ersten Fall zeichnet sich Zeit durch ein bloßes Nacheinander von Handlungssegmenten aus, im zweiten Fall können Ereignisse, Episoden und ganze Handlungsstränge parallel verlaufen. ›Kohärenz‹: Die Kohärenz der zeitlichen Dimension beschreibt ihre Kontinuität. Werden die zeitlichen Relationen zwischen Ereignissen expliziert und spezifiziert, sodass eine geschlossene Chronologie entsteht, erscheint die zeitliche Dimension in besonderem Maße ›kohärent‹. Sind die zeitlichen Relationen undefiniert oder unterspezifiziert, dann wird die Kontinuität der zeitlichen Dimension unterbrochen, sodass sie ›inkohärent‹ ist. ›Konsistenz‹: Die zeitliche Dimension ist dann ›konsistent‹, wenn es keine Widersprüche in der evozierten Zeit gibt; als ›inkonsistent‹ erweist sie sich, wenn die Angaben sich nicht widerspruchsfrei zusammenbringen lassen (Lücken in der Chronologie der erzählten Welt betreffen die Kohärenz und nicht die Konsistenz). ›Horizont‹: Der Geschlossenheit oder Offenheit der zeitlichen Dimension gilt die Frage nach dem Horizont. Im Fall eines ›geschlossenen‹ Horizonts korrelieren Handlungsabschluss und Erzählabschluss, das Erzählte wird final oder kompositorisch motiviert oder die erzählte Handlung folgt einer variierenden Poetik, die das ›Neue‹ nicht kennt. Bei einem ›offenen‹ Horizont hingegen erscheint das Erzählte als Ausschnitt einer potenziell fortführbaren Geschichte, die nicht in einem symbolisch-sinnhaften Schluss endet; die Handlungselemente sind keine Variationen eines begrenzten Sets von basalen Standardsituationen. ›Subjektivität‹: Durch die Perspektivierung eines Erzähltextes, d. h. durch den Erzählertypus sowie die Darstellung der erzählten Welt aus unterschiedlichen Wahrnehmungsstandpunkten, wird der Subjektivitätsgrad der erzählten Zeit modelliert. In einem grundsätzlichen Sinne ist jede Figurenperspektive – sei sie im engeren Sinne ›figural‹ oder auch ›narratorial‹ (wie beim ›erzählenden Ich‹) – subjektiv, gesteigert wird der Subjektivitätsgrad
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vor allem da, wo diese Perspektive zu einer figurenbedingten Verzerrung der Wahrnehmung von Zeit führt. Eine erzählerische Verzerrung von Zeit scheint keine Rolle zu spielen, allein die raumzeitliche Distanz zwischen Erleben und Erzählen ist präsent. Als ›objektiv‹ hingegen gilt die Dominanz einer narratorialen Perspektive, die in ihrer Perspektivierung nicht anthropologischen Restriktionen unterworfen ist und deren Aussagen erzähllogisch verbindlicher für die erzählte Welt sind als Aussagen von Figuren.
4.2 Zeit und erzählte Welt: die diegetische Dimension Ein einfaches Satzgefüge lässt die grundlegenden Dimensionen erzählter Welten hervortreten. Lazarillo, der erzählende Held des gleichnamigen spanischen Schelmenromans, der bereits in der zweiten Dekade des 17. Jahrhunderts zwei Mal ins Deutsche übertragen wurde, berichtet im sechsten Kapitel seiner Lebensgeschichte Folgendes:445 Wie ich nun zur selben zeitt ein ziemlicher starcker junge war, da gieng ich einmahl in die domkirchen, da ersiehet mich ein Capellan, vnd nimpt mich in seinen dienst: derselbe Rbergab mir einen Esel, vier thänerne krüge vndt eine peitzschen, da fieng ich an wasser in der Stadt zuvorkauffen (LT 92).446
Die Sätze modellieren in anschaulicher Weise die erzählte Welt durch genuin narrative Aussagen. Benannt werden der Zustand der Figur und ihre zielgerichtete Bewegung durch den Raum, es folgt die Begegnung mit einer weiteren Figur, die den Protagonisten mit Hilfsmitteln ausstattet, welche es ihm erlauben, eine (neue) Tätigkeit aufzunehmen. Die temporale Sukzession des Geschehens ist durch das wiederholte vage ›da‹ angedeutet.447 Die Orte – Domkirche und Stadt – sind, wenngleich nicht weiter spezifiziert, so doch benannt. Zwischen dem Ausgangszustand und dem Endzustand in der Szene besteht für die Figur Lazarillo ein signifikanter Unterschied. Wie der sich anschließende Kommentar des Erzählers zu verstehen gibt, bildet diese Ereignisfolge nämlich den Auftakt zu einem ›besseren Leben‹: »Dieses war nun die erste staffel zu meinem guten glück vndt besserem leben« (LT 92).448 Das Grundinventar der entworfenen Welt bilden also die Figuren, die angedeutete räumliche und zeitliche Dimension (Kirche/Stadt; ›wie‹/›da‹) sowie die || 445 Zur Rezeption vgl. Alberto Martino: »Die Rezeption des ›Lazarillo de Tormes‹ im deutschen Sprachraum (1555/62–1750)«. In: Daphnis 26 (1997), S. 301–399. 446 Hier zitiert nach der ersten Übersetzung ins Deutsche, die in einer Handschrift überliefert ist: Leben vnd Wandel Lazaril von Tormes: Vnd beschreibung, Waß derselbe fur vnglück vnd widerwertigkeit außgestanden hat. Verdeutzscht 1614. Nach der Handschrift herausgegeben und mit Nachwort, Bibliographie und Glossar versehen von Hermann Tiemann. Hamburg 1951. Der Nachweis erfolgt im Haupttext mit der Sigle LT. 447 Das zweite ›da‹ (»da ersiehet mich ein Capellan«) bietet die Möglichkeit eines räumlichen oder zeitlichen Verständnisses. 448 Das erreichte Glück wird in der deutschen Übersetzung aber insofern relativiert, als der Text von dem in der Plantinschen Ausgabe hinzugefügten tudescos-Kapitel abgeschlossen wird, vgl. Martino (Anm. 445), S. 314.
DOI 10.1515/9783110566857-006
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Ereignisse, die zu einer Zustandsveränderung führen und so die narrative Dynamik des Erzählten ausmachen. Raum und Zeit sind die Grunddimensionen der erzählten Welt, durch die sich die Figuren bewegen und die den Rahmen für Ereignisse bilden. Ereignisse als Zustandsveränderungen – seien sie nun im Sinne von ›Handlungen‹ durch eine Figur bedingt oder im Sinne von ›Geschehnissen‹ nicht – dynamisieren diese Welt. Es geht mir im Folgenden nicht darum, jeden dieser Parameter in seiner ganzen Komplexität darzustellen, sondern erstens darum zu zeigen, inwiefern es sich bei diesen Grundkonstituenten der erzählten Welt um relationale Größen handelt, die – ebenso wie die erzählerische Vermittlung der erzählten Welt – an der Formung von Zeit maßgeblich beteiligt sind (Kap. 4.2.1–3), sowie zweitens darum, die aus diesem Zusammenspiel hervorgehenden Eigenheiten von Zeit sowie ihre Pluralität terminologisch – als Fortführung und Erweiterung der bereits vorgeschlagenen Kategorien – zu erfassen (Kap. 4.2.4).
4.2.1 Ereignis: Zeitindex, Spur und Ereigniskumulation Dort, wo ›Ereignisse‹ stattfinden, materialisiert sich Zeit in der erzählten Welt. Dabei macht es aus systematischer Perspektive keinen Unterschied, ob man von einem basalen Ereignis-Begriff ausgeht oder von einem emphatischen. Wie Peter Hühn vorschlägt, hat man zu differenzieren zwischen »event I, a general type of event that has no special requirements, and event II, a type of event that satisfies certain additional conditions«.449 Der erste Ereignis-Typ »is expressed by the difference of predicates« und bildet damit die Grundlage jeder Erzählung; dem zweiten Typ liegt dieses basale Verständnis zugrunde, doch wird ihm eine besondere Bedeutung zugesprochen, die über diejenige des ersten Typs hinausgeht. Ein Ereignis des zweiten Typs »acquires relevance only with reference to intradiegetic expectations and to a particular literary or cultural context«450 und »is accredited – in an interpretive, context-dependent decision – with certain features such as relevance, unexpectedness, and unusualness«.451 Auch wenn sich die beiden Konzepte in einem qualitativen Sinne unterschei-
|| 449 Peter Hühn: »Event and Eventfulness«. In: Ders. u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg 2013 (http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/event-and-eventfulness), paragraph 1, H. i. O. 450 Hühn (Anm. 449), paragraph 4. 451 Hühn (Anm. 449), paragraph 1.
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den, wird in ihnen das Ereignis strukturanalog als Zustandsveränderung in einer Sequenz gedacht (vgl. Kap. 3.1). Entscheidend für meinen Zusammenhang sind die Implikationen dieser Modelle, denn, wie Hühn ausführt, die ihnen zugrunde liegende Sequenzialität »involves changes of state in the represented world and thus implies temporality«.452 Dies führt Arthur C. Dantos Formel der »Struktur einer erzählenden Erklärung« anschaulich vor (vgl. hierzu auch das Kap. 3.1): Zwischen den Zeitpunkten t1 und t3, an denen x jeweils andere Eigenschaften besitzt (F und G), liegt der Zeitpunkt t2, an dem sich etwas ereignet, das zu einer Zustandsveränderung führt. Dieses Ereignis kann, so Danto, beliebig komplex sein.453 Ereignisse als Zustandsveränderungen enthalten also einen zeitlichen Wert, insofern sie das lineare Vergehen von Zeit von t1 zu t3 voraussetzen. Das eben Dargestellte ist freilich ein einfacher Zusammenhang zwischen Ereignis und Zeit, denn es geht um einen singulären temporalen Effekt, der in Erzähltexten ubiquitär ist. Zustandsveränderungen sind nämlich bereits in denjenigen Verben enthalten, die ›Vorgänge mit einem definierten Ende‹ (accomplishments) oder ›punktuelle Ereignisse‹ bezeichnen (achievements), wie ich dies bereits im Zusammenhang mit der ›Verbalisierung‹ als erzählerischer Grundoperation dargestellt habe (Kap. 4.1.1).454 Zwei weitere Fälle scheinen mir jenseits dieses ›einfachen‹ Zusammenhangs für Zeitfragen in der Frühen Neuzeit relevant zu sein: Zunächst all jene Fälle, in denen Ereignisse einen irreversiblen Effekt für die erzählte Welt (und ihre Bestandteile) haben, also eine materialisierte ›Spur‹ hinterlassen;455 und sodann Ereignis-Konstellationen, in denen es nicht um die temporalen Effekte eines einzelnen Ereignisses geht, sondern um diejenigen von Ereigniskumulationen, die auf die ›mehrwertige Dimensionalität‹ von Zeit hinweisen. Daraus ergeben sich drei Ereignis-Typen, die je eigene temporale Effekte zeitigen: 1) das ›einfache Ereignis‹, das punktuell das Vergehen von Zeit indiziert; 2) das irreversible und materialisierte Ereignis, also die ›Spur‹, die im Hinblick auf einen längeren Zeitraum temporale Kontinuität impliziert; und 3) die ›Ereigniskumulation‹, die nicht wie die ersten beiden Typen zur ›Struktur‹, ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹ von Zeit beiträgt, sondern durch || 452 Hühn (Anm. 449), paragraph 2, m. H. 453 Vgl. Danto (Anm. 164), S. 375 f. 454 vgl. Vendler (Anm. 258), Aumüller (Anm. 258). 455 Auch wenn das Kriterium der ›Irreversibilität‹ von Ereignissen im Rahmen eines ›emphatischen‹ Begriffskonzepts immer wieder funktionalisiert ist (Schmid [Anm. 165], S. 17; Martínez/ Scheffel [Anm. 154], S. 158), geht es Folgenden nicht darum, an den ›emphatischen‹ Begriff anzuschließen, vielmehr liegt das Augenmerk auf der Materialisierung des Ereignisses zur Spur.
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die Simultanität von Ereignissen, Episoden und Handlungssträngen ihre ›Dimensionalität‹ modelliert. Da der erste Ereignis-Typ simpel und historisch ubiquitär ist, sei hier auf eine breitere Diskussion verzichtet. Die Typen zwei und drei hingegen tangieren in der Frühen Neuzeit zeittheoretische Fragen und sind zum Teil mit einschlägigen semantischen Programmen verbunden, deshalb gilt ihnen im Folgenden die Aufmerksamkeit. Die Bedeutung der ›Spur‹ als einem materialisierten Ereignis, das sich z. B. in den Körper der Figuren einschreibt, spielt gerade für Erzähltexte eine Rolle, die in der Tradition des spätantiken Romans stehen, in dem die Helden der permanenten Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt sind (beispielsweise im Apollonius-Roman), und für jene Erzähltexte, die in der Tradition schwankhaften Erzählens stehen, in dem die Körperlichkeit der Figuren herausgestellt wird (vgl. Dil Ulenspiegel). In beiden Traditionslinien ist die Negation der Spur geradezu charakteristisch, denn Gewalt, Folter und Ähnliches gehen an ihren Helden ›spurlos‹ (Bachtin) vorbei. Die Bedeutung der Ereigniskumulation liegt in der kulturhistorischen Verortung von Gleichzeitigkeitsphänomenen und in ihrer Rückbindung an Konzepte wie Kontingenz und Providenz (vgl. Kap. 4.3.2). Das Ereignis, das irreversibel und materiell greifbar ist, ist eine ›Spur‹, die sich gleichermaßen in den Raum der erzählten Welt, in ihre Objekte und ihre Figuren einschreiben kann. Spuren, so Jochen Hörisch, »verweisen auf etwas, was nicht (mehr) da ist«, sie »verräumlichen Zeitlichkeit« und machen sie sichtbar.456 Sie zeugen als indexikalische Zeichen von Vergangenem und sie implizieren einen kausalen Zusammenhang, denn die Spur markiert die Folgen des Ereignisses. Damit zeigen sie eine temporale Kontinuität an, die über den begrenzten Zusammenhang einer Sequenz (wie beim ersten Ereignis-Typ) hinausgeht. Sie sind in diesem Sinne Garanten der ›Struktur‹, ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹ von Zeit und, greift man Dantos prägnante Formel nochmals auf, der Identität von x als dem Träger zweier unterschiedlicher Eigenschaften. Wenn sich ein Ereignis zur Spur verstetigt hat, kann der Träger dieser Spur zu einem späteren Zeitpunkt nur als eben jener erkannt werden, wenn die Spur weiterhin vorhanden ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die lineare ›Struktur‹, die ›Kohärenz‹ und so auch die ›Konsistenz‹ von Zeit immer dann fragwürdig werden, wenn entgegen dem Ursache-Wirkungs-Prinzip tiefgreifende Ereignisse folgenlos bleiben und/oder ihre materialisierten Spuren unmotiviert verschwinden. Ein Blick auf Episoden aus Grimmelshausens Simplicis-
|| 456 Hörisch (Anm. 236), S. 65.
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simus Teutsch (1668) zeigt,457 wie sich Ereignisse nur bedingt zu Spuren verstetigen und Spuren nicht immer dauerhaft von vergangenen Ereignissen zeugen. Wie auch in der Augen-Episode des Wagnerbuches (1593)458 wird die erzählte Zeit damit zu einer heterogenen, denn inkonsistenten Dimension.
|| 457 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. In: Ders.: Simplicissimus Teutsch. Hrsg. v. Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 9–551. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle ST abgekürzt, angegeben werden immer das Buch (II), das Kapitel (27) sowie die Seite (216). 458 Christoph Wagner verliert auf brutale Weise ein Auge im Rahmen seiner Abenteuer in Toledo (»alsbald verdirbt dem Wagner ein Aug im Kopff das das Wasser vber den Tisch sprFtzt«), wie er selbst feststellt: »es ist geschehen / vmb mein Aug vnd vmb sein Kopff« (CW 114r). Der Versuch, mithilfe eines anderen Zauberers dieses wieder herstellen zu lassen, scheitert: »Also blieb es dabey / vnd kundte Wagner des Schadens nicht loß werden« (CW 114v). Doch verweist ihn der Zauberer auf die Magier in Lappland, die über besondere Fähigkeiten verfügen sollen. Wagner reist kurzerhand nach Lappland. Es folgt eine kurze Beschreibung der dortigen Sitten, ohne dass Wagner in die Handlung eingebunden wäre. Abgeschlossen wird die Episode von der einfachen Feststellung: »Christoff Wagner war vngef(hr vier oder fFnff Tag dari]en gebliben / vnd darnach wider gen Toleto gefahren / vnd seinen Gesellen Johannem wider besucht« (CW 117v). Das verlorene Auge wird im Laufe der folgenden Episoden als Motiv fallengelassen, es verschwindet und wird bis zum Ende des Romans nicht wieder thematisiert. Wagners Tod ist vor diesem Hintergrund besonders interessant, da die Anwesenden nach ihrer Ohnmacht nicht viel vom verschwundenen Wagner finden: »Aber in dreyen stunden hernach kamen sie wider zu jhnen selbst / vnd funden nichts in der Stuben / denn nur etliche Beynlein vonn Fingern vnd Fůßz(hen / auch die beyde Augen / neben etlichen kleinen stFcklein Fleisch vnnd Gehirn / so an der Wand gekl(bt« (CW 158v f.). Das Auge war Wagner in der Toledo-Episode herausgespritzt und wurde nie geheilt, umso verwunderlicher ist es, dass Wagner am Ende des Romans beide Augen haben soll. Unabhängig von welchem der beiden Ereignisse – Blendung oder Tod – man diesen Zusammenhang liest, die Behauptungen lassen sich nicht, auch nicht mit Blick auf die möglichen Wunder und Zauberstücke des Romans, in Einklang bringen. Die Blendung als Spur des Ereignisses und damit auch ihr Zeitindex scheinen vor dem Hintergrund der Endszene annulliert worden zu sein. Zitiert nach folgender Ausgabe: Ander theil D. Johann Fausti Historien / darinn beschriben ist Christophori Wageners / Fausti gewesenem Discipels auffgerichter Pack mit dem Teuffel […] Franckfurt u. a. 1593 (Digitalisat, VD 16 F 650, Seitenangaben folgen der handschriftlichen Nummerierung des Digitalisats). Vgl. zum Fallenlassen des Augen-Motivs Martin Ehrenfeuchter: »›Es ward Wagner zu wissen gethan...‹. Wissen und Wissensvermittlung im ›Wagnerbuch‹ von 1593«. In: Ders./Thomas Ehlen (Hrsg.): Als das wissend die meister wol. Beiträge zur Darstellung und Vermittlung von Wissen in Fachliteratur und Dichtung des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Walter Blank zum 65. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2001, S. 347–368, S. 357. Die Szene im Wagnerbuch wird wohl intertextuell überlagert von der Darstellung von Faustus’ Ende, von dem es im Faustbuch heißt: »Es lagen auch seine Augen vnd etliche Z(en allda« (zitiert nach FB [1587], 122 f.).
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Beispiellektüre 12: funktionale ›Spuren‹ in Grimmelshausens »Simplicissimus Teutsch« Zu den wiederkehrenden Motiven im Simplicissimus gehören die Körperlichkeit und Kreatürlichkeit der Figuren in all ihren Facetten.459 Das Spektrum reicht dabei von Sexualität über die Thematisierung von Ausscheidungsprozessen und Krankheiten bis hin zur rohen und exzessiven Gewalt.460 Krankheit und Gewalt schreiben sich als Ereignisse in den Körper der Figuren ein; sie werden zu ›Spuren‹. Sie verursachen, wie Simplicius Olivier gegenüber äußert, sichtbare »Zeichen« (ST IV 22, 426), die in ihrer Indexikalität auf das Vergangene deuten.461 Unter anderem in zwei Situationen wird aber die temporale Indexikalität von Ereignissen im Simplicissimus unterlaufen, da sie entweder folgenlos bleiben bzw. als Spuren verschwinden. Auf dem Hanauer Fest begeht Simplicius als Page Ramsays eine Reihe von Fehltritten, die den Gouverneur – wenn er ihm auch grundsätzlich wohlgesonnen ist – dazu bewegen, Simplicius bestrafen zu lassen. Von den Folgen seines Verhaltens und den »Pastonaden«, die er aufgrund der »Linderung in [seinem] Eingeweid« (ST I 31, 109) erhält, berichtet Simplicius dies: Seine G(st [d. h. diejenigen des Gouverneurs, L. W.] wurden Fber diesem unversehenen Knall fast wieder alle nFchtern / ich aber / weil ich mit aller meiner angewandten MFhe und Arbeit keinen Wind bannen k=nnen / in eine Futterwanne gespannet / und also zerkarb(itscht / daß ich noch biß auff diese Stund daran gedencke. Solches waren die erste Pastonaden die ich kriegte […]. (ST 1 31, 109)
|| 459 Vgl. Detlef Kremer: »Körper und Gewalt im frühneuzeitlichen Roman. ›Lazarillo de Tormes‹, Rabelais’ ›Gargantua‹ und Grimmelshausens ›Simplicissimus Teutsch‹. In: Simpliciana XXVII (2005), S. 65–75; Andreas Merzhäuser: »Über die Schwelle geführt. Anmerkungen zur Gewaltdarstellung in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹. In: Markus Meumann/Dirk Niefanger (Hrsg.): Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 65–82. 460 Vgl. die Beiträge der Tagung »Erotik und Gewalt im Werk Grimmelshausens und im deutschen Barockroman«, abgedruckt in Simpliciana XXXI (2009), S. 19–426. 461 Rüdiger Zymner liest die Gewalt, der Simplicius begegnet und die auf ihn wirkt, als ein »Vehikel der eigentlichen Menschwerdung des ›Simplicissimus‹« (S. 88, H. i. O.), d. h. als einen mentalen Faktor, sodass für ihn Simplicius nach der Schlacht von Wittstock vollkommen in die Welt gekommen ist: »Er ist nun ein ›richtiger‹, seiner selbst als Mensch bewusster Mensch, ein Mensch nach der Vertreibung aus dem Paradies, weil er durch die Grausamkeiten der Folter das Leiden als Existenzial des Menschen kennengelernt hat ebenso wie das Wissen um Gut und Böse und um die Existenz Gottes und seiner Allmacht« (Rüdiger Zymner: »Folter in Grimmelshausens ›Simplicissimus Teutsch‹«. In: Simpliciana XXXI [2009], S. 85–97, hier S. 96).
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Gleichwohl Simplicius, wie er später nochmals betont, »so greulich zerschlagen worden« ist (ST I 32, 111), ändert dies nichts an den folgenden Ereignissen, denn, so fährt er fort: »WJe diß vorFber / muste ich wieder auffwarten / wie zuvor« (ST I 32, 109). Die Handlung nimmt ihren Lauf, als ob nichts geschehen wäre. Für Simplicius’ Körper bleiben die Prügel spurenlos. Noch deutlicher lässt sich dieses Phänomen in der zweiten Situation beobachten. Nach den sexuellen Abenteuern im »Venus-Berg« ereilt Simplicius, wie er es selbst eingesteht, die aus seinem moralischen Vergehen erwachsende Strafe. Er erkrankt – wie er glaubt – an den »Frantzosen« (ST IV 6, 372).462 Da sein Äußeres von »Gruben« vollständig entstellt wird, schlägt seine »Sch=nheit«, welche noch die »Beau-Alman«-Episode bestimmt hatte, um in ›Verderbtheit‹ (vgl. ST IV 10, 389; ST V 5, 465),463 die sowohl eine körperliche wie auch eine moralische Komponente hat.464 Sein Körper wird zum Abbild der Seele: WOrmit einer sFndiget / darmit pflegt einer auch gestrafft zu werden / diese KindsBlattern richteten mich dergestalt zu / daß ich hinfFro vor den Weibsbildern gute Ruhe hatte; ich kriegte Gruben im Gesicht / daß ich außsahe wie ein Scheur-Denne / darin man Erbsen gedroschen / ja ich wurde so heßlich / daß sich meine sch=ne krause Haar / in welchem sich so manch Weibsbild verstrickt / meiner sch(mten / und ihre Heimat verliessen; An deren statt bekam ich andere / die sich den S(uborsten vergleichen liessen / daß ich also nothwendig eine Barucque tragen muste / und gleich wie außwendig an der Haut keine Zierd mehr Fbrig bliebe / also gieng meine liebliche Stimm auch dahin / dann ich den Hals voller Blattern gehabt / meine Augen / die man hiebevor niemal ohne LiebesFeur finden k=nnen / eine jede zu entzFnden / sahen jetzt so roth und trieffend auß / wie eines 80. j(hrigen Weibs / das den Cornelium hat. (ST IV 7, 373 f.)
Die Krankheit hinterlässt sichtbare Spuren auf Simplicius’ Körper. Zwar würde es ihm, wie ihn ein »Apothecker tr=stete«, »Fber acht Tag / ohne die tieffe Narben / so [ihm] die Purpeln in die Haut gefressen / wenig mehr ansehen« (ST IV 7, 375 f.). Die »irreparabel eingekerbten Narben« werden bleiben,465 doch bereits drei Tage später hat sich Simplicius als Quacksalber eine Apotheke eingerichtet
|| 462 Breuer setzt die »Frantzosen« mit der Syphilis gleich (vgl. Anm. ST 372), dagegen argumentiert Misia Sophia Doms: »Alkühmisten« und »Decoctores«. Grimmelshausen und die Medizin seiner Zeit. Berlin/New York u. a. 2006, S. 71. 463 Zur Programmatik der Schönheit in der »Beau-Alman«-Episode vgl. Richard E. Schade: »Simplicius in Paris. The Allegory of the Beautiful Lutenist«. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 88 (1996), H. 1, S. 31–42, bes. S. 31–33; Jean Schillinger: »Simplicissimi erotische Abenteuer in Paris«. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 161–181, bes. S. 168 f. 464 Vgl. »verderben«. In: DWB, Bd. 25, Sp. 209–216. 465 Doms (Anm. 462), S. 107.
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und zieht damit durch die Dörfer. Freilich gibt es zwischen beiden Handlungsteilen die thematische Anbindung durch das Motiv der Krankheit, jedoch werden Simplicius’ Erkrankung und die Narben während seiner Quacksalber-Zeit als Motiv fallengelassen. Aufschlussreich für die Beständigkeit der Spuren ist die Bedeutung dieser Narben in den Wiedererkennungsszenen des Romans.466 Fähnrich Schönstein nämlich, der Simplicius als Jäger von Soest gefangen hatte und den Simplicius in Straßburg wiedertrifft, verunsichert ihn, indem er behauptet, dass ihn die »Urschlechten so verderbt h(tten / daß [ihn] weder [sein] Weib noch das andere Frauenzimmer zu L. vor den J(ger mehr annemmen werde« (ST IV 10, 389). Dies trifft zwar zu, aber irritierend wirken die dazwischen liegenden Wiedererkennungsszenen mit Hertzbruder und Olivier. Als Simplicius kurz nach dem Treffen mit Schönstein Hertzbruder begegnet, erkennt ihn Letzterer gleich in zwei Situationen nicht. Als möglichen Grund bringt Simplicius nicht die Veränderung seiner Physiognomie in Anschlag, sondern den Wechsel der sozialen Stellung. Simplicius befürchtet, dass Hertzbruder ihn nicht erkennen will, »weil er [Hertzbruder, L.W.] den Kleidern nach in einem hohen Stand / [er selbst] aber nur ein lausiger Mußquetier« ist (ST IV 12, 392). Das Zusammentreffen zwischen Simplicius und Olivier gestaltet sich vergleichbar, doch in diesem Fall müssen sich beide einander zu erkennen geben, da keiner der beiden den anderen auf Anhieb wiedererkennt. Das Nichterkennen wird auffälligerweise auch hier nicht auf die Narben zurückgeführt, die Simplicius’ Gesicht entstellt haben. Der ausschlaggebende Faktor ist ebenso, wie Olivier Simplicius erläutert, der Wechsel der sozialen Rollen vom Sekretär zum Waldfischer, im Falle Oliviers, und vom Narren zum Soldaten, im Falle des Simplicius: Er [Olivier, L.W.] aber sagte / das ist nichts neues / Berg und Thal kompt nit zusammen / das ist mir aber seltzam / daß wir beyde uns so ver(ndert haben / sintemal ich auß einem Secreatario ein Waldfischer / du aber auß einem Narrn zu einem so dapffern Soldaten worden! (ST IV 15, 404)
Die Narben des Simplicius bleiben unerwähnt, auch wenn Simplicius selbst auf Oliviers Narben, die »Wahrzeichen deß Spring-ins-feld« sind, abhebt und ihn fragt: »Woher ihm solche Zeichen k(men?« (ST IV 22, 426). Die Narben sind für die Wiedererkennungsszenen mit Hertzbruder und Olivier bedeutungslos; es || 466 Vgl. hierzu Rosmarie Zeller: »Verhängnis und Fortuna als Konstruktionsprinzipien des hohen und des niederen Romans. Zur Position des ›Simplicissimus Teutsch‹ im Gattungssystem des Romans«. In: Simpliciana XXIX (2007), S. 177–192, bes. S. 185 f.
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scheint ganz so, als ob es sie gar nicht gäbe. Sie treten – wenigstens aus der Figurenwahrnehmung – hinter sozialen Differenzen, wie sie sich im Rollen- und Standesdenken niederschlagen, zurück. Anders dagegen verläuft die Begegnung mit den Verwandten in Lippstadt. So wie es Schönstein vorausgesagt hatte, wird Simplicius aufgrund der »Urschlechten« von seinen Familienangehörigen nicht erkannt. Er begegnet allein seinem Schwager und seiner Schwägerin, denn – so erfährt er – seine Frau starb nach der Geburt des gemeinsamen Kindes. Über die Begegnung heißt es: [Z]u dem Ende discurirte meine Schw(gerin lang mit mir von mir selbsten / und ich redete auch von mir / was ich nur l=blichs von mir wuste / dann die Urschlechten hatten mich dergestalt verderbt und ver(ndert / daß mich kein Mensch mehr kante / ausser der von Sch=nstein / welcher aber als mein getreuster Freund / reinen Mund hielte. (ST V 5, 465)
Das Scheitern des Erkennens ermöglicht es Simplicius, in dieser Situation seine charakteristische Position als außenstehender Beobachter aufrecht zu erhalten. Simplicius kommt nicht als er selbst nach Lippstadt, er reist inkognito »wie ein fremder Bott« an (ST V 5, 464).467 Die Spur, die – wie die anderen beiden Szenen zeigen – zwischendurch verschwunden war, taucht auf einmal in diesem funktionalen Zusammenhang wieder auf. Die zeitliche Kontinuität – die die Spur impliziert – scheint unterbrochen und je nach Notwendigkeit wieder fortgesetzt werden zu können. Die zwei Episoden aus dem Simplicissimus Teutsch führen vor, wie Ereignisse, die das Potenzial zu einer dauerhaften Materialisation haben, sich nicht oder nur bedingt verstetigen, ihre zeitliche Indexikalität geht damit teils verloren. Ereignisse, deren Status den geschilderten Fällen vergleichbar unsicher ist, stellen die ›Kohärenz‹, ›Konsistenz‹ und lineare ›Struktur‹ der temporalen Dimension in Frage. Denn das in der Vergangenheit liegende Ereignis, das zur Spur wurde, bleibt folgenlos, bestimmender ist der funktionale Zusammenhang. Im Gegensatz zur Verstetigung des Ereignisses in der Spur geht es bei der Ereigniskumulation um die ›Dimensionierung‹ von Zeit. Gleichzeitig auftretende Ereignisse vervielfachen die Dimension von Zeit insofern, als einem Zeitpunkt nicht allein ein Ereignis zugeordnet wird, sondern beliebig viele. Dieser bereits im Zusammenhang mit Gleichzeitigkeit indizierenden Temporaladverbien und Konjunktionen thematisierte Aspekt (vgl. Kap. 4.1.1) sei hier nochmals von der Ereignisperspektive und mit Blick auf die implizierten semantischen Programme her gedacht. Die Bedeutung von Gleichzeitigkeitsphänomenen liegt || 467 Zum Beobachterstatus des Schelms vgl. Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart/ Weimar 1994, S. 10–13.
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in ihrer historischen Signifikanz wie in ihrer semantischen Aufladung. Die erzählerische Bewältigung von Gleichzeitigkeit wird, so der Tenor der Forschung, als Modernitäts- und Artifizialitätsindikator gelesen, denn vormoderne Literatur zeichne sich durch ein stetes Nacheinander aus; Gleichzeitigkeit hingegen sei ein Spezifikum moderner Weltentwürfe und werde erst in der Frühen Neuzeit zu einem zentralen Gestaltungsmerkmal.468 Beispiellektüre 13: Gleichzeitigkeit als Möglichkeit der Handlungsmodellierung im »Lazaril von Tormes« Anhand der deutschsprachigen Übersetzung des spanischen Lazarillo de Tormes (1554) von 1614 lässt sich zeigen, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen Zeit als Möglichkeitsraum auffaltet und wie so für den Helden eine ›Gelegenheit‹ entsteht,469 die zum Motor der Handlung wird.470 Als übergeordnete Erklärungsmuster für die Ereignisse, die eintreten, dienen – gleichsam als semantisches Programm – punktuell das »Glück« und »Unglück«.471 Formen der Gleichzeitigkeit sind aber nicht auf diese Handlungsfunktion beschränkt, vielmehr handelt es sich bei Gleichzeitigkeit um eine polyfunktionale narrative
|| 468 Vgl. Lugowski (Anm. 54), S. 58 u. S. 61. Auch wenn eine solche generalisierende These teils der historischen Fundierung entbehrt, wie Arbeiten zu Formen der Gleichzeitigkeit in mittelalterlicher Literatur zeigen, und die These zugleich terminologische Missverständnisse impliziert, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, lässt sich durchaus eine Veränderung in der Bewältigung von erzählerischen und diegetischen Gleichzeitigkeitsphänomenen in der Frühen Neuzeit beschreiben, vgl. dazu meinen Aufsatz sowie den Sammelband, Lukas Werner: »Gleichzeitigkeit – Formen und Funktionen. Narratologische Überlegungen zum Schelmenroman (Lazaril von Tormes – Simplicissimus – Schelmuffsky)«. In: Susanne Köbele/ Coralie Rippl (Hrsg.): Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Würzburg 2015, S. 281–317. 469 Lazarillo bringt das Konzept der ›Gelegenheit‹ selbst ins Spiel, wenn er eine Ereigniskonstellation folgendermaßen deutet: »jch glaube, der teufel stellete mir die gelegenheit so hartt vors gesichte, welche offt, wie man im Sprichwort sagt, einen zum Diebe machet« (LT 23); vgl. des Weiteren LT 26, 32, 73, 94. 470 Die Beispielanalyse ist meinem Aufsatz zu Formen und Funktionen von Gleichzeitigkeit in Erzähltexten der Frühen Neuzeit entnommen, vgl. Werner (Anm. 468). 471 Der Wechsel vom Blinden zum Pfaffen wird vom Erzähler durch das ›Unglück‹ erklärt, dieses deutet er (wie Tychander in Hieronymus Dürers Lauf der Welt und Spiel des GlFcks [1668], vgl. Beispiellektüre 17) in einem zweiten Schritt wiederum als Folge seiner Sünden: »Den andern tag baldt dunckte mich, es möchte die lufft ettwa nicht so gar gesundt alda fur mich sein, derowegen machte ich mich weiter, vndt kam an einen ortt der he:ßt Maqueda, da führet mich mein vnglück, oder obs vieleicht meiner Sünden schuldt gewesen, zu einem pfaffen« (LT 30). Vgl. darüber hinaus LT 47, 92.
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Form, die – wie jede narrative Form – ganz unterschiedliche Effekte hervorbringen kann. Im Fokus meiner Lektüre des Lazaril stehen vor allem jene Knotenpunkte der Handlung, an denen es zum Umschwung kommt. Lazarillos Weg in die Welt beginnt mit der vom Zufall bedingten Ankunft eines Blinden im Wirtshaus: »Nun trägt sichs zu, daß eben daselbst ein Blinder ins Wirdtshauß kompt« (LT 11). Durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und das räumliche Zusammentreffen ergibt sich für die Figuren die Möglichkeit zu agieren. Lazarillos Mutter erkennt die Gelegenheit und stellt ihren Sohn dem Blinden als Begleiter zur Seite. Nachdem der Blinde Lazarillo gleich am Anfang des gemeinsamen Wegs – gleichsam in einer Initiationsszene – lehrt,472 anderen nicht ›blind‹ zu vertrauen, sondern eher zu misstrauen, beginnt zwischen den beiden ein listiger Kampf um Essbares und Geld.473 Aufschlussreich für das Zusammenspiel von simultan stattfindenden Ereignissen und Möglichkeiten der Handlungsentwicklung ist nicht allein der Episodenbeginn, sondern auch das Episodenende. Gleichsam als Pendant zum Lehrstück des Blinden möchte Lazarillo nun den Blinden mit einer Säule zusammenstoßen sehen. Die Koinzidenz von Ereignissen und Zuständen schafft die »Gelegenheit« dazu: Weil es nun hefftig regnete, vndt der arme teufel [gemeint ist der Blinde, L. W.] fühlete daß Er naß wurde, vndt weil wir allebeÿde so sehr eileten, damitt wir nur auß dem regen kehmen, weil er gar nicht nachlassen wolte; vndt dann aber allermeÿstlich, weil ihm Gott der Herr dieselbe stunde Seine witz vndt scharffsinnigen Verstandt vorblendet haben mußte; So nahm ich mir fur, daß ich mich an ihm rechen wolte. (LT 28)
Wie die Passage deutlich macht, kommen verschiedene Umstände zusammen: erstens, ›es regnet‹; zweitens, ›der Blinde wird durchnässt‹; drittens ›sie eilen‹; und viertens, ›der Blinde ist (wie der Erzähler erklärt durch Gottes Hilfe) nachlässig‹. Diese Elemente werden geordnet durch die kausale Verknüpfungen stark machende Rückschau des Erzählers. Die Gleichzeitigkeit der Umstände ermöglicht es Lazarillo zu handeln, oder genauer: den Blinden zu täuschen. Lazarillo behauptet, man müsse mit einem großen Sprung einen Bach überqueren, dabei lässt er ihn aber gegen eine Säule springen. Ohne sich um den Liegenbleibenden zu kümmern, flüchtet er – damit endet die erste Episode. || 472 Zur generischen Tradierung dieses Szenentyps vgl. Jürgen Jacobs: »Das Erwachen des Schelms. Zu einem Grundmuster des pikaresken Erzählens«. In: Ders.: Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. Trier 1998, S. 41–62. 473 Jürgen Jacobs liest die Szene als »schockhaften Zusammenstoß mit der Realität, dessen Folge Desillusionierung ist«. Der Effekt sei »die nachhaltige Aufforderung zu Mißtrauen und rücksichtsloser Selbstbehauptung« (Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. München 1983, S. 11 f.).
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Lazarillo kann aktiv das Geschehen gestalten, da er das zugleich Stattfindende (und die sich bietende Gelegenheit) erkennt. Die Figur, die dieses leistet, entscheidet im Lazaril über den Ausgang einer Situation. Lazarillo konnte sich bei seinem ersten Herrn, dem Blinden, durchsetzen, da er das Potenzial der Koinzidenz richtig erkannt hat. Sein zweiter Herr, der Pfarrer, macht es ihm schwerer, da er nicht nur geizig ist, sondern auch in der Lage, Dinge, die zeitgleich geschehen, gleichermaßen zu verfolgen. Über das Altaropfer berichtet Lazarillo nämlich: Wann wir dort beim Altar stunden, vndt daß volck zum opffer gieng; da konte wol kein einiger Heller ins näplin fallen, den Er nicht alßbaldt auffgemerckt hette; Allwege hatte Er daß eine auge auffs volck, vnd das andere auff meine Hände gerichtett (LT 33).
Eine im weitesten Sinne vergleichbare ›Gelegenheit‹ für Lazarillo gibt es erst, als der Pfarrer nicht vor Ort ist und darüber hinaus ein weiteres Ereignis hinzukommt. Über diese besondere Ausgangssituation heißt es: so schickt sichs ein mahl daß der Elende kahle kerle vndt lausige filtz mein Herr [gemeint ist der Pfarrer, L. W.] Rber feldt mußte; Da gehet ohn gefehr ein Kesselflicker vndt Alteÿsenkramer fur vnser thür furüber (LT 36).
Die Option, tätig zu werden, hat Lazarillo durch die Gleichzeitigkeit eines Zustands (›Absenz des Pfaffen‹) und eines Ereignisse (›Eintreffen des Kesselflickers‹), die gleich mit zwei Phrasen als ›zufällig‹ hervorgehoben werden (»so schickt sichs ein mahl« und »Da gehet ohn gefehr«). Vom Kesselflicker – hier eine Art Hilfsfigur – lässt sich Lazarillo einen Schlüssel für den Brotkasten des Pfarrers anfertigen. Dieser ermöglicht es Lazarillo, an etwas Brot zu kommen; zugleich initiiert der Umstand eine Handlungsreihe, in der der Pfarrer und Lazarillo gegeneinander agieren bzw. sich zu täuschen versuchen. Der Abschluss der Episode wird wiederum von Ereignissen, die simultan ablaufen, eingeleitet – dadurch ergibt sich erneut die Möglichkeit, eine neue Episode zu beginnen. Diesmal kann Lazarillo die Koinzidenzen aber nicht für sich nutzen, vielmehr fallen Sie zu seinen Ungunsten aus. Wie ich einmahl des nachts am besten schlaffe, vnd ich muß ohne zweifel daß maul offen gehabt haben, da kömpt mir der schlüssel also zu liegen, das der othen vnd dasselbige hauchen im schlaffe gerade in den schlüssel hinein gehet; dann es war ein röhrschlüssel; […] so pfeiffets gar starck vndt klinget so laut, daß es mein Herr daß fantastische vngethüm hörett, vndt meÿnet nicht anders, es tzschüsche die Schlange oder die Nater also […] (LT 47)
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Den Hintergrund für das Vorgehen des Pfarrers bilden Larazillos ungewöhnliche Schlafgeräusche (die Geräusche selbst sind ein zufälliges Produkt): »da stehet Er gar mählich auff, mit seinem Korbatzsch in der handt, gehet schleichende fort, fühlet algemachsam vndt höret fleissig wo daß gepfeiffe vndt wo die nater se:« (LT 47). Das ist der Auftakt für den Abschluss der Episode, denn Lazarillos Spiel wird enttarnt, der Pfarrer prügelt heftig auf ihn ein und Lazarillo wird schließlich des Hauses verwiesen. Die narrativen Strategien der Episoden beim Blinden und beim Pfarrer ähneln sich also strukturell, die sich anschließenden Episoden beim verarmten Adeligen, beim Mönch und beim Ablasshändler basieren hingegen auf anderen narrativen Schemata,474 für die die Gleichzeitigkeit von Ereignissen keine so zentrale narrative Bedeutung besitzt. Der Blick auf Szenen aus dem Leben vnd Wandel Lazaril von Tormes zeigt, dass gleichzeitige Ereignisse eine wichtige Funktion für Handlungswendungen und damit auch für den Aufbau der Gesamthandlung haben (auch wenn sie latent sind). Gerade der Vergleich mit Hieronymus Dürers Schelmenroman Lauf der Welt und Spiel des GlFcks (1668, Beispiellektüre 17), in den einige Episoden aus dem Lazarillo eingegangen sind, führt vor, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen als Handlungsanschub spezifisch für den Lazaril ist.475 Gleichzeitige Ereignisse ermöglichen es Figuren, gestalterisch in die Handlung einzugreifen. || 474 Als Diener des verarmten Adeligen ist Lazarillo nicht der Gegenspieler, der den Vorteil seines Herrn, der ihm beim Blinden und beim Pfaffen vorenthalten wurde, für sich zu gewinnen sucht. In der Mönchs-Episode wird auf eine umfangreiche Darstellung von Ereignisfolgen verzichtet, aufgrund ihrer Kürze ist sie in dieser Hinsicht unterbestimmt (vgl. LT 81); in der Ablasskrämer-Episode tritt Lazarillo nicht als handelnde Figur in den Vordergrund, sondern bleibt Beobachter der listigen Absprache zwischen dem Ablasshändler und dem Vogt. 475 Für die Rache Lazarillos am Blinden und für die Täuschung des Geistlichen ist die Gleichzeitigkeit von Ereignissen als Ermöglichungsrahmen im Lauf der Welt und Spiel des GlFcks nicht ausschlaggebend, dies macht ein Blick auf den Schluss der ersten Episode deutlich: »Wie wir zum ende des dorfs gelanget / traffen wir einen bach an / welcher am schm(hlsten ende so breit war / daß man nehrlich hinFber springen kunte. Dichte am selben bach auf jenseit stund’ eine starke eiche / gegen selbe fFhrte ich meinen blinden / und sagte ihm / wo wir Fber den bach kommen wolten / so musten wir springen […] Der blinde sich keiner untreu befahrende breitete die arme von einander / suchte alle seine kr(fte zusammen / und that einen solchen starcken sprung gegen die eiche / welche aber ihm nicht weichen wolte / daß er gleich wie ein ox wieder zu rFck und ins waßer pralte« (LW 164 f.). Tychander muss nicht auf die Fähigkeiten des Kesselflickers zurückgreifen, um an den Inhalt des Brotkastens zu gelangen. Er selbst fertigt den Schlüssel an, im Allgemeinen »teilt« Tychander »nicht die Rolle des wehrlosen Dulders mit Lazarillo, er ist älter, findiger und energischer als dieser«, so stellt Jürgen Mayer fest (Jürgen Mayer: Mischformen barocker Erzählkunst. Zwischen pikareskem und höfisch-historischem Roman. München 1970, S. 26). Mit der Zunahme der Figurenkompetenzen verliere, so Mayer, die Gelegenheit an Relevanz.
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Sie gehen zugleich in erzählerischer Hinsicht mit der Möglichkeit einher, eine spezifisch strukturierte Episode (beispielweise eine List-Struktur) abzuschließen und eine neue Episode zu initiieren. In der Konzeptualisierung dieser Phänomene wird einerseits auf die Vorstellung von der sich bietenden ›Gelegenheit‹ und andererseits auf diejenige des ›Glücks‹ wie des ›Unglücks‹ zurückgegriffen – dieses verweist auf die enthaltenen historischen Semantiken von Zeit (vgl. Kap. 4.3). Ich fasse meine Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Ereignis kurz zusammen: Ereignisse als Zustandsveränderungen indizieren in einem ganz basalen Sinne das Fortschreiten von Zeit. Die Bedeutung von zu Spuren verstetigten Ereignissen liegt vor allem in der Modellierung der Kontinuität, Kohärenz und Struktur der zeitlichen Dimension einer erzählten Welt. Denn nur dort, wo einschneidende Ereignisse auch Spuren hinterlassen, tragen sie zur Linearität, Kohärenz und Konsistenz von Zeit bei. Sind sie aber funktionalen Zusammenhängen untergeordnet und werden je nach narrativer Notwendigkeit eingesetzt, dann verlieren sie ihren indexikalischen Charakter. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen fächert die temporale Dimension der erzählten Welt auf und eröffnet Handlungsoptionen für die Figuren sowie die erzählerische Möglichkeit, Episoden zu beginnen und abzuschließen.
4.2.2 Figur: Zeiträger, Zeitwahrnehmer und Zeitüberwinder Nur selten wird einer Figur ein sprechender Name mit zeitlichen Implikationen gegeben, wie dies im spanischen Amadis geschieht (Erstdruck 1508), der so schnell wie kaum ein anderer Roman die europäischen Literaturen eroberte. Der erste Band der deutschen Bearbeitung erscheint 1569 bei Sigmund Feyerabend in Frankfurt am Main. Bevor Prinzessin Elisena ihren unehelichen Sohn – den späteren Helden des Romans – dem Wasser übergibt, da der Vater des Kindes König Perion das Land verlassen hat und ihr als unverheirateter Mutter die Todesstrafe droht, werden dem Kind einige Gegenstände beigelegt – unter anderem ein Zettel, der Auskunft gibt über seinen Namen und seine Identität: »Dieser ist Amadis Onzeit eines Königs Sohn.« (A 29).476 Der Erzähler erläutert daraufhin die Motivation der Figuren, dem Kind diesen Namen zu geben, markiert aber implizit seine abweichende Einschätzung:
|| 476 Amadis. Erstes Buch. Nach der ältesten deutschen Bearbeitung herausgegeben von Adelbert von Keller. Darmstadt 1973 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1857). Im Folgenden zitiert mit der Sigle A.
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Onzeit ward darumb geschrieben, dieweil sie [gemeint ist die Gehilfin der Prinzessin Darioleta, L. W.] vermeynet, er würde bald todt sey, vnnd also nicht ein zeitlang leben. Vnd dieser name Amadis, von eines Heiligen wegen, so im selbigen Land gar hoch geachtet (A 29).
Darioleta, die den Zettel schreibt, irrt sich in dieser Einschätzung, denn Amadis – der zunächst unter dem ebenso sprechenden Namen »Juncker vom Meer« seine Abenteuer bestreitet – wird zum besten Ritter. Zeit und Figur stehen in einem vielschichtigen Verhältnis, das sich nicht immer in sprechenden Namen wie im Amadis niederschlagen muss. Dieses Verhältnis hat bislang – im Gegensatz zur Relation zwischen Zeit und Raum – nur bedingt im Fokus erzähltheoretischer Fragestellungen gestanden.477 Hat die ältere Erzählforschung vor allem die Funktion der Figur für den Handlungsverlauf untersucht (Vladimir Propp und Algirdas J. Greimas), wird das Forschungsfeld aktuell vor allem von kognitiven Theorien der Figur, wie sie Ralf Schneider und Fotis Jannidis entwerfen, dominiert.478 Zeitfragen spielen in diesen Zusammenhängen ebenso wenig eine Rolle wie Versuche einer diachronen Auseinandersetzung mit Figurenkonzepten, die besonders im Rahmen der kognitiven Theorien vor grundsätzlichen Problemen stehen, ist doch der Rezeptionsprozess des historischen Lesers uneinholbar.479 Impulse für eine erzähltheoretische, historisch fundierte Herangehensweise gibt aber ein aktueller Aufsatz von Carmen Lăcan, der sich explizit dem Verhältnis von Zeit und Figur widmet. Carmen Lăcan unterscheidet in ihrem typologischen Versuch vier Zusammenhänge, in denen Zeit und Figur verschränkt sind: ›Figuren als Zeitträger‹, ›Figuren als Zeitwahrnehmer‹, ›Figuren als Zeitüberwinder‹ sowie die ›Konfiguration der Zeit durch Figuren‹.480 Unter den ersten Typ fasst sie im Rückgriff auf Arbeiten aus der germanistischen Mediävistik die potenzielle »Eigenzeitlichkeit« von Figuren, die sie aus ihrer raumzeitlichen Umwelt herausfallen lässt. Historisch sieht Lăcan diesen Typ zum Teil im höfischen und Heliodor’schen Roman verkörpert.481 Die Figuren sind gleichsam der Zeit enthoben, dabei »hängt« die »spezifische Relation von Figur und Zeit […] aufs Engste mit dem Status von Ereignissen und funktionalen Aspekten der Handlungsführung zu-
|| 477 Vgl. die Überblicksdarstellung von Martínez (Anm. 237). 478 Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000; Jannidis (Anm. 204). 479 Vgl. Martínez (Anm. 237), S. 149. 480 Vgl. Lăcan (Anm. 238), S. 291. 481 Uta Störmer-Caysa liefert in ihrer Studie zu Raum und Zeit im höfischen Roman ein anschauliches Beispiel aus Hartmanns von Aue Iwein, vgl. Störmer-Caysa (Anm. 197), S. 121–127.
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sammen«. Der zweite Typ gilt der Art und Weise, wie Figuren Zeit und ihr Vergehen wahrnehmen; »Formen der internen Fokalisierung« sowie Ich-Erzählungen bieten dabei, wie Lăcan betont, »erzählerische Möglichkeiten, diese subjektiven Imaginationen von Zeit besonders eindringlich zu gestalten«.482 Dabei geht es um die Verinnerlichung der Wahrnehmung, die sich unter anderem in der subjektiv verzerrten Wahrnehmung von Dauer und in erzählten Erinnerungen niederschlägt. Den dritten Typ bilden Figuren, die in die Zukunft oder Vergangenheit reisen können. Der vierte Typ gilt dem »gegenseitige[n] Bedingungsverhältnis« von Zeit und Figur, also der Frage, »wie die Figur durch die Zeit konfiguriert wird und wie Fragen der Identität [von Figuren, L. W.] mit Zeit verschränkt sind«.483 Hierbei schließt Lăcan an Paul Ricœurs sogenannte Theorie der ›narrativen Identität‹ an. Die von Lăcan vorgeschlagene Typologie ordnet die Phänomene überzeugend, doch muss sie auf ihre Triftigkeit im Hinblick auf die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit befragt werden. Gerade dadurch, dass einerseits mittelalterliche Erzählmuster in der Literatur der Frühen Neuzeit eine Fortsetzung finden und andererseits der spätantike Roman als Leitbild fungiert, gibt es eine Reihe von Figuren, die über eine spezifische ›Eigenzeitlichkeit‹ verfügen. Diese ›Eigenzeitlichkeit‹ kann dabei unterschiedlich markiert sein: Entweder bleibt sie – wie in der Tradition des Heliodor’schen Romans – implizit und äußert sich allein darin, dass die Ereignisse ›spurlos‹ an den Helden, die von Beginn an mit fixen Eigenschaften versehen sind, vorbeigehen; oder sie wird explizit thematisiert und – wie in der Melusine des Thüring von Ringoltingen – als ›anderweltlich‹ oder – wie in religiöser Literatur – ›heilig‹ markiert. Helden hagiographischer und legendarischer Erzähltexte besitzen teils die Fähigkeit, an mehreren Orten zugleich zu sein. Die Fähigkeit der ›Bilokation‹ wird beispielsweise dem Heiligen Antonius von Padua zugeschrieben.484 Die Melusine liefert, wie ich gleich noch zeigen werde, ein
|| 482 Alle Zitate Lăcan (Anm. 238), S. 293. 483 Lăcan (Anm. 238), S. 296. 484 In den Cronicken Der drey Eingesetzten Orden deß Heiligen Seraphischen Vatters FRANCISCI (1693) heißt es über Antonius von Padua: »Als er zu Nachts vor dem Charfreytag den Passion in St. Peters von Quadruvio Kirchen zu Lemonscies zu der Zeit / als die BrFder die Metten sungen / gepredigt / und es auff die Lection / die ihn antraffe / kommen / ist er alsbald solche zulesen erschienen / und die Cantzel darneben nicht unversehen verlassen«. Damit stellt er keinen verwunderswerten Einzelfall dar, wie es weiter im Text heißt: »Über diese Göttliche Krafft aber in dem heiligen Antonio ist sich nicht zuverwundern / dann solche dem heiligen Francisco […] wie auch dem heiligen Ambrosio […] begegnet ist« (Anderer Theil Der Cronicken Der drey Eingesetzten Orden Deß Heiligen Seraphischen Vatters FRANCISCI, Darin-
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anschauliches Beispiel für eine ›anderweltliche Eigenzeitlichkeit‹ der Protagonistin und ihrer Schwestern, die die Figuren nicht von Anfang an inne haben, sondern erst im Verlauf des Geschehens erwerben. Zu differenzieren ist also zwischen einer ›statischen‹ Eigenzeitlichkeit, die Figuren durchweg besitzen, und einer ›dynamischen‹ Eigenzeitlichkeit, die erlangt und verloren werden kann. Historisch interessant ist darüber hinaus die semantische Codierung der Eigenzeitlichkeit, die im Heliodor’schen Roman programmatisch mit der Schönheit der Helden verbunden wird (vgl. Kap. 6 und 10) und in der Melusine mit ihrer ›Fremdheit‹ und ›Anderweltlichkeit‹. Aspekte der subjektiven Zeitwahrnehmung – also der zweite Fall in Lăcans Typologie – sind, wie die Ausführungen zum Zusammenhang von Perspektive und Zeit gezeigt haben, nur bedingt für die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit als eigenständiges Phänomen von Bedeutung. Die historische Signifikanz liegt gerade in der Negation von erzählerischer Subjektivität sowie in der funktionalen Rückbindung von subjektiver Zeitwahrnehmung auf der Figurenebene an Affekte (z. B. Kap. 4.1.4 und Kap. 11). Die Geschichte des Fincken Ritters, der zweihundert Jahre vor seiner Geburt unglaubliche Abenteuer erlebt, und die Versetzung der schönen Helena in die Gegenwart von Faustus485 und Wagner486 können als reduzierte Formen der Zeitreise verstanden werden (vgl. Einleitung). Über diese Beispiele hinaus wird das Motiv der Zeitreise – soweit ich sehe – erst im späten 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. und 20. Jahrhundert narrativ entfaltet.487 Die Konfrontation der Figuren mit anderen Weltsystemen, die über eine eigene Zeitlichkeit verfügen können, erfolgt in der frühneuzeitlichen Lite-
|| nen das Leben / Todt / und Wunderzeichen seiner heiligen Discipel und Gesellen begriffen. Prag 1693, S. 54). 485 In der Historia fordert Faustus Helena von Mephostophiles im letzten Jahr des Paktes. Mephostophiles gewährt ihm den Wunsch, sie wird schwanger und gebiert ihm einen Sohn. In einem doppelten Sinne ist die zeitliche Versetzung einer historischen Figur im Hinblick auf ihre Tatsächlichkeit fragwürdig, wie Faustus selbst Karl V. gegenüber, der Alexander den Großen und seine Frau sehen möchte, erläutert: Es sei bekannt, »daß jre sterbliche Leiber [gemeint sind Alexander und seine Gemahlin, L. W.] nicht von den Todten aufferstehen / oder gegenwertig seyn k=nnen / welches dann vnmFglich ist«. Es ist aber den »vhralte[n] Geister[n]« möglich, Alexanders »Form vnnd Gestalt« anzunehmen (FB [1587], 78). Gleiches wird auch für Helena gelten; zudem ist ihre zeitliche Versetzung nicht dauerhaft: »Als er [Faust] aber hernach vmb sein Leben kame / verschwanden zugleich mit jm Mutter vnd Kindt« (FB [1587], 110). 486 Auerhan verspricht Wagner, dass er ihm Helena in acht Tagen zuführen würde, doch bleibt sein Versprechen unrealisiert. 487 Vgl. Lăcan (Anm. 238), S. 295 und Gertrud Lehnert-Rodiek: Zeitreisen. Untersuchungen zu einem Motiv der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Rheinbach-Merzbach 1987.
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ratur vornehmlich über die Bewegung durch den Raum und nicht durch die Zeit (Kap. 4.2.3). Der letzte Fall in Lăcans Katalog scheint mir stärker philosophische Probleme zu betreffen als genuin literaturwissenschaftliche Fragen; zudem ist Ricœurs Subjektivitätsbegriff so komplex angelegt, dass seine Übertragung auf frühneuzeitliche Literatur sich dem Vorwurf des Anachronismus stellen müsste. Einschlägig für meine Leitfrage ist also in besonderem Maße der erste Zusammenhang und vor allem ex negativo auch der zweite – für den letztgenannten Punkt verweise ich auf meine Überlegungen zur Perspektive (Kap. 4.1.4). Im Folgenden gilt meine Aufmerksamkeit folglich den ›Eigenzeiten‹ von Figuren: Eine dynamische Form der Eigenzeitlichkeit, die mit einer für das MahrtenehenSchema charakteristischen Semantik der Fremdheit aufgeladen ist,488 sei anhand der Melusine vorgestellt. Beispiellektüre 14: Figurenzeiten in der »Melusine« des Thüring von Ringoltingen Thürings von Ringoltingen Melusine (1456, gedruckt 1471)489 gründet auf Couldrettes Versroman, der für die Grafen von Parthenay als ›Gründungssage‹ eine genealogisch legitimierende Funktion hatte. Obgleich diese Funktion mit Thürings Bearbeitung verschwindet, bleibt der Anspruch erhalten, ein historisches Geschehen zu erzählen. Von Interesse für meine Frage ist die besondere Anlage der Figur Melusine. Sie ist – als eine der Handlungsträgerinnen des Romans – eingewoben in ein komplexes Geflecht von Zuschreibungen.490 Als »halbe gespenste« (M 11) ist Melusine ein Geschöpf zwischen wunderbarer ›Anderwelt‹ und wirklicher ›Menschenwelt‹. Thürings Roman thematisiert, wie
|| 488 Vgl. zum ›Mahrtenehen-Schema‹ Armin Schulz (Anm. 206), S. 214–241. Laut Volker Mertens gründet das Mahrtenehen-Schema auf der »Differenz zweier Welten« (›Anderswelt‹ und ›Menschenwelt‹) und ist ein »Integrations- und Harmonisierungsversuch«. Charakteristisch für die ›Anderswelt‹ seien »fehlende soziale Strukturen«, »magische Fülle« und »Heils-Defizienz«, die ›Menschenwelt‹ hingegen zeichne sich durch die »Bindung an soziale Institutionen und Ordnungen mit dem Ziel der rationalen Lebensbewältigung« sowie eine »religiöse Heilsordnung[ ]« aus, vgl. Volker Mertens: »Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert«. In: Johannes Janota u. a. (Hrsg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. 2 Bde. Tübingen 1992, Bd. 1, S. 201–231, hier S. 202. 489 Thüring von Ringoltingen: »Melusine«. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990, S. 9–176. Der Nachweis erfolgt im Haupttext mit der Sigle M. 490 Zu den komplexen Formen der Bedeutungsgenerierung vgl. Werner (Anm. 225); Ideen und Passagen stammen teils aus diesem Aufsatz, dort finden sich auch weitere Literaturhinweise.
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es Stephanie B. Pafenberg formuliert, »die Grenzen zwischen Menschen und Gespenst, Gut und Böse, Zufall und Vorsehung, so wie die Zuordnung dieser Wesen, Attribute und Kräfte«.491 In ihrer Konstruktion ist die Figur Melusine »bivalent«,492 vielmehr noch »ambivalent«.493 Das Spektrum ihrer Eigenschaften reicht von ›christlich‹ bis ›dämonisch‹,494 ›menschlich‹ bis ›feenhaft‹,495 ›moralisch mustergültig‹ bis ›moralisch verwerflich‹ sowie – und dies ist für das Folgende entscheidend – zwischen ›entzeitlicht‹ und ›zeitlich‹.496 Melusine ist ein Beispiel für eine (teils) als ›wunderbar‹ konzipierte Figur, die über eine markante Form der Eigenzeitlichkeit verfügt. Diese ist nicht von || 491 Stephanie B. Pafenberg: »Vorsehung, Zufall und das Böse in der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«. In: Colloquia Germanica 28 (1995), H. 3/4, S. 265–284, hier S. 266. 492 Pafenberg (Anm. 491), S. 267. 493 Vgl. Beate Kellner: »Melusinengeschichten im Mittelalter. Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung«. In: Ursula Peters (Hrsg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Stuttgart 2001, S. 268–295, S. 286; Hugo Kuhn: »Versuch über das fünfzehnte Jahrhundert in der deutschen Literatur«. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980, S. 19–38, hier S. 37; vgl. Anna Mühlherr: ›Melusine‹ und ›Fortunatus‹. Verrätselter und verweigerter Sinn. Tübingen 1993, S. 52: »Die Ambivalenz wird zur Grunderfahrung.« 494 Kurt Ruh: Die ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen. München 1985 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 1985, H. 5), S. 15–22. 495 Vgl. Ulrike Junk: »›So müssen Weiber sein‹. Zur Analyse eines Deutungsmusters von Weiblichkeit am Beispiel der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«. In: Ingrid Bennewitz (Hrsg.): Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. Göppingen 1989, S. 327–352, hier S. 337; Mühlherr betont den performativen Akt, mit dem Reÿmund Melusine »entmenschlicht«, wenn er sie im höfischen Kontext als »pöse schlang vnd schemlicher wůrm« bezeichnet (Mühlherr [Anm. 493], S. 38). 496 Zu temporalen Fragen (wie der vom ordo naturalis abweichenden Erzählweise, genalogischem Denken und zum Verhältnis von Providenz und Kontingenz) vergleiche: Catherine Drittenbass: »Prolepsen und analytischer Gang der Handlung in der ›Melusine‹. Überlegungen zur Zeit-Regie im Roman Thürings von Ringoltingen«. In: Dies./André Schnyder (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Amsterdam u. a. 2010, S. 279–295; Pafenberg (Anm. 491); Bruno Quast: »›Diß kommt von gelückes zuoualle‹. Entzauberung und Remythisierung in der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«. In: Ders./Udo Friedrich (Hrsg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin u. a. 2004, S. 83–96; Xenja von Ertzdorff: »Die Fee als Ahnfrau. Zur ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«. In: Dies.: Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Göppingen 1996, S. 421–446; Christian Kiening: »Zeitenraum und ›mise en abyme‹. Zum ›Kern‹ der Melusinegeschichte«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), H. 1, S. 3–28.
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Beginn an gegeben, sondern wird erst durch den Fluch der Mutter bewirkt. In diesem Sinne ist ihre Eigenzeitlichkeit ›dynamisch‹. Aus Melusines Perspektive gilt es, diese Eigenzeitlichkeit durch eine Verbindung mit einem menschlichen Mann, der ein temporal limitiertes, aber zyklisches Seh- und Wissenstabu respektieren muss, zu überwinden. Dieser »Integrations- und Harmonisierungsversuch« (Volker Mertens), wie er für Erzählungen entlang des MahrtenehenSchemas charakteristisch ist, scheitert aber, sodass Melusine in ihrer Eigenzeitlichkeit gefangen bleibt. Der Tabubruch durch Melusines Vater Helmas und ihren Ehemann Reÿmund führt (indirekt und direkt) zu Melusines Eigenzeitlichkeit und ihrer definitiven Bestätigung. Presine hat es ihrem Mann Helmas untersagt, sie zu besuchen, solange sie im Kindbett liegt. Als er dieses im Text nicht weiter motivierte Verbot übertritt, wird er von Presine (samt den Töchtern) verlassen. Presine erzieht die drei Töchter – Melusine, Meliora und Palantine – allein. Als diese das fünfzehnte Lebensjahr erreichen, erzählt Presine ihnen von der »vntreẅ« (M 139), die der Vater begangen hat. Die Töchter lassen dies nicht ungerächt und verbannen ihren Vater in den Berg Awelon. Daraufhin verflucht Presine ihre Töchter mit »dreÿ gob« (M 139). Melusine muss sich nunmehr jeden Samstag vom Nabel abwärts in einen »Wurm« verwandeln. Davon wird sie nur befreit und stirbt als gewöhnlicher Mensch, wenn sie einen Ehemann findet, dem ihr Geheimnis unbekannt bleibt.497 Meliora wiederum ist verflucht, »alle ir lebtag« (M 140) ein Schloss in Armenien zu bewachen.498 Um sie zu erlösen, das Abenteuer und dergestalt auch den Preis zu gewinnen, muss ein Ritter über drei Tage und Nächte einen Sperber bewachen, ohne in den Schlaf zu fallen. Gelingt ihm dies nicht, so ist er dazu verflucht, bis zum Jüngsten Tag Meliora nicht mehr zu verlassen.499 Zugleich ist es ihm untersagt, Meliora selbst als Gabe zu wünschen. Auf einem Berg in Arragon hütet Palantine den väterlichen Schatz; erlöst wer-
|| 497 Vgl. M 139: Ihr Ehemann muss Melusine versprechen, dass er sie an Samstagen nicht suchen will »vnd sÿ auf disen tag nicht sehen. noch dise geheÿm nÿemant sagen s=lt«. Im Gegensatz zum Gelübde Reÿmunds im Wald ist das Tabu hier nicht nur ein Seh-, sondern auch ein Sprechtabu, was insofern der erzählten Handlung entspricht, als der Tabuverstoß erst nach der öffentlichen Diskreditierung Melusines durch Reÿmund seine Folgen entfaltet. 498 Auch bei Meliora handelt es sich nicht um ein Menschenleben, das als Referenzgröße gilt, denn als Gÿs, der Enkel von Melusine und Reÿmund (M 161) und der Sohn des Gÿot, den Sperberpreis gewinnen will, bewacht Meliora weiterhin das Schloss, ohne Anzeichen des Alters zu tragen, sie ist eine »sch=ne iunckfraw« (M 160), deren Leib Gÿs verlangt: »jch wil kein ander gob dann eẅren leib« (M 160). 499 Vgl. die analoge Abenteuerstruktur im Brissonetus (Beispiellektüre 15).
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den kann sie nur von einem Nachkommen aus dem Geschlecht des Vaters, der »mit gewallt den perg vnd den schacz gew6nnet« (M 140). Nach dem Fluch der Mutter wird besonders im Fall Melusines ihr ›entzeitlichter‹ Status deutlich. Das sukzessive Altern der Figur von der Kindheit bis zum fünfzehnten Lebensjahr wird abgelöst vom Samstagszyklus. Sie wird also aus der Linearität der Zeit und damit aus derjenigen des Alterns ausgeschlossen. Der Zeitraum zwischen ihrer Verfluchung und der Begegnung mit Reÿmund bleibt unspezifiziert. Dass Melusine jedoch bereits längere Zeit hofft, erlöst zu werden, darauf lässt der Bericht eines der Landesherren zurückschließen, auf die Melusines Sohn Geffroÿ bei seiner Verfolgung des Riesen trifft: Doch ist ÿe sÿder seinen zeiten [seit König Helmas in den Berg eingeschlossen wurde, L. W.] ein riß hie gewesen / der hat dises perges alle zeit gehFtet vnd ist das der fünfft oder der sechst riß die dises landt gancz verwüstet vnd verheret haben piß auff eẅer zGkunfft (M 135).
Welchen konkreten Zeitraum die fünf oder sechs Riesengenerationen aber umfassen, bleibt unklar.500 Mit der Verbindung zu Reÿmund und seinem wiederholten Versprechen, sich an das von Melusine auferlegte Tabu zu halten, ist ihre Erlösung in Aussicht gestellt. Die Verletzung des Tabus durch Reÿmund und seine öffentliche Anklage lassen Melusines Hoffnung auf ein menschliches Lebensende in der Zeit jedoch nichtig werden. Deshalb wirft sie ihm vor: dein grosse verretereÿ vnd valscheÿt / dein valsche zung. dein z=rnliche grymme red vnd verweisen / die haben mich so in ein lang werende arbeit vnd not geseczet. dar jnn ich sein vnd beleiben mGß piß an das ende des iüngsten tages. vnd piß got über die lebentigen vnd toten würt richten (M 116 f.).
Der dominierende Zyklus wird für Melusine damit bis zum Jüngsten Tag verlängert. Hätte Reÿmund sein Wort gehalten und hätte er sie nicht in der Öffentlichkeit bloßgestellt, so fährt Melusine fort,
|| 500 Vgl. Kiening (Anm. 496), S. 22: Kiening stellt heraus, dass die »zeitliche Verbindung zwischen der Vorzeithandlung und der historischen Gegenwartshandlung« ungewiss sei: »Die drei Generationen der Geschichte – Presine und Helmas, Reymund und Melusine sowie deren Schwestern, die zehn Söhne – stehen zwar in genealogischer und tabulogischer Kontinuität, doch die zeitlichen Dimensionen sind verwischt. Die Texte geben nicht an, wie sich Riesenzeitalter zu Menschenzeitaltern verhalten, und lassen zudem eine signifikante Unschärfe bestehen«.
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wer ich natürlich beÿ dir gewesen vnd beliben. vnd als ein ander natürlich weib gestorben. vnd der erden beuohlen worden / vnd wer mein sele von meinem leib gewißlich zG der ewigen freüd kommen (M 117).
Melusines Eigenzeitlichkeit – als Exklusion aus der biographischen Zeit – ist mit Re:munds Verletzung des Seh- und Sprechtabus unabänderlich geworden. Obwohl die erzählte Geschichte in einer entlegenen Vergangenheit spielt (»ES ist gewesen vor zeÿtten ein graff […]«, M 13), ist Melusine zum Zeitpunkt des Erzählens weiterhin die Figur, die sie auch damals gewesen ist. Denn in der Vorrede betont Thüring bezeichnenderweise, dass Melusine »ein merfeýin gewesen vnd noch ist« (M 12). Der Zustand, den sie durch den Fluch der Mutter erlangt hat, bleibt in Thürings Roman unüberwunden. Wie verhalten sich aber diese beschriebenen Eigenheiten der Figuren zu den bereits vorgestellten Kategorien. Aspekte der Zeitwahrnehmung wurden bereits der ›Perspektive‹ zugeordnet, tangiert ist damit die ›Subjektivität‹ von Zeit; das Herausfallen der Helden aus der Zeit in der Tradition des spätantiken Romans hängt – systematisch betrachtet – auch mit der Verstetigung oder genauer: mit der Nicht-Verstetigung von Ereignissen zu Spuren zusammen und betrifft damit die ›Kohärenz‹, ›Konsistenz‹ und ›Struktur‹ von Zeit. Jene anhand der Melusine veranschaulichte Form der ›Eigenzeitlichkeit‹ aber ist anders gelagert als dieser Fall, denn Ereignisse spielen für die Eigenzeitlichkeit der Figur keine Rolle. Vielmehr gehört die Eigenzeitlichkeit, auch in ihrer ›dynamischen‹ Form, zu den inhärenten Eigenschaften der Figur. Insofern gründet dieser Aspekt – der Wahrnehmung der Figuren mit ihrer Standpunktabhängigkeit vergleichbar – in den Figuren selbst, deshalb erscheint es mir sinnvoll, dieses Phänomen unter die Kategorie ›Subjektivität‹ zu fassen. Im Gegensatz zu den bereits beschriebenen figuralen oder narratorialen Wahrnehmungsaspekten handelt es sich hierbei aber um Aspekte der ›diegetischen‹ Seinsordnung, die in den folgenden Überlegungen zum Raum-Zeit-Verhältnis ebenso in den Fokus rückt.
4.2.3 Raum: uni- und pluriregionale Welten sowie die Biegsamkeit der Raumzeit Die Verquickung von Raum und Zeit gehört spätestens seit der Rezeption von Michail M. Bachtins ›Chronotopos‹-Studie und dem spatial turn der späten 1980er Jahre zu den immer wieder beschworenen Topoi der Literaturwissen-
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schaft. Zeit und Raum können, so Bachtins programmatische These, nicht getrennt werden, die »Zeit ergießt sich […] gleichsam in den Raum«501 und materialisiert sich in ihm. Der Begriff »Chronotopos« bezeichnet den »grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeitund-Raum-Beziehungen«.502 Pointiert stellt Bachtin diesen relationalen Zusammenhang und dessen Bedeutung für die Poetik des Romans in den 1974 entstandenen ›Schlussbemerkungen‹ zu seinem Essay heraus. Der »Chronotopos« sei die »entscheidende Grundlage«, »auf der sich Ereignisse zeigen und darstellen lassen«. Denn auf »bestimmten Abschnitten des Raumes« erfolge eine »besondere[ ] Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit«. Insofern sei der »Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung«; er avanciert für Bachtin gar zur »Verkörperung für den ganzen Roman«.503 Obgleich Zeit und Raum im »abstrakte[n] Denken« »separat vergegenwärtig[t]« werden können, sind sie in der Kunst als »lebendige künstlerische Betrachtung« nicht separierbar.504 Auch wenn Bachtins Verwendung des Begriffs Chronotopos uneinheitlich ist,505 Teile des Begriffes unexpliziert bleiben506 und sein heuristisches Potenzial deshalb für eine differenzierende Darstellung aus analytischer Perspektive nur begrenzt ist, erwiesen sich seine Beobachtung zur Verquickung von Raum, Figur, Bewegung und Zeit als interpretatorisch fruchtbar.
|| 501 Bachtin (Anm. 239), S. 181. 502 Bachtin (Anm. 239), S. 7. 503 Alle Zitate Bachtin (Anm. 239), S. 188. 504 Bachtin (Anm. 240), S. 180. 505 Im Laufe der Studie verschwimmt die zunächst auf erzählte Welten bezogene Definition des Chronotopos. Bachtin arbeitet verschiedenartige Typen des Chronotopos heraus: Neben Chronotopoi, die in einem strengen Sinne die raumzeitliche Beschaffenheit der Welt charakterisieren (Chronotopos der »Abenteuerzeit«, vgl. S. 10 f., H. i. O; »Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans«, S. 93), beschreibt Bachtin auch Chronotopoi, die motivisch bestimmt sind (S. 20; z. B. durch die ›Reihen‹ des menschlichen Körpers, des Essens und des Geschlechtslebens etc. in François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, vgl. S. 95–135) oder die Aspekte der Produktion und Rezeption prägen (»reale[r] Chronotopos« des »Markplatz[es]«, S. 58; »Chronotopos des Sängers und der Zuhörer«, S. 193; »Chronotopoi der Leser«, S. 193). Über die genannten Typen von Chronotopoi hinaus verwendet Bachtin auch andere Variationen des Begriffs, z. B.: »reale[r] historische[r] Chronotopos« (S. 8), »innerer Chronotopos« (S. 58), »zeitlich-historische[r] Chronotopos« (S. 86), »Chronotopos des Volksplatzes« (S. 90), »Chronotopos des Weges« (S. 180, H. i. O.), Chronotopos der »Schwelle« (S. 186, H. i. O.), »Chronotopoi der Mysterien- und Karnevalszeit« (S. 186, H. i. O.). Zur Vielgestaltigkeit des Begriffs vgl. Michael Holquist: Dialogism. Bakhtin and his World. London/New York 22002, S. 110. 506 Vgl. Dembski (Anm. 71), S. 189 f.
154 | Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität
Trotz der breiten Bachtin-Rezeption hat die Engführung von Zeit und Raum weder einen systematischen noch einen historischen Ort in der Erzähltheorie.507 Anknüpfungspunkte für die Erfassung solcher Raum-Zeit-Relationen in der Frühen Neuzeit bieten m. E. Arbeiten aus der Mediävistik,508 die sich aus theoretischer Perspektive mit Félix Martínez-Bonatis Typologie fiktionaler Welten terminologisch anreichern lassen. Analytisch zu differenzieren ist zwischen der Raum-Zeit-Relation, wie sie strukturell in der erzählten Welt vorliegt, und der Raum-Zeit-Relation, die durch die Bewegung der Figuren (und der Wahrnehmungsinstanzen) hervorgebracht wird. Innerhalb eines auf vier Ebenen operierenden Beschreibungsinstrumentariums für fiktionale Welten unterscheidet Martínez-Bonati zwischen ›uniregionalen‹ (»uniregional«) und ›pluriregionalen‹ Welten (»pluriregional worlds«).509 Während Erstere sich durch ein umfassendes ›Wirklichkeitssystem‹ auszeichnen, bestimmt Letztere mehr als ein solches System. Erzählte Welten, in denen es mehr als ein verbindliches raumzeitliches System gibt, lassen sich folglich als ›pluriregionale‹ Welten klassifizieren. Diese spezifischen Welten verfügen über Räume mit einer eigenständigen topographischen, topologischen und semantischen Dimension:510 Sie können als ›An-
|| 507 In den einschlägigen Darstellungen zur Narratologie des Raumes fehlt eine Auseinandersetzung mit der diegetischen Raumzeit, vgl. z. B. Dennerlein (Anm. 147); Marie-Laure Ryan: »Space«. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php?title=Space&oldid=1708 [19. April 2013]. Eine neuen Ansatz entwickelt Kai Spanke: »Raum und Zeit. Romantische Leichen im Keller des Realismus oder: Adalbert Stifters ›Ein Gang durch die Katakomben‹«. In: Weixler/Werner (Anm. 227), S. 259–289. 508 Störmer-Caysa (Anm. 197); Barbara Nitsche: Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 2006; Almudena Otero Villena: Zeitauffassung und Figurenidentität im ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ und ›Gauriel von Muntabel‹. Göttingen 2007; Schulz (Anm. 206). 509 Über die Unterscheidung zwischen uni- und pluriregionalen Welten hinaus können laut Martínez-Bonati Welten, zweitens, entweder mit objektivierendem Erzählgestus (pure) oder durch Ironie und Verfremdung (contaminated) geschaffen werden. Drittens können sie einem ›realistischen‹ (realistic) oder ›phantastischen‹ (fantastic) Paradigma folgen, sowie, viertens, entweder ›stabil‹ (stable) oder ›unstabil‹ (unstable) sein. Stabil ist im Sinne von MartínezBonati eine Welt, wenn sie von einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung hervorgebracht wird (conventional (authorial) narrator), unstabil ist sie hingegen, wenn sie allein aus der Perspektive einer Figur vermittelt wird – insofern ist der von Martínez-Bonati geprägte Begriff der ›stabilen Welt‹ nicht identisch mit der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen stabiler und flexibler Raum-Zeit-Relation, vgl. Félix Martínez-Bonati: »Towards a Formal Ontology of Fictional Worlds«. In: Philosophy and Literature 7 (1983), H. 2, S. 182–195. 510 Mein Verständnis von Raum (im spezifischen Zusammenspiel mit den Kategorien ›Sujethaftigkeit‹ und ›Figur‹) ist angelehnt an Jurij M. Lotmans gängiges Modell der Raumsemantik,
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derwelten‹ – wie das Reich der Sylphen im Simplicissimus – durch ihre Lage in der Geographie der erzählten Welt oder – wie im Brissonetus und im Faustbuch von 1725511 – zusätzlich durch Prädikate als ›wunderbar‹ markiert sein (s. u.). Bleibt ihr Status durchgehend gleich, handelt es sich um eine ›statische‹ pluriregionale Welt, ändert sich das Wirklichkeitssystem der Räume (z. B. dadurch, dass sie vom Helden erobert werden), sind sie ›dynamisch‹. Die Frage nach der raumzeitlichen Kohärenz der erzählten Welt stellt sich – wie gerade ausgeführt – einerseits mit Blick auf ihre Struktur und andererseits mit Blick auf die Bewegungen der Figuren. Raum und Zeit, die sich während der Bewegung von Figuren konstituieren, können ›stabil‹ oder ›flexibel‹ sein. Im ersten Fall sind sie als abstraktes System unabhängig von der Bewegung der Figuren (absolviert eine Figur zwei Mal dieselbe Reise, dann sind in beiden Reisen Distanz und Dauer identisch); im zweiten Fall ist die Raum-Zeit-Relation in der Bewegung den funktionalen Erfordernissen der Handlung angepasst.512 Gilt es beispielsweise die Bewährung des Helden vorzuführen, dann ist die Reise lang und beschwerlich, wird dieselbe Reise aber nicht als solche funktionalisiert, spielt die Konsistenz der Raumzeit eine untergeordnete Rolle, es kommt dann eher darauf an, schnell das Ziel zu erreichen. Diese Verkürzung kann wie im mittelalterichen Orendel, der allein in Prosa- und Versfassungen des 15. und 16. Jahrhunderts vorliegt, durch göttliches Eingreifen motiviert sein: »Do halff jn got der herr / das sy siben tagraiß in dreyen tagen rytten«.513 Ausdruck findet || vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 327– 367. 511 Zu den topischen magischen Sonderräumen zählen auch Gärten, die nicht dem natürlichen Zyklus des Jahreszeitenwechsels unterworfen sind. Fausts »Lust-Garten gleichte sich fast dem Paradiese, welcher von keinen Winter wuste; denn das gantze Jahr grFnete das mit allerley B(umen vermengte Laub und Gras; der sch=nsten von mancherley Art Trauben beh(ngten Weinst=cke, welche Winter und Sommer reiff, hiengen da, wie auch der pr(chtigsten Tulpen, gefFlten Joseph-St(be und Narcissen, ingleichen der vielf(rbigen Blumen und Rosen, wurde man daselbst in grosser Menge gewahr«. Doch dies »bezauberte Lust-Revier« verheimlicht Faust, denn »diese verblendete Vorstellung [war] von so gar FbernatFrlicher Wirckung, daß er besorgen muste, es m=chten durch den Anblick derselben die Leute noch mehr in dem von ihm gesch=pfften Wahne der Zauberey gest(rcket werden«, vgl. Das Faustbuch des christlich Meynenden. Nach dem Druck von 1725. Hrsg. von Siegfried Szamatólski. Stuttgart 1891 (Reprint: Nendeln 1968), S. 12, H. i. O. Im Folgenden zitiert mit der Sigle FB (1725). 512 Uta Störmer-Caysa betont den räumlichen Aspekt des Phänomens und spricht in diesem Zusammenhang von ›biegsamen Landschaften‹, die sie unter anderem am Daniel-Roman des Strickers beschreibt ([Anm. 197], S. 70, 74 f.); vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 155. 513 Zitiert nach der Prosafassung: Von dem vntrenlichen vngen(ten Rock vnsers herren Jesu christi, den im sein ausserwelte mGter, unser liebe fraw, die ewig fruchtbar vnn […]. Augspurg 1512 (Digitalisat: VD16 ZV 12008), n. p. (Bl. 24r). Ähnlich heißt es bereits vorher von der Reise
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diese Form der raumzeitlichen Überbrückung – wie zum Beispiel im Ritter Galmy (vgl. Kap. 7) – implizit unter anderem in der Phrase »in kurtzer zeit«, durch die zwei Ereignisse unabhängig von ihrer raumzeitlichen Distanz zusammengeführt werden. Beispiellektüre 15: pluriregionale Welt in Messerschmidts »Brissonetus« Ein anschauliches Beispiel für eine dynamische pluriregionale Welt ist Hartmanns von Aue Erec (um 1180), der Georg Messerschmidts Brissonetus (1559)514 als Prätext zugrunde liegt. In der Joie de la curt-Aventiure des Erec bildet der Baumgarten Mabonagrins einen klar abgegrenzten und als magisch gekennzeichneten temporalen Sonderraum, in dem sich der Held bewähren muss. Erec begegnet auf dem Weg zum Artushof achtzig Witwen und erfährt, dass ihre Ritter von Mabonagrin, der im zeitlosen Baumgarten lebt, erschlagen wurden. Abgeschlossen wird dieser paradiesische Garten, in dem die Zeit für die Bewohner und die Natur stillsteht, von einer geheimnisvollen Wolke. Insofern innerhalb dieses Raumes die zeitliche Sukzession außer Kraft gesetzt zu sein scheint,515 bildet der Garten einen temporalen Sonderraum.516 Nachdem Erec Mabonagrin überwindet und drei Mal das Horn bläst, verschwindet die Grenze zwischen dem magischen Garten und der Außenwelt: »nû wart âne twâle / wider dem alten site getân« (Erec, V. 9643 f.).517 In diesem Sinne ist der temporale Sonderraum ›dynamisch‹.518 In Messerschmidts Brissonetus wird ebenso eine raumzeitlich heterogene Welt entworfen, die strukturell an den höfischen Roman anknüpft. Erzählt wird
|| des Königs Arenndel: »Solch groß not erbarmet den Ewigen gottes sun vnd sandt jm ainen Enngel der jn erl=ßt auß dem k(rcher vnd jn fGrtt auff das recht pfadt vnd die wolgepanten straß die gott der herr vmb vnnsers hailes willen offt gen Jerusalem gangen hat / dar hete er dannoch siben Tagraiß / die weißt jm der engel gottes in dreyen tagen« (Bl. 9r). 514 Georg Messerschmidt: Brissonetus. Hrsg. von Joachim Knape. Tübingen 1988. Im Folgenden werden Zitate mit der Sigle B im Haupttext nachgewiesen. 515 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 197), S. 203. 516 Vgl. Nitsche (Anm. 508), S. 68–71. 517 Zitiert nach Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. v. Manfred Günter Scholz. Übers. v. Susanne Held. Frankfurt a. M. 2007. 518 Einem statischen temporalen Sonderraum begegnet Wigamur im Rahmen der EudisÂventiure. Den Bezugspunkt der Episode bildet eine Linde, die man Eudis stehlen will: Sie liegt an einem locus amoenus und die Jahreszeiten entfalten keine Wirkung an diesem Ort. Darüber hinaus liegt unweit eine Quelle, die das Altern im dreißigstens Lebensjahr stoppt, vgl. die Beschreibung im Wigamur, V. 1597–1633, Wigamur. Kritische Edition – Übersetzung – Kommentar. Hrsg. von Nathanael Busch. Berlin/New York 2009, S. 91–93.
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der Aufstieg des gleichnamigen Helden. Durch tugendhaftes Verhalten und Bewährungsabenteuer wird der Genueser Edelmannssohn Brissonetus, der betont, dass er sich nicht, wie Erec »an den h=fen […] verligen wolt« (B 88), Gemahl der Königin Verecunda und König des Reiches Pius Amor. Der Roman ist in zweifacher Hinsicht überaus artifiziell angelegt: Erstens ist die Handlung in Dreierreihen – also entlang von Äquivalenzen – komponiert519 und wird, zweitens, in zwei kategorial verschiedenen Räumen mit je eigenen Zeitvorstellungen durchgespielt. Zum realistischen Raum zählen Italien und ein Großteil derjenigen Länder, die Brissonetus auf dem Weg ins Reich Pius Amor durchreist. Geprägt ist dieser Raum von einer linearen Zeit, die sich im dreigliedrigen Bildungs- und Dienstweg des Helden zeigt, an dessen Ende er zum Ritter geschlagen wird. Der zweite Raum ist als ›wunderbar‹ markiert.520 Bevor Brissonetus nämlich Pius Amor erreicht, begegnet er drei Mal sprechenden Tierkönigen, die ihn bitten, Rücksicht auf ihr Volk zu nehmen.521 Den Mittelpunkt des Reiches, das Brissonetus zu erreichen sucht, bildet die Hauptstadt Clytonopolis, die von der progressiv verlaufenden Zeit der restlichen Teile der erzählten Welt nicht beeinflusst wird. Erst dadurch, dass Brissonetus die drei Aufgaben der Königin erfüllt, wird der Raum temporalisiert. Auch in diesem Fall handelt es sich also um eine dynamische pluriregionale Welt. Die Handlung des Romans ist in zwei Dreierreihen organisiert, die sowohl im realistischen als auch wunderbaren Raum durchgespielt werden. In der ersten Dreierreihe bewährt sich Brissonetus durch sein Handeln: Zuhause und an den italienischen Höfen durch vorbildhaftes Verhalten und Dienst; auf dem Weg ins und im Reich Pius Amor durch milte.522 Die Etappen korrespondieren
|| 519 Vgl. Herfried Vögel: »Erzählerische Bedeutungskonstituierung in Georg Messerschmidts ›Brissonetus‹ (1559)«. In: Wolfgang Harms/Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Mittelalterliche Denkund Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Amsterdam/Atlanta 1993, S. 175–195, hier S. 184. 520 Vögel klassifiziert den Raum als ›phantastisch‹ und ›allegorisch‹, vgl. Vögel (Anm. 519), S. 183; S. 186: Er versteht beide Räume als zwei »Wirklichkeitsebenen« (›empirisch‹ vs. ›allegorisch‹), zwischen denen die Übergänge »fließend« seien. 521 Als Brissonetus auf König Morinus trifft und ihn sprechen hört, »verwundert [er] sich sehr« (B 125); Brissonetus »ward […] sich hoch verwundern / dessen«, dass der Entenkönig Anataster zu ihm gesprochen hat, »denn er nit gewont was die v=gel reden zu h=ren« (B 129). Auch bei der letzten Begegnung fällt Brissonetus’ Reaktion gleich aus: Er »verwunderet sich des K=nigs Mellissi reden / dieweil er also ein vnachtbars v=gelin was« (B 132). 522 Viele der Bewerber haben die Königin und ihr Reich nie erreicht, denn, so betont sie, »jhr leben was Gottloß vnd vnmilt / in arme nothgetrengte leut« (B 149). Gerade in der Betonung der milte (humilitas) als Herrschertugend zeigt sich – über die strukturelle Anlage hinaus – die Nähe des Brissonetus zum höfischen Roman des Mittelalters.
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dabei mit Raumwechseln. Sein Aufstieg verläuft vom Hause der Eltern in Genua über die Zeit bei seinem Onkel Migdonius Baptista in Pisa bis zum Dienst für den Grafen Wilhelm in Luca.523 Im wunderbaren Raum passiert Brissonetus das Königreich Mirmidonia (oder Formicaria), die Insel Stagne und das Königreich Apiaria, bevor er dann die drei Aufgaben in drei Schlossteilen (Castrum Tentationis, Bone Spei, Arx Premij) absolviert. In der zweiten Reihe empfängt er Rat und Hilfe: Sein Lehrer, sein Onkel und Graf Wilhelm geben ihm Ratschläge für die Reise nach Pius Amor; die Tierkönige Antaster, Morinus und Mellissuis, denen gegenüber Brissonetus großmütig war, helfen ihm, die Proben auf dem Schloss Bone Spei zu bestehen. Auch in diesem Fall korrelieren die einzelnen Etappen mit Raumwechseln, denn die drei Aufgaben werden in den drei Bereichen des Schlosses gestellt. Diese spezifische Raum-Handlungs-Komposition trägt zwei unterschiedlich strukturierte Konzepte von Zeit: ein lineares und ein ›unzeitliches‹. Die Handlung im realistischen Raum wird nicht besonders konkret, aber in weiter Vergangenheit verortet (»vor alten vnd lang vergangenen zeiten«, B 7). Innerhalb der Handlungsreihe jedoch sind die einzelnen Stationen und Aufenthalte durch Zeitangaben koordiniert, sodass konsistente und kohärente Abschnitte entstehen.524 Die Handlungsreihen außerhalb des realistischen Raums sind durch den Kampf mit dem Krokodil und das Durchqueren des Tales Cartana (B 117–122) deutlich von der ersten getrennt. Die wunderbaren Begegnungen des Helden || 523 Brissonetus absolviert diese Reiseroute mehrmals: Zum ersten Mal als er in die Dienste seines Onkels und des Grafen Wilhelm tritt. Nachdem er vom Herzog von Venedig zum Ritter geschlagen wurde, befreit ihn Graf Wilhelm von seinen Dienstverpflichtungen. Brissonetus reist daraufhin in umgekehrter Reihenfolge heim (Luca, Pisa, Genua). Während seines Aufenthalts in Genua trifft das Sendschreiben der Königin Verecunda ein. Um sich beraten zu lassen, bevor er die Reise ins Königreich Pius Amor antritt, fragt er seinen Lehrer in Genua, seinen Onkel und Graf Wilhelm um Rat (dritte Reihe). 524 Man erfährt, dass – als Brissonetus »sechs jar alt ward« – seine Eltern ihn »zu der lehr vnd schulen angehalten« (B 8) und ihm einen Hauslehrer an die Seite gestellt haben. Als Brissonetus »vngefehrlich sibenzehen jar« alt ist, bittet er die Eltern, dass sie ihm erlauben, »mit anderen Jungen vom Adel zu Genua / […] hinauß auff das weydwerck zu ziehen«, denn er hätte Lust »zu sch=nen pferden / guten hunden / zu rechtem abgerichtem federspiel / zu jagen / hetzen / beissen / v] deren gleichen« (B 10). Im Anschluss übertragen Regnerus Baptista und Benigna, Brissonetus’ Eltern, ihm die Verwaltung der Güter. Sie leben daraufhin noch »etwan fFnff jar« (B 19). Brissonetus, nun »zwey vnnd zweyntzig jar« alt (B 20), beschließt, sich in den ritterlichen Fähigkeiten zu üben, und geht deshalb zu seinem Onkel Migdonius in Pisa. Dort bleibt er »etwan mehr als zwey jar« (B 23, vgl. B 34). Biographische Altersangaben findet man allein zu Beginn des Romans, der Aufenthalt beim Grafen Wilhelm ist zeitlich unbestimmt wie auch die Reisen und Ereignisse vornehmlich mit Angaben zur Dauer koordiniert werden (B 83; B 85; B 94; B 96; B 107; B 109).
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mit den Tierkönigen sind nicht zeitlich spezifiziert. Allein die letzte Etappe des Wegs wird vom Bienenkönig raumzeitlich konkretisiert: »jhr werdet das landt Arabien in vier tagen / erreichen / vnnd denn in einer tagreyßen / das K=nigreich ergreiffen / vnd als denn fast bald / die stadt v] schloß Clytonopolim« (B 134). Die Stadt Clytonopolis mit dem Schloss Bone Spei trägt am deutlichsten die Eigenschaften eines temporalen Sonderraums. Bereits das Sendschreiben der Königin, das Brissonetus zur Reise veranlasst, endet mit einer scheinbar gewöhnlichen, aber im Detail aufschlussreichen Formel: »Geben in vnser stadt Clytonopolis / am zehenden tag / des monats Meyen / unsers reichs / inn vnuerd(chtlichen Jaren« (B 104). Aus der Erzählung des Bienenkönigs Mellissius geht des Weiteren hervor, dass das Reich, die Königin und die zu bewältigenden Abenteuer seit Jahrhunderten bestehen, denn es habens vonn anfang der welt her / gar viel grosser Keiser / K=nig / FFrsten vnd Herren / vnderstanden [in das Land Pius Amor zu kommen und die Königin zu gewinnen, L. W.] / aber es hat nit mFglich sein m=gen / wiewol etliche an geburt / jhr schier gleich gewesen / auch an ma]heit jnen nichts gemangelt (B 133).
Mellissius zählt in einer langen Liste alle Bewerber auf, »deren eins theils mechtige Keiser zu Rom vnd Constantinopel / eins theils mechtige vnd gewaltig K=nig / in Persia / Ponto / Grecia […] vnd anderßwo gewesen« (B 133 f.). Die Gefahr, der sich Brissonetus durch das Einlassen auf die Prüfungen aussetzt, liegt darin, dass er Teil dieses temporalen Sonderraums zu werden droht. Gelingt es ihm nämlich nicht, die Schlüssel aus dem tiefen Wassergraben zu holen (erste Aufgabe) oder die Hirse aus dem dichten Dornengestrüpp herauszusammeln (zweite Aufgabe), so muss er sein »lebenlang« ein »gefangner« der Königin sein und ihr »dienen« (B 139, vgl. B 143). Scheitert er bei der dritten Prüfung daran, aus drei identischen Frauen die wahre Königin zu erkennen, dann steht die Ewigkeit auf dem Spiel, denn dann wird er, »ewig in dienstbarkeit / gefangen sein vnd bleiben« (B 147).525 Mithilfe der Tierkönige besteht er die Abenteuer erfolgreich. Nachdem die Prüfungen absolviert sind, treten zwei signifikante Veränderungen in der erzählten Welt ein, durch die der Raum, der bis dahin geschlossen war, sich öffnet und gleichsam entzaubert wird. Die Veränderung wird aber
|| 525 Auch im Meliora-Abenteuer in der Melusine setzt derjenige, der die Aufgabe zu bestehen versucht, nicht allein sein Menschenleben aufs Spiel, sondern die Zeit bis zum Jüngsten Gericht: »welcher aber sein selbs mißhFtet. vnd in den dreÿen tagen oder nachten wenig oder vil entschlieff / das der dann alle sein lebtag vnd ewigklichen do belib piß an den iüngsten tag beÿ Meliora meiner tochter als ein gefangener Ritter« (M 140).
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nicht so expliziert markiert wie im Erec. Erstens ist das Schloss nicht mehr ein Ort ausschließlich weiblicher Figuren (bis zum letzten Abenteuer wird allein von der Königin und ihren Jungfrauen berichtet526), denn die Königin lässt nach den »r(then vnd Regiments Herren in der stadt / auch nach allen amptleuthen / landtpflegern / v=gten / vnnd verwesern im gantzen K=nigreich« (B 150) senden. Zweitens setzt mit seiner erfolgreichen Eroberung eine Temporalisierung ein. Während die Stadt und die Königin vorher – wie aus dem Sendschreiben und dem Bericht des Bienenkönigs hervorgeht – außerhalb der zeitlichen Sukzession standen, werden sie nun wieder integraler Bestandteil eines linearen Voranschreitens. Die Hochzeit von Verecunda und Brissonetus dauert »sechs wochen« (B 152). Sie regierten »lange jar« (B 154), bevor sie das Königreich an ihren ältesten Sohn Pius übergaben und sich schickten […] zu ruhen / so lang vnnd viel / biß Gott der Herr / mit jhnen ein begnFgen hie auff erden gehabt / vnnd sie satt jhrer jaren vnd alters / auß diesem zeitlichen leben / zu seinen Ewigen freuden / vnnd seligkeit / genomen hat (B 154).
Durch die Lösung der Aufgaben sowie durch die in Pius angedeutete, wenngleich allegorische Genealogie wird der temporale Sonderraum aufgelöst. Jene anhand des Brissonetus ausführlicher beschriebene temporale Heterogenität, die auf der räumlichen Ordnung der erzählten Welt basiert, verweist auf die ›Struktur‹ von Zeit, denn das Reich Amor Pius lässt sich vor seiner Eroberung durch Brissonetus als ›unzeitlich‹ beschreiben. Darüber hinaus lässt es sich nur sehr schwer in die bereits vorgeschlagenen analytischen Kategorien eingliedern. Deshalb schlage ich für all jene Phänomene, die das Spannungsfeld von Raum und Zeit betreffen, die Kategorie der ›Räumlichkeit‹ vor. Zu unterscheiden ist demnach zwischen ›uni‹- und ›pluriregionalen‹ Welten, die entweder ›statisch‹ oder ›dynamisch‹ sein können. Darüber hinaus ist mit Blick auf Figurenbewegungen zwischen ›stabilen‹ und ›flexiblen‹ raumzeitlichen Distanzen zu differenzieren.
4.2.4 Erzähle Zeiten II: die diegetische Dimension Ereignis, Figur, Raum und Zeit modellieren als Grundkonstituenten die erzählte Welt und stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, dies sollten die vorausgegangenen Ausführungen gezeigt haben. Dass aus ihrem Zusam|| 526 Allein ein Trompeter begleitet Modesta, die Brissonetus in der Stadt empfängt. Die Mannschaft, mit der Brissonetus reist, muss aber »zu feldt ligen bleiben / vor der stadt« (B 138).
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menspiel nicht eine einheitliche Zeitdimension hervorgeht, haben die RomanLektüren vorgeführt. Es gibt in den vorgestellten Texten nicht die eine homogene und linear fließende Zeit, die für die gesamte erzählte Welt gilt, sondern eine Reihe von Phänomenen, die in ihrer Rückbindung an die Grundelemente der erzählten Welt ›Zeiten‹ hervorbringen – die Pluralität betrifft vor allem die ›Konsistenz‹ von Zeit, ihre ›Subjektivität‹ und ›Räumlichkeit‹. Für die Erfassung dieser Zeit-Pluralität wurden folgende Begriffe vorgeschlagen: Das Ereignis als Zustandsveränderung verfügt über einen Markerwert, der das Vergehen von Zeit anzeigt und sich in der ›Spur‹ als einem indexikalischen Zeichen materialisiert. Ereignis und Spur begründen die zeitliche Kontinuität der Handlung, ihre ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹, das einfache Ereignis erfüllt diese Funktion für einen punktuellen Zusammenhang, die Spur hingegen über einen längerfristigen Zeitraum hinweg. Dort jedoch, wo dieser Zusammenhang unterbrochen oder in Frage gestellt ist, wie in Grimmelshausens Simplicissimus, geht eine Zeit hervor, die im Hinblick auf ihre ›Struktur‹ sowie auf ihre ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹ nicht durchgängig gleichartig gestaltet ist. Die Ereigniskumulation ist, so zeigte ein Blick auf den Lazaril, ein Phänomen der Gleichzeitigkeit, das die ›Dimensionalität‹ von Zeit auffächert. Für den Helden ergibt sich dabei die ›Gelegenheit‹ zum Handeln und für die Erzähler die Möglichkeit des Episodenbeginns und -abschlusses. Eine figurenbasierte Pluralität von Zeit entsteht zum einen durch die ›Eigenzeitlichkeit‹ von Helden, unabhängig davon, ob sie ›statisch‹ oder ›dynamisch‹ ist, und zum anderen mittels der Figurenwahrnehmung, die Zeit unterschiedlich lang oder kurz erscheinen lässt. Ersteres verrät etwas über die Funktionsweise der erzählten Welt, während Letzteres etwas über die Bedeutung einer subjektiven Perspektivierung des Gegenstandes und damit über Subjektivitäts- und Individualitätskonzepte aussagt. Beide Aspekte habe ich unter den Begriff der ›Subjektivität‹ gefasst, doch unterscheiden sie sich insofern, als der eine Aspekt eine Frage der Wahrnehmung ist, während der andere die Seinsordnung der erzählten Welt betrifft. Die räumliche Relationalität von Zeit lässt sich schwerlich anhand von einer der bereits entwickelten Kategorien beschreiben, deshalb wurde ›Räumlichkeit‹ als eigene Kategorie vorgeschlagen. Die räumliche Pluralität von Zeit zeigt sich entweder in der topographischen Struktur der erzählten Welt, wenn man es mit einer ›pluriregionalen‹ Welt zu tun hat, oder in der Bewegung einer Figur durch eine Welt, in der die Distanzen zwischen Orten nicht ›stabil‹ sind, sondern den Erfordernissen der Handlungsführung entsprechend variieren. Eine pluriregionale Welt kann ›statisch‹ sein, d. h. dass die Grenzen zwischen den raumzeitlich differenten Abschnitten der erzählten Welt fix sind (wie beim Sylphen-Reich im
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Simplicissimus, vgl. Kap. 9), oder sie kann ›dynamisch‹ sein, d. h. dass die Grenze zwischen den Räumen aufgelöst wird und die beiden raumzeitlichen Systeme zu einem verschmelzen wie im Brissonetus oder im Faustbuch des Christlich Meynenden. Die bislang als erzählerische oder diegetische Formaspekte vorgestellten Phänomene werden in den Romanen teils mit bestimmten semantischen Konzepten verknüpft. Im Leben vnd Wandel Lazaril von Tormes sind es das ›Glück‹ sowie die ›Gelegenheit‹. Melusine wird unter anderem aufgrund ihrer ›Eigenzeitlichkeit‹ mit Attributen des ›Fremden‹ und ›Wunderbaren‹ versehen, die auf ihre anderweltliche Abkunft hindeuten. Ebenso wird im Brissonetus das Reich Pius Amor mit einer Semantik des ›Wunderbaren‹ versehen. Zeitliche Phänomene werden dabei also mit nicht-zeitlichen Semantiken angereichert, in diesem Sinne fungieren die temporalen Phänomene als symbolischer Ausdruck der ihnen zugeschriebenen Semantiken. Das Wunderbare und Anderweltliche zeigt sich in der ›Pluriregionalität‹ und der figuralen ›Eigenzeitlichkeit‹. Jenseits dieser Funktionalisierung der temporalen Eigentümlichkeiten gibt es eine Reihe von semantischen Konzepten, die – wie das ›Glück‹ – einen genuin temporalen Kern besitzen. Diesen Begriffen und ihrer Geschichtlichkeit gilt das folgende Kapitel.
4.3 Zeit und Begriffe: die semantische Dimension Zeit als Interpretations- und Synthesebegriff steht am Ende eines Abstraktionsprozesses, bei dem aus dem Erzählten auf die Eigenheiten der Zeit zurückgeschlossen wird. Diese formale Perspektive auf den Gegenstand verdankt sich, mag sie auch historisch durch das Material fundiert sein, dem retrospektiven, erzähltheoretisch bestimmten Blick (Kap. 4.1 und Kap. 4.2). Eine komplementäre Perspektive auf Zeit geht von den historischen Eigenvorstellungen aus. Ordnungsgebend sind in diesem Fall nicht erzähltheoretische Systementwürfe, sondern die historisch dominanten Konzepte. Im Gegensatz zur philosophischen Auseinandersetzung mit Zeit wird in literarischen Erzähltexten der Frühen Neuzeit Zeit als abstraktes Konzept nicht ausgiebig und explizit verhandelt. Dort, wo sie zum Gegenstand wird, fungiert sie als Herrscherin über die Dinge und als Begründungsfigur für die Unbeständigkeit alles Irdischen. Das achte Buch in Daniel Casper von Lohensteins Arminius (1689/90), in dem der Roman mit der Heirat von Herrmann und Thußnelda einen ersten Höhepunkt erreicht, beginnt mit einem Hymnus auf die Macht der Zeit: DJe Zeit hat eine Botm(ßigkeit Fber alle Dinge. Sie bedecket gFldene Haare mit Schimmel; Rosen=Wangen mit Thon / Purper=Lippen mit Bleyweiß. Sie nFtzet Marmel mit Regen / Ertzt mit Feuer und Feilen ab; Sie zersprenget mit denen verschlossenen Winden die rauesten Felsen / und verkehret die Sternen in Asche. Sie leschet allem das Licht aus; ihr aber niemand. (AR I, 1173)
Dieser Macht der Zeit, die im Genuss »einen Tag zum Augenblicke« und im »Verlagen eine Nacht zum Jahre« (AR I, 1173) werden lässt, müssen sich auch die beiden Liebenden des Romans beugen. Jenes bei Lohenstein angeklungene Moment der Vergänglichkeit, das aber letztlich bei ihm zugunsten der Liebesdarstellung aufgegeben wird, ist in Philipp von Zesens Assenat (1670) deutlicher herausgestellt:527 Aber wie nichts unbest(ndiger ist / als die zeit; so seind auch alle / die in der zeit leben / mit lauter unbest(ndigkeit Fmfangen. Und wie nichts ver(nderlicher / nichts flFchtiger ist / als die zeit; so ist auch die zeitliche gesundheit / die zeitliche freude / ja alles was zeitlich ist / der flucht und ver(nderung unterworfen. (AS 304)
|| 527 Mit der Sigle AS nachgewiesen, zitiert nach: Philipp von Zesen: Assenat. Hrsg. von Volker Meid. Tübingen 1967.
DOI 10.1515/9783110566857-007
164 | Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität
Auch als allegorische Gestalt wird Zeit vereinzelt funktionalisiert. So bei der Beisetzung des Kaisers Augustus zu Beginn des sechsten Buches im zweiten Teil von Lohensteins Roman. Dort wird Zeit »in Gestalt eines Eiß=grauen Alten« mit einer zerbrochenen Sanduhr präsentiert, der als Sinnbild für die Vergänglichkeit alles Irdischen steht. Erläuternde Verse begleiten das allegorische Bild: Die Zeit / die Stein und Stahl sich selbst und alles frißt / Hat nichts zur Welt gebracht / was sie nicht muß verzehren / Versincken St(dt’ und Land? falln Sterne? was beschweren Sich Menschen? derer Ziel man nur nach Spannen mißt. (AR II, 954).
Diese Formen der Thematisierung, wie sie nicht nur im Arminius und in der Assenat begegnen, sind meist punktuell und strukturell nicht relevant für das Erzählen und die Funktionsweise der erzählten Welt. Jenseits dieser expliziten Thematisierungsformen sind Zeitvorstellungen in Erzähltexten der Frühen Neuzeit aber in einer Reihe von geläufigen Begriffen und Begriffskonstellationen impliziert. So werden beispielsweise im Brissonetus ›Zeit‹ und ›Ewigkeit‹ von Migdonius kontrastiert, als er Brissonetus lobt: »er het kein klag oder mangel an jhm / er solte also beharren / Gott vnd seinen gnedigen Herren vor augen haben / so wFrde es jhm hie zeitlich vnd leiblich / vnd dort Ewiglich wol ergehn« (B 37). Oder in einem zweiten Kontext: Wie bereits gezeigt, erklärt der Erzähler in Grimmelshausens Keuschem Joseph den Zeitpunkt bestimmter Ereignisse mittels der göttlichen Vorsehung (vgl. Kap. 4.1.3). Oder in einem dritten Kontext: Wenn Schelmuffsky berichtet, dass er sich »bis in das zwölffte Jahr [seines] Alters« von Ziegenmilch ernährte (Schel 16) und »in den 24. Jahre [seines] Alters« seine »gefährliche Reise« antritt (Schel 20), segmentiert er seine biographische Zeit durch Altersangaben. Und schließlich ein vierter Zusammenhang: Im ersten Satz von Grimmelshauses Simplicissimus wird auf die Vorstellung angespielt, dass die Zeit, in der man lebt, die »letzte« sei (ST 17). Die dahinterstehende Idee von Weltaltern ist im Roman aber kein verlässlicher Ordnungsgedanke, sondern nur »Thematisierung und zugleich Ironisierung der frühneuzeitlichen Endzeit-Erwartung«.528 Diese vier Beispiele betreffen zwar unterschiedliche Aspekte, aber in ihrem Zusammenspiel – wie zu zeigen ist – sind sie nicht beliebig. Begriffskonstellationen wie diese repräsentieren in ihrem systemischen Zusammenhang kulturell signifikante Vorstellungen – einen ›kulturellen Code‹ (Thomas Kaufmann), der als »Deutungsmatrix« für
|| 528 Breuer, Kommentar, S. 797.
Zeit und Begriffe: die semantische Dimension | 165
Figuren, Erzähler und Rezipienten dient.529 Sie sind in Erzähltexten also nicht nur als punktuelle Wissenspartikel präsent, sondern sie geben aufgrund ihres ordnenden Charakters Aufschluss über den Aufbau der erzählten Welt. Die Verwendung dieser Begriffe, ihr semantischer und funktionaler Wandel lassen ebenso wie die Veränderungen des formalen Zusammenspiels erzählerischer und diegetischer Elemente die Historizität von Zeitkonzepten anschaulich werden. Eine solche Perspektive, die anhand von Begriffen historisch spezifische Vorstellungen und ihren Wandel rekonstruieren will, ist dem methodischen Programm einer ›Historischen Semantik‹ verpflichtet. Um die Möglichkeiten und Grenzen dieser Perspektive im Rahmen einer historischen Narratologie zu bestimmen, seien einige methodische Überlegungen vorangestellt. Gegenstand einer ›Historischen Semantik‹, wie sie maßgeblich von Reinhart Koselleck entworfen wurde, sind »Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung«, durch deren Analyse »Strukturen und große Ereigniszusammenhänge erschlossen werden können«.530 Ziel ist es insbesondere, anhand der Untersuchung des begrifflichen Bedeutungswandels zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert »die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt« sichtbar werden zu lassen.531 Dem ›Begriff‹ kommt dabei eine Schlüsselposition zu, denn er geht über das ›Wort‹ hinaus: »Er bündelt die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird«.532 Während die »Bedeutung eines Wortes« auf das »Bedeutete« deutet, muss ein »Begriff dagegen [...] vieldeutig bleiben, um Begriff sein zu können«.533 Deshalb kann er nicht ›definiert‹, sondern muss ›interpretiert‹ werden. Darin liegt das Potenzial zur Historisierung: »[D]ie diachronische Tiefengliederung eines Begriffs erschließt langfristige Strukturänderungen«,534 denn nur so können historisch bedingte Interpretationsunterschiede nachgezeichnet werden.
|| 529 Als einen ›kulturellen Code‹ und ein ›geistiges Instrumentarium‹ des 16. Jahrhunderts versteht Thomas Kaufmann Apokalyptik, vgl. Thomas Kaufmann: »Apokalyptische Deutung und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts«. In: Arndt Bredecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007, S. 411–453, hier S. 416–422 und S. 414 f. 530 Koselleck (Anm. 54), S. XIII f. 531 Koselleck (Anm. 54), S. XIV. 532 Koselleck (Anm. 54), S. XXIII. 533 Koselleck (Anm. 54), S. XXII. 534 Koselleck (Anm. 54), S. XXI.
166 | Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität
Vier Grundfragen sind für einen heuristischen Rückgriff auf die Historische Semantik, wie sie hier für temporale Begriffe angestrebt wird, zu klären: die Frage nach dem Verhältnis von ›Bezeichnungen‹ (Wörtern) und ›Begriffen‹; die Frage nach der kulturellen Signifikanz von Begriffen; die Frage nach der Konsistenz und der historischen Variabilität von Begriffen; und die Frage nach der literarischen Texten eingeschriebenen ›geschichtlichen Erfahrung‹. Gegenstand einer Annäherung an Zeitvorstellungen aus der Perspektive einer kulturgeschichtlich interessierten Historischen Semantik können schwerlich bloße ›Wörter‹, deren Bedeutungsgehalt relativ einfach rekonstruierbar ist, oder ›Symbole‹ sein, die auf konventionalisierten Verweisstrukturen basieren. Koselleck sieht in den ›Sachverhalten‹, die hinter den Wörtern stehen, das eigentliche Untersuchungsobjekt.535 Bei probaten Begriffen handelt es sich meist nicht um »einfache sinnliche Realitäten«,536 sondern um ›komplexe Bedeutungsgehalte‹, die »Bedeutungsfülle« besitzen.537 Zwar sind Begriffe »mehr oder weniger stabilisierte, elementarere oder entwickeltere geistige Konzepte der Orientierung«,538 doch haben sie immer auch ein »Moment des Opaken, d. h. der Undurchschaubarkeit«. Und diese ist, wie Ernst Wolfgang Orth folgert, »der Preis für weitere Klärungsbemühungen und Klärungsmöglichkeiten, eben für Begriffswandel«.539 Die Summe der kulturellen Äußerungen konturiert folglich den Sachverhalt und macht ihn so zum »Teil des sozialen gemeinsamen Wissens einer Diskursgemeinschaft«.540 Es kann also bei der Analyse von Zeitvorstellungen nicht um die symbolische Aufladung geläufiger Bedeutungsträger wie ›Tag‹ und ›Nacht‹ oder ›Morgen‹, ›Mittag‹ und ›Abend‹ gehen.541 Für eine Historische Semantik hingegen müssen Begriffe ausgewählt werden, die mehrschichtig angelegt sind und damit Raum für Interpretationen und somit die Möglichkeit der Historisierung bieten. Zudem muss den ausgewählten Begriffen eine kulturelle »Schlüsselstel|| 535 Vgl. Koselleck (Anm. 54), S. XV; Dietrich Busse spricht, wenn er den ›einfachen Bedeutungsgehalt‹ meint, vom ›Gegenstand der Benennung‹ bzw. vom ›Bezogenen der Wortverwendung‹, die Kosellecks »›Sachverhalt‹ übersteigt« (Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987, S. 84). 536 Ernst Wolfgang Orth: »Theoretische Bedingungen und methodische Reichweite der Begriffsgeschichte«. In: Reinhart Koselleck (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1978, S. 136–153, hier S. 142. 537 Koselleck (Anm. 54), S. XXIII. 538 Orth (Anm. 536), S. 141. 539 Orth (Anm. 536), S. 145. 540 Busse (Anm. 535), S. 84. 541 Freilich können auch diese in besonderem Maße mit Bedeutung aufgeladen werden, aber dann handelt es sich weniger um eine Etappe in einem semantischen Veränderungsprozess, als vielmehr um eine punktuelle Besetzung mit Bedeutung.
Zeit und Begriffe: die semantische Dimension | 167
lung zugesprochen« werden,542 sodass »epochenspezifische Bedeutungsgehalte« herausgearbeitet werden können.543 Eine Schlüsselstellung erlangen die Begriffe, wenn sie nicht den Zugriff auf isolierte Phänomene erlauben, sondern gleichsam größere Zusammenhänge – im besten Fall ein ganzes konzeptuelles System – erschließen. Was bedeutet dies nun konkret für die Auswahl temporaler Begriffe? Vier in Erzähltexten der Frühen Neuzeit auftretende Begriffe/Begriffskonstellationen und ihr systemischer Zusammenhang erfüllen meines Erachtens die gestellten Anforderungen in besonderem Maße. Dies sind, erstens, die Dichotomie von Zeitlichkeit und Ewigkeit (Kap. 4.3.1), zweitens, Vorstellungen über den Einfluss von Providenz und Kontingenz (Kap. 4.3.2) sowie drittens Lebens- und, viertens, Weltaltermodelle (Kap. 4.3.3 und Kap. 4.3.4). Diese sich in Begriffen niederschlagenden Konzepte besitzen temporale Implikationen und erschließen größere kulturhistorische Zusammenhänge, denn sie bilden keine solitären Zugriffe auf Zeit und Welt, sondern formieren durch Analogien, Überschneidungen und Bedingungsverhältnisse ein variables konzeptuelles Feld. Die normativen Implikationen der Dichotomie von Zeitlichkeit und Ewigkeit, die vielfältigen Ausdrücke, die für die Vermittlung einer kontingenten oder providenziellen Welt eingesetzt werden, sowie die unterschiedlichen Lebens- und Weltaltermodelle lassen die Komplexität dieser Begriffe, ihr opakes Moment und damit ihre Historizität sichtbar werden. Das unterscheidet diese Begriffe z. B. von der deutenden Auslegung der »zw=lff gezeiten deß Jars« im Ismenius.544 Ziel des folgenden Kapitels ist es, eine Reihe von temporal aufgeladenen und für die Frühe Neuzeit spezifischen Begriffen vorzustellen und ihre Relevanz für die Erzählweise und die erzählte Welt zu bestimmen. Das Besondere dieser Begriffe ist der systemische Zusammenhang, in dem sie stehen: Sie variieren trotz ihrer Unterschiedlichkeit eine temporale Ordnungsfigur, die vor allem den ›Horizont‹ von Zeit betrifft und sie als ›geschlossen‹ erscheinen lässt. Die historischen Ausführungen können dabei nur selektiv und verkürzend sein, sie zielen vornehmlich auf die Herausarbeitung der implizierten temporalen Konzepte und nicht auf eine kaum erreichbare historische Vollständigkeit.
|| 542 Kathrin Kollmeier: »Begriffsgeschichte und Historische Semantik«. In: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung (http://docupedia. de/zg), S. 1–18, hier S. 2. 543 Kollmeier (Anm. 542), S. 5. 544 Vgl. Ismenius 1573, Bl. 54v–66r.
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4.3.1 Zeitlichkeit und Ewigkeit: Begrenztheit, Wandelbarkeit und Nacheinander Die Diskussionen um das Verhältnis von ›Zeitlichkeit‹ und ›Ewigkeit‹ sind genuin philosophischer und theologischer Herkunft. Als basale Konzepte gehen sie aber gleichermaßen in die Emblematik545 wie Literatur der Frühen Neuzeit ein.546 Ein polyhistorisches, katholisch geprägtes Panorama der frühneuzeitlichen Vorstellungen von Zeit und Ewigkeit bietet – um ein Beispiel herauszugreifen – die Waagschale der Zeit und Ewigkeit (dt. 1663) des spanischen Jesuiten Juan Eusebio Nieremberg, die in Latein ebenso vorlag wie in anderen europäischen Sprachen.547 Bereits der Titel deutet auf die programmatische Differenz als thematische Klammer für Nierembergs Ausführungen hin. Nieremberg geht es weniger darum, einzelne theoretische Positionen zur Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit im Detail zu rekonstruieren, als vielmehr darum, anhand von historischem Material die Bedeutung dieser Differenz für die konkrete Lebensführung herauszustellen: »Ach daß doch die Menschen«, so sein leitender Wunsch, einmal erwacheten / die Augen aufthun / und den Unterscheid zwischen dem Zeitlichen und Ewigen erkennen wolten / daß sie lerneten / was von einem jeden zu halten / und
|| 545 Vgl. z. B. Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar 1996, S. 9 und S. 654. 546 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967, S. 75–83; Eberhard Mannack: »Zeitlichkeit und Ewigkeit in deutscher Barock-Literatur«. In: Sven-Aage Jørgensen (Hrsg.): Fortschritt ohne Ende – Ende des Fortschritts? Vorträge des Symposions, abgehalten am 11.–12. April 1994 im Goethe-Institut Kopenhagen. Kopenhagen 1995, S. 46–57; Andreas Blödorn: »Zeitumkehr. Beobachtungen zur Visualität einer paradoxen Denkfigur und zum Verhältnis von ›Zeitlichkeit‹ und ›Ewigkeit‹ in barocker Lyrik«. In: Wojciech Kunicki (Hrsg.): Breslau und die Welt. Festschrift für Prof. Dr. Irena Światłowska-Pre̜ dota zum 65. Geburtstag. Breslau 2009, S. 71–83. 547 Die Auseinandersetzung Nierembergs mit der Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit lag zunächst auf Spanisch vor (1640) und avancierte schnell zu einem von Nierembergs bekanntesten Texten. Über eine italienische Fassung wurde der Text ins Deutsche übertragen. Ich zitiere nach der späteren Würzburger Ausgabe von 1695, die digitalisiert vorliegt: Juan Eusebio Nieremberg: Waagschale Der Zeit und Ewigkeit. Oder: Der Unterscheid zwischen dem Zeitlichen und Ewigen. […] Würtzburg 1695 (Digitalisat VD17 12:105814M); vgl. zudem Werner (Anm. 468), dort untersuche ich das Konzept der Gleichzeitigkeit in einer breiteren Perspektive; Ideen und Passagen entstammen teils den dortigen Ausführungen.
Zeit und Begriffe: die semantische Dimension | 169
dasjenige / so mit der Zeit vergehet / verachten / im Gegentheil aber dasjenige hoch sch(tzten / was ewig bleibet!548
Die von Nieremberg referierten Konzepte von Zeit und Ewigkeit sind aufgrund des verfolgten Interesses normativ. In der darstellerischen Reduktion bedient er sich kultureller Sedimente,549 die er in metaphorischer Sprache in seine Argumentation wider die ›zeitlichen Güter‹ und zugunsten der ›ewigen Seligkeit‹ überträgt. Die ›Ewigkeit‹ erläutert er im Rückgriff auf unterschiedliche Bilder: Sie ist ein unergrFndliches Meer / darinn kein Grund zu finden; eine dunckele H=le / darinn sich der gantze menschliche Verstand verliert; ein verworrener Irrgarten / daraus niemand kommen kan; eine ewige Gegenw(rtigkeit / darinn nichts vergangenes noch zukFnfftiges anzutreffen; Ein langes Jahr / das alle Tage von neuen anhebet und sich nimmermehr endiget; kutzab / ein solches Ding / daran man all sein Lebenlang zu studiren hat / und doch nimmermehr auslernen kan.550
Oder er liefert – in Anlehnung an den Kirchenlehrer Gregor von Nazianz – eine Definition ex negativo: »Die Ewigkeit kan keine Zeit genennet werden / auch kein StFck von der Zeit / dann die Zeit samt ihren StFcken vergehet / aber die Ewigkeit vergeht nimmermehr«.551 In Nierembergs Kompilation von historischen Exempeln und philosophischen Positionen antiker wie christlicher Autoritäten zeichnen sich einige wiederkehrende Eigenschaften ab, die die konzeptuellen Säulen seiner Begriffe von Ewigkeit und Zeit ausmachen. Die zugeschriebenen Eigenschaften stehen dabei einander diametral gegenüber. ›Unendlichkeit‹, ›Unwandelbarkeit‹ und ›Gleichzeitigkeit‹ seien charakteristische Eigenschaften der Ewigkeit; Zeit hingegen sei bestimmt von ›Begrenztheit‹, ›Veränderung‹ und einem steten ›Nacheinander‹. Zeit und Ewigkeit schließen aber einander nicht grundsätzlich aus: Zeitlichkeit und Ewigkeit – als Dimensionen und nicht in ihrem normativen Verständnis – umfassen vielmehr zusammen die Gesamtheit der göttlichen Ordnung. Soweit die konzeptuellen Umrisse von Nierembergs Gegenüberstellung. Die drei Zeit und Ewigkeit zugeschriebenen Eigenschaftspaare seien im Folgenden kurz expliziert.
|| 548 Nieremberg (Anm. 547), S. 5. 549 Zentrale Aspekte der Dichotomie von Zeitlichkeit und Ewigkeit, wie sie Nieremberg entwirft, finden sich ebenso in Andreas Gryphius’ Dichtung, vgl. Voßkamp (Anm. 546), S. 75–83. 550 Nieremberg (Anm. 547), S. 45. 551 Nieremberg (Anm. 547), S. 45.
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Eine »Eigenschafft« der Ewigkeit ist, dass »sie allezeit / ohne Ver(nderung / verbleibe«552 und dass sie »begreiffet alle Zeit in sich / das Vergangene / das Gegenw(rtige und das ZukFnfftige«.553 Die Ewigkeit ist nicht mittels der Unterscheidung von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart erfassbar, da ihr das Moment der Wandlung fehlt.554 Sie ist ein »ewigw(hrende[r] Augenblick«,555 welcher allezeit w(hret / stillstehet / und sich nicht beweget / indem alle Zeiten durch sie (die Ewigkeit) hinlauffen / und einander nachfolgen; sie aber / ohne Ver(nderung / in allen Zeiten sich gegenw(rtig findet.556
Wie Nieremberg im Rückgriff auf Aristoteles’ Bestimmung der Zeit ausführt, ist die Zeit demgegenüber »ein zuf(lliges Werck eines solchen unbest(ndigen Dinges / nemlich der Bewegung«.557 In diesem wie in einem metaphorischen Sinne ist alles Zeitlichliche »flFchtig«;558 diese Veränderlichkeit der Zeit fasst Nieremberg in das Bild eines dahinströmenden Flusses: Die Zeit / wie auch alle andere zeitliche Sachen / k=nnen nicht unbillig mit einem ungestFmmen Fluß verglichen werden / da die Wellen einander mit grosser Eil forttreiben / nimmer stillstehen / und sich allezeit bewegen.559
Im Gegensatz zur Zeit, so führt Nieremberg die Metapher fort, ist die Ewigkeit ein ›unbeweglicher Fels‹ oder der Grund des Flusses, über den die Zeit hinwegfließt. Kennzeichnend für die Ewigkeit sei, dass sie nicht der »Ver(nderung unterworffen« ist.560 Die Ewigkeit hat darüber hinaus »keinen gewissen Termin oder Ende«.561 Die Begrenztheit der Zeit mache aber jede Zeitspanne, so lang sie || 552 Nieremberg (Anm. 547), S. 84. 553 Nieremberg (Anm. 547), S. 56. 554 Nieremberg (Anm. 547), S. 47: »Die Ewigkeit ist unwandelbar und keiner Ver(nderung unterw=rffen: Unsterblich ist sie / dieweil sie von keinem Ende nicht weiß: Sie ist der Verwesung nicht unterworffen / dann sie kan nicht abnehmen.« 555 Nieremberg (Anm. 547), S. 56. 556 Nieremberg (Anm. 547), S. 57. 557 Nieremberg (Anm. 547), S. 105. 558 Nieremberg (Anm. 547), S. 10. 559 Nieremberg (Anm. 547), S. 57. 560 Nieremberg (Anm. 547), S. 87. Die Zeit hingegen führt dazu, dass sich etwas verändert, sei es realiter oder auch nur in der Wahrnehmung: »[Denn d]ie Zeit hat sonsten die Eigenschafft / daß sie einen habitum macht (da man nemlich eines Dinges mit der Zeit gewohnet) und alle Sachen schw(chet / daß sie ihre Krafft und St(rke verlieren: was einem Anfangs fremd und seltzam vorkam / das wird mit der Zeit und durch die t(gliche Gewonheit leicht und ertr(glich […]« (Nieremberg [Anm. 547], S. 46). 561 Nieremberg (Anm. 547), S. 87.
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dem Menschen auch vorkommen mag, kurz: »Alles was ein Ende nimmt / das ist vor kurtz zu halten«, denn [t]ausend Jahre nehmen ein Ende / hundert tausend auch / ja hundert tausend Millionen Jahre haben ihre Endschafft: Darum alle diese Zeit / so uns so lang bedFncket / ist vor kurtz / ja nur vor ein Augenblick zu achten / wann sie gegen die Ewigkeit gehalten wird.562
Wie mit der Ewigkeit eine besondere Form der Gleichzeitigkeit einhergeht, veranschaulicht Nieremberg mit einer anekdotischen Geschichte über Kayser Heliogabalus, der sich »beflissen hat / in allen WollFsten zu w(ltzen«. Doch seine Lust konnte schwerlich befriedigt werden, da er nicht allen seinen Bedürfnissen gleichzeitig nachgehen konnte. Wann er seinem Fressen und Sauffen abwartete / kunte er nicht bey den T(ntzen seyn: Wolte er sich aber bey denselbigen einstellen / kunte er den Com=dien nicht beywohnen: Wolte er diese sehen und h=ren / muste er der Music entbehren: H=rete er aber diesen zu / muste er das Jagen einstellen: Wolte er aber dem Wild in den W(ldern nacheilen / muste er seiner Geilheit und Unzucht abbrechen. Kurtz gedacht / wann er eines haben wolte / muste er das andere fahren lassen […].563
Heliogabalus’ Begrenzung liegt darin begründet, dass er in der Zeit lebt. Denn im Hinblick auf die Möglichkeiten der Simultanität hebt sich die Ewigkeit kategorial von der Zeitlichkeit ab, wie bereits Augustinus in den Confessiones betont.564 Die Zeit sei zwangsläufig durch ein Nacheinander bestimmt, die Ewigkeit hingegen biete eine vielschichtige Gleichzeitigkeit, wie Nieremberg mit
|| 562 Nieremberg (Anm. 547), S. 100. 563 Nieremberg (Anm. 547), S. 51 f. 564 In den Confessiones stellt Augustinus Zeit und Ewigkeit in Opposition zu einander, wenn er schreibt (dabei arbeitet er mit den Eigenschaftspaaren Veränderlichkeit/Sukzession einerseits und Simultanität/Gegenwärtigkeit andererseits): »et uideat longum tempus nisi ex multis praetereuntibus morulis, quae simul extendi non possunt, longum non fieri; non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens; nullum uero tempus totum esse praesens« (Confessiones, XI 13, 8–11). Und mit Blick auf die Ewigkeit Gottes führt er weiter aus: »Anni tui [gemeint sind Gottes Jahre, L. W.] nec eunt nec ueniunt; isti enim nostri eunt et ueniunt, ut omnes ueniant. Anni tui omnes simul stant; quoniam stant […]« (XI 16, 5–7). Wie Kurt Flasch herausgearbeitet hat, ist in Augustinus’ De civitate Dei die »Ewigkeit nicht als unvorstellbar lange Dauer, sondern als Zugleichbesitz von allem zu definieren […], simul omnia« (Kurt Flasch: »Augustins Zeittheorie«. In: Ders.: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar. Frankfurt a. M. 2004, S. 13–228, hier S. 106, H. i. O. Die Confessiones-Zitate stammen aus der Ausgabe von Flasch).
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Bezug auf den arabischen Philosophen und Aristoteles-Kommentator Averroës ausführt: dieweil sie [d. h. die Zeit] eine Abmessung der Bewegung ist / indem sie von solchen StFcken zusammen gesetzet / die da nicht zugleich und auf einmal beysammen seynd / sondern auf einander folgen: welcher Umstand der Zeit / gleichfals / wie Averrhoes solches beobachtet hat / ein wesentliches StFck der Zeit ist / und zwar solcher Gestalt / daß sie unterschiedliche Sachen nicht zugleich und miteinander / sondern eine nach der andern geben kan und muß / daß nemlich das zweyte nicht kommen kan / es sey dann das erste vergangen.565 In dem ewigen Leben aber / wird es eine weit andre Beschaffenheit damit haben / da es den Gerechten an keinem Gut ermanglen wird: Und weil sie aller GFter habhafft seynd / ist nicht vonn=then / daß in deren Gebrauch eins dem andern weiche und Platz mache / sondern sie werden derselbigen alle miteinander zugleich theilhafftig seyn.566
Auch wenn die Zeit der Ewigkeit in qualitativer Hinsicht untergeordnet ist, denn es ist das formulierte Ziel, die selige Ewigkeit zu erreichen und sich von den zeitlichen Gütern zu distanzieren, bietet die Zeit doch allein die Möglichkeit, die Ewigkeit zu erlangen.567 In der Rekonstruktion der Vorstellungen von Nieremberg über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zeigen sich konzeptuelle Parallelen zu meinen systematischen Überlegungen. Aufgrund der immanenten Veränderbarkeit zeichnet sich Zeit in dieser historischen Konzeption durch ›Ereignisse‹ aus (Kap. 4.2.1) und fungiert in Form von Zeitlichkeit und ›zeitlichen Sachen‹ als Substitut für Welt und Weltliches.568 Sie wird im Hinblick auf ihre Dimensionalität als ›einwertig‹ konzipiert, während die Ewigkeit mit einer konstitutiven Gleichzeitigkeit – also einer ›mehrwertigen Dimensionalität‹ – verbunden ist.
|| 565 Nieremberg (Anm. 547), S. 107. Noch im Adelung heißt es, Zeitlichkeit erfasse also »[d]ie gegenw(rtige Verbindung der auf einander folgenden veränderlichen Dinge« (Adelung, Bd. 4 [1811], Sp. 1679). 566 Nieremberg (Anm. 547), S. 52, m. H. 567 Nieremberg (Anm. 547), S. 127: »UNerachtet daß die Zeit so kurtz und flFchtig ist / so hat sie dannoch diese vortreffliche Eigenschafft / daß durch sie die Ewigkeit muß erlanget werden: dieweil wir in gar kurtzer und geringer Zeit dasjenige zuwege bringen k=nnen / darvon wir ewige Freude zugewarten haben«. 568 Die hier sich abzeichnende konzeptuelle Nähe zwischen Zeit und Welt verweist auf ihren historischen Ursprung, d. h. auf den im »frühen jüdischen und christlichen Verständnis« engen Zusammenhang von Welt und Zeit, denn das hebräische 'ôl$m bedeutet sowohl ›Welt‹ als auch ›Zeit‹, so wie der »anfänglichen Synonymität von ›Kosmos‹ und ›Aion‹« diejenige von ›mundus‹ und ›saeculum‹ gleicht, vgl. T. Gloyna: »Weltalter; Zeitalter«. In: HWdPh, Bd. 12 (2004), Sp. 447–453, hier Sp. 447.
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Beispiellektüre 16: Zeitlichkeit und Ewigkeit im »Wagnerbuch« Die Differenz zwischen ›zeitlich‹ und ›ewig‹ taucht in Erzähltexten der Frühen Neuzeit immer wieder punktuell und in der gesamten semantischen Spannbreite auf, teils bezeichnet ›Zeitliches‹ generell ›Weltliches‹,569 teils bildet ›ewig‹ nicht den Gegensatz von ›zeitlich‹, sondern vielmehr eine Steigerung.570 Im 1593 als Fortsetzung und Variation des Faustbuchs erschienenen Wagnerbuch avanciert die Differenz zwischen Zeitlichem und Ewigem zur normativen Leitdifferenz (wie sie auch in der Sylphen-Episode des Simplicissimus als Differenzierungskriterium für die Schöpfungsordnung mit ihren unterschiedlichen Kreaturen fungiert, Kap. 9). Erzählt wird im Wagnerbuch die Geschichte von Faustus’ Famulus Christoph Wagner, der das Erbe seines Meisters antritt und sein Schicksal teilt. Bestimmt wird das Erzählte von der Dichotomie zwischen der Zeit, die man als Mensch auf der Erde verbringt, und der Ewigkeit, in die man nach dem Tod eingeht. Diese Differenz lässt sich im Faustbuch als semantische Variation der Differenz zwischen ›Immanenz‹ und ›Transzendenz‹ lesen, die – wie Marina Münkler in einer breit angelegten Studie gezeigt hat – als Element genuin ›religiöser Kommunikation‹ (Niklas Luhmann) die Semantiken der Faustbücher und ihrer Nachfolger bestimmt.571 Beide Konzepte, Zeitlichkeit und Ewigkeit, sind im Wagnerbuch aufgeladen mit normativen Setzungen, wie man sie auch bei Nieremberg findet. Die Zeit kann durch einen gottgefälligen Lebenswandel für das ewige Leben genutzt oder mit einer sündhaften, von Hybris angetriebenen Lebensführung vergeudet werden. Die Ewigkeit wiederum gliedert sich in eine selige Ewigkeit bei Gott und eine verdammte Ewigkeit in der Hölle. Die Versuchung, die in der Natur des Menschen liegt und der Wagner nachgibt, besteht darin, dass er »lust zu zeitlichem Rhum vnd weltlichen Lob« hat und »darFber seiner eigenen Seelen seeligkeit« vergisst (CW 38v). Im Überschreiten dieser
|| 569 Theodorus, der Vater des Fortunatus, ist ganz von etwas besessen, das ihn schließlich zugrunde richten wird: »vnnd sein gemGt was gentzlichen gericht auff zeitlich eer / freüd vnd wollust des leibs« (F 388). Und auch in der Melusine und im Brissonetus geht es immer wieder um »zeittliche[ ] eren« (Me 19) und um »zeitlich gaben vnnd gnaden« (B 11). 570 In Philipp von Zesens Assenat beispielsweise changiert »ewig« zwischen einer sehr langen Zeitperiode und der Ewigkeit, die jenseits aller Zeit liegt. In Josephs Klage über sein Schicksal (AS 9) steht ›ewig‹ für die gesamte Lebensspanne, während in Assenats Engelerscheinung das Paar der ›zeitlichen‹ und ›ewigen glFkseeligkeit‹ für die beiden kategorial verschiedenen Bereiche steht (AS 213). 571 Vgl. Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011, S. 125.
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normativen Grenze572 gründet das Attraktionspotenzial des Stoffes und als Verkehrung legendarischen Erzählens seine unterweisende Exemplarität für ein religiös denkendes Publikum.573 Wagner stellt wie Faustus die ›Zeitlichkeit‹ über die ›Ewigkeit‹. Angetrieben von seinem Wissensdurst (curiositas),574 den Wagner mit den Freien Künsten, die er »etlich zeit« studiert hat (CW 35v), nicht stillen kann, verlangt er in einem zehn Punkte umfassenden Katalog, dass Auerhan ihm jederzeit zur Verfügung stehe, um ihm Fragen über die Beschaffenheit der »Hellischen und Jrrdischen Sachen« zu beantworten (CW 36v) und um ihm seine monetären, körperlichen und intellektuellen Wünsche zu erfüllen. Der letzte Punkt dieses Katalogs gibt den zeitlichen Rahmen von Auerhans Dienst vor: Zum Zehenden / das er mich aherley seltzame vnnd wunderbarliche Possen / so zur kurtzweil / lust / Schimpff vnnd Ernst dienstlich sein k=nnen / lehren wolte / vnd das er mir 30. Jahr solche gelehrnete Kunst zu vben vnd zutreiben zusage vnd verg=nne. (CW 37r)
Als Gegenleistung für die Erfüllung seiner Forderungen verspricht Wagner seinen Leib und seine Seele in der Ewigkeit. Dagegen sag ich zu vnd erbiete mich wilkFhrlich / das ich mit Leib vnd Seel wil sein sein in ewigkeit / vnnd er soll nach verflossener zeit mit mir zu thun macht haben / wie es jhm gelFstet / mein Fleisch vnd Blůt / Haut vnnd Haar / Marck vnnd Bein / befehl ich jm in seinen schutz / das er seines gefallens damit geb(hren soll. Entsage hier auff erstlich Gottes Barmhertzigkeit / der verzeihe ich mich / begere auch keinen theil im Himmelreich in ewigkeit / sondern will mit Auerhan in dem Hellischen Fewr / da nichts denn Elend / Jammer vnd Noth ohne auffh=ren zugewarten / geselschaft halten. (CW 37r f.)
Auerhan gesteht Wagner in seiner Replik auf den Forderungskatalog nicht die verlangten dreißig Dienstjahre ein, sondern lediglich fünf. Für jedes weitere || 572 Vgl. Ehrenfeuchter (Anm. 458), S. 367. 573 Vgl. Münkler (Anm. 571), S. 125–148; in dem Gebet, das in das erste Kapitel der Historia eingebettet ist, wird Gott darum gebeten, dass er eine Verführung des Menschen durch den Teufel und damit auch, dass er »ewig ins verderben« gebracht wird, verhindere, und dass Gott die Herzen der Menschen »erleuchte«, sodass sie »deß verheissenen trosts in ewigkeit geniessen m=chten« (CW 12v f.). 574 Wie Martin Ehrenfeuchter betont, gibt es »kaum ein anderes Werk der epischen Literatur des 16. Jahrhunderts«, das »derart umfangreiche und vielfältige Informationen aus verschiedenen Wissensbereichen, die sich sonst in einem primär fachliterarischen Kontext finden«, vereint. Dabei sind »Geographie, Magie und Dämonologie« besonders prominent (Ehrenfeuchter [Anm. 458] S. 355); vgl. zudem Albrecht Classen: »New Knowledge, Disturbing and Attractive. The ›Faustbuch‹ and the ›Wagnerbuch‹ as Witnesses of the Early Modern Paradigm Shift«. In: Daphnis 35 (2006), S. 515–535.
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Jahr muss er den Teufeln eine Seele bringen (vgl. CW 48v). In den fünf Jahren darf Wagner zwar auf das Wissen Auerhans und auf dessen Fähigkeiten zurückgreifen, aber nicht, wie er es gefordert hat, uneingeschränkt und immer – Auerhan entpuppt sich also als der eigentliche Herr des Paktes.575 Die Zeit des Lebens sei eine Zeit der Bewährung, so gesteht Auerhan gegenüber Wagner ein. Da Gott Wagner »zeit vnd raum zur P=nitentz vnd Bůß« hat lassen wollen (CW 47r f.), sei er ihm nicht gleich bei der ersten und zweiten Beschwörung erschienen, sondern erst bei der dritten. Wagner habe aber »Gottes gnad verschFttet« und wird aus Auerhans Händen »in ewigkeit nimmer entfliehen« können (CW 34r), ebenso wie Faustus sich nicht hat aus Mephostophiles’ Händen befreien können, der ihn »in abgrund der Hellen gefFhret vnd gestFrtzt / von dannnen [sic!] er in ewigkeit nicht wirdt erl=set werden« (CW 47r). Auch wenn Wagners Ende damit vorbestimmt ist, so Auerhan, wird ihm von Gott erlaubt, »ein zeitlang auff Erden« zu leben (CW 48r), denn er soll anderen als abschreckendes Beispiel dienen. Und die Teufel erhoffen sich, dass er während seiner verbleibenden Lebenszeit ihnen dazu verhilft, noch mehr Seelen in die Hölle zu führen. Mit seiner Distanzierung von Gott hat Wagner, so Auerhan im Zusammenhang mit der Erläuterung der sechs Welten (vgl. CW 77v–84v), die ›göttliche Welt‹ verlassen: Denn so bald du die G=ttliche [Welt, L. W.] verlassen vnnd dauon abgefallen bist / hastu dich zur H=llischen geben / darinnen wirstu auch in ewigkeit j(mmerlich gepeiniget werden / vnd darffst keine Erl=sung hoffen / sintemal du deine Erl=sung versch(rtzt. Vnd wenn ich 20. tausend Jahr im Fewr brennen solte / vnnd wFste Gnad zuuerlangen / solte es von mir außgestanden werden / Aber du vnseliger Mensch / hast vmb lose vppige Ding / vnnd lahme kFnstlein deine Erl=sung versch(rtzt / vnd hast dich in ewigkeit der nicht mehr anzumaßen. Pfuy du verfluchte Creatur. (CW 83r f.)576
Die Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit bildet also die normative Grundspannung, innerhalb der sich die Geschichte des Christoph Wagner abspielt und die die Bewertungsfolie für die Figur und ihre Handlungen liefert. Je stärker die Rückbindung eines Erzähltextes an die Semantiken ›religiöser Kommunikation‹ ist, umso wichtiger wird auch die Differenz von Zeit und Ewigkeit.577
|| 575 Vgl. Das Wagnerbuch von 1593. Hrsg. von Günther Mahal und Martin Ehrenfeuchter. 2 Bde. Tübingen/Basel 2005, Bd. 2: Zeilenkommentar, Nachwort und Register, S. 117. 576 Zur »vollkommene[n] Hoffnungslosigkeit« Wagners vgl. Mahal/Ehrenfeuchter (Anm. 575), S. 172 f. 577 Vgl. Münkler (Anm. 571), S. 125. Im Faustbuch von 1587 werden im Anschluss an den PaktBrief drei Sprüche »[w]ider D. Fausti Verstockung« präsentiert, der zweite basiert explizit auf der Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit:
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So wichtig diese Differenz auch für das normative Gefüge des Wagnerbuchs mit seinen klar konturierten Grenzen ist, so bleibt sie immer im Modus des telling (also der ›berichtenden Erzählung‹) und materialisiert sich nicht im showing (also der ›szenischen Darstellung‹).578 Die Handlung spielt sich in der Zeit ab, aber was eine selige oder verdammte Ewigkeit ist, wird nicht dargestellt, sondern nur behauptet. Auerhan verwehrt Wagner zudem immer wieder den direkten Zugriff und Blick auf die Hölle mit ihren ewigen Strafen.579 Innerhalb der erzählten Welt ist die Ewigkeit im Wagnerbuch ebenso wie beispielsweise in Christian Friedrich Hunolds Adalie (1702) also nur als Folie präsent.580 Deshalb bleibt die Differenz von Zeit und Ewigkeit auch für die Gestaltung der erzählten Welt und die Handlungsführung folgenlos. Dies unterscheidet sie von Schicksalssemantiken, die das semantische Pendant zu Formen der Motivation bilden und durch die deshalb die erzählte Welt und die Handlung maßgeblich geformt werden.
|| »Wer allein das Zeitlich betracht / Vnd auff das Ewig hat kein acht / Ergibt sich dem Teuffel Tag vnd Nacht / Der hab auff seine Seel wol acht.« (FB [1587], 23). Im Faustbuch von 1725 wiederum wird das zentrale Vergehen Fausts von ihm selbst auf eine prägnante Formel gebracht, in der ebenso Zeit und Ewigkeit kontrastiert werden: »Nun Fberlegte er erst mit einer Cains=Reue, was er gethan, wie er um so wenige Zeit, ja um einen einigen Augenblick gegen die Ewigkeit zu rechnen, die himmlische Freude verschertzet, welche aber ohne Glauben auff das Verdienst Christi war« (FB [1725] 24). 578 Stanzel (Anm. 435), S. 191. 579 Auerhan rechtfertigt seine erste Absage damit, dass Wagner »diß d=rffte […] hie nit wissen / w(r doch so lange zeit nit hin so wFrd er selber hinein ko^en vnd es erfahren« (CW 52v). Und zu einer ähnlichen Argumentation greift er, als Wagner den Ort der Hölle wissen will: »Der Geist sagt / sey nur zu friden / es geh=rt noch wenig zeit darzu so wirstu selber dahin kommen« (CW 75r); schließlich schreckt Auerhan Wagner damit ab, dass er, wenn er einmal die Hölle betreten habe, diese nicht mehr verlassen kann (CW 75v). 580 In die Curton-Episode der Adalie ist eine graphisch hervorgehobene reflexive Passage eingefügt, in der die normative Relevanz hervorgehoben wird: »Denn wenn keine Hoffnung zum Leben Fbrig / und nun die Stunde der schweren Rechenschafft einer befleckten Seelen heran nahet / gehet dieselbe aus den Laberrinth der bestrickten Vernunfft in sich / und erweget das Wort Ewigkeit mit solchen Nachsinnen / das sie mit eussersten Verm=gen nach den Mitteln heisset greiffen / durch welche sie vor den hohen Richter-Stuhl im Kleide der Unschuld stehen kan« (A 328).
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4.3.2 Schicksalssemantiken: Offenheit und Geschlossenheit des zeitlichen Horizonts In den erzählten Welten des frühneuzeitlichen Romans entscheiden nicht immer die Wünsche und Handlungen der Figuren über den Fortgang der Handlung, sondern meist das »Glück«, der »Zufall«, das »Schicksal« oder der Ratschluss Gottes. Im Apollonius bestimmt das »gelückrad« über das Schicksal (AP 179).581 Der den sprechenden Namen tragende Fortunatus begegnet im Wald der »iunckfraw des glücks« (F 430), die im Weisheit, Reichtum, Stärke, Gesundheit, Schönheit und ein langes Leben als Geschenke anbietet – er entscheidet sich, im Nachhinein fatalerweiser, für den Reichtum. Im Ritter Galmy sind es »Gott und das glück«, die dem Glauben der Figuren entsprechend die Dinge leiten (RG 15). Der verwundete Balacin der Asiatischen Banise will sich, als er Stimmen hört, an einen »sichern Ort« begeben, wo er »des Himmels Schickung mit Gedult erwarten« kann (AB 13). Tychander, ebenso mit einem bedeutungstragenden Namen versehen, wird vom Glück (tyche) durch die Welt getrieben. Und Eberhard Julius, eine der Hauptfiguren in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, erklärt die Tatsache, »daß so wohl aus [seinen] geistl. studiren, als aus der nach Wittenberg vorgenommenen Reise nichts« wurde, damit, dass es der »Himmel« so »beschlossen« hatte.582 ›Glück‹ und ›Himmel‹ sind ebenso wie die ›Vorsehung‹ in all diesen Situationen Deutungs- und Erklärungsmodelle für die Richtungswechsel in den Biographien der Figuren. Die Vielfalt der Schicksalssemantiken lässt sich auf die Opposition von ›Providenz‹ und ›Kontingenz‹ herunterbrechen. Eingespannt zwischen beide Pole ist Fortuna, die das Zufällige verkörpern oder in ihrer christlichen Umdeutung im Dienste der göttlichen Vorsehung stehen kann.583 Diese Begriffe liefern gleichsam das semantische Programm für Formen der Motivation und tragen so zur Ausformung von Zeit bei (vgl. Kap. 4.1.3). Modelliert wird mittels dieser Begriffe der zeitliche ›Horizont‹: Eine providenziell organisierte, final motivierte
|| 581 Auch König Archistrates beruft sich auf das »gluk rad« (AP 185), um das Schicksal von Apollonius zu erklären (zur Metapher des Glücksrades vgl. zudem AP 197, AP 235). 582 Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Mit einem Nachwort von Günter Dammann. Textredaktion von Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben. Frankfurt a. M. 1997, Bd. 1, S. 28 f. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle IF nachgewiesen. 583 Vgl. Walter Haug: »O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung«. In: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.): Fortuna. Tübingen 1995, S. 1–22. Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs. Stuttgart 1970, S. 110–113.
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Welt lässt den zeitlichen Horizont ›geschlossen‹ erscheinen, während eine Welt, deren Ereignisse von Kontingenz bestimmt werden und kausal motiviert sind, über einen im Hinblick auf die Zukunft ›offenen‹ Zeithorizont verfügt. Schicksalssemantiken gehören zu denjenigen Themen, die von der literaturwissenschaftlichen Forschung für die Frühe Neuzeit gut aufgearbeitet worden sind.584 Hier gilt es deshalb nicht, das Bekannte breit zu rekapitulieren, sondern, erstens, die historische Relevanz des Spannungsverhältnisses zwischen Providenz und Kontingenz für die Romangeschichte kurz zu skizzieren, und zweitens, die erzählerische Bedeutung der beiden Kategorien zu explizieren und ihre temporalen Implikationen zu klären. An den Rändern des Untersuchungszeitraums zwischen 1500 und 1750 wurden im Roman einschneidende Umdeutungen des Verhältnisses von Providenz und Kontingenz attestiert. Im Fortunatus folge das Auf und Ab des Glücks »keiner geometrischen Figur« mehr, die es im Sinne eines Kreislaufs zu einer regelmäßigen und somit berechenbaren Größe machen würde, bestimmend sei vielmehr der »Eindruck von Regellosigkeit«:585 In der Zufälligkeit »unvorhersehbarer Wendungen herrscht blanke Willkür«, oder anders formuliert: »Kontingenz«.586 Udo Friedrich betont, dass mit dieser Herausstellung des Zufälligen eine nachhaltige »Erfahrung von Zeitlichkeit frei[gesetzt wird]«, »die in säkularisierter Form dann zu den Konstitutionsbedingungen des modernen Romans werden wird«.587 Mit dem Fortunatus wird jedoch das Konzept einer geregelten Welt nicht gänzlich obsolet, vielmehr bleibt die providenziell organisierte Welt für eine ganze Reihe von Romanen des 16. und 17. Jahrhunderts das verbindliche Muster. Ich verweise hier stellvertretend nur auf Philipp von Zesens Assenat, die Asiatische Banise von Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen und meine Lektüre von Grimmelshausens Keuschem Joseph. Werner Frick, der in seiner Studie an die Säkularisierungsthese anknüpft, dabei aber auch, um seine These zu stützen, historisch parallel Laufendes ausklammert, hat sich der
|| 584 Zu den einschlägigen Studien zählen: Kirchner (Anm. 583); Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.): Fortuna. Tübingen 1995; Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung (Bd. 1, H. 1: Providentia – Fatum – Fortuna. Hrsg. von Joerg O. Fichte) Berlin 1996; Frick (Anm. 42). 585 Jan-Dirk Müller: »Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen«. In: Haug/Wachinger (Anm. 584), S. 216–238, hier S. 221. 586 Müller (Anm. 585), S. 222; vgl. Braun (Anm. 41), S. 84 und S. 100–103. 587 Udo Friedrich: »Providenz – Kontingenz – Erfahrung. Der ›Fortunatus‹ im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit«. In: Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.): Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger. Berlin/New York 2011, S. 125–156, hier S. 149.
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»tiefgreifende[n] Veränderung der Schicksalssemantik in der Romangeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts«588 gewidmet und herausgearbeitet, wie der Roman zwischen der Asiatischen Banise und Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766/67) eine »Immanentisierung« durchläuft:589 In diesem historischen Prozess wird eine providenzielle Ordnung fragwürdig und sie wird schließlich durch Kontingenz, Wahrscheinlichkeit und eine offene Zukunft ersetzt. Eine Verkürzung der historischen Prozesse auf eine doppelte Entdeckung der Kontingenz – zum einen mit dem Fortunatus und zum anderen in der Mitte und im Ausgang des 18. Jahrhunderts – geht meines Erachtens an der Sachlage vorbei, vielmehr existieren verschiedene Erklärungsmodelle parallel (bereits die Romane Hunolds zu Beginn des 18. Jahrhunderts rekurrieren in reflexiver Weise auf providenzielle Schemata und dekonstruieren sie, vgl. Beispiellektüre 6); hinzu kommen unterschiedliche generische Konventionen. Providenz und Kontingenz als Modellierungssysteme der erzählten Welt haben, wie bereits kurz ausgeführt, Einfluss auf die Formung des zeitlichen Horizonts der erzählten Welt. Dabei spielen zwei erzählerische Kategorien eine tragende Rolle: zum einen die ›Motivation‹ (Kap. 4.1.3) und zum anderen die ›Perspektivierung‹ (Kap. 4.1.4). Providenz und Kontingenz liefern die semantischen Programme zur kausalen und finalen Motivierung. Sie stehen damit stellvertretend für die mit diesen Motivationsarten verbundenen Weltmodelle: auf der einen Seite eine Welt, die von göttlicher Macht bestimmt wird, auf der anderen Seite eine Welt, in der der Zufall und die Intentionen der Figuren über den Handlungsverlauf entscheiden. Die Verbindlichkeit der beiden Erklärungsmodelle für die erzählte Welt ist jedoch nicht von der Frage nach der Perspektivierung zu trennen. Zu unterscheiden ist zwischen einer ›figuralen‹ und einer ›narratorialen‹ Perspektive.590 In beiden kommt der Schicksalssemantik eine andere Funktion zu: Auf der Figurenebene dient sie »als interpretative Strategie«, wie Joachim Theisen ausführt, »um Geschehen zu erklären«.591 Figuren – wie in der Insel Felsenburg Eberhard Julius – bedienen sich ihrer, um Veränderungen zu begründen und aus den Ereignissen, die ihnen widerfahren, Sinn zu schöpfen. Werden Schicksalssemantiken vom heterodiegetischen Erzähler eingesetzt, dann handelt es sich um eine »narrative Strategie, die es erlaubt, Geschehen zu motivieren und
|| 588 Frick (Anm. 42), S. 6. 589 Frick (Anm. 42), S. 500. 590 Vgl. Schmid (Anm. 165), S. 137–139. 591 Joachim Theisen: »Fortuna als narratives Problem«. In: Haug/Wachinger (Anm. 584), S. 143–191, hier S. 155.
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zu organisieren«.592 Letztlich ist diese Funktion analog zur figuralen Ebene, nur dass sie dieser erzähllogisch übergeordnet ist. Die Rede des Erzählers hat eine höhere Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit als die Rede von Figuren – unabhängig davon, ob es sich dabei um reine Figurenrede oder einen figuralen homodiegetischen Erzähler handelt. Darüber hinaus ist ein dritter Fall, der auf einer anderen Ebene angesiedelt ist, für die Gestaltung der Handlung wichtig: allegorische Personifikationen von Providenz und Kontingenz, die an der Handlung teilhaben können. So begegnet, wie bereits eingangs erwähnt, der Protagonist des Fortunatus im Wald der Jungfrau des Glücks, die in späteren Drucken explizit als Fortuna bezeichnet wird und ihre Attribute trägt.593 Sie wendet sich an Fortunatus, rettet ihn aus der misslichen Lage und eröffnet ihm durch ihre Gabe neue Möglichkeiten. Indem sie sich an ihn richtet, rechtfertigt sie ihre Macht durch die Ordnung der Planeten: Fortunate erschrück nitt / ich byn die iunckfraw des glücks / vnd durch die einfliessung des himels vnd der sternen / vnd der planeten. So ist mir verlihen sechs tugendt / die ich fürter verleühen mag aine zwG me oder gar / nach den stunden vnd regirung der planeten (F 430).
Fortunatus wählt den Reichtum als Glücksgabe. Als handelnder allegorischer ›Meta-Akteur‹ greift Fortuna also aktiv in die Handlung ein. Wie diese kurzen Überlegungen deutlich machen, so sind Providenz und Kontingenz nicht von den erzählerischen Grundoperationen zu trennen und sie sagen zudem etwas aus über die Funktionsweise der erzählten Welt. Ein Blick auf Hieronymus Dürers Roman Lauf der Welt und Spiel des GlFcks (1668) führt vor,594 dass mittels dieser Dichotomie zwar prototypische Fälle klar unterschieden werden können, dass aber in der konkreten Auseinandersetzung mit einem Text konzeptuelle Überlagerungen und Uneindeutigkeiten sichtbar werden: Einerseits scheint die Handlung im Lauf der Welt dem zyklischen Auf und Ab des Glückes zu folgen, andererseits steht, so die Deutung der Figuren wenigstens hinter einem Teil der Ereignisse, eine numinose Instanz, die sich des Glückes und Unglückes bedient.
|| 592 Theisen (Anm. 591), S. 155. 593 Vgl. Müller, Kommentar, S. 1193. 594 Hieronymus Dürer: Lauf der Welt und Spiel des GlFcks. Zum Spiegel Menschlichen Lebens vorgestellet in der WunderwFrdigen Lebens-beschreibung des Tychanders. Hamburg 1668 (Reprint: Hildesheim u. a. 1984). Im Folgenden werden Zitate mit der Sigle LW im Haupttext nachgewiesen.
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Beispiellektüre 17: Providenz und Kontingenz in Dürers »Lauf der Welt und Spiel des GlFcks« In Dürers Schelmenroman motiviert der autodiegetische Erzähler die fortwährenden Handlungsumschwünge durch das »GlFck«. In der Retrospektive erkennt er die Kräfte, die seinen Lebensweg bestimmt haben und fügt so die Ereignisse, die ihm widerfahren sind, zusammen. Der mit einem bezeichnenden Namen versehene Tychander stellt seine auf Erfahrung gründende Befähigung, über das Glück zu sprechen, gleich zu Beginn des Romans programmatisch heraus: Hat jemahls das GlFck einen menschen durch wunderliche f(lle herum gefFhret u] mit oft-ver(ndertem gesichte angeblickt: so bin ich / meines erachtens / unter denen / die diese unbest(ndige g=ttin bald mit h=chstgewogenen liebesaugen angel(chelt; bald mit verkehrtem gesicht angeschielet; bald mit einem Saturnischen blick angefeindet / wohl einer von den vornehmsten zu achten. (LW 1).
Ebenso wie Fortunatus an Fortuna ist Tychander an Tyche als ihre griechische Entsprechung gebunden. Das Glück, dem er ausgeliefert ist, wechselt – so die Analogie – so schnell und unvorhergesehen wie das Aprilwetter und die Jahreszeiten:595 Mal lässt es den Helden aufsteigen und ein anderes Mal in den Abgrund stürzen. Der gantze lauf unsers lebens vergleichet sich dem unbest(ndigen April in welchem man keinem sonnen-schein vertrauen darf / wie lieblich er sich auch an l(ßet / weil der schnelle pflug der darauf folgenden trFben wolken =fters unsre gedancken Fbereilet / und wenn wir am begierlichsten des sch=nen wetters uns erg=tzen / mit einem ungestFmen regen auf uns platzet. (LW 187)596 Es [das Glück, L. W.] pflegte darFm manchen menschen so tief herunter zu stFrtzen / daß es ihn nochmahls desto h=her wieder erheben m=chte. Streifte doch der winter den b(umen auch ihre bl(tter ab und bedeckte sie an stat des laubs mit frost / schne / reif und eis: gleichwohl erstattete solche der frFling wieder und zwar in solcher menge / daß man den vorigen verlust keines weges daran verspFren mag. (LW 252 f.)
|| 595 Vgl. LW 37; LW 48; LW 109. 596 Ähnlich auch: »Mein unbest(ndiger UnglFcks-April hatte dißmahl auch wieder außgetobet: die trFben schnee-wolcken verwichen nun und der darauff folgende sonnenschein machte eine vorbereitung zu dem instehenden Mey meiner h=chsten zeitlichen glFckseligkeit / als die nunmehr schier ausschlagen und in v=llster blFte prangen solte.« (LW 289)
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Das Glück folgt also einer zyklischen Struktur, in der Auf- und Abstieg einander ablösen.597 Darüber hinaus erklären Filander und Tychander die eingetretenen Ereignisse, indem sie sie als Ausdruck göttlichen Willens und einer göttlichen Ordnung deuten. Die Kontingenz des Geschehens wird eingefügt in einen providenziellen Rahmen. Als Tychander von Filander aus dem Gefängnis befreit wird, gibt er ihm die Folgen seines Handelns zu bedenken – es dominiert die figurale Perspektive: Darnach fieng er an mit langer doch gelinder rede / mir meine grosse hofart / stoltz und Fbermuht / so ich in meinem wohlstande getrieben / wie nicht weniger mein unm(ßiges und wollFstiges leben zu gemFhte zu fFhren / weswegen denn GOtt der HErr mir billig den brodkorb anjetzo etwas h=her geh(nget h(tte / auf das ich den unterschied gutes und b=ses daraus lernen k=nte. (LW 61 f.)
Nachdem Tychander vom Tod seiner Mutter erfährt, wird er »zu einem gantz verzweifelnden menschen« (LW 150); ihr plötzlicher Tod erscheint durch die von Gott selbst verbürgte Gerechtigkeit legitimiert (vgl. LW 80 f.). Sein Unglück als Form der göttlichen Strafe sieht Tychander in seinen moralischen Vergehen begründet (auch hier wird die Erklärung aus der erlebenden Perspektive der Figur geliefert): Nun meinte ich / alle menschen h(tten mich nicht allein verlaßen / sondern GOtt selber h(tte mich verstoßen / und darum h(tte sich nun alles unglFck wieder mich verbunden […]. Hier zu kame die angst des gewißens / welches […] mich Fberzeugte / daß alles dieses eine gerechte strafe GOttes und wie wohl große doch meinen verdiensten annoch viel zu geringe st(upe w(re. Dannenhero bildete ich mir ein / weil ich mir GOTT h(tte zum feind gemacht / deßentwegen h(tte ich mich auch keiner hFlfe zu getr=sten / und wFrde es bey diesen ob schon noch so großem unglFcks-st=ßen keines weges verbleiben […]. (LW 150 f.)
Nach der sich anschließenden, zufälligen Abwendung von Tychanders Selbstmord fasst er »bessere hofnung […] / so wohl der Gnaden Gottes als kFnfftigen ertr(glichern GlFckes« (LW 154). Gottes Gnade und das Glück stehen in Dürers Lauf der Welt und Spiel des GlFcks, so die figurale Perspektive, in einem wech-
|| 597 Vgl. LW 254 f.: Das Maximum des Glücks erreicht Tychander in der Abessinien-Episode (»auff die h=chste spitze der zeitlichen Ehre und weltlichen GlFckseligkeit stellte / aber auch bald hernach von eben dieser spitze mit einem Faetontischen falle so pl=tzlich herunter stFrtzte / daß ich wieder in einen dermassen elenden zustand geriehte / als ich vorhin jemahls gewesen war«, LW 318): Er wird nach einem Putsch König des Reiches und vergisst darüber die »unbest(ndigkeit des glFcks« (LW 356). Schließlich scheitert er an seiner Hybris: »die zeit meines falls war gekommen; das glFck hatte die hand mich zu stFrtzen bereits ausgestreckt; ich muste dem verh(ngnis folgen!« (LW 368).
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selseitigen Bedingungsverhältnis. Auch für seinen Machtverlust in Abessinien macht Tychander »das GlFck oder vielmehr GOTT« verantwortlich. Über den Aufstieg des Herzogs von Amutzy – seinen Gegenspieler – heißt es: Nachdem aber das GlFck mich wieder abgesetzet / w(ren sie viel zu schwach demselben zu wiederstehen / derhalben sie nicht mehr mir / sondern dem hinfFro folgen mFsten und wolten / welchen das GlFck oder vielmehr GOTT selber anjetzo erwehlet h(tte […]. (LW 373 f.)
Die Abessinien-Episode endet dann schließlich mit einer gleichsam geschichtsphilosophischen Reflexion über das Schicksal von Tyrannen (wie es auch die höfisch-historische Asiatische Banise kennt), die in ihrem Anspruch über die figurale Perspektive hinausweist: Aber also weis GOTT die hof(rtigen vom stuhle zu stFrtzen und die tyrannen zu demFtigen; also weis er sie mit ihrem schaden klug zu machen und sie zu lehren / wer er sey / von deßen hand sie ihre gewalt empfangen haben! (LW 376, H. i. O.)
Das Glück wird also passagenweise als längerer Arm Gottes gedeutet.598 Auf Gott als transzendente Instanz bezieht sich Tychander darüber hinaus in seinen die Handlung reflektierenden oder wertenden Aussagen.599 Eine verbindliche providenzielle Ordnung, innerhalb derer im Sinne finaler Motivation der Ausgang und die zeitliche Position der Ereignisse vorgezeichnet wären (wie in der Assenat oder im Keuschen Joseph), fehlt jedoch – bereits die erzählerische Anlage des Romans als autodiegetische Erzählung verunmöglicht eine absolute Deutung des Geschehens, denn letztlich ist auch das Wissen des erzählenden Ich um die Funktionsweise der erzählten Welt begrenzt. So einfach sich die systematische Unterscheidung zwischen kontingenter und providenzieller Weltordnung mit einer ›offenen‹ und einer ›geschlossenen‹ Zeitstruktur also gestaltet, so komplex und ambivalent sind ihre konkreten Erscheinungsformen im Roman. Einerseits scheint die Handlung von Dürers Lauf der Welt dem zyklischen Auf und Ab des Glücks zu folgen, andererseits steht, so die Deutung der Figuren, wenigstens hinter einem Teil der Handlungswendungen eine numinose Instanz, die sich des Glücks und Unglücks bedient. Jene sich hier abzeichnende Uneindeutigkeit der Schicksalssemantiken und der mit ihr verbundenen Zeitvorstellungen mag im Fall von Dürers Roman || 598 Vgl. Peter Heßelmann: »Picaro und Fortuna. Zur narrativen Technik in Hieronymus Dürers ›Lauf der Welt Und Spiel des Glücks‹ und Grimmelshausens ›Simplicissimus Teutsch‹«. In: Simpliciana XXIX (2007), S. 101–117, hier S. 106. 599 Vgl. z. B. LW 7, LW 15 f., LW 193.
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in der erzählerischen Anlage des Romans und in den verschiedenen generischen Traditionen, die im Roman zusammengeführt werden, gründen. Jürgen Mayer hat gezeigt, dass in Dürers Roman Elemente des pikarischen Erzählens mit Motiven des höfisch-historischen Romans kombiniert werden. Hinter beiden Formen des Erzählens stehen für Mayer ästhetische Programme, die die »grundsätzliche Beschaffenheit ihrer Romanwelt« und das »Handlungsschema« umreißen.600 Die Welt des pikarischen Erzählens erscheint dabei stärker geprägt von einem offenen Zeithorizont (auch wenn durchaus eine numinose Instanz im Hintergrund stehen kann), während die Welt des höfisch-historischen Romans sich als sinnhaft abgerundete Einheit mit einem geschlossenen zeitlichen Horizont präsentiert.
4.3.3 Lebensalter: numerische Strukturierungen von Lebenserzählungen In Martin Schrots 1574 erschienenem Büchlein Die X. Alter der welt wird der 20jährige Jüngling in einem emblematischen Ensemble präsentiert. Als Motto fungieren dabei die Verse »20. Jar aufferwachssen halb / ist gleich aim vnuerjärten Kalb«. Die Pictura zeigt einen jungen Mann mit Federhut, hohem und gewelltem Kragen sowie einem Schwert; zu seinen Füßen sieht man ein aufspringendes Kalb, das zu im hinaufschaut. Unter dem kolorierten Holzschnitt finden sich als Subscriptio folgende Verse, die dem Jüngling in den Mund gelegt werden: ICH bin ain jüngling stoltz vnd geyl / Mit tantzen / springē vil kurtzweyl. Mir ist gar wol zů aller stund / Jch frag nit vil nach Gottes bund. Hab lieb die welt vnd als jr than / Jm wollust will ich fahen an. Also will ich mein junge tag / Zůbringen also lang ich mag. Jn üppigkait die jugent lebt / Der zucht vnd tugent widerstrebt.601
|| 600 Mayer (Anm. 475), S. 20. 601 Martin Schrot: Die X. Alter der welt / mit jrem lauf vnd aygenschafften erkl(ret / nach dem Gesatz gaistlicher weiß / vnd in Reymen verfaßt / durch Martin Schrot / im 1574. Jar / lieblich zů lesen vnd h=ren etc. Augsburg 1574, Biiv.
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Lebensaltermodelle, wie sie hier bei Schrot präsentiert werden, periodisieren die biographische Zeit von Figuren und schreiben zugleich Lebensabschnitten bestimmte Prädikate zu. Der Zwanzigjährige erscheint als stolzer, vitaler und sich den Lebensfreuden hingebender Jüngling. Popularisiert werden in der Frühen Neuzeit solche Modelle vor allem in Spielen (bei Pamphilus Gengenbach und Georg Wickram602) sowie in illustrierten Werken (bei Johann Fischart und Tobias Stimmer oder Martin Schrot).603 Dabei schließt man teils an antike,604 teils an mittelalterliche Gliederungsmodelle an. Prominent sind in der Frühen Neuzeit vor allem zehngliedrige (zehn Mal zehn Jahre), sieben- und viergliedrige Modelle, erstgenannte sind in der deutschsprachigen Literatur »[m]erk-würdig verbreitet« und gehen stärker auf mittelalterliche als auf antike Vorläufer zurück;605 zweit- und drittgenannte sind hingegen vornehmlich der antiken Tradition verpflichtet.606 Sie sind Teil enzyklopädischen Wissens: Tomaso Garzoni referiert in seiner Piazza Vniversale (ital. 1585, dt. 1619) ein siebengliedriges, nicht gleichmäßig strukturiertes Modell.607 Im Zedler von 1732 werden dann verschiedene Modelle nebeneinander gestellt.608
|| 602 Das Spiel Die zehen Alter »ist das meistgedruckte deutschsprachige Theaterstück des 16. Jahrhunderts«, Martin Germann: Die zehen Alter nach gemainem Lauff der Welt newlich im Jar 1539 gehalten worden zu Augspurg. Schauspiel von Pamphilus Gengenbach (1515) bearbeitet von Jörg Wickram (1531) gedruckt von Narziß Ramminger zu Augsburg im Jahre 1543. Faksimiledruck 1980. Kommentar von Martin Germann. Zürich 1980, Kommentarband, S. 5. 603 Vgl. Anton Englert: »Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild«. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 15 (1905), S. 399–412; 17 (1907), S. 16–42. Das Spektrum der Umsetzungen reicht dabei vom Einblattdruck bis hin zu Buchformaten mittleren Umfangs, vgl. Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter. Eine Ausstellung des Landschaftsverbandes Rheinland, Rheinisches Museumsamt, Brauweiler in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Museum Haus Koekkoek, Kleve. Köln 1983. 604 Zu verschiedenen numerischen Gliederungssystemen vgl. Franz Boll: »Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen. Mit einem Anhang ›Zur Schrift Περί έβδομάδων‹«. In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur und für Pädagogik 31 (1913), S. 89–145; Julius Zacher: »Die zehn Altersstufen des Menschen. Aus dem Nachlasse von Julius Zacher [Vollendet u. herausgg. von E. Matthias]«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie XXIII (1891), S. 385–413. 605 Boll (Anm. 604), S. 110. 606 Vgl. Boll (Anm. 604), S. 112 ff. 607 Für Garzoni dauert die infantia vom 1. bis zum 4. Lebensjahr, die pueritia vom 4. bis zum 14., die adolescentia vom 15. bis zum 22., die juventus vom 23. bis zum 41. Jahr, die virilitas vom 42. bis zum 56. Lebensjahr, die senilis aetas vom 57. bis zum 68. und die aetas decrepita vom 69. Lebensjahr bis zum Tod, Tomaso Garzoni: Piazza Vniversale, das ist: ALlgemeiner Schauw-
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Die Lebensaltermodelle sind teils in komplexe metaphorische und strukturelle Verweiszusammenhänge eingebettet. Sie gründen wie im Fall einer Vierergliederung auf Analogiebildungen zu den vier Jahreszeiten,609 oder sie folgen strukturell dem sechstägigen Schöpfungswerk und dem Fortunarad, das zum Lebensrad transformiert wird. Die Zuschreibung der altersadäquaten Prädikate erfolgt darüber hinaus – wie in Schrots Büchlein – entweder explizit oder metaphorisch durch die Gleichsetzung der Alterssequenzen mit Tieren, Tages- und Jahreszeiten;610 zudem ist sie geschlechtsspezifisch.611 Bedeutsam sind solche Modelle insofern, als sie als zeitliche Rahmen biographische Erzählungen modellieren und, wie die Überlegungen von Udo Friedrich zeigen, je eigene temporale Wertigkeiten hervorbringen. Udo Friedrich beschreibt für das Mittelalter fünf Lebensaltermodelle, denen er eine jeweils eigene Zeitkonzeption und eine spezifische Form der Sinnmodullierung zuspricht:612 das ›philosophische Modell‹, das ›humoralpathologische Modell‹, das ›astrologische Modell‹, das ›theologische Modell‹ und das || platz / oder Marckt / vnd Zusammenkunfft aller Professionen / KFnsten / Gesch(fften / H(ndlen vnd Handtwercken / so in der gantzen Welt geFbt werden […]. Frankfurt 1619, S. 286. 608 »Vornemlich aber wird das menschliche Alter darunter verstanden, welches in sieben Stuffen, oder Lebens-Periodos, abgetheilet wird, in welchen an und für sich von der Natur eine augenscheinliche Leibes- und Gemüths-Aenderung geschiehet […] Das erste [Alter, L. W.] gehet bis zum siebenden; das zweyte bis zum vierzehenden; das dritte bis zum zwantzigsten; das vierte bis zum dreyßigsten; das fünffte bis zum funfzigsten; das sechste bis zum siebentzigsten Jahr, was drüber ist, bleibt vor das siebende.« (Zedler, Bd. 1, Sp. 699) Im Zedler werden vierund zehngliedrige Modelle als Alternativen neben dieses siebengliedrige Modell gestellt. 609 Ferdinand van Ingen: »Die vier Jahreszeiten und die vier Lebensalter des Menschen – ein Motiv zwischen Allegorie und Emblem. Zu Otto van Veen (›Moralia Horatiana‹) und Andreas Gryphius (›Cardenio und Celinde‹)«. In: Dietrich Walter Jöns/Dieter Lohmeier (Hrsg.): Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Neumünster 1998, S. 7–21. Im Falle der Sechsteilung verweist Friedrich auf die Parallele zu den sechs Schöpfungstagen und zu den sechs Weltaltern (vgl. Friedrich [Anm. 624], S. 50); im Fall siebengliedriger Modelle zieht Englert mit Blick auf eine Quelle eine Linie zu den »sieben Horae canonicae« (Englert [Anm. 604], S. 41). 610 Vgl. Hubert Wanders: »Das springende Böckchen – Zum Tierbild in den dekadischen Lebensalterdarstellungen«. In: Die Lebenstreppe (Anm. 603), S. 61–72. 611 Die Unterteilung in weibliche und männliche Altersstufen kommt zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf, wird aber erst um 1550 verbreitet, vgl. Kristina Bake: »Geschlechtsspezifisches Altern in einem Lebensalter-Zyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart«. In: Heike Hartung (Hrsg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld 2005, S. 113–133, bes. S. 119 f. 612 Bei Friedrich findet man eine Reihe von Hinweisen auf die mediävistische Forschung zu Lebensaltermodellen, auf weitere Nachweise sei hier deshalb verzichtet. Auch wenn bei ihm die Abgrenzung der einzelnen Modelle nicht immer klar herausgearbeitet wird, bietet sein typologischer Versuch doch eine erste hilfreiche Orientierung.
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›politische Modell‹. Im ›philosophischen Modell‹ werde das Leben als »Bogen, Kreis, Zyklus oder Weg« über »Schemata und Topoi« sowie über »Narrative und Metaphern« anschaulich. »Indem das Leben«, zum Beispiel in Aristoteles’ Dreiteilung von ›Wachstum‹, ›Reifen‹ und ›Welken‹, »einen geschlossenen Rahmen, eine Zeitstruktur und eine Finalität erhält, nimmt es formal Elemente einer Erzählung auf«.613 Im Rahmen des ›humoralpathologischen Modells‹ ist der Mensch »substantiell in die Natur« eingeschrieben. Sein Leben orientiert sich an den vier Jahreszeiten und sein Körper wird sowohl von den »vier Primärqualitäten Heiß und Kalt, Feucht und Trocken« als auch von den »Säften Blut, Galle, schwarze Galle, Phlegma, schließlich den aus ihnen resultierenden vier Temperamenten« beherrscht.614 »Anders aber als das dreistufige Modell des Tages«, wie man es im philosophischen Modell findet, »überführt es [d. h. dieses biologische Modell] den Lebensbogen in die Sinnfigur einer zyklischen Bewegung«, zugleich aber verfügt es über »Finalität«.615 Der Fokus wechselt damit vom Einzelnen zum genealogischen Zusammenhang, in den er eingereiht ist. Das ›astrologische Modell‹ verortet den Einzelnen in einer »konkrete[n] Zeitordnung: in den Mond- und Sonnenzyklus sowie in die erweiterten Planeten- und Tierkreiszyklen«.616 Damit erscheint der Mensch als Teil einer »übergeordnete[n] transzendente[n] Sinnordnung«, die im göttlichen Kreis symbolisch Ausdruck findet.617 Wie Friedrich argumentiert, führt dieses Modell zur Detemporalisierung, denn »die Bewegung [wird] nicht nur geschlossen, sondern in Ruhe überführt, d. h. die Zeit selbst wird aufgehoben, und das menschliche Leben erhält Anschluss an die Sphäre der Unendlichkeit«.618 Für das ›theologische Modell‹, wie es von Innozenz III. entworfen wird, seien besonders Anfang und Ende als Eckpunkte des Lebens wichtig. Dort, wo es um die miseria hominis gehe, komme es auf die »Opposition von Kindheit und Alter« an, deren »Differenz« aber durch »Leid[ ]« und »Vergänglichkeit« nivelliert wird, sodass bei einem solchen Modell kein »Entwicklungsprozess« sichtbar und »kein[ ] immanente[r] Sinn« generiert wird.619 Das narrative Potenzial dieses Modells ist deshalb gering. Christliche Erziehungslehren – Friedrich bezieht sich hier vor allem || 613 Udo Friedrich: »Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissensund Erziehungsdiskursen«. In: Thorsten Fitzon u. a. (Hrsg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin/Boston 2012, S. 49–79, hier S. 51. 614 Alle Zitate Friedrich (Anm. 613), S. 53. 615 Friedrich (Anm. 613), S. 54. 616 Friedrich (Anm. 613), S. 56. 617 Friedrich (Anm. 613), S. 57. 618 Friedrich (Anm. 613), S. 59. 619 Alle Zitate Friedrich (Anm. 613), S. 61.
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auf Vinzenz von Beauvais – hingegen kombinieren das »heilsgeschichtliche und das biographische Narrativ«, in die die Altersstufen eingebettet werden.620 Damit erhält der Lebenslauf nicht nur ein zeitliches Moment, sondern wird in einen »transzendenten Sinnhorizont« implementiert.621 Das ›politische Modell‹ (bei Wilhelm Peraldus und Aegidius Romanus) erscheint als eine Vereinfachung des ›christlichen Modells‹; »Altersstufen« kommt »vor allem eine pragmatische Rolle« zu.622 Unabhängig von der Art des Modells fungieren Altersstufen als »diskursive, topische und symbolische Ordnungen«,623 sodass die diesen Modellen zugrunde gelegte »Matrix« über eine »epochenspezifische Signatur« verfügt.624 Die Verfahren der Altersstufenbildung basieren, verallgemeinert man Friedrichs Typologie, auf Verlaufsformen (philosophisches Modell) und Analogiebildungen (humoralpathologisches Modell); entsprechend unterschiedlich sind die narrativen Muster, nach denen das Leben konzipiert wird (kurvenförmig, ›linear‹, ›zyklisch‹, mal mehr mal weniger final und damit ›geschlossen‹), und die Zusammenhänge, in denen es gedacht wird (isoliertes Menschenleben vs. genealogische Reihe). Somit ergeben sich unterschiedliche Wertigkeiten für die ›Struktur‹ von Zeit (›linear‹ und ›zyklisch‹), unterschiedliche Rahmen (genealogische Reihe) und verschiedene Weltmodelle. Was diese Modelle aber, jenseits aller Differenzen verbindet, ist ihre relativ ›geschlossene‹ Form. Der zeitliche Verlauf des Lebens ist eingekleidet in eine verbindliche Form, die numerischen Regeln folgt. Als Wissenselemente sind diese Modelle über das Mittelalter hinaus aktuell. Peter Rusterholz macht berechtigterweise aber auf die Bedeutung der Texttypen für die Tradierung und Aktualisierung dieser Modelle aufmerksam. »Populäre Textsorten wie Flugblätter, Kalendersprüche, Hochzeits- und Taufzettel entsprechen normierten Idealtypen, Diskursen, literarische Textsorten differenzierterer Art eröffnen aber verschiedene Möglichkeiten der Deutung«.625 Rusterholz’ Diagnose kann auch mit Blick auf die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit Geltung beanspruchen, denn so prominent diese Lebensaltermodelle in der Frühen Neuzeit auch sind, so bleibt ihr Einfluss auf die narrativ-numerische Strukturie|| 620 Friedrich (Anm. 613), S. 62. 621 Friedrich (Anm. 613), S. 68. 622 Friedrich (Anm. 613), S. 71. 623 Friedrich (Anm. 613), S. 75. 624 Friedrich (Anm. 613), S. 49. 625 Peter Rusterholz: »Liebe, Tod und Lebensalter. Wandlungen in der Literatur der Frühen Neuzeit«. In: Heiner Fangerau u. a. (Hrsg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Berlin 2007, S. 37–57, hier S. 37.
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rung von großen ›biographischen Erzählungen‹ verhältnismäßig gering. In Grimmelshausens Courasche (1670) gibt eine Kombination von humoralpathologischem und astrologischem Modell die motivisch-thematischen Schwerpunkte des Romans vor, jedoch wird damit nicht die biographische Zeit der Protagonistin in definierte Zeitsegmente eingeteilt. Beispiellektüre 18: Lebensaltermodelle: die vier Lebensalter der Frau in Grimmelshausens »Courasche« Als Wissenselemente sind Lebensaltermodelle präsent. Auerhan verknüpft im Wagnerbuch bei seiner Erklärung des zahlentektonischen Zusammenspiels der Welt die vier Jahreszeiten mit den vier Altern des Menschen: Gleich wie die Sonne mjt jhrem Jahrs lauff vier Zeitten macht / Also / das eine ein ander Complexion als die andere / vnnd also widerwertiger Natur sein. Also macht auch das Leben in dem Menschen vier vnderschiedliche Alter / als erstlich die Kindtheit / wirdt vergleicht dem Lentzen da alle ding wachsen. Die Jugent wirdt vergleicht dem Sommer / da sie anfahen gar starck zu werden. Die Ma]heit wirdt gleich gesch(tzt dem Herbst / da die FrFcht reiff sein / vnd den letzlich das Alter wirdt vergleicht mit dem Winter / da alle ding sterben vnd zu grund gehen / wie denn auch die Vegetabilischen C=rper alle inn Corruption vnd Todt gehen. (CW 82r)
Bei dieser sehr allgemeinen Analogisierung von zyklischen Abläufen626 handelt es sich seines Erachtens nicht um einen isolierten Fall, sondern um ein weltstrukturierendes Leitprinzip. »Solche vergleichung«, wie Auerhan Wagner gegenüber betont, »k=nt ich dir gar viel anzeigen / wenn ich wolte« (CW 82r). Die Präsenz dieser Modelle oder punktuelle Anspielungen auf sie bedeuten aber nicht, dass die biographischen Linien von Protagonisten immer entlang dieser erzählt werden würden. Die Thematisierung geht – jedenfalls im Fall Wagners – nicht mit der Umsetzung des Programms einher, anders dagegen in Grimmelshausens Courasche, in der Lebensalter und astrologische Ordnungsmuster enggeführt sind.
|| 626 Dies ist eine gängige Verknüpfung, denn die »Zusammenordnung von Jahreszeiten und Lebensaltern hat […] im 16./17. […] Jh. zahlreiche Beispiele«, vgl. Thomas Bein: »Lebensalter und Säfte. Aspekte der antik-mittelalterlichen Humoralpathologie und ihre Reflexe in Dichtung und Kunst«. In: Henri Dubois (Hrsg.): Les Âges de la vie au Moyen Âge. Bonn/Paris 1992, S. 85– 106, hier S. 104. Bein präsentiert leider nur Beispiele aus der Lyrik sowie der Emblematik und nicht aus der Erzählliteratur.
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Im ersten Kapitel des Romans rechtfertigt die Erzählerin die Schilderung ihres Lebens durch ein vorgeschobenes Bekehrungsmotiv, das seinerseits auf ihrem fortgeschrittenen Alter beruht:627 JA! (werdet ihr sagen / ihr Herren!) wer solte wol gemeint haben / daß sich die alte Schell einmal unterstehen wFrde dem kFnfftigen Zorn Gottes zu entrinnen? Aber was wolt darvor seyn / sie muß wol! dann das Gumpen ihrer Jugend hat sich geendigt! ihr Muthwill und Vorwitz hat sich gelegt / ihr beschwertes und ge(ngstigtes Gewissen ist aufgewacht / und das verdrossene Alter hat sich bey ihr eingestellt (CO 19)
Und im weiteren Verlauf ihres »Vorbericht[s]« betont sie: »ich weiß die Art der unterschiedlichen Alter eines jeden Weibsbilds / und best(ttige mit meinem Exempel / daß der alte Hund schwerlich b(ndig zu machen« (CO 21). Courasche führt ihre Eigenschaften explizit auf die Wirkung der Körpersäfte zurück, wenn sie sich mit einer rhetorischen Frage nochmals an die eingangs angesprochenen Herrn richtet: die Cholera hat sich mit den Jahren bey mir vermehrt / und ich kan die Gall nicht heraus nehmen / solche wie der Metzger einen S(u-Magen umbzukehren und auszubutzen; wie wolte ich dann dem Zorn widerstehen m=gen? wer will mir die Fberh(uffte Phlegmam evacuirn und mich also von der Tr(gheit curiren? Wer benimmt mir die Melancholische Feuchtigkeit / und mit derselbigen die Neigung zum Neid? (CO 21)
Vor dem Hintergrund der Studien von Klaus Haberkamm zum ›sensus astrologicus‹628 hat Eva Philippoff herausgearbeitet, dass die Vorstellung von vier Lebensaltern in Kombination mit den sieben Planeten-Phasen den Rahmen der Handlung bildet. Wie sie ausführt, so ist der Roman »eindeutig nach dem Gesetz der Sieben komponiert«.629 Paratextuelle, motivische und numerische Aspekte werden dabei verschränkt: Der Roman sei der siebte Teil im simplicianischen Zyklus; er bestehe aus insgesamt 28 Kapiteln (4 x 7); in den Roman eingewobene Gedichte seien dieser numerischen Grundkomposition verpflichtet; der Na-
|| 627 Im Folgenden mit der Sigle CO im Haupttext nachgewiesen, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Courasche. In: Ders.: Courasche / Springinsfeld / Wunderbarliches Vogelnest I und II / Rathstübel Plutonis. Hrsg. v. Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2007, S. 9–151. 628 Klaus Haberkamm: Sensus astrologicus. Zum Verhältnis von Literatur und Astrologie in Renaissance und Barock. Bonn 1972; Klaus Haberkamm: »›Sensus astrologicus‹ auch in Grimmelshausens ›Courasche‹? Vorläufiges zu einer offenen Frage des simplicianischen Zyklus«. In: Daphnis 5 (1976), S. 343–368. 629 Eva Philippoff: »›Sensus astrologicus‹ in Grimmelshausens ›Courasche‹. Ein Beitrag zur astrologischen Aufschlüsselung von Grimmelshausens Werk«. In: Daphnis 7 (1978), S. 531–547, hier S. 535.
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me der Protagonistin setze sich aus sieben Buchstaben zusammen, sie sei sieben Mal verheiratet gewesen und die Abmachung mit Springinsfeld umfasse sieben Punkte.630 Und schließlich sei das Leben der Courasche an der chaldäischen, siebengliedrigen Planetenreihe ausgerichtet: Saturn – Jupiter – Mars – Sonne – Venus – Merkur – Mond.631 In diese Reihe sind die Lebensalter insofern eingefügt, als »die Jupiter-Mars-Saturn- und Mondphase jeweils mit den vier Lebensaltern der Frau – sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch – übereinstimmen«.632 Zugleich korreliert diese Einteilung mit der Kapitelgliederung, die aus mehr oder minder gleichmäßig gebauten Gruppen besteht. Mit den vier Lebensabschnitten sind jeweils bestimmte Figureneigenschaften verbunden. In der sanguinischen Phase des Jupiters (Kap. 2 bis 5) ist Courasche schön, mit Blick auf die Umstände hat sie relativ viel Glück, sodass sie zur Offiziersfrau wird. Mit dem 6. Kapitel beginnt die cholerische Mars-Phase, denn Courasche wird tief in das Kriegsgeschehen verwickelt: Sie gibt einen tapferen und skrupellosen Soldaten ab und weiß sich in der Männerdomäne durchzuschlagen. In den folgenden Kapiteln überlagern sich die Planeten-Phasen teils, aber dennoch lassen sich Dominanzen erkennen: Von der Mitte des 9. bis zum 14. Kapitel des Romans wird der Verlauf von der Sonne geleitet, Courasches Leben steht »unter dem Zeichen der Ehre, des Ansehens und der Wohlhabenheit«.633 In den Fokus rücken monetäre Aspekte und Courasches strategisches Handeln; zugleich wird ihre Identität, immerhin entstammt sie einem böhmischen Adelshaus, entdeckt. Es schließt sich die Venus-Phase an, in der Motive der Liebe und Sexualität in den Vordergrund rücken (sie durchziehen freilich den gesamten Roman); ab dem 15. Kapitel kommen Einflüsse des Merkurs hinzu, die Handel und List aufwerten. Mit dem 17. Kapitel beginnen SaturnElemente zu dominieren, die den Roman als Zaubermotive, begleitet von Rache, Bosheit und Melancholie bis zum Ende bestimmen. In Kapitel 25. kommen dann noch phlegmatische Mond-Elemente hinzu, die bereits im 23. Kapitel vorbereitet werden (das Glück nimmt zunehmend ab) und bezeichnenderweise im 28. Kapitel ihren Abschluss finden.634 Nicht von den »verschiedenen Wechselfällen ihres Lebens ist Courasche« bestimmt, sondern »von den vier Lebensaltern der Frau«:
|| 630 Vgl. Philippoff (Anm. 629), S. 535; Haberkamm 1976 (Anm. 628), S. 350 f. 631 Philippoff (Anm. 629), S. 536 und vgl. S. 547. 632 Philippoff (Anm. 629), S. 537. 633 Philippoff (Anm. 629), S. 540. 634 Es liegt eine Äquivalenz zwischen der Umlaufzeit des Mondes und der Kapitel-Nummer vor, vgl. Philippoff (Anm. 629), S. 547.
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[d]as sanguinische Alter der Jugend mit seiner noch unbelasteten, wenn auch schon unersättlichen Sexualität, das cholerische, dem Krieg zugewandte zweite, das melancholische, rach- und habsüchtige dritte, sowie schließlich das abgekühlte, phlegmatische vierte Lebensalter […].635
Die Lebensalter werden in der Courasche also vornehmlich an der Wirkung der Planeten im Zusammenspiel mit den Körpersäften festgemacht, weniger über numerische Altersangaben, die insgesamt recht selten sind.636 Als Konzept strukturieren sie also die thematisch-motivischen Schwerpunkte des Romans, ohne aber eine zeitliche Struktur für die Handlung oder die erzählte Welt vorzugeben (das unterscheidet die Gestaltung des Lebenslaufmodells in der Courasche von den in der Frühen Neuzeit populären numerisch gegliederten Altersmodellen).
4.3.4 Weltalter: das Ende und die geschlossene Form der Geschichte Die spätantike und mittelalterliche Theologie und Historiographie haben die Weltgeschichte in unterschiedliche ›Alter‹ gegliedert, die ihren »absoluten Anfang« und ihr »absolute[s] Ende« verbinden und ihr so eine Teleologie einschreiben,637 die sie von griechisch-antiken Vorstellungen vom zyklischen Geschichtsverlauf grundlegend unterscheidet.638 Diese Modelle sind, so lange ein »heilsgeschichtliche[s] Denken[ ]« virulent bleibt, auch über das Mittelalter hinaus »lebendig«,639 werden aber ab der Frühen Neuzeit zunehmend hinterfragt.640 || 635 Philippoff (Anm. 629), S. 533. 636 Die historische Verortung zu Beginn des Romans basiert auf einer Kombination von historischer Referenz und Altersangabe (»als der B(yernfFrst mit dem Bucquoy in B=hmen zog / den neuen K=nig widerumb zu verjagen / da war ich ein fFrwitziges Ding von dreyzehen Jahren«, CO 23); beiläufig heißt es später mal: »dann ich hatte damals allbereit schier viertzig Jahr erlebt« (CO 134). Insegesamt erfolgt die Datierung von Ereignissen vor allem durch den Bezug auf historische Ereignisse, sodass die Zeit in hohem Maße eine ›konkrete‹ Qualität besitzt. 637 Roderich Schmidt: »Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte«. In: Ders.: Weltordnung – Herrschaftsordnung im europäischen Mittelalter. Darstellung und Deutung durch Rechtsakt, Wort und Bild. Goldbach 2004, S. 1–30, hier S. 1. 638 Vgl. Löwith (Anm. 105), S. 14 und S. 16. 639 Voßkamp (Anm. 546), S. 19. Man findet sie beispielsweise ebenso in Tomaso Garzonis Piazza Vniversale, wo sie im Rahmen des Diskurses »Von den Historicis, oder Geschichtschreibern« (S. 275 ff.) abgehandelt werden, wie auch im Zedler (Bd. 1 [1732], Sp. 1550 ff.). Bezeichnenderweise werden Welt- und Lebensalter in beiden Darstellungen zusammen abgehandelt. Neben den schriftlichen Dokumenten stehen – ebenso wie im Fall der Lebensalter – Flugschriften, Einblattdrucke sowie Artefakte der bildenden Kunst, die die Vorstellung von den vier
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Wenngleich sie eine relativ stabile Grundstruktur besitzen, sind sie bereits vor der Frühen Neuzeit Gegenstand von »Abwandlungen, Vermischungen und Verflechtungen«.641 Denn sie basieren auf der typologischen Auslegung biblischer Texte und der Analogisierung von Weltschöpfung, Weltaltern und Lebensaltern,642 die sie als Teil der Denkfigur von Mikro- und Makrokosmos ausweisen und zudem einer numerischen Strukturierung verpflichten. Der Festsetzung der einzelnen historischen Perioden liegen immer neue Berechnungen zugrunde, sodass in dieser Hinsicht Differenzen zwischen den Modellen bestehen.643 In ihrer teleologischen Ausrichtung laufen sie aber auf dieselbe historische Diagnose hinaus: Die Endzeit stehe unmittelbar bevor.644 Die »Datierung des Endes« erscheint als »›Variable‹«, die »Gewißheit des Endes« hingegen ist die »›Konstante‹«.645 Die Bedeutung des Endzeitbewusstseins variiert je nach konfessionellem Kontext, denn die Erwartung eines baldigen Endes hat im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert das Luthertum mehr beeinflusst als die Reformierten und die römisch-katholische Kirche.646 Auch das Ende wird verschieden gedacht. Möglich erscheinen sowohl das Jüngste Gericht als auch – in chiliastischer Tradition – der Beginn eines Tausendjährigen Reiches.647 Die Narrative, die von Weltaltermodellen zur Verfügung gestellt werden,
|| Monarchien visualisieren, vgl. Edgar Marsch: Biblische Prophetie und chronographische Dichtung. Stoff- und Wirkungsgeschichte der Vision des Propheten Daniel nach Dan. VII. Berlin 1972; Wolfgang Harms (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 1 (München 1979), S. 28 f. und Bd. 2 (München 1980), S. 2 f. 640 Vgl. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 97 f. und S. 169 f.; Klempt (Anm. 58). 641 Schmidt (Anm. 637), S. 30. 642 Vgl. Dan. 2,21: »Er [Gott der Herr, L. W.] endert zeit vnd stunde Er setzt zeit / wie lang ein jglich Reich stehen / Ja wie lang ein jglich Mensch leben / vnd ein jglich ding weren / sol.«. 643 So unterscheiden sich beispielsweise die Berechnungen der Dauer der einzelnen Weltalter und des erwarteten Endes der Geschichte; zu Isidor von Sevilla und Beda Venerabilis vgl. Schmidt (Anm. 637), S. 6 (Fußnote 33). 644 Vgl. Ernst Koch: »Bibelauslegung und Endzeiterwartung in der frühen Neuzeit«. In: Barbara Haupt (Hrsg.): Endzeitvorstellungen. Düsseldorf 2001, S. 313–329; den »Versuch einer Typologie der Apokalyptik im 16. Jahrhundert« liefert Kaufmann (Anm. 529), S. 416–422. 645 Thomas Kaufmann: »1600 – Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum«. In: Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. (Hrsg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 73–128, hier S. 91. 646 Vgl. Kaufmann (Anm. 529), S. 127. 647 Vgl. Richard Bauckham: »Chiliasmus. IV. Reformation und Neuzeit«. In: TRE, Bd. 7 (1981), S. 737–745. Gerade im Umfeld des radikalen Pietismus wird um 1700 der Beginn des Tausendjährigen Reiches erwartet, vgl. Hans Schneider: »Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700«. In: Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. (Hrsg.):
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lassen die Gegenwart deutbar werden und sie ermöglichen, die historische Erfahrung in einen sinnhaften Gesamtzusammenhang einzugliedern. Drei Modelle, ihre Variationen und Kombinationen gehören in besonderem Maße zum kulturellen Wissen der Frühen Neuzeit. Im exegetischen Rekurs auf die Paulinischen Briefe hat man ein dreigliedriges, gleichmäßig gestuftes Modell der Weltalter vertreten; in Analogie zu den göttlichen Schöpfungstagen ein sechs- oder siebengliedriges Modell und ausgehend vom Buch Daniel ein viergliedriges Modell der einander abwechselnden Monarchien. So unterschiedlich diese Modelle und ihre Variationen auch sind, so vereint sie doch ihre auf Analogien gründende Struktur, ihre teleologische Ausrichtung, die Geschlossenheit des angenommenen Geschichtsverlaufs und damit auch die ›Geschlossenheit‹ des entworfenen zeitlichen ›Horizonts‹. Sie bilden also genuin narrative, symbolische und geschlossene Formen und die ihnen zugrunde liegende Struktur verweist unmittelbar auf die göttliche Ordnung sowie einen providenziell organisierten Weltverlauf (Kap. 4.3.2). Narrativ wichtiger ist weniger die konkrete Ausprägung eines Modells, sondern vielmehr seine symbolische Dimension und seine sinnhafte Geschlossenheit; darin stimmen sie mit den Lebensaltermodellen überein, erstere bilden gleichsam eine übergeordnete Struktur für letztere. Drei Zeitalter. Das dreigliedrige aetates-Modell, das sich auf Paulus’ Römerbriefen stützt,648 basiert auf der Reihe ante legem, sub lege und sub gratia. Die Periode ante legem umfasst die Zeit zwischen Adam und Moses, als durch das »Naturgesetz« Gott in seiner Schöpfung erkannt werden konnte.649 Sub lege lebte der Mensch in der Zeit von Moses bis Christus, als seine »Lebensordnung« durch das »geschriebene[ ] Gesetz[ ]« reguliert war.650 Mit Christus schließlich beginnt die »Rechtfertigung durch Gnade«. Im Rahmen einer auf 6000 Jahre prognostizierten »Geschichtszeit«,651 die sich aus der Analogie von Schöpfungszeit und Weltzeit sowie der Entsprechung von göttlichem Tag und menschli-
|| Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 187–212. 648 Vgl. Röm. 6,14 (m. H.): »Denn die sünde wird nicht herrschen können vber euch / Sintemal jr nicht vnter dem Gesetze seid / Sondern vnter der Gnade.« 649 Voßkamp (Anm. 546), S. 14; vgl. Alois Dempf: Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance. 4., unveränderte Aufl. Darmstadt 1973, S. 78–80. 650 Dempf (Anm. 649), S. 79. 651 Voßkamp (Anm. 546), S. 14.
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chem Jahrtausend ergibt,652 dauert jedes Zeitalter 2000 Jahre. In seiner Supputatio annorum mundi (1541/1545) folgt Martin Luther diesem Modell und trägt damit maßgeblich zu seiner Popularisierung bei.653 In Luthers Supputatio werden die letzten 2000 Jahre aber nicht als volle Einheit gedacht, sondern verkürzt,654 denn – so die Argumentation – Christus hat nicht ganze drei Tage bis zu seiner Auferstehung gewartet, sondern war bereits am Ostermorgen auferstanden. In historischer Langperspektive verortet Luther deshalb die eigene Gegenwart im Vorfeld des nahen Endes.655 Daraus leitet sich das in der Supputatio implizite »Endzeitbewußtsein« ab, doch Luther verzichtet – im Gegensatz zu Michael Stiefel656 und Philipp Nicolai657 – auf eine konkrete Datierung des Endes. Zweierlei ist in diesem Modell bemerkenswert: zum einen die aufbauende Dreier-Reihe mit ihrer finalen Ausrichtung, die die eigene Gegenwart an ihrem Ende sieht; und zum anderen die eindeutige Verbindung von epochalen Zuschnitten mit Leitsemantiken (Natur – Gesetz – Gnade). Sechs Weltalter. Grundlage der Weltalterlehre bei Augustinus ist die Analogisierung von Schöpfungsakt und Weltgeschichte: »Der Schöpfungswoche entspricht die Weltenwoche«,658 sodass im »kosmologischen Wirken Gottes […] sein historiologisches vorgebildet« ist.659 Als Anknüpfungspunkt dient Augustinus das vom Evangelisten Matthäus erstellte Geschlechtsregister: »Adam – Noah – Abraham – David – Babylonische Gefangenschaft – Christi Geburt – Weltende«.660 In einem weiteren Schritt schlägt er dann den Bogen zu den Lebensaltern. Die infantia der Weltgeschichte umfasst die Zeit zwischen Adam und Noah, die pueritia die Zeitspanne zwischen Noah und Abraham und die adolescentia diejenige zwischen Abraham und David; die iuventus erstreckt sich zwischen David und der Babylonischen Gefangenschaft und die gravitas von der Gefangenschaft bis auf Johannes den Täufer, die senectus schließlich von
|| 652 Vgl. Ps 90,4: »Denn tausent jar sind fur dir / wie der Tag der gestern vergangen ist / Vnd wie eine Nachtwache« und 2. Petr. 3,8: »EJnes aber sey euch vnuerhalten / jr lieben / Das ein tag fur dem HERrn ist wie tausent jar / vnd tausent jar wie ein tag.« 653 Vgl. Voßkamp (Anm. 546), S. 93–98. 654 Zum Konzept der verkürzten Zeit vgl. Koselleck (Anm. 115). 655 Vgl. Voßkamp (Anm. 546), S. 94 f. 656 Michael Stiefel berechnete das Ende der Welt auf 8 Uhr am 19. Oktober 1533. 657 Nicolai setzt das Ende der Welt auf das Jahr 1670 fest, aber schon vor ihm wurde das Ende der Welt für die Jahre 1588, 1600 und 1604 propagiert, vgl. Kaufmann (Anm. 529), S. 80 und S. 86. 658 Schmidt (Anm. 637), S. 5, H. i. O. 659 Dempf (Anm. 649), S. 117. 660 Schmidt (Anm. 637), S. 6.
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Christus bis zum Weltende.661 Nach den sechs Weltaltern wird die Welt aus der Zeit in die Ewigkeit überführt (vgl. Kap. 4.3.1). Bei der Bestimmung der historischen Abstände greift Augustinus nicht auf die Analogisierung von göttlichem Tag und menschlichem Jahrtausend zurück, sondern auf die genealogische Reihe der Vorfahren Christi. Für die ersten beiden Alter werden je zehn Generationen zugrunde gelegt, für die drei nachfolgenden, in Anlehnung an Matthäus, je vierzehn (Matth 1,17); die Zahl der Generationen des sechsten Weltalters wird von Augustinus offengelassen. Schließlich kombiniert Augustinus die innere Struktur eines Weltalters mit dem Verlauf eines Tages mit Morgen und Abend. 662 So entwirft er ein »durchgebildetes symbolisches System«,663 das auf numerischer Symmetrie und Analogisierung basiert. Die mittelalterlichen Konzeptionen der Weltalter, die der typologisch-allegorischen Deutung und der numerischen Symbolik verpflichtet sind, variieren so stark, dass man schwerlich von »dem Weltalterschema« sprechen kann.664 Dies gilt gleichermaßen für die Ausprägungen in der Frühen Neuzeit.665 Entscheidend für die historische Auswertung der Variationen dieser Weltaltermodelle ist weniger die exakte und immer gleiche Tradierung eines Modells, sondern vielmehr dessen Intaktheit – also letztlich die Geschlossenheit und metaphysische Fundierung der Weltgeschichte. Die frühneuzeitlichen Umdeutungen dieser Modelle lassen sich schwerlich zu einer historischen Linie vereinheitlichen. Eine zunehmende Öffnung des Modells wurde bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert bei dem Nürnberger Gelehrten Hartmann Schedel diagnostiziert. Sein 1493 erschienenes Buch der Chroniken ist nach den sieben Weltaltern gegliedert.666 Beendet wird die Darstellung des sechsten Weltalters
|| 661 Vgl. A. Müller: »Lebensalter«. In: HWdPh, Bd. 5 (1980), Sp. 112–114, bes. Sp. 114. 662 Vgl. Dempf (Anm. 649), S. 118. 663 Dempf (Anm. 649), S. 118. 664 Schmidt (Anm. 637), S. 27, H.i.O. 665 Garzoni (Anm. 607), S. 286: So differenziert Tomaso Garzoni im Rückgriff auf diese Traditionen: Das erste Weltalter reicht von Adam zu Noah (1656 Jahre), das zweite von Noah bis Abraham (292 Jahre), das dritte von Abraham bis Moses (505 Jahre), das vierte von Moses bis zum Anfang des Tempels Salomon (480 Jahre), das fünfte von da an bis zur babylonischen Gefangenschaft (470 Jahre), das sechste Weltalter von der Gefangenschaft bis zur Geburt Christi (587 Jahre), das siebte Alter schließlich umfasst die Zeit von der Geburt Christi bis zum Ende der Welt. 666 In seiner Systematik richtet sich auch Schedel an analogen Strukturen aus, ohne dabei auf systematische Kohärenz zu zielen. »DEr werlt altere werde[n] in gleichnus weis genomen nach d[er] mensche[n] alter«: Es seien »scehs [sic!] alter der werlt« (Bl. VIr). Der Übergang vom sechsten zum siebten Weltalter gestaltet Schedel gleichermaßen über rechtfertigende Analogien: Gott habe die Welt an sechs Tagen geschaffen, am siebten aber geruht. »Nw ist sybne ein
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von einem bezeichnenden Hinweis: »zu beschreibung mer gschihten oder künftiger ding’ sinn hernach ettliche pletter lere gelassen«.667 Gertrud Bodmann deutet dieses drucktechnische Detail als mentalitätsgeschichtlichen Einschnitt, denn »Schedels Werk kennt trotz des Charakters einer ›Weltchronik‹ nicht mehr nur ›verflossene Zeiten‹; man kann offensichtlich weiter denken und weiterzählen in eine nachfolgende Zeit hinein«.668 Gemeint sei damit aber nicht das Jüngste Gericht, das den Abschluss der Geschichte bildet (obwohl es integraler Bestandteil von Schedels Darstellung ist), vielmehr kann sich, wie sie im Rückgriff auf Koselleck formuliert, »›Erwartung‹ […] auf ›menschliche‹, ›weltliche‹ Zukunft richten«.669 Damit verliert das Modell aber keineswegs an Bedeutung, denn es wird im Rahmen von Jacques Bénigne Bossuets Universalgeschichte – freilich »[l]etztmals in der abendländischen Theoriegeschichte« zum Instrument absolutistischer Politik.670 Bossuet unterteilt in seiner Abhandlung für den Dauphin Discours sur l’histoire universelle (1681) die Weltgeschichte in zwöf »Epochen«, die sich auf die sieben Weltalter (wie sie auch bei Garzoni gegliedert sind) verteilen.671 Und Bossuet umreißt – in einer zweiten komplementären Perspektive auf den Verlauf der Geschichte – die Bedeutung der vier Monarchien für die Geschichte des Volkes Israel. Die darin enthaltenen metaphysischen Vorstellungen von einer symbolischen und providenziell organisierten Welt verweisen auf die Strukturprinzipien des höfischen Barockromans, auch wenn in ihm selbst das Weltalter-Schema nicht expressis verbis in Anschlag gebracht werden muss.
|| volkomne zal dann es sind syben tag der wochen. vnnd syben stern die nicht undergeen« (Bl. CCLXr). Die Geschichte der Welt umfasst sechs Alter, das siebte Alter geht mit der Ankunft des Antichristen, dem Ende aller Dinge, dem letzten Gericht und der anschließende »růe der selen« einher, vgl. Hartmann Schedel: Weltchronik. Nürnberg 1493. Deutsche Ausgabe im Originalformat von 1493. Hrsg. v. Anne Rücker und Frederik Palm. Lahnstein 2010, hier Bl. CCLXr. Neben diesen sieben Altern, die Schedel auch ausführt, nennt er zu Beginn ein achtes, das er als Alter der »auffersteenden« versteht (Bl. VIr) – dieses bleibt aber undargestellt. 667 Schedel (Anm. 666), Bl. CCLVIIIv. 668 Gertrud Bodmann: Jahreszahlen und Weltalter. Zeit- und Raumvorstellungen im Mittelalter. Frankfurt a. M. 1992, S. 230. 669 Bodmann (Anm. 668), S. 230. 670 Frick (Anm. 42), S. 82; vgl. auch Löwith (Anm. 105), S. 129–135. 671 Vgl. Muhlack (Anm. 640), S. 159.
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Beispiellektüre 19: punktuelle Referenzen auf Weltaltermodelle: »Apollonius« und »Assenat« Ebenso wie auf Lebensaltermodelle wird auch auf Weltaltermodelle punktuell zurückgegriffen, aber mit je unterschiedlichem Anspruch. Heinrich Steinhöwel stellt seiner Apollonius-Bearbeitung von 1460672 eine ausführliche historische Verortung der Handlung voran, dabei orientiert er sich an Gottfrieds von Viterbo Weltchronik Pantheon, die im 12. Jahrhundert entstanden ist, aber noch von Hartmann Schedel im ausgehenden 15. Jahrhundert als Quelle zu Rate gezogen wird. Entfaltet wird von Steinhöwel ein ganzes historisches Bezugsfeld, in dessen Hintergrund unter anderem auch Weltaltermodelle stehen. Begonnen wird mit der historischen Verortung Alexanders des Großen, dabei dienen ihm Adam und die Sintflut als Weltaltermarken ebenso als Referenzpunkte wie die Gründungs- und Zerstörungsdaten von Rom und Troja: Als volgiengen von Adam viertusent siben hundert acht vnd viertzig iar, von dem hinflus zwaijtusent acht vnd drisig jar, von tailung der zungen tusent nünhundert siben vnd drissig iar, von dem kaiser tům Nijni in Assiria tusent nünhundert ains vnd zwaintzig jar, von der zerstörung Troije siben hundert zwaij vnd sibentzig jar, von dem anfang der stat Rom vierhundert siben vnd zwaintzig jar, fieng an zeregniren der gros Allexander […]. (AP 155)
Steinhöwel rechtfertigt seinen historischen Exkurs damit, »das man dar uß dester bas wissen müg, wie lang vor der gepurt Cristi Appolonius gewesen sie« (AP 161). Und schließlich stellt er am Ende seiner historischen Einleitung fest: Nun regniret Seleucus, der durchächter673 Appolonij, da man zalt von anfang Rom vierhundert vier vnd achczig iar; danocht belibt zwaij hundert acht vnd sechczig jar zů der gepurtt Cristi von Appolonij vngefell. (AP 161)
Ziel dieser Verortung ist es, die »historische Glaubwürdigkeit, die res factae der nachfolgenden Erzählung zu erhöhen«;674 diese ist durch eine Zwischenüber-
|| 672 Zum Verhältnis zwischen der Historia Apollonii und Steinhöwels Bearbeitung vgl. Werner Röcke: »Mentalitätsgeschichte und Literarisierung historischer Erfahrung im antiken und mittelalterlichen Apollonius-Roman«. In: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 91–103. 673 Im Sinne von ›Verfolger‹ und ›Unterdrücker‹, vgl. [Lemma] »durchächter«. In: DWB, Bd. 2, Sp. 1580 f. 674 Tina Terrahe: Heinrich Steinhöwels ›Apollonius‹. Edition und Studien. Berlin/Boston 2013, S. 79.
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schrift vom Versprolog und der Alexandergeschichte abgetrennt.675 Die von Steinhöwel erzählte Geschichte versteht sich damit nicht als erfundene Erzählung, sondern als Lebensbeschreibung eines realen Herrschers, die zugleich unterhalten und als Exempel dienen kann. Die Verortung entlang historischer Referenzdaten ist Ausdruck dieses Anspruchs; die im Anschluss an die Verortung erzählte Geschichte folgt aber dem spezifischen Zusammenspiel von Raum, Figur und Zeit, das charakteristisch ist für den spätantiken Liebesroman (vgl. Kap. 4.1.3; Kap. 6 und Kap. 10).676 Im Gegensatz zu Steinhöwels gesetzter Datierung, die die verbindliche historische Folie für die Handlung liefert, ist Philipp von Zesen in seiner Assenat zwar ebenso um historische Präzision wie um Wissensvermittlung677 bemüht und greift deshalb auf das Weltaltermodell mit seinen Datierungsmöglichkeiten zurück, doch schafft dieses bei ihm keine verbindliche Ordnungsstruktur, sondern zeigt Widersprüche auf. Als Joseph mit dem Erzbischof einen Spaziergang macht, besichtigen sie die »fFrtrefliche Sonnenspitze / welche die allererste war / die man in der gantzen welt gesehen«. Und der Erzähler weiß über ihren Bau zu berichten: »Dieses geschahe Fm das 2213 jahr nach erschaffung der welt / und vor der heilgebuhrt im 1840« (AS 208; vgl. AS 385 f.). Ob die Datierungen von den beiden Orientierungspunkten her zuverlässig sind, daran lässt Zesen selbst Zweifel aufkommen.678 Das Problem verschärft sich für Zesen, als er versucht, Josephs Alter und seine genaue Position innerhalb des dritten Weltalters zu bestimmen; er diskutiert dabei verschiedene Meinungen:679
|| 675 Die Zwischenüberschrift orientiert sich an älteren Incipit-Formeln (»Hie vachet an Appolonius vngefell«); in der späteren Überlieferung des Apollonius wird die AlexanderGeschichte samt der historischen Datierung in die »Vorred« verschoben – so beispielsweise in den Augsburger-Drucken von 1471 und 1552 (vgl. Digitalisat von VD16 A 3136) und im Nürnberger-Druck von 1673 (vgl. die Schlüsselseiten von VD17 23:330386N). 676 Vgl. Röcke (Anm. 672), S. 98. 677 Vgl. zu den von Zesen benutzten Quellen Volker Meid: »Nachwort des Herausgebers«. In: Philipp von Zesen: Assenat. Hrsg. von Volker Meid. Tübingen 1967, S. *1–*54, hier S. *18–*23. 678 Ob diese beiden zeitlichen Perspektiven sich in einem Punkt treffen, wird durch den Kommentar Zesens in seinen Anmerkungen fragwürdig: »DAß dieses Fm das 2213 weltjahr / nicht lange vor Abrahams tode / geschehen ist / meldet Kircher in seinem Egiptischen Oedipus. Andere setzen es Fm das 1840 jahr vor der Heilgebuhrt. Ja fast kein Schreiber komt hierinnen mit dem andern in der jahrzahl Fberein« (AS 476). 679 Die von Zesen zitierte Geschichte der Assenat bezieht sich auf eine im Umfeld des Bischofs Robert von Lincoln im 13. Jahrhundert entstandene Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische. Zesen lag wohl eine deutsche Übersetzung der von Vinzenz von Beauvais im Speculum Historiale überlieferten Bearbeitung dieser Geschichte vor, vgl. Meid (Anm. 677), S. *20.
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LEvi sagt zwar in seinem Letzten willen: Josef sei im 118 jahre seines alters gestorben. Aber ich halte / daß es ein drukfehler ist / und daß die druksetzer die nichtigkeit 0 vor eine 8 angesehen. Dan nicht nur Moses / im letzten spruche seines ersten buches / sondern auch alle andere Geschichtschreiber / ja der Assenat Geschicht selbsten / schreiben ihm einh(llig nicht mehr als 110 jahre zu. Gemelte der Assenat Geschicht wird mit folgenden worten geschlossen: Und Josef ward in einen sarg gelegt / im 110 jahre seines alters / und im 80 seines FFrstentuhms / von der ersten Verheissung / dem Abraham / auf der straße nach Mesopotamien / gethan / im 278 / und nach Abrahams gebuhrt / von welcher das dritte alter beginnet / im 361 / aber vom anfange der Welt an / im 2309. Und Judas ist bis auf die zeit / da die kinder Israels aus Egipten gingen / nicht bewegt worden Die andern BrFder seind nach ihrem tode meist alle weggefFhret / und zu Hebron begraben; ja darnach wieder zu Sichem. In welchem jahre nach erschaffung der Welt Josef gestorben / seind die Geschichtschreiber nicht einig. Etliche setzen das 2390; aber ich muhtmaße / daß diese zahl versetzt sei / und 2309 heissen sol. Andere zehlen gar das 2399; da vielleicht die erste 9 vor eine 0 eingeschlichen: wieder andere noch anders. Die meisten aber setzen / daß er im 2761 jahre vor der Heilgebuhrt / und im 633 nach der sFndfluht gebohren; auch im 1651 ebenm(ßig vor der Heilgebuhrt / um im 743 nach der sFndfluht gestorben sei. Hiervon hetten wir sehr viel zu sagen: aber weder die zeit / nach [sic!] der hiesige raum / noch auch des Lesers geduld wil solche weitschweiffigkeit leiden. (AS 530 f.)
Auch wenn Zesen die Frage nach der zeitlichen Situierung Josephs innerhalb des Weltalterschemas nicht befriedigend lösen kann, wird von ihm damit nicht der vertretene kommunikative Anspruch und das gesamte heilsgeschichtliche Modell als ungültig verabschiedet. In der »Vorrede« hebt Zesen seine Assenat aus der Romangeschichte (von Heliodor bis in seine Gegenwart) als Besonderheit heraus, denn die erzählte Geschichte sei ›heilig‹ und ›nicht-erdichtet‹, auch wenn er durchaus bekennt, in die Geschichte eingegriffen zu haben: Hier siehestu dan klahr genug / daß ich diese Geschicht nicht unbillich heilig nenne: die ich noch Fber das / in ihrem gantzen grund-wesen / wie ich sie in der heiligen Schrift / und in den besten unter den andern gefunden / heil und unverrFkt gelaßen; wiewohl ich ihr zu weilen / nach dieser ahrt zu schreiben / einen h=hern und sch=neren schmuk und zusatz / der zum wenigsten wahrscheinlich / gegeben. (AS Vorrede, n. p.)
Dieser »sch=nere[ ] schmuk und zusatz« ändert jedoch nicht den vertretenen kommunikativen Anspruch: Sonsten seind alle dergleichen Liebsgeschichte fast bloße Gedichte. Auch ist sonsten zwischen dergleichen Geschichtschreibern / und rechten Dichtmeistern schier kein ander unterscheid / als daß jene in gebundener / diese in ungebundener rede schreiben. Aber diese meine Geschicht ist / ihrem grundwesen nach / nicht erdichtet. Ich habe sie nicht aus dem kleinen finger gesogen / noch bloß allein aus meinem eigenen gehirne ersonnen. Ich weis die Schriften der Alten anzuzeigen / denen ich gefolget. (AS Vorrede, n. p.)
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Der Rückgriff auf historiographische Modelle verweist also implizit auf den kommunikativen Anspruch. Ungeachtet dessen, dass die Datierung punktuelle Probleme mit sich bringt, präsentiert sich die in der Assenat entworfene Welt als eine durch und durch providenziell organisierte Welt. In dieser sind – ebenso wie in Grimmelshausens Joseph-Roman (vgl. Beispiellektüre 5) – die Ereignisse und ihre Zeitpunkte klar bestimmt. Vier Monarchien und die ›translatio imperii‹. Den biblischen Bezugspunkt der Idee der Vier-Monarchien-Lehre und der translatio imperii stellen vor allem die Bücher Daniel und Jesus Sirach dar.680 Denn Gott entscheidet, »wie lang ein jglich Reich stehen« soll (Dan 2,21); und »regnum a gente in gentem transfertur propter iniustitias et iniurias et contumelias et diversos dolos« (Ecclesiasticus 10,8). Die Folge der vier Reiche wird von Daniel aus Nebukadnezars Traum von einem Standbild, das aus Gold, Silber, Erz, Eisen sowie Ton besteht und zerstört wird, gedeutet (Dan 2,37–40):681 DV König bist ein König aller Könige / dem Gott von Himel Königreich / macht / stercke vnd ehre gegeben hat / vnd alles da Leute wonen / Da zu die Thier auff dem felde / vnd die Vogel vnter dem Himel in deine hende gegeben / vnd dir vber alles gewalt verlihen hat / Du bist das gülden Heubt. Nach dir wird ein ander Königreich auffkomen / geringer denn deines. Darnach das dritte Königreich / das Ehern ist / welchs wird vber alle Land herrschen. Das vierde wird hart sein / wie eisen / Denn gleich wie Eisen alles zumalmet vnd zuschlegt / ja wie eisen alles zubricht / Also wird es auch alles zumalmen vnd zubrechen.
Die vier Stoffe Gold, Silber, Erz und Eisen, die für vier Könige stehen, haben ihre Pendants in vier Tieren aus einem Traum Daniels. Daniel träumt von einem Löwen mit Adlerflügeln, einem Bären, einem Panther mit Vogelflügeln sowie einem Ungeheuer mit Hörnern, die vor das himmlische Gericht gestellt und entmachtet werden (Dan 7). Das vierte Reich aber »wird mechtiger sein / denn alle Reich« (Dan 7,23). Der biblische Prätext enthält also eine negative Steige-
|| 680 Vgl. zur Rezeption des Buchs Daniel vgl. Klaus Koch: Europa, Rom und der Kaiser vor dem Hintergrund von zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel. Göttingen 1997; Mariano Delgado u. a. (Hrsg.): Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches. Stuttgart 2003; zur translatio imperii vgl. Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958, S. 366–377; Voßkamp (Anm. 546), S. 17–19. 681 Den mittelalterlichen Exegeten dient dieser Traum auch als Referenzpunkt für die Festlegung der Lebensalter, vgl. Peter Kern: »Die Auslegung von Nabuchodonosors Traumgesicht (Dan 2,31–35) auf die Lebensalter des Menschen«. In: Henri Dubois (Hrsg.): Les Âges de la vie au Moyen Âge. Bonn/Paris 1992, S. 37–55.
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rungsfigur,682 denn die Wertigkeit der Metalle nimmt in der historischen Reihe ab und die bedrohliche Macht erlangt im vierten Reich ihren Zenit; mit dem Gericht kippt aber diese Konstellation insofern, als die menschliche Zeit durch die göttliche Ewigkeit ersetzt wird (Kap. 4.3.1). Der Stein, der die Statue zertrümmert, avanciert zum »Zeichen dafür, daß allen irdischen Reichen ein Ende gesetzt sei, wenn Gott seine ewig währende Königsherrschaft errichten werde«.683 Hieronymus lieferte in seinem Daniel-Kommentar eine Auslegung dieser Träume, der bis zu Luther »nahezu alle mittelalterlichen Exegeten« folgen.684 Er gestaltet sie entlang der Idee einer translatio imperii, dabei überträgt er fünfgliedrige Geschichtsschemata, die der lateinischen Historiographie bekannt waren, in das bei Daniel vorgefundene Vierer-Schema.685 Das erste dieser Reiche ist das babylonische Reich, das zweite das medisch-persische, das dritte das griechisch-makedonische und das vierte das römische. Die Übertragung der Macht von einem Reich auf das andere endet nun für die Nachfolger des Hieronymus nicht mit dem Untergang des römischen Reiches, dessen zunehmende politische Schwäche bereits die historische Folie von Hieronymus’ Kommentar lieferte, vielmehr wird von den mittelalterlichen Historiographen dieses bis in ihre Gegenwart fortgeführt. Indem die Franken mit Karl dem Großen im Jahr 800 die vierte Monarchie beerben, garantieren sie zugleich den »Fortbestand der Welt«: »Die ›Translatio imperii‹ ist notwendig gewesen; ohne sie wäre mit dem Ende des römischen Reiches der Antichrist erschienen«.686 Die kulturgeschichtliche Bedeutung der beiden biblischen Passagen, Dan 2 und Dan 7, wechselte vom Beginn der Frühen Neuzeit zu ihrem Ende. Im späten Mittelalter verliert die Vision nach Dan 7 zunehmend an Bedeutung, in den Fokus rückt hingegen die »pessimistische Geschichtsdeutung« nach Dan 2, die dann vor allem das 17. Jahrhundert dominiert.687 Wie im Fall der Weltaltermodelle verbindet sich mit der Abfolge der Monarchien eine teleologische Grundstruktur,
|| 682 Vgl. Kern (Anm. 681), hier S. 41. 683 Kern (Anm. 681), S. 39. 684 Kern (Anm. 681), S. 39. 685 Vgl. Régis Courtray: »Der Danielkommentar des Hieronymus«. In: Katharina Bracht (Hrsg.): Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst. Berlin/Boston 2007, S. 123–150, bes. S. 140; zur antiken Vier-/Fünf-Monarchien-Lehre vgl. Joseph Ward Swain: »The Theory of the Four Monarchies Opposition History under the Roman Empire«. In: Classical Philology 35 (1940), S. 1–21; vgl. Goez (Anm. 680), S. 4–36 und S. 367. 686 Goez (Anm. 680), S. 369. 687 Marsch (Anm. 639), S. 207.
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die mit dem Bewusstsein um die Begrenztheit der historischen Perspektive den temporalen Horizont der Welt schließt und zur Endzeitstimmung beiträgt. Beispiellektüre 20: ironische Reflexe auf die Idee der ›translatio imperii‹ in Fischarts »Geschichtklitterung« Johann Fischart rekurruriert im ersten Kapitel seiner Geschichtklitterung (1575; Ausgabe letzter Hand 1590) auf die Bedeutung dieser historisch-politischen Genealogie, deren Willkürlichkeit er jedoch vorführt.688 Am Anfang der Lebensbeschreibung des Helden steht die familiäre Genealogie, doch verweist der Erzähler die Leser auf die »grosse Pantagruelinische oder Alldürstige Chronic«, allda ihr im andern Buch, welches auff diß folgt, werd unsers Gurgel Lantua Ururan register, Geschlechttafel, unnd Geburtstafel nach allem begeren zu vernemmen haben, wie die Risen […] auff die Welt kommen, und unser Gurgelstrossa nach direchter gerader lini von ihnen abgestigen seie (GK 32).
Es wird also die Bedeutung genealogischen Wissens betont, denn es wäre »köstlich gut« (GK 32), wenn man jeden seiner Ahnen bis auf die Zeit der Arche Noah kennen würde. Der Blick auf die Ahnen lässt jedoch die gegenwärtige Größe von Personen relativ erscheinen. Soziale Identitäten formieren sich, dies verdeutlichen die vom Erzähler aufgeführten Reihen, eben nicht allein aus der Genealogie, wie er an der Widersprüchlichkeit von Herkunft und gegenwärtigem Status festmacht: Ich halt, daß heut manche König, Fürsten, Bäpst und Herrn seien, fürnemlich die so schindische Tirannische Prachtschaben sind, (dann ein lasterhaft gemüt, zeigt an ein unadelich geblüt) die nur von eim Torhüter, Stallfincken, Eseltreiber, Holzträger, Schnapphanen und Kistenfeger herkommen. Wie im gegenspil manche arme Teuffel, Landläuffer, Gartenstreiffer, Pfannenpletzer, Quiengoffer unnd Zwicker von Königen, Bapsten und Bischofen mögen hoch geboren sein. (GK 33)
Als Argument für die Wandelbarkeit des sozialen Status – oder konkret formuliert: die Großen bleiben nicht immer groß und die Marginalisierten nicht immer am Rande689 – dient ihm die Idee der translatio imperii:
|| 688 Zitiert mit der Sigle GK nach der Ausgabe Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590. Mit einem Glossar hrsg. von Ute Nyssen. Nachwort von Hugo Sommerhalder. Illustrationen nach Holzschnitten aus den Songes drolatiques de Pantagruel von 1565. Darmstadt 1967. 689 Vgl. Dieter Seitz: Johann Fischarts Geschichtklitterung. Untersuchungen zur Prosastruktur und zum grobianischen Motivkomplex. Frankfurt a. M. 1974, S. 131 f.
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Und was ists wunder. Angesehen die wunderbare veränderung, und abwechßlung der Königreich unnd Keyserthumb, von Assiriern und Chaldeern zu den Meden, von den Meden zu den Persen, von diesen zu den Macedoniern und Griechen, von Macedoniern auf die Römer, von den Römern wider auff die Griechen, von Griechen zu den Teutschen Francken unnd FranckTeutschen: nun vom Herren zum Knecht, nun vom Knecht zum Herren: nun von Weibern auff die Mann, nun von Mannen auff die Weiber (da laß ichs bleiben) (GK 33)
Bereits in Fischarts Vorlage – François Rabelais’ Gargantua (1534/36) – wird diese Anspielung dazu genutzt, »die Translationstheorie der deutschen Kaiser zu parodieren und ihre Suprematie anzuzweifeln«.690 Fischart wendet das Argument seinerseits nochmals.691 Jene so begonnene Reihe wird, und darin geht Fischart über die Stoßrichtung des entsprechenden Passus bei Rabelais hinaus, durch eine Serie von explizierten Auslassungen fortgesetzt (»daß ich jetzt des Türcken geschweige […]«, GK 33) und damit, und weil die eigentliche Genealogie des Helden ausgespart bleibt, ad absurdum geführt. Die durch Konventionen biographischen Erzählens gefestigte Erwartung einer genealogischen Herleitung des Helden wird mit der Auslassung unterlaufen.692 Der ironische Umgang mit der Vorstellung der Monarchienfolge, die bei Fischart in die Auseinandersetzung mit der Genealogie des Helden eingegliedert ist, suspendiert die teleologische und ›geschlossene‹ Zeitstruktur, die dem Modell eigentlich inhärent ist.693 || 690 Frank-Rutger Hausmann: »Nachwort«. In: François Rabelais: Gargantua. Übers. und kommentiert von Wolf Steinsieck. Stuttgart 2009, S. 237–272, hier S. 244. Bei Rabelais endet die translatio imperii mit der Hegemonie Frankreichs. 691 Vgl. Nicola Kaminski: »Gigantographie. Fischarts ›Geschichtklitterung‹ zwischen Rabelais-›imitatio‹ und ›aemulatio‹ mit des Gargantua ›vnnachzuthuniger stärck‹«. In: Ludger Grenzmann u. a. (Hrsg.): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002. Göttingen 2004, S. 273–304, hier S. 278 und S. 280. 692 Vgl. dazu Hans-Jürgen Bachorski: Irrsinn und Kolportage. Studien zum ›Ring‹, zum ›Lalebuch‹ und zur ›Geschichtklitterung‹. Trier 2006, S. 366 f. 693 Eine andere Variante der translatio imperii hat Irmgard Wirtz anhand der Asiatischen Banise versucht herauszuarbeiten. Indem Zigler die Handlung des Romans am Ende in der Oper wiederhole, wende er sich von dieser geschichtsphilosophischen Grundstruktur ab. Er »rückt […] von einer teleologischen Geschichtskonzeption ab, weil in der europäischen Kunstform der Oper schon präfiguriert ist, was die Handlung von der Geschichte Asiens erzählt und was in der Inszenierung der Oper als Rückblick und Kommentar auf das historische Geschehen Asiens gestaltet ist. Zieglers Analogiebildung setzt die Vorstellung sich wiederholender historischer Zyklen nach dem Grundsatz des ›nihil sub sole novum‹ (Eccli. 1,10) voraus« (Irmgard Wirtz: »Galante Affektinszenierung im spätbarocken Roman. Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausens ›Asiatische Banise‹«. In: Thomas Borgstedt/Andreas Solbach [Hrsg.]: Der galante Dis-
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4.3.5 Erzählte Zeiten III: die semantische Dimension Die mit den vorgestellten Begriffen verbundenen Konzepte betreffen kategorial verschiedene Aspekte von Zeit, die teils bereits im Zusammenhang mit den erzählerischen Grundoperationen und der diegetischen Relationalität thematisiert worden sind. Sie verfügen des Weiteren über je eigene numerische Strukturen und stehen in einem systemischen Zusammenhang, ohne in ein starres Modell gefügt zu sein. Die Heterogenität der Zeitkonzepte wird in einer übergeordneten Ordnungsfigur synthetisiert. Die Differenz zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit fungiert als Dachstruktur, in die Welt- und Lebensaltermodelle eingegliedert sind. Diese wiederum werden teils durch analoge numerische Strukturierungen und Ähnlichkeitsrelationen miteinander verbunden. Während diese Begriffe ein numerisch-tektonisches Gerüst für die Welt und ihre Figuren liefern, erklären Providenz und Kontingenz als Deutungsmuster die dynamischen Elemente einer Welt, also alle eintretenden Ereignisse. Damit liefern diese Konzepte Bedeutungsprogramme für erzählerische Verfahren, die bereits im Zusammenhang mit Selektion und Motivation als erzählerischen Operationen Gegenstand der Auseinandersetzung waren. Der systemische Zusammenhang der unterschiedlichen Modelle hat seine Rechtfertigung – sei es direkt oder wie im Fall der Lebensalter indirekt – im göttlichen Schöpfungs- und Erlösungsplan. Im Rahmen der Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit wird Zeit modelliert als begrenzte, wandelbare und sukzessive Dimension (Kap. 4.3.1). Die providenzielle Erklärung von Ereignissen – also das semantische Pedant zur finalen Motivierung – lässt den zeitlichen Horizont ›geschlossen‹ erscheinen, denn nur das ist in der erzählten Welt möglich, was von Beginn an vorgesehen war. Eine durchgängig kontingent bestimmte erzählte Welt hingegen ist keiner solchen Ordnungsfigur verpflichtet, sodass die Zukunft dieser Welt ›offen‹ ist. Tangiert ist in beiden Fällen der Horizont der Zeit. In der providenziellen Ordnung liegt
|| kurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001, S. 331–345, hier S. 336). Wenngleich Wirtz’ Beobachtungen hinsichtlich der Analogiebildung sehr treffend sind, scheint es mir nicht angebracht, die teleologische Ausrichtung der Geschichte und die Wiederholung von historischen Konstellationen in ein einander ausschließendes Verhältnis zu setzen. Vielmehr scheinen Wiederholungen historischer Konstellationen Bausteine in einem heilsgeschichtlichen Modell zu sein, das wiederum teleologisch ausgerichtet ist. Auch wenn sich beide Modelle in struktureller Hinsicht unterscheiden, schließen sie einander nicht aus, da sie in unterschiedlichem Umfang wirksam sind: Während die Wiederholung eher die Mikrostruktur betrifft, gliedert die translatio imperii die historische Makrostruktur (auch Werner Frick führt beide historische Prinzipien eng [Anm. 42], S. 43).
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ein teleologisches Moment, das sich gleichermaßen in Lebens- und Weltaltermodellen findet. Unabhängig von den konkreten Modellierungen zeichnen sich die Konzepte durch eine in sich geschlossene Struktur aus, die unterschiedliche Formen annimmt, aber immer ein absolutes und bestimmtes Ende kennt. Modelliert werden die Lebensalter entlang einer zunächst steigenden und dann abfallenden Kurve; Weltaltermodelle folgen einem positiven (ante legem – sub lege – sub gratia) oder negativen Steigerungsmodell (Auslegung von Dan 2); oder sie sind relativ ungleichmäßig, aber mit übergeordneten Koordinaten aufgebaut (die sechs Weltalter mit der Geburt Christi und dem Ende der Welt als besonderen Fixpunkten). All diese Begriffe sind als Wissenselemente in die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit eingegangen: die Lebensalter zum Beispiel in das Wagnerbuch, die Weltalter in die Assenat und die Reichelehre in die Geschichtklitterung. Im Wagnerbuch und im Faustbuch von 1725 fungiert die Differenz zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit als normative Leitdifferenz, die vom Helden verletzt wird. Providenz und Kontingenz verfügen als Motivationsfaktoren über eine besondere narrative Funktion (vgl. Kap. 4.1.3), dies unterscheidet beide von den anderen vorgestellten Modellen. Die narrative Bedeutung von konkreten Lebens- und Weltaltermodellen ist begrenzt, aber geht man nicht von den punktuellen Referenzen auf diese Modelle aus, sondern von der geschlossenen Form von Leben und Geschichte, die in ihnen impliziert ist und die mit einem sinnhaftsymbolischen Abschluss verbunden ist, dann wird man sie als Teilaspekt eines größeren Zusammenhangs deuten müssen (Kap. 4.1.3). Die geschlossene Form dieser Modelle und die punktuelle Referenz auf sie bilden gleichsam die literarische Symbolifikation des dahinter stehenden geschichtsphilosophischen Modells, dessen Gültigkeit aber im Fall von Johann Fischarts Geschichtklitterung durch die ironische Brechung fragwürdig wird.
5 Temporale Heterogenität und ihre Beschreibung – eine Zusammenfassung Was bislang gezeigt wurde: Die Zeit der erzählten Welt wird durch basale erzählerische Verfahren hervorgebracht: mittels ›Verbalisierung‹, ›Komposition‹, ›Auswahl‹ und ›Perspektive‹ (Kap. 4.1). Sie erhält des Weiteren Gestalt durch das Zusammenspiel mit anderen Elementen der erzählten Welt, wichtig sind in diesem Zusammenhang die Kategorien ›Ereignis‹, ›Figur‹ und ›Raum‹, denn sie fungieren als welt- und geschehenskonstitutive Größen (Kap. 4.2). Darüber hinaus wird Zeit – als Bestandteil zentraler Begriffe und Begriffskonstellationen sowie semantischer Programme – implizit thematisiert: sei es in der Leitdifferenz von ›Zeitlichkeit vs. Ewigkeit‹, in den verschiedenen ›Schicksalssemantiken‹ oder in ›Lebensalter‹- und ›Weltaltermodellen‹ (Kap. 4.3). In diesen drei Dimensionen samt ihren Unteraspekten gründet die Relationalität von Zeit; und aus dem Zusammenspiel dieser Parameter ist zugleich ihre Historizität ablesbar. Modelliert werden durch das Zusammenwirken der Parameter unterschiedliche Eigenschaften von Zeit. In der Auseinandersetzung mit Erzähltexten der Frühen Neuzeit wurden acht Parameter samt einer Reihe von Begriffen vorgeschlagen, anhand derer sich die Eigenheiten von Zeit terminologisch erfassen lassen. Davon ausgehend lässt sich zugleich der Bogen schlagen zu den unter dem Schlagwort der ›Verzeitlichung‹ subsumierten soziokulturellen Transformationsprozessen der Frühen Neuzeit (vgl. Kap. 2).694 Die wichtigsten systematischen Differenzierungen und Lektüreergebnisse seien vorgestellt, bevor ich mich anschließend in sechs Analysen der Frage
|| 694 Bei der Zusammenführung der skizzierten ›Verzeitlichungsprozesse‹ und der hier vorgeschlagenen Kategorien beschränke ich mich auf einige offensichtliche Parallelen, die die Vereinbarkeit der verschiedenen Beschreibungssysteme vorführen: Die von Niklas Luhmann, Georg Lukács und Clemens Lugowski attestierte Auflösung übergeordneter Sinnstrukturen löst die ›Geschlossenheit‹ des zeitlichen Horizonts auf und führt zu einer Akzentuierung der temporalen Kontinuität sowie einer, wie Luhmann betont, ›Abstraktion‹ der Zeit. Gerade die Koordination von weit entfernten Ereignissen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, macht die Implementierung einer ›mehrwertigen‹ Dimensionalität von Zeit notwendig. Die von Karl Löwith, Reinhart Koselleck und Ian Watt beschriebene Entdeckung des Neuen betrifft vor allem die ›Öffnung‹ des zeitlichen Horizonts. Das von Watt und Weber erfasste Interesse an der mikroskopischen Verzeichnung von Ereignissen trägt zu einem hohen Grad an ›Kohärenz‹ und einer zunehmenden ›Abstraktion‹ als qualitativem Parameter bei.
DOI 10.1515/9783110566857-008
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nach der Homogenität und Heterogenität der in frühneuzeitlichen Erzähltexten entworfenen Zeit widme. Die Parameter haben zwar einen je eigenen Fokus, aber sie sind durchaus auch aufeinander bezogen (so kann die Frage nach der ›Konsistenz‹ der erzählten Zeit teils nur mit Blick auf ihre ›Struktur‹ und die Bedeutung von ›Räumlichkeit‹ und ›Subjektivität‹ beantwortet werden). – ›Qualität‹: Je nachdem, ob Zeit indirekt, d. h. über Ereignisfolgen, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen oder außerfiktionale Referenzen auf Historisches, oder unmittelbar durch genaue kalendarische Daten evoziert wird, hat sie eine – wie in Grimmelshausens Simplicissimus und seinem Springinsfeld – vornehmlich ›konkrete‹ oder wie in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg dominant, aber freilich nicht ausschließlich ›abstrakte‹ Qualität (Kap. 11). Dieses Eigenschaftspaar markiert Pole einer graduellen Skala. – ›Struktur‹: Die temporale Struktur wird sowohl auf der Mikro- wie auf der Makroebene der Handlung geprägt. Auf der Mikroebene sind die Differenzen zwischen punktuellen Ereignissen und der Evokation von Zuständen, also temporalen Kontinuitäten, interessant. Daraus ergibt sich, wie der Blick auf Reuters Schelmuffsky zeigt, eine Handlungsdynamik, die auf der Spannung von Beschleunigung und Verlangsamung basiert. Gründen die erzählten Ereignisse auf einem stetigen Nacheinander, wie man es bei zustandsverändernden Ereignissen ebenso beobachten kann wie bei größeren narrativen Zusammenhängen, ist die Struktur der Zeit ›linear‹. Auch die Dominanz eines kalendarischen Systems akzentuiert die temporale Linearität. ›Spuren‹, also materialisierte Ereignisse, verweisen als indexikalische Zeichen auf diese lineare Kontinuität; oder sie stellen diese in Frage, wenn sie wie im Fall der Narben des Simplicius im Simplicissimus oder von Wagners Auge im Wagnerbuch nicht stabil sind, sondern je nach funktionalem Zusammenhang mal in Erscheinung treten und mal verschwinden. Als lineare Dimension ist Zeit auch im Rahmen der frühneuzeitlichen Leitdifferenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit konzipiert. Sind regelmäßige Wiederholungsstrukturen, die für Melusine als Figur aber auch für das paradigmatische Erzählen kennzeichnend sind, konstitutiv für die evozierte Zeit, dann ist sie ›zyklisch‹. Lassen sich temporale Ordnungsmuster für die Handlung nicht ableiten, da sie an anderen Größen ausgerichtet ist (wie im Dil Ulenspiegel), erweisen sich die Relationen zwischen Handlungssegmenten als ›unzeitlich‹. Die Struktur der Zeit kann mit den Handlungsebenen wechseln oder verschiedene Strukturen können ineinander gebettet sein. Im Dil Ulenspiegel etwa basieren der biographische Rahmen und die einzelnen Episoden zwar auf der Linea-
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rität der Zeit, die Episodenreihe des Handlungskerns jedoch lässt sich nicht mittels zeitlicher Ordnungsmuster beschreiben. Temporale Strukturänderungen treten ebenso im Hinblick auf Räume und Figuren auf: In der Melusine des Thüring von Ringoltingen altert die Protagonistin nicht wie andere Figuren, sondern unterliegt der zyklischen Verwandlung. – ›Dimensionalität‹: Die Dimensionalität beschreibt die ereignis- bzw. handlungsbasierte Auffächerung von Zeit; sie kann ›einwertig‹ oder ›mehrwertig‹ sein. Im ersten Fall zeichnet sich Zeit dadurch aus, dass allein ein bloßes Nacheinander von Ereignissen und Handlungssegmenten möglich erscheint, im zweiten Fall verlaufen Ereignisse, Episoden und ganze Handlungsstränge parallel. Die Mehrwertigkeit ist dabei unterschiedlich komplex angelegt. Die Simultanität von Ereignissen und Zuständen auf der syntaktischen Ebene – oder Ereignisebene – ist ubiquitär. Geformt werden, wie der Blick auf die deutschsprachige Version des Lazarillo de Tormes veranschaulicht, in der Kopplung von Gleichzeitigkeit an semantische Programme wie ›Gelegenheit‹ sowie ›Zufall‹ die Handlungs- und Geschehensmöglichkeiten in der erzählten Welt. Besonders ausgeprägt ist die Mehrwertigkeit der Dimension auf der makrostrukturellen Ebene in Veit Warbecks Magelone, Georg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel oder im höfisch-historischen Barockroman, in denen ganze Handlungsstränge mit verschiedenen Protagonisten parallel geführt werden. Auch die Leitdifferenz von ›Zeitlichkeit‹ und ›Ewigkeit‹ operiert mit der Dimensionalität als einem distinktiven Kriterium. Die Zeit wird dabei als ein stetes Nacheinander gedacht, indessen kennt die Ewigkeit, wie Nieremberg ausführt, eine konstitutive Form der Gleichzeitigkeit. – ›Kohärenz‹: Die Kohärenz der zeitlichen Dimension beschreibt die Kontinuität der Handlung in der Zeit. Werden die zeitlichen Relationen zwischen Ereignissen expliziert und spezifiziert, sodass – wie in den Tagesrahmen für die Figurenerzählungen in Anton Ulrichs Aramena – eine geschlossene Chronologie entsteht, erscheint die zeitliche Dimension in besonderem Maße ›kohärent‹. Sind die zeitlichen Relationen undefiniert oder unterspezifiziert – wie in den Episodenreihen des Diogenes und des Dil Ulenspiegel –, dann wird die Kontinuität der Zeit unterbrochen, sodass sie ›inkohärent‹ wird. – ›Konsistenz‹: Die zeitliche Dimension einer erzählten Welt ist immer dann ›konsistent‹, wenn es keine Widersprüche in der evozierten Zeit gibt und wenn ein temporales System für die gesamte erzählte Welt verbindlich ist. Als ›inkonsistent‹ erweist sich die erzählte Zeit, wenn die Angaben wie im Fincken Ritter, in Christian Reuters Schelmuffsky oder Johann Beers Ritter
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Hopffen=Sack nicht widerspruchsfrei vereinbar sind, wenn das Zeitsystem in Handlungssegmenten wechselt (man denke an den Dil Ulenspiegel) oder wenn Räume der erzählten Welt – wie das Reich Pius Amor in Georg Messerschmidts Brissonetus – und Figuren wie Melusine ein eigenes Zeitsystem besitzen. Lücken oder Auslassungen in der Chronologie der erzählten Welt betreffen ihre Kohärenz, gefährden jedoch nicht ihre Konsistenz. ›Horizont‹: Der Geschlossenheit oder Offenheit der zeitlichen Dimension gilt die Frage nach dem Horizont. Im Fall eines ›geschlossenen‹ Horizonts korrelieren Handlungsabschluss und Erzählabschluss, wie zum Beispiel in Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel, oder das Erzählte wird entweder final oder kompositorisch motiviert. Als anschauliche Muster für eine finale Motivierung, die zugleich den zeitlichen Rahmen für die Handlung vorgibt, können hier Grimmelshausens Keuscher Joseph oder Philipp von Zesens Assenat dienen. Die sieben weisen Meister stehen hingegen für eine kompositorische Motivierung der Handlung entlang eines numerischen Prinzips. Lebensalter- und Weltaltermodelle, die auf Äquivalenzen basieren und letztlich auf eine numinose Instanz verweisen, liefern die semantischen Programme für einen ›geschlossenen‹ Horizont. Dabei müssen sie die Romanhandlung nicht durchgängig strukturieren, sondern werden vor allem in punktuellen Referenzen wie in Heinrich Steinhöwels Apollonius oder durch ironische Zitate wie in Johann Fischarts Geschichtklitterung oder Grimmelshausens Simplicissimus aufgerufen. Oder die erzählte Handlung folgt, im Fall eines geschlossenen Horizonts, einer variierenden Poetik, die – so in Christian Friedrich Hunolds Adalie – aus einer Reihe von narrativen Standardsituationen besteht. Bei einem ›offenen‹ Horizont hingegen erscheint das Erzählte als Ausschnitt einer potenziell fortführbaren Geschichte, die wie Niclas Ulenharts Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid oder Johann Thomas’ Damon und Lisille nicht in einem symbolisch-sinnhaften Schluss, sondern abrupt endet. Die Handlungselemente sind in einem offenen Horizont keine Variationen eines begrenzten Sets von basalen Standardsituationen. In Christian Friedrich Hunolds Satyrischem Roman werden die Verfahren der finalen Motivierung aufgrund ihres gezielten Einsatzes durch Figuren als Muster der Sinnbildung entlarvt, mittels derer Figureninteressen durchgesetzt werden können; so verlieren sie als Instrumente des göttlichen Ratschlusses an Gewicht. Die Geschlossenheit des zeitlichen Horizonts erweist sich damit als vermeintlich, die zeitliche Perspektive wird geöffnet. ›Subjektivität‹: Die Subjektivität hat zwei Bezugspunkte: zum einen die Perspektivierung als erzählerische Grundoperation und zum anderen Figu-
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renkonzepte. Durch die Perspektivierung eines Erzähltextes, d. h. durch die Wahl eines Erzählertypus sowie die Darstellung der erzählten Welt aus unterschiedlichen Wahrnehmungsstandpunkten, wird der Subjektivitätsgrad der erzählten Zeit modelliert. In einem grundsätzlichen Sinne ist jede Figurenperspektive – sei sie im engeren Sinne ›figural‹ (also ein Wahrnehmungsaspekt) oder auch ›narratorial‹ (wie beim ›erzählenden Ich‹) – ›subjektiv‹. Wie die Lektüre von Johann Beers Verliebtem Oesterreicher gezeigt hat, ist die zeitliche Verzerrung in der erzählerischen Vermittlung jedoch unüblich, es dominiert die perfect memory (Stanzel). Gesteigert wird der Subjektivitätsgrad aber vor allem da, wo die Perspektivierung zu einer figurenbedingten Verzerrung der Wahrnehmung von Zeit führt, wie man dies beispielsweise in der JFngst=erbaweten Sch(fferey oder in Lohensteins Arminius in Verbindung mit Liebesaffekten findet. Als ›objektiv‹ hingegen gilt die Dominanz einer narratorialen Perspektive, die nicht anthropologischen Restriktionen unterworfen ist und deren Aussagen erzähllogisch verbindlicher für die erzählte Welt sind als Aussagen von Figuren. Subjektivität realisiert sich im zweiten Fall, also in ihrer diegetischen Variante, wenn Figuren wie in der Melusine des Thüring von Ringoltingen explizit zu Trägern einer ›Eigenzeit‹ werden oder dies insofern implizit sind, als Ereignisse an ihnen ›spurlos‹ vorbeigehen – diese Figureneigenschaften sind aus den Romanen in der Tradition des spätantiken Liebes- und Abenteuerromans bekannt. ›Statisch‹ ist die diegetische Eigenzeit, wenn sie zu den unveränderlichen Merkmalen der Figur gehört (so zeichnen sich die Sylphen aus Grimmelshausens Simplicissimus durch reine Zeitlichkeit aus, während die Menschen im Spannungsfeld von Zeitlichkeit und Ewigkeit stehen). ›Dynamisch‹ ist sie hingegen, wenn Figuren eine Eigenzeit erlangen, aber auch wieder verlieren können (eine Möglichkeit, die in der Melusine theoretisch gegeben ist, aber nicht realisiert wird, da die dafür festgelegten Bedingungen nicht erfüllt werden). ›Räumlichkeit‹: Die raumzeitliche Beschaffenheit der erzählten Welt wird entlang von zwei Fragen erfasst. Die erste Frage gilt der raumzeitlichen Kohärenz der Welt. Mit Blick auf ihre topographische Anlage ist zum einen zwischen ›uniregionalen‹ und ›pluriregionalen Welten‹ zu unterscheiden. In ›uniregionalen‹ Welten gibt es ein verbindliches raumzeitliches System. In ›pluriregionalen‹ Welten – wie in Georg Messerschmidts Brissonetus – gibt es parallel existierende raumzeitliche Systeme, die sich u. a. im Hinblick auf die hier skizzierten Parameter unterscheiden können. Bleibt ihr Status durchgehend gleich, dann handelt es sich um eine ›statisch‹ pluriregionale Welt (wie beim Reich der Sylphen in Grimmelshausens
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Simplicissimus), ändert sich das Wirklichkeitssystem der Räume, z. B. dadurch, dass sie vom Helden erobert werden, sind sie – wie im Brissonetus – ›dynamisch‹. Die zweite Frage gilt der Stabilität der erzählten Welt, zu unterscheiden ist dabei mit Blick auf die Figurenbewegung zwischen raumzeitlich ›stabilen‹ und ›flexiblen Welten‹. In Ersteren sind die raumzeitlichen Koordinaten unveränderlich, in Letzteren – wie im Orendel oder Ritter Galmy – werden je nach den funktionalen Erfordernissen der Handlung Distanzen ›in kurzer Zeit‹ überbrückt. Diese skizzierten Dimensionen umreißen die Eigenheiten von Zeit und lassen ihre frühneuzeitliche Vielgestaltigkeit beschreibbar werden. Man hat es also nicht mit einer homogenen Zeit zu tun, sondern mit einer heterogenen. Oder konkret gewendet: Die evozierte Zeit ist ›inkonsistent‹, wenn die gemachten Angaben oder die im Hintergrund stehenden geschichtsphilosophischen Modelle sich nicht widerspruchsfrei zusammenbringen lassen. Die Struktur der Zeit wechselt in einzelnen Handlungssegmenten; sie ändert sich von Raum zu Raum; oder die Zeit der Figuren hat im Vergleich mit ihrem Umfeld eine eigene Funktionsweise. Damit soll nicht gesagt sein, dass in diesen Fällen eine lineare Vorstellung von Zeit, die überall gleichmäßig vergeht, zugunsten der Heterogenität – also eines Nebeneinanders verschiedener Zeitkonzepte – vollständig suspendiert wäre. Auch in diesen Fällen dient sie durchaus als Grobstruktur, denn nur vor dieser werden die Eigenheiten Melusines als Figur, die raumzeitlichen Besonderheiten des Reiches Pius Amor sowie die Unvereinbarkeiten der Angaben im Schelmuffsky sichtbar. Aber diese lineare Vorstellung von Zeit, die überall und im Hinblick auf alle Objekte und Figuren Geltung beansprucht und regelmäßig verfließt, ist nicht die alles bestimmende Ordnung – dies dürften besonders die Lektüren der Melusine, des Dil Ulenspiegels, des Brissonetus, des Schelmuffsky und des Simplicissimus vorgeführt haben. Das ist das Ergebnis der vornehmlich systematischen Überlegungen, die das Ziel hatten, die Anforderungen an eine historische Narratologie der Zeit zu erfüllen (vgl. Kap. 3.3). Erstens wurde die Orientierung am begrifflichen Denken nicht aufgegeben, zweitens wurde die Möglichkeit aufgetan, verschiedene Facetten von erzählter Zeit beschreibbar zu machen. Damit wurde drittens ihre Reduktion auf Chronologie, wie sie der narratologischen Theoriebildung zugrunde liegt, partiell aufgehoben695 und – viertens – die Möglichkeit der Historisierung geschaffen. Durch die Übertragbarkeit der Begriffe auf die Prozesse der
|| 695 Als Folie bleibt das Konzept freilich aktuell.
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soziohistorischen Modernisierung ist fünftens die Anschlussfähigkeit zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen gegeben. Was im Folgenden zu zeigen ist: Im Anschluss an diese systematischen Rekonstruktionen rücken in einer diachron angelegten Reihe von Analysen Romane vom 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Fokus. Herausgearbeitet werden soll – im Rückgriff auf die vorgeschlagenen analytischen Begriffe – die sich bereits abzeichnende Spannung zwischen temporaler Homogenität und Heterogenität.
6 Generische Hybridität in Warbecks Die schön Magelona Im Herbst 1526 begleitete Veit Warbeck den sächsischen Kurprinzen Johann Friedrich nach Schloss Burg an der Wupper, wo dessen Verlobung mit Prinzessin Sibylle von Cleve stattfand. Dieses Ereignis schien Warbecks Übersetzung des französischen Prosaromans L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du conte de Provance et de la belle Maguelonne (1453) angestoßen zu haben.696 Vielleicht hat er – so eine bereits 1894 von Johannes Bolte formulierte These697 – das deutschsprachige Manuskript am 2. Juni 1527 dem Brautpaar bei den Feierlichkeiten in Torgau übergeben. Einiges spricht dafür: Der dem Titelblatt beigefügte Wahlspruch »Es Geluckt noch woll. │ H. F. Hertzog zů Sachssen etc.« wird an drei Seiten von den gekreuzten Sperren Kursachsens gerahmt, in die ein »S« eingeschrieben ist; auch zwischen die über dem Wahlspruch stehende Jahreszahl ist Sibylles Initiale eingesetzt (»·1·5·S·2·7·«).698 Darüber hinaus lassen sich die beiden Geschichten, die die Magelone vereint, in diese Richtung lesen: Da ist zum einen die Geschichte eines Helden, der auszieht, um Ruhm und eine || 696 Vgl. Jan-Dirk Müller: »Magelone [Kommentar]«. In: Ders. (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990, S. 1226–1260, hier S. 1236. Warbecks Übersetzung lag wahrscheinlich die sog. Redaktion C des französischen Romans zugrunde, die heute in der Landesbibliothek Coburg liegt (S IV 2). Im Folgenden wird die Magelone nach Müllers Ausgabe zitiert, der Nachweis erfolgt mit der Sigle Ma. An fraglichen Stellen werden Warbecks Manuskript (1527) und die Fassung aus dem Buch der Liebe (1587) sowie die ältere, von Warbeck unabhängig entstandene nürnbergische Manuskriptfassung vergleichend hinzugezogen. Veit Warbeck: Die schöne Magelone. Nach der Originalhandschrift hrsg. v. Johannes Bolte. Weimar 1894 (Ma Bolte 1527). Veit Warbeck: Die schöne Magelona. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Hrsg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1969 (Ma Roloff 1587). Die schöne Magelone. Hystoria von dem edeln ritter Peter von Provenz vnd der schönsten Magelona, des königs von Naples tochter. Älteste deutsche Bearbeitung nach der Handschrift der preussischen Staatsbibliothek Germ. 4° 1579 mit Anmerkungen und überlieferungsgeschichtlichen, literarischen und kunsthistorischen Exkursen herausgegeben von Hermann Degering. Berlin 1922 (Ma Degering 1922). 697 Vgl. Johannes Bolte: »Einleitung«. In: Ma Bolte 1527, S. IX–LXVII, S. XXX. 698 Eine Abbildung des Titelblattes findet man bei Reinhard Hahn: »Erlauben die Rahmentexte der Prosaromane Schlüsse auf deren Publikum?«. In: Catherine Drittenbass/André Schnyder (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Amsterdam u. a. 2010, S. 41–66, hier S. 66.
DOI 10.1515/9783110566857-009
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Frau zu erlangen; und zum anderen die Geschichte eines Liebespaares, das durch die Widrigkeiten des Schicksals getrennt wird und erst nach einigen Abenteuern erneut zusammenfindet. Der Roman mag aufgrund seines Plädoyers für eine beständige Liebe und aufgrund der impliziten Warnung vor ›unordentlicher‹ (denn unkeuscher) Liebe ein probates Geschenk für das Brautpaar gewesen sein, doch ist dieses auf der Grundlage der Quellen schwer beweisbar. Vielmehr lässt eine am Fuß des Titelblattes platzierte Datierung (»6. Nouemb.«), die sich in ihrem handschriftlichen Duktus vom Rest des Blattes abhebt, Zweifel an einer solchen Funktion des Romans aufkommen.699 1535 – ein Jahr nach dem Tod Warbecks – wurde der Roman mit zahlreichen Holzschnitten versehen in der Offizin Heinrich Steyners in Augsburg gedruckt. Als Paratext war ihm ein Sendbrief von Warbecks engem Freund und dem Vermittler der Reformation Georg Spalatin vorangestellt, in dem die Magelone von einem »höfischen Unterhaltungsroman zum Exempel christlicher Lebenslehre umdeutet[ ]« und so in das »literaturpädagogische[ ] Programm der Wittenberger Reformatoren« integriert wurde.700 Allein bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erscheinen mindestens vierundzwanzig Auflagen des Romans, für das 17. Jahrhundert verzeichnet Bodo Gotzkowsky sieben nachweisbare und drei unsichere Ausgaben.701 Die Magelone steht am Schnittpunkt verschiedener Erzähltraditionen, entsprechend gelten die Interpretationsschwerpunkte jenseits der Individualisierung, die sich im Roman in unterschiedlichen Aspekten niederschlägt,702 der
|| 699 Die fünf Monate zwischen der Hochzeit und der Datierung stellen die These vom Hochzeitsgeschenk in Frage, sodass offenbleiben muss, »[o]b es die Reinschrift einer Erzählung ist, die aus diesem Anlaß [gemeint ist die Hochzeit, L. W.] vorgetragen wurde, oder eher zur winterlichen Unterhaltung des Hofes entstand« und damit nicht in direkten Zusammenhang mit der Hochzeit gesehen werden kann (Müller [Anm. 696], S. 1238). Winfried Theiß liest die Datierung als »Eingangstag des Buches in die Bibliothek des Kurprinzen«, in der es belegt ist. Dies würde den Wechsel des handschriftlichen Duktus erklären, aber nicht, »wo das Buch zwischen Juni und November gewesen sein soll«. Deshalb plädiert Theiß dafür, dass die Magelone »zur Unterhaltung und Erbauung des Fürsten und seiner nächsten Umgebung im Winter 1527/1528« diente (Winfried Theiß: »Die ›Schöne Magelona‹ und ihre Leser. – Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jh.«. In: Euphorion 73 [1979], S. 132–148, hier S. 134). 700 Müller (Anm. 696), S. 1239. 701 Vgl. Müller (Anm. 696), S. 1239 und Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 93–104; zum 17. Jh. vgl. Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 2, S. 34–38. Zur Stofftradierung vgl. Hans-Hugo Steinhoff: »Magelone«. In: VL2, Bd. 5, Sp. 1142–1148. 702 Vgl. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin/New York 2006; Helmut Scheuer: »Trivialisierung und Reduktion? Individualität in der Erzählprosa des 16. Jahr-
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Frage nach den Handlungsstrukturen und Motiven des Romans, nach ihren generischen Bezugspunkten und nach ihrer literarhistorischen Bedeutung. In der Magelone seien, so die gängigen Einschätzungen, Motive der älteren europäischen und orientalischen Erzählliteratur kombiniert. Vom Stoff her sei sie mit Heliodors Aithiopika, mit der Geschichte von Kamar Ez-Zamân aus der Sammlung Tausendundeine Nacht und mit dem mittelalterlichen Minne- und Abenteuerroman verwandt, der wiederum Elemente der Legende mit »Motiven des hellenistischen Romans« verknüpft.703 Das Motiv der von einem Vogel ge-
|| hunderts als zeit- und wirkungsgeschichtliches Phänomen«. In: Christa Bürger/Peter Bürger/ Jochen Schulte-Sasse (Hrsg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt a. M. 1982, S. 145–171, bes. S. 155; Ertzdorff (Anm. 25), S. 59; Röcke (Anm. 703), S. 157; Werner Röcke: »Erzähltes Wissen. ›Loci communes‹ und ›Romanen-Freyheit‹ im ›Magelonen‹Roman des Spätmittelalters«. In: Horst Brunner/Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 1993, S. 209–226, bes. S. 223: Röcke argumentiert, dass die »Individualisierung« im Roman »doppelt konzipiert« sei: »auf der einen Seite als Privatisierung der je eigenen Wünsche sowie als Spaltung der Person in eine private und eine öffentliche Rolle; auf der anderen Seite als Einsicht in die Notwendigkeit des Verzichts auf das nur private Glück sowie die Bereitschaft zur Übernahme von Pflichten, Leistungen und asketischen Übungen.« Auch Manuel Braun konstatiert, dass »[i]m Grunde […] das Verhältnis Peters und Magelones ein rein privates« sei (Braun [Anm. 41], S. 201). 703 Vgl. Werner Röcke: »Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ›Guten Frau‹ und Veit Warbecks ›Magelone‹«. In: Georg Stötzel (Hrsg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2 Bde. Berlin/New York 1985, Bd. 2: Ältere deutsche Literatur / Neuere Deutsche Literatur, S. 144–159, Röcke unterscheidet zwischen zwei Ausprägungen des mittelalterlichen Minne- und Abenteuerromans Romans: dem ›Eustachius-Typ‹, in dem der Held »alles verliert, aber – wie im griechischen Roman – auch alles wieder gewinnt« (zu diesem Typus zählt für Röcke neben der Magelone auch die Gute Frau und Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden); und dem ›Creszentia-Typ‹, in dem die Heldin zunächst – obwohl sie unschuldig ist – verfolgt wird, schließlich aber wieder in ihre Rechte eingesetzt wird (zu diesem Typus gehören für Röcke Mai und Beaflor und die Genoveva-Romane; alle Zitate S. 147). Vgl. auch Hans-Jürgen Bachorski: »›grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende‹. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit«. In: Günter Berger/Stephan Kohl (Hrsg.): Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Trier 1993, S. 59–86; zur Hybridität der Plotstruktur vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone. Berlin 2000. Während Röcke, Bachorski und Schulz die Handlungsstruktur in ihrem generischen Kontext bewerten, wird sie in der älteren Studie von Norbert Thomas auf das »Erscheinungsbild des Königs von Neapel« zurückgeführt, das sich »in zwei Typen, einen ›freundlichen‹ und einen ›feindlichen König‹« (S. 214), aufsplittert und mit dem »zwei konträre motivische Modelle« verbunden sind (S. 204): die ›[e]infache Werbung‹ mit der Zustimmung des Königs und die
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raubten Ringe finde sich gleichermaßen in der Jean Renart zugeschriebenen französischen Verserzählung L’escoufle (13. Jh.) wie in ihrer deutschen Bearbeitung Der Bûsant (14. Jh.).704 Dass der antike Liebesroman den strukturellen Bezugspunkt der Magelone bildet, darüber besteht Konsens.705 Differenzen gibt es allein bei der Nuancierung des Befundes, wie ein Blick auf die Arbeiten von Hans-Jürgen Bachorski und Armin Schulz zeigt. Für Bachorski gehört die Magelone zum Typus des ›Liebes- und Reiseromans‹, der an »spätantike Traditionen« anknüpft.706 Das narrative Schema dieses Typus, wie es von Michail M. Bachtin beschrieben wurde, sei in der Magelone geradezu »[i]dealtypisch« ausgeprägt:707 Die ›biographische Zeit‹ (Bachtin) der Figuren werde durch das Abenteuer unterbrochen und erst nach ihrer Wiedervereinigung fortgeführt, allein – so schränkt Bachorski seine These ein – die »rekurrenten Berichte über die Vita der Helden [verknüpfen] immer wieder den Rahmen, d. h. die biographische Zeit, mit der Abenteuerzeit der Binnenhandlung«, sodass die »Logik des Chronotopos […] punktuell zerstört« und die »absolute Trennung der verschiedenen Weltlogiken durch die Struktur der Raum-Zeit-Ebene[n]« aufgehoben wird.708 Hinterfragt werde damit – so seine Folgerung – die »ideologische Grundlage der Gattung, die Behauptung von der unzerstörbaren Integrität der Figuren in den Wirren des Schicksals«.709 Armin Schulz hingegen rückt den Roman in Richtung einer spätmittelalterlichen ›Poetik des Hybriden‹.710 Auch wenn die »Gesamtstruktur [des Romans, L. W.] im wesentlichen auf den hellenistischen Romantypus zurückgreift«, finden sich in der Magelone ebenso Motive und Strukturen aus dem »Minneroman«, aus »Brautwerbungserzählungen«, desgleichen aus dem »legendarischen und sagenhaften« Erzählen wie »aus orientalischem Erzählgut«.711 Der Romans sei zweigliedrig: Die Gestaltung des Liebesplots, so Schulz, orientiere sich vornehmlich am Minneroman und an der Brautwerbungsepik und
|| ›[s]chwierige Werbung‹, die gegen den Willen des Königs erfolgt (S. 204, Norbert Thomas: Handlungsstruktur und dominante Motivik im deutschen Prosaroman des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Nürnberg 1971); kritisch zu Thomas’ Argumentation Schulz (Anm. 703), S. 169 f. und Eming (Anm. 702), S. 290. 704 Vgl. Bolte (Anm. 697), S. XV. 705 Vgl. Ertzdorff (Anm. 25), S. 58. 706 Bachorski (Anm. 703), S. 63. 707 Bachorski (Anm. 722), S. 65. 708 Bachorski (Anm. 703), S. 74. 709 Bachorski (Anm. 703), S. 75. 710 Vgl. Schulz (Anm. 703), S. 153–229. 711 Schulz (Anm. 703), S. 155.
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verweise damit auf (spät-)mittelalterliche Erzählmodelle.712 Nach der Trennung der beiden Liebenden, im zweiten Teil des Romans, dominiere das Strukturmodell des hellenistischen Romans, sodass – und hier folgt Schulz Bachorski – die ›biographische Zeit‹ der Figuren unterbrochen werde und die ›Abenteuerzeit‹ beginne, die erst von der Wiedererkennungsszene im Spital und der anschließenden Hochzeit beendet wird.713 Die Relevanz von Plotstruktur und Figurenkonzeption für Fragen der Zeit ist evident (Kap. 4.1.3 und Kap. 4.2.2), basiert doch laut Bachtin, dem Bachorski und Schulz folgen, die Spezifik des Liebes- und Abenteuerromans gerade auf der Spaltung der ›biographischen Zeit‹ durch das Abenteuer. Auch wenn sie den Begriff der ›Abenteuerzeit‹ nutzen, spielt Zeit für die Argumentationen von Bachorski und Schulz aber nur bedingt eine Rolle. Für beide fungiert der Chronotopos lediglich als Label, um die Gestaltung des Plots zu charakterisieren.714 Schulz widmet der erzählten Zeit einige kursorische Bemerkungen, ohne aber ihre Eigenart en détail herauszuarbeiten.715 Einen Blick auf die Formen der Evokation von Zeit in Heliodors Aithiopika bleiben beide schuldig. In meiner Magelone-Lektüre setze ich bei der generischen Hybridität des Textes an. Ziel ist es dabei, gattungscharakteristische Eigenheiten in der Behandlung von Zeit und ihre Überlagerungen in der Magelone aufzuzeigen. Zunächst werde ich die kompositorische und figurale Dimension von Zeit in der Magelone und in Heliodors Aethiopica Historia (in der Übersetzung von Johannes Zschorn) vergleichend gegenüberstellen, um schließlich die märchenhafte Formelhaftigkeit der erzählten Zeit – also eine weitere generische Traditionslinie – als Charakteristikum von Warbecks Roman herauszuarbeiten. Geleitet werden die beiden Kapitel von zwei Thesen: Auch wenn es im Hinblick auf Plotelemente auffällige Parallelen zwischen dem Heliodor’schen Roman und der Magelone gibt, so sind diese für die kompositorische Bedeutung von Zeit und im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Figuren und Zeit nicht tragend.
|| 712 Vgl. Schulz (Anm. 703), S. 161–186. Von den »25 Erzählelementen«, die Schulz für den Minneroman formuliert (Schulz [Anm. 703], S. 50–63), analysiert er im ersten Teil der Magelone-Handlung (bis zur Flucht des Paares) vierzehn, die er in teils abgewandelter und teils in nicht realisierter Form wiedererkennt. 713 Vgl. Schulz (Anm. 703), S. 217. 714 Hans-Jürgen Bachorski arbeitet zwar die Bedeutung des Zufalls für die Handlungsführung des Liebes- und Reiseromans heraus, ohne jedoch auf andere Aspekte der Zeitgestaltung einzugehen (vgl. Bachorski [Anm. 703], S. 66–71). 715 Vgl. Schulz (Anm. 703), S. 223: Schulz deutet das »verstärkte Auftreten präziser Zeitangaben« im Zusammenhang mit Peters Krankheit (9 Monate) als »Wiedereintritt in die ›biographische Zeit‹« (erläuternd dazu S. 217).
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Aufgrund konzeptueller Differenzen kann in der Magelone – entgegen der geläufigen Forschungsmeinung – nicht von einer ›Eigenzeit‹ der Figuren gesprochen werden. Es fehlen in ihr jene Ereignisse, die sich potenziell in die Körper der Figuren einschreiben könnten; zudem ist die Figurenkonzeption grundlegend anders als in den Aithiopika. Charakteristisch für die Magelone ist aber eine märchenhafte Formelhaftigkeit der Zeit, die sich zum einen in der verbalen Evokation mittels Eingangsformeln und zum anderen in der Prominenz der Dreizahl (und ihrer Vielfachen) niederschlägt, die als kompositorische Prinzipien Motiv- und Handlungsreihen strukturieren. Jene von Bachtin für den Heliodor’schen Roman postulierte ›Abenteuerzeit‹, die sich im Syntagma entfaltet, wird dergestalt in der Magelone teils suspendiert und von einer eher auf Äquivalenzbeziehungen fußenden Formelhaftigkeit ersetzt – diese Eigenheiten treten umso deutlicher hervor, wenn man Warbecks Fassung mit der Nürnberger Übersetzung der Magelone vergleicht. Es geht mir im Folgenden um Aspekte der ›Subjektivität‹ im Zusammenspiel mit Ereignissen sowie um das Verhältnis zwischen ›komplexem Syntagma‹ und kompositorischen Formen der Motivation. Bevor ich zur Lektüre der Texte übergehe, sei kurz in Erinnerung gerufen: Der hellenistische Liebesroman wirkte auf recht unterschiedlichen Wegen auf die Literatur der Frühen Neuzeit, teils indirekt über mittelalterliche Erzähltexte und teils über Übersetzungen literarischer Texte, die auf dem Heliodor’schen Roman basieren (vgl. Beispiellektüre 9). Bestimmend für die direkte und deutschsprachige Rezeption ist die 1559 erschienene Übersetzung von Johannes Zschorn. Gemäß der frühneuzeitlichen Praxis ›übersetzt‹ Zschorn nicht im eigentlichen Sinne, vielmehr schreibt er um.716 Er kürzt den Text, indem er vor allem die »historische[n] und naturwissenschaftliche[n] Exkurse«, »Darstellungen kultischer Vorgänge« und »rhetorisches Beiwerk« streicht, sodass dadurch die Handlungselemente des Plots stärker hervortreten.717
|| 716 Vgl. Peter Schäffer: »Vorwort«. In: Heliodorus Emesenus: Aethiopica Historia. In der Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559. Hrsg. u. eingeleitet von Peter Schäffer. Bern u. a. 1984, S. *7–*56, hier S. *24. 717 Vgl. Schäffer (Anm. 716), S. *25 f.
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6.1 Differenzen: Die schön Magelona und die Aethiopica Historia Zunächst zur kompositorischen Relevanz von Zeit: Heliodors Aithiopika zeichnen sich durch eine überaus komplexe erzählerische Anlage aus, die teils an Homers Odyssee angelehnt ist.718 Der Roman sei, so Steve Nimis’ pointiertes Urteil, »one with the most complicated and intricate plot construction, a narrative time bomb full of red herrings and riddles«.719 Der erzählerische Kunstgriff der Aithiopika liege in der zeitlichen Kontraktion der Handlung (von gut siebzehn Jahren) auf ungefähr einen Monat, in der Rückbindung des Erzählens an Figurenperspektiven durch intradiegetische Erzählungen, in der personalen Erzählweise720 und im Spiel mit der dispositionalen Zeitstruktur.721 Die Handlung setzt in medias res mit einer teichoskopischen, an die Sicht der Figuren gebundenen Szene ein. Räuberische Männer, die von einem Berg hinaus aufs Meer schauen, beobachteten eine Schiffbruchszenerie, in der inmitten von Leichen ein überaus schönes Mädchen sitzt, das ihrerseits den Blick auf einen regungslos daliegenden und verwundeten, aber doch schönen Jüngling richtet. Die Vorgeschichte von Theagenes und Chariklea – die über diesen Blick der Männer eingeführt werden – wird anschließend parallel zur fortlaufenden Handlung von verschiedenen Figuren in Rückblicken erzählt. Diese erzählerische Staffelung ist charakteristisch für die ersten fünf Bücher des Romans. Im zweiten Teil der Aithiopika – d. h. in den restlichen fünf Büchern –, nachdem die Vorgeschichten die Erzählgegenwart eingeholt haben, wird die Handlung chronologisch zu Ende erzählt. Richtet man den Blick auf die Zeitstruktur der Handlung und der erzählerischen Ordnung, dann lässt sich der Roman in drei große Abschnitte gliedern: einen ersten Teil (Bücher I bis VII), der streng chronologisch aufgebaut ist und
|| 718 Vgl. Clinton Walker Keyes: »The Structure of Heliodorus’ ›Aethiopica‹«. In: Studies in Philology 19 (1922), S. 42–51. 719 Steve Nimis: »The Sense of Open-Endedness in the Ancient Novel«. In: Arethusa 32 (1999), S. 215–238, hier S. 228. 720 Vgl. Bernd Effe: »Entstehung und Funktion ›personaler‹ Erzählweisen in der Erzählliteratur der Antike«. In: Poetica 7 (1975), S. 135–157, bes S. 152–156. Effe arbeitet heraus, dass die Aithiopika »streckenweise moderne Errungenschaften ›personalen‹ Erzählens in erstaunlichem Maße vorwegnimmt« (S. 152); das Verfahren zielt dabei vor allem auf »Verrätselung und Mystifizierung« (S. 154). 721 Vgl. J.R. Morgan: »Heliodorus«. In: de Jong/Nünlist (Anm. 195), S. 483–504. Marília P. Futre Pinheiro: ›Time and Narrative Technique in Heliodorus’ ›Aethiopica‹«. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW). Teil II, Bd. 34,4 (1998), S. 3148–3173.
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einem ›kohärenten‹ Tagesrhythmus folgt, einen zweiten Teil (Bücher VII bis IX), in dem die Chronologie nicht zuverlässig rekonstruierbar ist, und einen dritten Teil (Großteil des Buches X), der strukturell an den Anfang des Romans anschließt, indem er einem einzelnen Tag viel Raum bietet und über eine ›kohärente‹ sowie ›konsistente‹ Chronologie verfügt.722 Die ersten fünf Bücher des Romans haben fünf klar markierte Tages- und Nachtabschnitte. In dieser Zeit holen die in Figurenerzählungen eingekleideten Analepsen die Erzählgegenwart auf. Einen großen Teil macht dabei die Geschichte des Kalasiris aus, die er am vierten Tag erzählt. Der fixe Tagesrhythmus des Haupthandlungsstrangs rahmt im ersten Teil die multiperspektivisch präsentierten Berichte über die Vorgeschichte. Das fixe zeitliche Gerüst, das durch ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹ die erzählerische Komplexität der ersten Bücher auffängt, tritt in dem Moment in den Hintergrund, in dem die Handlung chronologisch weitererzählt wird. Zwar werden bis ins siebte Buch hinein die Ereignisse tageweise erzählt, aber den einzelnen Tagen wird nunmehr weniger Platz eingeräumt. Ab dem achten Buch (zweiter Teil) ist es aufgrund fehlender oder ungenauer Zeitbestimmungen zunehmend schwierig, die genaue Chronologie der Handlung zu rekonstruieren: »The lack of temporal expressions establishing the breaks between the several days naturally blurs the differentiation of the several parts of the narrative, making it impossible to estimate the total duration of the second block of the novel.«723 Die Zeit wird ›inkohärent‹. Im Gegensatz dazu kehrt das zehnte Buch (als dritter Abschnitt) – mit seiner detaillierten Chronologie – nochmals zu einer akkuraten Tagesregie zurück.724 Größere Eingriffe in die kompositionelle Gestaltung der Zeit sind in Johannes Zschorns Übersetzung nicht erkennbar. Vergleicht man die kompositorische Anlage der Magelone mit derjenigen der Aethiopica Historia, so erscheint die Handlung in der Magelone als vor allem sukzessiv und narratorial erzählt. Auf umfangreiche Analepsen, in denen die Vorgeschichte der Figuren erzählt werden würde, wird ebenso verzichtet wie auf eine komplexe und mehrschichtige Perspektivierung der Ereignisse. Eine vergleichbare Tagesrahmung für die Geschehnisse, wie man sie in den ersten fünf Büchern der Aithiopika findet und die die disparaten Figurenerzählungen in einen fixen Gesamtzusammenhang einbettet, fehlt (es gibt aber freilich eine partielle Korrelation von Tagesrhythmus und Handlungsablauf). Die eigene Geschichte, die Peter Magelone während seines Aufenthalts im Spital in der
|| 722 Zu einer genauen Rekonstruktion vgl. Futre Pinheiro (Anm. 721), S. 3152 f. 723 Futre Pinheiro (Anm. 721), S. 3153. 724 Vgl. Morgan (Anm. 721), S. 502 f.
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dritten Person erzählt (vgl. Ma 669), ist in ihrer quantitativen wie qualitativen Dimension nicht mit den Analepsen bei Heliodor zu vergleichen. Im Gegensatz zur Magelone überschreiten in der Aethiopica Historia die Handlungen und das Erzählen häufig die Ränder zwischen Tag und Nacht: So erzählt Cnemon ebenso wie Calasiris bis tief in die Nacht; oder Cnemon flüchtet die Nacht hindurch; die Untertanen des Hydaspes beginnen bereits am Tag und in der Nacht vor seiner Ankunft mit den Vorbereitungen. In der Magelone hingegen dominiert eine Korrelation von Handlungs- und Tagesbeginn auf der einen Seite und Handlungs- und Tagesabschluss auf der anderen – auf diese Art ist z. B. der Verlauf von Turnieren strukturiert und so sind die Gespräche Peters mit der Amme gestaltet. Eine Ausnahme aber gibt es: Durch den Verstoß gegen diese Korrelation ist die Besonderheit der Flucht von Peter und Magelone markiert, denn sie beschließen, »nach dem ersten schlaff« (Ma 637) zu fliehen, und reiten dann auch »beyde eyllends on abstehen die gantze nacht vber / biß der tag anbrach« (Ma 639). Diese Verletzung des Rhythmus wird in der Folge sowohl in der Plotlinie Peters wie in derjenigen Magelones korrigiert. Diese Korrelation von Handlung und Zeitrahmen gilt in der Magelone auch über die Tagesfrist hinaus, denn gesteckte zeitliche Rahmen (z. B. Fristen) decken sich mit dem Abschluss der Handlung, unvorhergesehene Verzögerungen kommen innerhalb dieser nicht vor. Nachdem Magelone Peter ihre Identität offenbart hat, möchte Peter nicht unmittelbar seine eigene Identität den Eltern bekannt geben, denn er will nicht gegen seinen Schwur verstoßen, einen ganzen Monat im Spital zu verbringen: Dieser Monat als Frist wird akkurat abgewartet (auf die kompositorische Bedeutung der Frist und ihre Relevanz für Zeitfragen wird in den kommenden Analysen noch zurückzukommen sein, vgl. Kap. 8.2 und 10.2). Die Synchronisation von Ereignissen in den Aithiopika wie in der Magelone ist auf diegetischer Ebene in dem Sinne funktional, dass Ereignisse zeitgleich stattfinden, um den Plot voranzutreiben. Mehrfach besetzte Zeitpunkte, die auf einer ›mehrwertigen‹ Dimensionalität von Zeit basieren, bilden Handlungsknotenpunkte. Zwei Auffälligkeiten in der erzählerischen Umsetzung der Synchronisation von Ereignissen sind im Hinblick auf die Magelone festzuhalten: Erstens wird keine durchgängig vereinbare Chronologie präsentiert, punktuell ist die evozierte Zeit also ›inkonsistent‹; und zweitens erfolgt die erzählerische Bewältigung von Handlungssimultanität mittels analeptischer Konstruktionen (auf Simultanität indizierende Temporaladverbien wird verzichtet). In der Magelone gibt es Widersprüche in der Chronologie, die die Geschlossenheit des Zeitgerüsts in Frage stellen. Eine Unschärfe in der evozierten Zeit entsteht durch das zeitlich unklare Verhältnis zwischen einem Traum Magelones (Ma 613 f.), dem zweiten Treffen zwischen ihrer Amme und Peter sowie
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dem anschließenden Gespräch zwischen der Amme und Magelone. An dem Tag, an dem die Amme den ersten Ring von Peter erhält, träumt Magelone, wie sie zusammen mit Peter in einem Garten sitzt und sie ihn nach seiner Identität fragt, er jedoch vertröstet sie auf einen späteren Zeitpunkt und gibt ihr einen zweiten Ring. Das zweite Treffen zwischen Peter und der Amme kommt nicht problemlos zustande, wie der Beginn der Episode suggeriert: »EJns tags thet der Ritter also grossenn vleyß / das er fand die ammen« (Ma 615). Die zeitliche Relation zwischen dem ersten Treffen und dem zweiten bleibt zwar unterspezifiziert, aber das »EJns tags« lässt auf einen längeren Zeitraum schließen. Die Amme geht nach dem zweiten Treffen direkt zu Magelone, um ihr den Ring zu übergeben und von Peters Wunsch zu berichten, Magelone möge ihm »ein tag bestimmen vnnd ein ort / das er [ihr] sein hertz vnd gemFt« eröffnen kann (Ma 618 f.). Als die Amme Magelone den Ring übergibt, stellt die Beschenkte fest: »das ist diser ring / dauor mir getraumet hatt die fodern nacht« (Ma 619). Der konkrete Bezug auf die letzte Nacht scheint hier näherliegender zu sein, als ein generelles Verständnis von »fodern nacht« als ›einer der vergangenen Nächte‹.725 Damit entsteht aber ein Widerspruch zwischen der Bestrebung Peters, die Amme ›ejns tags‹ wiederzutreffen, und der Datierung von Magelones Traum auf die ›vorherige‹ Nacht.726
|| 725 In Warbecks Manuskript heißt es ebenso »forderige nacht« (Ma Bolte 1894, 22) und die zweite Begegnung zwischen der Amme und Peter wird eingeleitet mit der Phrase »Eins tages« (19). Gleiches gilt für die Fassung aus dem Buch der Liebe, in der Magelone sagt: »Das ist der Ring / darvon mir getraumet hat / die vergangene Nacht« (Ma Roloff 1587, 24). Auch hier wird das zweite Treffen Peters mit der Amme mit der einen unbestimmten Zeitpunkt suggerierenden Wendung »EInes Tages« (Ma Roloff 1587, 20) eingeleitet. In der älteren nürnbergischen Manuskriptfassung findet sich diese punktuelle Ambivalenz nicht, denn Magelone sagt nicht, dass der Traum in der »fodern nacht« stattgefunden habe. Sie richtet sich an die Amme mit den Worten: »wisset, das ist der ring, dar von mir nun traumbt hatt, dan das hertz sagt mir nichtz, es wirtt mir war.« (Ma Degering 1922 [Anm. 696], 36). Auch wenn dieser Fehler in der Chronologie umgangen wurde, taucht an anderer Stelle eine Unvereinbarkeit auf: Peter und Magelone verabreden sich, »das sie vber den dreytzehenden tag vmb mittnacht« fliehen wollen (57), dazu passt nicht, dass Peter auf der Flucht klagt: »woltt gott, ich were vor 4 tagen gestorben, ßo werst du noch in deines vaters hauß« (66), denn der Rückbezug soll sich wohl auf den Tag beziehen, an dem der Plan zur Flucht gefasst wurde. Auch in Warbecks Manuskript und der Druckfassung geht die Synchronisation nicht vollständig auf: Sie beschließen »den dritten tag mit einander zů ziehen« (Ma 637), Peter klagt aber: »Jch wolt Got ich were todt / ich were vor zweyen tagen vergangen gewest vnnd jr wert wider inn eîrs vatters hauß« (Ma 646; vgl. Ma Bolte 1587, 37 und 44). 726 Die ambivalente Chronologie der Ringübergaben ist nicht die einzige Uneindeutigkeit dieser Passage: Peter schenkt, wie er im ersten Gespräch mit der Amme beteuert, bereits den ersten Ring Magelone (Ma 611 f.; 615), sie nimmt ihn zunächst an, um darauf aber die Amme zu
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Jenseits der Koordination von zeitgleich stattfindenden Ereignissen mittels »als«-Konstruktionen liegt die erzählerische Besonderheit der Magelone in der erzählerischen Synchronisation der Gleichzeitigkeit ganzer Handlungsstränge. Durch die Trennung der Liebenden wird der Plot in zwei Handlungsstränge geteilt: zu Beginn steht Peters Abenteuer im Vordergrund. Als er versucht, die Ringe, die vom Vogel geraubt wurden, wieder an sich zu bringen, treibt er in einem Boot aufs Meer hinaus, dort wird er von einem maurischen Räuberschiff festgesetzt. Er wird nach Alexandria gebracht und dort dem Sultan als Geschenk übergeben. Es gelingt ihm, zügig die Gunst des dortigen Hofes zu erlangen. Während Peters Geschichte entfaltet und erzählerisch vorangetrieben wird, bleibt ungewiss, was in der Zwischenzeit mit Magelone passiert. Indem der Erzähler von Peters Sehnsucht nach Magelone berichtet, lenkt er den Fokus auf sie und kann die Geschichte Peters unterbrechen: »Nun w=llen wir von jm lassen zů reden / vnnd von der sch=nen Magelona sagen« (Ma 647). Daraufhin setzt die Geschichte Magelones ein, ohne dass die Simultanität des Erzählten mit dem soeben Geschilderten markiert werden würde: »ALs nun die sch=n Magelona nach lust het geschlaffen« (Ma 648). In der erzählerischen Gestaltung dieser Übergänge fehlen aber bezeichnenderweise Gleichzeitigkeit anzeigende Zeitadverbien und Konjunktionen. Deshalb mag man bei der Charakterisierung dieser Erzählweise mit Absicht den Begriff der Simultanität umschifft haben; Xenja von Ertzdorff konstatiert, dass
|| bitten, ihr diesen zu überlassen. Es handelt sich dabei um einen Fehler, der durch eine inkonsequente Bearbeitung der Vorlage entstanden ist. Warbeck ändert insofern den Prätext, als in diesem Peter den ersten Ring der Amme geschenkt hatte, den Magelone dann ihrerseits von ihr erbittet. Warbeck ändert zwar den Schenkungsadressaten, aber Magelones Bitte an die Amme, ihr den Ring zu überlassen, bleibt (nachlässigerweise) stehen, vgl. Müllers Kommentar zu dieser Passage. Eine ähnliche Ambivalenz zwischen einer suggerierten längeren Zeitspanne und einem relativ zeitnahen Rückbezug wird auch im Liebesgeständnis Magelones gegenüber der Amme ersichtlich. Erzählt wird im Vorfeld, dass der König viele Turniere zu Ehren seiner Tochter ausrichten ließ, dass nach einem dieser Turniere Peter mit Magelone gesprochen hat und dass beide, Peter und Magelone, in ihren Kammern an den anderen denken. In dieser Situation beschließt Magelone, ihre Liebe der Amme zu offenbaren. »Eins tags nam sie die selbigen ammen« und gesteht ihr: »Jch hab mein hertz vnd lieb gantz gesetzt inn disen jungen Riter / Der den vorigen tag den preyß im turniern erlangt hat« (Ma 607 f.). Die Identifikation des Geliebten über den Sieg im Turnier passt insofern zu Peter, als er von Beginn an – noch vor seiner Reise nach Neapel – als ausgezeichneter Ritter gilt, was er in Neapel nur noch bestätigt. Irritierend daran ist jedoch, dass von keinem Turnier, das unmittelbar davor stattgefunden hat, erzählt wurde: Nimmt man das »Eins tags« als eine unbestimmte Form der zeitlichen Verortung ernst, dann geht der temporale Rückbezug wenigstens partiell ins Leere.
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die »lineare Einlinigkeit der Handlungsführung […] durch die Technik des häufigen Ortswechsels und des Stehenbleibens der Handlung an einem Ort, während erzählt wird, was am anderen indessen geschieht, unterbrochen« wird.727 In der Magelone sind es vielmehr analeptische Konstruktionen, im Rahmen derer man von der erreichten Erzählgegenwart einen Schritt rückwärts geht. Auch in der Aethiopica Historia wird die Koordination von Handlungssequenzen nicht mittels Gleichzeitigkeit indizierender Temporaladverbien gelöst. Nachdem Thiamus das Priesteramt von seinem Vater, der ihm aufgetragen hat, sich um Chariklea und Theagenes zu kümmern, übernommen hat, wechselt der Fokus auf die verliebte Arsace und ihre Gehilfin Cybele, die Theagenes für sich zu gewinnen suchen. Die Thiamus-Handlung rückt in den Hintergrund und wird mit einer gerafften Darstellung der vergangenen Ereignisse wieder angeschlossen.728 Es dürfte deutlich geworden sein, dass die kompositorischen Differenzen zwischen der Aethiopica Historia und der Magelone in der erzählerischen Anlage mit ihrer Funktionalisierung des Tagesrhythmus grundlegender Art sind, auch wenn sich teils ein ähnlicher Umgang mit der Synchronisation von Ereignissen und ihrer Funktionalisierung abzeichnet. Der anachronischen Verschachtelung, die eine besondere Synchronisation verlangt, steht eine vornehmlich sukzessive Handlungsreihe gegenüber, innerhalb derer Simultanität über Analepsen suggeriert wird. Entscheidender für die Suspendierung der für die Bachtin’sche ›Abenteuerzeit‹ charakteristische Figurenzeit ist aber der Konnex von Figur und Ereignis. Die Aithiopika und die Magelone differieren im Hinblick auf die Konzeption der Hauptfiguren und im Hinblick auf die den Figuren zugeschriebenen Prädikate; beides ist, wie ich im Folgenden zeigen werde, aber für die Figurenzeit des hellenistischen Liebesromans basal. Für Heliodors Aithiopika im Besonderen und den antiken Liebes- und Abenteuerroman im Allgemeinen wurde behauptet, dass während des Abenteuers die Zeit an den Figuren spurlos vorbeigehen würde. Die Ereignisse schreiben sich nicht als Spuren in die Körper der Protagonisten ein. Dies hat für die Aithiopika durchaus seine Berechtigung, denn Chariklea und Theagenes bleiben keine physischen Zeichen der von ihnen bestandenen Gefahren.729 Ihre Schön-
|| 727 Ertzdorff (Anm. 25), S. 59. 728 HA VIII 2, cxlvijv: »THiamus da er nůn sein priester ampt volkummenlich empfangen / auch yetzūd oberster zů Memphi was / darzů seinem vatter den leibfahl gehalten / fiel jm Theagenes vnd Chariclia wider in sinn.« 729 Die Körper sind makellos; das Mal, das Chariklea trägt, stammt aus ihrer Kindheit und verbürgt ihre Identität (vgl. HA X 5, clxxxivv).
Differenzen: Die schön Magelona und die Aethiopica Historia | 227
heit und Tugendhaftigkeit, die beide auszeichnet, sind am Ende der erzählten Geschichte unversehrt, auch wenn die Figuren allerlei Unglück, der Folter und dem Feuer ausgesetzt waren. Diese Gefahren und die Schönheit der Figuren sind dabei verschränkt: Der in seiner Schönheit potenziell bedrohte Körper der Protagonisten lässt die spurlos an ihm vorbeigehende Zeit umso deutlicher hervortreten. Als Theagenes und Chariklea zu Beginn des Romans über den Blick der Seeräuber eingeführt werden, zeichnet sich die programmatische Spannung zwischen der Bedrohung ihrer körperlichen Schönheit durch das »vnglFck« und ihrer letztgültigen Beständigkeit ab: Dann es sass ein vber sch=ne Junckfraw in einem felsen / die war wie ein g=ttin anzůsehen / welche von disem vnglFck mit laid vund trawren hefftig betrFbt vnd grossen schmertzen beladen / aber jre adeliche tugendt vnd sch=ne hatt nit verloren. (HA I 1, iir).
Ungeachtet des Leids erweisen sich Charikleas Tugend und Schönheit als beständig, wie Calasiris im Zusammenhang mit der Flucht aus Delphi pointiert feststellt: »Doch bey disem glück vnd vnglück / in diser ein=de / vnnd trübsal konte sich doch die sch=ne der Chariclien nicht verenderen« (HA V 4, xcv). Und über Charikleas Blick auf Theagenes heißt es: Nicht ferr von ihr einen ligenden sch=nen jüngling hefftig beschawende / Der jüngling aber war sehr mit vil wunden verwundet / das er anzůsehen was / sich ein wenig zů regen als aus einem dieffen schlaff des todts sich ermundern. Nicht desto weniger / wiewol sein angesicht mit blůt vberschossen / so erschine doch an ihme ein sch=ne gestalt eines mans / vnd zierliche weisse seins angesichts (HA I 1, iir f.).
Das erlittene Unglück, das für Theagenes als männliche Figur tendenziell stärker auf den Körper zielt als bei Chariklea, ändert nichts an seiner Schönheit und Tugend. Nachdem Arsace Theagenes nicht im Guten für sich gewinnen konnte und sie befürchtet, dass Oroondates, ihr Gemahl, von ihren außerehelichen Liebeshändeln erfährt, bittet sie Cybele um Rat. Diese schlägt vor, Theagenes peinigen zu lassen, um so seine Unbeugsamkeit zu brechen, was prompt umgesetzt wird: EVphrati warde befolhen / er solte Theagenem gefangen legen / dieweil die verschnittenen von natur eyfern / kam die sach recht / er war ihm ohne das feindt / es wolte jn etwas anen / er schlůg jn gleich in eiseren ketten / peiniget jn mit hunger vnd streichen / in einer finsteren gefencknus / er wuste wol warumb es zů thůn was / thet doch als wann er es nit wüste / meret von tag zů tag die martter / vnd mehr dann Arsace befolhen hatte (HA VIII 3, clv).
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Theagenes’ Körper wird in zunehmendem Maße geschunden, von seiner Liebe zu Chariklea rückt er jedoch nicht ab. Die körperliche Bedrohung führt – im Gegenteil – zu einem Steigerungseffekt: »Er aber gewann ye lenger ye mehr ein Lewen můt / widersprach ihr begeren mit allen krefften / liess sich schlagen vnd fesslen / war fr=lich darbey« (HA VIII 3, clv). Gleiches gilt für die Bedrohung von Charikleas körperlicher Schönheit, die diejenige von Theagenes noch übertrifft. Nachdem der Giftanschlag der Cybele auf Chariklea gescheitert ist und sich Cybele so selbst aus dem Leben befördert hat, lässt Arsace ihre Wut an Chariklea aus, hiess sie mit feusten schlagen / sprach / Nemen das lastermaul / bindens / legen ihr fessel an hendt v] fFss / fFrens hien / geben sie dem Euphrati / das er ihr ihren sch=nen bůlen zeige / vnnd das man sie biss morgen in gleicher gestalt / wie jn beware (HA VIII 3, cliiv).
Am nächsten Morgen wird Chariklea dazu verurteilt, »das man sie solt mit fewr verbrennen« (HA VIII 3, cliiiv). Das Feuer, in das sie sich willig übergibt, übersteht sie aufgrund des Steines Pantarbes (vgl. HA VIII 4, clviir), den sie mit sich trägt: sie aber keret sich zům fewr / sprang mit freuden mittē darein / stůnde da lang vnuersehret. Die flammen die thetten sich weitt von ihr / schůden ihr nichts / woh sie sich hien k=ret stund sie dortt vnder des fewres flammen wie ein heller schein (HA VIII 3, cliiiir f.).
Nachdem dieser Versuch der Hinrichtung gescheitert ist, vertagt man sich auf den nächsten Tag, doch dazu kommt es nicht mehr, da just in der Nacht Bagoas mit Oroondates’ Anweisung eintrifft, die beiden abzuführen. Er findet Theagenes und Chariklea zwar etwas angeschlagen, aber im Grunde unversehrt vor: »Da jetzt Bagoas die zwey sahe / wiewol sie von schlegen / hunger vnd martter hellig waren / verwundert er sich doch ab ihrer sch=ne« (HA VIII 5, clviiiv). Kurz darauf ist aber auch diese Müdigkeit gewichen. Auf dem Weg zu Oroondates werden sie von König Hydaspes’ Spähern gefangen. Hydaspes, dem sie gebracht werden, beschließt, sie am Kriegsende den Göttern zu opfern. Während der Opferfeier sind sich die Anwesenden einig darüber, dass Chariklea und Theagenes in ihrer Schönheit unübertroffen sind. Unwissend, dass sie ihre eigene Tochter sieht, fragt Königin Persina Hydaspes: O Lieber hausswirt / was hastu da fFr ein junckfraw zům opffer erwelet? Ich glaub nicht das ich mein tag ein sch=nere gesehen hab / wie hatt sie so ein herlich vnd adelich angesicht / wie hett sie so ein fFrtreflich hoch gemFdt / wie bewegt sie mit ihrer blFendē jugent die hertzen zů erbarmung (HA X 3, clxxxiiv).
Differenzen: Die schön Magelona und die Aethiopica Historia | 229
Sowohl Chariklea wie Theagenes müssen, bevor sie geopfert werden, eine Feuerprobe bestehen, damit man zeichenhaft erkennt, ob sie »rein« und damit keusch sind (HA X 3, clxxxiiiv). Bei Theagenes können es die Umstehenden kaum glauben, dass er rein sein soll, »dieweil er einer solchen sch=nen blFenden jugent / darzů so gerad vnd sch=n war« (HA X 3, clxxxiiiv). Charikleas Schönheit wird gar durch die Feuerprobe gesteigert, so wie Theagenes’ Beständigkeit durch die Folter gesteigert wurde. Sie steht im Feuer »ein lange weil / v] geschach ihr kein schad / ye lenger sie stůnde so sch=ner sie warde. Es sahe yederman vff sie / darzů war ihr ansehen mehr gleich einer g=ttin da] einem weibsbild« (HA X 3, clxxxiiiir). Die Parallelität der Attribute ›schön‹ und ›tungendhaft‹ gilt für beide Protagonisten, die Bedrohung dieser führt nicht zu einer Abschwächung ihrer Ausprägung, sondern vielmehr zu einer Steigerung. Chariklea und Theagenes werden physischen Strapazen ausgesetzt, doch bleiben diese für ihre Körper folgenlos, sodass die Zeit des Abenteuers spurlos an ihnen vorbeigeht.730 Die Ereignisse hinterlassen keine ›indexikalischen‹ Spuren. Die Konstellationen in der Magelone unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von dem skizzierten Modell des Heliodor’schen Romans: Die Figuren verfügen erstens nicht über die parallele Attributzuschreibung ›schön‹ und ›tugendhaft‹. In der Magelone ist deshalb die Bedrohung der körperlichen Schönheit vor allem für Peter nicht in dem Maße relevant wie für Theagenes. Insgesamt sind Peter und Magelone nicht in einem vergleichbaren Umfang wie Theagenes und Chariklea körperlichen Angriffen ausgesetzt. Darüber hinaus sind Peter und Magelone zweitens als Figuren unterschiedlich konzipiert: Peter ist in seiner Profilierung statisch, während Magelone gerade innerhalb des Abenteuers ihre soziale Identität wechselt, indem sie zur Spitalmeisterin wird – || 730 Dem gegenüber geht Sebastian Möckel von einer nicht derart stabilen Konzeption der Figurenidentität aus, wenn er hervorhebt, dass Chariklea »mit verschiedenen Ausprägungen von Identität umzugehen weiß«. Heliodor modelliere – so seine Folgerung – »in diesen Transgressionen Identität nicht als feste, inhärente Größe, sondern als wandelbare, zuschreibbare Entität«, die »in der Auseinandersetzung von Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung« generiert werde (Sebastian Möckel: »Abenteuer und Initiation. Einübung in Familie im antiken Liebesroman der Frühen Neuzeit«. In: Thomas Martinec/ Claudia Nitschke [Hrsg.]: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 2009, S. 57–77, hier S. 66 f.). Auch Werner Röcke geht von einer unterschiedlichen Entwicklung von Chariklea und Theagenes aus, wenn er betont, dass Chariklea die »Lektion des Kalásiris rascher gelernt [hat] als Theagenes«, »während dieser in jeder Gefahr erneut in die tiefste Verzweiflung, ja in die Lust am Tode versinkt, beherrscht Chariklea die Dialektik von Verzicht und Gewinn der Liebe im Verlauf der Ereignisse immer perfekter« (Röcke [Anm. 405], S. 350). Die Beobachtungen Möckels und Röckes deuten aber – im Gegensatz zu meiner Darstellung, die auf die physische Dimension fokussiert ist – auf mentale Entwicklungen der Figuren.
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auch dies unterscheidet sie von Chariklea (der Wechsel der Identität differiert grundlegend von den Verwechslungen und Verstellungen, wie sie der spätantike Roman und der höfisch-historische Roman kennen und die nur Schein sind). Schöpfen Peters Eltern noch ihre Freude daraus, dass er »so dapffer so freüntlich so sch=n vnd so weyse was« (Ma 593), so tritt das Motiv der Schönheit im Laufe der Handlung zunehmend hinter seine ritterlichen Taten und seine höfischen Umgangsformen zurück. Allein die Piraten nehmen den halbtot im Boot liegenden Peter mit, da er »wol geklaidet vnd sch=n« ist (Ma 646). Weder am Hof des Königs von Neapel noch am Hof des Sultans wird er aufgrund seiner Schönheit geehrt. Ehre erwirbt er durch erfolgreiche Turnierkämpfe, die er bestreitet (vgl. das Turnier gegen den königlichen Ritter Ma 601 f.), sowie durch seine »hofflichait« (Ma 602). Das Interesse des Hofes an seiner Person erwächst mehr noch aus der Spannung zwischen seiner ritterlichen Vorbildlichkeit und seiner verborgenen Identität. Auch Magelones geheimes Interesse an Peter geht nicht auf seine Schönheit zurück, sondern darauf, dass sie »het gern gewüst wer er were / vnd wie er hiesse« (Ma 607).731 Am Hof des Sultans wird er gastfreundlich aufgenommen, da der Sultan aufgrund von Peters goldener Kette denkt, »das er eins grossen geschlechts were« (Ma 646), und da sich Peter aufgrund seiner Umgangsformen beweist. Er was also züchtig vnd freüntlich / das jn yederman am hoff lieb gewan / als were er ein eigner sun gewesen oder brůder / Es was auch seyns gleichen nit am hoff mit allerley geschickligkait / darumb er auch seer geliebt ward (Ma 647).
Seine Schönheit spielt hier ebenso wenig eine Rolle wie bei seiner Rettung durch die Fischer. Damit rückt die Unversehrtheit von Peters Körper in den Hintergrund, sodass er keine Projektionsfläche für das Vergehen der Zeit mehr bietet. Magelone hingegen bietet diese Projektionsfläche, denn die Attributzuschreibung ist bei ihr eindeutig: »sch=nhayt vnnd tugent« zeichnen sie von Beginn an aus (Ma 595), dabei ist ›schön‹ als Epitheton ornans in ihren Namen eingeschrieben. Allein in der Zeit als Spitalmeisterin tritt die Schönheit zurück, wird aber in der Wiedererkennungsszene mit Peter wieder aktualisiert. Die Gesamtkonstellation von Figur, Prädikaten und Zeit ist in der Magelone aber insofern anders, als sich die Bedrohung der physischen Integrität der Figuren bei Peter auf die Boots- und die Inselepisode und bei Magelone auf die Zeit im Wald beschränkt. Obgleich diese Episoden potenzielle Gefahren mit sich bringen, || 731 Im Gespräch zwischen Magelone und Peter wird die Schönheit Peters von Magelone in einer Reihe von auszeichnenden Eigenschaften aufgeführt (vgl. Ma 625).
Differenzen: Die schön Magelona und die Aethiopica Historia | 231
finden in der Magelone keine Ereignisse statt, die sich nachhaltig als indexikalische Spuren in den Körper der Figuren einschreiben könnten – wie Feuer, Folter und Verletzungen in den Aithiopika. Peter ist im Grunde eine durchweg statische Figur, die sich immer ihrer sozialen Rolle gemäß verhält. Er ist von Beginn an der ideale Ritter, bereits in der »Vorred« heißt es über seine Rolle am elterlichen Hof, dass er »alle andere vbertraff inn waffen Ritterspiln vnnd andern sachen / also das [es] er sich mer g=tlich dann menschlich erzeigt« (Ma 593). Auch wenn er seine Identität am Hof von Neapel verborgen hält,732 sind seine Qualitäten evident: Gleich nach dem ersten Turnier »lobt vnd preyset [der König, L. W.] den ritter mit dem schlüssel« (Ma 602) und – in der Folge – »gefiel er jm allenthalben wol / sonderlich von wegen seiner tugent adels vnd hofligkeit« (Ma 603). Der Siegeszug, der ihm am Hof von Neapel gelungen war, wiederholt sich am Hof des Sultans. Demgegenüber erscheint Magelone als sich verändernde Figur. Auf den Turnieren hört Peter von Magelone, der Tochter des Königs von Neapel, »derenn gleychenn nit solt gefundenn werdenn / vonn sch=nhayt vnnd tugent« (Ma 595). Ihre Schönheit bestimmt Peters Wahrnehmung von ihr. Er »gedacht inn seinem hertzen es were kein sch=nere auff erden dann dise sch=ne Magelona« (Ma 604). Im Gegensatz zu Peter übernimmt sie aber während der Trennungsphase eine neue soziale Rolle. Mit dem Bau der Kirche und des Spitals wird sie zur »spittalerin« (Ma 656), die von ihrer Umwelt als ›heilige Frau‹ wahrgenommen und »heylige Pilgerin« genannt wird (Ma 656). Auch der Erzähler nennt sie in diesem Abschnitt vorwiegend »spittalerin« (Ma 664), dabei ist dies mehr als eine Variation ihrer von Beginn an postulierten »tugent« (Ma 595), die freilich – trotz Peters Avancen – unangetastet bleibt. Erst im Umfeld des (zunächst unerkannten) Zusammentreffens der beiden wird aus der »spittalerin« wieder »Magelona« und schließlich die »sch=n Magelona« (Ma 669). Der Bogen zwischen dem Zeitpunkt der Flucht und der Wiedererkennungsszene wird von Magelone selbst gezogen, indem sie Peters und ihre Identität zu beiden Zeitpunkten hervorhebt und die dazwischenliegenden Ereignisse – und ihre soziale Rolle als ›Spitalerin‹ – ausblendet: ich bin die selbige / die jr allein schlaffend ligen verlassen haben inn dem holtz vnnd wilden waldt / vnnd jr seyt der jhenige der mich hatt gefFrt auß dem hausse meynes vatters des Künigs vonn Neaples / Jch bin die der jr verheyssen habet alle jre ehr vnnd zucht biß zů beschluß vnser Ee / ich bin auch die jhenige die dise gulden kettenn hat gehengt an eîrn halß mit vbergebung der gewalt [vber] meinen leib / ich bin die dern jr habt geben die drey ringe die also kostliche sein gewesen (Ma 671).
|| 732 Zum Motiv der verborgenen Identität des Ritters vgl. Thomas (Anm. 703), S. 74–82.
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Magelone bezieht sich ausschließlich auf die gemeinsamen Ereignisse, all das, was zwischen der Trennung und dem erneuten Zusammenkommen passiert ist, spart sie aus. Im Gegensatz zu jeder Interpretation, die von der Statik der Figuren während des Abenteuers ausgeht, liest Werner Röcke Magelone als eine Figur, die nicht von Beginn an vordefiniert ist – dafür spricht die doppelte Funktion, in der sie präsentiert wird: Anders als die Gräfin von Berry […] ist Magelone nicht von Anfang an die gute Frau, sondern wird erst dazu gemacht. Zwar verzichtet sie nicht auf ihre Liebe zu Peter, lernt aber Selbstbeherrschung, das Hintanstellen individueller Wünsche und den uneigennützigen Liebesdienst von Trost und Hilfe für andere.733
Die Veränderung, die sie durchmacht, hat also zwei Dimensionen: eine gesellschaftliche und eine mentale. Der Vergleich zwischen der Aethiopica Historia und der Magelone im Hinblick auf die kompositorische Einbindung und Relevanz von Zeit und im Hinblick auf die Relation zwischen Figur und Zeit lässt Differenzen erkennen, die es fragwürdig erscheinen lassen, in der Magelone von einer Figurenzeit auszugehen, die analog zu derjenigen des Heliodor’schen Romans wäre. Im Heliodor’schen Roman fallen die Figuren aus der Zeit, da sich die Ereignisse nicht als Spuren auf ihren Körpern verstetigen: Der schöne Körper bleibt unangetastet. Ereignisse, die dies potenziell könnten, gibt es in der Magelone so gut wie gar nicht, und der Körper der Helden als Projektionsfläche spielt keine Rolle. Unbestritten bleibt aber, dass die Magelone in der Handlungsführung durch die wechselvollen Etappen zwischen der ›Trennung‹ der Liebenden und deren ›Wiedervereinigung‹ deutlich an den Heliodor’schen Roman anknüpft. Zeit wird aber entlang eines anderen Prinzips modelliert: Aufgrund von formalen und thematischen Äquivalenzen sind die temporalen Eigenheiten von Warbecks Roman mit einer Poetik des Märchens verknüpft, wie ich im Folgenden zeigen möchte. In die Handlungsstruktur des Heliodor’schen Romans, an die die Magelone im zweiten Teil angelehnt ist und die selbst als ›märchenhaft‹ gelesen wurde, ist die Zeitlichkeit des Märchens integriert. Die Frage, inwiefern es sich aufgrund der Plotstruktur bei den Aithiopika um einen ›Märchenroman‹ handelt, bleibt hier ausgeklammert.734 Der Fokus liegt nunmehr nicht auf der syntagmatischen Struktur des Romans, sondern auf den Äquivalenzrelationen.
|| 733 Röcke (Anm. 703), S. 158. 734 Ilse Nolting-Hauff hat Heliodors Roman im Rückgriff auf Clemens Lugowskis Argumentation als ›Märchenroman‹ gelesen: »Märchenromane«, so ihre Feststellung, »sind vor allem auch die hellenistischen Liebesromane mit ihrer reichhaltigen abendländischen Nachfolge« (S.
Märchenhafte Formelhaftigkeit: Wiederholung und Dreizahl | 233
6.2 Märchenhafte Formelhaftigkeit: Wiederholung und Dreizahl Nach der »Vorred«, in der die Vorgeschichte Peters erzählt wird, beginnt der Roman mit einer dreifach wiederholten temporalen ›Eingangsformel‹:735 »[E]ins tags« erwirbt Peter den »preyß« bei einem »turnier«, das »[d]je Freyherrn vnnd Edlen des lands« abhalten (Ma 595). »Vnnd es begabe sich eins tags« (Ma 595), dass jemand zu Peter kommt und ihn dazu auffordert, in die Welt zu ziehen, Ruhm zu erwerben und eine Frau zu gewinnen. Und »[e]hs begab sich eyns tags das ehr fandt Vatter vnnd Můtter bey eynander alleyn sitzenn« (Ma 596), sodass er die sich bietende Gelegenheit nutzt und darum bittet, ausziehen zu dürfen. Nachdem die Eltern ihm diese Bitte beim ersten Mal abschlagen, bittet er sie zwei weitere Male. Zwei unterschiedliche Wiederholungsfiguren, die die Gestaltung der Zeit in der Magelone charakterisieren, werden an dieser Anfangsszenerie ablesbar: die wiederkehrende Verwendung von temporalen Eingangsformeln, um ein Ereignis oder einen Handlungsabschnitt einzuleiten; und die Bedeutung der Dreizahl.736 Bei beiden Verfahren handelt es sich um Wiederholungsstrukturen (also ›formale‹ und ›thematische Äquivalenzen‹, Kap. 4.1.3), die als kompositorische Prinzipien an besonders prägnanten Stellen – wie zu
|| 133). Dabei versteht sie Heliodors Roman im Vergleich zum Artusroman, der für sie »märchennäher[ ]« ist, als den literarisch jüngeren Typus, bei dem die »Nähe zum Märchen […] weniger klar zutage tritt« (S. 418). Nolting-Hauff sieht eine Traditionslinie zwischen den sogenannten ›Märchen mit einem leidenden Held‹ und den Aithiopika, die sie teils auf die »mündliche Erzähltradition zurückzuführen« versucht (S. 426). Das Hauptaugenmerk von Nolting-Hauff liegt auf der Plotstruktur, so attestiert sie der Arsake-Episode, ein »rationalisiertes Hexenmärchen« zu sein (S. 430), und dem Roman als Ganzes, aus eine Reihe von Märchentypen zusammengesetzt zu sein (›Vertreibungsmärchen‹, ›Verfolgungsmärchen‹, ›Fluchtmärchen‹). Vgl. Ilse Nolting-Hauff: »Märchen und Märchenroman. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur«. In: Poetica 6 (1974), S. 129–178; Ilse Nolting-Hauff: »Märchenromane mit leidendem Helden. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur«. In: Poetica 6 (1974), S. 417–455. 735 Vgl. Kurt Ranke: »Eingangsformel(n)«. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3, Sp. 1227– 1244: Ranke unterscheidet verschiedene Typen von Eingangsformeln: 1) »Kontaktformeln«, »welche die Funktion haben, Beziehungen zu den Hörern herzustellen« (Sp. 1228); ›Beglaubigungsformeln‹, die »Glaubensquantitäten und -qualitäten« gelten (Sp. 1231); und ›Raum-‹ und ›Zeitformeln‹, die der raumzeitlichen Verortung der Handlung dienen. Charakteristisch für das Märchen sei eine unbestimmte Verortung in der Vergangenheit, dabei werde häufig die Differenz zwischen einem besseren Früher (und einer schlechteren Gegenwart) umspielt; zugleich »kennt das Märchen keine genaue örtliche Festlegung des Geschehens« (Sp. 1241). 736 Auch in Georg Messerschmidts Brissonetus (1559) spielt die Dreizahl eine vergleichbar wichtige Rolle (vgl. Beispiellektüre 15).
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Beginn des Romans – verschränkt sind und teils eine motivierende Funktion haben. Nochmals zum Vergleich: Analoge numerische Muster fehlen in Heliodors Aithiopika.737 Das formelhafte ›es begab sich‹ kehrt in der Magelone als Variation des ›es war einmal‹ immer wieder. Mit der Wendung »Es begab sich« (Ma 601) wird die erste Turnier-Episode eingeleitet, bei der die Lanze eines königlichen Ritters im Kampf ›zufällig‹ (»vnd begabe sich ongefar«, Ma 601) dem Pferd Heinrichs von Crapana zwischen die Beine kommt und er deshalb stürzt. Nachdem sich Peter die Gunst des Hofes erworben hat, »begabe sich eins tags das [jn] der künig zum mittagmal fordert« (Ma 604). Nach dem Essen »geschahen mancherley spil vnd kurtzweil auf dem kFnigklichen sal« (Ma 604), dabei erlauben die Eltern ihrer Tochter, das Gespräch mit Peter zu suchen: »also begab sichs das die sch=ne Magelona freüntlich den Ritter mit den silberin schlüsseln zů jr rFfft« (Ma 605). Die Formelhaftigkeit setzt im Zusammenhang mit den Gesprächen zwischen der Amme und Peter aus,738 wird aber im Reisepart des Romans fortgesetzt. Als Peter allein auf dem Schiff herumtreibt, »begab sich« (Ma 646), dass Piraten ihn aufgreifen. »[E]ins tags« (Ma 654) trifft auch Magelone in der Provence auf eine fromme Frau, die ihr erzählt, dass Peter, der Sohn des Grafen, vor ungefähr zwei Jahren ausgezogen ist, nun aber jede Nachricht von ihm fehlt. »Es begab sich eins tags« (Ma 656), so wird weitererzählt, dass Peters Eltern Magelones Kirche und Spital besuchen und die Gräfin bei dieser Gelegenheit Magelone den Kummer um ihren verlorenen Sohn beichtet. Und »[ej]ns tags begab sichs« (Ma 657), dass Fischer einen großen Meerwolf fangen, in dessen Bauch man Peters drei Ringe findet; »vnd es begab sich eins mals das der Soldan eyn groß fest hielt« (Ma 660), bei dem Peter ihn bittet, zu seinen Eltern zurückkehren zu dürfen. Nachdem Peter auf der Rückreise auf einer Insel schlafend zurückgeblieben ist und seine angebliche Salzfracht den Weg in Magelones Spital gefunden hat, »begab sich eins tags das die spittalerin saltzes notürfftig ward« (Ma 664), die Fässer öffnet und den Schatz findet. »Eins tags begab sichs« (Ma 667), dass Peter in Crapona spazieren geht und dabei auf ein Schiff aus seiner Heimat stößt; er bittet darum, mitgenommen zu werden. Auf dem Schiff aber »begab es sich eins mals das die gesellenn des schiffs redten von der kirchen Sanct Peters
|| 737 Eine dominante numerische Strukturierung, die über Kernmotive wie die Ringe in der Magelone in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken würde, gibt es in Heliodors Roman nicht: Gleichberechtigt stehen Fristen von einem, von sechs, sieben, zehn und zwanzig Tagen nebeneinander. 738 Allein im Vorfeld des zweiten Treffens zwischen Peter und der Amme bleibt ein »EJns tags« stehen, das aber Ambivalenzen im zeitlichen Aufbau des Plots hervorruft (s.o.).
Märchenhafte Formelhaftigkeit: Wiederholung und Dreizahl | 235
zů Magelon vnd dem spittal« (Ma 667), woraufhin Peter Gott schwört, in diesem einen ganzen Monat zu verbringen, bevor er sich seinen Eltern zu erkennen gibt. Diese Frist, auf die in der Folge mehrmals Bezug genommen wird (Ma 667; 673), dient als Gerüst für die Handlung – soweit der quantitative Befund. Die formelhafte Eröffnung einer Episode oder eines Ereignisses mit ›es begab sich‹ überbrückt eine mangelnde ploteigene Motivation; darin liegt die narrative Funktion der Phrase. Dort, wo Handlung und Gegenhandlung aneinander anschließen oder wo eine Frist den Bogen vorgibt, bedarf es solcher Überleitungen nicht. Auffällig ist die Durchgängigkeit dieses Verfahrens: Diese Form der Evokation von Zeit findet sich nämlich in beiden Romanteilen, die doch unterschiedlichen generischen Traditionen angehören: sowohl im Werbungsteil, der sich am Minneroman orientiert, wie im Trennungsteil, der dem Heliodor’schen Modell verpflichtet ist. Die formelhafte Evokation der erzählten Zeit verweist in zwei Richtungen: zum einen auf den mittelalterlichen Roman;739 und zum anderen vor allem auf die temporale Poetik des Märchens. Typisch für das Märchen ist eine »Allergie gegen alles, was die Zeit betrifft«, die insbesondere in Eingangsformeln »evident« wird.740 Das ›es war einmal‹ »verleiht, schon a priori andeutend, dem Geschehen jene dämmerhafte Unbestimmtheit, die den besonderen Reiz dieser Kategorien ausmacht«.741 Die gleiche Unbestimmtheit kann das ›Eins tags begab sichs‹ für sich in Anspruch nehmen. Neben der Formelhaftigkeit als Wiederholungsstruktur zeichnet sich die Magelone durch die Prominenz der Dreizahl742 und ihrer Vielfachen aus.743 So
|| 739 Wie Xenja von Ertzdorff hervorhebt, so nutzt auch die französische Vorlage die Phrase »es fügt sich, daß«, um »nach Art der ›avantiuren‹-Folge« einzelne Plotteile miteinander zu verbinden (Ertzdorff [Anm. 25], S. 59). 740 Ranke (Anm. 735), Sp. 1237. 741 Ranke (Anm. 735), Sp. 1237. 742 Vgl. Max Lüthi: »Drei, Dreizahl«. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3, Sp. 851–868. Lüthi zeigt unterschiedliche Bereiche auf, in denen die Dreizahl für das Märchen konstitutiv ist: 1) »Handlungs- und Geschehensträger«, die er weiter in »Menschen und anthropomorphe Figuren«, »Tiere« und »Dinge« unterteilt (Sp. 855 f.), 2) »Handlungsmotoren oder -gliederer« wie »Aufgaben, Fragen, Rätsel, Bedingungen« usw. (Sp. 856), 3) »Orte«, 4) »Zeiten«, innerhalb derer Lüthi nochmals zwischen »Fristen« und »Zeitdauer« einerseits und »[d].gliedrige[n] Abläufen« andererseits differenziert; und 5) »Details« (Sp. 856). 743 Darüber hinaus gibt es einige temporale und numerische Angaben, zwischen denen teils punktuelle Korrespondenzen bestehen, die aber größtenteils nicht in ein System gebracht werden können. Parallelen ergeben sich zwischen den vierzehn Fässchen, in die Peter den Schatz des Sultans einarbeiten lässt (Ma 662), und den vierzehn Festtagen nach der Hochzeit von Peter und Magelone (Ma 677). Als numerische Angaben sind die (mehr als) zwei Jahre (Ma 654), die Peter von seiner Heimat fernbleibt, die einmonatige Frist, die sich Peter auferlegt (Ma
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wie Peter seine Eltern drei Mal bittet, in die Welt ausziehen zu dürfen, so trifft Peter drei Mal (an drei Tagen) auf die Amme, bevor er (am vierten Tag) Magelone alleine sprechen darf. Ein Großteil der numerischen und temporalen Angaben ist durch drei teilbar.744 Vor dem großen Turnier, an dem Friedrich von der Kron, Peter sowie eine große Zahl anderer Ritter teilnehmen, liegen alle »still sechs tage in růe inn der stadt ehe das stechen angieng« (Ma 629). Im Anschluss daran »hielt der Künig xv. tag offnen hoff zů ehern den Fürsten die da kommen waren« (Ma. 634); Peter und Mageolne beschließen »den dritten tag mit einander zů ziehen« (Ma 637); in der Nacht, in der sie fliehen, kommt Peter »zů dem pf=rtlein des gartens mit dreyen pferden« (Ma 638); die Gesandten des Königs, die Peter und Magelone erfolglos suchen, »kamen also eins theyls in sechs tagen wider die andern inn xv. tagen« (Ma 641); Peter findet bei der schlafenden Magelone die »drey sch=nen ring die er jr geben hette« in ein rotes Stück Stoff eingewickelt zwischen ihren Brüsten (Ma 643). Magelone bleibt »xv. tage wie ein arme Pilgerin« im römischen Spital und »gieng alle tage inn die kirchen sanct Peters« (Ma 653); als Magelone ihr eigenes Spital errichtet, stellt sie zunächst drei Betten auf (Ma 656); Peter »blib inn der stat [Crapona, L. W.] ligen bey ix. monat« (Ma 667). Der Roman endet mit dem Hinweis darauf, dass »noch auff den heütigen tag da die sch=n Magelona gestifft hat den spittal / ist ein sch=ne kirch in der heyligen dreyfeltigkeyt« (Ma 677). Jenseits dieser formalen wie thematischen Wiederholungstrukturen wurde für die Gesamtanlage des Romans geltend gemacht, dass sie in ihrer syntagmatischen Dimension »triadisch« sei.745 Werner Röcke unterscheidet drei Phasen des Plots: Am Anfang steht eine »Phase der Ehre und vröude, der Liebe und des Glücks«, es schließt sich daran eine »Phase der Prüfung und Bewährung, der Demut und des freiwilligen Dienstes in der Fremde« an. Den Abschluss bildet – als dritte Phase – »die glückliche Vereinigung der Liebenden, ihre Heirat und die Übernahme einer Landesherrschaft«.746 In der Magelone finden sich also, folgt man der Typologisierung Max Lüthis, Dreierreihen in einem breiten Kategorienfeld: in ›Dingen‹ als ›Handlungs- bzw. Geschehensträgern‹ (drei Ringe),
|| 667), die vier Tage, die Peter und Magelone warten müssen, um Peters Eltern einzuweihen (Ma 673), und die Angaben zur Lebensdauer des Grafen und der Gräfin (zehn Jahre, Ma 675) wie derjenigen von Peter und Magelone (acht Jahre, Ma 675) isoliert. 744 Rölleke konstatiert, dass »[l]ängere Fristen von Prüfungen, Such- und Wartezeiten […] meist als Tage oder Jahre an die 3 oder 7 geknüpft [sind]« (Heinz Rölleke: »Zeiten und Zahlen in Grimms Märchen«. In: Heinz-Albert Heindrichs/Ursula Heindrichs [Hrsg.]: Die Zeit im Märchen. Kassel 1989, S. 52–62, hier S. 59). 745 Röcke (Anm. 703), S. 156. 746 Alle Zitate Röcke (Anm. 703), S. 156.
Märchenhafte Formelhaftigkeit: Wiederholung und Dreizahl | 237
in ›Handlungsmotoren‹ (drei Bitten Peters), in ›Zeitangaben‹ (sowohl im Hinblick auf Zeiträume wie im Hinblick auf die globale Erzählstruktur) sowie in Details (drei Pferde und Kirche der Dreifaltigkeit). ›Dreigliedrigkeit‹ realisiert sich – so auch die Feststellung Werner Röckes – sowohl als »großgliedrige Triade[ ]« als auch als »mittelgliedrige« Reihe (drei Gespräche zwischen Peter und der Amme).747 Durch diese Wiederholung numerischer Angaben ergeben sich Analogien zwischen Motiven: dreimalige Bitte Peters, in die Welt ziehen zu dürften; drei Ringe, die ihm seine Mutter mitgibt; drei Gespräche Peters mit der Amme an drei Tagen; Dreitagesfrist für die Flucht von Peter und Magelone, drei Pferde, die sie mitnehmen, drei Betten, die Magelone errichten lässt. Fünfzehn Tage hält der König nach dem großen Turnier offen Hof; fünfzehn Tage werden Peter und Magelone von den Dienern des Königs von Neapel gesucht, Magelone bleibt fünfzehn Tage in Rom. Insofern die numerischen Angaben teils Vielfache der Drei bilden, lassen sich Steigerungsreihen bilden: drei – sechs – neun – fünfzehn. Entscheidend für diese motivische und kompositorische Dreierreihenbildung ist ihre Wiederholungsstruktur und nicht – wie ich später anhand des Faustbuchs zeigen werde – der potenzielle symbolische Gehalt der Zahlen.748 Propp betont in seiner Morphologie, dass Wiederholungsstrukturen nicht zu den eigentlichen Funktionen des Märchens gehören, entscheidend sei vielmehr, dass sich die Dinge ereignen und nicht, wie oft sie vonstattengehen. Trotzdem, so Lüthi, »ist die ternäre Ausgliederung formal und als inhaltliche Aussage eines der wichtigsten Elemente des Märchens«.749 Für Mackensen, dem Lüthi in seiner Einschätzung folgt, fungiert die Dreigliedrigkeit als »Bauformel« des Märchens, die zugleich »Aufbau-, Spannungs- und Längungsformel« ist.750 Die Dreizahl besitzt das »›Achtergewicht‹, um die Handlung zu gliedern und zu staffeln«. »Jede Abwandlung« der Dreierformel, so Mackensen, verstärkt »gewöhnlich das ursprüngliche Motiv«, mit der dritten Wiederholung wird die
|| 747 Die begriffliche Unterscheidung geht zurück auf Max Lüthi: »Dreigliedrigkeit«. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3, Sp. 879–886, hier Sp. 885. 748 Armin Schulz merkt bereits im Zusammenhang mit der Wiederholung einer fünfzehntägigen Dauer (Aufenthalt in Rom und zweites Turnier) an, dass es »schwierig sein [dürfte], speziell aus dieser Korrespondenz einer topischen Frist interpretatorische Aussagen zu folgern. Man könnte den Bezug allenfalls unter einem poetischen Verfahren verbuchen, das durch eine Vielzahl von textinternen Referenzen […] eine Kohärenz des Erzählens und der dargestellten Welt zu erzeugen sucht« (Schulz [Anm. 703], S. 203). 749 Lüthi (Anm. 747), Sp. 883; vgl. ebenda Sp. 885. 750 Lutz Mackensen: »Das deutsche Volksmärchen«. In: Wilhelm Peßler (Hrsg.): Handbuch der deutschen Volkskunde. 3 Bde. Potsdam 1934–1938, Bd. 2, S. 305–326, bes. S. 308–311.
238 | Generische Hybridität in Warbecks Die schön Magelona
»höchste Steigerung« erreicht.751 Die Dreizahl bestimmt den »Aufbau der ganzen Erzählung und ihrer Unterteile, die Staffelung der Spannung in jedem Einzelabschnitt und in der Gesamthandlung«, darüber hinaus »bedingt [sie] auch die durch Wiederholung und Abwandlung ausgesponnene Längung des Themas«.752 Formelhaftigkeit und formale Märchenhaftigkeit, wie sie sich in den Wiederholungsstrukturen des Romans abzeichnen, korrespondieren mit Warbecks Übersetzungspraxis. Denn an einigen Stellen ersetzt Warbeck »einfache[ ] Ausdrücke« der französischen Vorlage »durch zweigliedrige Formeln«,753 die charakteristisch sind für die Prosa des 15. und 16. Jahrhunderts.754 So wird aus vostre couraige bei ihm »eîr hertz vnd gemFth« (Ma 608), aus mon cueur »mein hertz vnd gemFt« (Ma 626) und aus force »macht vnd sterck« (Ma 628 f.).755 Wenn Warbeck an einigen Stellen auch kürzt, so ist doch das Erweiterungsverfahren »[h]äufiger«.756 Neben anderen Funktionen verweist dieses Verfahren mit seinen Wiederholungen auf eine archaisierende Poetik. Die dergestalt erzeugte Märchenhaftigkeit tritt dabei nicht in Widerspruch zur providenziell bestimmten Welt der Magelone (mit ihrem ›geschlossenen‹ Horizont). Die Handlung wird an wichtigen Knotenpunkten mittels des göttlichen Willens motiviert, so als Peter auf der Jagd nach den drei Ringen aufs Meer hinausgetrieben wird: Aber Got der allmechtig der alle ding macht nach seinem g=tlichen willen / schicket es also das ein grosser wind auff stůndt / der nam den Peter mit gewalt vnd fFrt jn auff das hoch m=r vber seinen willen (Ma 644).
Zugleich ist es aber auch der göttliche Wille, der Peter nicht auf der Insel verenden lässt: »da schicket Gott der allmechtige der die seinen nit verlast die sach || 751 Mackensen (Anm. 750), S. 308. 752 Mackensen (Anm. 750), S. 309. 753 Bolte (Anm. 697), S. XLVII. 754 Die ältere Forschung hat in den Doppelformeln (»Paarformeln« oder auch der »Zweigliedrigkeit«) vor allem ein rhetorisches Verfahren gesehen. Werner Besch wies bereits in den 1960er Jahren auf die ›sprachausgleichende Funktion‹ der Formeln hin, sodass man generell von der »Polyvalenz der lexikalischen Zweigliedrigkeit auszugehen« hat, vgl. Werner Besch: »Die sprachliche Doppelformel im Widerstreit. Zur deutschen Prosa des 15. und 16. Jahrhunderts«. In: Rudolf Bentzinger und Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geburtstag. Würzburg 1993, S. 31–43, hier S. 41. 755 Danielle Bauschinger: »Zum frühneuhochdeutschen Prosaroman. Drei Beispiele: Der Prosa-›Tristrant‹, der ›Fortunatus‹ und ›Die Schöne Magelone‹«. In: Catherine Drittenbass/André Schnyder (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz. Amsterdam u. a. 2010, S. 67–87, hier S. 83. 756 Bolte liefert eine Sammlung mit weiteren Beispielen, vgl. Bolte (Anm. 697), S. XLVII.
Seitenblick: die Nürnberger Magelone | 239
also / das ein fischer schifflein kam« (Ma 666). Das »Wunderbare« als das NichtChristlich-Providenzielle hingegen »drängt sich nirgends übermäßig vor«.757 Die märchenhafte Formelhaftigkeit bestimmt dergestalt weniger den Möglichkeitsrahmen der erzählten Welt, sondern bildet das formale Sediment des Romans. Ich fasse zusammen: In der Magelone verfügen die Figuren nicht über eine Eigenzeit, wie sie für den Heliodor’schen Roman charakteristisch ist; auch wenn ihre Bewegungen durch den Raum durchaus diesem Muster verpflichtet sind. Charakteristisch für die Evokation von Zeit ist zum einen ein numerisches Prinzip, in dessen Zentrum die Drei steht, sowie der Einsatz formelhafter Wendungen: Beides verweist in Richtung einer märchenhaften Poetik.
6.3 Seitenblick: die Nürnberger Magelone Die beschriebenen Eigenheiten werden umso deutlicher, wenn man den Text Warbecks in der Handschrift von 1527 und im Druck von 1535 mit der anonymen Nürnberger Übersetzung vergleicht, die in einem Manuskript aus der dritten Dekade des 16. Jahrhunderts überliefert ist, aber wohl auf eine Übersetzung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückgeht.758 Peter ist in dieser Nürnberger Version in stärkerem Maße als höfischer, tugendhafter und vor allem auch schöner Held angelegt und die Formelhaftigkeit bei der Evokation von Zeit ist nicht so stark ausgeprägt wie in Warbecks Magelone. Geht die Faszination Magelones bei Warbeck vor allem aus der Unkenntnis von Peters Identität hervor (vgl. Ma 607), so ist es in der Nürnberger Version eine ganze Reihe von Eigenschaften, die seinen Reiz ausmachen. Programmatisch heißt es von Magelones Gedanken: »Des gleichen teth Magalona, als sie in ruhe kame, anders nitt zu denckenn, dan an des jungen ritters sch=ne, keckheit vnd weißheitt« (Ma Degering 1922, 23). Der Abgleich einer Reihe von parallelen Stellen macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine isolierte Abweichung handelt, sondern dass Peters Schönheit in der Nürnberger Fassung im Allgemeinen eine größere Rolle spielt als bei Warbeck.759 Umgekehrt verhält es sich
|| 757 Bolte (Anm. 697), S. XVII. 758 Hermann Degering datiert die Übersetzung auf »um 1470«, vgl. Hermann Degering: »Zur Einführung«. In: Ma Degering 1922, S. 123–152, hier S. 130; inwiefern Degerings These, »daß eine italienische, nicht eine französische Fassung, wie man bisher annahm, überhaupt die Grundform der Novelle gewesen ist« (S. 130), gilt, lasse ich dahingestellt. 759 Auch die Hofmeisterin betont im Gespräch mit Peter: »Edler ritter, glaubt, daß ye keyn ritter ßo ritterschafft triben hatt, glFckseliger erfunden wardt dan ir, dan die stund, do ir in das landt kompt, ist glucklich gewest, dan durch ewer redlich fr=mkeit vnd sch=n habt ir gewun-
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im Hinblick auf die Formelhaftigkeit und ihre Frequenz. In der Nürnberger Bearbeitung ist allein das »vnd eines tags« vergleichbar mit Warbecks formelhafter Wendung »Eins tags begab sichs«, doch taucht dieses verhältnismäßig seltener auf.760 Hinter der betonten Formelhaftigkeit bei Warbeck stehen andere Selektionsoperationen, diese verweisen eher auf stilistische als auf historische Unterschiede zwischen den beiden Versionen. In der Lektüre von Warbecks Magelone und dem kurzen Abgleich mit der Nürnberger Fassung ging es mir darum, die textspezifischen Evokationstechniken von Zeit, die generischen Traditionslinien, in denen Zeit modelliert wird, und die daraus hervorgehende temporale Heterogenität herauszuarbeiten. Mit dieser Doppellektüre der Magelone und der Aithiopika ist darüber hinaus die Folie für einen Teil der folgenden Lektüren geschaffen: Besondere Relevanz kommt der Rekonstruktion des Verhältnisses von Zeit und Figur im Heliodor’schen Roman für die Lektüre der Asiatischen Banise zu, in der die Ereignisse an den Protagonisten grosso modo spurlos vorbeigehen (Kap. 6). Aspekte der Formelhaftigkeit bei der Evokation von Zeit spielen für die Lektüre des Ritter Galmy eine basale Rolle, sind dort aber anders angelegt und funktionalisiert (Kap. 7). Die Relevanz der zeitlich bestimmten Frist (im Zusammenspiel mit der Abrundung der Handlung), die sich in der Magelone nur am Rande abgezeichnet hat, rückt im Ritter Galmy, im Faustbuch (Kap. 8) und der Asiatischen Banise (Kap. 10) als erzählerische Struktur ins Zentrum der Analyse. Gerade diese motivischen und strukturellen Kontinuitäten lassen historische Eigenheiten und Transformationen erkennen.
|| nen die aller schonsten junckfrauen« (Ma Degering 1922 37; in Warbecks Version wird in diesem Zusammenhang von »redlich dapfferkeit« gesprochen, Ma 620; Ma Bolte 1527, 23). Magelone betont zudem in ihrem Versprechen, das sie Peter gibt: »[…] dan ich schetz mich die gluckhaffsten in der welt, das ich ßo eyn edeln ritter, ßo von grossem hohen stammen vnd grossen adel, den schonsten, wol konnesten, weisten vberkommen vnd funden hab« (Ma Degering 1922, 42; Ma 624 f.), vgl. zudem Ma Degering 1922, 44 (eine parallele Erwähnung der Schönheit bei Warbeck fehlt; vgl. Ma 626); 67 (zwar retten die Seeräuber Peter, da er schön ist [Ma 646; Ma Degering 1922, 67], aber nur in der Nürnberger Fassung findet auch der Sultan Peter schön, im Druck und in der Handschrift heißt es unspezifischer »gfiel er jm wol«, Ma 646; vgl. Ma Bolte 1527, 44); 81 (im Bericht der frommen Frau fehlt bei Warbeck der Hinweis, dass Peter der schönste Ritter der Welt sei, vgl. Ma 654; Ma Bolte 1527, 51 f.). 760 Vgl. Ma Degering 1922 11, 20, 24, 32, 85, 87, 89, 99, 101 (»Eynß mals«). Der Druck von 1535 folgt an den programmatischen Stellen der Handschrift, vgl. Ma Bolte 1527 4, 8, 10, 11, 44, 53, 54, 57, 60, 63.
7 Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy Bei Jacob Frölich in Straßburg wurde 1539 die sch=ne vnd liebliche History / von dem edlen vnd theüren Ritter Galmien gedruckt, die bis ins frühe 18. Jahrhundert mehrere Auflagen erlebte.761 Seit Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen von 1859 wird der Roman immer wieder als Teil des Werkes von Georg Wickram gelesen762 – eine Zuschreibung, die Dieter Kartschoke kürzlich auf Grundlage eines Vergleichs der paratextuellen Einbettung zwischen dem Ritter Galmy und den Werken Wickrams und aufgrund stilistischer wie kompositorischer Eigenheiten begründet in Zweifel gezogen hat.763 Mit seinem Fokus auf den Möglichkeiten und Formen von Liebe im höfischen Kontext modelliert der Ritter Galmy einen verbreiteten Themenkomplex, wie man ihn auch in der Magelone oder in Wickrams Gabriotto und Reinhart (1551), dort freilich in der scheiternden Version, oder im Goldtfaden (1557) findet. Aufgrund der ›Verinnerlichung‹ des Kernkonflikts, die gleichermaßen für die Magelone wie den Goldtfaden attestiert wurde,764 gilt der Ritter Galmy – so das Urteil Walter Haugs – als »Schlüsselwerk in der Wende vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Roman«.765 Worum geht es aber im Ritter Galmy zunächst?
|| 761 Vgl. Gotzkowsky (Anm. 16), Bd. 1, S. 442–449; Bd. 2, S. 126–128. 762 Neben Karl Goedeke haben Erich Schmidt und Johannes Bolte diese These untermauert, Hans-Gert Roloff folgt in seiner Wickram-Werkausgabe diesen Befunden, vgl. Hans-Gert Roloff: »Nachwort des Herausgebers«. In: Georg Wickram: Sämtliche Werke. Bd. 1: Ritter Galmy. Berlin 1967, S. 307–330, bes. S. 307. 763 Vgl. Dieter Kartschoke: »›Ritter Galmy vß Schottenland‹ und Jörg Wickram aus Colmar«. In: Daphnis 31 (2002), H. 3/4, S. 469–489. Ob der Ritter Galmy auf Wickrams Autorschaft zurückgeht oder einem älteren anonymen Autor zugeschrieben werden muss, wie ihn Kartschoke ins Spiel bringt, ist für meine Argumentation nicht entscheidend; die stilistischen Eigenheiten des Romans und ihre temporalen Effekte aber, die im Folgenden Teil meiner Argumentation sind, verstehen sich durchaus als Hinweise zum literarhistorischen Beziehungsgeflecht, in dem der Ritter Galmy zu sehen ist. 764 Vgl. Armin Schulz: »Texte und Textilien. Zur Entstehung der Liebe in Georg Wickrams ›Goldfaden‹ (1557)«. In: Daphnis 30 (2001), S. 53–70, bes. S. 67–69. 765 Walter Haug: »Jörg Wickrams ›Ritter Galmy‹. Die Zähmung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit«. In: Ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1997, S. 404–423, hier S. 416.
DOI 10.1515/9783110566857-010
242 | Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy
Und in welchem Verhältnis stehen der thematische Fokus des Romans und die seiner Welt zugrunde liegenden Zeitvorstellungen? Der Roman erzählt Folgendes: Ritter Galmy verliebt sich in seine Herrin, die Herzogin der Bretagne. Er bewährt sich in dieser Liebe, denn die Liebe bleibt keusch,766 und er bleibt gegenüber dem Herzog loyal. Galmys Liebe wird (sofern es die höfischen Regeln erlauben) von der Herzogin, die im Roman keinen Namen trägt, erwidert. Dies geht so weit, dass sie einander sogar die Ehe versprechen. Als es nicht mehr möglich ist, die Beziehung zu verheimlichen, sodass daraus auch eine Gefahr für beide erwächst, verlässt Galmy Vannes und kehrt nach Idenburg zurück. Nachdem der Herzog sich zu einer Pilgerfahrt nach Jerusalem aufgemacht hat, gerät die Herzogin in eine Intrige. Denn der vom Herzog als Verwalter eingesetzte Marschall versucht erfolglos, die Herzogin zu verführen. Damit gibt er sich nicht ab. Für seine Intrige bedient sich der Marschall eines Küchenjungen, der sich als begünstigter Liebhaber der Herzogin aufspielt, sodass die moralische Integrität und soziale Stellung der Herzogin in Frage gestellt wird. Der Plan des Marschalls geht zunächst auf, da die Herzogin nach der Rückkehr des Herzogs aufgrund ihrer behaupteten Verfehlungen zum Tode verurteilt werden soll. Nachdem sich aber Fürsprecher für die Herzogin einsetzen, wird ein Gerichtskampf bestimmt, bei dem der Marschall gegen einen Herausforderer antreten muss, der für die Sache der Herzogin kämpft. Zum Gerichtskampf kehrt Galmy, getarnt als Mönch, zurück, kämpft und gewinnt. Der Marschall zahlt mit dem Leben für seine Intrige, Galmy jedoch bleibt nicht in Vannes. Erst nachdem der Herzog verstirbt, finden Galmy und die Herzogin zusammen. Galmy gibt sich als ehemaliger Erlöser aus der Not zu erkennen. Er wird zum Ehemann der verwitweten Herzogin und steigt auf zum neuen Herzog. Das Paar herrscht bis zu seinem seligen Tod. Wie diese kurze Plotskizze zeigt, ist der Ritter Galmy im Handlungsaufbau zweiteilig und besitzt novellistische Elemente: Der erste Teil begründet die Liebesbeziehung zwischen Galmy und der Herzogin (und geht auf den Autor zurück); der zweite Teil ist dem kulturellen Fundus literarischer Formen entnommen, denn er orientiert sich am bekannten Creczentia-Narrativ von der unschuldig verfolgten Herrscherin, deren Unschuld letztlich aber bewiesen und sie wieder vollständig in ihre Rechte eingesetzt wird.767 Gerahmt werden diese beiden Teile – wie im Folgenden gezeigt wird – vom Liebesmotiv. Dieses bildet in Form der »›unerhörte[n]‹ Begebenheit der Liebesbeziehung« auch den novel-
|| 766 Vgl. Braun (Anm. 41), S. 277–279. 767 Vgl. Röcke (Anm. 703); zur Zweiteilung des Romans vgl. Haug (Anm. 765), S. 411 f; Kartschoke (Anm. 763), S. 482 f.
Verzögerung und Vollendung der Liebe: ›Lange Zeit‹ und ›kurze Zeit‹ | 243
listischen Kern des Romans.768 Walter Haug hat den Beginn des Romans als programmatischen Novelleneinstieg gelesen769 und Xenja von Ertzdorff argumentiert, dass der Ritter Galmy »von der Thematik und exakten Komposition [her] ein bemerkenswerter Roman, in Motivik und Handlungsführung genau durchkonstruiert nach Novellenvorbild und zum Roman ausgebaut« sei.770 Soweit die grundsätzliche Verortung des Romans, die die Bedeutung des Liebesmotivs deutlich hervortreten lässt. Mir geht es im Folgenden darum, den motivisch-strukturellen Zusammenhang von Liebe und Zeit und damit zugleich eine für die Frühe Neuzeit charakteristische Zeitkonzeption – die ›kurze Zeit‹ – zu erfassen. Das Augenmerk gilt zunächst der Korrelation von Liebe als dem Hauptmotiv des Romans, das auf Vollendung ausgelegt ist, aber immer wieder verzögert wird, und der temporalen Struktur der erzählten Welt, die von einer ›langen‹ und einer ›kurzen Zeit‹ bestimmt wird. Diese freilich metaphorischen Ausdrücke bündeln eine Reihe von temporalen Eigenschaften, die den Roman in diegetischer wie erzählerischer Hinsicht ausmachen sowie strukturelle Äquivalente zu Vollendung und Verzögerung der Liebe bilden. Dabei geht es vornehmlich um Aspekte der ›Struktur‹ von Zeit und ihres ›Horizonts‹. Insofern kurze und lange Zeit in dieser Hinsicht verschieden sind, stehen sie in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis, aus dem die erzählten Zeiten des Ritter Galmy hervorgehen. Ein kurze Rekonstruktion von Lugowskis Lektüre des Ritter Galmy zeigt, dass die Eigenheiten der ›kurzen Zeit‹, die eine Schnittmenge mit dem ›mythischen Analogon‹ besitzt, keineswegs auf die Atemporalität des Dargestellten schließen lässt, sondern dass es sich bei der ›kurzen Zeit‹ um eine funktional verzerrte Form von temporaler Linearität im Rahmen einer flexiblen Welt handelt. Der Ausblick am Schluss des Kapitels kontextualisiert die stilistische Dimension der ›kurzen Zeit‹, indem ein synchroner wie diachoner Vergleich mit dem Apollonius, der Assenat und Werken Wickrams Kontinuitäten wie Differenzen zeigt.
7.1 Verzögerung und Vollendung der Liebe: ›Lange Zeit‹ und ›kurze Zeit‹ Liebe ist das dominierende Motiv des Romans. Es bildet seinen Auftakt sowie seinen Abschluss und wird zwischen diesen beiden Eckpunkten auf unter-
|| 768 Ertzdorff (Anm. 25), S. 111. 769 Vgl. Haug (Anm. 765), S. 404 f. 770 Ertzdorff (Anm. 25), S. 111.
244 | Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy
schiedliche Weise verhandelt. Der Roman setzt unvermittelt mit Galmys prototypisch ausgebildeter Liebeskrankheit ein, aus der ihn nur die Angebetete erretten kann (eine Situation, wie man sie auch in der mittelalterlichen Erzähltradition aus Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens kennt).771 ES was ein Hertzog in Britannia / an desse hoff wonet ein Ritter / mit namen Galmy auß Schottenland geboren. Der selb gewan ein solche grosse liebe zů des Fürsten Hertzogin / also das er weder essen noch drincken mochte / auch seines natürlichen schlaffes gantz entraubt / das er in kurtzen tagen von allen seinen kr(fften und sch=ny kummen thet. (RG 3)
In Fortsetzung dieses Einstiegs wird die Handlung des Romans über weite Strecken vom Liebesmotiv bestimmt. Diskursiv verhandelt wird ›Liebe‹ als partnerschaftliches Konzept im Modus des telling in den Gesprächen zwischen Galmy und Friderich sowie in den Briefen der Liebenden; im Modus des showing wird sie in der Beziehung zwischen Galmy und der Herzogin als Idealtyp sowie in der Annäherung des Marschalls als Negativexempel präsentiert. Zudem ist Liebe als freundschaftliches Konzept ein präsentes Movens für Friderichs Handlungen.772 Am Ende des Romans findet das Motiv seine Vollendung, denn Galmy und die Herzogin werden zu einem gesellschaftlich legitimen Paar. Ihre Verbindung umfasst – wie der letzte Satz des Romans deutlich macht – sowohl die restliche Zeit, die ihnen im Leben gemeinsam gegeben ist, als auch die Ewigkeit, in die sie nach dem Tod eingehen. In solcher zeit / der Hertzog [gemeint ist Galmy, L. W.] der grossen trew seines gsellen bedencken ward / in mit grossem gůt begabet / macht in auch zů seinem obristen rh(t / er vermehelt im ein sch=ne Junckfraw / so in der Hertzogin Frawen zimmer / die reichest und sch=nst sein mocht / also der Hertzog mit sampt seiner lieben Frawen lange Jar in grosser Gotts forcht seligklichen regieret / seinem vatter und můter groß zucht unnd eer bewisen / dardurch in Gott der allmechtig / ir leben lang erstrecket. Als sye nun lange Jar in grossen freüden bey einander lepten / Nit lang darnach / als der Hertzog mit todt abgieng / Die Hertzogin auch seligklich von diser welt schiede / Demnach sye beyd mit einander die ewig freüd besassen. (RG 228)
|| 771 Vgl. Ertzdorff (Anm. 25), S. 107. Walter Haug weist darauf hin, dass es sich bei diesem Romanauftakt mit seinem Fokus auf die »höchst persönliche[ ] Situation des Helden« mehr um eine »Novelleneinleitung« als um einen »Romananfang« handelt (Haug [Anm. 765], S. 404). 772 Nachdem Galmy Friderich gestanden hat, dass er die Herzogin liebt, weiß Friderich zunächst nicht, wie er mit der Situation umgehen soll. Schießlich aber heißt es: »Jedoch bezwang in die liebe / so er zů seinem gsellen trůg / das er im endtlichen fürnam / selbs mit der Hertzogin zů reden […]« (RG 10).
Verzögerung und Vollendung der Liebe: ›Lange Zeit‹ und ›kurze Zeit‹ | 245
Der Abschluss der Geschichte ist in seiner zeitlichen und ewigen Dimension also in besonderem Maße abgerundet, auch wenn der Einstieg in medias res zunächst ein offenes Geschehen nahelegt (ohne dass diese Form des Umgangs mit dem Ausschnitt und dem Ganzen dem spätantiken Roman oder dem späteren höfisch-historischen Roman vergleichbar wäre). Handlungs- und Erzählende fallen zusammen. Doch bevor es zu diesem symbolisch-sinnhaften Schluss kommt, sind die beiden Protagonisten der Spannung zwischen der Vollendung der Liebe und der Verzögerung ihrer Verbindung ausgesetzt – darin ähnelt die Konstellation derjenigen im höfisch-historischen Barockroman. Der Roman führt die Annäherung und Distanzierung der Liebenden im Rahmen normativer Grenzen vor, die von den Protagonisten eben nicht sofort überschritten werden können. So beteuert Galmy seinem Freund Friderich gegenüber, dass er der Liebe zu seiner Angebeteten unwürdig sei, auch wenn es keine »unerliche liebe« (RG 8) und keine »unordenliche liebe« (RG 11) sei, die er für sie empfinde. Friderich bekräftigt entsprechend gegenüber der Herzogin, das Galmy der ellend Ritter / in keynen (so ewer zucht und eer / verletzung bringen m=cht) ewer gnaden begeren thůt / alleyn sich in allen züchten und eeren / in ewer gnaden schirm ergeben wil (RG 13).
Und auch der Erzähler als übergeordnete Instanz versucht die normative Sprengkraft dieser Verbindung herunterzuspielen. Als Einschub reflektiert er die Frage, ob die Herzogin denn gleichermaßen ihren rechtmäßigen Ehemann, den Herzog, »von hertzen lieb gehabt hat«, »dieweil sye dem Ritter also freündtlich zů spricht« (RG 68). Der Erzähler bringt als Rechtfertigung die Art der Liebe, die die Herzogin mit den beiden männlichen Protagonisten verbinde, ins Spiel, wenn er die Frage folgendermaßen beantwortet: Darüber antwurt ich / unnd sag also / Das die Hertzogin nit ander lieb zů dem Ritter getragen hab / dann wie ein schwester gegen irem natürlichen brůder / deß gleich der Ritter gegen ir (RG 68).
Der Anfangsmoment der Liebe liegt aber, so erzählt Galmy der Herzogin, in einer körperlichen Berührung, zu der es kam, als man während der Jagd einen unwegsamen Steig passieren musste. Galmy reicht der Herzogin seine Hand: so bald aber ewer sch=ne weisse hand / inn die mein verschlossen ward / augenblicklich mich ein brinnender flamm umb mein hertz entzünden thet / und von solchem tag an / die liebe sich in mir st(tigs gemeret / und so krefftigklich zůgenummen / das mir nit müglich ist / euch die zů erzalen (RG 19 f.).
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Darüber hinaus bleibt die Herzogin für Galmy aber zunächst unerreichbar, da eine Beziehung zwischen beiden – ungeachtet der Relativierungsversuche durch die Figuren und den Erzähler – das normative Gefüge der höfischen Gesellschaft aus den Fugen bringen würde. Die Überwindung der normativen Grenzen gelingt erst durch die zeitliche Verzögerung. Das »Tabu« einer körperlichen Vereinigung Galmys und der Herzogin wird insofern in besonderer Weise »temporalisiert«, als es in die Zukunft projiziert und auch erst in der Ehe eingelöst wird.773 Die Intrigen der Widersacher als zu überwindende Hindernisse retardieren diese Vereinigung. Die Gegenspieler unternehmen den Versuch, durch ein in der Bretagne ausgetragenes Turnier Galmys gesellschaftliches Prestige, das er auf einem Turnier in Frankreich erworben hat, zu mindern und durch die Vortäuschung eines Verhältnisses zwischen einem Küchenjungen und der Herzogin ihre moralische Integrität sowie gesellschaftliche Reputation zu zerstören. Während die erste Intrige den Umfang einer begrenzten Episode hat, wächst die zweite zu einem ganzen Handlungsblock heran, der den gesamten zweiten Teil des Romans ausmacht. Beides misslingt, denn Galmy gelingt es, dank der Herzogin pünktlich zum Turnier zu erscheinen und dieses zudem zu gewinnen, und die moralische Integrität der Herzogin bleibt durch den Gerichtskampf, den Galmy für sie bestreitet, unangetastet. Schließlich wird die Verbindung der beiden solange hinausgezögert, bis der Herzog stirbt, denn es »begab sich«, dass der Herzog erkrankte und »zů letst von diser welt verschied« (RG 222). Im Anschluss an seinen Tod steht einer rechtmäßigen Ehe zwischen Galmy und der Herzogin nichts mehr im Wege. Diese Spannung zwischen der Vollendung der Liebe einerseits und ihrer Verzögerung andererseits findet sich ebenso in der temporalen Struktur der erzählten Welt. Zwei widerstreitende Zeitvorstellungen, die der Spannung von Vollendung und Verzögerung entsprechen, – so die These der nachfolgenden Überlegungen – stehen im Ritter Galmy nebeneinander: zum einen eine ›lange Zeit‹, bei der man anhand von verstreuten Angaben ein teils ›abstraktes‹, auf Länge ausgerichtetes Zeitgerüst rekonstruieren kann und die eine auf die Zukunft gerichtete Perspektive eröffnet (Manuel Braun spricht in diesem Sinne von ›Temporalisierung‹); und zum anderen eine ›kurze Zeit‹, die mittels formelhafter Wendungen erzeugt wird, durch die unter anderem funktionale Zusammenhän-
|| 773 Braun (Anm. 41), S. 279. Auch die Vereinigung von Theagenes und Chariklea sowie von Balacin und Banise wird temporalisiert (vgl. Kap. 6 und Kap. 10), doch ist dies den äußeren, vor allem politischen Umständen geschuldet, während im Ritter Galmy das Hindernis im normativen Gefüge der Gesellschaft angesiedelt ist.
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ge zwischen Ereignissen akzentuiert werden, und die sich durch die ›Geschlossenheit‹ des Horizonts auszeichnet. Während die temporale Langperspektive Zeit als den einzelnen Ereignissen und Ereignisfolgen übergeordnete Dimension erscheinen lässt, basiert die ›kurze Zeit‹ vor allem auf Ereignissen und ihrer Verknüpfung (sie ist ›konkret‹). Die beiden so erzeugten Effekte, die punktuelle handlungsbegünstigende Kontraktion von Ereignissen und raumzeitlichen Gegebenheiten sowie die temporale Geschlossenheit narrativer Einheiten einerseits und die Langperspektive andererseits, die von den Figuren als Möglichkeitsraum begriffen wird, modellieren Zeit auf sehr unterschiedliche, letztlich nicht vereinbare Weise. Vor dem Hintergrund dieser Spannung erscheinen die ›Geschlossenheit‹ und ›Offenheit‹ des Horizonts gleichermaßen möglich. Die ›lange Zeit‹ ist im Ritter Galmy in der Langperspektive der Handlung, ihrer Vermittlung und in der Konzeption von Zukunft als einem möglichen Realisierungszeitraum impliziert. Die zeitlichen Relationen der Geschehensreihe des Romans lassen sich einigermaßen gut, aber nicht umfassend rekonstruieren. Galmy verlässt Schottland, als er »fast jung« war (RG 134). Wie er behauptet, hat er zum Zeitpunkt des Turniers in Frankreich sechzehn Jahre dem Herzog von Vannes gedient (vgl. RG 38). Der Herzog ist ihm in besonderem Maße verbunden, denn Galmy hat ihn aus einer bedrohlichen Situation gerettet.774 Zu diesem Zeitpunkt war Galmy noch keine zwanzig Jahre alt, wie der Herzog im Anschluss an das Turnier in Vannes erklärt: so bekenn ich hie vor allen denen so hie zůgegen seind / das mich Galmy in seiner jugendt ee dann er zwentzig jar auff im hat / von meinen feinden in einen m(chtigen streit mit seiner mannlichen hand endtschüttet und erl=ßt hat (RG 96).775
Quer dazu liegen andere Angaben. Bevor sich Galmy aus Vannes zurückzieht, behauptet er: »Nun binn ich zw=lff Jar in Britanien gewesen / und hab inn acht gantzen Jaren von meinem vater keyne bottschafft mügen haben« (RG 122). Eine Feststellung, die der Vater bestätigt (vgl. RG 134). Galmy ist folglich erst zwölf Jahre in der Bretagne, steht aber seit sechzehn Jahren im Dienst des Herzogs –
|| 774 So bringt Heynrich gegen die intriganten Pläne Wernhards vor: »Ist eüch nit ingedenck? als er mit unserem Gn(digen Herrn in Irrland / in einem harten streyt gewesen ist / das er im sein leben von der feind hand erl=ßt hat / dann als ich vor unserm Herren selb verstanden unnd geh=rt hab / wo in Galmy nit mit seiner w=rlichen hand zG hilff kummen wer / er von den feinden erlegt und todt geschlagen worden w(r« (RG 33). 775 Geht man vom Modell der dekadisch strukturierten Lebensalter aus, dann hat sich Galmy bereits bewiesen, bevor er zum Jüngling geworden ist.
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was in den vier Jahren zwischen der Errettung des Herzogs und Galmys Aufenthalt in der Bretagne passiert ist, bleibt unklar. In diese großen biographischen Linien sind kürzere Zeitangaben eingewoben: Zu Handlungsbeginn gesteht Galmy Friderich, dass er in den »vergangen zweyen monaten / angefangen lieb zů haben / ein weibs bild« (RG 7; vgl. RG 19). Die Turniere als geschlossene Episoden folgen meist einem eigenen Tagesrhythmus (hierzu später mehr) und sind nur lose in die Ereignisfolge eingebunden.776 Nachdem Galmy im Anschluss an das Turnier in der Bretagne zum Truchsess der Herzogin befördert wurde, übt er »ein halbes jar« sein Amt aus (RG 107), als er sich in den Finger schneidet; zum Zeitpunkt des folgenschweren Blickkontakts zwischen Galmy und der Herzogin hat er »noch keyn jar das ampt« (RG 114, vgl. RG 131). Kurz darauf verlässt er Vannes und geht nach Idenburg, wo er »ein halb Jar« auf »stechen und Turnieren« verwendet (RG 137). In der Zwischenzeit ist es Frühling geworden und der Herzog von Vannes beschließt, zum Heiligen Grab nach Jerusalem zu pilgern. Als seinen Stellvertreter setzt er den Marschall ein. Die Annäherungsversuche des Marschalls und seine Küchenjungen-Intrige ziehen sich wohl über einige Monate hin. Die Frist für den Zweikampf um die Ehre der Herzogin beträgt zwei Monate und acht Tage (RG 177; vgl. RG 179, RG 182 und RG 200777). Als Galmy bei seinem Verwandten, dem Abt, eintrifft, sind es nur noch acht Tage (RG 191) bis zum Gerichtskampf; dann sind es nur noch zwei Tage (RG 199). Gerade in diesem Zusammenhang wie auch für die Turnierepisoden wird durch die Frist ein kohärenter Zeitrahmen für die Ereignisse aufgebaut. Die Herzogin umreißt die Zeitspanne zwischen Galmys Abreise nach Idenburg und ihrer bedrohlichen Situation im Vorfeld des Gerichtskampfs mit eineinhalb Jahren (vgl. RG 205). Nach dem bestandenen Gerichtskampf, der pünktlich stattgefunden hat, zieht sich Galmy wieder nach Schottland zurück. Die Zeit, die dann bis zum Tod des Herzogs vergeht, ist nicht näher bestimmt. Nach dem Tod des Herzogs hingegen werden die Ereignisse wieder eindeutiger datiert. Als Galmy das Kloster des verwandten Abtes
|| 776 So wird die Turnier-Episode in Frankreich mit der Floskel »Nit lang darnach« eingeleitet; das Turnier in Vannes geht indirekt aus der Intrige Wernhards hervor, die ebenso mit einer ähnlichen Formel eingeleitet (»NIt lang nach solchen verloffnen geschichten / sich eines tags begeben thet« [RG 57]) und dann vom Herzog mit einer vierzehntätigen Frist angesetzt wird (vgl. RG 62). 777 Fälschlicherweise heißt es zu Beginn des 53. Kapitels: »DIe drey Monet [sic!] unnd acht tag yetz gantz verschinen waren / Also / das nit mer dann ein tag noch vorhanden was« (RG 200). Der Fehler wurde in keiner der Ausgaben des 16. Jahrhunderts korrigiert (vgl. im »Variantenverzeichnis« S. 296). Die formalisierte Dreizahl scheint als Frist – trotz des dadurch erzeugten Widerspruchs zu früheren Angaben – überlesen zu werden oder akzeptabel zu sein.
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erreicht, ist über ein halbes Jahr seit dem Tod des Herzogs vergangen (vgl. RG 223); die Hochzeit der Herzogin mit Galmy findet statt, bevor ein Jahr seit dem Tod des Herzogs verflossen ist (vgl. RG 226). Die konkrete Chronologie der Ereignisse wird nach der Hochzeit der Herzogin mit Galmy in eine diffuse Länge überführt, die symbolischer Ausdruck der Rechtmäßigkeit dieser Verbindung ist, denn durch ihre »grosse[ ] Gotts forcht« lässt Gott ihr Leben lang werden. Diese relativen Zeitangaben haben – dies dürfte deutlich geworden sein – zwei Bezugspunkte: zum einen die biographische Zeit der Figuren, ohne dass aber das Alter der Figuren an irgendeiner Stelle explizit genannt werden würde, und zum anderen die Dauer und den Abstand zwischen Ereignissen. Auffällig ist jenseits dieser Koordination die besondere Hervorhebung und temporale Kohärenz der Turnier-Episoden, die wiederholte Markierung der Frist für den Gerichtskampf sowie die Gestaltung von Tageszeiten. Dort, wo sich die Handlung nämlich am Tagesverlauf ausrichtet, gibt es an einigen Stellen detailreiche Schilderungen des Tagesbeginns oder -endes.778 Jene sich hier abzeichnende Engführung von Zeitrahmen und Ereigniszusammenhang verweist auf die ›kurze Zeit‹. Die durch das Zeitgerüst angedeutete historische Langperspektive erhält eine besondere Wertigkeit durch die Bedeutung, die der Zukunft zugemessen wird, sowie durch die punktuellen Bezüge auf Vergangenes. Die weiter zurückliegende Vergangenheit ist – wie ein Vergleich mit der Melusine beispielsweise zeigt – jedoch weder plotbestimmend noch ereigniserklärend;779 allein die Tatsache, dass sich Galmy gut zwei Monate vor Handlungseinsatz während einer Jagd in die Herzogin verliebt, fungiert als Movens für alles Folgende. Indem der
|| 778 »Als nun der new tag mit dem sFssen gesang der nachtgallen verkündet ward / der Ritter von seinem beth auff stůnd / ser verlangen nach seinem gesellen hat / wann der auff stFnd / damit sye ir kurtzweil mit einander haben m=chten / lang an seinem kamerladen (welcher in einen lustigen garten gieng) dem gesang der v=gel zůh=ren thet / Die liechtscheinendt sunn yetz in alle h=he anfieng auff zů stigen / Galmy nit lenger warten mocht / zů seines gesellen schlaffkamer gieng / in uffwecket« (RG 28 f.); »ALs nu der ander tag mit fr=lichem gesang der edlen v=gel an den hymel brach« (RG 52); »DA nu die nacht vergangen / und yetz die Edle morgenr=te mit gantzem gewalt dohar trang / und das erdtrich mit sFssem tow bedeckt / die sonn mit klarem scheine in alle h=he uffgstigen was / sich menklich mit grossem ernst zů dem Turnier schicken thet / yetzundt die zeit kummen was / das man den ymbiß zů hoff mit grossen freüden / mit mancherley seytten spil / auch trumeten verkündet / All welt gen hoff gieng / den ymbiß fr=lich vollbrachten« (RG 83 f.). 779 Beschränkt bleiben die Rückbezüge auf Galmys letzten Kontakt zu seinen Eltern in Idenburg sowie auf den Verweis des Herzogs, dass Galmy ihn vor langer Zeit aus einer gefährlichen Situation gerettet hat (auf die entsprechenden Stellen wurde bereits hingewiesen).
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Roman mit seiner Aufstiegsgeschichte Galmys vom Ritter zum Herzog780 gerade das genealogische Denken als ein verbindliches Muster unterläuft, wird zugleich die legitimierende Wirkkraft des Vergangenen reduziert.781 Das Augenmerk richtet sich folglich weniger zurück, sondern vielmehr auf das Zukünftige. Die Zukunft wird im Galmy zum Möglichkeitsraum für die Beziehung zwischen Galmy und der Herzogin, die in der jeweiligen Jetzt-Situation aus Figurenperspektive unrealisierbar erscheint. Nachdem die Herzogin von Galmy jenen Ring erhalten hat, den er in Frankreich gewonnen hat,782 formuliert sie diese temporale Projektion in die Zukunft, wenn sie sagt: »Mein ußerw=lter Ritter und aller liebster freünd auff erden / Dein liebe und trew gegen mir nit nodt ist zů probieren / dann ich dich zů aller zeit / als einen waren unnd rechten liebhaber gespürt und erkent hab / damit du warlichen mein hertz gefangen hast / Gott wolt / wir on alle sorg umb einander wonen m=chten / damit wir uns in keynen weg verd(chtlich m=chten machen. Aber ich hoff die zeit noch kummen soll / in welcher ich dich nach meines hertzen willen und begeren anschawen m=g« / solichs Galmy der Ritter auch von hertzen wünschen ward. (RG 56)
All das, was zu diesem Zeitpunkt für die beiden nicht möglich ist, wird in die Zukunft als potenziellen Umsetzungsraum verschoben.783 So versichert auch Galmy der Herzogin nach dem ersten Tag des Turniers in Vannes: »Aller gn(digste Fraw / ewer Gnad schimpfft mit mir / dann ir mir der eeren mer dann ich verdienet hab / zůmessen / aber was ich heüt nit gethon hab / will ich ein andere zeit erfüllen« (RG 80).
|| 780 Vgl. Ertzdorff (Anm. 25), S. 107. 781 Sieht man den Ritter Galmy und die Romane Georg Wickrams in einem werkgeschichtlichen Zusammenhang, dann erscheinen der Jungen Knaben Spiegel und der Goldtfaden mit ihren Adoptionsgeschichten als Steigerungen eines Erfolgsmusters, denn sie »verweigern sich […] dem Geblütsdenken«. Zudem folgert Manuel Braun, da »Geburt keine lebenslange soziale Identität mehr [garantiert], muss sich diese in der Zeit, also als Karriere, konstituieren«, vgl. Manuel Braun: »Karriere statt Erbfolge. Zur Umbesetzung der Enfance in Georg Wickrams ›Goldtfaden‹ und ›Knaben Spiegel‹«. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), S. 296–313, hier S. 301 und S. 306, m. H. 782 Die Szene fungiert als Komplementärszene zur Übergabe eines Ringes durch die Herzogin an Galmy, als dieser im (Liebes-)Krankenbett liegt (vgl. RG 20). Die dritte Ringübergabe erfolgt dann im Vorfeld des Gerichtsturniers, dabei übergibt die Herzogin ihrem Beichtmönch (also dem verkleideten Galmy) einen Ring, der es ihm schließlich nach dem Tod des Herzogs ermöglicht, sich als Retter zu erkennen zu geben. 783 Analog zu der narrativen Makrostruktur ist auch das erste Treffen zwischen der Herzogin und Galmy temporalisiert, denn es wird der richtige Zeitpunkt abgewartet: »so bald mir die zeit das vergünnen / ich mich schnell zů dir fFgen wolt« (RG 18).
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Und bei seinem Abschied aus Vannes verspricht er dann wiederzukommen, wenn es ihm möglich sein wird: »so versprich ich eüch das bey meinem Ritterlichen orden / so bald mir müglich sein würdt / ich mich zů handt wider her zů eüch fFgen wil« (RG 130). So wie die zukünftige Zeit als Realisierungsrahmen konzipiert ist, so scheint der gegenwärtige Zeitpunkt ein dauerhaftes Beisammensein zu verunmöglichen, denn abgeschlossen wird die Ringübergabe Galmys mit der Feststellung: Als sich nun die zwey liebhabenden menschen nach irem wunsch und willen erspracht hatten / und in die zeit nit lenger vergünnen wolt / bey eynander zů bleiben / sie beyde wider an das ort / da sye Friderichen und die zwo Edlen Junckfrawen gelassen hatten / giengen (RG 56)
Galmy und die Herzogin sind nicht die einzigen Figuren mit der Fähigkeit, Ereignisse in die Zukunft zu projizieren. Die Küchenjungen-Intrige des Marschalls wäre gescheitert, wenn er nicht die Fähigkeit besäße, Ereignisse der Zukunft zu antizipieren und sich auf diese einzustellen; nur so gelingt es ihm, den Küchenjungen dahin zu bringen, bis zuletzt an der erlogenen Geschichte festzuhalten. Die umfassenden Zeitangaben erzeugen – so lassen sich die Befunde im Hinblick auf die ›lange Zeit‹ zusammenfassen – eine zeitliche Dimension, die auf ›lineare‹ Sukzession und Länge ausgelegt ist, auch wenn diese nicht immer ›kohärent‹ und ›konsistent‹ ist; zur ›abstrakten‹ Qualität tragen die kalendarischen Maßeinheiten bei; besondere historische Tiefe erhält die erzählte Zeit durch die Konzeption einer ›offenen‹ Zukunft, in die all das projiziert wird, was kurzfristig nicht realisierbar erscheint. Dieser Langperspektive steht die kurze Zeit gegenüber, die sich durch eine funktionale Komponente und ihre ›geschlossene‹ Form auszeichnet. Oder konkret formuliert: Die ›kurze Zeit‹ realisiert sich in zwei verschiedenen Verfahren. Auf einer erzählerischen Mikroebene kommt sie erstens insofern zum Tragen, als einzelne Ereignisse, die in einem Reaktionsverhältnis zueinander stehen oder sinnfällig zusammengehören, schnell aufeinander folgen bzw. zusammengeführt werden, und zweitens insofern, als die Zeit einer Episode gemeinsam mit der Episodenhandlung zum Abschluss kommt. Die erste Eigenheit der ›kurzen Zeit‹ ist an zwei Szenen gut ablesbar: zum einen am Einhorn-Traum der Herzogin, der sie als keusch und ehrenhaft ausweist, und zum anderen an der Ankunft des Boten Lupold in Idenburg, der Galmy über die Situation der Herzogin und über die Frist für den Gerichtskampf informieren soll. Beide Passagen seien in umfangreicheren Ausschnitten zitiert, die die Frequenz der zeitliche Unmittelbarkeit anzeigenden Ausdrücke sowie die stilistischen Variationen vorführen:
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Nun was die Hertzogin die selbig nacht / auch ein vast harter unnd schwerer traum zůgestanden / durch den sye nit wenig geenstiget ward / dann sye eygendtlich bedaucht / wie sye von ir menschlichen gestalt kummen / und in ein schnelles einhorn verkert wer / mit vil edlen thieren umbgeben / welche mit eynander auff einer sch=nen wisen inn wolriechenden blůmen spacieren giengen / in kurtz darnach die andren edlen thierle von ir schieden / mit grossem jamer urlob von ir namen / sye alleyn bey einem ungestFmen wolff unnd einem beren verliessen / bei welchem sye in grossen sorgen ston beleib / zů hand der freysam ber / mit uff gethonem rachen deß Einhorns begeren thet / Das zů handt der flucht begert / zů letst der wolff mit seinem halß in einen strick falt / darinn er sein leben endet / der ber aber dem einhorn mit geschwindem lauff nachjaget / gegen einem grossen brinnenden wald / welcher mit zweyen dieffen wassern verschloßen was. […] So kumpt zů hand gegen ir ein Lew / mit einer unbekanten haut überzogen […] Der L=w zů hand den beren mit grossem zorn an want / in seinem leib gantz verwunt und yetz schier halb todt / in dem brinnenden wald schleipffet / darinn er zů hand durch das feür verzeret ward […]. In dem der Lew sein unbekante haut von im schut / nit lang stůnd / er die gestalt eines L=wens auch verlor / uffrecht stůnd / einem wolgewapneten Ritter sich vergleichet / zů handt uff ein schnell pferdt saß / aller ungeert von dannen schied. (RG 89, m. H.) SO bald nun Lupoldt gon Idenburg in Schotten land kam / zů hant nach Galmien dem Ritter fraget / im ward angezeygt / wie er an des künigs hoff wer. Lupoldt sich gon hoff fFget / nach dem Ritter fraget / also bald zů im gefFrt warde. Galmy mit andren Herren und Edlen umb kurtz weyl willen den steyn stieß / So bald aber er Lupoldten den botten ersach / von stund an von im erkant ward / all kurtzweil underließ / mit grossen freüden zů Lupoldten dem botten kam / vermeynet ein fr=liche botschafft von im zů vernemmen / zů hant Lupoldt von Galmyen mit grossen freüden empfangen ward / der im nach mancherley freüntlichen worten den brieff gab / Der Ritter von stund an seines liebsten gsellen bittschet erkennet / des gleich die übergschrifft / so dann Fridrich uff den brieff geschriben hat / So bald aber der Ritter des brieffs inwendig gewar ward / von stund an erkant / das in sein aller liebste Hertzogin mit eygner hand geschriben hat / von grossen freüden in allem seinem angesicht sich verkeret / lang nit wissen kunt / was er anfahen solt. (RG 185, m. H.)
Die Ereignisse des allegorischen Traums, die berichtet werden und deren selbstreflexive Qualität hier nur marginal von Bedeutung ist,784 folgen nicht nur einer sukzessiven Reihung nach dem Schema ›und dann, und dann‹, sondern begeben sich »in kurtz darnach« und »zůhand« (im Sinne von ›sofort‹ oder ›so-
|| 784 Der Traum der Herzogin bildet einen in Tierfiguren verkleideten und gerafften Ausblick auf die Handlung des Romans. Die Herzogin verwandelt sich in das Einhorn, die edlen Tiere, die sie umgeben, stehen für die höfische Gesellschaft. Bedroht wird das Einhorn zunächst vom Bären, der wie der vom Marschall angeheuerte Küchenjunge sein Leben am Strick beschließt; der Wolf, der die Herzogin weiter bedrängt, ist der Marschall, der nach dem Kampf mit dem als Lamm verkleideten Löwen (Galmy in Mönchsgestalt) im Feuer umkommt. Zum Traum vgl. Christine Pfau: »Drei Arten, von Liebe zu träumen. Zur Traumsemantik in zwei Prosaromanen Jörg Wick-rams«. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), H. 2, S. 282–301, bes. S. 289–294.
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gleich‹785). Auch die Ereignisse bei der Ankunft Lupolds in Idenburg wirken in ihrer Aufeinanderfolge beschleunigt: Sie ereignen sich »zůhand«, »von stund an« (im Sinne von ›sofort‹, ›sogleich‹ oder ›unverzüglich‹786) oder »also bald«. Bei diesen beiden Passagen handelt es sich zwar um programmatische Beispiele, aber nicht um isolierte Phänomene, denn auffällig ist die relativ hohe Frequenz und Ballung dieser und verwandter Wendungen – wie »zůstundt« (im Sinne von ›gerade‹, ›eben‹, ›jetzt‹, ›augenblicklich‹, ›in diesem augenblick‹787) oder »in kurtz darnach«/»in kurtzer zeit« – im ganzen Roman.788 Es sind zwar Wiederholungsfiguren,789 doch zielen diese nicht auf die Aufhebung temporaler Relationen, wie dies beispielsweise die klassische Leitmotivtheorie postuliert. Vielmehr verstärken und verzerren diese Ausdrücke die Sukzession der Ereignisse fast bis zu ihrer Gleichzeitigkeit. Sie erfüllen vor allem eine verbindende Funktion für teils sehr unterschiedliche Ausgangssituationen. Die Verknüpfun-
|| 785 Vgl. »Zuhand«. In: DWB, Bd. 32, Sp. 450. 786 Vgl. »Stunde«. In: DWB, Bd. 20, Sp. 493. 787 Vgl. »Stunde«. In: DWB, Bd. 20, Sp. 495–500. 788 »in kurtz darnach«/»in kurtzer zeit« etc.: RG 49, RG 57, RG 58, RG 62, RG 63, RG 89, RG 94, RG 110, RG 128, RG 134, RG 136, RG 138, RG 215, RG 222, RG 223. »nit lang darnach«/»nit lang nach …« etc.: RG 35, RG 41, RG 50, RG 57, RG 69, RG 72, RG 91, RG 110, RG 118, RG 133, RG 181, RG 183, RG 226, RG 228. »von stund an«: RG 14, RG 29, RG 50, RG 54, RG 59, RG 86 (zwei Mal), RG 95, RG 108, RG 113, RG 115, RG 121, RG 122, RG 124, RG 136, RG 144, RG 145, RG 147, RG 148 (zwei Mal), RG 150, RG 153, RG 155, RG 163, RG 167, RG 171 (zwei Mal), RG 172, RG 174, RG 176, RG 178, RG 179, RG 183, RG 185 (vier Mal), RG 188, RG 193, RG 194 (zwei Mal), RG 198, RG 199, RG 207 (zwei Mal), RG 208, RG 209 (zwei Mal), RG 212, RG 213, RG 216, RG 223 (zwei Mal), RG 224, RG 225 (zwei Mal), RG 226, RG 228. »zůhand«: RG 16 (zwei Mal), RG 22, RG 29, RG 37 (zwei Mal), RG 39, RG 40, RG 43, RG 48, RG 49, RG 50, RG 51, RG 53, RG 54 (zwei Mal), RG 55, RG 56, RG 63, RG 64, RG 65 (zwei Mal), RG 67, RG 69 (zwei Mal), RG 70 (zwei Mal), RG 71, RG 72 (zwei Mal), RG 73, RG 74 (drei Mal), RG 76 (zwei Mal), 77 RG (vier Mal), RG 78, RG 84, RG 86 (vier Mal), RG 88 (drei Mal), RG 89 (drei Mal), RG 90 (drei Mal), RG 91, RG 92, RG 93, RG 95 (vier Mal), RG 96, RG 105, RG 108, RG 112, RG 116, RG 117, RG 118 (zwei Mal), RG 120, RG 121, RG 122 (zwei Mal), RG 124 (zwei Mal), RG 125, RG 128, RG 130, RG 133 (zwei Mal), RG 136 (drei Mal), RG 138, RG 143 (zwei Mal), RG 144, RG 146, RG 152 (zwei Mal), RG 155, RG 156, RG 158 (zwei Mal), RG 162 (zwei Mal), RG 163, RG 165 (zwei Mal), RG 167, RG 170, RG 171 (zwei Mal), RG 172 (zwei Mal), RG 177 (zwei Mal), RG 185 (zwei Mal), RG 188 (zwei Mal), RG 190, RG 197, RG 202, RG 204, RG 205, RG 206, RG 207, RG 208, RG 211, RG 212, RG 221 (zwei Mal), RG 222, RG 225, RG 226, RG 227 (zwei Mal). »zůstundt«: RG 19, RG 50, RG 86, RG 108, RG 134, RG 139, RG 144, RG 163, RG 188, RG 190, RG 199, RG 207, RG 210. 789 Auf die Bedeutung der Wiederholung als Verfahren hat bereits Lugowski ([Anm. 54], S. 68–73) hingewiesen; vgl. zudem Andreas Solbach: »Wiederholungen als literarische Technik bei Jörg Wickram«. In: Simpliciana XVIII (1996), S. 181–194.
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gen können nämlich wie in der allegorischen Traum-Passage situativ bedingt sein oder im engeren Sinne funktionale Zusammenhänge verstärken oder, ganz im Gegenteil, in keinem direkten Zusammenhang stehende Ereignisse zusammenrücken und so Kohärenz über zeitliche Nähe herstellen. Diese drei Fälle seien kurz skizziert. Bei der Begrüßung des heimkehrenden Herzogs durch seinen Verwalter den Marschall sind zwischen die einzelnen Ereignisse Kürze anzeigende Phrasen geschaltet: Als nun der Marschalck nach zů dem Hertzogen kam / in mit gebognen knyen empfahen thett / aber sich gantz traurig gegen im erzeyget. Darvon der Hertzog nit wenig schrecken empfahen thet. Zůhant den Marschalck hieß uffston / wider auff sein pferdt sitzen / deßgleichen auch die anderen / den Marschalck neben im reytten hieß / in zůstundt fraget / wie es umb sein land unnd leüt stFnde? »Gn(diger Herr« / sprach der Marschalck / »ich hoff / ich hab solichs geregiert / das ewer Gnad ein groß wolgefallen darinn haben soll.« Der Hertzog von stund an fragen ward / wie es umb sein liebsten gemahel stFnd / ob sye frisch und wol vermügen w(r? (RG 163, m. H.)
Betont wird so der situative Zusammenhang, dabei werden durch die Phrasen Reaktionen auf Handlungen und Emotionen eingeleitet (erstes »zůhant« in der zitierten Passage) und die simple Folge von Handlungen angezeigt. Wie Kürze andeutende Wendungen funktionale Zusammenhänge hervortreten lassen, wird im Erzählen von Reisebewegungen evident. So heißt es – nicht ohne kausal plausible Erklärungsangebote – über die Heimreise des Herzogs und seiner Gesellschaft vom Turnier in Frankreich: DO nun die zeit kam / das mencklich verricht was. Alle Fürsten und Herren sich bereyteten und zů rüsten / den n(chsten weg wider heym zů reiten. Als nu der Hertzog auß Britanien sich mit seinem volck zů gerist hat / zů hand dennechsten in Britanien reitet thet / gůt wetter erreycht hatten / deßhalb sie auch gůter weg zů reiten / dest ee heym fürdert / dann er in kurtzer zeit auß Franckreich in Britanien geritten kam. (RG 48 f.)
Die Versetzung der Figuren erfolgt nach dem prestigeträchtigen Turnier, bei dem Galmy den Preis erstritten hat, »in kurtzer zeit«, denn die Reise fungiert nicht – wie das Turnier – als Bewährungsepisode. Wichtiger für die weitere Handlungsmodellierung erscheint die erneute Zusammenführung von Galmy und der Herzogin. Hier kommt es zwar zu keiner stark ausgeprägten raumzeitlichen Kontraktion, wie sie für eine ›flexible‹ Welt charakteristisch ist, aber
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doch zu einer funktionalen Zusammenführung (vgl. Kap. 4.2.3).790 Anders an einer weiteren Stelle, wo der funktionale Zusammenhang ebenso im Mittelpunkt steht, es jedoch um die Figur-Zeit-Relation geht. Gleich zwei Mal – am Ende des XVI. Kapitels und zu Beginn des XVII. Kapitels –, jedes Mal unter Verwendung von kurze Zeitspannen indizierenden Wendungen wird erzählt, wie Galmy einen Brief an die Herzogin abschließt, auf Friderich wartet und sich dieser umgehend einfindet: Mit disen worten Galmy der Ritter den brieff beschliessen thet / mit seinem ring versiglet. Zůhand gieng zů erfaren / wo er den Edelman seinen gesellen finden m=cht / welcher noch nicht kummen was / das im dann groß leyd bringen thet. Doch nit lang stůnd / Fridrich sein getreüwer unnd liebster freündt geritten kam. (RG 69)
Und zu Beginn des nächsten Kapitels heißt es dann nochmals: NIt lang darnach / als Galmy der Ritter seinen brieff geschriben hat / seinen lieben gsellen Friderichen sůchet / im die bottschafft zů befehlen. Zůhandt Friderich geritten kam. (RG 69)
Der funktionale Zusammenhang der Situation ist klar: Galmy hat seinen Brief abgeschlossen und nun ist ein Bote von Nöten, der ihn überbringt. Just in diesem Moment erscheint Friderich. In einem solchen temporalen Verständnis von Funktionalität liegt ein entscheidender Unterschied zu Clemens Lugowskis Überlegungen zu ähnlichen Passagen, der Funktionalität vor allem auf die Rolle von Figuren bezieht.791 Sowohl im Zusammenspiel von Raum und Zeit als auch im Zusammenspiel von Figur und Zeit verstärken die Kürze und Unmittelbarkeit suggerierenden Wendungen also funktionale Zusammenhänge der Handlungs-
|| 790 Eine Verkürzung der Raumzeit lässt sich im Ritter Galmy gleich an mehreren Stellen diagnostizieren, vgl. RG 134: So beispielsweise bei Galmys Reise nach Idenburg, bei der er zunächst erkrankt, sodass sich die Heimreise verschiebt; doch dann heißt es: »Als nun Galmy gantz gesundt worden was / ander kostlich pferdt kauffet / mit dem kaffmann inn kurtzer zeit gon Idenburg reiten thetten / Zů des Ritters vatter kamen«, m. H.); RG 221 (»Als nun Fridrich gantz bereyt was / von dannen reyt / den nechsten weg nam / an die port des M=rs da er zůhandt ein schiff fand / auff welches er saß / biß in Schotten land fGr. Als er nun gon Idenburg kam / zů hant nach seinem gsellen fraget.«); vgl. zudem RG 223, zu den räumlich-geographischen Inkonsistenzen im Ritter Galmy vgl. Elisabeth Wåghäll: »The Ignorance of Geography – The Example of Georg Wickram«. In: Colloquia Germanica 28 (1995), H. 1, S. 203–218, bes. S. 207 f. 791 Lugowski arbeitet heraus, dass sich beispielsweise Lupoldt in seinen »Botendiensten erschöpft« (Lugowski [Anm. 54], S. 66). Dass diese Szenen auch eine temporale Dimension haben, übersieht Lugowski aber (vgl. dazu die folgenden Überlegungen).
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modellierung. Der handlungslogischen Notwendigkeit wird in der erzählten Welt schnell Abhilfe getan. Anders als bei den ersten beiden Fällen verhält es sich beim dritten, denn in diesem verbinden zeitliche Kürze suggerierende Ausdrücke Ereignisse, die in keinem kausalen oder anderem Ordnungszusammenhang stehen. Überbrückt wird die Relationslosigkeit von Ereignissen, indem – wenigstens – ihre zeitliche Nähe postuliert wird. So wird die Intrige Wernhards – und damit zugleich das XIII. Kapitel – folgendermaßen eingeleitet: NIt lang nach solchen verloffnen geschichten / sich eines tags begeben thet / der schandtlich Wernhard / w=lchen sein untrewes / falsches hertz nimmer růgen ließ / sonder all weg trachtet womit er doch dem Edlen Ritter sein gůt lob außdilgen m=cht / zů seinen mithelffern kummen was / sye alle zůsammen berFffet / in uff solche meynung verhielt. (RG 57)
Dieser Episodeneröffnung geht eine Szene voraus, in der Galmy der Herzogin den Ring übergibt, den er in Frankreich in ihrem »dienst« (RG 55) errungen hat. Beide Episoden, die Ringübergabe sowie die Intrige, stehen in keinem kohärenzgarantierenden Verhältnis; Kohärenz wird hier allein über die zeitliche Nähe suggeriert (so unter anderem auch beim Übergang vom VII. zum VIII. Kapitel, wo vor die Formel noch ein das Vorhergehende zusammenfassender Satz geschaltet ist). Die mehrfach wiederholten Temporaladverbien, die Kürze indizieren, variieren also eine erzählerische Eigenheit, die in der Magelone Ausdruck gefunden hat im ›rechten Augenblick‹ der Ereignisse – ganz im Sinne ihrer Funktionalität – und in der märchenhaften Formelhaftigkeit mancher Wendungen. Die Formelhaftigkeit im Ritter Galmy unterscheidet sich jedoch insofern von derjenigen in der Magelone, als die temporalen Formeln in Letzterer nur diffuse Zeitpunkte bezeichneten, an dem Ereignisse stattgefunden haben. Die wiederholten Formeln im Ritter Galmy hingegen verbinden Ereignisse mittels Wendungen, die temporale Unmittelbarkeit und durative Kürze ausdrücken. Die Eigenheiten der ›kurzen Zeit‹, die bislang anhand der Verknüpfung von einzelnen Ereignissen gezeigt wurden, lassen sich auch auf der übergeordneten Ebene, nämlich derjenigen der Episode, beschreiben: In beiden Fällen geht es um die Geschlossenheit bzw. Verknüpfung eines (mehr oder weniger naheliegenden) Zusammenhangs. In der Gesamtkonstellation von Zeitangaben wirken die Dreitagesfristen der Turniere in Frankreich (RG 35–48) und Vannes (RG 75– 97) herausgehoben, zwar nicht mehr so dominant wie in der Magelone, aber doch stärker als in Wickrams Gabriotto und Reinhart. Gerade diesen narrativen Episoden liegt eine eigene geschlossene temporale Struktur zugrunde, die von
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Dreierreihen als kompositorischem Prinzip – also numerischen Äquivalenzen – bestimmt wird. In Frankreich erhält Galmy als Sieger »drey kleynot« (RG 45): eine Kette, ein Halsband und einen Ring, auch in Vannes sind es drei Gaben, je eine für den Tagessieg (vgl. RG 76); die Turniere dauern immer drei Tage und meistens muss Galmy pro Kampf drei Mal antreten. Dass aber die numerische Dreierstruktur für das Turnier in Frankreich nicht vollständig determinierend ist, wird daran ersichtlich, dass Galmy nicht in jedem Kampf drei Runden überstehen muss. Am ersten und dritten Tag ist das der Fall (RG 39 f., RG 43), am zweiten nicht (»Also der gůt gesell der beder ritt so wol vernFgt ward / das er des dritten nit begeren thet«, RG 42). Im Gegensatz zur Magelone und zum Turnier in Vannes erfolgt die Übergabe der Preisgaben in Frankreich nicht am dritten Tag, sondern erst am vierten. Dem Turnier in Vannes geht eine Vorfrist von 14 Tagen voraus, denn, wie der Herzog gegenüber dem Hof betont, ir wissend das yetz künfftig in viertzehen tagen ein grosser Jarmarckt sein würt / auff w=lchem dann j(rlichs vil frembder edel leüt / Ritter und knecht / kummen (RG 62).
Jeder Tagessieger des dreitägigen Turniers wird mit meinem Preis belohnt. Auch bei diesem Turnier werden nicht immer drei Ritte ausgeführt, am ersten Tag gibt sich Gamlys Gegenspieler Wernhard nach zwei Runden bereits geschlagen und flüchtet; der Kampf mit Růpert – am zweiten Tag – geht über drei Runden (RG 86), anschließend siegt er noch über vier weitere Ritter. Wird auch nicht jedes Motiv von der Dreierstruktur bestimmt, so gilt dieses Ordnungsmuster doch in besonderem Maße für die zeitliche Terminierung. Der zeitliche Rahmen des auf drei Tage angesetzten Turniers in Frankreich wird vom Erzähler mehrmals beschworen: »Als nun der tag und das stechen sich mit einander geendet hatten« (RG 41), heißt es über den Abschluss des ersten Tages. Der zweite Tag beginnt dann: Als nun des anderen tags yetz die zeit widerkummen was / das man sich zG dem stechen rüsten solt / alle die so sich den vordren tag gebraucht hatten / wider uff der ban erscheinen« (RG 41).
Und mit Blick auf Galmy wird nochmals wiederholt: »Als nu Galmy des andren tags uff die ban kummen was« (RG 42). Am zweiten Tag gewinnt Galmy nach zwei Runden, abgeschlossen wird der Tag mit einer Zusammenfassung seines Erfolges (»Die zwen tag also mit fünff ritten den preiß behalten thet«, RG 42), bevor dann der dritte Tag anbricht. Besonders aufschlussreich für den Zusammenhang von zeitlichem Rahmen und Handlungsabrundung ist eine zwei Mal wiederholte Wendung, die den dritten Tag des Turniers einleitet und abschließt:
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Als nu die nacht vergangen was / und yetz der dritt tag kummen war / an w=lchem alle ding zů end bracht werden solt / […] ein yeder vermeynet den letsten tag erst preiß zů erlangen. (RG 42 f.)
Es folgt Galmys Kampf gegen den französischen Grafen, »w=lcher nit minder preiß die andren zwen vergangen tag erlangt het« (RG 43), den Galmy jedoch mit aller seiner »mannheyt und kunst« vom Pfed stößt (RG 43). Anschließend fordert ihn niemand mehr heraus. Am Ende heißt es dann: Der tag / w=lcher dann was der letst tag / an dem alle ding vollendt werden solt / yetz auch schon dahin was / das nyemandt kummen thet / so Galmien des Ritters begeret. (RG 43)
Die Zeit spielt für die Drei-Tages-Frist des Kampfes also eine entscheidende Rolle, denn es ist dieser Rahmen, in dem »alle ding vollendt werden solt«. Auch wenn das Turnier in Vannes ebenso an drei Tagen stattfindet, wird die Frist nicht so extensiv beschworen wie bei dem Turnier in Frankreich. Die thematische Geschlossenheit der Episode – nicht ihre narrative – wird nämlich durch den Abendtanz und den allegorischen Traum der Herzogin teils aufgebrochen (vgl. Kap. XXII.). Mit den beiden Turnier-Episoden sind jene Aspekte angesprochen, die die ›kurze Zeit‹ charakterisieren: die Vollendung einer narrativen Einheit; unabhängig davon, ob sie allein aus zwei Ereignissen besteht oder aus einer Episodenreihe. Das Besondere an dieser Zeitgestaltung ist, dass Zeit dem handlungsfunktionalen Rahmen angepasst und damit ›geschlossen‹ erscheint. Sie ist wesenhaft mit dem Ereignis und der Ereignisfolge verknüpft und scheint außerhalb derselben nicht zu existieren (in ihrer Qualität ist sie also überaus ›konkret‹). Damit bildet sie gleichsam das Gegenkonzept zur temporalen Langperspektive, die parallel dazu im Ritter Galmy entworfen wird.
7.2 Zeitlosigkeit vs. ›kurze Zeit‹ – zu Lugowskis Lektüre Mit den Überlegungen zur ›kurzen Zeit‹ schließe ich an Clemens Lugowskis Ausführungen zum ›mythischen Analogon‹ in Georg Wickrams Prosa an. Auch wenn es Überschneidungen in den beschriebenen Phänomenen geben mag, so unterscheidet sich mein close reading des Ritter Galmy in seinen Schlussfolgerungen von Lugowskis Ideen. Für ihn ist das mythische Analogon mit seiner ›linearen Anschauung‹, dem ›Gehabtsein‹, der ›Motivation von hinten‹ und
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seiner ›perfektischen Aktionsart‹ Ausdruck einer »wesentlich als zeitlos gesehenen Welt« (vgl. zu Lugowskis Theoriedesign Kap. 2.1).792 Dabei changiert er in seiner Argumentation, wenn er den Gegenpol zu der von ihm beschriebenen ›Verzeitlichung‹ zu benennen versucht. Im Zusammenhang mit der ›linearen Anschauung‹ argumentiert Lugowski am Beispiel eines Szenen- und Ortswechsels, dass es »sinnlos« wäre zu fragen, »wie die Vorgänge […] zeitlich zueinander gelagert seien«, es komme vielmehr auf die »Linie« an, in die sie gefügt werden.793 Hier scheint Zeit als Dimension keine Rolle zu spielen. Das Spezifikum des ›Gehabtseins‹ wiederum gründet seines Erachtens darin, dass Figuren nicht eigentlich Liebe habend [sind], sondern vielmehr von ihr ›gehabt‹, nicht eigentlich ein Substrat, dem Liebe anhängt, sondern selber dem ewigen, zeitlosen Wesen der Liebe, die hier das Substrat ist, anhängend.794
Gegeneinander ausgespielt werden in diesem Fall eine nicht näher bestimmte Eigenart (die sich ehestens als ›zeitlich‹ bezeichnen ließe) und das »ewige[ ], zeitlose[ ] Wesen«. Die ›Motivation von hinten‹, in der die verschiedenen Aspekte des mythischen Analogons gebündelt werden, zeichnet sich schließlich durch ihre Ausrichtung am Ergebnismoment aus; so formuliert Lugowski pathetisch über die Motivierung im Galmy, sie liegt nicht in irgendeiner Prämisse, sondern in nichts anderem als der großartig einfachen Selbstgenügsamkeit des ergebnishaft sich manifestierenden reinen Seins, das alles endlich-zeitlich Bewegte auf sich hin, in sich hinein zieht.795
Der Tod des Herzogs, der die Verbindung von Galmy und der Herzogin ermöglicht, ist seines Erachtens ein – gemessen an kausalen Vorstellungen – »äußerst stümperhaft motivierte[r] Tod«, er ist, so folgert Lugowski, »vom Ergebnis aus motiviert aufzufassen und damit als gehorsam der allein souveränen Welt des zeitlosen Wesens«.796 Und so lautet sein Fazit im Hinblick auf den Galmy: Wie Amadis Oriana eigentlich schon besitzt, bevor er sie besitzt, so hat Galmy auch eigentlich die Herzogin schon errungen, bevor er sie errungen hat. Damit ist auch hier das Enden in Permanenz erklärt: der Roman ist während seines ganzen Verlaufs am Ende. In
|| 792 Lugowski (Anm. 54), S. 106. 793 Lugowski (Anm. 54), S. 60, H. i. O. 794 Lugowski (Anm. 54), S. 68, H. i. O. 795 Lugowski (Anm. 54), S. 82 f. 796 Lugowski (Anm. 54), S. 85 f.
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dieser Tatsache liegt in Wahrheit die Entwertung der Zeitlichkeit; das Ende in seinem Charakter als zeithafter Abschluß hebt sich selbst auf.797
Dort, wo das ›mythische Analogon‹ wirkt, erscheint das Dargestellte als Effekt des ›Zeitlosen‹ oder ›Ewigen‹. Lugowski versteht – seiner globalen These entsprechend – das mythische Analogon im Galmy als im Zersetzungsprozess begriffen, denn seines Erachtens enthält der Roman »den ersten Keim im dichterischen Bewußtsein für die spätere Selbstdarstellung des Menschen in einem Einzelnen« und damit enthält er auch einen Temporalisierungsimpuls.798 Das von Lugowski eingebrachte Konzept des ›Zeitlosen‹ ist von ihm aber nicht ausgehend vom Interesse an Fragen nach den spezifischen Zeitvorstellungen gebildet worden, sondern fungiert vielmehr als argumentative Folie, vor der der historische Mentalitätswandel sichtbar gemacht werden soll. Wie ich zu zeigen versucht habe, sind die unter dem Begriff der ›kurzen Zeit‹ beschriebenen erzählerischen Phänomene, die aufgrund der funktionalen Aspekte durchaus Schnittmengen mit Lugowskis Überlegungen zum mythischen Analogon besitzen, jedoch weniger mit irgendeiner Form von Atemporalität oder Ewigkeit verbunden, vielmehr liegt der kurzen Zeit eine grundsätzlich ›lineare‹ Vorstellung von Zeit zugrunde, die aber nicht dem Gesetz der Homogenität unterworfen ist. Die Spannung, die den Roman in motivischer und zeitstruktureller Hinsicht bestimmt und seine temporale Heterogenität ausmacht, ist – so kann man zusammenfassen – keine zwischen Atemporalität/Ewigkeit einerseits und Temporalität andererseits, sondern eine zwischen der temporalen Langperspektive mit ihrem abstrakten Zeitgerüst und der Projektion von Ereignissen in die Zukunft, in der ein ›offener‹ Horizont angedeutet ist, und der ›kurzen Zeit‹, die funktionale Zusammenhänge akzentuiert und so ›geschlossene‹ narrative Einheiten bildet.
7.3 Variationen der Kürze: Apollonius und Assenat Die häufige Verwendung von Kürze ausdrückenden Adverbien und adverbialen Wendungen ist kein historisches Alleinstellungsmerkmal des Ritter Galmy, sondern findet sich gleichermaßen in anderen Erzähltexten der Frühen Neuzeit und freilich auch darüber hinaus. Vor diesem Hintergrund ist nicht die Tatsache, dass im Ritter Galmy Temporaladverbien, adverbialen Phrasen und Konjunktionen mit einer spezifischen Semantik der Kürze und Unmittelbarkeit ver|| 797 Lugowski (Anm. 54), S. 90. 798 Lugowski (Anm. 54), S. 107, H. i. O.
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wendet werden, für die Historizität von Evokationsformen aufschlussreich, vielmehr lassen Funktions- und Ausdruckswandel diachrone Tendenzen erkennen. Diese kann man an zwei konkreten Fragen nachzeichnen. Erstens: Welche Ausdrücke werden benutzt, um die temporale Relation von Ereignissen anzuzeigen? Dies ist im weitesten Sinne eine stilistische Frage (die die Verbalisierung betrifft). Und zweitens: Welche Funktionen kommen diesen Kürze und Unmittelbarkeit indizierenden Adverbien und Konjunktionen zu? Die mit den Fragen aufgemachten Perspektiven seien als historischer Ausblick anhand der Romane von Georg Wickrams, anhand von Heinrich Steinhöwels Apollonius (1460) und Philipp von Zesens Assenat (1670) skizziert. Vergleicht man die Evokationstechniken der ›kurzen Zeit‹ des Ritter Galmy mit ihren Ausformungen in den Romanen Georg Wickrams, so zeigen sich wenige Kontinuitäten. Im Hinblick auf die verwendeten Ausdrücke besteht die größte Nähe zwischen dem Ritter Galmy und Wickrams Gabriotto und Reinhart (1551). Im Letzeren dominieren »von stund an« (GR 8), »in kurtzer zeit« (GR 9), »zůhandt« (GR 12), »zů stund« (GR 21) und »nit lang darnach« (GR 113);799 auch Ballungen der Ausdrücke wie im Ritter Galmy lassen sich durchaus finden, aber eine dem Galmy vergleichbare Dichte wird im Gabriotto und Reinhart nicht erreicht.800 Zudem fehlt im Gabriotto und Reinhart die geschlossene, durch Dreierreihen bestimmte numerische Struktur der Turnier-Episoden. Noch ausgeprägter sind die stilistischen Differenzen zu den später erschienenen WickramRomanen Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und Der Goldtfaden (1557). Insgesamt nimmt die Frequenz der Temporaladverbien ab, besonders »zůhandt« verliert – scheinbar im Rahmen einer breiteren historischen Entwicklung801 – an Bedeutung.802 Die Funktionen bleiben aber ähnlich. || 799 Ich verzichte auf eine detallierte Auflistung der Nachweise. 800 Es sind im Gabriotto und Reinhart in der Regel nur zwei oder drei Wendungen, die in unmittelbarer Nähe zueinander stehen, zum Beispiel: »der knecht im zůstund all sach ent=ffnet / davon der Ritter seer bekümmert ward / zů dem Künig kam / ihn umb ein rosszbor bitten / zůhandt der Künig wissen wolt / wie und wem er die brauchen wolt / Gernier im des knechts bottschafft zů wissen thet / davon der Künig seer bekümmert ward / zůhandt schůff ein rosszbor mit linden küssen und decke zů bringen« (GR 28, m. H.), vgl. zudem GR 63, GR 112, GR 195. 801 Vgl. »Zuhand«. In: DWB, Bd. 32, Sp. 450: Obgleich es noch »im 16. jh. noch weit verbreitet« ist, nimmt die Bedeutung des Adverbs zunehmend ab, denn seit dem frühen 17. Jahrhundert »schwindet es aus der literatursprache« (H. i. O.). 802 Der Knaben Spiegel wird bestimmt von Wendungen wie »in kurtzer zeit«, »in kurtzen tagen« etc. (KS 12 [zwei Mal], KS 14, KS 19, KS 36, KS 37 [zwei Mal], KS 43, KS 46 [drei Mal], KS 50 [zwei Mal], KS 71, KS 95, KS 103, KS 105), »zů stund« (KS 8, KS, 12, KS 20, KS 21, KS 46, KS 61, KS 64, KS 107) und »zů hand« (KS 9, KS 71, KS 112, KS 115) kommen signifikant seltener vor.
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Stilistische Nähe aufgrund der verwendeten Temporaladverbien und adverbialen Wendungen sowie im Hinblick auf die Funktionen, die diese in der Erzählung haben, besteht zwischen dem Ritter Galmy und der Apollonius-Bearbeitung von Heinrich Steinhöwel. In Steinhöwels Version werden vor allem »in kurtzer zijt«/»in kurtzen zijtten«,803 »nit lang dar nach«804 und »zů hand«805 benutzt. Die drei anhand des Ritter Galmy beschriebenen Funktionen lassen sich auch hier erkennen. Die erste Funktion liegt darin, mittels »zů hand« eine Reaktion auf Aussagen von Figuren oder Einsichten einzuleiten und ist folglich im situativen Kontext begründet. Die zweite Funktion besteht in der Verbindung zweier Ereignisse, die einem funktionalen (und kausal plausiblen) Zusammenhang stehen; die dritte Funktion besteht schließlich darin, Ereignisse zusammen zu bringen, deren Relation eigentlich unterbestimmt ist. Historische Verbindungslinien lassen sich aber nicht nur zum spätmittelalterlichen Erzählen ziehen, sondern gleichermaßen zum barocken. In der Assenat Philipp von Zesens wechseln die Ausdrücke, mittels derer zeitliche Relationen hergestellt werden und zum Teil auch die Funktionen, die diese erfüllen; dennoch lassen sich analoge Evokationstechniken beobachten. Insgesamt fällt die Frequenz von adverbialen Wendungen, die temporale Kürze indizieren, geringer aus. Bei den entsprechenden Passagen handelt es sich um punktuelle erzählerische Phänomene. Zwar finden Wendungen wie »von stunden an« und »in kurtzer zeit« noch vereinzelt Gebrauch, doch rücken bei Philipp von Zesen vor allem »straks« und »flugs« ins Zentrum.806 Eine besondere
|| Auffällig im Vergleich zwischen dem Goldtfaden und dem Ritter Galmy ist, dass Adverben und adverbiale Wendungen im Goldtfaden generell seltener auftreten (es dominieren »von stund an« und Variationen von »in kurtzem«, »in kurtzen tagen« etc.); besonders »zůhand« verliert massiv an Bedeutung (nur noch GF 12; GF 23, GF 90; GF 107 [zwei Mal], GF 109, GF 115; GF 122 [zwei Mal]; GF 128; GF 166; GF 185; GF 186; GF 196; GF 198). Zu globalen Zeitvorstellungen im Goldtfaden vgl. Laura Auteri: »Zeitbegriffe und Versuche der Zeitbewältigung im 16. Jahrhundert. ›Der Goldfaden‹ Wickrams (1557) und ›Fortunatus‹ (1509)«. In: Daphnis 39 (2010), S. 519– 543. 803 Vgl. AP 161, AP 165, AP 189, AP 195, AP 203, AP 205, AP 227. 804 Vgl. AP 165, AP 177, AP 191, AP 195, AP 247. 805 Vgl. AP 169, AP 175, AP 181, AP 183, AP 185, AP 187 (drei Mal), AP 189 (drei Mal), AP 193, AP 201 (drei Mal), AP 207, AP 209, AP 211, AP 217, AP 221, AP 237, AP 239 (drei Mal), AP 247. 806 »straks«: AS 6, AS 24, AS 26, AS 28, AS 29, AS 43, AS 44 (mit der Aufforderungsformel »straks straks«), AS 46, AS 52, AS 68, AS 69, AS 83, AS 85, AS 93, AS 96 (zwei Mal), AS 99 (zwei Mal), AS 161 (drei Mal), AS 165 (zwei Mal), AS 168 (zwei Mal), AS 170, AS 172, AS 176, AS 185, AS 186, AS 190 (zwei Mal), AS 205, AS 214, AS 217, AS 218 (zwei Mal), AS 219, AS 221, AS 253 (zwei Mal), AS 254, AS 255 (zwei Mal), AS 261, AS 263, AS 266 (zwei Mal), AS 267 (zwei Mal), AS 274
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Bedeutung erhält darüber hinaus »plötzlich«, denn es markiert eine zur Gleichzeitigkeit neigende Relation zwischen Ereignissen, die zudem unvorhergesehen ist. Die funktionalen Zusammenhänge, in denen diese Wendungen gebraucht werden, knüpfen an die ältere Erzähltradition an, doch werden teils andere Akzente gesetzt: Zu den Standardsituationen gehören, wie im Apollonius, Reaktionen auf Rede und Befehle, Reisedarstellungen (wie im Ritter Galmy) und die Ausgestaltung des Liebesmotivs. Die Variation der Begriffe in diesen Passagen, die als Versatzteile teils mehrfach wiederholt werden, lässt sie (auch) als stilistische Fingerübung des Erzählers erscheinen. Die Handlungen werden gereiht, wobei für jede Handlungseinheit ein anderer Ausdruck genutzt wird, so z. B., wenn der Aufbruch Jakobs nach Ägypten erzählt wird: Straks ward alles zur reise f(rtig gemacht. Geschwinde muste sich iederman rFsten. Flugs warden die gFhter gepakt / die w(gen beladen / die esel bel(stiget. Eilend lies man die Viehheerden zusammentreiben. In der hast muste alles geschehen. Und also machte sich Jakob alsobald auf / mit allem was er hatte. […] Straks auf den morgen brach Jakob von Bersaba auf. Seine S=hne fFhreten ihn / samt ihren Kindern und Weibern / auf den w(gen / die der K=nig geschikt hatte. Alles Vieh / und alle habe / die sie in Kanaan erworben hatten / nahmen sie mit: und kahmen also in Egipten / Jakob / und sein Saame mit ihm. Judah eilete mit starken tagreisen voran / dem Josef seines Vaters ankunft zu verkFndigen. Straks setzte sich der Schaltk=nig / mit seiner Gemahlin / auf seinen wagen / und zog ins land Gessen / seinem Vater entgegen (AS 283 f., m. H.)
Vor dem Hintergrund der historischen Folie ist nicht nur auffällig, dass die Adverbien und adverbialen Phrasen variiert werden,807 sondern dass die Reise und ihre Dauer ausgespart bleiben. Die Zügigkeit der Ereignisfolge ist auf den Reisebeginn und das -ende beschränkt – die eigentliche Reise ist davon ausgenommen.808
|| (drei Mal), AS 275, AS 276, AS 283, AS 284 (zwei Mal), AS 285, AS 292 (zwei Mal), AS 294 (zwei Mal), AS 295, AS 325 (falsch paginiert als 352), AS 335 (zwei Mal), AS 336, AS 338, AS 339. »flugs«: AS 9, AS 46 (mit der Aufforderungsformel »Flugs flugs!«), AS 53 (Aufforderungsformel), AS 85, AS 148, AS 161, AS 168, AS 215, AS 218, AS 283, AS 294. »von stunden an«: AS 28, AS 45, AS 46, AS 75, AS 126, AS 261, AS 267, AS 274. »in kurtzer zeit«: AS 27, AS 57, AS 149. »nicht lange darnach«: AS 129, AS 130, AS 196. 807 Neben diesen beiden Passagen gibt es noch eine Reihe weiterer, ähnlich gebauter Erzähleinheiten, vgl. AS 161, AS 218, AS 294. 808 Bei der ersten Hin- und Rückreise der Brüder Josefs spielt die (Kürze der) Reisezeit ebenso keine Rolle, sie findet sich aber bei ihrer zweiten Reise: »Also machten sich die eilf S=hne Jakobs auf die reise / und kahmen in wenig tagen glFklich zum Memfis an.« (AS 273)
264 | Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy
Ich fasse abschließend kurz zusammen: Die gemachten Beobachtungen zur Gestaltung von Zeit im Ritter Galmy zeigen zunächst, wie die Anlage eines Motivs mit der erzählerisch-diegetischen Gestaltung von Zeit korreliert. Gelesen wurde die Spannung zwischen einer ›langen Zeit‹ und einer ›kurzen Zeit‹ als strukturelles Pendant zu Vollendung und Verzögerung der Liebe als dem Hauptmotiv des Romans (eine andere Form der Spannung zwischen Liebe und Zeit wird durch das Verhältnis zwischen Frist und Handlungsabrundung in der Asiatischen Banise gestaltet, Kap. 6). Als historisch besondere Form erscheint die ›kurze Zeit‹. Funktionale Zusammenhänge zwischen Ereignissen werden in ihrem Rahmen insofern besonders akzentuiert, als sie sich sinnhaft in der markierten unmittelbaren Aufeinanderfolge ausdrücken; narrative Einheiten erscheinen zweitens als besonders geschlossen (eine analoge narrative Makrostruktur findet man im Faustbuch, Kap. 8). In der Auseinandersetzung mit Clemens Lugowskis Konzept des mythischen Analogons habe ich gezeigt, dass die erzählerischen Phänomene der ›kurzen Zeit‹, die als Wiederholungsfigur und aufgrund ihrer funktionalen Komponente eine Schnittmenge mit dem ›mythischen Analogon‹ besitzt, nicht – wie bei Lugowski – zur Atemporalität (Zeitlosigkeit, Ewigkeit) führen, sondern eine spezifische, denn verzerrte Form der Linearität verursachen. Dieser spezifischen Art und Weise der erzählerischen Evokation galten die historischen Seitenblicke auf Georg Wickrams Werk und auf Erzähltexte des 15. und 17. Jahrhunderts. Diagnostiziert wurde einerseits ein stilistischer Wandel und andererseits eine partielle funktionale Kontinuität. Diese aufgemachte historische Reihe mit ihren Tendenzen muss – wie alle Versuche, diachrone Entwicklungen mittels mikroskopisch stilistischer Beobachtungen zu fundieren – im Spannungsfeld zwischen zwei Polen bewertet werden: zum einen einem allgemeinen historischen Stilwandel und zum anderen der stilistischen Eigenheit eines bestimmten Autors.
8 Doppelte Spannung in der Historia Von D. Johann Fausten Die Faustgeschichte gehört zu den wirkmächtigsten Narrativen der Neuzeit – Doktor Faust wird – wie Hans Joachim Kreutzer pointiert formuliert – zu einem »Schlüsselmythos der Neuzeit«.809 Am Anfang der Wandlung dieser Figur steht die 1587 bei Johann Spies in Frankfurt am Main erschienene Historia Von D. Johann Fausten, die umgehend zu einem buchhändlerischen Bestseller wurde und sich in der Folgezeit, denkt man über die Frühe Neuzeit hinaus, von ihrem ideologischen Impetus als »Negativexempel protestantischer Rechtfertigungslehre« emanzipierte.810 Noch 1587 wurde sie fünf Mal nachgedruckt, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erlebte sie insgesamt zweiundzwanzig Auflagen,811 als ›Volksbuch‹ wurde sie bis ins 19. Jahrhundert gedruckt. Bereits kurz nach ihrem Erscheinen hat man sie ergänzt, bearbeitet und übersetzt. Zu den wichtigsten deutschsprachigen Bearbeitungen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gehören Georg Rudolff Widmans 1599 in drei Teilen erschienene Warhafftige Historien,812 Johann Nikolaus Pfitzers Bearbeitung von Widmans Historien, die in Nürnberg als Das (rgerliche Leben und schreckliche Ende deß viel=berFchtigten Ertz=SchwartzkFnstlers D. Johannis Fausti 1674 erschien,813 und schließlich das
|| 809 Vgl. Hans Joachim Kreutzer: »Doktor Faust. Die Erfindung eines Schlüsselmythos der Neuzeit«. In: Programmheft der Bayerischen Staatsoper zur Premiere von Hector Berlioz ›La Damnation de Faust‹ am 11.11.1993 im Nationaltheater München, S. 72–82. 810 Jan-Dirk Müller: »Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts«. In: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.): Literatur, Artes und Philosophie. Tübingen 1992, S. 163–194, hier S. 163. 811 Vgl. Hans Henning: Beiträge zur Druckgeschichte der Faust- und Wagner-Bücher des 16. und 18. Jahrhunderts. Weimar 1963, S. 38 f. 812 Georg Rudolff Widman: Warhafftige Historien von den grewlichen vnd abschewlichen SFnden vnd Lastern / auch von vielen wunderbarlichen vnd seltzamen ebentheuern: So D. Iohannes Faustus Ein weitberuffener Schwartzkünstler vnd Ertzz(uberer / durch seine Schwartzkunst / biß an seinen erschrecklichen end hat getrieben. Mit nothwendigen Erinnerungen vnd sch=nen exempeln / menniglichem zur Lehr vnd Warnung außgestrichen vnd erklehret / Durch Georg Rudolff Widman. Gedruckt zu Hamburg / Anno 1599 (Digitalisat: VD16 F 656). 813 Johann Nikolaus Pfitzer: Das (rgerliche Leben und schreckliche Ende deß viel=berFchtigten Ertz=SchwartzkFnstlers D. Johannis Fausti, Erstlich / vor vielen Jahren / fleissig beschrieben / von Georg Rudolph Widmann; Jetzo / aufs neue Fbersehen / und so wol mit neuen Erinnerungen / als nachdencklichen Fragen und Geschichten / der heutigen b=sen Welt / zur
DOI 10.1515/9783110566857-011
266 | Doppelte Spannung in der Historia Von D. Johann Fausten
Faustbuch des »Christlich Meynenden« von 1725, das die auf mehrere hundert Seiten angewachsenen, von Reflexionen begleiteten Darstellungen von Widman und Pfitzer auf den narrativen Kern der Geschichte und damit auf wenige Seiten herunterbricht.814 Die Forschung hat sich einer ganzen Reihe von Problemen im Zusammenhang mit dem Faustbuch gewidmet: Erstens – so die Diagnose Hans-Gert Roloffs – wurde der Versuch unternommen, »die geschichtlich belegte Gestalt eines Mannes namens Johann oder Georg Faust zu fixieren«; der zweite Fokus lag auf der »Entstehung von einzelnen Geschichten über sein Auftreten«, diese galt es »zu sammeln und zu diskutieren«;815 das Augenmerk lag drittens auf der Rekonstruktion der historischen Funktion des Textes, die »Information, Unterweisung und Warnung der Zeitgenossen« umfasste;816 viertens stand die »Publikationsgeschichte« und der »Siegeszug des Stoffes durch die Weltliteratur« im Zentrum.817 Dieser Diagnose aus den späten 1980er Jahren sind mit Blick auf die neueren Publikationen zwei Aspekte hinzuzufügen: Diskutiert wurde fünftens der epistemische Gehalt (vor allem in Bezug auf die Bedeutung von curiositas und erfarung)818 und, sechstens, die ›Transformationen‹, die die Historia durchlaufen hat.819
|| Warnung / vermehret / Durch Joh. Nicolaum Pfitzerum, Med. Doct. Nebst vorangefFgtem Bericht / Conradi Wolff: Platzii / weiland der heiligen Schrifft Doctorens / von der greulichen Zauberey-SFnde; und einem Anhange / von den Lapponischen Wahrsager=Paucken / wie auch sonst etlichen zaubrischen Geschichten. Nürnberg / In Verlegung Wolfgang Moritz Endters / und Johann Andreæ Endters Sel. Erben. M. DC. LXXIV. (Digitalisat: VD17 14:072149P). 814 FB (1725) (Anm. 511). 815 Die neuere Forschung hat sich in diesem Zusammenhang u. a. der Bedeutung von Hermann Witekinds Christlich bedencken (1585) gewidmet, vgl. Frank Baron (Hrsg.): Hermann Witekinds ›Christlich bedencken‹ und die Entstehung des Faustbuchs von 1587. In Verb. mit einer kritischen Ed. des Textes von 1585 von Benedikt Sommer. Berlin 2009. 816 Eine Übersicht aus literaturdidaktischer Perspektive über die Funktionen liefert Horst Hartmann: »Zur Funktionsbestimmung des Faustbuches«. In: Der Deutschunterricht 40 (1987), S. 573–577. 817 Alle Zitate stammen von Hans-Gert Roloff: »Artes et doctrina. Struktur und Intention des Faustbuchs von 1587«. In: Klaus Matzel/Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Barbara Haupt und Hilkert Weddige. Bern u. a. 1989, S. 528–557, hier S. 531. 818 Vgl. Jan-Dirk Müller: »›Curiositas‹ und ›erfarung‹ der Welt im frühen deutschen Prosaroman«. In: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, S. 252– 271, bes. S. 259–263; Müller (Anm. 810); Marina Münkler: »›Curiositas‹ als Problem der Grenzziehung von Immanenz und Transzendenz in der ›Historia von D. Johann Fausten‹«. In: Martin Baisch/Elke Koch (Hrsg.): Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Freiburg 2010,
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Es geht mir um zweierlei, zum einen um die temporalen sowie zugleich normativen Leitsemantiken der Historia und zum anderen um die numerische Strukturierung der Handlung – oder konkret gewendet: die Bedeutung der Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit sowie die Relevanz der Fristsetzung. Beide Aspekte besitzen einen temporalen Kern, dem eine Spannung inhärent ist. Im Fall der Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit ist es eine normative Spannung, die anhand von Faustus’ Leben durchgespielt wird. Im Fall des Verhältnisses von Frist- und Episodenstruktur ist es eine Spannung zwischen einem ›geschlossenen‹ Horizont und der ›unzeitlichen‹ Episodenreihe, die in die Friststruktur eingebettet ist und die die Sukzession und Teleologie der Frist implizit unterläuft (dies gilt über die Historia hinaus auch für die Textbearbeitungen von Widman und Pfitzer, wie mein Ausblick zeigen wird). Beide Aspekte sind, das führt ein Blick auf das Titelblatt und die Vorrede der Historia vor, bereits paratextuell angelegt. In den Paratexten der Historia ist »in besonderer Prägnanz das ideologische Konzept des Faustbuchs gestaltet worden«.820 Sie enthalten, dies hat Hans-Gert Roloff in seiner ausführlichen Lektüre übersehen, in nuce zudem das temporale und damit auch das strukturelle Programm der anschließend entfalteten Geschichte. Als Rahmen der Geschichte liefern die Paratexte die Rezeptionsfolie. Vor dem Hintergrund der Leitdifferenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit wird in der Historia auf besondere Art und Weise die Frist gestaltet, die ein konstitutiver Teil von Faustus’ Pakt ist. Der ›Peritext‹,821 der hier von Interesse ist, umfasst drei Teile: das Titelblatt, Johann Spies’ Widmung des Buches an den Amtsschreiber Kaspar Kolle und den Rentmeister Hieronymus Hoff sowie die anonyme »Vorred an den Christlichen Leser« (FB [1587], 8). Der lange Titel umschreibt den Inhalt der Historia, wenn es von den Taten des Antihelden heißt: Wie er sich gegen den Teuffel auff eine benandte zeit verschrieben / Was er hierzwischen fFr seltzame Abentheuwer gesehen / selbs angerichtet vnd getrieben / biß er endtlich seinen wol verdienten Lohn empfangen. (FB [1587], Titelblatt)
|| S. 45–69. Münkler (Anm. 571), S. 228–258; Uwe Ruberg: »Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte am Beispiel des ›Faustbuchs‹ von 1587«. In: Franz M. Eybl (Hrsg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Wien 1995, S. 64–80; Classen (Anm. 574). 819 Münkler (Anm. 571). 820 Roloff (Anm. 817), S. 541. 821 Begrifflich beziehe ich mich auf Gérard Genettes einschlägige Studie: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [1987]. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001.
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Expliziert werden zunächst die Grundelemente der Handlung, an erster Stelle der Teufelspakt samt Frist und sodann die »Abentheuwer«, die dem Protagonisten widerfahren. Darüber hinaus enthält dieser kurze Handlungsabriss bereits eine normative Wertung (»wol verdiente[r] Lohn«), deren erzieherisches Moment im zweiten Textblock des Titelblattes ausgeführt wird und durch die vorgeblich herangezogenen historischen Quellen sowie das Zitat aus dem Jakobusbrief (Jak 4,7) autorisiert wird.822 Auffällig ist, dass im Rahmen dieser sehr reduzierten Inhaltsübersicht und der Hinweise zur intendierten Rezeption die Frist, also ein letztlich entbehrliches Detail, genannt wird.823 Die Frist als »benandte Zeit« fungiert aufgrund ihrer Begrenzung pars pro toto als Stellvertreter für die Zeitlichkeit, die – so auch in der Historia – immer in Kontrast zur Ewigkeit steht oder zugleich ihr Komplement bildet (Kap. 4.3.1). Diese Differenz zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit wird explizit in Johann Spies’ Widmung an Koller und Hoff betont, dort aber auf die Lebensperspektiven des Autors und der Widmungsempfänger bezogen824 und nicht auf das Schicksal des Protagonisten der Historia. In der konzis argumentierten »Vorred an den christlichen Leser«825 wiederum wird die Faust-Geschichte in einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet und auf ihren christlichprotestantischen Moralgehalt hin befragt. Im Zentrum stehen der Stellenwert von Zauberei als Sünde und – in einem allgemeineren Sinne – die Verführung des Menschen durch den Teufel sowie seine Abkehr von Gott. Gleich zu Beginn der Vorrede wird gesetzt: »Ohn allen zweiffel aber ist die Zauberey vnd SchwartzkFnstlerey die gr=ste vnnd schwereste SFnde fFr Gott vnd fFr aller Welt« (FB [1587], 8), denn damit distanziere man sich von Gott und ergebe sich
|| 822 »Mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schrifften / allen hochtragenden / fFrwitzigen vnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / vnd treuwhertziger Warnung zusammen gezogen / vnd in den Druck verfertiget.« (FB [1587], Titelblatt). 823 Dieses Detail findet sich in den Titeln der Wolfenbütteler Handschift, der zweiten Ausgabe von 1587 (Sigle: B), der zweiten Spies-Ausgabe von 1588 (A2); in den Faustbuch-Ausgaben der C-Reihe aber entfällt die Nennung der Frist größtenteils (ausgenommen sind C1 und die C3Reihe); in der in Tübingen erschienenen Versbearbeitung von 1587/88 wird die Frist zudem explizit gemacht (»wie er / sich dem Teuffel mit Leib vnd Seel, auff 24. jar / lang mit seinem eigen Blut verschrieben«, zit. nach Hennig [Anm. 811], S. 51, H. i. O.; vgl. zu den Titeln der Drucke des 16. Jahrhunderts Hennig [Anm. 811], S. 38–52). Auch in den späteren Bearbeitungen von Widman und Pfitzer entfällt dieses Detail der Titelgestaltung. 824 Das Begriffspaar ist Bestandteil der gebetshaften Wendung, dass die Freundschaft zwischen ihnen »ob Gott wil / die vbrige zeit [ihres] Lebens hie auff Erden vnnd in dem ewigen Vatterlandt w(hren vnd bestehen soll« (FB [1587], 6). 825 Zum argumentativen Aufbau der Vorrede vgl. Roloff (Anm. 820), S. 539–541.
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den »G=tzen vnd Teuffeln« (FB [1587], 8). Als Referenztexte und Beispiele dienen Belege aus dem Alten und Neuen Testament, die Verführung Evas durch die Schlage sowie eine Reihe von Zauberern aus der weltlichen Geschichte. Der Heilsschaden für denjenigen, der sich der Zauberei bedient, umfasst dabei sowohl die zeitliche Dimension als auch die Ewigkeit, wie in der Vorrede durch die mehrfach gebrauchte, formelhafte Wendung ›zeitlich und ewig‹ hervorgehoben wird. Denn, so fragt der Vorreden-Autor, »[i]st es aber nicht ein grewlicher vnd erschrecklicher Handel / daß ein vernFnfftiger Mensch« (FB [1587], 8) sich einem b=sen verfluchten LFgen[-] vnd Mordtgeist / der in der Warheit vnd Gerechtigkeit nicht bestanden / vnnd seiner SFnde halben auß dem Himmel in den Abgrund der Hellen verstossen worden / mit Leib vnnd Seel / zu zeitlicher vnnd ewiger Verdampnuß zu eygen ergeben[.] (FB [1587], 8 f., m. H.)
Die »zeitliche[ ] vnnd ewige[ ] Verdampnuß« wird damit begriffen als allumfassende, da beide Dimensionen vereinende Verdammnis. Im Anschluss an diese Passage folgt nochmals eine rhetorische Frage, die die normativ-moralischen Leitlinien akzentuiert: »Was k=nnte doch grewlichers vnd erschrecklichers von einem Menschen gesaget werden?« (FB [1587], 9). Die Zauberei gehört zu den Verführungen des Teufels, denn seine Künste gehen so weit, hier verallgemeinert der Vorreden-Autor den Fall der Zauberei, dass er nit allein Euam / sondern auch durch das Weib Adam selbst zu Fall bringt / vnd so viel an jm ist / nicht allein sie beyde / Sondern auch das gantz Menschliche Geschlecht ins zeitlich vnd ewig Verderben stFrtzet. (FB [1587], 9, m. H.)
Auch wenn sich Gott nach dem Sündenfall durch Christus und sein Opfer der Menschen erbarmt hat, dergestalt argumentiert der Autor der Vorrede weiter, »l(sset doch der Teuffel nit nach / dem Menschlichen Geschlecht nachzustellen / vnnd sie zu allen SFnden / zeitlicher vnnd ewiger Straff zu reitzen / vnnd zuverfFhren« (FB [1587], 9, m. H.). Obgleich in der Weltgeschichte die »Obrigkeit« ihrer Pflicht, Zauberer zu richten, nur selten nachgekommen ist, so wird derjenige, der »jemals Historien gelesen«, zu der Einsicht gelangen müssen, »daß doch der Teuffel selbst zum Hencker an den SchwartzkFnstlern« geworden ist (FB [1587], 10). Am Ende der aufgeführten Beispielreihe steht Johann Faustus, dem der Teufel den Halß erschrecklicher weiß vmbgedrehet. Damit ist es aber noch nicht gnug / sondern es folgt auch die ewige Straff vnnd Verdamptnuß / daß solche Teuffelsbeschwerer endtlich zu jrem Abgott dem Teuffel in Abgrund der Hellen fahren / vnd ewiglich verdampt seyn mFssen. (FB [1587], 11)
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Die Paratexte der Historia stellen also, teils beiläufig, zum einen (auf dem Titelblatt) die leitende, normativ aufgeladene Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit heraus und zum anderen die Friststruktur. Die Opposition von Zeitlichkeit und Ewigkeit wird dabei auch als normative Differenz begriffen, die sowohl für den Protagonisten der Historia als auch für die Rezipienten des Textes Geltung hat. Zwischen dem Normgefüge des Erzähltextes und demjenigen seiner Rezipienten wird Kontinuität postuliert, die gerade für Formen didaktischen bzw. exemplarischen Erzählens826 charakteristisch ist.827 Diesen beiden, bereits in den Peritexten der Historia explizit thematisierten temporalen Aspekten gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit.828 Im Faustbuch ist die zeitliche Frist zum umfassenden Gliederungsprinzip des Erzähltextes ausgebaut. Besonders interessant erscheint der Blick auf diese letztlich teleologisch ausgerichtete Handlungsführung mit ihrem ›geschlossenen‹ Horizont, da sie mit ihrer Sukzession und Irreversibilität den Permutationsmöglichkeiten der Episodenstruktur, die gleichermaßen für das Faustbuch attestiert wurde, widerspricht.829 Damit zeichnet sich auch die erzählte Welt des Faustbuchs durch eine ›inkonsistente‹ und ›heterogene‹ temporale Struktur aus, denn einerseits ist sie ›linear‹ und andererseits zugleich ›unzeitlich‹. Diese Spannung bleibt nicht folgenlos für die immer wieder diskutierte Frage nach der kompositorischen Geschlossenheit des Faustbuchs.830 || 826 ›Exemplarisches Erzählen‹ fungiert hier als ›Funktionsbegriff‹, vgl. Haug (Anm. 354), S. 264 f. 827 Relevanz erhält diese Kontinuität auch vor dem Hintergrund des Wahrheitsanspruchs, der mit der Historia verbunden ist, vgl. Münkler (Anm. 571), S. 120–124. 828 Punktuelle Ausführungen zur besonderen Temporalstruktur der Historia finden sich bei Jan-Dirk Müller: »Kommentar [Faustbuch]«. In: Ders. (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990, S. 1319–1430, bes. S. 1335 f. 829 Barbara Könneker hat in ihrer umfassenden Lektüre des Faustbuchs, in der sie es als ›literarisches Dokument‹ ernst nimmt und es »allein vom Text her zu interpretieren« versucht, gerade »die Frage nach der formalen Anlage des Volksbuches in seiner Zwischenstellung zwischen Roman und Schwanksammlung [ausgeklammert]«; hier schließe ich aber an, vgl. Barbara Könneker: »Faust-Konzeption und Teufelspakt im Volksbuch von 1587«. In: Heinz Otto Burger/Klaus von See (Hrsg.): Festschrift Gottfried Weber. Zu seinem 70. Geburtstag überreicht von Frankfurter Kollegen und Schülern. Bad Homburg u. a. 1967, S. 159–213, hier S. 164. 830 Eine grobe Übersicht der Forschungspositionen zum Problem der Kohärenz liefert Münkler (Anm. 571), S. 87 f.; vgl zudem Marina Münkler: »Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz? Zum Problem der narrativen Strukturen und Erzählformen in der ›Historia von D. Johann Fausten‹«. In: Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.): Erzählen und Episteme: Literaturgeschichte des späten 16. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger. Berlin/New York 2011, S. 91–123.
Leitdifferenz: Zeit und Ewigkeit | 271
8.1 Leitdifferenz: Zeit und Ewigkeit Der Pakt zwischen Faustus und Mephostophiles basiert auf der temporalen Zweipoligkeit des menschlichen Wesens zwischen Zeit und Ewigkeit, die zum Teil der Differenz zwischen Körper und Seele entspricht. Faustus verdreht das etablierte Normgefüge, indem die Zeit von ihm über die Ewigkeit gestellt und somit der Körper der Seele vorgezogen wird. Körper und Seele sind seines Erachtens gleichermaßen sterblich;831 Faustus ist ein reiner »Weltmensch« (FB [1587], 15). Dessen ist er sich in Momenten der – letztlich jedoch unaufrichtigen – Reue, so weiß der Erzähler zu berichten, wohl bewusst: Doctor Faustus hatte wol jmmerdar eine Rew im Hertzen / vnd ein Bedencken / was er sich doch geziegen hette / daß er sich seiner Seelen Seligkeit begeben / vnd dem Teuffel also vmb das Zeitliche zu eigen verlobt hatt […]. (FB [1587], 36)
Während Mephostophiles in der Zeit Faustus dient, gehört Faustus jenseits der Zeit, also in der Ewigkeit, dem Teufel. Im zweiten Gespräch mit Mephostophiles, in dem Faustus seinen Forderungskatalog formuliert, verlangt er im vierten von sechs Punkten, dass sich der Geist »allezeit / so offt er jn forderte vnd beruffte / in seinem Hauß solte finden lassen« (FB [1587], 20). Mephostophiles geht auf die Forderungen Faustus’ ein, indem er selbst fünf Bedingungen stellt, unter denen er sich in Faustus’ Dienst begeben will. Am Ende seines Katalogs steht die Frist: »Hingegen w=lle der Geist jhme / Fausto / etliche Jahr zum Ziel setzen / wann solche verloffen / soll er von jhme geholt werden« (FB [1587], 21). Jene hier noch nicht genauer bestimmte Frist von Mephostophiles’ Dienst, an deren Ende Faustus Mephostophiles dienen muss, wird in der schriftlichen Form des Paktes auf eine festgesetzte Dauer terminiert. Dort verspricht Faust: Dagegen aber ich mich hinwider gegen jhme verspriche vnd verlobe / daß so 24. Jahr / von Dato diß Brieffs an / herumb vnd fFrvber gelauffen / er mit mir nach seiner Art vnd weiß / seines Gefallens / zuschalten / walten / regieren / fFhren / gut macht haben solle / mit allem / es sey Leib / Seel / Fleisch / Blut vnd gut / vnd das in sein Ewigkeit. (FB [1587], 23)
Das sich an die schriftliche Wiedergabe des Pakttextes anschließende siebte Kapitel umfasst, wie Roloff sie bezeichnet, drei ›Epigramme‹ »[w]ider D. Fausti
|| 831 So heißt es über die Zeit nach dem Paktschluss: »Doctor Faustus lebt also im Epicurischen Leben Tag vnd Nacht / glaubet nit daß ein GOTT / Hell oder Teuffel were / vermeinet Leib vnd Seele stFrbe miteinander« (FB [1587], 27). In Faustus’ beiden Verschreibungen an den Teufel sind aber Leib und Seele begriffen und fungieren als Ausdruck für die Ganzheit, mit der sich Faustus dem Teufel verpflichtet, vgl. FB (1587) 23; FB (1587) 104; FB (1587) 113; FB (1587) 120.
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Verstockung« (FB [1587], 23). Der zweite dieser Verssprüche, der die Überschrift des 43. Kapitels aus Sebastian Brants Narrenschiff (1494) variiert,832 deutet Faustus’ Fehlverhalten als ein falsches Gewichten von Zeitlichkeit und Ewigkeit, sodass dort nochmals die normativen Implikationen dieser Opposition durchscheinen (in diesem Sinne ist der Vers im Hinblick auf den Plot ›überflüssig‹, besitzt aber, wie Hans-Gert Roloff postuliert,833 »poetologisch[e]« sowie, so muss man ergänzen, axiologische Relevanz). Wer allein das Zeitlich betracht / Vnd auff das Ewig hat kein acht / Ergibt sich dem Teuffel Tag vnd Nacht / Der hab auff seine Seel wol acht. (FB [1587], 23)
Die Verse formulieren Faustus’ Verfehlung in temporalen Relationen. Welche negativen Folgen diese falsche Gewichtung hat, erläutert Mephostophiles, indem er immer wieder die ewigen Strafen der Hölle schildert. Dabei greift er unter anderem auf ein seit Heinrich Seuse bekanntes Bild zurück,834 das anschaulich die Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit vorführt: Darumb soltu / mein Herr Fauste wissen / daß die Verdampten auff kein Ziel oder Zeit zuhoffen haben / darinnen sie auß dieser Quaal erl=ßt werden m=chten / Ja wann sie nur eine solche Hoffnung haben k=ndten / daß sie t(glich nur ein Tropffen Wasser auß dem Meer herauß sch=pffen / biß das Meer gar trucken wFrde / Oder da[ß] ein Sandhauff so groß were biß an Himmel / vnd ein V=gelein alle Jahr nur ein K=rnlein einer Bonen groß darvon hinweg trFge / daß alsdann nach verzehrung desselbigen / sie erl=ßt werden m=chten / so wFrden sie sich dessen erfreuwen. (FB [1587], 41)
Die in die Metapher gekleidete Einsicht lautet: So lang man sich die Zeit auch vorstellt, sie kommt doch nicht an die Ewigkeit heran (Nieremberg argumentiert später, wie ich bereits gezeigt habe, ähnlich bildhaft in seiner Waagschale der
|| 832 Vgl. Stephan Füssel/Hans Joachim Kreutzer: »Erläuterungen«, S. 189 und »Quellentexte«, S. 222. Im Narrenschiff gilt das Kapitel der »verachtung ewiger freyt«. Das Fazit, das das normative Gefüge mithilfe räumlicher Relationen und der Kontrastierung von Augenblick/Zeit und Ewigkeit expliziert, lautet: »Eyn ougenblick / all freüd hie sint // Dort ewig freüd vnd pyn man findt«, Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494. Hrsg. von Joachim Knape. Stuttgart 2005, S. 248 f. 833 Vgl. Roloff (Anm. 817), S. 546. 834 Zur literarischen Tradition des Bildes vgl. Reinhold Köhler: »Ein Bild der Ewigkeit« [1863]. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 2: Zur erzählenden Dichtung des Mittelalters. Hrsg. von Johannes Bolte. Berlin 1900, S. 37–47. Der entsprechende Textauszug aus Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit ist abgedruckt bei Füssel und Kreutzer in den »Quellentexten«, S. 228.
Spannung zwischen Frist und Episode | 273
Zeit und Ewigkeit, vgl. Kap. 4.3.1). Die ewigen Qualen der Verdammten kennen also kein Ende (»kein Ziel oder Zeit«835), sodass die Verdammten hoffnungslos bleiben müssen. In Mephostophiles’ Schilderungen ist vor allem die ewige Verdammnis836 und Faustus’ Verlust der »ewigen Seligkeit« (FB [1587], 43) präsent und diese sind es auch, die mehrfach Faustus’ Reue und Melancholie hervorrufen. Die Differenz zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit spielt vor allem in den diskursiven und reflexiven Passagen der Historia eine Rolle, während der handlungsintensiven Abenteuer des Protagonisten tritt sie in den Hintergrund. Erst in Faustus’ Wehklagen kurz vor dem Tod werden die Konzepte wieder aktualisiert, wenn er ausruft: »Ach du ewige Verdampnuß / so du vom Zorn Gottes also inflammiert / von Fewer vnd Hitze bist / so keines schFrens in ewigkeit bedarff« (FB [1587], 117). Im normative Regeln wiederholenden und festsetzenden Epilog wird der ewigen Verdammnis, durch die Faustus für sein Vergehen bestraft wird, das Ziel gegenübergestellt, »mit Christo endtlich ewig selig zu werden« (FB [1587], 124). Die Ewigkeit ist Verhandlungsgegenstand. Im Gegensatz dazu wird jenseits der Doppelformel von Zeit und Ewigkeit die zeitliche Dimension nicht mittels des telling thematisiert, sondern vorwiegend durch die erzählten Ereignisse im Modus des showing präsentiert. So erscheinen Faustus’ sexuelle Abenteuer in seiner Klage explizit als »zeitlicher Wollust« (FB [1587], 114). Die vereinbarte Frist samt allen Diensten, die Mephostophiles erbringen muss, wird zum Stellvertreter dieses sündhaften Programms. Diese Frist fungiert aber nicht nur als normativ aufgeladener, motivischer Gegenpart zur Ewigkeit nach dem Tod, sondern zudem als gültiger kompositorischer, teils sogar symbolischer Rahmen für die gesamte Handlung. Aufgrund der ihr eingeschriebenen Teleologie lässt sie die Handlung ›linear‹ und ›geschlossen‹ erscheinen. Damit steht diese zeitliche Gerichtetheit in Widerspruch zur ›unzeitlichen‹ Episodenreihe.
8.2 Spannung zwischen Frist und Episode Faustus’ Frist beträgt gemäß dem Vertrag vierundzwanzig Jahre, diese werden im Laufe der Historia mehrfach als zeitliche Orientierungshilfen aufgerufen und fungieren, besonders in den Schlusskapiteln, als »Fixpunkte, die in immer ra-
|| 835 Auffällig ist hier die Analogisierung von Zeitlichkeit und Teleologie, die gerade auch die Friststruktur auszeichnet. 836 Vgl. FB (1587) 32 f.; FB (1587) 37–42;
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scherem Stakkato den nahen Untergang [des Helden, L. W.] anzeigen«.837 Die Frist bildet das eigentliche temporale Gerüst der Handlung, da in der Erstausgabe der Historia Altersangaben zur Figur838 und explizite kalendarische Daten839 als historische Referenzpunkte fehlen (die Zeitpunkte bleiben sehr ›konkret‹). Zugleich besitzt die Frist in der Historia eine zweifache symbolische Dimension. Die vierundzwanzig Jahre fungieren als ›Kontrafaktur‹ ihrer christlichen Deutung.840 In der christlichen Tradition verweist die Vierundzwanzig aufgrund ihrer Analogie zum Tagesrhythmus auf die »Erleuchtung der Gläubigen bzw. des Erdkreises durch Christus oder den Glauben«,841 wie Peter Philipp Riedl im Rückgriff auf die Arbeiten von Heinz Meyer und Rudolf Suntrup argumentiert. In der Historia ist sie jedoch der Rahmen von Faustus’ Verstockung und seiner Verzweiflung – als seinen Hauptvergehen –,842 sodass sich die »Anti-
|| 837 Müller (Anm. 828), S. 1336. 838 Das Alter des Protagonisten wird an keiner Stelle im Faustbuch thematisiert. In der Ausgabe von 1589 (Sigle: C2a) werden eine Reihe von Verbesserungen und Ergänzungen vorgenommen, zu diesen zählt auch die historische Verankerung der Figur: Faustus soll 1491 geboren worden sein, vgl. zu den Besonderheiten der Ausgabe: Peter Philipp Riedl: »Nützliches Erschrecken. Die ältesten Versionen der Faust-Historia und das Verhältnis von prodesse und delectare in der Literatur der Frühen Neuzeit«. In: Daphnis 32 (2003), S. 523–557, hier S. 532. 839 Datierungen stehen, wie im Fall jener Angaben, die im Zusammenhang mit Faustus’ Weltreisen gemacht werden, in keinem direkten Zusammenhang mit der erzählten Handlung (vgl. FB [1587], 65; FB [1587], 66) oder sie erfolgen indirekt durch die Nennung historischer Personen wie Karl V. (FB [1587], 77 f.). Durch den Bezug auf Karl V., so Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, »wird die Erzählung geschichtlich erst nach 1519 denkbar« (Stephan Füssel/Hans Joachim Kreutzer: »Anhang«. In: Dies. [Hrsg.]: Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Stuttgart 2006, S. 165–352, hier S. 201); auf dieses Datum verweist auch eine Marginalie zum »TFrckischen Keyser« Soleiman II. aus Faustus’ Weltreise, der »Anno 1519. ins Regiment« gekommen ist (FB [1587], 68). Bezeichnend ist die Tatsache, dass explizite kalendarische Datierungen fehlen, dies ändert sich in den Bearbeitungen von Widman und Pfitzer, ohne dass aber dadurch das Zeitgerüst der Handlung an Kohärenz und Konsistenz gewinnen würde (vgl. dazu die Schlussbemerkungen). 840 Zur kompositorischen Relevanz der Kontrafaktur für die Historia vgl. Münkler (Anm. 571), S. 142–146. Münkler betont, dass es »sinnvoller und terminologisch präziser [ist], nicht von einer Antilegende, sondern von einer Legendenkontrafaktur zu sprechen, in der einzelne paradigmatische Elemente unterschiedlicher Legenden übernommen und mit anderen Bedeutungen versehen werden« (S. 144). 841 Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: »24«. In: Dies.: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 679–684, hier Sp. 680. 842 Gerade diese Vergehen sind es, die eine Konversion des Helden verunmöglichen. Wenn sich Faustus bekehren würde, so könnte er auf die Gnade Gottes hoffen, so argumentiert der alte Arzt (vgl. Kap. 52, FB [1587], 101–103).
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Legende«, als die die Historia teils angelegt ist, »auch in der kontrafaktorischen Verwendung der Zahlensymbolik [widerspiegelt]«.843 Zugleich, und darin liegt ihre zweite symbolische Dimension, fungiert sie im Sinne eines pars pro toto als »Zeichen der universitas von Personen und Sachen«.844 Im epistemischen Zweifel, der die Ereignisse und Erfahrungen der 24 Jahre jedoch durchzieht, wird diese universitas als leer enthüllt.845 Ausgestaltet wird diese vierundzwanzigjährige Frist in einer – für die christliche Tradition ungewöhnlichen846 – triadischen Struktur, die im Text durch die Angabe von Zeitabschnitten markiert ist:847 Die ersten acht Jahre gelten vor allem dem theoretischen Wissen über den Aufbau der Welt sowie die himmlischen und höllischen Ordnungen; die Handlung ist dabei vornehmlich in einem begrenzten Raum situiert. Sie spielt im Umkreis von Faustus’ Wohnort Wittenberg und in seinen Wohnräumen. Die Befriedigung von Faustus’ sexueller Lust, die während der acht Jahre vereinzelt angesprochen wird, bildet innerhalb der diskursiven Aneignung der Welt eine Ausnahme, sie steht im Hintergrund.848 In den zweiten acht Jahren geht es – im Kontrast dazu – um das Erfahren des Unbekannten und nicht um dessen epistemische Aneignung; der räumliche Aktionsradius wird erweitert, denn Faustus durchreist die Welt. Dabei werden freilich Wissen und Erfahrung als pseudo-Erkenntnisse enthüllt. Die zweiten acht Jahre werden extrem gerafft. Im Vergleich mit dem dritten Teil wirken die ersten || 843 Riedl (Anm. 838), S. 537. Im Folgenden versuche ich die Überlegungen von Riedl weiterzudenken. 844 Meyer/Suntrup (Anm. 841), Sp. 681. 845 Vgl. Müller (Anm. 810). 846 Vgl. Meyer/Suntrup (Anm. 841), Sp. 680. 847 Auch Walter Heise und Hans-Gert Roloff unterteilen die Historia in eine triadische Struktur. Bereits in den 1950er Jahren konstatiert Heise: »Der erste Teil der Historia widmet sich ausschließlich der Idee, die in gedanklichen Spekulationen oder Dialogen ausgetragen wird. […] Der zweite Teil steht daher unter dem Zeichen der faustigen [sic!] Lust. Astrologie und Magie, sinnlicher Einblick in Himmel, Hölle und Welt kennzeichnen den Weg des Helden und des Verfassers. […] Es muß noch anschaulicher, noch greifbarer werden, um die letzte Lust zu stillen, Essen und Trinken, Frauen und Geld, Lachen und Staunen muß der Teufelspakt einbringen, wenn er etwas wert sein soll. Das ist der dritte Teil, das Schwankbuch« (Walter Heise: Die deutschen Volksromane vom Fortunatus bis zum Simplicissimus in ihrer poetischen Struktur. Diss. Göttingen 1952, S. 99). Nur punktuell unterscheidet sich davon Roloffs Gliederung, wenn er ausführt: »Der Autor breitet in drei Erzählteilen das Panorama der Geschichte aus: Narratio I, der Erste Teil [sic!], berichtet über Fausts Herkommen, sein Werben um den Teufel und den Beginn des Teufelswegs. Narratio II, der zweite Teil, gibt einen Überblick über Fausts Welterschließung nach Zeit und Raum, und der dritte Teil, Narratio III, berichtet über Fausts Tätigkeiten in der irdischen Welt« (Roloff [Anm. 817], S. 542). 848 Vgl. FB (1587) 29; FB (1587) 42.
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beiden Teile thematisch besonders stimmig. Die letzten acht Jahre folgen keinem eindeutigen thematischen Programm. Diese triadische Struktur, die in der Chronologie der Historia angelegt ist, deckt sich dabei nicht mit der paratextuellen, ebenso triadischen Gliederung des Textes.849 Die Dreiergliederung mit ihren thematischen Schwerpunkten und ihrer symbolischen numerischen Struktur sei kurz erläutert. Nach Ablauf der ersten acht Jahre werden ihr thematischer Schwerpunkt sowie die seit dem Pakt vergangene Zeit explizit gemacht, so heißt es bezeichnenderweise zu Beginn des 24. (!) Kapitels:850 Doct. Faustus war auff das achte Jar kommen / vnd erstrecket sich also sein Ziel von Tag zu Tag / war auch die zeit deß meisten theils mit Forschen / Lernen / Fragen vnd Disputiern vmbgangen. (FB [1587], 52)
Den ersten Versuch der Aneignung der Welt stellt die theoretisch-diskursive Auseinandersetzung mit ihr dar, die die Zeit bis ins achte Jahr des Paktes umfasst. Die Acht als Gliederungseinheit bildet den dritten Teil von 24 und fügt sich so in die übergeordnete temporale Kompositionsstruktur. Wie die vierundzwanzig Jahre wird sie kontrafaktisch gebraucht, denn im Gegensatz zu ihrer christlichen Assoziation mit der Auferstehung und Herrlichkeit Christi »verheißt [sie] Faust keine zukünftige Glückseligkeit, sondern ewige Verdammnis«.851 Abgelöst wird die theoretische Aneignung der Welt durch den Versuch ihres sinnlichen Erfahrens (zum Beispiel durch das ›Sehen‹). Die sich anschließende Phase beginnt programmatisch mit Faustus’ Wunsch, die Hölle zu sehen, und nicht etwa damit, Wissen über sie zu erlangen. Deshalb wendet er sich an Mephostophiles mit der Aufforderung:
|| 849 Der erste Teil (Kap. 1 bis 17) ist titellos, der zweite erzählt von Faustus’ »Abenthewren« und seinen »Fragen« (Kap. 18 bis 32), der dritte Teil gilt einerseits »D. Fausti Abenthewer[n] / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten H=fen gethan vnd gewircket« und andererseits »seinem j(mmerlichen erschrecklichen End vnnd Abschiedt« (FB [1587], 77; Kap. 33 bis 68); innerhalb des dritten Kapitels wird das letzte Lebensjahr Faustus’ nochmals durch eine Zwischenüberschrift abgetrennt (FB [1587], 111). Demgegenüber werden die ersten acht Jahre in Kap. 24 (vgl. hierzu Riedl [Anm. 838], S. 537), die zweiten in Kap. 26 markiert. Zur Gliederung vgl. auch Könneker (Anm. 829), S. 171 f., die aber von einer Vierergliederung ausgeht, da sie den zweiten Teil des dritten Kapitels als eigenständig begreift. 850 So spekulieren Füssel und Kreutzer, dass »der erste Hinweis auf die gesetzte Frist […] wohl mit Absicht in Kap. 24 [erfolgt]« (Füssel/Kreutzer, Erläuterungen, S. 196). 851 Riedl (Anm. 838), S. 537; Vgl. Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: »Acht«. In: Dies.: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 565–580.
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Ob er nicht verm=chte / daß jhn [also Faustus, L. W.] ein Geist in die Hell hineyn fFhrete vnd wider herauß / daß er der Hellen Qualitet / Fundament vnd Eygenschafft / auch Substantz m=chte sehen / vnd abnemmen. (FB [1587], 52)
Es schließen sich die vermeintliche Reise in die Hölle, die sich aber als Täuschung herausstellt,852 die achttätige Reise zu den Gestirnen, schließlich eine fünfundzwanzigtägige Weltreise mit Mephostophiles an, der sich »zu einem Pferde verkehret vnnd ver(nderte« und »flFgel wie ein Dromedari« hatte (FB [1587], 60).853 Nach der Weltreise mit Mephostophiles unternimmt Faustus eine erneute, deutlich längere Reise, da er während der ersten Reise »nit viel sehen kondte / darzu er Lust hette« (FB [1587], 60). Temporal verortet wird der Beginn der kurzen Weltreise im sechzehnten Jahr des Paktes: Doct. Faustus nimpt jm im 16. jar ein Reyß oder Pilgramfahrt fFr / vnd befihlt also seinem Geist Mephostophili / daß er jn / wohin er begerte / leyte vnd fFhre. (FB [1587], 60)
Die Erfahrung der Reise wird wiederholt und gesteigert, der zeitliche Umfang wird dabei von 25 Tagen auf eineinhalb Jahre erweitert. Die zweite Fristmarkierung erfolgt also strukturanalog zur ersten nach weiteren acht Jahren, ist aber insofern potenziert, als es nicht mehr um die epistemische Aneignung der Welt geht, sondern um ihre empirische. Die numerische Symbolik dieser Fristmarkierung basiert auf der Verdoppelung; mit der Sechzehn wird jedoch kein neuer numerisch-symbolischer Gehalt erschlossen.854 Der dritte Teil vom sechzehnten bis zum vierundzwanzigsten Jahr lässt sich schwerlich unter ein thematisches Programm stellen. Faustus besucht im Rahmen der zweiten Reise in anderthalb Jahren (vgl. FB [1587], 70) eine ganze Reihe von Städten und Ländern. Es folgen einige Fragen zu naturkundlichen Phänomenen (Kometen, Sternen, Donner), bevor dann mit der Episode um Karl V. die Reihe der schwankhaften Abenteuer beginnt, an deren Ende Faustus’ zweite Paktbekundung steht. Diese Wiederholung der Vereinbarungen zwischen Faustus und Mephostophiles ist ins 17. Jahr datiert:
|| 852 So leitet der Erzähler die Episode mit deutlichen Worten ein: »Nu h=ret / wie jn der Teuffel verblendet / vnnd ein Affenspiel macht / daß er nit anders gemeinet / denn er seye in der Helle gewest« (FB [1587], 52). 853 In dieser Gestalt fungiert er als »Figur der superbia« (Müller [Anm. 810], S. 181). 854 Das symbolische Potenzial der Sechzehn ist niedrig, denn »der Umfang der zu behandelnden Schriftstellen [ist] zu gering, als daß die Zahl und ihre Signifikanz hätte populär werden können« (Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: »16«. In: Dies.: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 659–661, hier Sp. 659).
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Jch D. Faustus bekenne mit meiner eygen Handt vnd Blut / daß ich diß mein erst Jnstrument vnnd Verschreibung biß in die 17. jar / steiff vnd fest gehalten habe / Gott vnd allen Menschen feindt gewest / hiemit setz ich hindan Leib vnd Seel / vnd vbergib diß dem m(chtigen Gott Lucifero / daß so auch das 7. jar nach Dato diß verloffen ist / er mit mir zu schalten vnd zu walten habe. (FB [1587], 104)
Die zweite Paktbekundung erfolgt im Anschluss an das Gespräch mit dem alten Arzt (Kap. 52), der Faustus zur Bekehrung und zum Vertrauen auf Gottes Gnade aufruft, wenn er betont: »wolan mein Herr / es ist noch nichts versaumpt / wenn jr allein wider vmbkehret / bey Gott vmb Gnad vnd verzeihung ansuchet« (FB [1587], 102). Dieser thematische Fokus wird in der zeitlich-symbolischen Positionierung des zweiten Paktes fortgeführt: Die Siebzehn als Summe von ›Gesetz‹ (Dekalog) und den Sieben Gaben des Heiligen Geistes steht für das »Verhältnis von Gesetz und Gnade«,855 also gerade für jene Aspekte, die der alte Arzt als Argumente angeführt hat. Die Sieben wird dabei wiederholt, sie ist erstens Teilmenge der Siebzehn und zweitens zugleich die Differenz zwischen der verflossenen Zeit und dem Fristrahmen von vierundzwanzig Jahren. Damit wird auch die zweite Verschreibung an den Teufel im 17. Jahr zur Kontrafaktur der Heilshoffnung. Sie ist lesbar als Absage an die zehn Gebote und, dies ist für die Frage des Heils noch wichtiger, an den Glauben an die Gnade Gottes. Mit Faustus’ zweiter Verschreibung nimmt die Frequenz der Fristreferenzen zu. Sie finden sich vor allem als Kapitelüberschriften (eine Technik, die später bei Widman und Pfitzer aufgegeben wird). Das 54. Kapitel erzählt »[v]on zwo Personen / so D. Faustus zusamen kuppelt / in seinem 17. verloffenen Jahre« (FB [1587], 105), das 55. Kapitel »[v]on mannicherley Gew(chß / so Faustus im Winter / vmb den Christag in seinem Garten hatte / in seinem 19. Jar« (FB [1587], 106), es folgt eine weitere Episode aus dem 19. Jahr (Kap. 56), das 57. Kapitel gilt »Doct. Fausti Bullschafften in seinem 19. vnd 20. Jahre«, das anschließende Kapitel handelt »[v]on einem Schatz / so D. Faustus gefunden in seinem 22. verlauffenen Jar« (FB [1587]. 109). »[I]n seinem letzten Jahre«, d. h. »in seinem 23.
|| 855 Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: »17«. In: Dies.: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 661–664, hier Sp. 662. Im 57. Kapitel der Historia ist die kulturgeschichtlich hochgradig aufgeladene Sieben, deren »Bedeutungsspektrum […] in seinem Umfang von keiner anderen Zahl übertroffen« wird (Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: »7«. In: Dies.: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 479–565, hier Sp. 481), explizit verknüpft mit einem »S(uwisch vnnd Epicurisch leben«, das sich vor allem im sexuellen Exzess niederschlägt: Faustus »berFfft jm siben Teuffelische Succubas / die er alle beschlieffe / vnd eine anders denn die ander gestalt war / auch so trefflich sch=n / daß nicht davor zusagen. Dann er fuhr inn viel K=nigreich mit seinem Geist / darmit er alle Weibsbilder sehen m=chte / deren er 7. zuwegen brachte […]« (FB [1587], 109).
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verloffenen Jar« (FB [1587], 110), zeugt Faustus mit der Imagination von Helena einen Sohn, den er Iustus Faustus nennt. Innerhalb des 24. Jahres wird die Frist mit Monats- und Tagesangaben nochmals gestaffelt: Erzählt wird, dass Faustus »diese zeit hero biß in diß 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung« (FB [1587], 111) Christoph Wagner aufgezogen hatte und dieser Faustus gleichsam zu einem Sohn geworden war, der ihm auch im Teufelsbund nachfolgt (mit den immer wieder eingesprengten Hinweisen zu Wagner856 bereitet das Faustbuch dankbare Anknüpfungspunkte für das 1593 erschienene Wagnerbuch vor, vgl. Beispiellektüre 16). »Als sich nu die zeit mit D. Fausto enden wolte« (FB [1587], 111), so heißt es recht unbestimmt, setzt er sein Testament auf. In den Wehklagen und Reden des Faustus rückt das herannahende Ende als solches immer näher. Zunächst ist es ein Monat, dann soll es »auff die ander Nacht« folgen und schließlich »diese Nacht«. Die Frist wird dabei zunächst mit dem Bild des Stundenglases verglichen: Dem Fausto lieff die Stunde herbey / wie ein Stundglaß / hatte nur noch einen Monat fFr sich / darinnen sein 24. Jar zum ende lieffen / in welchen er sich dem Teuffel ergeben hatte / mit Leib vnd Seel (FB [1587], 113).
Das 67. Kapitel, das »von D. Fausti greuwlichem vnd erschrecklichem Ende« erzählt (FB [1587], 118), beginnt mit einem erneuten Bezug auf die Frist: Die 24. Jar deß Doctor Fausti waren erschienen / vnd eben in solcher Wochen erschiene jhm der Geist / vberantwort jhme seinen Brieff oder Verschreibung / zeigt jm darneben an / daß der Teuffel auff die ander Nacht seinen Leib holen werde (FB [1587], 118).
Faustus »klagte vnnd weynete die gantze Nacht« (FB [1587], 118), lässt aber am kommenden Tag seine Schüler zusammenkommen und will mit ihnen ein letztes Mal speisen. Die Frist erscheint in Faustus’ Rede an die Studenten nochmals verkürzt: Nu sind solche Jar biß auff diese Nacht zum Ende gelauffen / vnd stehet mir das Stundtglaß vor den Augen / daß ich gewertig seyn muß / wann es außl(ufft / vnd er mich diese Nacht holen wirt (FB [1587], 120).
|| 856 Vgl. zum Beispiel folgende Wagner-Hinweise: FB [1587], 26; FB [1587], 29; FB [1587], 91; FB [1587], 94; FB [1587], 111–113.
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Und in dieser Nacht wird die Verschreibung eingelöst: »Es geschahe aber zwischen zw=lff vnd ein Vhr in der Nacht« (FB [1587], 122),857 dass Faustus effektvoll geholt wird. Die Frist bildet also – so lässt sich als Zwischenfazit festhalten – einerseits das temporale Gerüst für die Handlung und fungiert zugleich als Kontrafaktur christlicher Zahlensymbolik, die sich konzeptuell in die didaktische Stoßrichtung des Textes als »Negativexempel protestantischer Rechtfertigungslehre« fügt.858 In ihrer symbolischen Struktur geht die numerische Komposition der Historia über diejenige der Sieben weisen Meister, der Magelone oder des Brissonetus hinaus: Die Angaben sind bedeutungstragend und nicht allein ein formales Element, das wiederholt wird und sich in dieser Wiederholungsstruktur als poetischem Verfahren erschöpft. Jene der Frist eingeschriebene Sukzession wird durch die Dominanz des ordo naturalis und die Nummerierung der Kapitel im Register verstärkt.859 Damit ist aber nur der eine charakteristische Pol der erzählten Zeit der Historia beschrieben. Für die Frage nach der der Historia inhärenten temporalen Spannung ist nämlich das Verhältnis dieser teleologischen und ›geschlossenen‹ Makrostruktur zur ›unzeitlichen‹ sowie potenziell ›offenen‹ Episodenhaftigkeit des Textes relevant. Diese bildet gleichsam das strukturelle Gegenkonzept. Aufgrund der narrativ offenen Struktur der Historia wurden noch im 16. Jahrhundert in Folgedrucken einzelne Kapitel und ganze Kapitelfolgen ergänzt. So kommen bereits in der zweiten Auflage von 1587 (B) einige Kapitel hinzu, in der Ausgabe von 1589 (C2a) wird dann die sogenannte ›Erfurter Reihe‹ ergänzt.860 Dies war insofern möglich, als die teilweise Episodenhaftigkeit des Textes die Gelegenheit bot, an bestimmten Stellen die Reihe der Episoden beliebig zu erweitern. Die episodische Struktur der Historia wird zum einen an den teils in sich abgeschlossenen narrativen Einheiten der Kapitel deutlich und zum anderen an fehlerhaften Übergängen zwischen den Kapiteln sowie der Möglich-
|| 857 Beelzebub, der Faustus durch die Hölle führen soll, kündigt sich ebenso für »Mitternacht« an (FB [1587], 52). Dass Mitternacht ein besonderer Zeitpunkt der Handlung ist, deutet sich auch in anderen Episoden an (vgl. zum Beispiel FB [1587], 63, 83, 110). Deshalb – und mit Blick auf die abergläubische Tradition – ist es nicht verwunderlich, dass Widman und Pfitzer die Waldbeschwörung des Teufels auf Mitternacht legen (vgl. FB [1599], I 30 [falsch panginiert mit 29]; FB [1674] 43), wenn sie auch in der Historia »zwischen 9. vnnd 10. Vhrn« stattfindet. 858 Müller (Anm. 810), S. 163. 859 Bereits in der Widmung wird der ordo naturalis in seiner Funktion für historiographisches Erzählen als Zielformat stark gemacht, vgl. FB [1587], 5, Müller, Kommentar, S. 1363. 860 Ergänzt wird die Kapitelfolge 53 bis 58 sowie die Kapitel 65 bis 66, vgl. FB [1587], 141–148 und 152–163, vgl. Riedl (Anm. 839).
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keit, ihre Reihenfolge zu verändern (wie dies später von Widman und Pfitzer auch getan wurde). Die teils episodische Struktur des sogenannten ›Schwankteils‹ der Historia wurde von der Forschung mehrfach attestiert.861 Wie Barbara Könneker argumentiert, so ähneln sich in »Stil, Anlage und Aufbau« die Teile I und IV der Historia sowie die Teile II und III.862 Der erste Teil umfasst dabei die Kapitel 1 bis 17, der zweite die Kapitel 18 bis 32, der dritte Teil die Kapitel 33 bis 68, wobei die Kapitel 60 bis 68 nochmals durch eine Zwischenüberschrift abgesetzt sind (diese Kapitel bilden in Könnekers Argumentation den IV. Teil). Die Teile II und III »bestehen«, wie sie ausführt, im wesentlichen nur aus einer lockeren Aneinanderreihung von Einzelepisoden, die unter sich keinerlei erkennbaren Zusammenhang besitzen und hinter deren willkürlicher Aufeinanderfolge offensichtlich kein bestimmtes künstlerisches Gestaltungsprinzip steht.863
Wie sie betont, »ist die Reihenfolge der Begebenheiten, die in diesem längsten Handlungsabschnitt erzählt werden, beliebig vertauschbar«, auch wenn es durchaus punktuell Versuche des Erzählers gibt, »die einzelnen Kapitel miteinander zu verknüpfen«.864 Inwiefern das Urteil Könnekers Recht beanspruchen kann, sei mittels eines Blicks auf die Art und Weise, wie die Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln und Handlungssegmenten erzählt sind, gezeigt.865 Die entscheidende Frage lautet dabei, ob die Übergänge zeitlich und/oder kausal (und damit implizit temporal) gestaltet sind und somit mit der vorgegebenen Friststruktur des Romans korrelieren.866 Dort, wo solche Verbindungen fehlen, bilden die Episoden eine ›unzeitliche Reihe‹, wie ich sie bereits anhand des Dil Ulenspiegel beschrieben habe (Beispiellektüre 2).
|| 861 Vgl. z. B. Münkler (Anm. 571), S. 114–119, dort finden sich Verweise auf die ältere Forschung. 862 Könneker (Anm. 829), S. 172. 863 Könneker (Anm. 829), S. 172. 864 Könneker (Anm. 829), S. 172. Eine ähnliche Einschätzung liefert auch Münkler, wenn sie im Hinblick auf den dritten Teil der Historia feststellt: »Die Kontingenz und die Abundanz solcher Ereignisse führen dazu, dass sich die Reihenfolge eines Teils der Kapitel ändern ließe, ohne dass dies die narrative Logik der Erzählung stören würde« (Münkler [Anm. 571], S. 98). 865 Marina Münkler orientiert sich in ihrer Analyse der Zeitstruktur an Genettes Begriffsinstrumentarium und kann so die erzählerische Dynamik erfassen, die durch den Wechsel zwischen stark gerafften und szenisch erzählten Ereignissen entsteht. Mit einer solchen Lektüre fällt aber die symbolische Aufladung der numerischen Struktur sowie die Spannung zwischen Frist und Episode unter den Tisch, vgl. Münkler (Anm. 571), S. 90–97. 866 Vgl. Münkler (Anm. 571), S. 98.
282 | Doppelte Spannung in der Historia Von D. Johann Fausten
Als Konnektoren zwischen den Kapiteln, die zugleich häufig selbstständige Episoden enthalten, fungieren unter anderem kausal-zeitliche Relationierungen und Rückbezüge auf Ereignisse und Umstände, die bereits erzählt wurden. Im ersten Fall liegt die Betonung auf der Handlungssukzession im zweiten Fall auf der Sukzession des narrativen Diskurses, also des Erzählakts. Der zweite Fall verweist zwar auf die Aufeinanderfolge des Erzählens, aber impliziert nicht zwangsläufig die Aufeinanderfolge des Erzählten. Ausgeblendet bleibt im Zusammenhang mit meiner Frage die Rekonstruktion von Gliederungsmustern, die auf nicht-zeitlichen Größen basieren, wie sie Marina Münkler herausgearbeitet hat.867 Die partielle Episodität des Textes, die durch diesen Blick auf die Verbindungstechniken deutlich wird, ist insofern relevant für die Frage nach der Zeitstruktur und dem Zeithorizont der erzählten Welt, als sie aufgrund der impliziten Permutationsmöglichkeiten in strukturellem Widerspruch steht zur sukzessiv verlaufenden, teleologisch ausgerichteten Frist. Die Handlung kann nicht zugleich vollkommen dem Muster der Frist folgen und zugleich episodisch im eigentlichen Sinne des Begriffs sein. Hans Joachim Kreutzer attestiert im Nachwort zur Edition des Faustbuchs, dass sich in diesem »ein Übergang vom seriellen zum sequentiellen Erzählen« vollzieht und dass »[e]in solcher Entwicklungssprung […] epochale Signifikanz« besitzt, denn »[e]rst die temporale Struktur der individuellen Lebensgeschichte verleiht der Gestalt des Doktor Faust eine innere Folgerichtigkeit ihres Weges«.868 Die temporale Geschlossenheit dieser Linie ist im Faustbuch zwar konzeptionell in der Frist gegeben, aber nicht durchgängig narrativ umgesetzt, wie der Blick auf die einzelnen temporalkausalen Konnektoren zwischen den 68 Kapiteln zeigt. Die Rekonstruktion der Kapitelübergänge führt die unsichere zeitliche Situierung der einzelnen Episoden vor. Nach der kurzen Schilderung von Faustus’ Herkommen, seiner Erziehung und seiner Studien als einem Topos des biographischen Erzählens setzt die Handlung mit der ersten Beschwörung des Teufels ein (Kap. 2). Die folgenden Kapitel schildern Ereignisse in einem näheren räumlichen und zeitlichen Umfeld, meist ist die Handlung dabei in den Tagesrhyth-
|| 867 Vgl. Münkler (Anm. 571), S. 100–114. Sie kommt zu dem Schluss, dass »die drei Semantiken von curiositas, magia und melancholia damit nicht nur durch die Herstellung metaphorischer Similarität zwischen den einzelnen Kapiteln entscheidendes für die Kohärenz der Erzählung [leisten, L. W.], sondern auch für die Beschreibung und Reflexion von Identität, Individualität und Subjektivität des Teufelsbündners« (S. 114). 868 Hans Joachim Kreutzer: »Nachwort«. In: Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hrsg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 2006, S. 330–348, hier S. 342, H. i. O.
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mus gefügt (Kap. 2 bis 8). Der Übergang zwischen dem zweiten und dritten Kapitel ist jedoch nicht widerspruchslos,869 denn nach der geglückten Teufelsbeschwörung fordert Faustus von dem Geist, »daß er morgen vmb 12 Vhrn zu Nacht jhm erscheinen solt in seiner Behausung« (FB [1587], 17). Auch wenn der Geist sich zunächst weigert, sagt er schließlich zu. Damit unvereinbar ist der Beginn des dritten Kapitels von der »Disputation D. Fausti mit dem Geist«; dort heißt es: »Doctor Faustus / nach dem er morgens zu Hauß kame / beschiede er den Geist in seine Kammer / als er dann auch erschiene / anzuh=ren / was D. Fausti begeren were« (FB [1587], 17). Das Gespräch zwischen Faustus und dem Geist im dritten Kapitel findet am Morgen statt und nicht um zwölf Uhr nachts – die ›Konsistenz‹ der Zeit wird damit zwar nicht gestört, aber es kommt zu unmotivierten Ungenauigkeiten. Das morgendliche Gespräch endet mit Faustus’ Forderung, dass der Geist »jhm auff Vesperzeit widerumb allda solte erscheinen« (FB [1587], 19). Dies wird umgesetzt, denn entsprechend beginnt das vierte Kapitel mit der Markierung des Zeitpunkts: »Abendts oder vmb Vesperzeit / zwischen drey vnd vier Vhren / erschien der fliegende Geist dem Fausto wider«, »dieweil«, so wendet er sich an Faust, »du mir aufferleget hast / auff diese Zeit zu erscheinen« (FB [1587], 19). Nachdem Faustus und Mephostophiles ihre Forderungskataloge vorbringen (Kap. 5), will Faustus »deß andern Tags zu Morgen frFe den Geist« wiedersehen (FB [1587], 21). Im sechsten Kapitel folgt der Vertrag, den Faustus aufsetzt, und im siebten die »Verß vnd Reymen«, die »[w]ider D. Fausti Verstockung« zu sagen sind (FB [1587], 23). Die nächste Erscheinung des Mephostophiles wird dann jedoch nicht über eine zeitliche Positionierung verortet, denn es erfolgt kein Rückbezug zu Faustus’ Forderung aus dem fünften Kapitel. Das Gespräch wird als Ereignis einer gezählten Reihe verstanden (»Jm dritten Gespr(ch erschiene dem Fausto sein Geist vnd famulus gantz fr=lich«, FB [1587], 24). Die zeitliche Verbindungstechnik, die in den ersten Kapiteln teils als handlungskoordinierend eingesetzt ist, wird hier zugunsten einer numerischen Addition aufgegeben. Die restlichen Kapitel des ersten Teils der Historia (Kap. 9 bis 17) werden teils grob zeitlich koordiniert, teils überhaupt nicht, sodass ihre Relation als partiell ›unzeitlich‹ beschrieben werden muss. In den Kapiteln 9 und 10 wird erzählt, wie Faustus’ Haushalt versorgt wird und wie Faustus seine sexuellen Begierden befriedigt, ohne sich in der Ehe zu binden. Abgesehen vom einleitenden Rückbezug, der sich nicht auf die Handlung, sondern auf den Pakt und seine Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Faustus und Gott bezieht, und || 869 Wie Müller im Kommentar feststellt, passt die »Geisterstunde […] nicht zum Ablauf des folgenden Tages« (Müller, Kommentar, S. 1374).
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vom Bezug auf vermeintlich bereits Gesagtes870 erscheinen die Ereignisse zeitlich undefiniert. Dies ändert sich im Kapitel 11, das zeitlich eindeutig Faustus’ sexuellen Eskapaden mit dem Teufel (im 10. Kapitel) nachfolgt. Die Markierung ist gleichsam doppelt, zum einen bezieht sie sich auf die zeitliche Relation zwischen den Ereignissen und zum anderen auf die Ordnung des narrativen Diskurses: Nach solchem / wie oben gemeldt / Doct. Faustus die sch(ndliche vnd greuwliche Vnzucht mit dem Teuffel triebe / vbergibt jhme sein Geist bald ein grosses Buch / von allerley Zauberey vnnd Nigromantia (FB [1587], 29)
Die sich anschließenden Kapitel sind wiederum nur lose geordnet, »[b]ald sticht [Faust] der FFrwitz« (FB [1587], 29) und er fragt nach dem Geistwesen des Mephostophiles. Zeitlich in sich geschlossen erscheint Kapitel 12 durch die Kopplung zweier Ereignisse (Traum und Frage), ohne dass die Zeitangaben über diese Episode hinaus verweisen würden.871 Zeitlich unterspezifiziert sind die Anbindungen des 13. und 14. Kapitels, wenn es zu Beginn heißt: »Der Geist muste Faustum auch berichten von der Teuffel Wohnung / Regiment vnd Macht« (FB [1587], 31) oder »Doct. Faustus name jm widerumb ein Gespr(ch fFr / mit seinem Geist zu halten« (FB [1587], 32). Das zweite Gespräch führt dazu, dass sich Faustus verzweifelt zurückzieht, denn er »wolte aber keinen Glauben noch Hoffnung sch=pfen / daß er durch Buß m=chte zur Gnade Gottes gebracht werden« (FB [1587], 33). Daran schließt das 15. Kapitel an, denn »Doctor Faustus / nach dem jhme sein Vnmuht ein wenig vergienge / fragte er seinen Geist Mephostophilem von Regierung / Raht / Gewalt / Angriff / Versuchungen vnd Tyranney deß Teuffels« (FB [1587], 34). Das 16. Kapitel lässt das Verhältnis der Ereignisse zu den rahmenden Geschehnissen unterbestimmt, knüpft es doch an Faustus’ ›Höllenträume‹ oder ›böse Ahnungen‹ aus demselben Kapitel an; der Rückbezug auf Kapitel 12 ist nicht so naheliegend, wie derjenige auf die unmittelbar vorher erzählten Begebnisse: Es Tr(umete jme / wie man pfleget zu sagen / vom Teuffel oder von der Hellen / das ist / er gedachte was er gethan hatte / vnd meynet jmmerdar durch offt vnd viel disputieren /
|| 870 Vgl. FB (1587) 26: »So hat D. Faustus / wie oben gesagt / niemands in seinem Hauß / als seinen famulum / vnd seinen b=sen Geist Mephostophilem«. 871 FB (1587) 30: »Dem Doct. Fausto / wie man zusagen pflegt / Traumete von der Helle / vnd fragte darauff seinen b=sen Geist […]« Die Formulierung ist, wie Jan-Dirk Müller argumentiert, »[d]oppeldeutig: Die Redensart […] meint: ›böse Ahnungen haben‹, doch träumt sich Faustus tatsächlich einiges von der Hölle zusammen, was ihn zu immer neuem Grübeln reizt« (Müller, Kommentar, S. 1383 f.)
Spannung zwischen Frist und Episode | 285
Fragen vnd Gespr(ch mit dem Geist / w=lle er so weit kommen / daß er einmal zur Besserung / Rew vnd Abstinentz gerahten m=chte / Aber es war vergebens / denn der Teuffel hatt jn zu hart gefangen. Hierauff nam D. Faustus jm widerumb fFr / ein Gespr(ch vnd Colloquium (dann jme abermals von der Hellen getr(umet hatt) mit dem Geist zu halten. (FB [1587], 36)
Nachdem in Kapitel 16 Mephostophiles Faustus’ vier Fragen über die Hölle zwar widerwillig, aber doch in einigem Umfang beantwortet hat, ist der Übergang vom 16. zum 17. Kapitel nicht glatt, wird doch zu Beginn des 17. Kapitels suggeriert, dass Mephostophiles Faustus einige Fragen schuldig geblieben ist. Eine explizite zeitliche Verortung des Gesprächs wird nicht gegeben, die Befragung erscheint nur als Wiederholung: Doct. Faustus berFffte seinen Geist wider / vnnd begerte von jme ein Frage / die solt er jne auff dißmal geweren. Dem Geist war solches gar zu wider / jedoch wolt er jhm dißmal gehorchen / vnnd wie er vorgesagt / so habe er jm diß gantz vnd gar abgeschlagen / jetzt komme er widerumb / Jedoch w=lle er jhn dißmal noch gewehren / vnd das zum letzten mahl. (FB [1587], 42 f.)
Der Abschluss des 17. Kapitels, in dem Mephostophiles Faustus die Frage beantwortet, wie er sich als Mensch an seiner Stelle verhalten würde, rekurriert auf die Unwilligkeit des Geistes, Fragen von Faustus zu beantworten (»So laß mich forthin auch zu frieden mit deinem Fragen«, FB [1587], 43) und bildet zugleich den Übergang zum zweiten Teil der Historia. Denn als Faustus, so beginnt das 18. Kapitel, »von Gottseligen Fragen vom Geist keine Antwort mehr bekommen kondte« (FB [1587], 44), widmet er sich der Astronomie und Astrologie. Bereits im ersten Teil der Historia sind, so das vorläufige Ergebnis, die Kapitel zwar partiell über zeitliche Bezüge koordiniert, aber nicht immer entsteht durch die Verbindungen eine ›kohärente‹ und ›konsistente‹ Chronologie. Zum zweiten Teil der Historia: Astronomie und Astrologie betreibt Faustus zwei Jahre, bevor er sich erneut mit Fragen an Mephostophiles wendet. Die Fragen über die Zuverlässigkeit der Astrologie und Astronomie (Kap. 19), über Sommer und Winter (Kap. 20) und über »deß Himmels Lauff / Zierd vnnd Vrsprung« (Kap. 21, FB [1587], 46) bleiben zeitlich unspezifiziert. Die temporale Positionierung von Kapitel 20 ist unbestimmt, denn es ist nicht rekonstruierbar, ob sich die kurze Szene direkt im Anschluss an das vorhergehende Gespräch ereignet oder zu einem gänzlich anderen Zeitpunkt. Motiviert wird sie nämlich über Faustus’ Verwunderung (»Es gedauchte den Faustum seltzam seyn […]«, FB [1587], 45). Die Begründung, weshalb Faustus sich nun der Astrologie und Astronomie widmet, wird zu Beginn des 18. und zu Beginn des 21. Kapitels geliefert, in Letzterem wird sie als Wiederholung explizit markiert (»(wie vorge-
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meldt)«, FB [1587], 46). Die Kapitel 22 und 23 werden situativ über Faustus’ Gemütszustand (»Doctor Fausto / in seiner Trawrigkeit vnd Schwermut«, FB [1587], 48872) und das Erscheinen des Teufels Belial (»Doct. Fausti FFrst vnd rechter Meister kame zu D. Fausto«, FB [1587], 49) eröffnet, ein darüber hinaus bestehender raumzeitlicher oder gar kausaler Zusammenhang, in den diese Episoden eingebettet wären, besteht nicht. Die Episode des 24. Kapitels hingegen ist über die Nennung der bereits vergangenen Fristdauer ins achte Jahr datiert und geht auf einen vorgeblich nach Faustus’ Tod bei ihm gefundenen handschriftlichen Bericht zurück, gleiches gilt für das 25. Kapitel, das einen Brief wiedergibt, den er an den (wahrscheinlich erfundenen) Leipziger Arzt Jonas Victor geschickt hat.873 Der Übergang zwischen dem 24. und 25. Kapitel ist also über die Ähnlichkeit des Quellenmaterials gewährleistet und nicht über die zeitliche Sukzession der Ereignisse – die Verbindung ist ›unzeitlich‹. Das 26. Kapitel schließt wiederum teils thematisch an das vorausgehende Kapitel an, denn in beiden geht es um die geographische Erkundung der Welt;874 zudem wird das Kapitel, wie das 24. Kapitel, über die Vertragsfrist datiert, nun aber ins sechzehnte Jahr. Die Ereignisse, die in diesem Zeitfenster stattfinden, sind extrem gerafft. Das 27. Kapitel greift eine Episode aus der Reise heraus und stellt sie – in einer analeptischen Konstruktion, die den ordo naturalis aufbricht – gesondert dar.875 Kapitel 28 und 29 werden situativ eröffnet, sodass sie, wie es Marina Münkler deutet, als Teil einer kontingenten Weltordnung erscheinen.876 Sie stehen in einem engen thematischen Zusammenhang, gelten sie doch den Kometen und Sternen, aber in keiner konkreten raumzeitlichen Verbindung. Die Kapitel 29, 30 und 31 bilden eine situative Einheit mit raumzeitlicher Kohärenz, denn sie geben das Gespräch zwischen Faustus und dem »fFrnemme[n] Doctor N. V. W. zu Halberstatt« wieder (FB [1587], 73), das 31. Kapitel ist dabei eine Fortsetzung von Faustus’ Antwort aus dem vorausgehenden Kapitel. Das letzte
|| 872 Am Ende des 21. Kapitels wird nichts – wie dies beispielsweise programmatisch zum Schluss von Kapitel 15. geschieht (»Also gieng Doct. Faustus trawrig von jme« [FB [1587], 35]) – von Faustus’ Traurigkeit oder Schwermut berichtet. 873 Vgl. Füssel/Kreutzer (Anm. 839), S. 196; Müller, Kommentar, S. 1400. 874 In seinem Brief betont Faustus, dass er »viel K=nigreich / FFrstenthumb vnnd Wasser«, also gleichsam »die gantze Welt / Asiam / Aphricam vnnd Europam« sehen konnte (FB [1587], 58). 875 »Doctor Faustus / als er in Egypten war / allda er die statt Alkair besichtiget / vnnd in der h=he vber viel K=nigreich vnd L(nder reisete / als Engelland / Hispaniam / Franckreich / Schweden / Polen / Dennemarck / Jndiam / Aphricam / Persiam / etc. Jst er auch in Morenland kommen« (FB [1587], 71). 876 Vgl. Münkler (Anm. 571), S. 96.
Spannung zwischen Frist und Episode | 287
Kapitel setzt zwar den thematischen Fokus fort, wird aber situativ über ein ungewöhnliches Ereignis motiviert (»Jm Augstmonat war zu Wittenberg Abendts ein grosses Wetter entstanden«, FB [1587], 76) und lässt sich nur schwer in die groben zeitlichen Koordinaten im Umfeld einfügen.877 Auch die Episoden des zweiten Teils der Historia lassen sich nicht als Glieder einer sukzessiven Reihe verstehen, denn die Übergänge sind teils ›unzeitlich‹, unterspezifiziert oder widersprechen gar dem ordo naturalis. Mit dem 33. Kapitel beginnt der dritte Teil des Romans. Die zeitliche Koordination zwischen dem zweiten und dritten Teil der Historia geht nicht auf: Die Ereignisse zwischen dem 26. Kapitel und dem 53. Kapitel müssen alle in kurzer Zeit, d. h. innerhalb von wenigen Monaten, erfolgt sein, beginnen doch die Weltreisen, die eineinhalb Jahre dauern, im 16. Jahr und verschreibt sich Faustus noch im 17. Jahr ein zweites Mal dem Teufel, die jedoch teils in den Kapiteln genannten Monatsdatierungen stehen im Widerspruch dazu.878 Dies bedeutet aber nicht, dass die zeitliche Sukzession der Kapitel vollständig aufgegeben wird: Denn die Kapitel 33 bis 35 sind im Umfeld des Hofes von Karls V. angelegt und bilden eine narrative Einheit.879 Kapitel 36 ist durch eine Monatsnennung zwar datiert, aber diese lässt sich nicht – wie auch die Monatsnennung im 44. Kapitel – sinnvoll mit den anderen zusammenbringen. Die Episode in Kapitel 37 ist zeitlich unbestimmt, heißt es doch allein »auff ein zeit« (FB [1587], 82), ebenso in sich geschlossen erscheinen die Episoden 38 bis 43.880 Die Kapitel 44 bis 48 bilden demgegenüber eine Einheit, die auf einer
|| 877 Geht man von der Datierung der Weltreisen ins 16. Jahr (vgl. FB [1587], 60, d. h. 15 volle Jahre und etwas mehr) und ihrer eineinhalbjährigen Dauer (vgl. FB [1587], 70) aus, dann muss das Gespräch zwischen dem Doktor N. V. W und Faustus mindestens 16 ½ Jahre nach dem Vertragsschluss stattgefunden haben. Grob verortet ist dieses im Herbst (also zwischen September und Dezember); das Wittenberger Unwetter, von dem anschließend berichtet wird und das im August stattgefunden hat (vgl. FB [1587], 76), kann sich also nur im darauffolgenden Jahr ereignet haben. Seit dem Vertragsschluss müssten dann also über 17 Jahre vergangen sein. Das lässt sich – begreift man die Kapitelfolge auch als zeitliche Sukzession – nicht mit der Verortung der Ereignisse des 53. und 54. Kapitels ins 17. Jahr (also 16 volle Jahre und etwas mehr) und den dazwischen gegebenen Zeitangaben vereinbaren (so soll die Handlung von Kapitel 36 im Juni spielen, vgl. FB [1587], 81, und die von Kapitel 44 im Januar, vgl. FB [1587], 89). 878 Vgl. die Erläuterung in Fußnote 877. 879 Datiert ist die Episode teils symbolisch, wenn es heißt: »diß war im Sommer nach Philippi vnd Jacobi« (FB [1587], 77). »Philippi vnd Jacobi«, also der 1. Mai, ist der »Tag für magische Frühlingsbräuche« (Müller, Kommentar, S. 1412). 880 Das 39. Kapitel ist über Ähnlichkeitsbeziehungen mit dem vorhergehenden verbunden (»Gleicher weiß thete er einem Roßteuscher […]« [FB [1587], 86]), das Kapitel 43 bezieht sich
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raumzeitlich verknüpften Handlung basiert: Die Abenteuer am Hof des Fürsten zu Anhalt bestimmen die Kapitel 44 und 44a, das 45. Kapitel suggeriert die temporale Nähe zwischen diesen Abenteuern und den sich anschließenden, wenn es heißt: »Nach dem D. Faustus widerumb vom Grafen Abschied / vnd gen Wittenberg kame / ruckete die Faßnacht herbey« (FB [1587], 92). Die Ereignisse von Kapitel 46 bis 48 ereignen sich stimmig vom Fastnachtsdienstag bis zum Donnerstag nach Aschermittwoch;881 die Handlung ist in diesem Fall entlang des Tagesrhythmus erzählt. Es folgt ein Zeitsprung über sechseinhalb Wochen zum Kapitel 49, das am »weissen Sonntag« spielt (FB [1587], 97);882 das Kapitel 50 erscheint zeitlich isoliert, das 51. Kapitel hingegen spielt zur Fastenzeit (»Doctor Faustus kam in der Fasten gen Franckfurt in die Meß« [FB [1587], 100]). Das 52. Kapitel wiederum ist zeitlich unterbestimmt.883 Die Ereignisse vom 53. bis zum 68. Kapitel zeichnen sich durch die häufige Bezugnahme auf die durch die Verschreibung festgelegte Frist aus, die die zeitliche Kontinuität der Ereignisse eindeutig markiert, sodass dadurch eine »extrem hohe syntagmatische Verdichtung der Narration« entsteht:884 Die Kapitel 53 und 54 sind im 17. Jahr verortet, die Kapitel 55 und 56 im 19. Jahr, das Kapitel 57 im 19. und 20. Jahr, das Kapitel 58 im 22. Jahr, das 59. Kapitel im 23. Jahr und die Kapitel 60 bis 68 im letzten Jahr des Paktes. Die Sukzession der Kapitel ist durch die Art und Weise, wie die Übergänge zwischen ihnen gestaltet sind, nicht vollständig gesichert. Durch die abgerundete Handlung einiger Kapitel, die ihre Episodenhaftigkeit klar hervortreten lässt, sind die Handlungselemente beweglich, die Episodenfolge ist teils, aber eben nicht durchgängig fix. Das Fehlen von Altersangaben sowie kalendarischer Datierungen verstärkt diesen Effekt noch, da damit Orientierungspunkte im Zeitgerüst der Handlung fehlen. Damit steht die partiell stark ausgeprägte Episodenhaftigkeit im Widerspruch zur Friststruktur der Historia, innerhalb der es eigentlich keine Permutationsmöglichkeiten geben dürfte. Verkehrt erscheint damit in der Historia die für den Ritter Galmy attestierte Spannung zwischen ›kurzer‹ und ›langer Zeit‹. Sind im Ritter Galmy die vereinzelten, in sich abge-
|| auf Vergangenes, wenn es über Faustus’ Taten heißt: »Doctor Faustus f(ngt wider ein Wucher an« (FB [1587], 88). 881 Zu einer analogen Einschätzung gelangt Münkler (Anm. 571), S. 98. 882 Vgl. Füssel/Kreutzer, Erläuterungen, S. 205. 883 Könneker merkt treffend an, dass die Kapitel 52 und 53 »völlig unmotiviert und übergangslos zwischen den Schilderungen, wie Faust einem mächtigen Zauberer einen boshaften Streich gespielt und wie er zwo Personen … zusamen kuppelt hat«, stehen (Könneker [Anm. 829], S. 201). 884 Münkler (Anm. 571), S. 99.
Transformationen von Stoff und Zeit | 289
schlossenen Episoden in eine tendenziell offene Struktur eingebettet, ist im Faustbuch die offene, denn fortführbare Episodenstruktur in eine geschlossene, numerisch organisierte Handlungsreihe eingefügt. Ins Zentrum gestellt wird mit der zeitlichen Frist ein narratives Muster, das als episodisches Gliederungsmuster ebenso im Ritter Galmy wie in der Magelone fungiert (vgl. die vorausgehenden Kapitel) und in seiner transgressierten Form auch für die Asiatische Banise und den höfisch-historischen Roman eine grundlegende Funktion hat (vgl. Kap. 10). Die besondere Funktionalisierung der Frist zeichnet das Faustbuch von 1587 gegenüber seinen späteren Bearbeitungen und Erweiterungen aus, denn Widmans und Pfitzers Bearbeitungen sowie die Kurzversion des »Christlich Meynenden« von 1725 führen die numerische Strukturierung nicht konsequent fort.
8.3 Transformationen von Stoff und Zeit Erläutert sei dies an einem kurzen Exkurs, der zugleich historische Transformationen des Umgangs mit dem Stoff und der erzählten Zeit anzeigt. Paratextuell ist bei Widman eine historische Einordnung der Handlung vorangestellt.885 Überschrieben ist das Kapitel programmatisch: »Zu welcher zeit Doctor Faustus seine Schwartzkunst hab bekommen vnd geFbet« (FB [1599], I n. p.). Als Referenzdaten werden 1521 und 1525 genannt, so soll Mephostophiles Faustus 1521 erschienen sein und so soll Faustus 1525 öffentlich gewirkt haben. Darüber hinaus gibt es Uneindeutigkeiten bei der Gestaltung der Frist: So wird die Frist bei Widman zunächst auf zwanzig Jahre beschränkt.886 Widman datiert, wie bereits paratextuell angelegt, Ereignisse teils explizit, so wird die Episode über die drei Studenten, die zur Hochzeit des bayerischen Fürsten reisen wollen, mit einer Datierung eröffnet: »ES studierten Anno 1525. drey fFrnehme Junge Freyherrn zu Wittemberg« (FB [1599], I 257). Jenes für das Faustbuch von 1587 charakteristische temporale ›Stakkato‹ (Jan-Dirk Müller), das in den Kapitelüberschriften die Frist immer Kürzer erscheinen lässt, ist in Widmans Version nicht ausgestaltet, dafür liefert Widman zum Ende des dritten Teils einen ganzen Lebenslauf samt Altersangaben zur Figur, die etwas konfus ausfallen: Hie mus ich auch erzehlen die Jahrzal nach einander / wie sich der Faustus dem Teuffel versprochen hat. Jm 16. Jahr seines alters studierte er / vnnd trachtet nach Zauberey. Jm
|| 885 Zur Bearbeitung Widmans vgl. Münkler (Anm. 571), S. 167–181. 886 Vgl. FB [1599], I 60 [wohl ein Druckfehler]; später wird freilich wieder von den 24 Jahren gesprochen, vgl. FB [1599] III 15 und III 101, 112).
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vierdten Jar hernach wardt er Doct. in Medicina, anderthalb Jahr zuuor hatte er in Theologia promouirt. Zwey Jahr trieb er schon seine Zauberey / war aber noch nit in dem bundnus des Teuffels / sonder der Teuffel ließ jm zeit vnd weil darzu / biß er jhn sein erschleichen kondte / wie ein Schlang mit jrem scharpffen geh=r / dem Menschen zum falle vnd zu vergifften nachgeht: die vbrigen jar / als die 24. Jar lang / hatte er sich dem Teuffel obligiret vnd ergeben / der Teuffel hatte jhm noch ein Jar frist zugesagt / das sein gantz alter 41. Jahr war« (FB [1599] III 64 f.).
Bei Pfitzer wird einerseits ebenso auf eine Inszenierung des temporalen ›Stakkatos‹ verzichtet, andererseits ist er an einigen Stellen bemüht, die temporalen Übergänge kohärenter und konsistenter zu gestalten.887 Ein Beispiel: War der Übergang vom 2. zum 3. Kapitel in der Historia noch uneindeutig (bei Widman ist er besser gelöst, vgl. [FB [1599], Kap. 6 und 7]), so wird bei Pfitzer der Übergang von der Beschwörungsszene zur Hausszene aufwändig erzählt: Faustus verlangt vom Geist, dass er »morgen in [seiner] Behausung« erscheinen soll (FB [1674] 45). Ausführlich wird dann von Faustus’ Rückweg und seinem Warten auf den Geist berichtet, zur Veranschaulichung zitiere ich eine längere Passage: D. Faustus hat indessen mit grossem Verlangen die Er=ffnung der Stadt=Pforten mit angebrochenem Tage erwartet / und bey sich wol tausenderley verwirrte Gedancken gefFhret / […] Mit welchen verbosten Gedancken er sich bis in seine Behausung geschleppet / allwo er sich von Stund an in sein Studir=StFblein verfFget / deß Geistes mit sehnlichem Verlangen erwartende. Ein / zwey / und mehr Stunden lauffen vorbey / der Geist will doch nicht erscheinen / hinter / vorsich und neben sich sihet ohn Unterlaß D. Faustus, ob er noch nichts vom Geist erblicken m=ge; […] aber kurtz hierauf / da ersihet er gleich zur Mittags=Zeit einen Anblick nahe bei dem Ofen / gleich als einen Schatten hergehen […]« (FB [1674] 49 f.).
Auch wenn Widman und Pfitzer explizite kalendarische Datierungen nutzen, führt dies nicht dazu, dass das Zeitgerüst der Handlung an ›Kohärenz‹ und ›Konsistenz‹ gewinnen würde. So wird in den Bearbeitungen von Widman und Pfitzer die Episode am Hof von Karl V. historisch an den Hof von Maximilian I. verschoben, damit wird 1519 zum terminus ante quem (FB [1599] II 70; auf den falschen Namen wird in der Maginalie explizit hingewiesen). Auch die Stellung der Episode in der Reihenfolge der Episoden ändert sich im Vergleich zur Historia (die Karl-Episode trägt die Nummer 33, die Reise nach München die Nummer 37). Doch führt dies keineswegs zu einer konsisten(eren) Zeitgestaltung: Die Episode steht als 11. Kapitel im zweiten Teil, ist aber nach der Reise zur Bayerischen Fürstenhochzeit platziert (Teil I, 33. Kapitel), die auf das Jahr 1525 datiert ist. Die Episoden können also nicht als sukzessive Reihe begriffen || 887 Zu der Bearbeitung von Pfitzer vgl. Münkler (Anm. 571), S. 182–185.
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werden. Bei Pfitzer findet man diese Anlage wiederholt: Die explizit auf 1525 datierte Reise nach München wird im 31. Kapitel des ersten Teils erzählt (FB [1674] 212–217), die Episode am Hof Maximilians folgt dann im zweiten Teil als Kapitel 10 (FB [1674] 412–414). Im Faustbuch des christlich Meynenden (1725) wird ebenso wie in der Historia auf explizite kalendarische Daten verzichtet, auch findet sich kein biographischer Abriss, der demjenigen bei Widman vergleichbar wäre. Die auf vierundzwanzig Jahre festgelegte Frist wird kurz vor ihrem Ablauf thematisiert,888 sodass die berichteten Episoden nur in einen losen Rahmen eingebettet sind. Die Episoden werden als Block behandelt, ohne dass dies paratextuell angezeigt werden würde. Die Eröffnung der Episodenreihe wird als solche explizit markiert, wenn es heißt: »Nun wollen wir, ehe wir zu dem erschrecklichen Ende seines Lebens eilen, etliche l(cherliche Possen von ihm anfFhren« (FB [1725] 13). Es folgt eine teils locker, teils gar nicht verbundene Episodenreihe, die mit einem Rückbezug auf die Frist abgeschlossen wird: »Als nun seine Vier und Zwantzig Jahre bis auff einen Monat verlauffen, so fande sich erst recht die bittere Todes=Angst« (FB [1725] 24). Insgesamt nimmt die kompositorische Bedeutung der Frist in den späteren Bearbeitungen ab, auch wenn das kalendarische System mit seinen Datierungsoptionen teils zur Koordination der Ereignisse genutzt wird und auch wenn Übergänge zwischen Handlungsabschnitten erzählerisch geglättet werden, so scheint dies nicht zu einer Lösung der grundlegenden Spannung zwischen episodischem Erzählen und dem zeitlichen Rahmen zu führen. Die Integration aller Handlungssegmente in einen verbindlichen zeitlichen Rahmen ist zwar konzeptuell angelegt, aber nicht in dem Maße durchgeführt wie zum Beispiel in Anton Ulrichs Octavia (vgl. dazu den Ausblick am Ende des Kapitels zur Asiatischen Banise, Kap. 10).
|| 888 Bezug genommen wird auf den letzten Monat (»Als nun seine Vier und Zwantzig Jahre bis auff einen Monat verlauffen […]«, FB [1725], 24) und auf den letzten Tag (»Endlich waren von den 24. Jahren kaum 24. Stunden übrig […]«, FB [1725], 28).
9 Heterogene Raumzeiten in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch In Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) bereist der sich mal bauernklug durchmogelnde, mal von seiner curiositas motivierte und mal vom Glück herumgetriebene Held eine Unzahl von Städten und Ländern. Simplicius’ Weg beginnt auf einem Bauernhof im Spessart; als Narr, Soldat, Musiker und Quacksalber besucht er Hanau, Köln, Soest, Paris und Wien, Russland und Japan, den Blocksberg und das Erdinnere, bis er sich schließlich auf die Kreuzinsel zurückzieht. Die horizontale Bewegung durch den Raum der Welt wird dabei begleitet von der vertikalen durch die sozialen Schichten ihrer Gesellschaft. Durch seine permanente Bewegung und sein Erzählen davon erschließt Simplicius verschiedene Räume seiner Welt, die ihm teils vertraut sind, die teils aber auch wunderbar oder fremd auf ihn wirken. Veranlasst vom Tod des Einsiedlers, bei dem Simplicius nach einem Überfall durch Soldaten auf den väterlichen Hof Zuflucht gefunden hat, »thut« er »den ersten Sprung in die Welt« (ST I 18, 67). Er schlägt sich allein durch. Als er sich auf gewohnte Weise etwas zu essen verschaffen will und kurz davor steht, eine Bauernküche zu plündern, wird er Zeuge sonderbarer Vorgänge. Er sieht, wie die Bewohner des Hauses auf Besen, Stühlen und anderem Gerät zum Fenster hinausfliegen. In der verlassenen Stube schaut sich Simplicius um; als er auf einer Bank Platz nimmt, fährt er plötzlich ebenso zum Fenster hinaus. Augenblicklich ist er auf dem Blocksberg und beobachtet eine »h=llische Gesellschafft« (ST II 17, 178), die sich bei einem »wunderlichen Tantz« (ebd., 177) und sonderlicher Musik vergnügt. Aus Angst vor dem unheimlichen Treiben flüchtet sich Simplicius mit seinen Bitten zu Gott und unverzüglich verschwindet der ganze Spuk. Fraglich ist der ontologische Status dieser Ereignisse, denn Simplicius ist währenddessen, als ob er einen »schweren Traum« habe (ebd., 178). Damit steht infrage, ob die Reise in der erzählten Welt realiter stattgefunden hat oder ob sie – wie die Ständebaum-Allegorie (ST I 15–18) und seine Höllen-Vision (C 2–8) – zu den Traumerscheinungen zählt. Für ihre Faktizität in der erzählten Welt spricht, dass sich Simplicius am Ende nicht in der Küche, in der seine Reise begonnen hat, sondern in Magdeburg wiederfindet. Doch der dieser Geschichte nachfolgende Exkurs über die Existenz von Hexen wiederum verunsi-
DOI 10.1515/9783110566857-012
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chert den Status des Geschilderten mehr, als dass er zu seiner definitiven Klärung beitragen würde.889 Zwei Bücher später, also einige Zeit nach diesen sonderbaren Ereignissen, schließt sich Simplicius in den Kriegswirren um Offenburg – angetrieben von der Hoffnung auf gewinnbringenden Kriegsdienst und eine gute Stelle – einem schwedischen Obristen an und folgt ihm zuerst nach Livland und dann weiter nach Moskau, wo er jedoch von ihm sitzen gelassen wird. Simplicius hält sich einige Monate in Moskau über Wasser, bis er samt allen anderen Ausländern der Stadt verwiesen wird. Auf dem Rückweg fangen ihn aber russische Soldaten ab, da der Zar Interesse an Simplicius’ Kriegs- und Fortifikationswissen hat. Nach etwas Hin und Her lässt er sich für die Dienste des Zaren gewinnen, für den er daraufhin in der Nähe von Moskau Pulvermühlen baut. Schließlich wird er nach Astrachan ans Kaspische Meer geschickt, um auch da Schießpulver herzustellen. Diese Versetzung bildet den Auftakt zu einer Weltreise: In Astrachan entführen ihn nämlich Tataren, die ihn für chinesische Waren an die Niutschi veräußern. Diese wiederum schenken ihn dem koreanischen König als »sonderbares Præsent« (ST V 22, 541, H. i. O.). Die Odyssee führt Simplicius weiter über Japan nach Macao, aus den Händen der Portugiesen in diejenigen von »Mahometanischen Meer-Raubern« (ebd.) und dann in diejenigen von Kaufleuten aus Alexandria. Er landet in Konstantinopel, wird an den türkischen Kaiser verkauft, um zwei Monate im Krieg gegen Venedig als Galeerensklave zu rudern, wird befreit und nach Venedig gebracht, pilgert von dort schließlich nach Rom, von wo er über den Gotthard zurück in den Schwarzwald zieht. Auf dieser gut drei Jahre währenden Reise will er das seltsame »Schafgewächs Borametz« gesehen und davon gegessen haben, wurde er vom koreanischen König für eine besondere Rarität gehalten und von Piraten »wol ein gantzes Jahr auff dem Meer bey seltzamen frembden V=lckern / so die Ost-Jndianische Jnsu-
|| 889 Simplicius beschließt seinen Exkurs über die Hexerei mit einer dezidiert relativierenden Einlassung, die Wahrscheinlichkeiten (Existenz von Zauberei vs. Plausibilität des Reisens) gegeneinander ausspielt und so die ontologische Ambivalenz der Episode nochmals hervorhebt: »Solches alles melde ich nur darumb / damit man eigentlich darvor halte / daß die Zauberinnen und Hexenmeister zu Zeiten leibhafftig auff ihre Versamlungen fahren / und nicht deßwegen / daß man mir eben glauben mFsse / ich sey wie ich gemeldt hab / auch so dahin gefahren / dann es gilt mir gleich / es mags einer glauben oder nicht / und wers nicht glauben will / der mag einen andern Weg ersinnen / auff welchem ich auß dem Stifft Hirschfeld oder Fulda (dann ich weiß selbst nicht / wo ich in den W(ldern herumb geschwaifft hatte) in so kurtzer Zeit ins Ertz-Stifft Magdeburg marchirt seye« (ST II 18, 181, H. i. O.). Vgl. zum kommunikativen Status der Episode Tobias A. Kemper: »›Lufftfahrt‹ und ›Hexentantz‹ – Zauberei und Hexenprozeß in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹«. In: Simpliciana XIX (1997), S. 107–123.
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len bewohnen«, herumgeschleppt (ebd.). Das Fazit seiner Reise lässt sich als autopoetischer Kommentar lesen, wenn es heißt: Jch war drey Jahr und etlich Monat auß gewesen / in welcher Zeit ich etliche unterschiedliche Meer Fberfahren / und vielerley V=lcker gesehen / aber bey denenselben gemeiniglich mehr b=ses als gutes empfangen / von welchem allem ein grosses Buch zu schreiben w(re (ebd, 542).
Präsentiert wird aber keine umfangreiche Reisebeschreibung, sondern eine in der Erstausgabe des Simplicissimus knapp vier Seiten umfassende Kurzdarstellung.890 In der Continuatio revidiert Simplicius seine Reisebeschreibung, wenn er im Gespräch mit seinem angetrunkenen Dialogpartner die exotische Aufschneiderei nutzt, um einen Vorteil für sich herauszuschlagen: und da er h=rete / daß ich ihm von so vielen underschiedlichen L(ndern die ich mein Tage durchstrichen / zusagen wuste / welche sonst nicht bald einem jeden zusehen werden / als von der Moscau / Tartarey / Persien / China, TFrckey / und unsern Antipotibus, verwundert er sich trefflich und tractirte mich mit lauter Veltliner und Oedtsch-Wein / er hatte selbst Rom / Venedig / Ragusa / Constantinopel und Alexandriam gesehen / als derowegen ich ihm viel Warzeichen und Gebr(uch von solchen Oertern zu sagen wuste / glaubte er mir auch was ich ihm von ferneren L(ndern und St(tten auffschniede (C 11, 610)
Teils rekurriert Simplicius also auf wirklich Geschehenes, teils erfindet er Dinge hinzu. So korrigiert er seine Borametz-Geschichte, wenn er in einem Selbstkommentar eingesteht: Ich habe »dasselbe mein Tage nicht gesehen« (C 11, 611).891 Wenigstens teils steht also diese Reisebeschreibung in der Tradition des Lügenromans, sodass auch hier – wie bei der Reise zum Hexentanz – die Grenze zwischen dem in der erzählten Welt tatsächlich Stattgefundenen und dem (nur) Erzählten verschwimmt.892 Charakteristisch für den Simplicissimus ist die breite Vermessung der erzählen Welt mit ihren verschiedenartigen Räumen, die für die Figur mal heimisch sind wie der Hof des Vaters, mal wunderbar wie der Hexentanz auf dem Blocksberg oder auch fremd wie Asien. Mit gutem Grund wird der Roman also von Wolfgang Kayser in der Tradition des pikarischen Erzählens als ein »Raum-
|| 890 In der Erstausgabe (Referenzexemplar ist der Druck aus der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur Lo 2309, Digitalisat VD17 23:233328Z) findet sich die Reisebeschreibung auf den Seiten 604 bis 607. 891 Vgl. Andreas Bässler: »Wunderbare Reisen zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Grimmelshausens ›Simplicissimus‹ und die Tradition des Lügenromans«. In: Simpliciana XXIX (2007), S. 119–130, bes. S. 125 f.; vgl. auch Breuer, Kommentar, S. 1022. 892 Vgl. Bässler (Anm. 891), S. 124–126.
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roman«893 bezeichnet, in dem »die Verschiedenheit und Fülle von Räumlichkeiten die strukturtragende Schicht«894 darstellen und der so »ein panoramatisches Bild der Welt«895 zeichnet. Aufgrund der räumlichen Extension der Handlung und der Spannbreite der gesellschaftlichen Sphären, innerhalb derer Simplicius agiert, wird – so der Tenor der Forschung – dem Simplicissimus häufig ein besonderes Interesse an der Darstellung von ›Welt‹ attestiert.896 Die differierende Semantisierung von Räumen mit ihrer topografischen oder topologischen Dimension lässt im Simplicissimus eine raumzeitlich ›inkonsistente‹ Welt entstehen. Diesen Räumen – dem väterlichen Hof, wo die Handlung des Romans einsetzt, und dem Reich der Sylphen, das Simplicius im Rahmen seiner Reisen besucht, – gilt im Folgenden meine Aufmerksamkeit.897 Ich stelle meine Thesen voran: Die Diegese des Simplicissimus Teutsch erweist sich, wie die Verschränkung von Raum und Zeit verdeutlicht, als raumzeitlich heterogen. Überträgt man die von Félix Martínez-Bonati vorgeschlagene Klassifizierung von Welten auf den Roman (Kap. 4.2.3), kommt man zu folgendem Fazit: Die
|| 893 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 7. Aufl., Bern/München 1961, S. 363 f. Die Klassifizierung des Simplicissimus im Rahmen der Typentrias ›Geschehnisroman‹, ›Figurenroman‹ und ›Raumroman‹ hat Kayser selbst später relativiert und Verbindungslinien zum ›Figurenroman‹ gezogen, vgl. dazu Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. 12. Aufl., Göttingen 1993, S. 66–69. 894 Wolfgang Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans im 18. Jahrhundert und seine heutige Krise«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28 (1954), S. 417–446, hier S. 436. 895 Jürgen Jacobs: »Bildungsroman und Pícaro-Roman. Versuch einer Abgrenzung«. In: Ders.: Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. Trier 1998, S. 25–39, hier S. 25 (bei Jacobs finden sich auch die Hinweise auf die Arbeiten von Kayser). 896 Vgl. zum Beispiel Volker Meid: »Utopie und Satire in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹«. In: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 249–265, vor allem S. 250. 897 Zur Position dieser Episoden in der Reihe der von Simplicius besuchten Höfe vgl. Jörg Jochen Berns: »Simplicius bei Hofe. Eigenart und Funktion der Hofdarstellung im Simplicissimus-Roman«. In: Simpliciana XXIV (2002), S. 243–257. Ausgeklammert bleiben hier die allegorischen, utopischen und satirischen Dimensionen beider Episoden, da sie weniger die Verfasstheit der erzählten Welt betreffen, sondern vielmehr ihre Deutung und das Verhältnis zur soziohistorischen Realität. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Meid (Anm. 896); Joël Lefebvre: »Das Utopische in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹. Ein Vortrag«. In: Daphnis 7 (1978), S. 267–285; Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994, bes. S. 298–303; Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a. M. 1988, bes. S. 211–221.
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Diegese des Romans ist ›pluriregional‹, da sie sich durch die Koexistenz mehrerer Realitätssysteme auszeichnet. Diese erzählten Welten des Simplicissimus sind insofern unstabil, als sie Produkt des autodiegetischen, teils zudem unzuverlässigen Erzählers Simplicius sind. Der väterliche Hof entsteht aus der ironischen Verquickung von Oppositionen, die eine verfremdete Welt evoziert; in ihrer Funktionsweise folgt diese Welt einem realistischen Paradigma. Dadurch, dass Simplicius als autodiegetischer Erzähler durch die Ironisierung und motivische Überlagerung des realistischen Kerns eine hybride, letztlich nur imaginär existente Welt hervorbringt, ist der Hof als Welt in besonderem Maße unstabil. Die Welt des Sylphenreiches hingegen wird mit objektivem Gestus erzählt; durch die Dominanz des Wunderbaren ist sie im Sinne Martínez-Bonatis fantastisch. Der Vergleich zwischen beiden Welten lässt über Martínez-Bonatis Kategorien hinaus einen weiteren differenzierenden Aspekt deutlich werden: Während die Welt des Hofes mit der Plünderung durch die Soldaten ihren Status verliert und in der sie umgebenden Welt aufgeht, bleibt die Welt der Sylphen auch über Simplicius’ Besuch hinaus bestehen. Das Eindringen des Helden führt nicht zu einer ›revolutionären‹ Veränderung der raumzeitlichen Ordnung.898 Die raumzeitliche Architektur der Diegese (als Gesamtheit aller erzählten Welten) ist jedoch nicht durchweg konsistent, denn Räume, die WeltQualitäten besitzen, können diese verlieren. Insofern ist das erzählte Universum des Simplicissimus – bezieht man beide Fälle mit ein – ›dynamisch‹, damit ist es vergleichbar mit dem Reich Pius Amor aus Georg Messerschmids Brissonetus. Die raumzeitliche Beschaffenheit des Sylphenreiches ist aber ›statisch‹, denn Simplicius’ Eindringen ändert nichts an seiner Struktur.
9.1 Der väterliche Hof: Differenzlosigkeit als Zeitlosigkeit Der Hof, von dem Simplicius’ Reise ihren Anfang nimmt, bildet einen in sich geschlossenen Raum, der erst mit dem Überfall durch die Soldaten geöffnet wird. Geografisch ist er isoliert, denn er liegt »in den Bergen« (ST V 8, 478). Für Simplicius stellt er den zunächst einzig erfahrenen Raum dar, da ihm »die Wege und der Wald«, die er bei seiner Flucht durchstreift, »so wenig bekant waren / als die Straß durch das gefrorne Meer / hinder Nova Zembla, biß gen China hin-
|| 898 Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 158.
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ein« (ST I 5, 30).899 Auch in seiner Vorstellung gibt es nichts außerhalb dieses Raumes, denn – so gesteht er – [k]urtz zuvor [d.h. vor dem Überfall] konte ich nichts anders wissen noch mir einbilden / als daß mein Knan / MeFder / ich und das Fbrige Haußgesind / allein auff Erden seye / weil mir sonst kein Mensch / noch einige andere menschliche Wohnung bekant war (ST I 4, 27).
Entsprechend weltumfassend erscheint ihm der Tätigkeitsbereich seines Vaters zu sein: Gleichsam »die gantze Weltkugel / so weit er reichen konte«, bewirtschaftet der Knan »und jagte ihr damit alle Ernd ein reiche Beut ab« (ST I 1, 19). Ausdruck findet die Welthaftigkeit des Hofes in der ihm eigenen Zeit, denn innerhalb des Hofes gilt die temporale Sukzession der Außenwelt nicht. Er ist durch das Fehlen von Differenzen gleichsam zeitlich stillgestellt. Die ›Perfektion‹ des Simplicius und die ›Beständigkeit‹ des Hofes – als dominierende Motive – gehen mit einer Differenzlosigkeit zwischen Sachverhalten und Zuständen einher, die jede Progression von Zeit gleichsam verunmöglicht. Denn nur dort, wo es Differenzen gibt, materialisiert sich Zeit. Diese Differenzlosigkeit findet man – teils freilich mit einem ironischen Unterton versehen – auf verschiedenen Ebenen: Sie charakterisiert die Beschreibung des Hofes durch eine sprachliche coniunctio oppositorum und Simplicius’ Unfähigkeit, Differenzen zu erkennen, den Zustand der Perfektion, den der Held dort paradoxerweise von Beginn an innehat, sowie die materielle Beständigkeit des Ortes. Diese drei Aspekte seien im Folgenden ausgeführt. Die coniunctio oppositorum charakterisiert die Verfasstheit dieses Raumes, denn in ihm fallen Oppositionen in eins: so das Höfische mit dem Bäuerlichen. Mottoartig thematisiert Simplicius zu Beginn seiner Beschreibung des Hofes diese Verschränkung, die allein auf der Grundlage einer Differenznivellierung und des Verschwimmens von Grenzen möglich ist.900 Die Differenz zwischen zwei gegensätzlichen Lebensbereichen wird erzählerisch dadurch überspielt, dass Simplicius zur Bezeichnung alltäglicher bäuerlicher Verrichtungen militärisches und/oder höfisches Vokabular nutzt. Die Perspektive des beschränkt wissenden jungen Simplicius (erlebendes Ich), dem nur ersterer bekannt ist,
|| 899 In dieser Passage überlagern sich die Wahrnehmung des erlebenden und das Wissen des erzählenden Ichs, vgl. zu den Arten und Funktionen, in denen das erzählende Ich sich einschaltet, Lothar Schmidt: »Das Ich im ›Simplicissimus‹«. In: Wirkendes Wort 10 (1960), S. 215– 220, bes. S. 215 f. 900 Vgl. Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 364–366.
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wird dabei kombiniert mit derjenigen des wissenden Erzählers (erzählendes Ich), der vertraut ist mit der höfischen Gesellschaft, mit der Organisation des Militärs und der polyhistorisches Wissen besitzt.901 Zwar steht das Vokabular des Bäuerlichen und des Höfischen kontrastierend nebeneinander, aber in der konkreten Bezeichnung eines Vorganges bzw. einer Sache fallen beide zusammen – dadurch, dass zwei Signifikanten sich letztlich auf ein Signifikat beziehen, verschwindet die Differenz: Die RFst- oder Harnisch-Kammer war mit PflFgen / K(rsten / Aexten / Hauen / Schaufeln / Mist- und Heugabeln genugsam versehen / mit welchen Waffen er [der Knan] sich t(glich Fbet; dann hacken und reuthen war seine disciplina militaris, wie bey den alten R=mern zu Friedens-Zeiten / Ochsen anspannen / war sein Hauptmannschafftliches Commando, Mist außfFhren / sein Fortification-wesen / und Ackern sein Feldzug / Stall-außmisten aber / sein Adeliche Kurtzweil und Turnierspiel […]. (ebd., 19, H. i. O.)
Die Differenzverwischung betrifft nicht ausschließlich das Erzählen von diesen beiden distinkten Lebensbereichen, sie ist auch ein Charakteristikum seiner Wahrnehmung. Aus der Retrospektive stellt Simplicius nämlich fest, dass ihm »damals« elementare, teils axiologische Leitdifferenzen (»GOtt«/»Menschen«; »Himmel«/»H=ll«; »Gutes«/»B=ses«) unbekannt waren: Aber die Theologiam anbelangend / laß ich mich nicht bereden / daß einer meines Alters damals in der gantzen Christenwelt gewest seye / der mir darinn h(tte gleichen m=gen / dann ich kennete weder GOtt noch Menschen / weder Himmel noch H=ll / weder Engel noch Teuffel / und wuste weder Gutes noch B=ses zu unterscheiden: Dahero ohnschwer zu gedencken / daß ich vermittelst solcher Theologiæ wie unsere erste Eltern im Paradis gelebt / die in ihrer Unschuld von Kranckheit / Todt und Sterben / weniger von der Aufferstehung nichts gewust […]. (ebd., 20)
Gerade aus dem Fehlen des Differenzbewusstseins ergibt sich die Nähe des Ortes zum Paradies. Simplicius lebt auf dem Hof »wie unsere erste Eltern im Paradis«.902 Das Paradies als christlicher Topos überlagert – neben dem Bäuerli-
|| 901 Vgl. Walter Müller-Seidel: »Die Allegorie des Paradieses in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹«. In: Hans Robert Jauss/Dieter Schaller (Hrsg.): Medium Aevum Vivum. Festschrift für Walther Bulst. Heidelberg 1960, S. 253–278, vor allem S. 258. 902 Auf der Kreuzinsel überschreibt Simplicius seine Höhle mit einem Epigramm, in dessen Metapher vom »Finstern Liecht« ganz direkt die Verbindung zwischen der coniunctio oppositorum und dem einheitlichen und differenzlosen Göttlichen gezogen wird: »Ach allerh=chstes Gut! du wohnest so im Finstern Liecht! // Daß man vor Klarheit groß / dem grossen Glantz kan sehen nicht« (C 24, 683). Vgl. Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern/ München 1978, S. 78 f.
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chen und Höfischen als drittes thematisches Feld – die Darstellung des Hofes.903 Im Wolf, der die Tiere und Bewohner des Hofes gefährdet, überlagern sich eigentliche und bildhafte Bedeutung. Der »Wolff« (ST I 2, 23) – im biblischen Sinne der »böse feind« oder der »falsche prophet«904 – ist die einzige Bedrohung dieses Paradieses, vor welcher der Vater seinen Sohn warnt. Die für Simplicius’ Wahrnehmung der Dinge und sein Wissen postulierte Differenzlosigkeit gilt gleichermaßen für einen im engeren Sinne temporalen Zusammenhang. Perfektion setzt Zeit und einen teleologisch ausgerichteten Prozess voraus, an dessen Ende der vollkommene Zustand steht, der sich in signifikanter Weise von einem Anfangszustand unterscheidet.905 Mit Blick auf die Verknüpfung von Perfektion, zeitlicher Sukzession und Teleologie ist es jedoch paradoxerweise so, dass Simplicius bereits zu Beginn seines Lebens (und nicht erst am Ende) perfekt ist. Perfektion basiert auf Zeit als ihrer Möglichkeitsbedingung, dies suggeriert eine Reihe von Passagen im Simplicissimus. Simplicius wird im Laufe seines Lebens »zu einem perfecten Rechenmeister« (ST III, 13, 295), einem »perfecte[n] Fechter« (ST V 4, 458), als Musiker schlägt er »perfect auff dem Jnstrument« (ST IV 3, 358) – und wie der Pfarrer dem Gouverneur Ramsay gegenüber beteuert, hat Simplicius seine Geschichte »so perfect daher erzehlet / dergleichen man bey (lteren / erfahrneren und belesneren Leuten / als er ist / nicht leichtlich finden wird« (ST II 13, 165). »[N]och perfecter zu werden« (ST III 17, 312), ist das angestrebte Ziel, aber dazu bedarf es Zeit. All die Dinge, die wenig Zeit in Anspruch nehmen, werden als qualitativ minderwertig abgewertet. Soll etwas dagegen zur »vollkommenen Verfertigung« gelangen, müssen »Zeit und Arbeit« investiert werden (ST I 1, 18). Der Einsiedler weist Simplicius darauf hin, dass es »Zeit brauchen« wird (ST I 10, 44), um lesen zu lernen. Insofern Zeit als jene Dimension begriffen wird, die »alles (ndert« (ST I 13, 51) und die dazu genutzt werden kann, etwas zu schaffen und zu perfektionieren, spricht Hertzbruder, als er Soldaten beim Glücksspiel beobachtet, von der »edlen Zeit«, »die man mit dem Spielen unnFtz hinbringet« (ST II 20, 191; vgl. zudem ST III 10, 280). Zeit wird nicht nur im weltlichen Kontext zu einem potenziellen Möglichkeitsraum der Perfektion; sie ist es auch in heilsgeschichtlicher Perspektive. In beiden gilt es, sie nicht »unnFtz« zu vergeuden:
|| 903 Vgl. Müller-Seidel (Anm. 901), S. 254. 904 [Lemma] »Wolf«. In: DWB, Bd. 30, Sp. 1242–1253, hier Sp. 1243 f., H. i. O.; vgl, hierzu auch Breuer, Kommentar, S. 798. 905 Ähnliches beobachtet Reinhart Koselleck mit Blick auf die Historiografie, vgl. Koselleck (Anm. 119), bes. S. 362 f.
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[W]er die edle ohnwiederbringliche Zeit vergeblich hinstreichen l(st / der verschwendet die jenige G=ttliche Gaab ohnnFtzlich / die uns verliehen wird / unserer Seelen Hail in: und vermittelst derselbigen zuwFrcken (C 1, 563).
Immer dann wird Zeit zum Möglichkeitsraum von weltlicher wie heilsgeschichtlicher (perfektionierender) Veränderung, wenn sie mit ›Erfahrung‹ gefüllt wird. Erfahrung ist, wendet man es mit Reinhart Koselleck ins Zeitlogische, eine »gegenwärtige Vergangenheit«.906 In der möglichen Erfahrung und ihrer Verlängerung über den Erfahrungsmoment hinaus liegt das Potenzial der Zeit. Entsprechend versucht der Pfarrer gegenüber Ramsay das Fehlverhalten des Simplicius durch dessen »Einfalt« zu rechtfertigen und legt seine Hoffnung in die Zeit: Jch habe hiebevor Versicherung gethan / daß er Witz genug gehabt / daß er sich aber in die Welt nicht schicken k=nnen / war die Ursach / daß er bey seinem Vatter einem groben Bauren / und bey eurem Schwager in der Wildnus / in aller Einfalt erzogen worden / h(tte man sich anf(nglich ein wenig mit ihm geduldet / so wFrde er sich mit der Zeit schon besser angelassen haben […]. (ST II 13, 163 f.)
Und so ist auch Ramsay davon überzeugt, dass es mit Simplicius besser werden wird, wenn er »herumb terminirte / etwas sehe / hörte / und von andern geschulet / oder wie man sagt / gehobelt und gerülpt würde« (ST I 26, 97, H. i. O.). Programmatisch verbunden werden Aspekte der Zeit, Perfektion, Veränderung und Erfahrung in der tabula-rasa-Metapher, wie sie Simplicius in Anlehnung an Aristoteles ins Spiel bringt. In der Vorstellung von der »Seele eines Menschen [als] einer l(eren ohnbeschriebenen Tafel« (ST I 9, 41) tritt die Bedeutung von Erfahrung und Ereignissen hervor, die sich mit der Zeit in die Tafel einschreiben. Simplicius kommt zu dem Schluss, dass die Seele eine Tafel ist, darauff man allerhand notiren k=nne / und daß solches alles darumb von dem h=chsten Sch=pffer geschehen seye / damit solche glatte Tafel durch fleissige Impression und Ubung gezeichnet / und zur Vollkommenheit und perfection gebracht werde (ST 1 9, 41, H. i. O.).
Denn die Erfahrung ist es, die als Element der Vergangenheit in einer Gegenwart präsent bleibt. Die Perfektion wiederum ist, solange sie nicht erreicht wurde, eine Projektion ins Zukünftige. Vor dem Hintergrund dieser im Roman explizit hergestellten Verbindungsund Abhängigkeitslinien zwischen Perfektion und Zeit ist es paradox, dass Simplicius seinen Zustand auf dem heimischen Hof als »perfect und vollkom-
|| 906 Koselleck (Anm. 119), S. 354.
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men« charakterisiert, wenngleich dieses auch unter negativen Vorzeichen und ironisch gebrochen geschieht:907 »Ja ich war so perfect und vollkommen in der Unwissenheit / daß mir unmFglich war zu wissen / daß ich so gar nichts wuste« (ST I 1, 20). Indem Simplicius von Anfang an den Zustand der Perfektion als einen absoluten Endpunkt innehat, kann Zeit nicht in Differenzen zwischen Vergangenem und Folgendem manifest werden. In der impliziten Negation temporaler Kontinuität erhält der Hof einen quasi atemporalen Charakter. Diese temporale Statik des Hofes wird motivisch noch aus anderen Perspektiven variiert, denn die Materialien, aus denen der Hof gebaut ist, sind vorgeblich auf Beständigkeit ausgelegt. Freilich entbehrt auch diese Schilderung nicht der ironischen Verfremdung, insofern vom Erzähler dem Unedleren vor dem eigentlich Wertvolleren der Vorzug gegeben wird. Die »Mauer umb sein Schloß« lässt der Knan, so Simplicius, nicht mit Mauersteinen / die man am Weg findet / oder an unfruchtbaren Orten auß der Erden gr(bt / viel weniger mit liederlichen gebachenen Steinen / die in geringer Zeit verfertigt und gebr(ndt werden k=nnen / wie andere grosse Herren zu thun pflegen / auffFhren; sondern er nam Eichenholtz darzu / welcher nutzliche edle Baum […] biß zu seinem vollst(ndigen Alter Fber 100. Jahr erfordert […]. (ebd., 18)
Mit dem Verweis auf das »Eichenholtz« wird eine motivische Reihe von alten, eben nicht in »geringer Zeit verfertigt[en]« sowie beständigen Materialien eingeleitet. Die Wohnräume hat der Vater »vom Rauch gantz erschwartzen lassen«, »dieweil diß die best(ndigste Farb von der Welt ist« (ebd., 18). Und von den Fenstern des Hofes heißt es: Seine Fenster waren keiner anderer Ursachen halber dem Sandt Nitglaß gewidmet / als darumb / dieweil er [der Knan] wuste / daß ein solches vom Hanff oder Flachssamen an zu rechnen / biß es zu seiner vollkommenen Verfertigung gelangt / weit mehrere Zeit und Arbeit kostet / als das beste und durchsichtigste Glas von Muran […]. (ebd., 18 f.)
Insofern Beständigkeit sich gerade dadurch auszeichnet, dass keine Veränderungen eintreten, und Perfektion den Schlusspunkt eines Prozesses anzeigt, erweisen sich beide als Variation der Differenzlosigkeit. Zustandsverändernde Ereignisse, die Zeit indizieren würden, finden in diesem Raum nicht statt: Er ist – unabhängig von der impliziten Ironie908 – in der Beschreibung des Simplicius stillgestellt und befindet sich gleichsam außerhalb einer fortschreitenden
|| 907 Vgl. Müller-Seidel (Anm. 901), S. 256. 908 Vgl. Geulen (Anm. 51), S. 214; Cordie (Anm. 900), S. 367.
Der Mummelsee: paradoxe Zeitlichkeit | 303
Zeit.909 Durchbrochen wird der »unveränderliche« Raum des Hofes durch die Soldaten,910 die »in einem Augenblick« (ST I 3, 25) – also einem Punkt temporaler Verdichtung – in ihn eindringen, seine Ordnung durcheinander bringen und ihn in die Diegese eingliedern, denn, wie Hans Geulen treffend formuliert, im »Nu und ohne jeden Übergang« wird die »abseits der Welt und in sich geschlossen ruhende ›Spessarterei‹« in das »Geschehen[ ] hineingezogen«.911 Mit dieser ›revolutionären‹ Transgression der Grenze durch die Soldaten, die Simplicius aus der Welt des elterlichen Hofes zu fliehen veranlasst, beginnt der Roman. Im Gegensatz zur Welt des Mummelsees aber, die von der temporären Transgression der Weltengrenze unverändert bleibt, scheint sich die atemporale Welt des elterlichen Hofes damit aufzulösen. Grimmelshausen kombiniert in der Mummelsee-Episode verschiedene Wissens- und Quellenbestände: Als Prätexte werden unter anderem das Liber de Nymphis von Paracelsus ebenso ins Feld geführt wie naturkundliche Quellen,912 Hans Sachs’ Spruchgedicht Die undtertrückt fraw Warheyt (1537) und die Tradition der Menippea (oder konkret Lukian, auf den sich auch Hans Sachs explizit bezieht).913 Diese Quellen sind hier insofern relevant, als die raumzeitliche Heterogenität bereits in den Prätexten und in der literarischen Tradition von der Menippea bis zum Schelmen- und Picaroroman vorgeprägt ist – doch dazu im Ausblick mehr.
9.2 Der Mummelsee: paradoxe Zeitlichkeit Angeregt von »seltzame[n] Historien« (ST V 10, 485) über den Mummelsee, die Simplicius von den örtlichen Bauern hört und die ihm erfunden zu sein scheinen,914 will er sich selbst ein Bild machen und den Geschichten nachgehen.915
|| 909 Zeit realisiert sich, so Cordie, wenn überhaupt, im zyklischen Rhythmus des bäuerlichen Lebens, vgl. Cordie (Anm. 900), S. 368. 910 Vgl. Cordie (Anm. 900), S. 370. 911 Geulen (Anm. 51), S. 219. 912 Johanna Belkin: »Ein natur- und quellenkundlicher Beitrag zur Mummelsee-Episode im ›Simplicissimus‹«. In: Simpliciana IX (1987), S. 101–138; Belkins Untersuchung ist für die nachfolgenden Überlegungen aber insofern nicht relevant, als ihr Augenmerk vor allem auf Mineralien liegt. 913 Vgl. zu den Bezugnahmen auf Sachs und die Menippea vgl. vor allem Trappen (Anm. 897), S. 300 f. 914 Die Geschichten, die Simplicius über den Mummelsee hört, lassen in im ein ambivalentes Gefühl zurück: »sie hatten auch unterschiedliche alte Bauersleut beschickt / die erzehlen musten / was einer oder der ander von diesem wunderbarlichen See geh=ret h(tte / deren Relation ich dann mit grossem Lust zuh=rte / wiewol ichs vor eitel Fabuln hielte / denn es
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Auch wenn der See »in der Nachbarschafft« zu Simplicius’ ehemaligen Hof (ebd., 484) liegt, ist er nicht einfach zu erreichen. Abgeschieden »auff einem von den höchsten Bergen« (ebd., 484) kann man »schwerlich hin reuten« (ST V 12, 489). »Nähe und Ferne«, so formuliert Jana Maroszová, »verschränken sich hier also eigenartig«.916 Die geografische Isolation des »wunderbarlichen See[s]« (ST V 10, 484) markiert die Differenz zwischen ihm und dem ihn umgebenden Raum. Der See wird von den Figuren als ein Raum des Seltsamen sowie Wunderbaren wahrgenommen.917 Dafür sprechen auch die Anekdoten, die Simplicius erzählt werden: Man solle keine Steine in ihn werfen, da sodann Wassermännlein heraufkommen und »ein grausam Ungewitter / mit schr=cklichem Regen / Schlossen und Sturmwinden« aufzieht (ebd., 484 f.). In diesen wunderbaren Raum dringt Simplicius mit wissenschaftlichen Messinstrumenten ein.918 Als Simplicius versuchsweise Steine in den See befördert, tritt genau das ein, wovor die Bauern warnten: »Da fieng die Lufft an den Himmel mit schwartzen Wolcken zu bedecken / in welchen ein grausames Donnern geh=ret wurde« (ST V 12, 491), »Wasser-M(nnlein« tauchen auf und bringen die Steine wieder an ihren Platz (ebd., 492). Der »vornehmste aber unter ihnen / dessen Kleidung
|| lautete so lFgenhafftig / als etliche Schwenck deß Plinii« (ST V 10, 484, H. i. O.). Gespielt wird auch bei der Schilderung dieser Reise mit dem ambiguen Status des Erzählten, vgl. Bässler (Anm. 892), S. 126–128. 915 Zur Bedeutung der curiositas (ST III 23, 340; ST IV 1, 351) vgl. Dieter Breuer: »Grimmelshausens Simplicianische Frömmigkeit: Zum Augustinismus des 17. Jahrhunderts«. In: Ders. (Hrsg.): Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Amsterdam 1984, S. 213–252, bes. S. 227–229; Gaede (Anm. 902), S. 74 f. 916 Jana Maroszová: »Denn die Zeit ist nahe«. Eschatologie in Grimmelshausens Simplicianischen Schriften: Zeit und Figuren der Offenbarung. Bern u. a. 2012, S. 300; vgl. Cordie (Anm. 900), S. 421. 917 Vgl. ST V 10, 485; ST V 12, 492 f.; ST V 15, 506. Vgl. zudem Alexander Weber: »Über Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹«. In: Daphnis 23 (1994), S. 61– 84, bes. S. 81, vgl. dazu auch Cordie (Anm. 900), S. 427; Alexander Weber: »Allegorie und Erzählstruktur in Gottfrieds ›Tristan‹, Grimmelshausens ›Simplicissimus‹ und Thomas Manns ›Zauberberg‹«. In: Colloquia Germanica 32 (1999), S. 223–255, bes. S. 235. 918 Vgl. Heßelmann (Anm. 897), S. 212; Weber 1994 (Anm. 917); Jost Eickmeyer: »Grimmelshausen als ›Erfinder der teutschen Science Fiction‹? Zur Mummelsee-Episode im ›Simplicissimus‹«. In: Simpliciana XXIX (2007), S. 267–284, bes. S. 273–275. Belkin zeigt, wie sich das Interesse am Naturkundlichen nicht allein in den Motiven der Passage niederschlägt, sondern ebenso in der Lexik, vgl. Belkin (Anm. 912), S. 103. Ausgehend vom Umgang mit Mineralien attestiert Belkin, dass sich »in der Mummelsee-Episode ein Weltbild beobachten [lässt], das einerseits progressiv zu modernen empirischen Sachkenntnissen tendiert, aber andererseits auch Züge traditionell-philosophischen und theologischen Denkens aufweist« (Belkin [Anm. 912], S. 119).
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wie lauter Gold und Silber gl(ntzte«, der Sylphenprinz, wirft Simplicius einen »leuchtenden Stein« zu (ebd., 492) – eine parallele Stelle findet sich in Sachs’ Spruchgedicht.919 Darauf hat Simplicius das Gefühl, dass ihn »die Lufft […] ersticken oder ers(uffen« will, und stürzt sich deshalb in den See (ebd., 492). Begleitet wird sein Absinken von einer körperlichen Transformation, die er auch bei den Wassermännlein beobachtet.920 Simplicius kann plötzlich unter Wasser atmen. Die Phase des Abtauchens, an deren Ende er das Reich der Sylphen im »Centrum Terrae« erreicht (ebd., 489), stellt – wie Alexander Weber betont – den »Übergang zwischen zwei inkommensurablen Welten« dar, in der Transgression der Grenze zwischen ihnen werden dabei Raum und Zeit relativiert.921 Die grundlegende Differenz zwischen der Oberwelt und dem Erdinnern gilt insbesondere im Hinblick auf die temporale Disposition der Bewohner wie der von ihnen besiedelten Welten. In der explizit postulierten Weltordnung, in die die Sylphenwelt eingebettet wird, und in der Bedeutung von Ereignissen für die Sylphen zeigen sich die raumzeitliche Eigenheit der Sylphenwelt und die Pluriregionalität der erzählten Welt. Der Prinz des Mummelsees entwirft im Gespräch mit Simplicius eine Weltenordnung, die mehrere Ebenen umfasst. Er erläutert die Unterschiede zwischen den Welten, ihren Bewohnern sowie den verschiedenen Zeitsystemen anhand der Schöpfungsordnung und Heilsgeschichte. Die »heilige[n] Engel sind Geister«, die »zu dem Ende erschaffen [wurden] / daß sie in ewiger Freude GOtt loben« (ST V 13, 496). Ihre Existenz ist gleichsam raumlos, denn die Attribute, die den Engeln zugeschrieben werden, enthalten keine räumliche Dimension, aber eine zeitliche: Sie sollen Gott in »ewiger Freude« verehren. Erst mit ihrem Abfall aus »Hoffart« wurden die »Welt« und der Mensch mit seiner »vernFnfftigen und unsterblichen Seel« erschaffen (ebd., 497); und dies mit dem Ziel, »daß der irdische Mensch […] die angeregte Zahl der gefallenen Engel« ersetzt (ebd., 497). Nach dem Sündenfall jedoch ändert sich die Position des Menschen in der Hierarchie der »Creaturen« (ebd., 496), er wird zum »Mittel […] zwischen den heiligen Engeln und den unvernFnfftigen Thieren« (ebd., 497),
|| 919 Vgl. Trappen (Anm. 897), S. 300. 920 Vom Auftauchen der Sylphen berichtet Simplicius: »[I]ch wurde nichts dergleichen gewahr / sondern sahe sehr weit gegen den abyssum etliche Creaturen im Wasser herum fladern / die mich der Gestalt nach an Fr=sch ermahnten / und gleichsam wie Schwermerlein auß einer auffgestiegenen Raquet, die im Lufft ihr WFrckung der GebFhr nach vollbringt / herumb vagirten; und gleich wie sich dieselbige mir je l(nger je mehr n(herten / also schienen sie auch in meinen Augen je l(nger je gr=sser / und an ihrer Gestalt den Menschen desto (hnlicher« (ST V 12, 492, H. i. O.). Zu Fragen der Zeitwahrnehmung vgl. meinen Aufsatz Werner (Anm. 468). 921 Weber 1999 (Anm. 917), S. 236.
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denn gleich wie eine heilige entleibte Seel eines zwar irdischen doch himmlisch-gesinnten Menschen alle gute Eigenschafft eines heiligen Engels an sich hat / also ist der entseelte Leib eines irdischen Menschen (der Verwesung nach) gleich einem andern Aaß eines unvernFnfftigen Thiers […]. (ebd., 497)
Der Mensch ist, wie es der Sylphenprinz später formuliert, »zum ewigen seeligen Leben / und den unendlichen himmlischen Freuden erschaffen«, doch kann er sich von den »zeitliche[n] und irdische[n] WollFste[n]« nicht lösen (ST V 14, 504). Er steht solchermaßen zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit. Die Sylphen hingegen sind das »Mittel zwischen [den Menschen] und allen andern lebendigen Creaturen der Welt«, denn, wenn sie auch eine »vernFnfftige Seele haben / so sterben jedoch dieselbige mit [ihren] Leibern gleich hinweg / gleichsam als wie die lebhaffte Geister der unvernFnfftigen Thiere in ihrem Todt verschwinden« (ST V 13, 497). Der Prinz gesteht seine limitierte Position ein: Aber ich rede und verstehe hier nichts von der Ewigkeit / weil wir deren zu geniessen nicht f(hig seyn / sondern allein von dieser Zeitlichkeit / in welcher der AllergFtigste Sch=pffer uns genugsam beseeligt / als mit einer guten gesunden Vernunfft / mit Erkantnus deß Allerheiligsten Willens Gottes / so viel uns vonn=then / mit gesunden Leibern / mit langem Leben / mit der edlen Freyheit / mit genugsamer Wissenschafft / Kunst und Verstand aller natFrlichen Dinge / und endlich / so das allermeiste ist / sind wir keiner SFnd / und dannenhero auch keiner Straff / noch dem Zorn Gottes / ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen […]. (ebd., 498)
Auf drei Ebenen basiert also der Weltentwurf des Sylphenprinzen. Die drei Welten mit ihrer je spezifischen Raumzeit werden von drei verschiedenen »Creaturen GOttes« (ebd., 496) bewohnt. Die Welt der Engel ist quasi unräumlich, da sie vor der als Raum geschaffenen Welt existierte, und zugleich ausschließlich ewig. Die Welt des Menschen, der die Disposition zur Ewigkeit hat, aber in der Zeitlichkeit lebt, ist die Erdoberfläche. Die Sylphen aber, die die Vernunft mit den Menschen teilen und sich somit von den Tieren abheben, leben allein in der Zeitlichkeit. Im Gegensatz zur Weltoberfläche, die von Menschen und Tieren bewohnt wird und als Raum Zeitlichkeit und Ewigkeit nebeneinander stehen lässt, ist das Reich der Sylphen als Raum des Wunderbaren eine Welt der reinen Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit ist allein konzeptuell, denn sie schlägt sich nicht in der Art nieder, wie die Welt der Sylphen funktioniert. Das Paradoxon des Sylphenreiches besteht darin, dass der reinen Zeitlichkeit der Welt kein ereignisbasier-
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tes Pendant gegenübersteht.922 Ereignisse, die Zeit indizieren könnten, finden im Reich der Sylphen entweder nicht statt oder sie werden rückgängig gemacht. Die Zeit geht spurlos an den Sylphen vorbei; über ihre Körper und ihren Tod weiß der Prinz zu berichten: [U]nd gleich wie ihre Weiber in coitu keine Wollust empf(nden / also seyen sie hingegen auch in ihren Geburten keinen Schmertzen unterworffen […] So stFrben sie auch nicht mit Schmertzen / oder auß hohem gebrechlichem Alter / weniger auß Kranckheit / sondern gleichsam als ein Liecht verlesche / wenn es seine Zeit geleuchtet habe / also verschwinden auch ihre Leiber sampt den Seelen […]. (ebd., 498 f.)
Die Sylphen sind »nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen« (ebd., 498), wodurch die tabula ihres Körpers immer leer bleibt. Es gibt keine Vergangenheit, die zu einem Zeitpunkt an ihren Körpern ablesbar wäre. Der Tod als »Chiffre der Zeitlichkeit«923 markiert bei ihnen kein einschneidendes Ereignis, sondern den Endpunkt einer gleichbleibenden Existenz, die nicht beeinflusst werden kann, denn, so erzählt der Prinz des Mummelsees, »sie [die Sylphen] k=nten weder von uns [d.h. den Sylphen selbst] noch andern Creaturen get=dtet / noch zu etwas unbeliebigem gen=tiget / viel weniger bef(ngnust werden« (ebd., 499). Zustandsverändernde Ereignisse als Indikatoren von Zeit treten innerhalb der Welt der Sylphen nicht auf. Allein die von Menschen in den Mummelsee geworfenen Steine bringen als externe Elemente (und Lotman’sche Ereignisse par excellence924) die statische Ordnung der Bewohner aus dem Gleichgewicht. Sie verursachen eine »sch(dliche Confusion« (ST V 14, 501) und bedrohen dadurch sowohl die Ordnung der unterirdischen Sylphenwelt als auch diejenige der Menschenwelt, da, so erklärt der Sylphenprinz, wenn die Stein von uns [den Sylphen] nicht außgetragen […] so mFsten endlich zugleich die Geb(nde / damit das Meer an die Erde gehefftet und bevestiget / zerst=ret und die G(nge / dardurch die Quellen auß dem Abgrund deß Meers hin und wieder auff die Erde geleitet / verstopfft werden […]. (ebd., 501)
|| 922 Ähnliches konstatiert Jana Maroszová, denn mit dem Erreichen des Mittelpunktes der Erde »befindet sich [Simplicius] an einem Ort, an dem auch die Zeit gleichsam ihre Mitte erreicht hat und zum Stillstand gekommen ist« (Maroszová [Anm. 916], S. 300). 923 Voßkamp (Anm. 546), S. 83. 924 Vor dem Hintergrund der räumlichen Struktur der Diegese wird der in die Sylphenwelt eindringende Stein zum grenzüberschreitenden Phänomen. Die Grenzüberschreitung gelingt, doch ist sie nicht langfristig. Durch die Handlungen der Sylphen wird sie wieder rückgängig gemacht. Als »aufgehobene Überschreitung« ist sie ›restitutiv‹, vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 154), S. 156–160, bes. S. 158; Lotman (Anm. 510), S. 356 f.
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Und wenn das System der Wasserversorgung gestört ist, drohe – so fährt der Prinz des Sees fort – der »gantzen Welt Untergang« (ebd., 501). Aber dadurch, dass die Sylphen die Steine entfernen und an ihren ursprünglichen Platz bringen, verhindern sie dieses und machen so die eingetretenen Ereignisse wieder rückgängig. Bereits am Ufer des Sees beobachtet Simplicius, dass die Sylphen jene Steine, die er hinunter geworfen hatte, wieder an die Oberfläche bringen und sie an »eben de[n] Ort« legen, wo sie vorher lagen (ST V 14, 500). Zweierlei ist also für diese Region der erzählten Welt charakteristisch: Die Welt der Sylphen zeichnet sich also sowohl durch die ereignislose Disposition der SylphenKörper aus als auch durch eine permanente Restitution aller durch äußere Einflüsse eingeleiteten Ereignisse. Sie befindet sich, wie es Ansgar M. Cordie formuliert, zudem »außerhalb der Geschichte«.925 Als Indiz dafür fungiert die Natursprache (lingua adamica), die von den Sylphen gesprochen wird und die mit dem Turmbau von Babel den Menschen verloren ging. Die reine Zeitlichkeit des Sylphenreiches ist, dies zeigt der Blick auf die Körper der Sylphen sowie die Ereignisse im Sylphenreich, ereignislogisch leer.
9.3 Generische Traditionen ›pluriregionaler Welten‹ Die räumliche Extension der erzählten Welten im Simplicissimus – über die Oberfläche hinaus – und ihre raumzeitliche Heterogenität gehören einerseits in einen historischen und andererseits in einen generischen Zusammenhang. In vormodernen Erzähltexten wird kein homogener moderner ›Systemraum‹ entworfen, der sich mit der Etablierung der Perspektive in der Frühen Neuzeit erst durchsetzt und durch eine einheitliche Strukturierung auszeichnet.926 Obzwar für die Frühe Neuzeit eine zunehmende Homogenisierung des Raumes attestiert wurde,927 finden sich solche pluralen Raumkonzepte auch darüber hinaus. Denn Gattungen, und damit komme ich zum zweiten Aspekt, besitzen je eigene räumliche und zeitliche Konventionen. Bereits die erste anonyme Fortsetzung des Lazarillo de Tormes von 1555 verschiebt die Handlung in ein Thunfisch-Reich. Lázaros Schiff verunglückt auf dem Weg nach Algerien, er sinkt zum Meeresboden hinab und verwandelt sich, || 925 Cordie (Anm. 900), S. 435; vgl. ST V 15, 506 und ST V 16, 512 (und Breuers Kommentar). 926 Vgl. Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›Symbolische Form‹« [1927]. In: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, S. 99–167. 927 Vgl. Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikabeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 347–349.
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durch das Eingreifen des Gottessohns, in einen Thunfisch. Vierzehn von achtzehn Kapiteln dieser anonymen Fortsetzung gelten den Geschehnissen im Thunfisch-Reich. Diese sind von der »akzentuierten Historizität« der AlgerienFahrt, die sich wohl auf den Algerienkrieg von 1541 bezieht, separiert, wiederholen aber die »Dreieckskonstellation« in der Figurenanordnung des ersten Teils.928 Zudem dient die Thunfisch-Handlung dazu, einen »Vergleich zwischen tierischem und menschlichen Wesen« anzustellen.929 Und auch in der zweiten Fortsetzung der Vida de Lazarillo de Tormes von Juan de Luna (1620) sinkt der Held auf den Grund des Meeres ab, ohne sich aber zu verwandeln.930 Die Episoden aus den beiden Fortsetzungen sind teils strukturell analog zur SylphenEpisode des Simplicissimus, ohne dabei aber so explizit Aspekte der Zeitlichkeit, die ihrerseits in die Schöpfungs- und Heilsordnung eingebettet sind, in den Vordergrund zu stellen wie der Simplicissimus. Geht man gattungsgeschichtlich einen weiteren Schritt zurück, dann gehören die Abenteuer des Lázaro ins Umfeld der frühneuzeitlichen Apuleius- und Lukian-Rezeption,931 auch muss die Mummelsee-Episode in diesem Sinne in den Kontext der (Unter-)Weltreisen der Menippea gestellt werden.932 Wie Stefan Trappen argumentiert, so gehört die »Beschreibung seltsamer Reisen« zu der »vielgestaltigen Wirkung, die von der antiken Menippea ausgeht«: Es gibt gleichsam drei Typen von Reisen, »die seltsame Reise[ ] auf, unter und über der Erde«.933 Trappen zählt die Mummelsee-Episode zur zweiten Art, die ein »immer gleiches Schema« umspielt: »Eine Person gelangt zu den Toten in die Unterwelt, beobachtet das dortige Geschehen, führt Gespräche mit den Verstorbenen oder mit dem Führer, der den Weg ins Innere der Welt zeigte«.934 Trappen differenziert weiter zwischen zwei Prinzipien, die darin bestehen, »daß ein Reisender von der Welt aus auf einem oft wunderbaren Wege in eine unter
|| 928 Vgl. den instruktiven Aufsatz von Michael Waltenberger: »Die Wahrheit im Reich der Thunfische. Zu Struktur und Poetik der anonymen ›Lazarillo‹-Fortsetzung von 1555«. In: Jan Mohr/Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014, S. 241– 256, hier bes. S. 244. 929 Waltenberger (Anm. 928), S. 243. 930 Vgl. Michael Waltenberger: »Eskalation. Zur ›Eigenlogik‹ episodischer Erzählformen am Beispiel der ›Lazarillo‹-Fortsetzungen«. In: Kragl/Schneider (Anm. 206), S. 285–301. 931 Vgl. Franziska Küenzlen: »Kommentierung – Übersetzung – Neuschöpfung. Apuleius-Rezeption zwischen wissenschaftlichen und erzählerischen Interessen«. In: Jan Mohr/Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014, S. 131–156. 932 Vgl. Maroszová (Anm. 916), S. 302. 933 Trappen (Anm. 897), S. 144 f. 934 Trappen (Anm. 897), S. 145.
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der Erde gelegene Gegenwelt gelangt, die in zwei gegensätzlichen Weisen eine sowohl hinsichtlich der Moral als auch sonst wohlgeordnete Gesellschaft zeigt«.935 Die ›wohlgeordnete Gesellschaft‹ sieht Trappen in der MummelseeEpisode verwirklicht und zugleich überboten. So einleuchtend die Parallelisierung des Handlungsverlaufs zwischen dem skizzierten Schema und der Mummelsee-Episode vielleicht ist, so unterschiedlich ist letztlich aber der temporale Status der erzählten Räume. In Lukians Nekyomantie (Höllenfahrt des Menippus) und Kataplus (Überfahrt oder der Tyrann), beides »Klassiker der Gattung«, wie Trappen an anderer Stelle hervorhebt,936 wird die räumliche Transgression nicht begleitet von der Veränderung des raumzeitlichen Systems. Insgesamt scheint die Mummelsee-Episode aufgrund der Art und Weise, wie sie erzählt ist, und aufgrund der motivischen Schwerpunkte sowie mit Blick auf die spezifische raumzeitliche Struktur, die in ihr entworfen wird, relativ weit entfernt von diesen antiken Prätexten. Motivisch und strukturell verwandt ist die Mummelsee-Episode mit Sachs’ Spruchgedicht Die undtertrückt fraw Warheyt.937 Nicht nur, dass die Reise des Ich-Erzählers vom Grund des Sees mithilfe eines Steins erfolgt (vgl. FW 318, 30 f.); der von einer Nymphe hinabgezogene Ich-Erzähler trifft in der Tiefe Frau Wahrheit, die vom Himmel auf die Erde gesandt, doch von den Menschen – die in einer Gruppenrevue vorgestellt werden – abgelehnt und verunglimpft wurde, sodass sie sich schließlich, auf Wunsch von Jupiter und Apollo, auf den Grund des See zurückgezogen hat. Als allegorische Figur steht sie gleichsam außerhalb der Weltzeit (bereits nach den ersten schlechten Erfahrungen mit Menschen zieht sie sich für 1232 Jahre in eine Einöde zurück, vgl. FW 317), in ihrer räumlichen Isolation, die mit ihrer zeitlichen Sonderstellung korreliert, erwartet sie das Ende der Zeit: Der götter tranck necktar Enthelt mich etlich jar, So lang biß das die zeyt Der welt ihr endung geyt, Da mich dwelt hören muß Ir zu ewiger buß. (FW 318, 17–22)
|| 935 Trappen (Anm. 897), S. 300. 936 Trappen (Anm. 897), S. 145. 937 Vgl. Trappen (Anm. 897), S. 300; Hans Sachs: »Die undtertrückt fraw Warheyt«. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Adelbert von Keller. Bd. 3. Tübingen 1870, S. 311–319. Zitate werden im Haupttext mit der Sigle FW, Seitenzahl und Vers angegeben.
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In Hans Sachs’ Gedicht wird Lukian von Frau Wahrheit selbst als Referenzautor ins Spiel gebracht. Näher als Lukians Nekyomantie und Kataplus steht die Mummelsee-Episode im Hinblick auf die raumzeitliche Struktur der erzählten Welt seinen Wahren Geschichten,938 die Trappen aber vornehmlich dem Typus der Reise auf der Erde zuordnet (wobei er zugleich eingesteht, dass es sich bei den Wahren Geschichten um ein »Konglomerat von zwei oder mehr Formen« handelt939). Im zweiten Buch der Wahren Geschichten findet sich eine Reiseepisode über die Stadt der Seligen, die sich nicht allein durch die wertvollen Materialen, aus denen sie besteht, auszeichnet, sondern auch dadurch, dass dieser Raum und seine Bewohner ganz eigene temporale Eigenheiten besitzen. In der 1603 erschienenen, von Gabriel Rollenhagen übersetzten Sammlung Vier BFcher wunderbarlicher biß daher vnerh=rter / vnd vngleublicher Jndianischer reysen, die auch eine Übersetzung von Lukians Wahren Geschichten beinhaltet, heißt es über die Bewohner der »Stad im Heydnischen Paradiß«:940 Sie haben aber keine Leibe / man kan sie auch nicht angreiffen vnnd betasten / denn sie haben kein Fleisch. Sondern haben nur eine blosse Figur vnd gestalt / damit sie sich sehen lassen. Vnd ob sie zwar ohn ein Leib sind / gehen / stehen / bewegen / vnd verstehen sie nicht desto weiniger / h=ren auch alles / vnd reden / vnd lest sich nicht anders ansehen / denn daß jhre blosse Seelen / mit eines Leibes gestalt vmbgehen / herumb wanderen. (WG II, 117)
Auch wenn sie ihre Körperlosigkeit wie das reine Seele-Sein grundlegend von den Sylphen unterscheidet, so gleichen sich beide doch darin, dass die Zeit an ihnen vorbeigeht und der Raum, den sie bewohnen, zeitlich stillgestellt ist. Figurale und räumliche Eigenlogik korrelieren in beiden Fällen, darauf lässt folgende Beschreibung schließen:
|| 938 Diese Nähe hat Bässler über die Verbindung zum Lügenroman bereits hergestellt, vgl. Bässler (Anm. 914). 939 Trappen (Anm. 897), S. 145. 940 »Das Dritte Buch. Von der wunderbarlichen Schiffart ›Luciani‹«. In: Vier Bücher Wunderbarlicher biß daher unerh=rter / und ungleublicher Indianischer reysen / durch die Lufft / Wasser / Landt / Helle / Paradiß / und den Himmel / Beschrieben von Dem grossen Alexander. Dem Plinio Secundo. Dem Oratore Luciano. Dem von S. Brandano. Mit etlichen warhafften / jedoch bey vielen Gelehrten glaubwirdigen Lügen. […] aus Griechischer und Lateinischer Sprach mit fleis verteutschet Durch Gabriel Rollenhagen. Magdeburg 1603, S. 61–152, hier S. 116. Im Folgenden mit der Sigle WG abgekürzt, ergänzt werden Angaben zum Buch und zur Seite.
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Es wird an dem ort niemand elter / sondern in dem alter / in welchem er ist hin komen / darin bleibt er. Vber daß ists alhie zu keiner zeit recht Nacht oder rechter Tag / sondern es ist allezeit gleich wie in der demmerung / wenn die Morgenr=te herfFr kompt / vnd die Sonne jtzt auffgehen wil / ein solch Liecht ist in dem Lande. Darumb sie nur eine zeit des jahres haben. Denn bey jhnen ist jmmer der FrFhling vnd lentz. (WG II, 118)
Temporale Heterogenität, dies zeigt die Lektüre des Simplicissimus, geht aus dem Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren hervor: Die erzählerische Verbindung von Motiven ist dabei ebenso entscheidend wie der Erzähler-Typ. Diese bestimmen jedoch nicht direkt die Architektur der erzählten Welt, vielmehr ist es das Zusammenspiel von Raum und Zeit, das sich in der Struktur der Topographie niederschlägt. Ebenso wie die ›Eigenzeitlichkeit‹ von Figuren in der generischen Tradition des Heliodor’schen Romans verankert ist, gehört die Vermessung der Welt zur satirischen Erzähltradition. Die Gestaltung ›pluriregionaler Welten‹, in denen verschiedene raumzeitliche Systeme nebeneinander gestellt werden, ist Teil dieser Tradition, aber nicht ausschließlich, denn sie findet sich darüber hinaus beispielsweise im Brissonetus und in den Faustbüchern.
10 Das zeitlose Abenteuer und die Verzögerung der Frist: Die Asiatische Banise Die Asiatische Banise oder das blutige doch muthige Pegu von Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen erschien 1689 bei Johann Friedrich Gleditsch in Leipzig.941 Der Roman gehört vor allem in die Tradition des höfisch-historischen Romans, nimmt aber auch motivische Elemente des Galanten und Pikaresken942 sowie Opernhaftes auf und bricht – im Vergleich mit den Großromanen Daniel Casper von Lohensteins und Anton Ulrichs – den Umfang sowie die Komposition herunter. Damit ähnelt er stärker den spätantiken Vorbildern wie Heliodors Aithiopika, aus deren Motivschatz er sich umfangreich bedient,943 als den Exponenten des höfisch-historischen Romans, wenngleich er die Neigung zum Polyhistorismus mit ihnen teilt.944 Die Asiatische Banise steht in literargeschichtlicher und generischer Hinsicht an einer Schwelle, denn einerseits ist es ein »Werk, das deutlich den letzten Gipfel des höfisch-historischen Romans« bildet, zeitgleich jedoch auch »den Übergang zum unterhaltenden Abenteuerroman anzeigt«.945 Elemente des höfisch-historischen Romans sind in der Asiatischen Banise teils ironisiert.946 Das Abenteuerliche wird begleitet von »maximale[r]
|| 941 Zitiert im Haupttext nach folgender Ausgabe mit der Sigle AB: Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Die Asiatische Banise. Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe des Erstdrucks (1689). Hrsg. von Werner Frick, Dieter Martin und Karin Vorderstemann. Berlin/ Boston 2010. Die graphischen Eigenheiten der Edition, in der die wörtliche Rede in serifenloser Schrift erscheint, der restliche Text aber in Serifenschrift werden beibehalten, aber anders umgesetzt: Die serifenlosen Passagen werden in Kapitälchen wiedergegeben; Kursivierungen bleiben als solche erhalten. 942 Vgl. Wirtz (Anm. 693). 943 Vgl. Frick (Anm. 42), S. 34 f. 944 Vgl. Karin Vorderstemann: »Polyhistorismus, moralische Belehrung und literarische Unterhaltung. Ziglers ›Asiatische Banise‹ (1689)«. In: Flemming Schock (Hrsg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2012, S. 252–274. 945 Gerhart Hoffmeister: »Transformationen von Ziglers ›Asiatischer Banise‹. Zur Trivialisierung des höfisch-historischen Romans«. In: The German Quarterly 49 (1976), S. 181–190, hier S. 181. 946 Hans Geulen hat in seiner Lektüre der Asiatischen Banise jene Aspekte herausgearbeitet, durch die sich Ziglers Roman vom höfisch-historischen Roman distanziert. Kennzeichnend für die Asiatische Banise sei eine permanente ironische Distanz, die sich in unterschiedlicher Hin-
DOI 10.1515/9783110566857-013
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Hyperbolik«,947 der Freude an der Darstellung von Gewalt- und Massenszenen, dem Reiz des Exotischen948 sowie der bildlich effektvollen Umsetzung von Affekten.949 Diese Kombination von höfisch-historischem Großentwurf und abenteuerlichen Elementen mag den Roman zum Erfolgsmodell gemacht haben,950 denn er avancierte zum »beliebteste[n] deutsche[n] Roman vor Goethes Die Leiden des jungen Werthers«.951 Im 18. Jahrhundert erschienen gleich zehn Ausgaben – der Großteil davon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. 1764 wurde in Königsberg dann eine »[n]eue ganz verbesserte Auflage« publiziert, partielle Neufassungen des Romans, die ihn dem veränderten Zeitgeschmack anzupassen suchten, folgten Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts.952 Parallel dazu hat man sich den Stoff produktiv angeeignet: Die Banise wurde im deutschsprachigen Raum für die Opern- und Dramenbühne bearbeitet und als
|| sicht realisiert: In der Eingangsszene des Romans finde man beispielsweise eine »ironische Diskrepanz von heldischem Vorsatz und desillusionierender Wirklichkeit« (S. 124) und »[d]as übliche Verhältnis von Erscheinungswelt und vorherbestimmtem Geschick, das sich immer nur vorläufig verbirgt, wird bewußt verzerrt« (S. 125); es geht, so resümiert Geulen, »darum, das Vergnügen des Lesers an kritischer Betrachtung aufzuschließen und mit Lachen jene Wahrheit in Zweifel zu ziehen, die im orthodoxen Falle [gemeint ist der höfisch-historische Roman, L. W.] über jeden Zweifel erhaben ist« (S. 139), alle Zitate in Geulen (Anm. 51); vgl. Wirtz (Anm. 693), S. 333. In eine ähnliche Stoßrichtung argumentieren Peter Rau, vgl. Peter Rau: Speculum amoris. Zur Liebeskonzeption des deutschen Romans im 17. und 18. Jahrhundert. München 1994, S. 134–180; und anhand einer Analyse der Paratexte Jutta Breyl: Pictura Loquens – Poesis Tacens. Studien zu Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahrhunderts von Sidneys »Arcadia« bis Ziglers »Banise«. Hrsg. von Hans Geulen, Wolfgang Harms und Nikola von Merveldt. Wiesbaden 2006, S. 202–218. 947 Hoffmeister (Anm. 945), S. 181. 948 Vgl. Frick (Anm. 42), S. 28 f.; Frick verweist u. a. auf die Arbeit von Hoffmeister. 949 Vgl. Dieter Martin: »›Venus im Gesichte‹ und ›Mars im Herzen‹. Forcierte Affektdarstellung in Ziglers ›Die Asiatische Banise‹«. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 343–361. 950 Vgl. Karin Vorderstemann: »Medienwechsel als Mittel der Popularisierung: Ziglers Asiatische Banise von 1689 bis heute«. In: Anne Bohnenkamp (Hrsg.): Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/Boston 2013, S. 61–72. 951 Dieter Martin/Karin Vorderstemann: »Vorwort«. In: Dies. (Hrsg.): Die europäische Banise. Rezeption und Übersetzung eines barocken Bestellers. Berlin/Boston 2013, S. IX–XIV, hier S. IX. 952 Zur Überlieferung vgl. den ›Editionsbericht‹ in AB, bes. S. 475 f.; zudem vgl. Volker Meid: »Ziglers ›Asiatische Banise‹ 1689 und 1788: Zur Wirkungsgeschichte des Barockromans«. In: Argenis 2 (1978), S. 327–340.
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Roman fortgesetzt. Sie wurde ins Französische, Schwedische, Niederländische und Russische übersetzt.953 Die Handlung des Romans lässt die für den höfisch-historischen Roman charakteristische Verbindung von ›privater‹, ›öffentlich-politischer‹ und ›metaphysischer‹ Ordnung erkennen: Das »ordo-Ideal« wird, so fasst es Werner Frick pointiert zusammen, »privat im Verwirrspiel eines höfischen Theatrum amoris« manifest; öffentlich-politisch im Umsturz einer kontinentalen dynastisch-absolutistischen Friedensordnung durch einen illegitimen Usurpator und in der triumphalen Restauration von ›pax et iustitia‹; metaphysisch in der geschichtstheologischen Deutung der turbulenten empirischen Erscheinungswelt sub specie providentiae, aus dem Blickpunkt niemals gefährdeter, sondern a priori garantierter und determinierter Heilsordnung.954
Eine kurze Skizze der Handlung lässt die Verschränkung der Dimensionen sichtbar werden: Der Roman beginnt in medias res – ganz im Sinne der generischen Tradition – mit einem Glücksfall für den Prinzen Balacin von Ava. Er übersteht – wenngleich verletzt – einen Überfall und den Angriff eines Tigers, als er Prinzessin Banise zu finden versucht. Ihr Los ist ungewiss, da die gesamte politische Situation undurchsichtig ist. Talemon und sein Sohn Ponnedro finden Balacin und bringen ihn in ihr Haus, wo er verarztet wird und seinem Diener Scandor begegnet. Dieser eröffnet Balacin, dass er König von Ava und von Aracan werden soll – zum einen durch Erbfolge und zum anderen auf Beschluss der Reichsräte. In der Rückschau erzählen Scandor und später Talemon die Geschichte von Balacin und seiner Schwester. Teil dieser Erzählung ist auch die Erfolgsgeschichte des Chaumigrem am Hofe des Königs Dacosem von Ava, Balacins Vater. Balacin und Chaumigrem geraten aneinander, was letztlich zur Folge hat, dass Balacin für ein Jahr von seinem Vater ins Exil geschickt wird. || 953 Einen Einblick in die kulturelle Wirkkraft der Asiatischen Banise gibt der von Dieter Martin und Karin Vorderstemann herausgegebene Sammelband: Die europäische Banise. Rezeption und Übersetzung eines barocken Bestsellers. Berlin/Boston 2013. 954 Frick (Anm. 42), S. 31 f., H. i. O. Auch Hans-Gert Roloff liest den Roman als einen »Exempelroman zum Themenkreis des absolutistischen Staatsprinzips europäischer Provenienz« (Hans-Gert Roloff: »Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen«. In: Harald Steinhagen/Benno von Wiese [Hrsg.]: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 798–818, hier S. 805). ›Liebe‹ fungiert als thematische Klammer, die es erlaubt, diese drei Ebenen engzuführen, vgl. Frick (Anm. 42), S. 60; zum Liebesdiskurs in der Banise vgl. Helga Meise: »›Krone von Ava – Sonne von Pegu‹. Die Liebesdiskurse der Prinzessinnen in Zieglers ›Asiatischer Banise‹«. In: Walter Delabar/Helga Meise (Hrsg.): Liebe als Metapher. Eine Studie in elf Teilen. Frankfurt a. M. u. a 2013, S. 105–119.
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Chaumigrems Bruder stirbt, sodass Chaumigrem zum König von Brama wird. Der Aufstieg bildet den Auftakt zu Chaumigrems Kriegszügen in Südostasien: Die Königreiche Martabane, Pegu und Prom werden erobert; zugleich möchte er Banise, die letzte Tochter des Kaisers Xemindo von Pegu, als Frau, um seine Herrschaft zu legitimieren und sein Verlangen zu stillen. Als Balacin gewiss ist, dass Banise noch lebt, versucht er, sie aus Chaumigrems Fängen zu erretten – beide entkommen zwar kurzzeitig, letztlich missglückt aber das Unterfangen. Daraufhin ist Banise in besonderer Gefahr, nur durch Initiative des Rolims, eines geistlichen Führers, der sich in sie verliebt, entgeht sie dem Zorn Chaumigrems. Sie muss aber für ein halbes Jahr in den Tempel Conqviay. Balacin bringt seine Heere gegen Chaumigrem in Stellung, der sich im Krieg mit Siam befindet. Das dritte Buch der Banise wird dominiert von Kriegshandlungen. Das Geschehen spitzt sich zu, nachdem Banise den Rolim, der sie zu vergewaltigen versucht hat, ersticht. Daraufhin soll sie im Rahmen eines großen Festakts geopfert werden. Balacin schleicht sich verkleidet in die Stadt ein; als Tapilou soll er selbst Banise opfern. In dieser Situation glückt es ihm, Chaumigrem zu erdolchen und so seiner Herrschaft ein Ende zu bereiten. Das versöhnliche Ende bilden drei Hochzeiten, in denen die Liebesgeschichten des Romas abgerundet werden. Chaumigrems illegitime Macht wird damit abgewendet, und Banise und Balacin können ihre legitime Macht antreten. Damit erfüllen sich die Vorausdeutungen des Erzählers sowie der Orakelspruch des Tempels von Pandior, den Balacin aufgesucht hat, nachdem er von seinem Vater des Landes verwiesen worden war. Prophezeit wurde ihm: Zeuch hin / betrFbter Printz / dir wincket Pegu zu / Errette deinen Feind aus seines Feindes H(nden: Es wird ein fremdes Bild / so Aug als Liebe blenden: Doch endlich findet man die eingebildte Ruh. Schau! dein VergnFgen liegt in Schrecken / Furcht und Ketten: Drey Kronen mFssen erst die vierdte Krone retten. Das Opffer kr=net dich als einen Talipu. (AB 96, H. i. O.)
In dieses thematische und generische Programm ist der Umgang mit Zeit eingebettet: Zigler bedient sich (wie auch Lohenstein, Anton Ulrich oder Bucholtz in ihren Romanen) eines authentischen historischen Stoffes, der auf Ereignisse in
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Südostasien zwischen 1545 und 1599 zurückgeht.955 Paratextuell wird dieser historische Bezug markiert, wenn es auf dem Titelblatt heißt, der Roman handle von Pegu, »[d]essen hohe Reichs=Sonne bey geendigtem letztern Jahr=Hundert an dem Xemindo erb(rmlichst unter=an dem Balacin aber erfeulichst wieder auffgehet« (AB 3).956 Innerhalb der Diegese spielen explizite kalendarische Angaben aber keine Rolle (die Zeit bleibt ›konkret‹), auch wenn Zigler für seinen Roman eine Reihe von Reisebeschreibungen, historiographischen Darstellungen und religionskundlichen Schriften auswertet.957 Er verändert die in seinen Quellen vorliegenden Fakten unter anderem insofern, als er eine »außerordentlich komprimierte Geschehensdarbietung in zeitlicher Engführung« bietet:958 Der »Gesamtumfang der im Roman erzählten Zeit in der Handlungsgegenwart […] beträgt zirka 178 Tage« (die erzählten Vorgeschichten ausgenommen).959 Diese Zeit-Architektur des Romans hat Eva-Maria Schramek im Rückgriff auf die Arbeiten von Günther Müller und Eberhard Lämmert detailliert rekonstruiert.960 Das Zeit-Handlungs-Verhältnis des Romans wird dabei in drei Blöcken unterschiedlich gestaltet: Im ersten Block ist die Handlung entlang des Tagesrhythmus erzählt. Das Geschehen wird »über die Romanmitte hinaus«, also im ersten und partiell auch zweiten Buch der Banise, in »acht Tagesetappen« präsentiert;961 dabei wird der Sonnenaufgang wie bei Heliodor als »poetische[ ] Formel« eingesetzt.962 Der Tagesrhythmus fungiert des Weiteren (ebenso bei Heliodor und Anton Ulrich) als Rahmen für die intradiegetischen, analeptischen Erzählungen der Figuren. Im zweiten Block wird die erzählte Zeit stark gerafft und es werden Handlungsstränge parallel geführt. Die erzählte Zeit des
|| 955 Vgl. Frick (Anm. 42), S. 40 f.; eine detailliert Rekonstruktion der historischen Ereignisse liefert Wolfgang Pfeiffer-Belli: Die Asiatische Banise. Studien zur Geschichte des höfisch-historischen Romans in Deutschland. Berlin 1940, S. 33–44. 956 In der Vorrede wird die Datierung nochmals aufgegriffen: »DEN INHALT DER WENIGEN BL(TTER BELANGENDE / SO SIND ES MEHRENTHEILS WARHAFFTIGE BEGEBENHEITEN / WELCHE SICH ZU ENDE DES FUNFFZEHEN HUNDERTEN SECULI BEY DER GRAUSAMEN VER(NDERUNG DES K=NIGREICHS PEGU / UND DESSEN ANGRENTZENDEN REICHEN ZUGETRAGEN HABEN« (AB 10). 957 Vgl. hierzu den Kommentar der Edition von Frick, Martin und Vorderstemann, S. 541–548; Vorderstemann (Anm. 944); vgl. zudem die ältere Studie von Pfeiffer-Belli (Anm. 955), S. 27–64. 958 Frick (Anm. 42), S. 40 f. 959 Eva-Maria Schramek: Die Komposition der ›Asiatischen Banise‹ von Anselm Heinrich von Ziegler und Klipphausen. Diss. phil. Wien 1971 (masch.), S. 44. 960 Vgl. Schramek (Anm. 959), S. 43–58. 961 Schramek (Anm. 959), S. 45; analoge erzählerische Strukturen, die auf einem achttägigen Erzählkern basieren, finden sie auch in Lohensteins Arminius und in Anton Ulrichs Armena, vgl. Haslinger (Anm. 281), S. 88–97. 962 Schramek (Anm. 959), S. 45.
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zweiten Buches umfasst ca. 120 Tage.963 Im dritten Buch werden die Verfahren der Raffung und der Parallelisierung fast bis zum Ende fortgesetzt, der Umfang der erzählten Zeit beträgt 55 Tage. Mit der Schilderung des Finales in der Opferszene geht der Roman, im dritten Block, erneut in den Tagesrhythmus mit einem deutlich markierten Tagesbeginn über: Erzählt werden abschließend drei Tage.964 Mit dem alternierenden Wechsel von Tagesrhythmus und Raffung ist die Nähe zu Heliodors Erzählstrategie offensichtlich (Kap. 6). Zigler, so formuliert Werner Frick, »moduliert […] seinen Stoff nach den spezifischen Erfordernissen und typologischen Vorgaben des höfischen Liebesund Abenteuerromans«: Darunter fallen der »Umbau der historischen Chronologie«, »die Beschleunigung der Ereignissequenzen« und die »Aufwertung einer historisch belanglosen Randfigur«.965 Dies alles ist, so die Argumentation Fricks, durch die dem Roman inhärente Geschichtsphilosophie legitimiert. Für Frick ist die Asiatische Banise – ungeachtet der reduzierten Komposition, der Elemente des Galanten, Komischen und Opernhaften und ihrer ironischen Passagen – im Kern […] ein legitimes Mitglied jener Familie höfisch-historischer Großromane […], in deren monumentaler Anlage eine eschatologische Konzeption von Geschichte (und zugleich eine metaphysische Sanktionierung absolutistisch-zentralistischer Politik) ihren sinnfälligen Ausdruck findet.966
Meine Lektüre der Banise knüpft an die Arbeiten von Eva-Maria Schramek und Werner Frick an, doch liegt mein Augenmerk vor allem auf jenen temporalen Besonderheiten, die ich bereits mit Blick auf Warbecks Sch=ne Magelona, Zschorns’ Übersetzung der Aithiokipa, den Ritter Galmy und die Historia von D. Johann Fausten diskutiert habe. Oder konkret gewendet: Ich frage nach der Bedeutung einer figurenspezifischen Zeit, wie sie für Heliodors Aithiopika attestiert wurde, und der Rolle der abgerundeten und offenen Fristen, die im Ritter Galmy auf Mikroebene und in der Historia als Plotmuster eine tragende Rolle spielen. Damit werde ich also Aspekte der ›Subjektivität‹ sowie des ›Horizonts‹ von Zeit und damit auch ihre ›Konsistenz‹ diskutieren. Die zwei Thesen, die meiner Lektüre zugrunde liegen, seien expliziert: Die Hauptfiguren des Romans sind, wie die Helden des Heliodor’schen Romans, lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt, die die Schönheit und Integrität ihrer Körper sowie deren Unversehrtheit während der Abenteuer gefährden. Doch
|| 963 Vgl. Schramek (Anm. 959), S. 47. 964 Vgl. Schramek (Anm. 959), S. 48. 965 Frick (Anm. 42), S. 41 f. 966 Frick (Anm. 42), S. 31.
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gehen diese Ereignisse an ihnen spurlos vorbei, sodass die Figuren in der Asiatischen Banise (im Gegensatz zur Sch=nen Magelona) über eine ausgeprägte ›Eigenzeitlichkeit‹ verfügen. Als partielle Relativierung dieser Eigenzeitlichkeit lässt sich die Wunde Balacins lesen, die er sich im Kampf zugezogen hat und die den Verlauf der Handlung kurzfristig bestimmt; im Fall von Banise erfolgt die Temporalisierung durch die Defloration, die aber erst nach Abschluss der Abenteuerreihe stattfindet. In der Asiatischen Banise wird durch Fristen ein Episodentyp als Folie aufgerufen, der zeitlich terminiert ist und innerhalb dessen eine Handlungseinheit zum Abschluss kommt.967 Diese Episoden werden aber in der Regel nicht abgeschlossen, sondern durch neue Fristen in die Zukunft geöffnet. Allein die letzte Frist von 21 Tagen, mit der der Roman sein Finale erreicht, gelangt zu einem Abschluss. Symbolisch gewendet und wiederholt wird dieses Ende in der Aufführung der Oper »Die listige Rache« durch die am Hof anwesenden Portugiesen. Diese »umfaßt thematisch-metaphorisch das Zentralproblem des Romans« und »sie wird als Ovation für die siegreichen tugendhaften Fürstlichkeiten dargestellt, sozusagen als metaphorisch-ästhetischer Höheund Abschlußpunkt eines blutigen doch mutigen Kampfes um Recht und rechtmäßige Herrschaft«.968 In das geschlossene Makrosyntagma, das – im Gegensatz zu Philipp von Zesens Assenat oder Grimmelshausens Keuschem Joseph (Beispiellektüre 5) – nicht zeitlich bestimmt wird, sind temporal offene Mikrosyntagmen gefügt. ›Offener‹ und ›geschlossener‹ Horizont stehen hier also in einem Spannungsverhältnis. Sie bilden das erzählerische Korrelat zur semantischen Differenz zwischen Kontingenz und Providenz. Die temporale Heterogenität des Romans schlägt sich folglich in zwei Aspekten nieder: zum einen darin, dass die Zeit an den Figuren spurlos vorbeigeht, und zum anderen darin, dass offene und geschlossene Handlungssegmente nebeneinander stehen, sodass der zeitliche Horizont ambivalent erscheint. Zwar wird mit dem dramatischen Finale des Romans und den anschließenden
|| 967 Soweit ich sehe, gibt es zwar Untersuchungen zur Bedeutung der Frist in klassischen Texten wie im Iwein, in dem der Held eine gesetzte Frist verstreichen lässt, aber eine Studie, die sich der Frist in historischer Langperspektive annehmen und ihre Transformationen nachzeichen würde, fehlt bislang. Die Vergleiche zwischen dem Umgang mit Fristen in Erzähltexten des 16. und 17. Jahrhunderts deuten darauf hin, dass eine solche Untersuchung lohnenswert wäre. 968 Roloff (Anm. 954), S. 810. Der Text der Oper geht nicht auf Zigler zurück, sondern basiert auf der von Johann Christian Hallmann besorgten deutschen Prosaübersetzung der Oper L’Heraclio von Nicolò Beregani. Zigler hat den Text Hallmanns versifiziert, vgl. Roloff (Anm. 954), S. 803; AB, Kommentar, 669 f.; vgl. zudem Irmgard Scheitler: »Die Metamorphosen des ›Heraclius‹«. In: Martin/Vorderstemann (Anm. 953), S. 51–66.
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Hochzeiten die Handlung im besten Sinne abgerundet (damit korreliert die finale Motivation, die programmatisch im Orakelspruch von Pandior angelegt ist), doch die vorausgegangenen Fristsetzungen, die immer wieder verletzt und damit in die Zukunft verlängert werden, implizieren die Möglichkeit, dass auch diese letzte Frist nicht an ihr Ende kommt. Auch wenn eine offene Gestaltung der Zukunft letztlich unrealisiert bleibt, scheint sie als Möglichkeit auf.
10.1 Spurlose Abenteuer und Eigenzeit der Figuren Als literarhistorische Folie sei kurz meine Lektüre von Heliodors Aithiopika und Warbecks Magelone rekapituliert, da sie die Eigenheiten der Asiatischen Banise deutlicher hervortreten lässt. Mit Blick auf Heliodor habe ich (im Rückgriff auf Michail M. Bachtin) gezeigt, dass während der Abenteuer, die die Protagonisten bestehen, die Zeit an ihnen spurlos vorbeigeht. Die Ereignisse schreiben sich nicht als Spuren in die Körper der Protagonisten ein. Die Schönheit und Tugendhaftigkeit der Helden, die beide im Vergleich mit anderen Figuren in besonderem Maße auszeichnen, sind am Ende der erzählten Geschichte unverändert und unversehrt, auch wenn Theagenes und Chariklea allerlei Unglück, der Folter und dem Feuer ausgesetzt waren. Der in seiner Schönheit potenziell bedrohte Körper der Protagonisten verstärkt den Eindruck der ›spurlos‹ an ihm vorbeigehenden Zeit. Gerade diese konzeptuelle Verschränkung von Körperlichkeit und Temporalität fehlt in Warbecks Magelone, auch wenn der Plot – mit der räumlichen Trennung der Liebenden, ihren Seeabenteuern sowie ihrer glücklichen Vereinigung – durchaus in der Tradition des Heliodor’schen Romans zu sehen ist. Wie steht es nun um diese Konstellationen in der Asiatischen Banise? Sowohl Balacin als auch Banise zeichnen sich durch besondere Schönheit aus und sie sind im Laufe der erzählten Abenteuer lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt, die die Integrität ihrer Körper beschädigen können. Dabei wird die Bedrohung teils in Stufen immer weiter gesteigert und sie ist für die beiden Protagonisten diametral und als Rahmen angelegt: Während das Maximum von Balacins Bedrohung am Anfang des Romans steht, erreicht die Bedrohung Banises ihren Zenit am Schluss. Zugleich erweisen sich beide als durchweg tugendhaft: Axiologie und Physiognomie decken sich. Wie die Gefahren letztlich spurlos an den Protagonisten vorbeigehen, aber es dennoch punktuelle Temporalisierungen gibt (z. B. durch die ›Wunde‹ Balacins und Banises Defloration), sei im Folgenden gezeigt. Die Handlung des Romans setzt mit einer für Balacin überaus bedrohlichen Situation ein – damit bildet die Szene das kompositorische Pendant zur Opfer-
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szene Banises am Ende des Romans. Unweit von Pegu hält er einen leidenschaftlichen Monolog wider Chaumigrem, wird im Anschluss daran von »verwegene[n] Bramaner[n]« überfallen und kann sich nur, wie der Erzähler berichtet, durch die Fügung des Schicksals dem Tode, aber nicht der Verletzung entziehen: So fort wurde Balacin von ihnen ohne ferneres Wortwechseln Fberfallen / daß er kaum aufspringen / und den ins Graß gelegten Sebel ergreiffen konte. Weil sich aber zu allem UnglFcke ein Riemen Fber das Gef(sse geschlungen hatte / vermochte ihn Balacin nicht auff den ersten Zug zuentbl=sen: Dahero er von dem einen B=sewicht einen ziemlichen Hieb in die lincke Schulter bekam / daß sein Himmel-blauer Rock in kurtzer Zeit mit Blute gef(rbet war. Doch der Himmel / welcher diesen tapffern Printzen noch zu etwas gr=ssern auffbehalten / als daß er von so schn=der Faust liederlich verderben solte / gab Gnade / daß er bald seines Sebels m(chtig ward / und im andern Streich den Th(ter so ungestFm an den Hals zeichnete / daß er gleich zur Erden stFrtzte. (AB 12)
Damit ist die Gefahr für ihn aber noch nicht gebannt, denn Balacin muss sich zunächst gegen die beiden Genossen des Angreifers verteidigen, bevor er dann »fast bey einer Stunde gantz entkr(fftet« (AB 13) darniederliegt. Erst als er Stimmen hört, will er sich in Sicherheit bringen, was ihm aber, weil er – so die explizit angeführte Begründung – viel Blut verloren hat, nur »auf allen Vieren« gelingt (AB 13).969 Er flüchtet sich vor den weiteren Bramanern in eine Höhle am Flusufer, wo er sich ausruhen will: Weil ihn aber die Wunde sehr schmertzte / und er des Schlaffes sehr ben=thiget war: als reiß er den Saum von seinem Japanischen Rocke / verhFllte die Wunde / so viel m=glichen / daß nur das GeblFte gestillet wurde / wickelte sich in den Mantel / welchen er nebst den Sebel wohl bedachtsam mit sich genommen hatte / und schlieff also vor h=chster Mattigkeit ein. (AB 14)
Die Gefahrensituation wird schließlich nochmals gesteigert. Balacin entdeckt, nachdem er aufgewacht ist, einige Leichen, allesamt Opfer des von Chaumigrem angerichteten »Blut-Bade[s]« (AB 14). Unter diesem Eindruck und aufgrund seiner Verletzungen kommen ihm »Sterbens-Gedancken« (AB 15),970 aus denen er plötzlich durch einen Tiger, der die Leichen gewittert hat und sich ein reiches Mahl erhofft, herausgerissen wird. Nochmals muss sich Balacin gegen einen lebensbedrohlichen Angriff verteidigen. Dem errungenen Sieg über den Tiger
|| 969 Zum ironisch-komischen Potenzial dieser Szene vgl. Geulen (Anm. 51), S. 121 f. Geulen argumentiert, dass die Flucht ›auf allen Vieren‹ für einen Prinzen absolut inadäquat sei. 970 In nuce sind diese die Entsprechung der »T R A U E R - U N D A B S C H I E D S - R E D E D E R S T E R B E N D E N B A N I S E « (AB 387–391, H. i. O.).
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spricht er schließlich eine symbolische Dimension zu.971 Erst durch die Ankunft von Talemon und dessen Sohn Ponnedro wird Balacin aus dieser zunehmend brenzlich werdenden Szenerie gerettet. Dem Status dieser Verletzungen als Ereignisse zu Beginn des Romans ist eine Ambivalenz zu eigen: Einerseits verschwinden die Ereignisse und ihre Spuren nicht mit der Situation, in die sie funktional eingebunden waren (man denke an das Auge, das Wagner im Wagnerbuch zunächst verliert, das aber in der Schlussszene wieder auftaucht); andererseits hinterlassen diese Ereignisse aber auch keine langfristigen Folgen, die das Äußere der Figur merklich verändern würden. Es entsteht eine Spannung zwischen der funktionalen Suspendierung temporaler Kontinuität und der Herausstellung von Langfristigkeit. Die Wunden, die sich Balacin im Kampf zugezogen hat, und der sukzessive Heilungsprozess werden während seines Aufenthalts im Hause des Talemon fortwährend thematisiert.972 Auch wenn die Spuren nicht ad hoc verschwinden und auftauchen, so geht die Heilung doch schnell voran (vgl. AB 20 f.),973 wie Talemon eingestehen muss: »Als er auch nach der Wunde sahe / befand er dieselbe dermassen / daß er seinen Haus-Mitteln eine sonderbahre Krafft zuschreiben muste« (AB 84). Die Genesung tritt nicht unverzüglich ein, aber doch mehr oder minder in kurzer Zeit: Sie ist funktional für die weitere Entwicklung der Handlung, denn die Heilung »setzt die Handlung erst richtig in Bewegung«.974 Im Fortgang der sich anschließenden Ereignisse bleibt die Wunde aber bedeutungslos. Die Wunde stellt durchaus eine Bedrohung für Balacins Schönheit, die kontrastierend zu Chaumigrems Hässlichkeit angelegt ist,975 sowie seine Unversehrtheit dar, denn von seiner Physiognomie und Art heißt es:
|| 971 Der Tiger avanciert für Balacin zum Stellvertreter Chaumigrems: »JA LASSET DIESES TYGER EIN BEGLFCKTES VORBILD SEYN: DAß AUCH DER TYRANNE DURCH MEINE FAUST AUFF SOLCHE ART FALLEN MFSSE« (AB 16); vgl. zur symbolischen Dimension u. a. Rau (Anm. 942), S. 140. 972 Vgl. AB 17, AB 18; AB 29. 973 Talemon verspricht Balacin gleich zu Beginn, dass durch die Kraft des »Wund-Steine[s] aus Peru« (AB 21), »[w]elcher alle Wunden / wenn er klein zerstossen gebrauchet wird / an Menschen und Viehe heilet« (AB 21, Anmerkungstext), seine Bewegungsfähigkeit in acht Tagen wiederhergestellt sein wird. Rekonstruiert man die Chronologie der Ereignisse, so liegen zwischen Balacins Verwundung und Talemons Fazit nur wenige Tage. 974 Schramek (Anm. 959), S. 47. 975 Vgl. Roberto De Pol: »Böse und Häßlich. Bemerkungen zur Typologie des Gegenspielers in Heinrich Anshelm von Zieglers ›Asiatischer Banise‹«. In: Juni. Magazin für Literatur und Politik 24 (1996), S. 110–121.
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Sein Haupt war mit Castanien-braunen / und von der Natur gelockten Haaren umgeben. Er hatte sch=ne grosse und graulicht-blaue Augen / woraus nichts als Anmuth und ein hoher Verstand blitzte. Dem sch=nen / wiewol itzt etwas blassen Munde / stund ein freundliches Lachen und Reden Fber die massen wol an; und aus der wol gestalten / in der Mitten etwas erhabenen Nase / kunte man dessen GroßmFtigkeit erkennen. Seine freye und ungezwungene Anst(ndigkeit der Geberden / wolte immer seines Standes Verr(ther seyn. In Summa: Leib / Verstand und GemFthe war mit einer solchen Vollkommenheit begabet / daß seine Person die Abbildung eines vollst(ndigen Printzens sattsam vorstellen kunte. (AB 21 f.)
Physiognomie und Axiologie korrelieren bei Balacin, ebenso wie bei Banise und – als negatives Gegenbeispiel – Chaumigrem. Die Gefahren, denen sich Balacin gleich zu Beginn ausgesetzt sieht, sind aber nicht die einzigen, die er bestehen muss. Da ist zudem der Zweikampf zwischen Chaumigrem und Balacin, der aber nicht zu Stande kommt, da Chaumigrem zum König von Brama wird und aus Ava flieht. Balacin rettet durch körperlichen Einsatz den Kaiser Xemindo, er kämpft am Hofe des Kaisers von Pegu gegen den Stellvertreter des Prinzen Zarang von Tangu (AB 146–148). Als er erfährt, dass Chaumigrem Pegu erobert hat und »den K(yserlichen Sta^ ausgerottet habe« (AB 168), ist er fast zwei Tage lang »fast stets ohnm(chtig« und fällt in einen »elende[n] Zustand« (AB 168). In den Schlachten, die im dritten Buch der Banise erzählt werden, zeichnet sich Balacin durch seinen Kampfesmut aus: »Balacin gieng allein ungemein tapffer vor / indem er allenthalben wie ein Blitz durchbrach / und so grimmig um sich hieb und stach / daß ihm ein ieder willigen Platz machte« (AB 339 f.). Indem sich Balacin während der geplanten Opferung Banises in einem, wie der Erzähler betont, »bedencklichen Unterfangen[ ]« (AB 379) unter die Priester begibt und als Henker Banises ausgibt, um schließlich Chaumigrem zu töten, setzt er sich einer Gefahr für Leib und Leben aus. All diese Gefahren übersteht Balacin unbeschadet. Balacins Schönheit wird nur punktuell thematisiert, ganz anders hingegen bei Banise. Sie ist, dieses Attribut begleitet Banise permanent, eine »Fberirrdische Sch=nheit« (AB 121), so Balacins Wahrnehmung, deren Glantz die Sterne Fbertrifft / und sich durch kein Gleichniß beschreiben l(st. Es erhellet nur eine Sonne den Himmel / und die Erde heeget nur einen Ph=nix / also ist nur eine Gottheit in Asien / welche anbetenswFrdig ist / so lasset mich demnach / o ihr G=tter / ihr Priester werden. (AB 121 f.)
Schönheit und Zeit stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis, das Banise selbst thematisiert, als sie während ihres Aufenthalts im Tempel des Rolims diesem
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ihre Schönheit auszureden versucht. Sie greift dabei auf die vanitas-Topik zurück: Bald wird sie [gemeint ist die Schönheit, L. W.] durch das scharffe Schwerdt der Sorgen / bald durch die Sichel der Zeiten / endlich wohl gar durch den grimmigen Pfeil des Todes dermassen bestritten / und verstellet: daß man in kurtzem ein allgemeiner Eckel der verliebten Welt muß genennet werden. (AB 291)
Variiert und verallgemeinert wird dieser Zusammenhang in einem nachstehenden Gedicht, das mit einer programmatischen Frage-Antwort-Struktur beginnt: »WAs ist sie? als der Zeit gemeines Gauckelspiel« (AB 292).976 Auch wenn Banise diesen Zusammenhang explizit herstellt, ändert dies nichts an ihrer eigenen körperlichen Unversehrtheit, die ungeachtet der Ereignisfülle erhalten und unbeschädigt bleibt. Hier überlagern sich zwei temporale Muster – vanitas-Vorstellungen und die ›Eigenzeitlichkeit‹ der Figuren –, ohne dass man darum bemüht wäre, sie aufeinander abzustimmen. Scandor liefert eine topisch überformte, petrarkistische Beschreibung von Basines Schönheit, die ihre Exzeptionalität herausstreicht:977 »denn gewiß«, so Scandors Überzeugung, »ich glaube / daß derjenige eine vergebene Arbeit thun wFrde / welcher in Asien sich eine gleiche Sch=nheit auszusuchen bemFhen wolte« (AB 122). Gesondert beschrieben werden durch Metaphern und Vergleiche ihre Wangen, Augen, Haare, Lippen, Zähne, ihre Nase, ihr Hals, ihre Haut und ihre Hände (vgl. AB 122 f.). Ebenso wie Balacin ist auch Banise der permanenten Gefahr ausgesetzt: Ihre nächsten Verwandten werden von Chaumigrem niedergemetzelt, sie selbst wird gefangengesetzt und mit goldenen Ketten gefesselt (AB 182); nur durch eine List Abaxars, der sich dem Auftrag Chaumigrems widersetzt und Banise nicht tötet, bleibt die Prinzessin am Leben. Sie steht mehrmals kurz davor, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten (AB 229; AB 261); sie bittet Talemon um diesen Dienst (AB 183). In den Fängen Chau-
|| 976 Das ›sie‹ bezieht sich auf die Schönheit. Den Prätext des Gedichtes bildet eine Passage aus Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Helden-Briefen, vgl. Stellenkommentar, AB 635. Das Motiv kehrt in der von Banise selbst gesetzten Arie im Vorfeld der Opferungsszene nochmals wieder, wenn es heißt: Es ist Sch=nheit / Stand und Jugend / Was den Tod dir bitter macht. Dieses sind nur falsche Sterne / Und ein Glantz der Eitelkeit: Spreu und Schalen sonder Kerne / Welche schwinden mit der Zeit. (AB 386) 977 Vgl. Martin (Anm. 949), bes. S. 347.
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migrems ist sie permanent der Gefahr ausgesetzt, ihre Tugend – das heißt konkret: ihre Virginität – und ihr Leben zu verlieren,978 wenn es ihr nicht gelingt, Chaumigrem einerseits hinzuhalten und andererseits nicht allzu sehr zu verärgern. Chaumigrem selbst schwankt von Beginn an zwischen »Ehre und Liebe« (AB 226) als Prinzipien, die sein Handeln gegenüber Banise bestimmen. Erstere gebietet es ihm, Banise umbringen zu lassen, Letztere sie zu verschonen. Der Fluchtversuch mit Balacin, durch den Banise aus den Händen Chaumigrems befreit und damit in Sicherheit gebracht werden soll, scheitert, sodass sich letztlich ihre Situation zuspitzt. Chaumigrem ist zunächst gewillt, sie hinrichten zu lassen, aber bezaubert von ihrer Schönheit, zögert er: »Denn ob ich mir zwar die Beschleunigung ihres Todes auch durch meine Hand vorgenommen / so erstarrete doch mein Arm / und das Hertz bebete / als ich nur einen Blick auff sie geworffen« (AB 261). Der Rolim, der ihn berät und anfangs ebenso für Banises Tod plädiert, verfällt jedoch gleichermaßen ihrer Schönheit wie Chaumigrem und ist von nun an »auff ihre Erhaltung bedacht« (AB 262). Ihre Verwahrung im Tempel, die der Rolim als Überbrückung vorschlägt, entzieht sie zwar der unmittelbaren Gefahr, die von Chaumigrem ausgeht, aber nun ist sie der Verfolgung durch den Rolim ausgesetzt, der eindeutig sexuelle Ansprüche an sie stellt: So widerstrebe sie nun nicht dem Schlusse der Gottheit / welche keine weltliche Person ihrer Sch=nheit wFrdig achtet / sondern wil / daß der oberste Priester des Heiligthums die Erstlinge ihrer Blumen brechen soll / und ihm hierdurch ein fleischliches Jubel-Jahr auszuschreiben / gar wohl erlaubet sey. (AB 292)
Die Gefühle Chaumigrems für Banise erkalten und führen dazu, dass »er eyffrichst dahin bemFhet [ist] / sie um das Leben zu bringen« (AB 348). Dieses nutzt wiederum der Rolim, um Banise verstärkt unter Druck zu setzen. Denn, so gibt er ihr gegenüber vor, hätte er sich nicht für sie eingesetzt, dann hätte der Kaiser sie »l(ngst in tausend StFcke zerfleischen lassen« (AB 349). Als sich Banise aber dem Willen des Rolims nicht fügen will, sondern auf ihrer Tugend beharrt, versucht er sie zu vergewaltigen. Bei der »Vollziehung seines verdammten Willens« ergibt sich für Banise die »Gelegenheit« (AB 350), ihn zu erstechen. Auch wenn dadurch Banises »Ehre gerettet« ist, so soll, wie der Erzähler konstatiert, »der Leib aber […] dieses bFssen« (AB 350). Nach dem Aufruhr, der durch die Tötung des Rolims entstanden war, wird Banise vom neu erwählten Rolim
|| 978 Vgl. zur Gefahr der Vergewaltigung und Entjungferung der Heldin Gesa Dane: »Geraubt – Gefangen. Zu Grimmelshausens ›Courasche‹ und Ziglers ›Die Asiatische Banise‹«. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 363–375.
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zum Opfer für den Gott Carcovita bestimmt. Damit erreicht die Bedrohung ihres Lebens und ihrer körperlichen Integrität ihren Höhepunkt (der Aspekt der bedrohten Virginität tritt hier jedoch in den Hintergrund): Die Opferhandlung besteht nämlich zunächst aus der Erwürgung des Opfers, das »halb nackend auff einen Marmel-Stein […] gesetzet wird«, dann wird der Leichnam des Toten geschändet: Hierauff scheiden sie mit einem Steine / welcher so scharff als ein Scheermesser ist / den erwFrgeten Leichnam auf / reissen das Hertze heraus / werffen es dem Abgott ins Angesichte / und verbrennen es; Welche Asche sie hernach mit Wasser anfeuchten / und den Abgott damit besprengen: Das Fbrige aber von dem C=rper wird mit wolriechendem Holtze verbrannt. An etlichen Orten wird das Fleisch gar von den Priestern gefressen. (AB 359)
Dieses Schicksal muss auch Banise als »tugendhaffte[s] Wunder-Bild der Sch=nheit« fürchten (AB 359). Und auch nachdem Balacin durch seine List Banise der Opferung in letzter Minute entzogen und Chaumigrem getötet hat, sind die beiden Liebenden nicht sicher, und Balacin setzt deshalb die Prinzessin »auf den erh=heten Altar des Abgottes / damit ihr der allenthalben wFtende Sebel nicht einiges Leid zufFgen m=chte« (AB 392 f.). Banise übersteht die gesamte gefahrenvolle Abenteuerreihe, ohne dass ihre körperliche Schönheit und Virginität darunter gelitten hat. Die ausstehende Vereinigung von Balacin und Banise vollzieht sich erst, nachdem alle Hindernisse beseitigt wurden gemeinsam mit der Vereinigung von Nherandi, König von Siam, mit Higvanama, der Schwester von Balacin, sowie derjenigen von Palekin, König von Prom, mit Fylane, Prinzessin von Siam. Die nach der Hochzeit erfolgte Defloration der Prinzessin, die im Roman angedeutet wird, zeugt von ihrer bis dahin erhalten gebliebenen Unschuld.979 Dieses ›Ereignis‹, das nicht revidierbar ist, erfolgt bezeichnenderweise nach der Abenteuerreihe. Die Szene lässt sich als kompositorisches Pendant zum Romaneinstieg lesen: Erfolgt die partielle Temporalisierung zu Beginn des Romans durch die Verwundung Balacins, so geht der Zeitimpuls am Ende von der Defloration Banises aus. Mir geht es hier vor allem um die Ähnlichkeit der dadurch verursachten temporalen Effekte und nicht um die motivische Analogisierung von männlicher Wunde und weiblicher Defloration. Grosso modo verfügen die Figuren also über eine charakteristische ›Eigenzeit‹, denn die bedrohlichen Ereignisse gehen an ihnen spurlos vorbei. Die Körper zeichnen sich durch ihre Schönheit aus, die aber trotz der permanenten
|| 979 Vgl. Dane (Anm. 978), S. 373.
Verzögerte Fristen | 327
Bedrohung und ungeachtet dessen, was sie erleiden, unversehrt bleiben. Dort aber, wo Balacins Wunde und ihre Heilung thematisiert werden, kommt es zu einer punktuellen Temporalisierung: Letztlich tut die Verletzung seiner Vollkommenheit keinen Abbruch, aber es bedarf der Zeit, um zu genesen. Der funktionale Zusammenhang wird stärker temporalisiert, d. h. in einen linearen, Dauer in Anspruch nehmenden Prozess überführt; das Ergebnis zum Schluss der erzählten Handlung bleibt davon aber unberührt.980 Einen analogen Temporalisierungsimpuls liefert die Defloration Banises. Erst als die Abenteuerreihe abgeschlossen ist, kommt es zu diesem Ereignis, das Chaumigrem und der Rolim zu erzwingen versucht haben. Die Eigenzeitlichkeit der Figuren wird an den Rändern des Romans brüchig (in diesem Sinne ist sie ›dynamisch‹). Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich auch im Umgang mit der Frist im Roman beobachten. Auf der erzählerischen Mikroebene gibt es eine Öffnung der geschlossenen Friststruktur, die aber nicht gleichermaßen für den makrosyntagmatischen Zusammenhang des Romans gilt, denn präsentiert wird letztlich eine hochgradig geschlossene Geschichte, die als symbolischer Ausdruck eines providenziellen Geschichtskonzepts gelesen werden kann – wie es Werner Frick getan hat.
10.2 Verzögerte Fristen In der Asiatischen Banise werden von Figuren immer wieder Fristen und temporale Übereinkommen als Orientierungspunkte gesetzt. Diese fungieren als Rahmen für episodische Handlungssegmente. Die Fristen werden aber in der Asiatischen Banise – und darin liegt ein charakteristisches erzählerisches Verfahren des Romans – unterlaufen: sei es durch ein Zufrühkommen oder eine intendierte und realisierte Verzögerung.981 Die Korrelation von einer spezifizierten Frist || 980 In der Kombination von verbindlichem Ausgang und subversiver Temporalisierung ähnelt der Befund den Beobachtungen Geulens zur Eingangsszenerie des Romans. Balacin erscheint als ambivalente Figur, denn »[z]war konnten sich Tapferkeit und Edelmut Balacins kurz zuvor unter Beweis stellen, an seiner heldisch-typischen Verfassung besteht somit kein Zweifel; aber die anschließenden Szenen sind vor dem Hintergrund analoger Gegebenheiten des ›hohen‹ Romans nicht ohne einen gewissen ›Realismus‹, dessen Funktion jedoch erst vom Eingangsmonolog des Prinzen her begreiflich wird« (Geulen [Anm. 51], S. 122). 981 Auch Adolf Haslinger kontrastiert die Architektur des höfisch-historischen Romans mit derjenigen der älteren Erzählliteratur (Wickrams Romane und der Amadis dienen ihm als Folie), aber ihm geht es dabei vor allem um das Verhältnis zwischen der »lückenlose[n] Chronologie« und dem »pausenlose[n] Erzählkontinuum« einerseits und den »abgerundeten Episoden« andererseits, vgl. Haslinger (Anm. 281), S. 82.
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und dem Abschluss einer Handlungsfolge wird immer wieder aufgelöst: Die ›Geschlossenheit‹, die im Fall einer Korrelation gegeben ist, wird ›geöffnet‹. Dies geschieht gleich in mehreren Zusammenhängen;982 die »Terminfestlegungen« fungieren »als Mittel zur Komposition von aneinander anschließenden Teilbögen«.983 Im Gegensatz zu dieser Verzögerung bleibt die finale Frist von 21 Tagen jedoch gewahrt, sodass mit ihr der Hauptstrang der Handlung seinen Höhepunkt und runden Abschluss erhält – der Hauptbogen der Handlung wird ›geschlossen‹. In zwei Handlungslinien wird die Verzögerung der Frist samt der damit verbundenen Öffnung des zeitlichen Horizonts besonders deutlich: zum einen bei der ersten Auseinandersetzung zwischen Balacin und Chaumigrem, an deren Ende die einjährige Verbannung Balacins aus Ava steht, und zum anderen – dort besonders eindringlich – im Rahmen der Chaumigrem-Banise-Handlung der Bücher zwei und drei. Chaumigrem, aus »rasende[r] Gewogenheit« (AB 78) unhinterfragter Günstling des Königs Dacosem von Ava, schwärmt für dessen Tochter Prinzessin Higvanama, die jedoch seine Liebe nicht erwidert, und versucht ihr »mit Gewalt« (AB 76) einen Kuss im Garten zu rauben. Balacin, der sich als brüderlicher »Beystand« (AB 66) in einer »dichtbelaubte[n] Gallerie« (AB 66) versteckt, rettet seine Schwester aus dieser Bedrängnis, indem er Chaumigrem eine blutige Nase schlägt. Die Situation eskaliert: Es kommt zu einem Kampfgetümmel zwischen Chaumigrems Männern einerseits und Balacin und Scandor andererseits. Der König mischt sich ein und schließlich verlangt Chaumigrem einen Zweikampf. Dieses Recht gesteht der König ihm zu – entgegen der Empfehlung der Reichsräte. Chaumigrem fordert also Balacin in einem Brief auf den folgenden Tag heraus: »so werdet ihr euch morgen frFhe vor dem Schloß-Thore ohne andere Waffen / als Sebel und Schild einfinden / und allda der grausamsten Rache von meiner Hand gew(rtig seyn« (AB 78). Jene damit aufgerufene Handlungsfrist, innerhalb der der Konflikt zwischen Chaumigrem und Balacin zu lösen wäre, verstreicht, da sich Chaumigrem der Auseinandersetzung entzieht. Balacin erscheint pünktlich, es vergehen aber, wie es heißt, »mehr als zwey Stunden« (AB 79), bis endlich eine Nachricht von Chaumigrem eintrifft: Da sein Bruder Xe-
|| 982 Eva-Maria Schramek widmet sich diesem Aspekt mit Blick auf das Verhältnis von »Ausschnitt und Spannungsbogen« (S. 67–71) und verweist auf die konstitutive Bedeutung dieses Verfahrens, wie es von Haslinger und Wippermann beschrieben wurde; vgl. Hanna Wippermann: Herzog Anton Ulrich von Braunschweig. »Octavia. Römische Geschichte« (Zeitumfang und Zeitrhythmus). Diss. Bonn 1948 (masch.). 983 Schramek (Anm. 959), S. 68.
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minbrun – König von Brama – gestorben sei, reist Chaumigrem ab, droht aber Balacin: Als wollet ihr euch nur kurtze Zeit gedulten / da wir als ein Blitz euch heimsuchen / und durch viel hundert tausend Sebel den angethanen Schimpff und Verachtung an euch und eurer stoltzen Schwester / grausamst rächen wollen (AB 79).
Die Drohung, die Rache in »kurtze[r] Zeit« zu vollziehen, ruft nochmals die Verbindung von Terminierung und funktionalem Handlungsabschluss auf, wie man sie ebenso im Roman des 16. Jahrhundert wie in Philipp von Zesens Assenat beobachten kann, ohne sie aber umgehend einzulösen (Kap. 7). Diese Konfliktsituation wird vielmehr durch einen großen narrativen Bogen bis zum Ende des Romans verzögert und dabei von der ›privaten‹ auf die ›öffentlichpolitische‹ Ebene verschoben;984 zugleich wird aus dem Zweikampf eine List. Die Reaktion des Königs Dacosem auf diese veränderten Umstände überrascht: Als er von Chaumigrems Abreise erfährt, wird er fast »unsinnig«, denn Chaumigrem [war] dem K=nige dermassen ans Hertze gewachsen […]. Und dieses wirckete eine solche Raserey in ihm / daß er alsobald [dem] Printzen andeuten ließ / er solte Hof und Reich ein gantzes Jahr lang meiden / die Prinzeßin aber solte sich gleiche Zeit des v(terlichen Angesichtes enthalten (AB 80 f.).
Die temporale Restriktion bleibt vorerst gewahrt, denn als Balacin später heimkehrt, um Hilfe zu holen, wird er von seinem Vater mit dem Argument abgewiesen, das Jahr sei noch nicht vollendet.985 Scandor und Balacin werden auf Befehl des Königs, der sich den Argumenten des Sohnes verschließt, durch Hausarrest handlungsunfähig gemacht. Sie sind »bey zwey Monat lang« festgesetzt (AB 167), als die Nachricht eintrifft, dass Chaumigrem ganz Pegu erobert und die kaiserliche Familie ermordet habe. Balacin fällt daraufhin in eine zweitägige Ohnmacht – erst diese Nachricht hat zur Folge, dass er schließlich auf freien Fuß gesetzt wird. Damit kommt die Handlung wieder in Gang. Das Zuspät- oder genauer formuliert Gar-Nicht-Kommen Chaumigrems führt – darin lässt sich die erzählerische Funktion dieses Verfahrens erkennen – insofern zu einer Dynamisierung der Handlung, als der Handlungsbogen weiter gefasst wird. Das Zu-
|| 984 Vgl. Frick (Anm. 42), S. 31. 985 AB 167: »Nach zwey Tagen / als wir etwas ausgeruhet hatten / ließ sich der Printz bey dem Herrn Vater endlich anmelden / welcher auch den Ober-Reichs-Schencken abfertigte / und an statt einer V(terlichen Bewillkommung / ihn mit einem harten Verweiß / wegen Ubertretung des Gebots / inner Jahr und Tag nicht wieder zu kommen / ansehen ließ.«
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Früh-Kommen – als zweite Form der unterlaufenen Frist – lässt den Handlungsfluss stocken. Die Öffnung des Handlungsbogens und des zeitlichen Horizonts durch das Überschreiten einer eigentlich anvisierten Frist wird besonders deutlich in den Fristen, die Chaumigrem und der Rolim Banise setzen, um sich zwischen Liebe und Tod zu entscheiden. Am Anfang steht eine sechstägige Frist, die Chaumigrem Banise in der Hoffnung gibt, dass die Zeit helfen könne, die Einstellung ihm gegenüber zu ändern: Ich wil ihr sechs Tage Bedenck-Zeit erlauben […] ob nach verschwundener Hoffnung aller HFlffe / des K(ysers Haß oder Liebe zu wehlen sey. […] Nach sechs Tagen hoffen wir dasjenige gutwillig zu geniessen / was sie ietzt vermeynt / uns nimmermehr zu erlauben: denn die Zeit kan alles (ndern. (AB 228).
Ponnedro hält Banise vom Selbstmord ab, in dem Sie ihre »Freyheit« (AB 229) sucht, und rät zur »kluge[n] Verstellung«, um so »Auffschub zu wege [zu] bringen« (AB 231).986 Anschließend macht er sich zügig auf den Weg zum Prinzen und übergibt Balacin einen Brief Banises, versichert ihm, dass die Prinzessin lebe, doch warnt er vor dem »geringste[n] Zeit-Verlust«, der die Prinzessin »unglFcklich machen« kann (AB 233). In ihrem kurzen Brief betont Banise die Bedeutung der Frist, wenn sie davon ihr Leben abhängig macht: »Wo mich vor Verlauff des vierdten Tages eine kluge Hand befreyet / so werde ich erweisen k=nnen / wie kein UnglFck die Pfeiler der Liebe einzu(schern vermocht habe« (AB 233). Balacin weiß, dass es unmöglich ist, Banise »in so kurtzer Zeit mit Gewalt zu erretten« (AB 234):987 »die Zeit ist zu kurtz / und ich bin verlohren« (AB 233), ruft er aus, nachdem er Banises Brief gelesen hat. Die Frist bleibt präsent, denn sie wird im Gespräch zwischen Balacin, Ponnedro, Talemon und Scandor mehrfach thematisiert.988 Scandor schlägt eine List vor: Mit Hilfe der Schachteln, die Balacin im Tempel von Padior erhalten hat, soll man sich verkleiden und versuchen, Banise durch eine Entführung aus den Händen
|| 986 Zur Bedeutung der ›Verstellung‹ vgl. Roloff (Anm. 954), S. 809; Buck (Anm. 379). 987 ›Gewalt‹ meint hier eine militärische Offensive. 988 Vgl. AB 234. Auffällig ist, dass Ponnedro an dieser Stelle nicht von den sechs Fristtagen spricht, die Chaumigrem Banise gibt, auch nicht von den vier Tagen, die Banise in ihrem Brief nennt, sondern von fünf. Ein Blick auf die Folgedrucke der Asiatischen Banise zeigt, dass diese Uneinheitlichkeit stehenbleibt. Haslinger, der eine ähnliche Technik der näherrückenden Frist in der Aramena herausgearbeitet hat, ist ebenso mit Uneindeutigkeiten konfrontiert, die er aber mit dem Argument abtut, dass die »Pedanterie […] kein Formprinzip der Erzählspannung« sei, das »Entscheidende [sei], daß der Leser den Eindruck gewinnt, die erzählte Zeit verkürze sich ständig auf dieses Ereignis hin« (Haslinger [Anm. 281], S. 77).
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Chaumigrems zu retten. Die Hoffnung legt Scandor in der Zeit, sie »wird […] die beste Rathgeberin seyn« (AB 238). Dazu wäre aber, wie Ponnedro ergänzt, eine Verlängerung der Frist hilfreich: »Damit wir aber bessere Zeit gewinnen / so soll die Princeßin noch umb einige Tage Auffschub anhalten: alsdenn werden die G=tter unser Vorhaben mit erwFndschtem Segen beseligen« (AB 238). Die Idee wird verfolgt: Banise, von Ponnedro über diesen Plan informiert, bezirzt Chaumigrem, der unvorhergesehen eine »Lust-Reise« abbricht (AB 240) und entschlossen ist, »noch diesen Tag den Grund-Stein ihrer [d. h. Banises] Wohlfarth und meiner [d. h. Chaumigrems] VergnFgung […] zu legen« (AB 246), und bittet ihn: Es g=nne mir aber / mein Herr und Schatz / nur noch drey Tage Frist / worinnen ich mich recht fassen k=nne / so wohl dem Volcke die wahre Beschaffenheit meiner Verheyrathung gebFhrend beyzubringen; als auch dieses hohe GlFcke mit bedachtsamer Seelen und brennenden Hertzen zu umfassen (AB 247).
»Ob zwar«, so Chaumigrems Erwiderung, »diese drey t(gige Frist eine drey t(gige H=llen-Qvaal verursachen wird / so wil ich doch auch hierinnen dem Befehl meiner G=ttin nachleben / und die unfehlbare VergnFgung alsdenn erwarten« (AB 247). Und gegenüber Ponnedro, der ins Zimmer tritt, nachdem es von Chaumigrem verlassen wurde, betont sie nochmals: »in drey Tagen muß ich sterben oder erl=set seyn« (AB 247).989 Ponnedro hingegen relativiert diese zeitliche Begrenzung, indem er auf die Macht des Himmels, also der providenziellen Ordnung, hinweist: »der Himmel kan offt in einem Augenblicke mehr gew(hren / als man in vielen Jahren kaum gehoffet hat« (AB 247). Mittels eines Weinkräutergemischs gelingt es der einem galanten Kodex entsprechend handelnden Banise,990 Chamigrem in der Nacht, in der er sein Recht einfordern will (es ist sein »l(ngst-erwFnschte[r] Tag«, AB 253), zu betäuben. Dabei fordert Banise von Chaumigrem vorab erneut eine Stunde Aufschub, da sie einen »Gesundheits-Tranck« zu sich nehmen will (AB 254), nach dem man eine Stunde, so die Anweisung des Leibarztes, ruhen soll. Chaumigrem lehnt ab, trinkt den Becher selbst und fällt in einen »solchen tieffen Schlaff / daß er mehr todt als lebendig zu seyn schiene« (AB 255). Damit werden die mehrfach gesetzten Fristen nichtig; die Handlungssequenz, bestimmt durch den Willen Chaumigrems, wird weder zu Ende geführt noch abgerundet. Im Bestreben, die Frist zu hintertreiben, liegt das narrative Movens von Chaumigrems Gegenspielern. Die Flucht von Balacin und Banise gelingt, doch die Vereinigung der beiden dauert || 989 Banise selbst wiederholt die Frist Balacin gegenüber, vgl. AB 251. 990 Vgl. Wirtz (Anm. 693), S. 339.
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nicht lang, sie verlaufen sich991 und schließlich wird Banise erneut gefangen genommen. Es beginnt erneut die Verhandlung einer Frist. Nun aber setzt sich der Rolim bei Chaumigrem für Banise ein, denn auch er wurde von ihrer Schönheit bezaubert. Dabei bedient er sich Banise und Chaumigrem gegenüber jenes Arguments, das Chaumigrem selbst vorgebracht hat: »Die Zeit kan alles (ndern« (AB 265; vgl. AB 228). Der Rolim unterstreicht, dass man einen Kaiser nicht ohne Weiteres abweisen könne, vielmehr habe man »ein so wichtiges Werck der Zeit an[zu]befehle[n]« (AB 264). Deshalb macht er ihr einen Vorschlag: Solche aber zu gewinnen / so wende man ein GelFbde vor / wie sie nicht eher in des K(ysers Begehren einwilligen k=nne / sie habe denn den j(^erlichen Verlust der Ihrigen sechs Monat in dem Tempel Conqviay des Gottes der tausend G=tter / wo ihres Vaters Gebeine ruhen / beweinet: So nun ihr Wille meinem wohlmeynenden Rathe beypflichtet / so eile ich / den K(yser hierzu zu bereden (AB 264, H. i. O.)
Banise willigt ein, »weil bey solchem Erfolg ihr Printz Zeit und Raum bek(me / sie mit Gewalt zu erl=sen« (AB 264), d. h. mit militärischen Mitteln. Der Rolim wendet sich an Chaumigrem und hofft, »es werde Zeit / Witz und Vernunfft den g(hlingen Seelen-Brand in E. M. leschen« (AB 265). Banise soll, so der Vorschlag, »der Natur und kindlichen Liebe gem(ß / die Ihrigen sechs Monat lang beweinen / und dann hernach mit desto f(higerm Geiste I. M. lieben und vergnFgen k=nne« (AB 266). Obgleich sich Chaumigrem der Gefahr bewusst ist, denn – so warnt er – »die uns in sechs Tagen hintergangen / und schimpflich betrogen hat / wird in sechs Monaten noch eine weit gr=ssere List bewerckstelligen / und die Klugheit selbst Fbermeistern k=nnen« (AB 267),992 willigt er ein. Für Scandor und Balacin ist dies eine begrüßenswerte Entwicklung (vgl. AB 267), mit der eine Aufwertung der Zeit einhergeht: »Weil ihm nun die Zeit sehr edel zu seyn dauchte / und iedwede Stunde h=her denn Gold sch(tzte« (AB 267). Relativ schnell wird deutlich, dass der Rolim Banise gegenüber eindeutig amourös-sexuelle Ambitionen verfolgt (vgl. AB 292). Die Gefühle Chaumigrems erkalten und Banises Situation wird dadurch von beiden Seiten zu|| 991 Vgl. hierzu die Lektüre von Geulen (Anm. 51), S. 132 f. 992 Chaumigrem bezieht sich in dieser Aussage auf die erste der gesetzten Fristen; es ist aber nicht klärbar, ob durch die Versuche, diese Frist zu verlängern, die anfänglich gesetzten sechs Tage de facto überschritten wurden (Ponnedros Bitte an Banise, noch etwas Zeit zu gewinnen, lässt dieses vermuten). Dennoch bleibt unklar, wie sich die drei Tage, die Banise fordert, zu den anfangs gesetzten sechs Tagen verhalten. Entscheidender als die zeitliche Abstimmung scheint mir bei der Aussage Chaumigrems die Homologie – sechs Tage zu sechs Monaten – zu sein, mit der sich eine Steigerungsfigur verknüpft.
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nehmend heikel. Der Rolim setzt sie unter Druck und will schließlich sein Verlangen gestillt wissen: es ist nun nicht mehr Zeit / sich mit eingebildeter Keuschheit / und vermeynter Tugend zu beschirmen / sondern sie muß einmal die Augen er=ffnen / und denjenigen / welcher ihre Schande und Tod verhindert / mit verliebten Blicken betrachten« (AB 348 f.).
Im dramatischen Gemenge ersticht Banise den Rolim, denn es bietet sich die »Gelegenheit« (die aktiver genutzt wird, als es Lazaril als Figur tut993): »Als er aber zu Vollziehung seines verdammten Willens / nothwendig die eine Hand befreyen muste / bekam sie Gelegenheit / das Messer in die befreyte Faust zu nehmen / welches der Rolim vor rasender Brunst nicht merckte« (AB 350). Die gesetzte Frist von sechs Monaten verfällt damit erneut, ohne dass die Handlung den angestrebten Abschluss erhalten hätte. Es wird ein neuer Rolim gewählt, der Banise als »unbeflecktes Blut« für die »unfehlbare Vers=hnung« (358) im Opfer darbringen will. Es wird dazu eine neue Frist gesetzt, in der sich Banise vorbereiten soll: Der Rolim ließ alsobald durch einen Grepos der unglFckseligen Princeßin ihren OpfferTod ankFndigen / und darzu einweihen / nebst der Bedeutung / wie sie sich hierzu geschickt / und wFrdig machen solle / vor die Wohlfarth ihres Vaterlandes ihr Blut zu vergiessen: Zu welcher Bereitung ihr ein und zwantzig Tage Zeit einger(umet wurden. (AB 358)
Durch die immer neuen Fristen verschiebt sich die Gewissheit darüber, was konkret mit Banise passieren wird, sukzessiv nach hinten, die Handlung wird – wie durch das Verstreichen der ersten Duell-Frist zwischen Chaumigrem und Balacin zu Beginn des Romans – dynamisiert, denn mit den neuen Zeiträumen eröffnen sich neue Handlungsoptionen und der Zeithorizont erscheint ›offen‹. Die 21-tägige Frist wird erzählerisch heruntergezählt: Zunächst sind es noch 14 Tage,994 dann drei Tage995 und schließlich tritt der Tag des Opfers ein.996 Dieses Verfahren des sukzessiv heranrückenden Fristendes wird am Tag des Opfers weiter verfolgt. Der Tag beginnt mit dem ersten Tageslicht:
|| 993 Vgl. hierzu die Beispiellektüre 13. 994 AB 370: »Denn er brachte den gef(hrlichen Zustand der Princeßin mit sich / und wie nur noch vierzehen Tage zwischen ihrem Leben und Tode w(re.« 995 AB 378: »Als aber die Zeit biß auf drey Tage verflossen / da die sch=ne Princeßin den rauhen Opffer-stein betreten solte / […].« 996 Vgl. AB 381.
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Endlich zeigete sich das Liecht / an welchem das letzte Blut vor die Wohlfarth des Peguanischen K(yserthums solte vergossen werden (AB 381). Als nun bey angebrochnen FrFhstunden die Glocken zu bevorstehendem Fest-Opffer angezogen wurden / und ihr trauriger Schall die Ann(herung der Todes-Gefahr einer hohen Person ausser der Stadt verkFndigte,
werden die Heere vor der Stadt in Stellung gebracht (AB 382), doch müssen sie »Fber drey Stunden« warten, bis die Schlacht beginnt (AB 382). Auch die Geschehnisse in der Stadt werden terminiert: »Zwo Stunden nach der Sonnen Aufgang verfFgte sich Chaumigrem / von vielen grossen Staats- und KriegsH(uptern begleitet / auf einem Elephanten nach dem Tempel« (AB 384), wo Banise geopfert werden soll. In der Opferszene erreicht der Roman sein Finale – Frist und Handlungsabschluss werden korreliert, dabei tritt aber nicht das vom Fristsetzer festgelegte Ziel ein (wie dies im Faust- oder Wagnerbuch geschieht), sondern das Gegenteil. Die Handlungsführung durch die wiederholt angedeutete und verzögerte Friststruktur lässt sich also als erzählerische Ambivalenz zwischen Geschlossenheit und Offenheit des zeitlichen Horizonts der erzählten Welt lesen. Damit entsteht aber ein paradoxes Verhältnis zwischen der Struktur der offenen Teilnarrative und der Gesamthandlung. Denn auch wenn die zeitlich bestimmten Frist-Handlungs-Einheiten mehrmals nicht zum Abschluss kommen, vollendet die letzte Frist Terminierung und Handlungsabschluss – sodass sich, dies suggeriert der retrospektive Blick, der Roman als Arbeit an der Schließung der immer wieder ›geöffneten‹ Fristen lesen lässt. Dies bleibt nicht folgenlos, denn der verhinderte Abschluss der Episoden suggeriert die Möglichkeit des Neuen, die die Neugier auf das erhöht, was in der Folge passieren wird. In der Asiatischen Banise zeichnen sich die beiden Protagonisten Banise und Balacin durch eine dynamische Eigenzeitlichkeit aus, die sie aus ihrem raumzeitlichen Umfeld, das teils im Hinblick auf temporale Verhältnisse akribisch gestaltet ist, heraushebt. Insofern schlägt sich die temporale Heterogenität in der Kategorie der diegetischen ›Subjektivität‹ nieder. Eine konzeptuelle Spannung lässt sich des Weiteren in der Gestaltung des zeitlichen Horizonts attestieren: Durch das unerfüllte Verstreichen von Fristen werden Episoden zwar geöffent, aber nicht abgerundet; erst die letzte Frist des Romans wird symbolisch in der Lösung des Konflikts und der Bannung der Gefahren ›geschlossen‹. Lohnenswert für die abschließende Verortung der temporalen Eigenheiten der Asiatischen Banise ist ein vergleichender Ausblick auf das Romanschaffen Anton Ulrichs, denn jene für die Banise beschriebene ›Öffnung‹ von Mikrosyntagmen lässt sich dort auf der übergeordneten Ebene beobachten.
Die Öffnung des Horizonts bei Anton Ulrich | 335
10.3 Die Öffnung des Horizonts bei Anton Ulrich Die für die Asiatische Banise charakteristischen Elemente in der Behandlung von Zeit, d. h. der Rückgriff auf einen historischen Stoff, die Einbettung der erzählerischen Analepsen in eine verbindliche Tagesregie mit ihrem kohärenten Zeitfluss, sowie das insgesamt gesteigerte Bewusstsein für die zeitliche Koordination der Handlung sind in Anton Ulrichs Octavia (1677–1707) strukturell und kompositorisch bestimmend. Die Zeitregie der historischen Fakten geht dabei über diejenige von Anton Ulrichs früherer Aramena hinaus.997 So basiert ein Kompositionsentwurf für die Octavia auf einer zeittektonischen Symmetrie von vier Teilen mit je vier Büchern, die in der Gegenwartshandlung jeweils drei Wochen umfassen (4 x 4 x 3). In seiner Manuskriptversion des Titels (Cod. Guelf. Extrav. 198, Bl. 18) heißt es programmatisch: Octavia / Römische Geschicht / Getheilet in 4 theile. Ieder theil hat 4 bucher. Iedes buch / wehret drei wochen. Hebet also das 1 buch an den 12 April und wehret bis den 2 May. Das 2 buchhebet [sic!] an den 3 May bis den 23 May. Das 3 buchhebet [sic!] an den 24 May, bis den 13 Iunij. (NB. den 10 Iunij kommt Nero ümb.998
Auch wenn dieses auf Äquivalenzen basierende Programm mit einem spezifisch ausgewählten zeitlichen Zuschnitt letztlich in der Druckfassung nicht konsequent durchgesetzt wird,999 erreicht die Octavia ein Höchstmaß an temporaler Kohärenz und Konsistenz.1000 Dabei wird sie strukturell bestimmt von einer ausgeprägten Linearität und dem kunstvollen Umgang mit der zeitlichen Koordination von parallelen Handlungssträngen – Hanna Wippermann hat diese zeitliche Architektur des Romans detailliert herausgearbeitet. Zugleich, dies hat die Arbeit von Stephan Kraft gezeigt, gelingt es Anton Ulrich nicht, den Roman ›geschlossen‹ zu Ende zu führen, vielmehr führt die Überarbeitung und Erweite-
|| 997 Vgl. hierzu grundlegend die detailreiche Arbeit von Wippermann, die die Zeitverhältnisse des Romans akribisch rekonstruiert, Wippermann (Anm. 982), S. 147. 998 Zitiert nach Haslinger (Anm. 281), S. 81. 999 Es gibt zugleich Entwürfe der Octavia, in denen die Handlung – wie in der Aramena – auf ein Jahr beschränkt ist; vgl. Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der »Römischen Octavia« von Herzog Anton Ulrich. »der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt«. Würzburg 2004, S. 19. 1000 Wippermann verweist nur auf einige weniger Fehler in der überaus komplexen zeitlichen Anlage des Romans, vgl. zum Beispiel Wippermann (Anm. 982), S. 58, S. 148. Auch Kraft konstatiert: »Eine andere erzählerische Beschränkung nämlich wird über alle Entstehungsphasen hinweg penibel eingehalten: die des Kontinuums von Zeit und Raum.« (Kraft [Anm. 999], S. 20)
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rung ab 1712 dazu, dass der Roman sich sowohl im Hinblick auf ›inhaltliche‹ wie ›formale Elemente‹ ›öffnet‹.1001 Die Hauptfigur des Romans entgeht – entgegen dem realen historischen Hergang – dem Tötungsversuch durch Nero und findet Zuflucht bei Christen. Die Handlung ist zwischen den Jahren 68 und 70 angelegt (oder genauer: vom 22. März 68 bis zum Frühjahr 70).1002 Wie Zigler verzichtet auch Anton Ulrich in seinem fast 7000 Seiten umfassenden Roman auf eine vollständige kalendarische Datierung; der Roman selbst ist jedoch durchaus kalendarisch angelegt.1003 Anton Ulrich bedient sich bei der zeitlichen Koordination der Ereignisse des Bezug auf »römische Götterfeste und markante historische Gedenktage«, »[d]ie Festtagsangaben werden dabei nicht numerisch ihrer Stellung im Kalendermonat nach eingebaut, sondern nur innerhalb der Tagesreihe der Romanhandlung aufgezeigt«.1004 Das Hauptgeschehen des Romans »begibt sich in der Tagesabfolge zweier Jahre«,1005 und »[d]ie Handlungsabfolge des ganzen, umfangreichen Werkes ist einer strengen zeitlichen Einordnung unterworfen und schreitet terminmässig-kalendarisch voran«.1006 Der erste Band umfasst 98 Tage, der zweite 88, der dritte 151, der vierte 164, der fünfte 125 und der sechste 4 Monate plus x.1007 Dabei kommt dem Tagesrhythmus, in dem Handlung und Zeit korrelieren, eine besondere Bedeutung zu: »Vom Einsatzpunkt der Handlung auf der ersten Seite durchläuft es diese Zeit jeweils vom Morgen bis zur Nacht, setzt für
|| 1001 Kraft (Anm. 999), S. 18. Zu den Elementen der ›Geschlossenheit‹ zählen für Kraft die »Einheitlichkeit des hochadeligen Personals«, die »Einheitlichkeit des Stils«, die »Einheiten von Ort und Zeit« und die »Finalität des Erzählens« als eher formale Elemente sowie die »Präsentation eines geschlossenen adeligen Weltbildes mit den Leitwerten Ehre, Treue und Sippe«, die »deutlich christliche Fundierung des Romans« und die Dominanz einer »göttlichen Weltordnung« als inhaltliche Elemente (S. 18 f.). 1002 Die Datierung bezieht sich auf die moderne Geschichtsschreibung, Anton Ulrich verortet die erzählte Handlung zwischen 69 und 71, vgl. Wippermann (Anm. 982), S. 4 und S. 16. 1003 So bemerkt Wippermann: »Anton Ulrich setzt im Roman nicht eine einzige Jahreszahl, hat sie aber in seinen Konzepten genau vermerkt« (Wippermann [Anm. 982], S. 4, vgl. zudem S. 143). 1004 Wippermann (Anm. 982), S. 16. Wippermann liefert eine Übersicht jener Feste, auf die Bezug genommen wird; wie sie zeigt, »stimmen sie [d. h. die Festtagsangaben] nicht in allen Fällen mit der kalendarischen Datierung überein« (S. 16), »der terminmässige Bezug auf die Abfolge« bleibt jedoch »stets erhalten« (S. 17). 1005 Wippermann (Anm. 982), S. 13. 1006 Wippermann (Anm. 982), S. 15. 1007 Eine tabellarische Übersicht der Tage, die die einzelnen Bände und Bücher umfassen, der explizit auserzählten Tage, des Seitenumfangs etc. gibt Wippermann, vgl. Wippermann (Anm. 982), S. 99.
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einige ›Stunden der Ruhe‹ aus und wird am folgenden Morgen fortgesetzt«.1008 Kompositorisch zerfällt der Roman in zwei Teile: Die ersten drei Bände gehören zusammen und sind von ähnlichen Prinzipien im Hinblick auf die Gestaltung der Figuren und der Zeit bestimmt – wie dies gerade im Rückgriff auf Wippermanns Arbeit dargelegt werde; der vierte Band hingegen fällt diesbezüglich heraus.1009 In den »letzten Bänden« geht die »Genauigkeit der Tageszählung« verloren.1010 Im fünften Band ist »[d]ie Tagesfolge […] beibehalten, die Tagesfestlegung auf Daten innerhalb einer geschlossenen Reihe aufgegeben«.1011 Wie Stephan Kraft herausgearbeitet hat, öffnet sich der zeitliche Horizont des Romans im zweiten Teil, der von seiner hochbarocken Komposition Abstand nimmt.1012 Bereits der Schluss des sechsten Bandes von 1707, der den über vierzig Jahre währenden Arbeitsprozess beenden sollte, bleibt unbefriedigend: Auf wenigen Seiten werden die zahlreichen Stränge des Romans hastig einem Ende zugeführt, einem Ende allerdings, an dem alle Figuren, die einer glatten und schnellen Lösung im Wege stehen, durch den Tod oder ihren Eintritt ins Kloster aus dem Schlußtableau entfernt werden.1013
Die Hochzeit des Hauptpaares – Octavia und Tyridates – wird, wie Kraft konstatiert, in einen Nebensatz verschoben. Dies sei letztlich symptomatisch für den ›gescheiterten Schluss‹.1014 Deshalb verwundere es nicht, dass Anton Ulrich bei der 1710/1711 einsetzenden Überarbeitung gerade den Schluss revidierte,1015 oder genau: ihn gestrichen hat und weitererzählte, ohne dass der Roman von ihm hat abgeschlossen werden können. Dies nicht nur, weil Anton Ulrich vor der Fertigstellung stirbt, sondern auch weil sich das geschichtsphilosophische Leitmodell, so Kraft mit Blick auf Reinhart Koselleck, partiell änderte: Die Zukunft wird stärker als offener Horizont gedacht.1016 Diese Öffnung verweist über das barocke Modell einer hochgradig geschlossenen Konzeption von Zeit und Geschichte hinaus. Die Unmöglichkeit, einen Schluss zu finden, oder anders formuliert: diese Öffnung der Zukunft als zeitlichen Horizont, ist erzählerisch in || 1008 Wippermann (Anm. 982), S. 13. 1009 Vgl. Wippermann (Anm. 982), S. 7, 8 f. 1010 Wippermann (Anm. 982), S. 17. 1011 Wippermann (Anm. 982), S. 81. 1012 Vgl. Kraft (Anm. 999), S. 137–155. 1013 Kraft (Anm. 999), S. 138. 1014 Kraft (Anm. 999), S. 139. 1015 Kraft (Anm. 999), S. 15 und S. 147. 1016 Vgl. Kraft (Anm. 999), S. 148.
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der immer wieder geöffneten Friststruktur der Asiatischen Banise vorgeprägt, ohne dass der Roman dieses Prinzip auch am Schluss umsetzen würde. Anton Ulrichs Roman verweist aber noch in einem anderen Sinne auf die literarischen Entwicklungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die kalendarische Ordnung, die sich in der Octavia abzeichnet, erhält in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg eine nochmals gesteigerte Qualität, denn die numerisch-kalendarische Ordnung avanciert zum ästhetischen Prinzip des Romans. Zugleich wird sie umgedeutet: Denn obgleich in der Historia von D. Johann Fausten, der Asiatischen Banise und der Octavia auf historische Stoffe zurückgegriffen wurde, hat man auf exakte und vollständige kalendarische Datierungen verzichtet: Zeit wurde immer durch den Bezug auf ›konkrete‹ historische Personen, Ereignisse oder Feste evoziert. Anders nun in der Insel Felsenburg, der das folgende Kapitel gilt, denn hier werden die Ereignisse und Figuren vor allem über ihre zeitliche Verortung im Kalender definiert.
11 Numerische Ästhetik in der Insel Felsenburg Im ersten Teil von Dichtung und Wahrheit (1811) berichtet Goethe von den Lektüren seiner Kindheit und Jugend.1117 Durchgeblättert und gelesen habe er Johann Amos Comenius’ Orbis pictus und Matthäus Merians illustrierte Bibel sowie Ovids Verwandlungen. Auch die sogenannten »›Volksbücher‹« – unter anderem die Melusine, die Schöne Magelone und der Dil Ulenspiegel – zählten ebenso wie Fénelons Telemach zu seinen Leseerfahrungen. Dem Telemach folgte dann schnell Daniel Defoes Robinson Crusoe und, so ergänzt Goethe, »daß die ›Insel Felsenburg‹ nicht gefehlt habe, läßt sich denken«.1118 Goethes Lektüren speisen sich gleichermaßen aus dem klassischen Bildungs- und Erziehungskanon, aus der verbreiteten Erzähltradition der Frühen Neuzeit sowie der Literatur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.1119 Die Aufzählung bildet in ihrer Zusammenstellung Goethes Schwellenposition ab. Wie Fénelons Roman liefern zwar der Robinson Crusoe und die Insel Felsenburg »Unterhaltung und Belehrung«, so der frühe Goethe-Biograph Heinrich Döring,1120 aber im Gegensatz zu den anderen Texten modellieren die Romane Stoffe und spielen Konstellationen durch, die sich grundlegend von den älteren Erzähltraditionen unterscheiden. Ian Watt hat diese Neuerungen im Robinson Crusoe mit dem Begriff des ›formalen Realismus‹ beschrieben (vgl. Kap. 2.2). Die Insel Felsenburg knüpft – so der Tenor der Forschung – hieran an, denn zum einen ist sie der Tradition der Utopie und zum anderen der Robinsonade verpflichtet.1121 Die Insel fungiert
|| 1117 Erste Überlegungen und Passagen des Kapitels zur Insel Felsenburg sind in meinem Aufsatz Werner (Anm. 468) publiziert worden. 1118 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. IX: Autobiographische Schriften I. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal. Kommentiert von Erich Trunz. München 1981, S. 35. 1119 Die Insel Felsenburg erschien mehrmals bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der erste Band erlebte zwischen 1731 und 1768 acht Auflagen, der zweite zwischen 1732 und 1767 sieben, der dritte Band zwischen 1736 und 1767 sechs und der vierte zwischen 1743 und 1769 noch fünf, vgl. Volker Meid: »Nachwort«. In: Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Stuttgart 1979, S. 593–606, S. 594. 1120 Heinrich Döring: Goethe. Ein biographisches Denkmal. Jena 1840, S. 34. 1121 Vgl. hierzu die klassische, immer wieder angeführte Studie von Fritz Brüggemann: Utopie und Robinsonade. Untersuchungen zu Schnabels Insel Felsenburg (1731–1743). Weimar 1914.
DOI 10.1515/9783110566857-014
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aber nicht, wie im Robinson Crusoe als ›Exil‹, sondern als ›Asyl‹.1122 Variiert und kombiniert werden in der Insel Felsenburg die drei grundlegenden ›Erzählsyntagmen‹ des 17. Jahrhunderts: Plotstrukturen des ›pikarischen‹, ›pastoralen‹ und ›hohen Romans‹.1123 Verschränkt werden auf thematischer Ebene göttliche Providenz und »bürgerliche[ ] Rationalität«,1124 die sich unter anderem im »utilitaristische[n] Prinzip« niederschlägt.1125 Gerade mit Blick auf diese generische Hybridität und den ›Modernitätsimpetus‹, der dem Roman zu eigen ist, lohnt ein Blick auf die in ihm der Zeit zugesprochene Bedeutung und die temporale Strukturierung der erzählten Welt. Dies umso mehr, als im Hinblick auf die Insel Felsenburg immer wieder von einer ›Temporalisierung‹ oder ›Verzeitlichung‹ des utopischen Konzepts gesprochen wurde. Wie ich im Ausblick meiner Lektüre zeigen will, ist dies nur bedingt berechtigt, denn auch die utopischen Entwürfe des 16. und frühen 17. Jahrhunderts kennen eine geschichtliche Verankerung des Staatsentwurfs und die Projektion in die Zukunft.1126 Dabei lässt sich schwerlich von ›der‹ Insel Felsenburg und einer kohärenten Gesamtanlage des Romans sprechen, denn der Roman erscheint, nimmt man die vier zwischen 1731 und 1743 publizierten Bände mit ihren über 2000 Seiten zusammen,1127 nicht als homogener Entwurf: konzeptuelle und thematische
|| 1122 Vgl. hierzu Brüggemann (Anm. 1021), S. 85. 1123 Vgl. hierzu Dammann (Anm. 1019), S. 75–140. 1124 Frick (Anm. 42), S. 194: »Für das Erzählen bedeutet dies, daß, im Gegensatz zum hohen Barockroman, die Protagonisten nicht mehr grundsätzlich einer scheinhaft-vordergründigen Perspektive auf Ereignisse unterliegen, deren metaphysischer Hintersinn ihnen verborgen bleibt. Vielmehr entsprechen sie gerade in ihrer bürgerlichen Rationalität und auf die empirische Welt fixierten Aktivität dem göttlichen Geschichtswillen am besten.«; vgl. grundlegend dazu Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zur Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1976, S. 58–76 (Kap. »Zivilisatorische Rationalität in J. G. Schnabels ›Insel Felsenburg‹«). 1125 Rosemarie Haas: »Die Landschaft auf der Insel Felsenburg«. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 73 (1961), S. 63–84, hier S. 79. 1126 Vgl. Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981, S. 409 f.; Frick spricht von einem »stufenweisen Prozess[ ]«, der in der Insel Felsenburg »zum eigentlichen Gegenstand des Erzählens« wird (Frick [Anm. 42], S. 189); Heidi Nenoff/Ludwig Stockinger: »Johann Gottfried Schnabels ›Insel Felsenburg‹ (1731–1743). Christlich-naturrechtliche Utopiekonzeption im narrativen Praxistest«. In: Thomas Schölderle (Hrsg.): Idealstaat oder Gedankenexperiment? Zum Staatsverständnis in den klassischen Utopien, S. 185–204, S. 187. 1127 Die Insel Felsenburg wird im Folgenden mit der Sigle IF abgekürzt und im Haupttext nach folgender Ausgabe zitiert Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Ausgabe in drei Bänden. Mit einem Nachwort von Günter Dammann, Textre-
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Brüche treten insbesondere mit den Wunder- und Geistergeschichten des dritten und vierten Bandes auf.1128 Die letzten beiden Bände wurden einerseits gedeutet als Schnabels missglückter Versuch, den Erfolg der ersten beiden Bände fortzusetzen,1129 andererseits aber hat man sie auch als »Reflex auf neue und heterogene Zugänge zu Welt und Wissensordnungen« verstanden.1130 Die Veränderungen in der Anlage des Romans bleiben nicht folgenlos für die zeitliche Dimensionierung. Die Bände drei und vier dynamisieren den zeitlich statischeren Entwurf der ersten Bände, indem das Moment des Historischen auf paratextueller Ebene umso deutlicher hervortritt.1131 Mir geht es im Folgenden weniger um diese thematischen und konzeptuellen Brüche des Romans, sondern viel-
|| daktion von Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben. Frankfurt a. M. 1997; Bd. 1: Teil I und II, Bd. 2: Teil III und IV, Bd. 3: Günter Dammann: Über J. G. Schnabel. Spurensuche, die Plots der Romane und die Arbeit am Sinn; Bibliographie; Editionsbericht. 1128 Vgl. Dietrich Grohnert: Aufbau und Selbstzerstörung einer literarischen Utopie. Untersuchungen zu Johann Gottfrieds Roman ›Die Insel Felsenburg‹. St. Ingbert 1997, S. 69–72; Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, S. 130–135. 1129 Dietrich Grohnert formuliert das Urteil über die letzten beiden Bände pointiert, wenn er schreibt: »Erst mit den Lebensläufen des 3. und 4. Bandes fällt Schnabels Roman allmählich in die Dutzendproduktion früher trivialliterarischer Vielschreiberei zurück, ja hinter sie, da er wegen der ihm mitgegebenen ideologisch-ästhetischen Intentionen des Autors selbst den lebenspraktischen und bildenden Nutzen nicht mehr vermitteln kann, der dem Abenteuerroman der Zeit oftmals eingeschrieben wird« (Dietrich Grohnert: »Schnabels ›Insel Felsenburg‹. Aufbau und Verfall eines literarischen sozialutopischen Modells«. In: Weimarer Beiträge 35 [1989], S. 602–617, hier S. 611). Für Wolfgang Braungart verläuft die Grenze zwischen den zwei Werkteilen bereits nach dem ersten Band, denn die »Bände II bis IV sind in diesem Sinne vor allem Unterhaltungsliteratur, Gegenstück und zugleich Fortentwicklung der aufklärerischpietistischen Didaxe des ersten Bandes« (Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, S. 227). 1130 Einen Verortung der Insel Felsenburg liefert: Bastian Schlüter: »Auf dem Weg zu neuem Wissen. Abenteuer und Welterkundung in Johann Gottfried Schnabels ›Insel Felsenburg‹ (1731–1743)«. In: Jutta Eming/Ralf Schlechtweg-Jahn (Hgg.): Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne. Göttingen 2017, S. 101–118. 1131 Michael Dominik Hagel zeigt diese Verschiebung anhand der Graphiken und Illustrationen des Roman: »An die Stelle der Darstellung der Gemeinschaft treten Illustrationen von Ereignismomenten, in denen die zuvor hinter dem statistischen Material nur zu erahnenden Individuen sichtbar werden. Entlang der Graphiken der ›Wunderlichen FATA‹ manifestiert sich so die Darstellung eines Gemeinwesens, in der das Eindringen geschichtlicher Konzeptionen in die Vorstellung politischer Anordnungen sichtbar wird.« (Michael Dominik Hagel: »An Easy View. Die Fiktion der Repräsentation auf der Insel Felsenburg«. In: Beate Fricke/Markus Klammer/Stefan Neuner [Hrsg.]: Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie. München 2011, S. 169–200, hier S. 171)
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mehr um die Verortung der spezifischen Art und Weise, wie mit Zeit umgegangen wird, vor der Folie der bislang skizzierten Erzähltraditionen. Vor diesem Hintergrund erscheint die erzählte Zeit der Insel Felsenburg in besonderem Maße homogen: Die Handlung wird in einem ›abstrakten‹ und verbindlichen kalendarischen System verortet, das sowohl in Europa als auch auf der Insel gilt (die Möglichkeit temporaler Pluriregionalität bleibt unrealisiert). Damit erscheint die erzählte Zeit in hohem Maße ›konsistent‹ und ›kohärent‹. Dies macht die besondere Stellung der Insel Felsenburg in der diachronen Reihe der Lektüren aus. In konzeptueller Hinsicht bildet sie den Kristallisationspunkt von Erzähltechniken, die auch die genaue Zeitregie des höfisch-historischen Romans bestimmten. Auch aus historischer Perspektive kann die Insel Felsenburg als Kulminationspunkt gelten, aber nicht als fixer Endpunkt einer Entwicklung, die damit abgeschlossen wäre – für Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1748/49) ist die ›Konsistenz‹ der erzählten Zeit bedeutungslos. Die konkreten Leitideen meiner Lektüre seien vorangestellt: Auch wenn die Insel Felsenburg kompositorisch komplex angelegt ist und durch die Verschachtelung von homodiegetischen Erzählungen ein Potenzial zur Subjektivierung mitbringt, bleibt dieses ungenutzt. Charakteristisch sind eine perfect memory, die die Figuren auszeichnet, und die Ablehnung einer subjektiv-irrationalen Verzerrung von Zeitwahrnehmung. Wie ein Blick auf die Geister- und Spukgeschichten des vierten Bandes zeigt, folgt sogar das vordergründig Irrationale des Spuks einer verbindlichen Zeitregie. Die vom Erzähler und den Figuren erzählten Geschichten erhalten zumeist durch Datierungen eine fixe zeitliche Position. Die Vielzahl der temporalen Angaben ist dabei eingebettet in eine numerische Ästhetik, die den Roman durchzieht und sich im Hinblick auf verschiedene Phänomene niederschlägt: Gezählt werden nicht nur Tage, sondern auch Geld, Bewohner und Tiere; und über ihre Ab- und Zunahme wird Buch geführt. Entfernungen werden vermessen. Auch wenn es in der Insel Felsenburg Ansätze zu einer kompositorischen Instrumentalisierung numerischer Strukturierungen gibt, werden diese nicht zum tragenden Gerüst des Erzählten, denn die bestehenden Ähnlichkeitsrelationen gehen in der Vielzahl der Angaben unter. Verstärkt wird dieser Effekt durch das typographische Erscheinungsbild, denn Zahlen werden teils ab der Zwei als Ziffern dargestellt und nicht ausgeschrieben.
Das Subjektivitätspotenzial der erzählerischen Komplexität | 343
11.1 Das Subjektivitätspotenzial der erzählerischen Komplexität Die Bedeutung des Erzählens für die Gesellschaft der Felsenburger ist nicht zu unterschätzen, so Wolfgang Braungart: »Die Felsenburger-Gesellschaft konstituiert sich geradezu als eine Gemeinschaft von Geschichtenerzählern«.1132 Das Erzählen fungiert für die Figuren als Instrument der Identitätsbegründung und spielt als Akt eine fundamentale Rolle für die Anlage des Romans. Die Insel Felsenburg ist in ihrer narrativen Anlage »multiplikativ[ ]«,1133 aus mehreren Schichten bestehend und verschachtelt:1134 Gisander als fiktiver Herausgeber des Romans bestimmt die Gestalt des Erzähltextes durch sein redaktionelles Eingreifen; der Roman bündelt – eingeflochten in die als Rahmen fungierende übergeordnete Erzählung des Eberhard Julius – eine Vielzahl von IchErzählungen. Das Erzählte wird also gleich in mehrfachem Sinne durch die Brille eines menschlichen Subjekts präsentiert, sodass dieser erzählerischen Anlage ein relativ hohes Subjektivitätspotenzial inhärent ist. Gisander, so die Inszenierung in der im Hinblick auf Fiktionsfragen hochgradig reflexiven Vorrede,1135 erhält das Manuskript von einem unbekannten Reisenden, der es ihm kurz vor seinem Tode übergibt – der Status des Erzählten, der zwischen Realem und Fiktivem schwankt, ist alles andere als gewiss.1136 Gisander tritt nicht als neutraler Herausgeber des Textes von Eberhard Julius auf, vielmehr bearbeitet er ihn, kürzt und schafft Ordnung.1137 In der »Vorrede« zum Band von 1731 äußert er sich klagend: »Ich weiß, was mir Mons. Eberhard Julii kunterbunde Schreiberey quoad formam vor Mühe gemacht, ehe die vielerley Geschichten in eine ziemliche Ordnung zu bringen gewesen« (IF I, 17). Er merkt zur Gestalt des Manuskripts, das ihm vorliegt, an, [d]aß des Herrn Eberhard Julii Manuscript sehr confus aussiehet, indem er zuweilen in Folio, ein ander mahl in 4to, und wieder ein ander mahl in 8vo geschrieben, auch viele
|| 1132 Braungart (Anm. 1029), S. 222. 1133 Frick (Anm. 42), S. 192. 1134 Vgl. Bettina Recker: »Johann Gottfried Schnabel: ›Die Insel Felsenburg‹ (›Wunderliche Fata einiger See-Fahrer‹)«. In: N. N. (Hrsg.): Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 78–111, bes. S. 82 f. 1135 Vgl. hierzu Frick (Anm. 42), S. 217–229; Braungart (Anm. 1029), S. 217–221. 1136 Vgl. Rolf Allerdissen: Die Reise als Flucht. Zu Schnabels »Insel Felsenburg« und Thümmels »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«. Frankfurt a. M. 1975, S. 64 f. 1137 Vgl. zu Gisander als Bearbeiter des Textes Inge Weinhold: Johann Gottfried Schnabels ›Insel Felsenburg‹. Eine zeitmorphologische Untersuchung. Bonn 1964, S. 13 f.
344 | Numerische Ästhetik in der Insel Felsenburg
marquen beygefügt, welche auf fast unzehlige Beylagen kleiner Zettel weisen, die hier und anderswo einzuflicken gewesen (IF I, 511).
Zudem seien die Ausführungen des Eberhard Julius an manchen Stellen (zu) umfangreich, sodass er beispielsweise »einen gar feinen und gelehrten Discours, den die Felsenburgischen Herrn Naturkündiger [eines] Meteori wegen gehalten« (IF II, 545), zusammenstreicht – und ebenso verfährt er im zweiten Band mit einigen Lebensgeschichten.1138 Er greift auch korrigierend in den Text ein, wenn aus seiner Perspektive deutlich ist, dass Eberhard Julius nicht zuverlässig berichtet (vgl. IF III, 348). Am Ende des vierten Bandes muss Gisander eingestehen: So viel ist es, meine werthesten Freunde und Leser, als ich, Gisander, aus des Herrn Eberhard Julii Manuscript zusammen stoppeln können, welches nicht allein sehr zergliedert, sondern über dieß dessen Schreib-Art ziemlich verwest ist […]. (IF IV, 559)
Die Herausgeberfiktion ist zwar ein subjektiver Eingriff in die angebliche Textgestalt, wird aber vor allem als Ordnungsvorgang inszeniert. Insgesamt ist in den erzählerischen Rahmen des Romans eine Vielzahl von Binnengeschichten eingewoben – dieses Verfahren macht die Komposition des Romans aus. Gefügt sind – dem Prinzip der »intermittierenden Fabel« folgend1139 – in den obersten Rahmen der Erzählung, in dem vom Leben des Eberhard Julius berichtet wird, die biographischen Erzählungen der Inselburger und Neuankömmlinge. Analoge Erzählstrukturen kennt der zeitgenössische Abenteuerroman wie der hohe Barockroman; in der Funktionalisierung dieser Erzählstrategie schließt Schnabel vor allem an die barocke Tradition an, weniger an den zeitgenössischen Abenteuerroman.1140 Der wesentliche Unterschied zum höfisch-historischen Roman liegt in Schnabels Verzicht auf einen heterodiegetischen Erzähler mit || 1138 Vgl. IF II, 538 f.: »Hier hat Mons. Eberhard Julius, der Ordnung gemäß, die LebensGeschichte der übrigen letzt mit angelangeten Europäer […] mit eingeflochten, weiln ich Gisander aber befürchte, daß, wenn ich selbige gleichfalls beybrächte, vielleicht dieser andere Theil des Wercks, den Ersten um viele Bogen übertreffen dürffte, so will die Erzehlungen gesagter Avanturiers entweder, wo Platz vorhanden, zum Anhange, oder biß in den ohnfehlbar bald folgenden dritten Theil versparen«. 1139 Grohnert (Anm. 1029), S. 607. 1140 Grohnert sieht allein die Bezüge zum Abenteuerroman, gegen den er Schnabels Roman abgrenzt, die Analogien zum höfisch-historischen Roman übersieht er dabei (Grohnert [Anm. 1029], S. 607). Dabei haben die Analepsen bei Schnabel und im höfisch-historischen Roman insofern ähnliche Funktionen, als die »unterbrechende retrospektive Sekundärhandlung der unmittelbaren Existenz-Begründung des in der Primärhandlung beschriebenen sozialen Modells dient« (S. 607).
Das Subjektivitätspotenzial der erzählerischen Komplexität | 345
Nullfokalisierung für die Rahmenhandlung. Denn auch der Rahmen wird von Eberhard Julius als einem homodiegetischen Erzähler erzählt, sodass die subjektiven Erzählungen ohne eine erzähllogisch übergeordnete Ebene mit Korrektivpotenzial präsentiert werden. Aus den Figurenerzählungen ragt im ersten Band die lange Lebenserzählung des Altvaters Albert Julius als Gründungsnarrativ hervor. Diese ist in mehrere Teile gegliedert und entlang eines temporal-räumlichen Programms strukturiert, denn sie ist in die »General-Visitation« eingespannt: Demnach bin ich gesonnen, in diesem meinem kleinen Reiche eine General-Visitation zu halten, und, so GOTT will, morgenden Tag damit den Anfang zu machen […] Wir werden in 9. aufs längste in 14. Tagen damit fertig seyn, und hernach mit desto bessern Verstande die Hände an das Werck unserer geistlichen und leiblichen Wohlfahrt legen. Nach unserer Zurückkunfft aber, will ich alle Abend nach der Mahlzeit ein Stück von meiner LebensGeschicht zu erzehlen Zeit anwenden, hierauff Beth-Stunde halten, und mich zur Ruhe legen. (IF I, 132)
Der Plan wird eingehalten, denn die Visitation dauert schließlich elf Tage. Zu den neun Besichtigungstagen kommen zwei Ruhetage.1141 In seiner numerischen Strukturierung fügt sich dieses Erzählprogramm in eine übergeordnete Kompositionsweise. Charakteristisch für Teile der erzählten Welt und das Erzählen davon sei, das hat Robert Stockhammer an einer Reihe von Beispielen herausgearbeitet, die Struktur 9+x, »wobei die mit ›x‹ gezählten Elemente […] einer anderen Kategorie oder Ordnungsstufe angehören als die übrigen 9«.1142 Angesichts der hohen Frequenz von numerischen Angaben und Ziffern, die den Roman durchziehen, rückt diese auf Äquivalenzen basierende Struktur in den Hintergrund (sie ist also nicht so dominant wie in den Sieben weisen Meistern, vgl. Beispiellektüre 7, oder in der utopischen Erzähltradition, vgl. dazu den Ausblick am Ende des Kapitels). Auch in der Insel Felsenburg fungiert also, wie in der Octavia oder der Asiatischen Banise, eine feste Tageseinteilung als Rahmung für die analeptischen Erzählungen des Altvaters. Im Roman sind die Ich-Erzählungen auf verschiedenen erzählerischen Stufen angesiedelt:1143 In die Erzählung des Eberhard Julius sind sie als Binnener-
|| 1141 Vgl. Stockinger (Anm. 1026), S. 405 f.; Stockhammer (Anm. 1028), S. 122. 1142 Stockhammer (Anm. 1028), S. 128 f. Mit dem Tod des Altvaters hingegen wird das Prinzip aufgegeben, denn die 13 für den Kirchplatz geplanten Gebäude lassen »sich nicht mehr nach der Formel 9+x gliedern« (Stockhammer [Anm. 1026], S. 133). 1143 Vgl. Weinhold (Anm. 1037), S. 24–28: Mit Blick auf den ersten Band der Insel Felsenburg differenziert Weinhold vier Stufen der Erzählung. Unter einer Stufe versteht Weinhold die
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zählungen auf einer ersten und/oder zweiten Stufe eingebettet: Die »LebensGeschicht der unglücklichen Charlotte Sophie van Bredal« (IF III, 160ff.) ist eingefügt in die Erzählung van Blacs, die ihrerseits zugleich in Eberhard Julius’ Erzählung gefügt ist. Im Regelfall funktioniert diese besondere Erzähltechnik, im vierten Band jedoch gerät das »System der narrativen Ebenen, mit denen Schnabel früher so virtuos umzugehen wußte, […] ins Rutschen«.1144 Diese Verschachtelung der Ich-Erzähler unterschiedlicher Stufen1145 geht mit dem Potenzial einher, eine subjektive Verzerrung der Wahrnehmung (von Zeit) zu gestalten, die die Möglichkeiten eines homodiegetischen Erzählers erster Stufe – z. B. des Simplius Simplicissimus – übertrifft. Dieses Potenzial zur Subjektivierung von Zeit, die durch die Überarbeitung von Gisander und die in einander geschachtelten autodiegetischen Erzählungen gegeben ist, ist in der Insel Felsenburg aber nicht realisiert. Im Gegensatz dazu wird aber der Raum der erzählten Welt partiell aus einer figurengebundenen Perspektive beobachtet:1146 »Landschaft ist nur die durch ein Menschenauge gesehene Natur«.1147 Eine vergleichbare konsequente Rückbindung der Wahrnehmung von Zeit an ein Subjekt gibt es nicht, im Gegenteil: Zeit erscheint als im kalendarischen System ›objektivierte‹ und normative Größe. Normativ ist sie sowohl aus der Perspektive der Figuren, die sich nach ihr ausrichten, als auch für den Aufbau der erzählten Welt, auf den die Figuren keinen Einfluss ausüben können. Die subjektiv gefärbte oder gar verzerrte Wahrnehmung von Zeit ist in der Insel Felsenburg negativ konnotiert, erscheint als krankhaft. Zugleich ist auch das anscheinend Wunderbare durch eine ›temporalen Choreographie‹ bestimmt. Die Ablehnung einer verzerrten Wahrnehmung von Zeit wird bereits in der Gründungserzählung der Inselgemeinschaft deutlich. Nach dem Sturm sind Concordia und Albert massiv angeschlagen. Concordia überlebt den Schiffbruch, doch ist sie so geschwächt, dass sie von einem »tieffen Schlaf« (IF I, 167) übermannt wird. Insgesamt scheint sie verwirrt, wenn sie sich mit den Worten an Carl Franz richtet: »Carl Frantz gehet mir aus den Augen, damit ich ruhig sterben kan« (IF I, 167). Albert begründet in seiner retrospektiven Perspektive Concordias seltsames Verhalten damit, »daß Concordia wegen übermäßiger
|| Unterbrechung einer biographischen Erzählung, es geht ihr also nicht um den Wechsel zwischen Rahmen- und Binnenerzählung. 1144 Dammann (Anm. 1027), S. 239. 1145 Vgl. Stockhammer (Anm. 1028), S. 133. 1146 Vgl. Stockinger (Anm. 1026), S. 442–444. 1147 Braungart im Rückgriff auf Joachim Ritter, Braungart (Anm. 1029), S. 235.
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Hitze nicht alle Worte so geschickt, wie sonsten, vorbringen könte« (IF I, 168). Sie richtet sich mit der Bitte um Wasser an Albert, und will sich »in würcklicher Phantasie« (IF I, 168, d.h. das Imaginierte als Wirkendes begreifend) eine halbe Stunde gedulden. Für »kaum eine halbe Stunde« verlässt Albert sie, um Einiges zu besorgen, das ihr helfen könnte (IF I, 169). Aber sie richtet sich mit Vorwürfen an ihn, denen ein subjektives Empfinden von Zeit zugrunde liegt: »Ihr hättet binnen 5. Stunden keine Tonne Wasser außdrücken dürfen, wenn ihr mich nur mit einem Löffel voll hättet erquicken wollen« (IF I, 169). Concordia kommt wieder zu Kräften, und Albert und Carl Franz freuen sich darüber, dass die »halb tod gewesene« gesundet und, besonders relevant, sie wieder »bey vollkommenen Verstande [zu] sehen« (IF I, 170). Die numerische Ordnung geht in der erzählten Welt der Insel Felsenburg über das Alltägliche hinaus und umfasst gleichermaßen Wunderbares und Irrationales, also Elemente, die auf den ersten Blick alles andere als geordnet und rational strukturiert sind. Während man auf der Insel Klein-Felsenburg das Gebirge erklimmt, beobachtet man Spukerscheinungen. Auch wenn nicht klar ist, welchen Status das »teuflische[ ] Blendwerk«1148 in der erzählten Welt hat, ist es entlang eines temporalen Musters strukturiert. Die Phänomene werden von den Reisenden an zwei Tagen beobachtet. Man beobachtet, während man am ersten Abend zusammensitzt, wie »aus der Felsen-Klufft eine Feuer-Flamme in die Höhe« aufsteigt (IF III, 328). Der Großteil der Anwesenden kann sich das Phänomen nicht erklären, Van Blac aber liefert zwei potenzielle Begründungsmöglichkeiten (nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hat): »Es ist itzo accurat die Mitternachts-Stunde eingetreten, entweder hat der Satan sein Spiel, oder es ist eine entzündete Schwefel- oder Salpeter-Dunst gewesen« (IF III, 328 f.).1149 Das Aufsteigen der Feuerflamme wiederholt sich rhythmisch: »etwa 4. oder 5. Minuten hernach aber, kam eben dergleichen Flamme zum andern mahle, und wieder nach so langer Zeit, zum dritten mahle heraus gefahren« (IF III, 329). Die Flamme kehrt »ordentlich« in Intervallen bis zu einer fixen Uhrzeit wieder.
|| 1148 Wolfgang Neuber: »Julius und die Geister. Zu den Gespenstern der transzendentalen Familie in Johann Gottfried Schnabels ›Insel Felsenburg‹«. In: Günter Dammann/Dirk Sangmeister (Hrsg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 127–141, hier S. 135. 1149 Die Geistererscheinungen haben – wie bereits in den Faustbüchern – ihren speziellen Zeitpunkt. Jeweils um Mitternacht erscheinen der Geist von Don Cyrillo de Valaro (IF I, 200: »etwa um Mitternacht«) und der Geist des Vaters von Mme Barley (IF IV, 220: »einstmahls in der Mitternachts-Stunde«); vgl. Neuber (Anm. 1048), S. 132–139, bes. S 132 f.
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Endlich da er zum 12ten mahle heraus gefahren war, sahe Mons. van Blac abermahls nach seiner Uhr, und sagte: Was gilts? wenn es ein Spielfechten des Satans ist, so wird es nun bald ein Ende haben, denn die Mitternachts-Stunde ist bald vorbey […]. (IF III, 329)
Van Blacs These bewahrheitet sich:1150 Abschließend hört man »Geheule« über »3. Minuten« bis »alles stille« ist (IF III, 330). Der Spuk des zweiten Tages startet mit einer aus der »Felsen-Klufft« aufsteigenden »Feuer-Kugel«. Van Blac prüft die Uhrzeit: Seine Uhr zeigt »kaum eine Minute über 11. Uhr« (IF III, 331). Während »dieser Stunde« beobachten sie »noch 10. Feuer-Kugeln aus der FelsenKlufft« fliegen (IF III, 332), »da aber die Mitternachts-Stunde zu Ende [geht], [ist] alles auf einmahl stille« (IF III, 333). Die beobachteten Phänomene ereignen sich nicht allein zu einer bestimmten Uhrzeit, sondern ebenso die Frequenz ist zeitlich strukturiert. Darüber hinaus wird der Umgang der Figuren mit diesen Erscheinungen von der Uhr bestimmt: Van Blac bändigt den Spuk, indem er seine zeitlichen Muster und seine temporalen Grenzen bestimmt. Kurz zusammengefasst: Auch wenn die von Eberhard Julius erzählte Welt und Zeit durch die Erzählweise ein subjektives Fundament haben und darüber hinaus durch die Verschachtelung der Erzählstufen eine besondere Komplexität besitzen, die die Subjektivität steigern könnte, sind Zeit und Welt nicht ›subjektiv‹ im Sinne einer Wahrnehmungsabhängigkeit.1151 Der Kalender und die Uhr umreißen die normative Ordnung der Figuren, doch nicht nur diese: Die wunderbaren Phänomene der Welt sind gleichermaßen nach temporalen Mustern strukturiert.
11.2 Numerische Ästhetik und die erzählte Zeit In Schnabels Roman dient Zeit als ›objektive‹ und ›abstrakte‹ Größe, sie ist unabhängig von den Figurenperspektiven und trägt zur Ordnung der erzählten
|| 1150 Die Erscheinungen stehen, wie Günter Dammann, treffend formuliert »unter der Deutungskonkurrenz von physikalischer Rationalisierung oder übernatürlicher Zuschreibung, die aber schon bald, und zwar durch unbeeindruckt rational-empirische Prüfung mittels einer Uhr, aufgelöst werden kann […]« (Dammann [Anm. 1027], S. 203). 1151 Neuber kommt zu einem analogen Befund, wenn er im Hinblick auf die Wahrnehmung von Geistern und Gespenstern zu folgendem Fazit gelangt: »Eine Selbstreflexion des Erzählens als Konditionierung der Einbildungskraft findet sich in der von erzählten Biographien besessenen ›Insel Felsenburg‹ an keiner Stelle. […] Sein Personal stellt sich in keinem Punkt seines Umgang mit Geistern die […] Frage, ob es sich angesichts der Gespenstererscheinungen nicht doch eher um Illusionen, um falsche Wahrnehmungen, um Sinnestäuschungen handelt« (Neuber [Anm. 1048], S. 139).
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Welt bei. Der Effekt wird erzeugt durch die Unmenge von ›absoluten‹ und ›relativen‹ Datierungen, die die erzählte Zeit der entworfenen Welt maßgeblich prägen, und durch die programmatische Thematisierung von Gegenkonzepten. Die subjektive Wahrnehmung von Zeit wird als Abweichung (durch Fieber oder Krankheit) diskreditiert. Treffend hat Paul Mog eine »Verschärfung des Zeitbewusstseins« in der Insel Felsenburg bescheinigt,1152 die über die Zeitarchitektur des Barockromans insofern hinausgeht, als es nicht nur um die korrekte temporale Koordination von Ereignissen geht, sondern auch um ihre Verankerung in einem verbindlichen kalendarischen System. Das Geschehen ist des Weiteren nicht in einer historisch weit zurückliegenden Vergangenheit situiert, sondern in einer nahen, die durchaus noch zum Erfahrungsraum der zeitgenössischen Rezipienten gehört (dem Simplicissimus vergleichbar). Die erzählte Zeit erscheint in diesem Sinne als ›kohärente‹, ›konsistente‹ und ›abstrakte‹ Dimension der erzählten Welt. Auch wenn die Figuren mit dem alten Leben in Europa brechen, übernehmen sie jedoch das ›alte‹ kalendarische System (das freilich verknüpft ist mit dem leitenden heilsgeschichtlichen Modell). Die gesellschaftliche Neugliederung geht nicht mit einer temporalen einher. Der Brief von Albert Julius, den Eberhard Julius zu Beginn des Romans erhält, ist am Ende datiert im kalendarischen System und im Hinblick auf Julius’ Regierungszeit und sein Alter: »Dat. Felsenburg, den 29. Sept. Anno Christi 1724. Meiner Regierung im 78. und meines Alters im 97. Jahre« (IF I, 44). Die von den Figuren erzählten Geschichten über ihre Vergangenheit in Europa bilden ein wichtiges Element für die Inselgemeinschaft,1153 denn sie »transportieren und kanonisieren eine bestimmte Wertehierarchie« und »[i]m Prozeß des autobiographischen Erinnerns kommt es […] zu Umbewertungen des Erlebten im Hinblick auf das neue, positive Lebensmodell«.1154 Charakteristisch für die erzählenden Figuren ist, dass sie wichtige biographische Ereignisse zeitlich verorten und die Zeitspannen zwischen diesen genau aufführen wollen. Ausgestattet sind die Figuren also gleichsam mit der »Gabe des ›perfect memory‹«, die die »Wiedergabe von langen Dialogen aus längst vergangenen Tagen« erlaubt,1155 freilich greifen sie dabei auch auf schriftliche Quellen zurück (vgl. IF
|| 1152 Mog (Anm. 1024), S. 67. 1153 Vgl. Recker (Anm. 1034), Recker liest »Schnabels Insel Felsenburg als Gedächtnislandschaft« (S. 81): »Es prägen […] nicht Ausschließung und Überwindung das Verhältnis von Europa und Inselstaat, sondern Rekonstruktion und Vergegenwärtigung« (S. 85). 1154 Recker (Anm. 1034), S. 88 f. 1155 Stanzel (Anm. 435), S. 275.
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III, 105 f.). Wie der Robinson Crusoe1156 werden die Lebensgeschichten häufig von Datumsangaben eröffnet, zudem ist die Frequenz von temporalen und numerischen Spezifikationen in den Lebensgeschichten insgesamt sehr hoch. Ich greife nur einige Beispiele heraus. Die eigene Lebensgeschichte beginnt Albert Julius mit dem Datum seiner Geburt: »Ich Albertus Julius, bin anno 1628. den 8. Januar. von meiner Mutter Maria Elisabetha Schlüterin zur Welt gebohren worden« (IF I, 134). Mit Datierungen der Geburt beginnen desgleichen die biographischen Erzählungen von Judith van Manders,1157 David Rawkin1158 und auch die biographischen Aufzeichnungen des Don Cyrillo de Valaro setzen mit der raumzeitlichen Situierung ein: »Ich Don Cyrillo de Valaro, bin im Jahr nach Christi Geburth 1475. den 9. Aug. von meiner Mutter Blanca de Cordoua im Feld-Lager unter einem Gezelt zur Welt gebracht worden« (IF I, 528).1159 Nicht anders ist es bei Gottlieb Schmeltzer,1160 Litzberg1161 und Johann Ferdinand Kramer1162 – Ausnahmen bilden Plagers Lebenslauf, der mit der Vorgeschichte der Eltern anfängt, doch auch hier wird das Geburtsdatum Plagers nachgereicht,1163 und der Lebenslauf Peter Morgenthals.1164 Datiert wird die Geburt entweder durch die Angabe des konkreten Jahres (samt Monats- und Tagesangabe) oder mittels der Zeit, die seit der Geburt vergangen ist. So heißt es zu Beginn von Krätzers Lebenslauf: »Ich bin, meine Herrn, nunmehro ein Mann von 37. Jahren« (IF II, 389). Don Cyrillo de Valaro selbst versucht, soweit es ihm möglich ist, sein Lebensende zu erfassen und damit die Aporie jedes autodiegetischen Erzählens, die in der Unmöglichkeit besteht, das eigene Ende zu erzählen, aufzulösen:
|| 1156 Der erste Satz lautet: »I Was born in the Year 1632, in the City of York, of a good Family, tho’ not of that Country, my Father being a Foreigner of Bremen, who settled first at Hull« (H. i. O.). 1157 IF I, 338: »Mein Nahme ist Judith van Manders, und bin 1648. eben um selbige Zeit gebohren, da die vereinigten Niederländer wegen des allgemeinen Friedens-Schlusses und ihrer glücklich erlangten Freyheit in grösten Freuden begriffen gewesen.« 1158 IF I, 370: »Ich stamme, sagte er, aus einem der vornehmsten Lords-Geschlechte in Engelland her, und bin dennoch im Jahr 1640. von sehr armen Eltern in einer Bauer-Hütte auf dem Dorffe gebohren worden […].« 1159 Wiederholt werden die Geburtsdaten auf den Papieren, die man bei der Leiche Don Cyrillo de Valaros findet (vgl. IF I, 205–210). 1160 Vgl. IF II, 20 f. 1161 Vgl. IF II, 100. 1162 Vgl. IF II, 196. 1163 Vgl. IF II, 268. 1164 Vgl. IF II, 498.
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Ich empfinde, daß ich Alters halber in kurtzer Zeit sterben werde, ohngeacht ich weder Kranckheit, noch einige Schmertzen empfinde. Dieses habe ich geschrieben am 27. Jun. 1606. Ich lebe zwar noch, bin aber dem Tode sehr nahe, d. 28. 29. und 30. Jun. und noch d. 1. Jul. 2. 3. 4. (IF I, 210).
Das Erzählen von den letzten Tagen verwandelt sich in seiner Darstellung zu einer Reihe von Ziffern, die als indexikalische Zeichen auf seine Existenz deuten. Unwissen und Erinnerungslücken sind bei den Erzählern nur äußerst selten. Wenn Frau Anna die »Lebens-Geschichte der Persianischen Printzeßin Mirzamanda aus Candahar« erzählt und zum besseren Verständnis zunächst ihre eigene Geschichte voranstellt, muss sie eingestehen, dass sie »das Jahr und den Tag [ihrer] Geburt so eigentlich nicht« weiß, ihre Geburt muss aber »vor etwa 46. bis 48. Jahren« gewesen sein (IF IV, 425). Datierungen inaugurieren nicht allein die Lebensläufe der Figuren, sondern dienen neben expliziten Angaben zur Dauer und Differenz immer wieder als Verortungspunkte für Ereignisse. Die vergleichsweise kurze biographische Erzählung von Franz Martin Julius, dem Vater des Eberhard Julius, zeigt anschaulich (IF III, 23–46), wie wichtig die zeitliche Verortung der Handlung ist und wie diese in ein ganzes numerisches System eingespannt ist – ich raffe die Anfangspassagen der Erzählung in meiner Darstellung und hebe die numerisch-temporalen Angaben hervor. Auf das ausführliche Geburtsdatum folgen (13. Juni 1680) Angaben zur finanziellen Situation der Familie nach dem Tod des Vaters: Für die Mutter, den Sohn und die zwei Töchter waren »kaum 600 Thlr. baar Geld« (IF III, 23) vorhanden, »jedoch war dabey noch ein eigenes Häußgen und etwas Feld, welches ohngefähr auf 1000 Thlr. geschätzt werden konte, hergegen hatte meine Mutter 800 thlr. baar Geld eingebracht« (IF III, 23). Als der Vater 1694 starb, so wird erzählt, war Julius 14 Jahre alt. Ein Jahr nach dem Vater starb die 12-jährige Schwester; die Mutter heiratete den Dienstnachfolger des Vaters. Der Stiefvater schickt Julius in die Lehre zu einem Kaufmann in die Stadt, der mit seiner Schwester zusammenlebt und »3 Diener und 2 Lehrlinge« hat (IF III, 27). Dort wird Julius Zeuge einer Wette zwischen seinem Patron und einem anderen Kaufmann, in der es um 10000 bzw. 20000 Thlr. geht. Sollte die Wette zugunsten des Patrons ausfallen, verspricht er Julius 1000 Thlr. Acht Wochen später bestellt der Patron Julius’ Eltern ein, erzählt von der Wette und übergibt die versprochene Summe. Nach seiner Lehrzeit wird Julius zu einem anderen Kaufmann in die Handelsstadt D. geschickt, und es vergeht »noch kein Jahr«, da folgen Verhandlungsreisen ins Ausland. Das Jahr 1705 markiert einen biographischen Einschnitt: Julius
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heiratet in eine wohlhabende Handelsfamilie ein. Am 12. Mai 1706 wird sein Sohn Eberhard Julius1165 und am 7. November 1709 seine Tochter Juliana Louise geboren (vgl. IF III, 28 f.). Zwischen 1716 und 1720 unterrichtete unter anderem Ernst Gottlieb Schmelzer Julius’ Kinder. Mit dem Tod der Ehefrau (16. April 1724) wendet sich das Glück, denn er verliert eine Menge Geld, das er durch BrasilienGeschäfte zurückgewinnen will. Peterson, ein Handelspartner, gewährt ihm zudem einen Vorschuss von 50000 Thlr., will dafür aber die Hand der Tochter von Julius. Inge Weinhold attestiert, dass das »felsenburgische Gemeinwesen […] nicht im Nirgendwo und Nirgendwann angesiedelt [wird], sondern in die Welt und die Zeit gesetzt« ist.1166 Weinholds Beobachtung trifft im Hinblick auf die Gegenwartshandlung des Romans, die zwischen 1725 und etwa 1740 spielt (Bd. I: 1725; Bd. II: 1726–1729; Bd. III: 1729–1735; Bd. IV: 1735–ca. 1740),1167 auf die Geschichte des Altvaters und diejenige des Eberhard Julius’ zu. Weinhold kommt zu dem Schluss: »[d]ank der zahlreichen Datierungen des Erzählers läßt sich eine fast lückenlose Chronologie für die wichtigsten Ereignisse der Rahmenerzählung aufstellen«.1168 Der Altvater besitzt ein »Zeit-Buch[ ]«, das er dazu nutzt, »die denckwürdigsten Begebenheiten« zu notieren (IF I, 312) – er fungiert als »gewissenhafter Chronist«.1169 Das Prinzip wird auf die gesamte Inselgemeinschaft übertragen. Man will früh »eine grosse Schlage-Uhr auf des Alt-Vaters Wohnung […] setzen« (IF II, 96 f.); realisiert wird dieser Plan Anfang August 1727, indem man eine Uhr einbaut, die »fast von den meisten Einwohnern gehöret werden« (IF II, 492) kann – und die auf diese Weise für die Inselbewohner »den Takt angibt«.1170 Die Inselgemeinschaft entwickelt Instrumente (»Jahr-Bücher[ ]« und »Zeit-Rechnungen«, IF IV, 532) und Institutionen (»Archiv«, »Bibliotheque«, IF IV, 389, vgl. 386, 370, 354), um Ihre Geschichte zu erfassen und im Rahmen eines kollektiven Gedächtnisses zu tradieren. Als materialisierte Erinnerungsmarker an besonderen Orten der Insellandschaft, so Bettina Recker, dienen den Felsenburgern die »Gedächtniß-Säule[n]« für Carl Franz van Leuven und Cyrillo de Valaro, die Pyramide für Concordia sowie die »Schand-Seule« (IF I, 308) für Lemelie und eine dem Alt-Vater zum Gedächtnis mit Sprüchen und Bildern geschmückte || 1165 Freilich stimmen die Angaben mit den biographischen Informationen überein, die Eberhard Julius über sich selbst preisgibt (vgl. IF I, 21). 1166 Weinhold (Anm. 1037), S. 128 f. 1167 Vgl. zu den Angaben Grohnert (Anm. 1029), S. 615. 1168 Weinhold (Anm. 1037), S. 260. 1169 Weinhold (Anm. 1037), S. 128. 1170 Braungart (Anm. 1029), S. 239.
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Pyramide.1171 Die Gedächtnissäule für Concordia führt dabei nicht allein alle wichtigen Daten ihres Lebens auf, sondern hat zudem bilanzierenden Charakter, wenn die exakte Dauer ihrer Ehe mit Albert Julius (»68. jährigen weniger 11. tägigen Ehe«), die Zahl der lebendigen und toten Kinder, der »Kindes-Kinder«, »Kindes-Kindes-Kinder« sowie der »Kindes-Kindes-Kindes-Kinder« und die Jahre, Monate und Tage, die sie gelebt hat (»88. Jahr, 8. Monat und 2. Wochen«), aufgeführt werden (IF I, 306). Neben der Klassifizierung der Figuren in ›Felsenburger‹ und ›Europäer‹ und ihrer Individualisierung durch Namen sind drei weitere Kategorien für ihre Einordnung relevant: ihr Geschlecht, ihr Alter und ihr Beruf (im weitesten Sinne). Die Liste der ersten Personen, die mit Kapitän Leonhard Wolffgang nach Felsenburg aufbrechen, liefert ein anschauliches Beispiel für dieses klassifikatorische System: Es bestunde aber unsere gantze Gesellschafft aus folgenden Personen: 1. Der Capitain Leonhard Wolffgang, 45. Jahr alt. 2. Herr Mag. Gottlieb Schmeltzer, 33. Jahr alt. 3. Friedrich Litzberg ein Literatus, der sich meistens auf die Mathematique legte, etwa 30. Jahr alt. 4. Johann Ferdinand Kramer, ein erfahrner Chirurgus, 33. Jahr alt. 5. Jeremias Heinrich Plager, ein Uhrmacher und sonst sehr künstlicher Arbeiter, in Metall und anderer Arbeit, seines Alters 34. Jahr. 6. Philipp Harckert, ein Posamentirer von 23 Jahren. 7. Andreas Klemann, ein Pappiermachen, von 36. Jahren. 8. Willhelm Herrlich, ein Drechsler, 32. Jahr alt. 9. Peter Morgenthal, ein Kleinschmied, aber dabey sehr künstlicher Eisen-Arbeiter, 31. Jahr alt. 10. Lorentz Wetterling, ein Tuchmacher, 34. Jahr alt. 11. Philipp Andreas Krätzer, ein Müller, 36. Jahr alt. 12. Jacob Bernhard Lademann, ein Tischler 35. Jahr. 13. Joh. Melchior Grabe, ein Büttner, von 28. Jahren. 14. Nicolaus Schreiner, ein Töpffer-Geselle, von 22. Jahren. 15. Ich, Eberhard Julius, damals alt, 19 ½ Jahr. (IF I, 118 f.)
Konkrete zeitliche Angaben fungieren für die Figuren als wichtige Orientierungspunkte. In Situationen, in denen es ihnen nicht möglich ist, Ereignisse und Dinge zeitlich zu verorten, sind sie irritiert und geradezu verzweifelt – so beispielsweise Litzberg, als man Urnen auf Klein-Felsenburg entdeckt: Er
|| 1171 Vgl. Recker (Anm. 1034), S. 96 f.
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hätte vor ängstlicher Curiosität verzweiffeln mögen, daß ihm unmöglich war, die Deutung der unbekandten Characters zu erfinden, über dieses verdroß ihn, daß man keine ihm bekandte Jahres-Zahl darauf gezeichnet (IF III, 314).1172
Potenziert wird die Bedeutung der temporalen Bestimmung von Ereignissen durch Eberhard Julius als Erzähler, denn teils neigt seine Darstellung zur »Annalistik«:1173 So führt er für die letzten Monate 1727 und das Jahr 1728 nur eine Reihe von merkwürdigen und genau datierten Ereignissen auf – unter anderem das Abrutschen einer Felsenspitze am 7. November und die Geburt eines fehlgebildeten, denn doppelköpfigen Schafes Ende Juli 1728, das schließlich gar »ausgestoffpt« wird: »Zu Ende des Monats Julii brachte in Davids-Raum ein Schaaf ein monstreuses Lamm zur Welt, mit zwey Köpffen, 4. Beinen und zwey Schwäntzen« (IF II, 547). Die Orientierung und die Fixierung auf numerische Angaben gehören zum ästhetischen Programm des Romans – das hat sich bereits in der Paraphrase des Lebenslaufs von Franz Martin Julius abgezeichnet. Wie Paul Mog attestiert, sei »[d]ie wachsame Zeitberechnung […] kein isoliertes Phänomen«: »das Quantifizieren des Qualitativen, ein rastloses Messen und Abschätzen macht sich überall bemerkbar«.1174 Rüdiger Campe hat die Auseinandersetzung mit der Insel Felsenburg programmatisch mit dem Wortspiel »Roman der Tabellen – Tabellen im Roman« überschrieben.1175 Der quantitative Zugriff auf die Welt umfasst gleichermaßen die räumliche Ordnung1176 wie unterschiedliche Aspekte des Alltags: Quantitativ erfasst wird die Tierpopulation oder das monetäre Vermögen,1177 aber auch das Wachsen und Gedeihen der Inselbevölkerung.1178 Hinzu kommt die typographische Umsetzung dieses Programms, die den numerischen Effekt noch verstärkt. Ich greife auch hier aus dem umfangreichen Material nur einige Beispiele heraus.
|| 1172 Vgl. Recker (Anm. 1034), S. 105 f. 1173 Michael Dominik Hagel: »›Republic‹ und ›Capital-Vestung‹. Aufzeichnungen zu Wirtschaft und Gesellschaft in Johann Gottfried Schnabels ›Wunderlichen Fata‹ (1731–1743)«. In: KulturPoetik 9 (2009), H. 1, S. 1–22, hier S. 10; vgl. Dammann (Anm. 1027), S. 187 f. 1174 Mog (Anm. 1024), S. 67. 1175 Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 239–274, bes. S. 256–274. Campe nähert sich Schnabels Roman vor allem über die Differenz zwischen Beschreiben vs. Erzählen, Aspekte des Numerischen spielen für ihn dabei nur bedingt eine Rolle. 1176 Vgl. Stockhammer (Anm. 1028), S. 113–135. 1177 Vgl. Hagel (Anm. 1073). 1178 Zum implizierten Spannungsfeld von descriptio und narratio vgl. Rüdiger Campe (Anm. 1075), S. 260–272.
Numerische Ästhetik und die erzählte Zeit | 355
Die räumliche Gliederung und Erfassung der erzählten Inselwelt hat teils eine Tendenz zur symbolischen Strukturierung, darauf deutet zum Beispiel die Anlage des Schlossgartens sowie die Siedlungsstruktur der Insel mit ihren neun Räumen. Die Beschreibung des Gartens, der um das Schloss des Albert Julius angelegt ist, lässt die numerische Anlage entlang von Symmetrieachsen erkennen: Denn diesen Garten, der ohngefehr eine Viertheils Teutsche Meile lang, auch eben so breit war, hatte er durch einen Creutz-Weg in 4. gleiche Theile angetheilet, in dem ersten quartier nach Osten zu, waren, die auserlesensten Fruchtbaren Bäume, von mehr als hundert Sorten, das 2te quartier gegen Süden, hegte vielerley schöne Weinstöcke, welche theils rothe, grüne, blaue, weisse und anders gefärbte extra-ordinair grosse Trauben und Beeren trugen. Das 3te quartier, nach Norden zu, zeigte unzehlige Sorten von Blumen-Gewächsen, und in dem 4ten quartire, dessen Ecke auf Westen stieß, waren die allernützlichsten und delicatesten Küchen-Kräuter und Wurtzeln zu finden. (IF I, 126)
Die sich hier abzeichnende, durch die Vier strukturierte Gleichmäßigkeit, verweist über sich selbst hinaus. Anders ist es bei der Expedition auf Klein-Felsenburg, dort werden die örtlichen Gegebenheiten akribisch vermessen, ohne dass eine numerische Komposition daraus ablesbar wird. Nachdem die Expeditionsteilnehmer den Eingang zur »Felsen-Klufft« erreicht haben, folgen sie einem »schmale[n] Weg, der 3. Krümmen hatte, hundert und etliche 30. Schritte lang« (IF III, 322). Sie erreichen schließlich ein »Ufer, welches nur 18. Schritt breit und etliche 40 Schritt lang« ist (IF III, 322). Dort entdecken sie eine Treppe, die »mehr als 30. Stuffen hinauf« geht (IF III, 322 f.), die sie aber aufgrund einer Schlucht nicht erreichen können. Da man vorerst nicht weiterkommt, beschließt man zurückzureisen und eine Brücke zu bauen. Man hinterlässt Kapitän Horn genaue Anweisungen, Holzstücke welcher Länger und in welcher Zahl gebraucht werden.1179 Mithilfe dieser Brücke gelingt es, den weiterführenden Gang zu beschreiten: Es zeigt sich zunächst »ein ohngefähr 3. Ellen breiter Gang gegen Süden«, der sich später nach Osten richtet. 20 Schritte später steht die Gruppe im Dunkeln. Eberhard Julius berichtet: nachdem wir etwa 100. Schritt durch die Finsterniß gegangen waren, [kamen wir, L. W.] auf einem 20. Schritte langen auch so breiten Platze alle zusammen zu stehen. Der Platz war ziemlich viereckig, biß 7. Ellen hoch, und oben als ein Gewölbe (IF III, 334)
|| 1179 So wird er aufgefordert, »seine Leute in dem nächst an dem Berge gelegenen Walde etwa 6. oder 8. Stück, 15. biß 16. Ellen, lange Balcken, und denn auch etliche 30. biß 40. QueerStücke aushauen und an den Fuß des Gebürges schaffen zu lassen« (IF III, 324).
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Von dort gehen sie nochmals über 200 Schritte eine Treppe hinab, bevor sie einen Tempel erreichen. Eine numerische Ordnung, die hinter dem Gangsystem stehen würde, ist aus der Vielzahl der Angaben nicht ableitbar. Symbolisch aufgeladen ist hingegen die Anlage des heidnischen Tempels mit seiner runden Grundform, der gewölbten Decke, dem runden Altar in der Mitte und den 12 Götterbildern, die ihrerseits auf halbrunden Altären an den Wänden des Tempels stehen (vgl. IF III, 335). Die Quantifizierung räumlicher, also statischer Relationen im Roman wird begleitet von der Erfassung der Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. Ende 1726 werden nicht allein die Bewohner der Insel im Kirchenbuch Schmeltzers tabellarisch bilanziert,1180 sondern auch der Zuwachs der Nutztiere verzeichnet und in Summen, teils zudem nach Alter und Geschlecht getrennt, präsentiert – zur Anschaulichkeit zitiere ich eine längere Passage: Denn 1.) Von den jungen Zucht-Stuten waren 2. Füllen gefallen. 2.) 4. Kühe hatten so viel Kälber gebracht. 3.) 3. Zucht-Sauen hatten ingesammt 33. junge Schweine geworffen, und 4.) Fünff Schaafe 7. Lämmer erzeugt, die übrigen waren verunglückt. 5.) Zwey Eselinnen gaben auch so viel junge Esel. 6.) 4. Welsche Hüner hatten ingesammt ohne die verunglückten, 42. junge aufgebracht. 7.) Von 18. Hauß-Hünern waren 4. Stück umkommen, und bey denen noch übrigen 14. alten, und 3. Hähnen, befanden sich ingesammt 123. junge Hühnlein. 8.) Bey 6. alten Gänsen, lieffen 39. junge Gänse herum. 9.) 6. alte Endten führeten 34. junge. 10.) 6. paar alte Tauben hatten 14. paar lebendige junge geheckt. 11.) Zwey Hündinnen hatten 9. junge Hunde und 12.) 2. Katzen 8. junge Kätzlein. 13.) Wie viele junge aber die 3. paar Caninichen zur Welt gebracht, konte man nicht wohl bemercken, denn sie waren alle weiß, und kamen niemahls auf einmal zum Vorscheine. Demnach hatten wir im November 1726. an Europäischen Viehe, 6. Pferde, als nehmlich 3. Hengste und 3. Stuten, 10. Stücken Rind-Vieh, und zwar zwey Ochsen, und ein OchsenKalb, 4. Kühe und 3. Zucht-Kälber. 15. Schaafe, worunter 2. alte und 3. junge Böcke. 6 Esel. 39. alte und junge Schweine. 48. Welsche Hüner und Hähne. 140. Hauß-Hüner und Hähne. 45 Gänse. 40. Endten. 20. paar Tauben. 13. Hunde 12. Katzen, und eine ungewisse Anzahl von Caninichen, die ihre Wohnungen ohnfern von Alberts-Raum, unter einem mäßigen Hügel, in lockern Boden selbst gebauet hatten, und sich auch ohne unsere Hülffe selbst ernehreten. (IF II, 95 f.)
Auffallend sind nicht allein die Frequenz numerischer Angaben, die Auflistungen,1181 Graphiken1182 und (genealogische) Tabellen,1183 die eingesetzt werden, || 1180 Rüdiger Campe macht auf die besondere »Inszenierung« der Tabelle aufmerksam, denn sie wird »[a]m thematischen Ort der ökonomischen Vermehrungsstatistik angekündigt, nachgetragen [wird sie aber, L. W.] zum rituellen Zeitpunkt der Predigt zum Anbruch des neuen Kirchenjahrs« (Campe [Anm. 1075], S. 259). 1181 Vgl. z. B. IF I, 466 f.; IF II, 585; IF II, 593 f; IF III, 59 f. 1182 Vgl. z. B. IF II, 15; IF II, 481.
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um die demographische Entwicklung der Bevölkerung zu visualisieren – diese Aspekte wurde in der Forschung bereits diskutiert. Auffallend ist darüber hinaus ein typographisches Detail der paratextuellen Romangestaltung, das den numerischen Eindruck noch verstärkt. Zahlen werden, auch im Bereich unter zehn, nicht immer ausgeschrieben, sondern erscheinen als Ziffern im Text.1184 Damit erhalten auch die durchschnittlichen Druckseiten eine Tendenz zum Tabellarischen, bei dem die quantitative Auswertung im Vordergrund steht. Der Blick auf eine Beispielseite mag dies vorführen – allein auf Seite (30) des Erstdrucks finden sich neun unterschiedliche Ziffern.
11.3 Numerische Strukturen in der utopischen Tradition Die anhand der Insel Felsenburg beschriebene numerische Ästhetik hat ihre Vorbilder neben dem Robinson Crusoe auch in der utopischen Erzähltradition. Der Blick auf frühneuzeitliche Utopien zeigt, dass sich numerische Strukturen in unterschiedlich starkem Maße und in verschiedenen, nicht immer genuin temporalen Zusammenhängen niederschlagen.1185 Die Temporalisierung des utopischen Entwurfs, die die Insel Felsenburg in besonderem Maße auszeichnet, ist in diesen partiell angelegt – freilich aber nicht in dem Ausmaß wie im Robinson-Crusoe-Stoff. In Thomas Morus’ Utopia (1516) beschränkt sich die Bedeutung numerischer Muster auf die geographischen Gegebenheiten der Insel,1186 die Verteilung der Städte1187 und auf die Strukturierung der utopischen Gesellschaft1188 sowie ihres
|| 1183 Vgl. z. B. IF I, 516–526; IF II, 217; IF II, 540. 1184 Wirft man einen Blick auf die Frequenz von Ziffern im Text, so fällt auf, dass nur relativ wenige Seiten ganz ohne auskommen. Auf den ersten 100 Seiten (IF I. 21–121) des ersten Bandes sind es nur folgende (22:78): 28, 38, 41, 42, 57, 58, 66, 67, 70, 76, 77, 81, 82, 92, 95, 101, 103, 105, 108, 113, 116, 117 (auch wenn man keine Ziffern auf diesen Seiten findet, so gibt es doch ausgeschriebene Zahlen/Zahlenanspielungen auf den Seiten [28, 41, 66, 70, 92, 101, 103], damit ändert sich nochmals das Verhältnis zu 15:85). 1185 Hier geht es mir weniger um die konkreten Bezugspunkte Schnabels, die seit Brüggemanns Studie in Gabriel de Foignys Terre australe connue (1676), Denis Veiras’ Historie des Sévarambes (1677–79) und Philipp Balthasar Sinolds Glückseeligste Insul auf der gantzen Welt (1723) gesehen werden, sondern vielmehr und generische Eigenheiten, die mit der Tradition utopischen Erzählens zusammenhängen, vgl. Brüggemann (Anm. 1021), Dammann (Anm. 1027), S. 155. 1186 Vgl. Thomas Morus: Utopia. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt von Gerhard Ritter. Mit einem Nachwort von Eberhard Jäckel. Stuttgart 2012, S. 123 und S. 133. 1187 Morus (Anm. 1086), S. 125 f.
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Alltags.1189 Numerische Angaben, die sich besonders im zweiten Buch von Morus’ Utopia finden, werden darüber hinaus punktuell wiederholt, sodass äquivalente Relationen entstehen.1190 Diese Relationen sind aber nicht zu einem kompositorischen Prinzip ausgebaut. Anders bei Tommaso Campanella: Seiner Sonnenstadt, die auf einem Hügel platziert ist, liegt ein Kreis zugrunde, der sich in seinem Inneren in weitere Ringe gliedert. Die Stadt ist als Mikrokosmos angelegt, der von der Sieben und Vier gegliedert wird: Im weitläufigen, flachen Land erhebt sich ein Hügel, auf dem sich der Hauptteil der Stadt ausbreitet. Ihre Ringe aber reichen großräumig über den Bergfuß hinaus. Dieser ist von einem Ausmaß, dass die Stadt zwei Meilen und mehr im Durchmesser aufweist und im Umfang auf sieben Meilen kommt. […] Gegliedert ist die Stadt in sieben überaus große Ringe, die nach den sieben Planeten benannt sind, und man gelangt von dem einen in den anderen durch vier Straßen und durch vier Tore, welche in die vier Himmelsrichtungen weisen.1191
Die räumliche Anordnung der Stadtbezirke, die dem kopernikanischen Weltentwurf folgt, setzt darüber hinaus »die platonische Stufenlehre ins Architektonische um«.1192 In Rahmen von recht unterschiedlichen numerischen Angaben, die die architektonische Anlage der Stadt, die gesellschaftliche Strukturierung und auch zyklische Abläufe betreffen, treten – neben der Drei – die Sieben und die Vier immer wieder als Gliederungsmuster hervor, beispielsweise, wenn es um die Erziehung der Kinder geht: Nach ihrem dritten Lebensjahr lernen die Kinder, in vier Reihen einherschreitend, die Sprache und das Alphabet auf den Mauern. Vier Erwachsene führen und unterrichten sie […]. So geht es bis zu ihrem siebten Lebensjahr. […] Nach dem siebten Lebensjahr besuchen sie, und zwar allesamt, den Unterricht der Naturwissenschaften. Es gibt vier Lehrer für denselben Unterricht, und für vier Stunden teilen sich die vier Gruppen auf […].1193
Die Zahlen finden sich aber nicht allein in solch geballten Konstellationen, sondern in ganz unterschiedlichen Kontexten: Man wechselt vier Mal im Jahr
|| 1188 Morus (Anm. 1086), S. 126 f. 1189 Morus (Anm. 1086), S. 145. 1190 So begegnet die Drei als Gliederungszahl gleich in mehreren Zusammenhängen (vgl. z. B. Morus [Anm. 1086], S. 127, 137, 139, 145). 1191 Tommaso Campanella: Die Sonnenstadt. Aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Jürgen Ferner. Stuttgart 2008, S. 5 f. 1192 Braungart (Anm. 1070), S. 89. 1193 Campanella (Anm. 1091), S. 15.
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die Kleidung1194 und arbeitet nicht länger als vier Stunden am Tag (bei Morus sind es zwei mal drei Stunden am Tag, die der Arbeit gewidmet werden).1195 Das numerische Prinzip hat also bei Campanella nicht nur eine größere Bedeutung als bei Morus, sondern ist kompositorisch tragend. Gleiches gilt für Johann Valentin Andreaes Christianopolis (1619). Bereits paratextuell deutet die Gliederung in 100 Kapitel auf die Bedeutung numerischer Strukturen. Innerhalb der erzählten Welt setzt sich die numerische Gliederung fort, denn die Stadtarchitektur wird ebenso wie die soziale Struktur zahlenmäßig erfasst und durch diese numerischen Relationen deutbar als symbolisch-allegorische Ordnung.1196 Besonderes Kennzeichen ist dabei das Ineinanderschachteln geometrischer Figuren (Dreieck, Quadrat und Kreis1197) sowie die zentrale und gleichmäßige Ausrichtung der städtebaulichen Komposition (wie die Skizze von Christianopolis und die Ansicht der Stadt zeigen).1198 Des Gleichen spielen numerische Ähnlichkeits- und Wiederholungsstrukturen (3, 4, 7 und 14) für die Anlage der Stadt eine wichtige Rolle.1199 Mit genauen Angaben werden darüber hinaus einzelne Gebäude wie das Kollegium1200 oder die Biblio-
|| 1194 Vgl. Campanella (Anm. 1091), S. 21. 1195 Vgl. Campanella (Anm. 1091), S. 29. 1196 Vgl. hierzu auch Braungart (Anm. 1070), S. 49–51. 1197 Die Insel ist dreieckig, die Stadt hat einen quadratischen Grundriss und der Tempel im Zentrum ist rund, vgl. Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. Köln u.a. 2012, S. 75. 1198 So heißt es über die Stadt: »Ihr Grundriß ist viereckig, wobei eine Seite 700 Schuh ausmacht. […] Es gibt zwei Reihen von Gebäuden, oder, wenn man den Sitz der Regierung und die Magazine der Stadt mitzählt, vier. Es gibt nur eine öffentliche Straße und nur einen, dafür aber recht beträchtlichen Marktplatz. Mißt man die Gesamtanlage aus, so wird deutlich, daß von der äußersten Straße an, deren Breite 20 Schuh beträgt, die Zahlen jeweils in Fünfern ansteigen bis zum Zentrum, wo der Tempel liegt, der rund ist und einen Durchmesser von 100 Schuh hat. Geht man jedoch von den Häusern aus, so kommen auf Zwischenraum, Magazine und Häuserreihe einzeln jeweils 20, auf dem Wall 25 Schuh. […] Außerhalb der Mauern ist ein Graben, 50 Schuh breit und voll von Fischen« (Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Aus dem Lateinischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1996, S. 25 f.) 1199 So wird alles, »was man für Zug-, Last-, Schlacht- und Weidevieh braucht, […] in vierzehn Gebäuden untergebracht« (Andreae [Anm. 1098], S. 26). Oder: »An diese beiden Vorratshäuser sind zur Mittagsseite hin sieben Mühlen mit gleich vielen Bäckereien angebaut, zur Nordseite hin sieben Metzgereien und gleich viele öffentliche Speiseräume« (S. 27; vgl. des Weiteren S. 28, S. 29); vgl. Braungart (Anm. 1070), S. 49. 1200 Vgl. Andreae (Anm. 1098), S. 46.
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thek beschrieben,1201 sodass »[j]edes einzelne Element der Christianopolis […] aufs Ganze [verweist]«.1202 In Francis Bacons Nova Atlantis (geschrieben 1624, 1627 publiziert) erhalten numerische Strukturen – mit Blick auf die ältere Tradition utopischen Erzählens – eine qualitativ neue Bedeutung. Bereits die Reise von Peru nach NeuAtlantis ist durchsetzt von Zeitangaben.1203 Gezählt und verzeichnet wird die Zeit, die vergeht, die Besatzung von Booten,1204 architektonische und geographische Details;1205 gesetzt werden Fristen, die einzuhalten sind,1206 aber auch verschoben werden können.1207 Es ist nicht nur der Blick des Beobachters, der die Dinge in Neu-Atlantis quantitativ erfasst, sondern die Gesellschaft von NeuAtlantis selbst ist zum Teil numerisch organisiert, wie das sogenannte Familienfest zeigt: Es ist durch ein Gesetz des Reiches vorgeschrieben, daß jeder dieses Fest feiert, der bei Lebzeiten dreißig noch lebende Nachkommen aufweist, die alle älter als drei Jahre sein müssen. […] Das Familienoberhaupt, der »Tirsanus«, lädt zwei Tage vor dem Fest drei seiner besten Freunde zu sich ein […].1208
Noch deutlicher wird eine numerische und auf Äquivalenzen und Steigerungen angelegte Gliederung in der Struktur der ›Gesellschaft der Werke der sechs Tage‹, die sich der Erforschung der göttlichen Schöpfung widmet. Sie besteht aus zwölf Lichtkäufern und je drei ›Ausbeutern‹, ›Jägern‹, ›Schatzgräbern‹, ›Ordnern‹, ›Wohltätern‹, ›Leuchtern‹, ›Pfropfern‹, und ›Erklärern der Natur‹. In den Gesetzen von Neu-Atlantis ist festgeschrieben, dass alle zwölf Jahre zwei Schiffe mit drei Mitgliedern der ›Gesellschaft‹ in die Welt reisen sollen, um die Wissenschaften, Künste und Erfindungen außerhalb von Neu-Atlantis zu sammeln und zu erforschen.1209 Bacons Neu-Atlantis verfügt also nicht mehr über die geschlossene geographische und architektonische Anlage:1210 Wie Wolfgang Braungart treffend formuliert, kommen »[k]osmologische, astrologische und
|| 1201 Vgl. Andreae (Anm. 1098), S. 63. 1202 Braungart (Anm. 1070), S. 49. 1203 Vgl. Francis Bacon: Neu-Atlantis. Übersetzt von Günther Bugge. Durchgesehen und neu herausgegeben von Jürgen Klein. Stuttgart 2013, S. 5 f. 1204 Vgl. Bacon (Anm. 1103), S. 6 f. 1205 Vgl. Bacon (Anm. 1103), S. 10. 1206 Vgl. Bacon (Anm. 1103), S. 6, S. 8. 1207 Vgl. Bacon (Anm. 1103), S. 13. 1208 Bacon (Anm. 1103), S. 31. 1209 Vgl. Bacon (Anm. 1103), S. 29. 1210 Vgl. Braungart (Anm. 1070), S. 99, S. 102.
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allegorische Ordnungsverfahren«, die auf eine räumliche Gliederung des Erzählten zielen, nicht mehr zum Tragen; er übersieht dabei, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt durch ihre Aneignung in der Zeit und Geschichte ersetzt wird. Die von Morus, Campanella und Bacon entworfenen Städte und Staatswesen sind keine völlig geschichtslosen Orte – Neu-Atlantis ist jener Ort, der am stärksten historisch gedacht wird. Utopia wird von Utopus erst als Insel angelegt, »in alter Zeit« war das Land »noch nicht rings vom Meere umgeben«, und im Laufe der Jahrhunderte hat man sie zu ihrem Ist-Zustand ausgebaut.1211 Zeugnis davon geben die Annalen der Utopier, »die sie seit der ersten Besetzung der Insel aufbewahren, die Geschichte von 1760 Jahren umfassend, fleißig und gewissenhaft zusammengestellt«.1212 Die Bewohner der Sonnenstadt Campanellas haben nicht einen statischen Endpunkt in ihrer Geschichte erlangt, sondern »sind stets auf Verbesserung bedacht«.1213 Hier geht es also weniger um die Geschichtlichkeit des Ist-Zustandes als um seine Unabgeschlossenheit im Hinblick auf eine angestrebte Perfektibilität. In Bacons Neu Atlantis wird die Christianisierung auf »[e]twa zwanzig Jahre nach der Himmelfahrt unseres Herrn« datiert;1214 und der Vorsteher skizziert in kulturglobaler Perspektive den Wandel und Niedergang des Schifffahrtwesens, denn vor »etwa dreitausend Jahren oder noch etwas früher« hatte »der Schiffsverkehr mit entlegenen Ländern […] einen weit größeren Umfang […] als heutzutage«.1215 Die Gesetzgebung des Landes geht auf den König Salomona zurück, der – wie man zu berichten weiß – »vor neuzehnhundert Jahren« regierte.1216 Das Moment der Verbesserung ist NeuAtlantis durch die ›Gesellschaft der Werke der sechs Tage‹ eingeschrieben, die sich der Forschung und Optimierung der Verhältnisse widmet. Die Bedeutung des numerisch Erfassbaren bezieht sich aber in diesen utopischen Texten vornehmlich auf räumliche Relationen, wie man sie in der Insel Felsenburg auch bei der Beschreibung der »Residentz« des Altvaters Albert Julius findet (IF I, 458), und andere statische oder zyklische Strukturen. Gerade bei Campanella und Andreae sind die numerischen Angaben Ausdruck symbolischen Denkens, das sich in Analogie- und Äquivalenzrelationen manifestiert. Vor diesem Traditionshintergrund erweitert die Insel Felsenburg die Disposition
|| 1211 Morus (Anm. 1086), S. 125. 1212 Morus (Anm. 1086), S. 137. 1213 Campanella (Anm. 1091), S. 30. 1214 Bacon (Anm. 1103), S. 16. 1215 Bacon (Anm. 1103), S. 21. 1216 Bacon (Anm. 1103), S. 25.
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des Genres, indem die numerische Ästhetik auf die Gegenwartshandlung (wie bei Bacon) sowie die näher zurückliegende Vergangenheit ausgeweitet wird und sich teils ihres symbolisch-allegorischen Impetus entledigt. Freilich tauchen auch in der Insel Felsenburg analoge numerische Strukturen auf (in Erinnerung gerufen sei die Formel 9+x), doch gehen diese in der Vielzahl numerischer Angaben, die die typographische Materialität des Druckes noch potenziert, stärker unter. Die Zahl und mit ihr die zeitliche Datierung hat keine über sich selbst hinausweisende Bedeutung mehr – weder in einem symbolischen noch in einem kompositorischen Sinne –, sondern steht für sich; darin liegt der Unterschied zu ihrer Funktionalisierung in den Sieben weisen Meistern oder im Faustbuch.
12 Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit – ein Rück- und Ausblick Den Anstoß zu dieser Arbeit haben zwei Fragen gegeben. Die erste galt den Anforderungen an eine historische Narratologie, die sich der temporalen Eigenheiten frühneuzeitlicher Romane annimmt. Wie hat der methodische Entwurf auszusehen? Im Fokus der zweiten Frage standen die Zeitkonzepte, die mittels eines solchen Zugriffs sichtbar werden. Um diese Fragen zu beantworten, will ich kurz das argumentative Gerüst und die Ergebnisse meiner Arbeit rekapitulieren. Die Notwendigkeit einer historischen Narratologie der Zeit gründet in einem kulturgeschichtlichen und einem methodischen Interesse. Denn es gibt einen engen historischen Zusammenhang zwischen Zeitkonzepten, Modernitätsprozessen sowie der Genese des Romans als erzählerischer Großform (Kap. 2). Das Interesse an der Historisierung von Zeit resultiert zudem aus einem methodischen Desiderat der Erzählforschung. Denn in der erzähltheoretischen Konzeptualisierung ist Zeit reduziert zu Chronologie (Kap. 3.1). Beschreibbar werden – so mein Vorschlag – die historischen Eigenheiten von Zeit und ihre Veränderungen im Rahmen einer ›historischen Narratologie‹, die auf einem relationalen Begriff von Zeit basiert (Kap. 3.2). Dieser Begriff umfasst drei Dimensionen, die auf je eigene Weise zur Ausformung der erzählten Zeit beitragen: eine ›erzählerische‹, eine ›diegetische‹ und eine ›semantische Dimension‹ (Kap. 3.3). Ziel der systematischen Überlegungen war es, einen strukturierten Zugriff auf die Art und Weise, wie Zeit in Erzähltexten aufgebaut wird, zu präsentieren und einige Kategorien vorzustellen, mittels derer die erzählte Zeit in Erzähltexten analysiert werden kann. Die ›erzählerische Relationalität‹ wird über vier grundlegende Parameter des Erzählens erschlossen: über ›Verbalisierung‹, ›Komposition‹, ›Auswahl‹ und ›Perspektive‹ (Kap. 4.1). Die ›diegetische Relationalität‹ von Zeit zeigt sich in ihrem Zusammenspiel mit ›Ereignissen‹, ›Figuren‹ und ›Räumen‹ (Kap. 4.2). Die ›semantische Relationalität‹ von Zeit wird in der Frühen Neuzeit in der Dichotomie von ›Zeitlichkeit/Ewigkeit‹, in ›Schicksalssemantiken‹ sowie in ›Lebensalter-‹ und ›Weltaltermodellen‹ sichtbar (Kap. 4.3). Ausgehend von diesen systematischen Überlegungen erscheinen acht Kategorien samt einigen Binnendifferenzierungen geeignet zu sein, die Vielgestaltigkeit textueller frühneuzeitlicher Zeitentwürfe zu erfassen: ›Qualität‹, ›Struktur‹, ›Dimensionalität‹,
DOI 10.1515/9783110566857-015
364 | Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit – ein Rück- und Ausblick
›Kohärenz‹, ›Konsistenz‹, ›Horizont‹, ›Räumlichkeit‹ und ›Subjektivität‹ (Kap. 4.4). Diese bildeten die analytische Folie für die diachronen Analysen. Meine Lektüren der Erzähltexte lassen eine in verschiedener Hinsicht heterogene erzählte Zeit sichtbar werden. Die Heterogenität der Zeit in Veit Warbecks Magelone (1527/35) basiert auf einer generischen Überlagerung, kombiniert wird nämlich die Plotführung, aber nicht die ›Eigenzeit‹ des Heliodor’schen Romans mit märchenhaften Formen der Evokation von Zeit (Kap. 6). Den Ritter Galmy (1539) bestimmt die Spannung zwischen einer ›langen‹ und einer ›kurzen Zeit‹. Diese metaphorischen Ausdrücke bündeln eine Reihe von temporalen Eigenschaften, die den Roman in diegetischer wie erzählerischer Hinsicht charakterisieren und strukturelle Äquivalente zu Vollendung und Verzögerung der Liebe als Hauptmotiven des Romans bilden (Kap. 7). Im Fall der Historia von D. Johann Fausten (1587) realisiert sich temporale Heterogenität in einer semantischen und einer kompositorischen Dimension: Der Differenz von Zeitlichkeit und Ewigkeit ist eine normative Spannung inhärent, die in der Historia anhand von Faustus’ Leben durchgespielt wird. Das Verhältnis von Frist- und Episodenstruktur führt darüber hinaus dazu, dass eine unauflösbare Spannung zwischen dem ›geschlossenen‹ Horizont der vierundzwanzigjährigen Frist und der ›unzeitlichen‹, weil umstellbaren Episodenreihe entsteht, die in die Friststruktur eingebettet ist und die die Sukzession und Teleologie der Frist implizit unterläuft (Kap. 8). In Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) lässt die differierende Semantisierung von Räumen mit ihrer topographischen oder topologischen Dimension verschiedene Teilräume entstehen. Die temporale Heterogenität schlägt sich insofern nieder, als die Diegese des Romans ›pluriregional‹ ist, da sie sich durch die Koexistenz mehrerer Realitätssysteme auszeichnet, die sich in ihrer raumzeitlichen Struktur unterscheiden (Kap. 9). Die temporale Heterogenität realisiert sich in der Asiatischen Banise (1689) von Zigler und Kliphausen in der Anlage der Figuren und der erzählerischen Gestaltung von Fristen. Die Hauptfiguren des Romans sind, wie die Helden des Heliodor’schen Romans, lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt, die die Schönheit und Integrität ihrer Körper sowie deren Unversehrtheit während der Abenteuer gefährden. Doch gehen diese Ereignisse an ihnen spurlos vorüber, was zu dem Schluss führt, dass die Figuren über eine ausgeprägte ›Eigenzeitlichkeit‹ verfügen. In das ›geschlossene‹ Makrosyntagma des Romans sind temporal bestimmte Mikrosyntagmen gefügt, in denen Fristen überschritten werden und somit der zeitliche Horizont ›geöffnet‹ wird. ›Offener‹ und ›geschlossener‹ Horizont stehen hier also in einem Spannungsverhältnis (Kap. 10). Demgegenüber zeichnet sich Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg durch eine numerische Ästhetik aus, in der die genauen kalendarischen Angaben Teil einer gezählten Welt sind
Historische Narratologie: Potenziale, Grenzen und Perspektiven | 365
(Kap. 11). Bei der diachronen Reihe der Einzelinterpretationen ging es nicht darum, einen teleologischen Prozess nachzuzeichnen, an dessen Ende die Insel Felsenburg mit ihrem exponierten ›abstrakten‹ Zeitbewusstsein steht, sondern vielmehr sollte den Spannungen, Umdeutungen und Transformationen von Elementen nachgegangen werden. Besonders deutlich wurden diese Transformationen und Funktionswechsel mit Blick auf Phänomene wie Fristen (Faustbuch/Asiatische Banise), numerische Strukturierungen (Magelone/Faustbuch/ Insel Felsenburg), Erzählmuster (Magelone/Asiatische Banise) oder semantische Konzepte (Faustbuch/Simplicissimus). Nicht zuletzt die vergleichenden Bemerkungen zum Schluss jedes Kapitels haben geholfen, die herausgearbeiteten Eigenheiten der Stoffbehandlung deutlicher werden zu lassen (Übersetzung der Magelone/Bearbeitungen der Faustbücher), generische Traditionen (utopischen und satirischen Erzählens) zu beleuchten oder analogen Phänomenen nachzugehen (Formen der ›kurzen Zeit‹). Zum Abschluss der Studie stellen sich grundlegende methodische und weiterführende literatur- bzw. kulturgeschichtliche Fragen. Im Rahmen der Antworten auf diese Fragen sind die Ergebnisse zu bündeln, zu reflektieren und in einen breiteren Zusammenhang einzuordnen. Die erste Frage zielt auf die heuristische Tragweite der von mir skizzierten historischen Narratologie: auf die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit (Kap. 12.1). Zu fragen ist sodann nach der literatur- wie kulturgeschichtlichen Deutung der Befunde (Kap. 12.2), die im Gegensatz zur detaillierten Rekonstruktion der vorausgehenden Kapitel (Kap. 4 bis 11) auf die Synthese der Befunde ausgelegt ist. Oder konkret formuliert: Lässt der Blick auf frühneuzeitliche Romane eindeutige Veränderungen in den Vorstellungen von Zeit erkennen?
12.1 Historische Narratologie: Potenziale, Grenzen und Perspektiven Mit dem relationalen Entwurf einer historischen Narratologie wurde dem Facettenreichtum von Zeit im Rahmen einer Theorie ›diegetischer Zeit‹ Rechnung getragen und zugleich die Möglichkeit geschaffen, ein mehrschichtiges Bild historischer Konfigurationen von erzählter Zeit und ihrer Transformationen zu zeichnen. Dieses Konzept einer historischen Narratologie ist vor allem formbasiert, denn fokussiert werden konkrete erzählerische Phänomene. Integriert werden zugleich historische Semantiken, die einen temporalen Kern besitzen. Indem nicht ausschließlich genuin temporale erzählerische Phänomene im Hinblick auf ihre Relevanz befragt und gedeutet werden, dient Zeit teils als
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›Interpretationskategorie‹, mit deren Hilfe Eigenheiten des frühneuzeitlichen Erzählens synthetisiert werden können. Eine historische Narratologie muss also nicht, wie häufig in neueren Diskussionen gefordert, zwangsläufig stark kontextualisierend verfahren1217 und Impulse aus anderen Disziplinen integrieren.1218 Diese Studie versteht sich vielmehr als Plädoyer für eine Narratologie, die sich – vor allem im immer unübersichtlicher werdenden Feld von neuen und neuesten Narratologien – auf ihren konzeptuellen Kern beschränkt und diesen in historischer Perspektive ausbaut. Mein Entwurf ist – denkt man zurück an die Haug-Graevenitz-Debatte in der DVjs – keine generelle Absage an kulturwissenschaftliche Fragestellungen, sondern der Versuch, Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft innerhalb kulturwissenschaftlicher Fragestellungen zu betreiben. Zwei Fragen stellen sich hinsichtlich der Anwendungsmöglichkeiten dieses Entwurfs: Handelt es sich dabei um einen ausschließlich für die Frühe Neuzeit fruchtbaren methodischen Ansatz? Und zweitens: Inwiefern kann mein Ansatz als Modell für eine Historisierung anderer Erzählkategorien dienen? Um es gleich vorwegzunehmen: Als Grobentwurf ist das vorgeschlagene Modell auch über die Frühe Neuzeit hinaus anwendbar. Die erzählerischen und diegetischen Leitkategorien besitzen transhistorische Relevanz.1219 Die einzelnen Kategorien erhalten aber, nimmt man eine historische Periode in den Blick, eine je andere Gewichtung und die spezifischen erzählerischen Phänome innerhalb der Kategorie können differieren. Zu unterscheiden ist im Hinblick auf die systematischen Kategorien immer zwischen der systematischen Kategorie als solcher und ihrer konkreten historischen Realisationsform. Gerade aus dieser Sicht wird die implizite Historizität des systematischen Entwurfs, wie er in Kapitel 4 vorgestellt wurde, deutlich. Einige kursorische Bemerkungen veranschaulichen
|| 1217 Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Arbeiten Ansgar Nünnings, der eine stärker kontextualisierend arbeitende historische Narratologie fordert. Vgl. auch den Aufsatz von Eva von Contzen: »Why We Need a Medieval Narratology. A Manifesto«. In: diegesis 3 (2014), Heft 2, S. 1–21, hier S. 16 (dies ist die neunte These): »The medieval texts themselves should provide the basis for the analysis: a medieval narratology requires close reading as well as the inclusion of the historico-cultural context. The texts, as objects in a specific time and space, lead to the theoretical and descriptive apparatus (and not the other way round).« 1218 Contzen (Anm. 1117), S. 16 (These 6): »Medievalists working in the field of narratology should be encouraged to collaborate, not only within, but emphatically also beyond and across disciplines, in order to bring together their theoretical expertise and establish a set of methodological tools that can be of use beyond the narrow issues of a particular field.« 1219 Gemeint sind ›Verbalisierung‹, ›Komposition‹, ›Auswahl‹ und ›Perspektive‹ als erzählerische Kategorien sowie ›Raum‹, ›Figur‹ und ›Ereignis‹ als diegetische Kategorien.
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historische Differenzen: Im Rahmen der ›Verbalisierung‹, das wurde an entsprechender Stelle deutlich, verlieren und gewinnen Ausdrücke und Konstruktionen an Relevanz. In diachroner Perspektive büßt »zGhandt« an Bedeutung ein, »während« hingegen setzt sich eigentlich erst im 18. Jahrhundert durch. Im Kontext der ›Perspektivierung‹ bilden sich in der klassischen Moderne avancierte Verfahren heraus, subjektives Zeitempfinden zu thematisieren und zu einem tragenden gestalterischen Prinzip des Romans zu machen. Hier ist mit Sicherheit eine im Vergleich mit der Frühen Neuzeit differenziertere Konzeption von Subjektivität notwendig: zu unterscheiden wäre zum Beispiel zwischen ›retrospektiver‹ und ›imaginierter‹ Subjektivität (man denke an die Differenz zwischen Prousts Umgang mit Zeit und Leo Perutz’ Zwischen neun und neun [1918]). Parallel dazu erlangen Semantiken wie ›Erinnerung‹, das ›Warten‹ oder ›Langeweile‹ um 1900 besondere Relevanz. Ähnlich muss mit Blick auf die diegetischen Kategorien vorgegangen werden. Die Überwindung von Zeit durch Figuren wird im Zeitreiseroman, der im späten 18. Jahrhundert aufkommt, zum eigentlichen Gegenstand;1220 der Science-Fiction-Roman in der Nachfolge von H. G. Wells The Time Maschine (1895) entwickelt dann eine eigene Spielart dieses Motivs. In diesem Fall wäre ebenso wie in Virginia Woolfs Orlando (1928) oder Martin Amis’ Time’s Arrow (1991) zu prüfen, ob sich das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Figur anhand der vorgeschlagenen Begriffe adäquat beschreiben lässt. Diese für die systematischen Überlegungen formulierten Bemerkungen gelten konsequenterweise auch darüber hinaus, d. h. für die acht Kategorien, die zur Beschreibung der erzählten Zeit vorgeschlagen wurden. Die zweite methodische Frage ist noch weiter gefasst: Ist dieses Konzept einer relationalen historischen Narratologie über die Kategorie der Zeit hinaus sinnvoll anwendbar? Der vorliegende Entwurf ist kein metatheoretischer Ansatz, der beliebig für alle klassischen Gegenstände der Erzähltheorie einsetzbar wäre. Unter bestimmten Bedingungen scheint mir jedoch eine solche Möglichkeit gegeben zu sein. Der Fokus muss auf einem grundlegenden Element der erzählten Welt liegen, denn der Entwurf ist von diegetischen Kategorien her gedacht; auf diese zielt das primäre Erkenntnisinteresse. In Betracht kämen also zum Beispiel der Raum oder die Figur. Bei diesen ließe sich analog nach der Bedeutung der erzählerischen Verfahren, nach dem Zusammenspiel mit anderen Elementen der erzählten Welt sowie nach typischen Semantisierungen fragen.1221 Entscheidend ist also ein relativ abstrahiertes Trägerkonzept, das sich in
|| 1220 Einen guten Überblick zum Motiv der Zeitreise gibt Lehnert-Rodiek (Anm. 487). 1221 Vgl. Maximilian Benz/Katrin Dennerlein (Hrsg.): Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie. Berlin/Boston 2016.
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verschiedene Unterkategorien aufsplitten und somit operationalisieren lässt. Es ist die Kombination von stabilem Rahmen bei zeitgleicher Variabilität, die notwendig ist, damit der Ansatz fruchtbar gemacht werden kann. Für Aspekte wie die ›Fokalisierung‹ oder spezifische Phänomene wie die ›erlebte Rede‹ lässt sich der skizzierte Weg schlecht beschreiten. Hier sind die Grenzen der Übertragbarkeit erreicht.
12.2 Erzählte Zeiten: Korrelation – Konterdiskursivität – Eigensinn Als charakteristisch für den frühneuzeitlichen Roman habe ich verschiedene Formen der temporalen Heterogenität beschrieben. Diese geht zum einen aus dem systemischen Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren hervor, durch die die erzählte Zeit geformt wird, und zum anderen aus der Adaption literarischer Formen sowie aus auf Übersteigerung und Ironisierung basierenden Schreibverfahren. Die Heterogenität schlägt sich unter anderem in der ›Pluriregionalität‹ der erzählten Welten (Brissonetus), in ›flexiblen‹ Raum-ZeitRelationen, in der ›Eigenzeitlichkeit‹ von Figuren (Melusine und Banise), in der ›Inkonsistenz‹ von Zeitangaben (Schelmuffsky) oder der Unvereinbarkeit von temporalen Weltmodellen nieder. Potenziert wird diese Heterogenität durch historische Faktoren und literarische Gestaltungsverfahren. Denn generische Konventionen spielen für Fragen der Zeitgestaltung ebenso eine prägende Rolle wie thematische Konstellationen. Schließlich tradiert das Heliodor’sche Modell die ›Eigenzeitlichkeit‹ der Figuren über den antiken Kontext hinaus wie auch die Tradition der Menippea teils die Vorstellung von temporalen Sonderräumen mitträgt. Die motivische Verschränkung von Zeit und Liebe realisiert sich in der ›subjektiven‹ Verzerrung der Wahrnehmung von Dauer – im Roman des 16. Jahrhunderts ebenso wie im höfisch-historischen Roman und im Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Quer zu diesen relativ stabilen Traditionslinien liegen autorenspezifische Stil- und Gestaltungsverfahren, die unter anderem in der produktiven Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern Kontur gewinnen. So wird die numerische, zur Symbolik neigende Anlage des Raumes der Utopie in der Insel Felsenburg zu einer numerischen Ästhetik ausgeweitet, in der potenzielle Ähnlichkeitsrelationen untergehen. Im Hintergrund dieser Heterogenität zeichnet sich aber zugleich ein zunehmender Bedeutungsgewinn einer ›konsistenten‹ und ›kohärenten‹, ›abstrakt‹ und ›mehrwertige‹ gedachten Zeit ab, wie besonders die Romane von Anton Ulrich und Johann Gottfried Schnabel zeigen, in denen der zeitlichen Koordination der Handlung besonderes Augenmerk geschenkt wird. Korres-
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pondierend mit dieser partiellen Homogenisierung findet eine ›Öffnung‹ des zeitlichen Horizonts statt, durch die die Zukunft zum Möglichkeitsraum für Unvorhergesehenes wird und ihre Funktion als Realisationsraum des Vorbestimmten verliert. Diese Öffnung lässt sich beispielsweise ablesen aus dem Umgang mit der Korrelation/Nicht-Korrelation von Fristsetzung und Handlungsabschluss (Faustbuch vs. Asiatische Banise) oder aus der zunehmenden Suspendierung einer providenziellen Weltordnung (Hunolds Satyrischer Roman) und der Verschiebung von Leitsemantiken. Bei der ersten Konzeption der Arbeit war das der eigentlich anvisierte argumentative Bogen: Herausgearbeitet werden sollte vor dem Hintergrund vormoderner alteritärer Konzepte von Zeit die Genese moderner Zeitvorstellungen. Doch lässt sich, so zeigen die Einzel- und die Beispiellektüren, die Geschichte der erzählten Zeit in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich als Prozess der sukzessiven Modernisierung darstellen, an dessen Ende eine ›abstrakte‹, ›lineare‹, ›mehrwertige‹, ›kohärente‹ und ›konsistente‹ sowie intersubjektiv verbindliche Zeit mit ›offenem‹ Horizont steht (diesem Bild entspricht am ehesten die Insel Felsenburg). Dazu sind die temporalen Phänomene und ihre Funktionalisierungen zu unterschiedlich. Erzählerische und diegetische Strukturen müssen nicht mit semantischen Programmen korrelieren, denn ihre Transformationen können separat ablaufen. In diesem Sinne habe ich die partielle Öffnung der Friststruktur in der Asiatischen Banise gelesen, in der aber zugleich ein providenzielles Geschichtsverständnis vollständig intakt ist. Besonders erzählerische Mikrophänomene der Evokation von Zeit sind ubiquitär und polyfunktional. Die genaue kalendarische Datierung ist nicht zwangsläufig ein Indiz für eine abstrahierte Auffassung von Zeit, sondern kann wie in Reuters Schelmuffsky die kalendarische Ordnung vielmehr in Zweifel ziehen. Zugleich bleiben ältere Erzähltraditionen samt ihren Zeitvorstellungen über längere Perioden stabil. Wie die Reihe Apollonius, Ritter Galmy und Assenat zeigt, geht es dabei nicht nur um Plotmuster, sondern auch um stilistische Eigenheiten, die zu einer historischen Kopräsenz von Zeitvorstellungen führen können. Gerade die Kopräsenz von sich überlagernden Traditionen, das Aufkommen neuer literarischer Formen (Schelmenroman), die unterschiedlichen generischen Konventionen und die Polyfunktionalität narrativer Formen machen es unmöglich, entlang der Befunde eine glatte argumentative Linie zu ziehen. Dies ist aber nur vordergründig ein Makel. Positiv gewendet lässt sich nämlich von einer ›synchronen Pluralität‹ der Zeitkonzepte, partiell sogar von ihrer ›Pluralisierung‹ sprechen. Damit rückt ein Aspekt in den Fokus, der von der aktuellen
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Forschung als Schlüssel zum Verständnis der Frühen Neuzeit genutzt wurde.1222 Freilich sind bei der Anbindung an Konzepte wie ›Pluralisierung‹ und ›Autorität‹ noch Klärungen vorzunehmen: Inwiefern es sich gegenüber mittelalterlichen Konzepten von Zeit um eine Pluralisierung handelt, müsste in einer breiteren historischen Perspektive gezeigt werden, denn prima vista scheinen sich Kontinuitäten abzuzeichnen. Als Pluralisierung im eigentlichen Sinne kann die Anhäufung von historischen Zeitmodellen begriffen werden, die über ihren eigentlichen Entstehungskontext hinaus aktuell bleiben und in der Frühen Neuzeit gleichrangig nebeneinander stehen. Es entstehen neue Erzählformen samt spezifischen Zeitkonzeptionen, ohne dass ältere Muster obsolet werden; zugleich werden ältere Muster transformiert oder wandern in andere Kontexte. Literargeschichtliche Prozesse sind in der Frühen Neuzeit keine sukzessiv verlaufenden Ersetzungsprozesse – dafür sprechen auch die Kontinuitäten in der Druckgeschichte einzelner Texte, die über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg rezipiert wurden. Parallel zu dieser Pluralität werden – beispielsweise im Kontext von Poetiken und poetologischen Diskursen – ›Normierungsansprüche‹ artikuliert, durch die ältere Erzählmodelle abgelehnt werden (man denke an die Amadis-Diskussionen), eine wahrscheinliche Zeitgestaltung eingefordert wird1223 oder bestimmte narrative Muster als vorbildlich und nachahmenswert privilegiert werden (z. B. Heliodor und Sidney). Dies führt aber nicht zwangsläufig zur
|| 1222 Einschlägig sind hier die Publikationen des SFB 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit«. Für den hiesigen Kontext verweise ich auf drei Publikationen, die einerseits die Zentralbegriffe methodisch reflektieren, oder sich Zeit widmen: Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher/Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Pluralisierungen: Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2010; Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. Münster 2007; Edith Koller: Strittige Zeiten. Kalenderreformen im Alten Reich 1582–1700. Berlin/Boston 2014. 1223 Ein Beispiel: In der Vorrede zu seinem Roman Herkules und Valiska (1659) polemisiert Andreas Heinrich Bucholtz gegen die mangelnde kausale und temporale Kohärenz des »schandsüchtige[n]« Amadis, seinen daraus hervorgehenden Glaubwürdigkeitsverlust und seine moralische Anstößigkeit: »Daß ich alhier nicht allein der handgreiflichen Contraditionen und Widersprechungen / womit der Tichter sich selbst zum oftern in die Backen h(uet; samt den ungl(ub=scheinlichen F(llen und mehr als kindischen Zeitverwirrungen / deren das ganze Buch durchgehend vol ist; sondern auch der teils n(rrischen / teils gotlosen Bez(uberungen geschweige / denen so vielf(ltige Meldung geschiehet / und doch so wenig Geschmak als GlaubwFrdigkeit haben […]« (Andreas Heinrich Bucholtz: Des christlichen teutschen GrossFürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte. Faksimiledr. nach d. Ausg. von 1659. Hrsg., eingel. u. mit e. Personen- u. Sachverz. vers. von Ulrich Maché. Bern u. a. 1973, S. 1).
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Durchsetzung normativer Vorstellungen von Zeit, denn »normative Setzungen« sind auch in der Lage, »Pluralität [zu] provozieren«.1224 Die Synthese der Befunde wird noch komplexer, wenn man versucht, die Ergebnisse in einen größeren kulturhistorischen Kontext einzubetten. Auch hier bietet sich der Begriff der Pluralität an. Die Tendenzen zur Homogenisierung von Zeit decken sich sowohl mit der Rationalisierung des Rezeptionsprozesses als auch mit dem Bedeutungsgewinn von zeitlicher Wahrscheinlichkeit als kohärenzstiftender Größe im literarischen Feld und sie entsprechen partiell den temporalen Modernisierungsprozessen, die eingangs anhand der Theorien von Max Weber, Niklas Luhmann, Karl Löwith und Reinhart Koselleck skizziert wurden. Das ist die eine Seite dieses Verhältnisses; andererseits lassen sich nicht alle beobachteten Phänomene in diese Argumentationslinie einflechten. Mit Blick auf die kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die sich überlagernden Traditionen, Autor- und Stileigenheiten lässt sich das Verhältnis zwischen literarischen Entwürfen von Zeit und anderen kulturellen Vorstellungen von Zeit schwerlich mittels eines einzelnen Begriffs deuten. Es bedarf also nicht nur eines differenzierenden Blicks auf die Phänomene, wie er im Hauptteil der Studie vorgestellt wurde, sondern zugleich auch auf jene Begriffe, die Relationen herstellen zwischen den Formen und Entwicklungen im literarischen Feld und kulturgeschichtlichen Makroprozessen. Greift man auf bestehende, avanciertere historisch-systematische Überlegungen zurück, lässt sich das Verhältnis zwischen ›ästhetischer Zeit‹, wie sie in Erzähltexten entworfen wird, und ›theoretischer Zeit‹,1225 wie sie außerhalb erzählter Welten verhandelt wird, entlang von drei Kategorien und einigen Binnendifferenzierungen beschreiben: (synchrone und historisch-versetzte) ›Korrelation‹, (literarische) ›Konterdiskursivität‹ sowie ›Eigensinn‹. Erwin Panofsky, Michail M. Bachtin, Clemens Lugowski und Rainer Warning haben im Rahmen ihrer Ansätze auf ganz unterschiedliche Weise das Verhältnis zwischen den von ihnen behandelten (literarischen und künstlerischen) ›Formen‹ und dem kulturellen Kontext charakterisiert. In seiner Auseinandersetzung mit der Darstellung von Räumen in der Kunst postuliert Erwin Panofsky eine synchrone Korrelation zwischen der »Perspektive als ›Symbolische[r] Form‹« und den historischen Verhältnissen, in denen sie sich herausbildet. Wenn Panofsky die Entwicklung der perspektivischen Abbildung vom »Aggregatraum« der Antike über die Homogenisierung der Fläche im
|| 1224 Jan-Dirk Müller: »Zu diesem Band«. In: Müller/Oesterreicher/Vollhardt (Anm. 1122), S. V–XII, hier S. VI. 1225 Die Begriffe sind analog zu Panofsky Begriffen des ›ästhetischen‹ und ›theoretischen Raums‹ gebildet.
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Mittelalter zum »Systemraum« der mit der Renaissance einsetzenden Moderne nachzeichnet, analogisiert er diese Formen der »Raumanschauung« mit der jeweils geltenden philosophischen Weltvorstellung. Er stellt fest: »So ist die antike Perspektive der Ausdruck einer bestimmten, von der Moderne grundsätzlich abweichenden Raumanschauung […], und damit einer ebenso bestimmten und von der Moderne ebenso abweichenden Weltvorstellung«.1226 Der »ästhetische Raum« und der »theoretische Raum« werden für ihn von »einer und derselben Empfindung umgeformt«, »die in dem einen Falle anschaulich symbolisiert, in dem anderen aber logifiziert erscheint«,1227 sodass die Art der Perspektive »nichts anderes [ist], als ein konkreter Ausdruck dessen, was gleichzeitig von erkenntnistheoretischer und naturphilosophischer Seite her geleistet worden war.«1228 Das künstlerische Artefakt avanciert bei ihm zum Spiegel kulturund wissensgeschichtlicher Errungenschaften und Entwicklungen. Solche synchronen korrelativen Verbindungen lassen sich, ausgehend von meinen Befunden, gleich in mehrfacher Hinsicht nachzeichnen. Möglich ist eine Analogisierung der Geschichtsphilosophie des hohen Barockromans sowie von Grimmelshausens biblischem Joseph-Roman mit einer providenziell konzipierten Geschichte, wie sie z. B. in der Geschichtsschreibung Jacques Bénigne Bossuets entworfen wird (die Forschung hat diese Parallelen aufgearbeitet). Im Sinne der synchronen Korrelation lässt sich auch die akkurate Zeitregie in Anton Ulrichs Octavia oder Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg als Höchstmaß zeitlicher Wahrscheinlichkeit, wie sie von barocken Poetiken gefordert wurde, lesen. Die mathematische Genauigkeit, mit der die Romane angelegt sind, spiegelt zugleich die Rationalisierungstendenzen durch die Frage nach der Effizienz. Eine konzeptuell anders gelagerte Form der Korrelation legt Michail M. Bachtin seinen Überlegungen zum Verhältnis von Welt und Romanentwurf zugrunde. Er geht ebenso von einer Interdependenz zwischen dem Chronotopos als einem literarischen Entwurf einer Welt und der realen historischen Situation aus, doch verlaufen seines Erachtens die Entwicklungen nicht schlicht parallel: »Die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des – in ihnen zutage tretenden – realen historischen
|| 1226 Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›Symbolische Form‹« [1927]. In: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, S. 99–167, hier S. 109 f. 1227 Panofsky (Anm. 1126), S. 111. 1228 Panofsky (Anm. 1126), S. 122.
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Menschen war ein komplizierter, diskontinuierlich verlaufender Prozeß«.1229 Bachtin postuliert, dass es sich bei dem Verhältnis zwischen beiden Weltentwürfen nicht um ein simples Eins-zu-Eins-Verhältnis handelt. Gerade mit Blick auf genrespezifische Ausprägungen von Chronotopoi, die über längere Zeiträume aktuell bleiben und damit nur bedingt auf die je neuen historischen Gegebenheiten reagieren oder die in immer neuen historischen Situationen aktualisiert werden, wird die Beständigkeit eines in einer konkreten historischen Situation entstandenen Chronotopos als Form deutlich. In diese Kategorie der historisch versetzten Korrelation, das hat bereits Bachtin gezeigt, gehört der Heliodor’sche Roman mit seinen frühneuzeitlichen Nachfolgern. Die frühneuzeitlichen Poetiken stabilisieren und legitimieren diese Tradition, indem sie dem Heliodor’schen Erzählschema eine Vorbildfunktion zusprechen. Aktualisiert wird diese narrative Form, mit der eine spezifische Form der Eigenzeit bei Figuren verbunden ist, in der Frühen Neuzeit in differenten Kontexten – in der Sch=nen Magelona ebenso wie in der Asiatischen Banise. Im Hinblick auf seine Formhaftigkeit und die historische Verzögerung entspricht der Chronotopos dem ›mythischen Analogon‹. Die Künstlichkeit und Gemachtheit literarischer Texte, so Lugowski, manifestiere sich im »mythischen Analogon«: Es ist formaler Ausdruck mythischen Denkens und fungiert damit als Kapsel für bereits historisch abgelöste Vorstellungen:1230 Denn aufgrund der »Entwicklungsträgheit in der Formenwelt der Dichtung […] leben alte Auffassungen in der dichterischen Formenwelt weiter, auch wenn der dichterische ›Gehalt‹ (als Meinung des Dichters) schon der neuen Auffassung entspricht«.1231 Als stilistisches Element findet sich dieses erzählerische Verfahren aber nicht ausschließlich im sechzehnten Jahrhundert (bereits hier attestiert Lugowski Auflösungstendenzen), sondern auch in Philipp von Zesens Assenat. Von diesen Ansätzen, die die synchrone oder historisch versetzte Korrelation zwischen der künstlerischen Formensprache und dem kulturellen Kontext stark machen, unterscheidet sich Rainer Warnings Idee der Konterdiskusivität
|| 1229 Bachtin (Anm. 239), S. 7. In den folgenden Ausführungen schwächt Bachtin den Aspekt der Diskontinuität, wenn es heißt: »Angeeignet wurden immer wieder einzelne Aspekte von Zeit und Raum, die auf der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungsstufe der Menschheit zugänglich waren, und es bildeten sich gleichzeitig die entsprechenden genrebezogenen Methoden zur Widerspiegelung und künstlerischen Aufbereitung dieser angeeigneten Realitätsaspekte heraus«. 1230 Vgl. Martínez (Anm. 96), S. 17–19. 1231 Lugowski (Anm. 54), S. 19.
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durch ihre Vorzeichen.1232 Bei seiner Definition von Konterdiskursivität greift Rainer Warning auf Michel Foucaults Begriff contre-discours zurück. Der Diskurs sei gekennzeichnet von »Überschaubarkeit«, »Klarheit« und »Transparenz«, er sei funktionalisiert für »Machtinteressen« und sei eingespannt in »Kontrollmechanismen«.1233 Literatur sei schwerlich als autonom vom Diskurs zu denken, charakteristisch sei die »Dialektik von Einbettung und Ausbettung«.1234 »Literarische Konterdiskursivität«, so führt Warning aus, »ist also Diskursivität, setzt Diskurse voraus, aber als Folie, vor der sie sich artikuliert, als Kontexte, aus denen sie sich ausbettet«.1235 Es liegt also keine Korrelation zwischen beiden vor, sondern eine besondere Abweichungsrelation. Die »Ausbettung« aus dem Diskurs erfolgt, so Warning weiter, durch »Reichtum«, »Fülle«, »Proliferation«, »Überschüssigkeit«, »Polysemien«, »Opazität« und »Wiederholung« – diese Strategien stören die »diskusive[ ] Linearität«.1236 Warning liegt vornehmlich daran, Literatur als Widerstandsbewegung zu bestehenden Regeln zu verstehen. Als Reaktion auf die zunehmende Rationalisierung hat Sonja Kerth beispielsweise die raumzeitliche Verwirrung im Fincken Ritter gelesen; so lassen sich darüber hinaus die Anspielungen auf die Idee der translatio imperii in Johann Fischarts Geschichtklitterung und der Umgang mit Providenz in Hunolds Satyrischem Roman deuten. Diese Weltentwürfe richten sich implizit gegen das normative Gefüge einer providenziell fundierten und teleologisch ausgerichteten Geschichtsvorstellung. Die Eigenarten der Texte werden in diesem Rahmen durch ihre Abweichung von kulturellen Normen erklärt. Damit kann die punktuelle Eigenart bestimmter Texte durchaus gedeutet werden, aber Literatur – unabhängig davon, ob man sich auf moderne oder vormoderne Texte bezieht – gänzlich als genuin konterdiskursiv zu verstehen, gibt Differenzierungsmöglichkeiten zugunsten eines theoretischen Purismus auf und geht an der Sachlage vorbei. Erzähltexte wie das Faustbuch mit seinem normativen Gefüge (Zeitlichkeit vs. Ewigkeit) oder der höfisch-historische Roman des Barock mit seinem verbindlichen geschichtsphilosophischen Gehalt, der auf den Absolutismus verweist, stabilisieren vielmehr diskursive Normen, als dass sie diese mit einem Fragezeichen versehen würden. Zudem ist die programmatische Abgrenzung || 1232 Vgl. Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München 2009; Rainer Warning: »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 313–345. 1233 Warning 2009 (Anm. 1132), S. 24. 1234 Warning 1999 (Anm. 1132), S. 328. 1235 Warning 2009 (Anm. 1132), S. 24. 1236 Warning 2009 (Anm. 1132), S. 25.
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literarischer Texte, sofern sie überhaupt vorliegt, nicht zwangsläufig gegen den außerliterarischen Diskurs gerichtet.1237 Literarische Texte können in ihrer Gemachtheit demonstrativ als Gegenentwürfe zu anderen literarischen Texten angelegt sein. Neben der von Warning beschriebenen Konterdiskursivität steht als strukturanaloges, aber auf literarische Traditionen bezogenes Verfahren die Ironisierung gängiger Erzählmuster: eine Form innerliterarischer Konterdiskursivität. Die erzählerische Gemachtheit des Textes lässt sich in diesem Sinne lesen als Reflex auf einen literarischen Prätext, wie dies unter anderem an den Lektüren des Fincken Ritters, Johann Beers Ritter Hopffen=Sack oder Hunolds Satyrischem Roman deutlich wurde. Beide bislang vorgestellten Positionen postulieren Abhängigkeitsverhältnisse, seien sie nun korrelativ oder konterdiskursiv. Literarische Erzähltexte sind, so verstanden, stark heteronom bestimmt. Freilich entstehen sie nicht in einem einflussfreien Raum, aber sie können nicht ausschließlich aus diesem heraus gelesen werden, denn so wie sie externe Impulse aufnehmen, so geben sie ihrerseits Impulse für den Verhandlungsraum einer Kultur. Unter dem Begriff des ›Eigensinns‹ sollen deshalb alle Eigenheiten eines Erzählwerks gefasst werden, die nicht heteronom bestimmt sind. Dazu gehören mit Sicherheit stilistische Eigenheiten bestimmter Autoren und eine kompositorische Anlage von Romanen, die nicht von literarischen Traditionen gedeckt ist. Unabhängig von der Frage, ob es sich um kontingente oder intentional bedingte Aspekte handelt, entsteht durch diese ein literarischer Überschuss, der zur Autonomie eines Textes beiträgt. Wie der Blick auf diese theoretischen Bemühungen um eine Klärung des Verhältnisses zwischen literarischem Weltentwurf und größeren kulturgeschichtlichen Entwicklungen deutlich macht, lassen sich die Tendenzen in der Frühen Neuzeit schwerlich auf einen Nenner bringen. Nimmt man die Ergebnisse zusammen, so muss man von einem ausgeprägten Pluralismus sprechen, der das Verhältnis von Text und Kontext kennzeichnet. Nebeneinander stehen genuin frühneuzeitliche Konzepte, die parallel zu ihnen zeitgenössischen Vorstellungen entstehen, historisch überholte Modelle, die sich aus dem Formenrepertoire älterer Erzähltraditionen speisen, und Eigenheiten, die weder in synchroner noch diachroner Perspektive eindeutig zugeordnet werden können. Im Roman der Frühen Neuzeit gibt es nicht die eine erzählte Zeit, sondern es sind Zeiten, die erzählt werden.
|| 1237 Treffend ist hier die von Jan-Dirk Müller geäußerte Kritik. Dieser argumentiert, dass von Warning der »Literatur und Kunst etwas aufbürdet wird, was sie nicht zu leisten vermögen, nämlich Gegenhalt zu sein gegenüber dem, was der Fall ist« (Müller [Anm. 30], S. 456).
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Index Personen- und Werkregister Achilleus Tatios 116 – Leukippe und Kleitophon 112, 115ff. Aegidius Romanus 188 Amadis 144f., 259, 327, 370, Amis, Martin – Time's Arrow 367 Amyot, Jacques 116 Andreae, Johann Valentin – Christianopolis 359ff. Anton Ulrich 74, 209, 313, 316f., 334, 336, 368, – Aramena 74, 209, 317, 330, 335, – Octavia 109, 291, 327, 334ff., 345, 372, Apollonius 134, 177, 262 Aristoteles 83, 170, 172, 187, 301 Augustinus 29, 195f. – Confessiones 171 Averroës 172 Bachorski, Hans-Jürgen 217ff. Bachtin, Michail M. 58, 112f., 134, 152ff., 218ff., 226, 320, 371ff., Bacon, Francis – Nova Atlantis 360ff. Bal, Mieke 39 Balzac, Honoré de 23 Barclay, John – Argenis 118 Barth, Ilse-Marie 62, 69 Barth, Jean 65, 69 Barthes, Roland 38, 44ff. Bässler, Andreas 79, 311 Baxter, Richard 34 Beda Venerabilis 193 Beer, Johann 61 – Der Verliebte Oesterreicher 65, 123ff., 211 – Printz Adimantus 66, 89 – Ritter Hopffen=Sack 107, 209, 375 – Ritter Spiridon 89 Bein, Thomas 189 Belkin, Johanna 303f. Beregani, Nicolò 319
Besch, Werner 238 Bhabha, Homi K. 6 Birken, Sigmund von 116 Boccaccio, Giovanni – Decamerone 101 Bodmann, Gertrud 197 Bohse, August 110 Bolte, Johannes 215, 238, 241 Bossuet, Jacques Bénigne 197, 372 Bostel, Lukas von 69 Brant, Sebastian – Das Narrenschiff 272 Braun, Manuel 49, 86, 178, 217, 246, 250 Braungart, Wolfgang 341, 343, 360 Bremer, Kai 11 Bremond, Claude 45f. Breuer, Dieter 93, 137 [Das] Buch der Liebe 116, 215, 224 Bucholtz, Andreas Heinrich 316 – Herkules und Valiska 370 [Der] Bûsant 218 Busse, Dietrich 166 Campanella, Tommaso – Die Sonnenstadt 358f., 361 Campe, Rüdiger 354, 356 Caseneuve, Pierre de 117 Cassirer, Ernst 7 Cervantes, Miguel de 18, 23f., 88 – Don Quijote 24f. – Rinconete y Cortadillo 88f. Chariton von Aphrodisias – Kallirhoe 112, 117 Chatman, Seymour 39 Comenius, Johann Amos – Orbis pictus 339 Cordie, Ansgar M. 303, 308 Dammann, Günter 348 Danto, Arthur C. 41, 133f. Darby, David 51
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Defoe, Daniel 31 – Robinson Crusoe 35, 339f., 350, 357 Degering, Hermann 239 Descartes, Réne 31 Dickens, Charles 23 Dil Ulenspiegel 76ff., 81, 85, 134, 208ff., 212, 281, 339 Diogenes 77, 209 Doležel, Lubomír 121 Döring, Heinrich 339 Dürer, Hieronymus – Lauf der Welt und Spiel des Glücks 140, 143, 180ff. Ebert, Robert Peter 63 Effe, Bernd 221 Ehrenfeuchter, Martin 135, 174 Ehrich, Veronika 63 Emmelius, Caroline 108 Erll, Astrid 49 Ernst, Ulrich 52 Ertzdorff, Xenja von 6, 225, 235, 243 Eustathios Makrembolites 116 – Hysmine und Hysminias 115f. Faustbuch 135, 155, 175f., 266, 268, 271, 273ff., 284, 286ff., 291, 365 Faustbuch des Christlich Meynenden 155, 162, 206, 291 Fechner, Jörg-Ulrich 70, 74 Fénelon, François – Telemach 339 Feyerabend, Sigmund 144 Fielding, Henry 31 Fincken Ritter 1ff., 374f., 17, 66, 72, 74, 147 Fischart, Johann 185 – Geschichtklitterung 203f., 206, 374, Fischer, Bernhard 96, 99 Flasch, Kurt 171 Flaubert, Gustave 18, 23, 25f., 108 – Education sentimentale 25f. Fludernik, Monika 39f., 51 Foigny, Gabriel de 357 Forster, Edward Morgan 41 Fortunatus 85, 149, 173, 177ff., 262, 275 Foucault, Michel 374 François Louis de Bourbon 69
Franklin, Benjamin 34 Frick, Werner 74f., 178, 205, 315, 318, 327 Friedrich, Udo 178, 186f. Frölich, Jacob 241 Füssel, Stephan 274, 276 Fuxjäger, Anton 8 Garber, Klaus 11 Garzoni, Tomaso 185, 192, 196 Geertz, Clifford 50 Gellert, Christian Fürchtegott 75 – Leben der schwedischen Gräfin von G*** 342, 74 Genette, Gérard 38f., 44, 55, 120, 267, 281 Gengenbach, Pamphilus 185 Gerzan, François du Soucy de 118 Geulen, Hans 13, 313f., 321, 326, 303 Glauch, Sonja 122, 125 Gleditsch, Johann Friedrich 313 Goedeke, Karl 241 Goethe, Johann Wolfgang 314, 339 Gogol, Nikolai W. 23 Gontscharow, Iwan A. 23 Gottfried von Viterbo 198 Gotzkowsky, Bodo 5, 216 Gregersdorf, George Christoph von – Jüngst=erbawete Schäfferey 12, 84, 125ff. Gregor von Nazianz 169 Greimas, Algirdas Julien 45f., 145 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 73, 84, 92, 94f. – Continuatio 133, 295, 299, 301 – Courasche 189ff. – Keuscher Joseph 92ff., 119, 164, 178, 183, 201, 210, 319 – Simplicissimus Teutsch 12, 73, 135ff., 155, 161f., 164, 173, 208, 210ff., 293ff., 300ff., 312, 346, 349, 364f., – Springinsfeld 208 Groebner, Valentin 14 Grohnert, Diertrich 341 [Die] Gute Frau 217 Gryphius, Andreas 169 Haberkamm, Klaus 190 Haferland, Harald 53, 59, 91f. Hagel, Michael Dominik 341
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Hallmann, Johann Christian 319 Hamburger, Käte 38 Hans von Bühel – Dyocletianus Leben 89, 103ff. Happel, Eberhard Werner 69 Hartmann von Aue – Erec 156, 160 – Iwein 145, 319 Hasenfratz, Michael 18 Haslinger, Adolf 327, 74 Haug, Walter 241, 243f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7 Heinrich von Neustadt – Apollonius 114 Heise, Walter 275 Heliodor 74, 84, 87, 97, 108, 112f., 115ff., 145ff., 200, 217, 219ff., 226, 229, 232ff., 239f., 312f., 318, 320, 364, 368, 370, 373, – Aithiopika 112f., 117, 217, 219ff., 226, 231ff., 240, 313, 318, 320 Herman, David 42 Herodot 29 Herwagen, Johannes 115 Hieronymus 202 Hilsberg, Werner 80 Historia Apollonii 113f., 198 Historia Von D. Johann Fausten 77, 85, 147, 173, 237, 240, 264f., 267ff., 271ff., 276ff., 283ff., 318, 334, 338, 364f., 369 Hoff, Hieronymus 267f. Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 324 Hofter, Karin 74 Hörisch, Jochen 134 Huet, Pierre Daniel 112 Hühn, Peter 132f. Hume, David 31 Hunold, Christian Friedrich 179 – Adalie 12, 96, 108ff., 119, 176, 210 – Europaeische Höfe 96, 112 – Satyrischer Roman 84, 96ff., 119, 210, 369, 374f. Innozenz III. 187 Isidor von Sevilla 193 Ismenius 115, 122, 167
Jacobs, Jürgen 141, 296 Jacobsen, Jens Peter 23 Jakobson, Roman 100, 108 Jameson, Fredric 50 Jannidis, Fotis 49, 145 Jauß, Hans Robert 18, 26 Jean de Mandeville 1 Jean Renart – L’escoufle 218 Johann Friedrich I. von Sachsen 215 Joyce, James – Ulysses 26 Kaiserchronik 114 Karl V. 274, 287, 290 Kartschoke, Dieter 241 Kaufmann, Thomas 164f. Kayser, Wolfgang 295f. Keller, Andreas 11 Kerth, Sonja 3, 6f., 374 Kiening, Christian 151 Kindt, Tom 51 Klempt, Adalbert 20 Knape, Joachim 5 Kolle, Kaspar 267f. Könneker, Barbara 78, 270, 281, 288 Koselleck, Reinhart 17ff., 28ff., 165f., 197, 207, 300f., 337, 371, Kraft, Stephan 335, 337 Kragl, Florian 52 Kreutzer, Hans Joachim 265, 274, 276, 282 L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du conte de Provance et de la belle Maguelonne 215 Lăcan, Carmen 145ff. Lahn, Silke 39 Lämmert, Eberhard 44, 317 Lazarillo de Tormes 140, 209, 308f. Leben vnd Wandel Lazaril von Tormes 108, 131, 140ff., 162 Lévi-Strauss, Claude 46 Lindow, Wolfgang 81 Lohenstein, Daniel Casper von 313, 316 – Arminius 87, 128, 163f., 211, 317 Longos 116 – Daphnis und Chloe 112, 117
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Lotman, Jurij M. 76, 107, 154 Löwith, Karl 17ff., 28ff., 32, 207, 371 Ludwig XIV. 69 Lugowski, Clemens 17ff., 26ff., 31, 87, 90f., 101f., 111, 207, 232, 243, 253, 255, 258ff., 264, 371, 373 Luhmann, Niklas 17ff., 25, 28, 173, 207, 371 Lukács, Georg 18f., 23ff., 207 Lukian 303, 309ff. Luna, Juan de 309 Luther, Martin 5, 195, 202 Lüthi, Max 236f. Mackensen, Lutz 237 Magelone – Nürnberger 239f. Mann, Thomas 26 – Zauberberg 26 Maroszová, Jana 307 Martínez, Matías 39, 66, 91 Martínez-Bonati, Félix 154, 296f. Matthias Corvinus 115 Mayer, Jürgen 143, 184 Meid, Volker 116f. Meister, Jan Christoph 39, 44, 48 Merian, Matthäus 339 Mertens, Volker 52, 148, 150 Messerschmidt, Georg – Brissonetus 12, 34, 65, 73, 80ff., 85, 134, 149f., 153ff., 162, 164, 173, 210ff., 223, 233, 280, 297, 312, 368, 372 Meyer, Heinz 274 Meyer, Herman 54 Meyer, Matthias 53, 59 Möckel, Sebastian 229 Mog, Paul 349 Monmouth, James von 69 Morus, Thomas – Utopia 357f., 361 Müller, Christian 2 Müller, Günther 317, 39, 43f. Müller, Hans-Harald 51 Müller, Jan-Dirk 4, 6, 86f., 101, 215, 283, 289, 375 Müller, Klaus-Detlef 70f. Münkler, Marina 274, 281f., 286
Neuber, Wolfgang 348 Nicolai, Philipp 195 Niefanger, Dirk 9 Nieremberg, Juan Eusebio – Waagschale der Zeit und Ewigkeit 168ff., 209, 272 Nimis, Steve 221 Nolting-Hauff, Ilse 232 Nünning, Ansgar 366, 48, 50 Obsopoeus, Vincentius 115 Opitz, Martin 11, 118 Orendel 114, 155, 212 Orth, Ernst Wolfgang 166 Ovid 339 Panofsky, Erwin 371 Paracelsus 303 Périer, Antoine du 117 Perutz, Leo 367 Petrovskij, Michail 40, 42 Pfitzer, Johann Nikolaus – Das ärgerliche Leben 265ff., 274, 278, 280f., 290f. Philippoff, Eva 190 Postel, Christian Heinrich 69 Pouillon, Jean 38 Préchac, Jean de 109 Prince, Gerald 39 Propp, Vladimir 45f., 145, 237 Proust, Marcel – À la recherche du temps perdu 25f. Rabelais, François 204 – Gargantua und Pantagruel 153 Rabenschlacht 101 Recker, Bettina 349 Reformatskij, Aleksandr A. 40 Rémy, Abraham 117 Reuter, Christian – Schelmuffsky 62ff., 73f., 164, 208f., 212, 369 Richardson, Brian 43 Richardson, Samuel 31 Richter, Sandra 11 Ricœur, Paul 46, 146, 148 Ridder, Klaus 7
Index | 411
Riedl, Peter Philipp 274 Rimmon-Kenan, Shlomith 39, 44 Ritter Galmy 27, 156, 177, 212, 240ff., 288f., 318, 364, 369 Robert von Lincoln 199 Röcke, Werner 6, 217, 229, 232, 236f. Roggendorf, Simone 49 Rölleke, Heinz 236 Rollenhagen, Gabriel 311 Roloff, Hans-Gert 11, 241, 266f., 271f., 275, 315 Ronen, Ruth 57 [Der] ruchlose Student 89, 123 Rudolf von Ems – Willehalm von Orlens 244 Ruh, Ulrich 19 Rusterholz, Peter 188
Singer, Herbert 96, 111 Sinold, Philipp Balthasar 357 Souriau, Etienne 57 Spalatin, Georg 216 Spies, Johann 265, 267f. Stanzel, Franz K. 211 Steinhöwel, Heinrich – Apollonius 114, 177, 198f., 210, 261ff., 369 Sternberg, Meir 41f. Steyner, Heinrich 216 Stiefel, Michael 195 Stimmer, Tobias 185 Störmer-Caysa, Uta 145, 155 Streller, Siegfried 93 [Der] Stricker 155 Suntrup, Rudolf 274 Symonis, Daniel 117
Sachs, Hans 303, 305, 310f. Scaliger, Julius 112 Scarron, Paul 83 Schedel, Hartmann 196, 198 Scheffel, Michael 39, 66 Schernus, Wilhelm 44 Schmid, Wolf 55ff., 61, 66, 75f., 82, 100, 102, 119f. Schmidt, Erich 241 Schmitz, Barbara 49 Schnabel, Johann Gottfried – Insel Felsenburg 12, 85, 128, 177, 179, 208, 337f., 340, 342ff., 361, 364f., 368f., 372, – Irrgarten der Liebe 110 Schneider, Christian 52 Schneider, Ralf 145 Schnyder, André 6 Schramek, Eva-Maria 317f., 327 Schröder, Gerhart 18 Schrot, Martin – Die X. Alter der welt 184f. Schulz, Armin 53, 217ff., 237 Scudéry, Madeleine de 118 Seifert, Arno 17, 20 Seuse, Heinrich 272 Sibylle von Cleve 215 Sidney, Philip 370, 126 [Die] Sieben weisen Meister 84, 102ff., 119, 210, 280, 345, 362
Tarot, Rolf 93 Tausendundeine Nacht 217 Theisen, Joachim 179 Theiß, Winfried 216 Thomas, Johann – Damon und Lisille 89f., 127, 210 Thomas, Norbert 217 Thomasius, Christian 83f. Thompson, Lawrence S. 116 Thüring von Ringoltingen – Melusine 6, 12, 54, 85, 146ff., 159, 162, 173, 208ff., 249, 339, 368 Todorov, Tzvetan 45 Tomaševskij, Boris V. 40, 42, 44 Toro, Alfonso de 39, 43 Trappen, Stefan 309 Ulenhart, Niclas – Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid 84, 88f., 119, 210 Ulrich von Etzenbach – Wilhelm von Wenden 217 Underdown, Thomas 116 Uspenskij, Boris A. 56, 75 Veiras, Denis 357 Vendler, Zeno 64f. Vergil 126 – Aeneis 117
412 | Index
Vinzenz von Beauvais 188, 199 Vitz, Evelyn Birge 53 Vögel, Herfried 157 Wagener, Hans 99 Wagnerbuch 135, 173ff., 189, 206, 208, 279, 322, 334 Warbeck, Veit 215f. – Magelone 12, 74, 119, 127, 209, 215f., 219f., 223ff., 230f., 233ff., 238ff., 256f., 280, 289, 318, 320, 339, 364f., 373 Warning, Rainer 7, 106ff., 371, 373ff. Warszewicki, Stanisław 116 Watt, Ian 18f., 28, 31f., 35, 207 Weber, Alexander 305 Weber, Max 371, 17ff., 32ff., 207 Weinhold, Inge 352 Weixler, Antonius 54 Wells, H.G. – The Time Machine 367 Wickram, Georg 185, 241, 264, 327 – Der Goldtfaden 88, 241, 250, 261 – Der Jungen Knaben Spiegel 74, 84ff., 88, 119, 209f., 250, 261 – Gabriotto und Reinhart 88, 241, 256, 261 – Warhafftige History / von einem vngerahtnen Son 86 Widman, Georg Rudolff – Warhafftige Historien 265ff., 278, 281, 289f. Wieland, Christoph Martin – Geschichte des Agathon 179 Wigamur 156 Wilhelm Peraldus 188 Wippermann, Hanna 327, 335f. Wirtz, Irmgard 204 Witekind, Herman 266 Wolstandt, David – Lustgarten der Liebe 117 Woolf, Virginia – Orlando 367 Worstbrock, Franz Josef 10, 116 Zesen, Philipp von 118 – Assenat 163f., 173, 178, 183, 198ff., 206, 210, 243, 261ff., 319, 328, 369, 373 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anshelm von
– Asiatische Banise 12, 87, 119, 127f., 177ff., 183, 204, 240, 264, 289, 291, 313f., 316ff., 337f., 345, 364f., 368f., 373 Zschorn, Johannes – Aethiopica Historia 113, 116, 219f., 222, 226ff., 318 Zymner, Rüdiger 92, 136
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Sachregister Abenteuerzeit 112f., 153, 218ff., 226, Siehe Chronotopos Allegorie 96, 196, 252, 254, 258, 296, 362 Alter 65, 94f., 106, 124, 150, 158, 164, 184ff., 192, 196, 199, 249, 274, 288f., 299, 302, 307, 349, 351, 353, 356 Alterität 10, 369 Altersstufen 186, 188, Siehe Lebensalter Anachronie 39, Siehe Analepse, Siehe Prolepse Analepse 87, 222f., 226, 286, 317, 334, 344f. Äquivalenz 82, 99ff., 107f., 157, 210, 220, 232f., 257, 335, 345, 360 Atemporalität 91, 243, 260, 264 Augenblick 170f., 176, 256, 272, 303 Ausdifferenzierung – funktionale 8, 17ff. Auswahl 14, 55f., 72, 82, 119, 207, 363, 366 Beschleunigung 30, 67, 208, 318, 325 Beschreibung 38, 40, 42, 354 Binnenerzählung 221, 317, 346 Brautwerbungsepik 218 Chronologie 40, 44ff., 68, 70, 74ff., 79f., 99, 105, 129, 209f., 212, 221ff., 249, 276, 285, 318, 322, 327, 352, 363 Chronotopos 152f., 218f., 372f. Datierung 317, 336, 362, 369, 23, 42, 64, 70, 72, 74f., 192f., 195, 199, 201, 216, 224, 287, 289 Datum 338, 342, 349ff., 70, 73, 274, 288, 290 Dauer 326, 351, 353, 368, 22, 24, 38f., 42, 45, 64, 68, 71ff., 94, 146, 155, 158, 171, 193, 235, 237, 249, 263, 271, 287 Diegese Siehe Erzählte Welt Dimensionalität – von Zeit 363, 72f., 120, 129, 134, 139, 161, 172, 207, 209 discours 38, 40, 43ff., 47, 118
Eigenzeitlichkeit – von Figuren 15, 145ff., 152, 161f., 211, 220, 239, 312, 318, 320, 324, 326f., 334, 364, 368, 373 Entchronologisierung 46 Entzauberung 17, 33, 149 Episode 5, 56, 67, 72f., 76ff., 100, 111, 123, 129, 134f., 137, 139, 141ff., 173, 176, 182f., 208f., 224, 230, 233ff., 246, 248f., 251, 256, 258, 261, 265, 267, 273, 277f., 280ff., 284, 286ff., 294, 296, 303f., 309ff., 319, 327, 334, 364 Epos 18, 23f., 26 Ereignis 14, 55, 57, 63f., 69, 72, 76, 90, 100, 107, 132ff., 139, 144, 161, 172, 207, 363, 366 – dynamisches 76 – statisches 76 Erinnerung 22, 25, 110, 122, 220, 362, 367 Erlebendes Ich 122, 125, 298 Erzählendes Ich 122, 125, 299 Erzähler 61 – diegetischer 120 – nichtdiegetischer 120 Erzählte Welt 1, 3, 7f., 14f., 28, 31f., 40ff., 54ff., 62, 65, 71f., 74, 81f., 84ff., 90ff., 99, 106, 111, 119, 121, 124, 129, 131f., 134, 144, 154f., 157, 160ff., 164f., 176, 179f., 183, 205, 207, 209ff., 238f., 243, 246, 256, 282, 293, 295f., 305, 308, 311f., 334, 340, 345ff., 349, 359, 361, 367 Erzählte Zeit 8, 14, 39f., 42ff., 47, 54, 56, 58f., 62, 66, 72ff., 81, 121, 129, 135, 208f., 211f., 219, 235, 251, 280, 289, 317, 330, 342, 348f., 363ff., 367ff., 375 Erzählzeit 39, 42, 44, 47 Ewigkeit 14, 33, 58, 159, 164, 167ff., 196, 202, 205ff., 211, 244, 260, 264, 267ff., 306, 363f., 374 Fabel 26, 40, 344 Figur 14f., 363, 366, 49, 57, 61, 131, 144, 146, 161f., 199, 207, 219, 255 – als Zeitträger 57
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– als Zeitüberwinder 57 – als Zeitwahrnehmer 57 Figurenerzählung 74, 87, 209, 222, 345 Fiktionalität 4, 7, 67, 86 Fokalisierung 58, 120f., 146, 368 Formelhaftigkeit 219f., 233ff., 238ff., 256 – Eingangsformel 233 Frequenz 38f., 45 Frist – zeitliche 94f., 99, 106, 126, 223, 234ff., 240, 248f., 251, 256, 258, 264, 267f., 270f., 273ff., 286, 288f., 291, 313, 318f., 327ff., 337, 360, 364f., 369 Funktionalität 139f., 144, 223, 226, 255, 258, 326 Gelegenheit 27, 140ff., 161f., 209, 233f., 325, 332 Gesamthandlung 76f. Geschehen 54ff., 119 Geschichtsauffassung 29 Geschlossenheit 86f., 90, 96, 99, 129, 194, 207, 223, 256, 270, 327 Gleichzeitigkeit 27, 56, 63f., 66f., 72f., 76, 113, 128, 134, 139ff., 161, 168f., 171f., 208f., 223, 225f., 253, 263 Glück 97, 131, 140, 144, 162, 177f., 180ff., 191, 217, 236, 293, 352 Heterogenität – temporale 15, 160, 207, 240, 260, 319, 334, 364 histoire 40, 43f., 47, 53, 118 Homogenisierung – von Zeit 15, 19, 369, 371 Horizont 58, 62, 84f., 88, 90, 92, 95f., 107, 119, 129, 167, 177ff., 184, 194, 203, 205, 207, 210, 238, 243, 247, 260, 267, 270, 282, 318f., 328f., 333f., 337, 364, 369 – geschlossener 91, 119, 129 – offener 119, 129 Ich-Erzählung 122, 146, 343, 345 in medias res 87, 221, 245 Jahreszeiten 64, 156, 181, 186f., 189
Kalender 62ff., 68, 72f., 129, 208, 251, 274, 290f., 317, 336ff., 342, 346, 349, 364, 369 Kausalität 23, 33, 36, 40f., 45, 90, 92, 99, 134, 256, 259, 282 Kohärenz 196, 207, 237, 270, 282 – temporale 2, 9, 32, 72, 74, 77f., 82, 120, 129, 133f., 139, 144, 152, 155, 161, 209ff., 222, 249, 254, 256, 274, 286, 290, 335, 364, 370 Koinzidenz 19, 67, 141f. Komposition 14, 55f., 72, 75f., 100, 119f., 207, 363, 366 Konsistenz – temporale 15, 72, 74, 77, 120, 129, 133f., 139, 144, 152, 155, 161, 166, 208ff., 222, 274, 283, 290, 318, 335, 342, 364 Konterdiskursivität 7f. Kontingenz 10, 14, 91, 108, 113, 134, 149, 167, 177ff., 205f., 281, 319 Kontinuität 133f., 144 Lebensalter 14, 58, 167, 184ff., 188ff., 195, 198, 201, 205ff., 210, 247, 363 Lesen – extensives 10 – intensives 10 Menippea 303, 309, 368 Modell – idealgenetisches 55, 61, 119 Modernisierung 7f., 13, 17, 19, 36 Motivation Siehe Motivierung Motivierung 27, 32, 56, 58, 79, 82, 90ff., 99f., 119, 179, 205, 258f. – finale 82, 84, 90ff., 99, 106f., 109, 179, 205, 210, 319 – kausale 82, 90ff., 95, 99, 178f. – kompositorische 82, 84, 99, 106f., 210 Mythisches Analogon 17f., 26ff., 31, 101, 243, 258ff., 264, 373 Narrativität 38, 40ff., 45 Ordnung 38f., 45 – chronologische Siehe Chronologie – numerische 104, 347, 356
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ordo artificialis 38, 55f., 76f. ordo naturalis 38, 56, 76f., 149, 280, 286f. Paradigma 10, 32, 100, 106, 297 Paratext 4f., 71, 93, 115, 122, 152, 199f., 215f., 241, 267ff., 276, 289, 291, 316f., 341, 343, 357, 359, 370 Perspektive 120, 152, 207, 363, 366 – diegetische 57 – figurale 57, 120ff., 124, 126, 129, 179, 211 – ideologische 61, 76, 119f. – narratoriale 57, 120ff., 126, 129, 179, 211 – nicht-diegetische 57 – perzeptive 120 – räumliche 76, 119f. – sprachliche 61, 120 – zeitliche 76, 120 Perspektivierung 14, 56, 72, 179 Plot 31, 40, 219f., 234, 236 Pluriregionalität 15, Siehe Welt, pluriregionale Poetologie – historische 52 Providenz 10, 14, 33, 91ff., 134, 149, 167, 177ff., 182f., 194, 197, 201, 205f., 238, 319, 327, 340, 372, 374 Qualität – von Zeit 15, 72, 75, 120, 128, 208, 251, 258, 363 Rationalisierung 7f., 17ff., 32f., 35 Raum 4, 6ff., 14f., 54, 57f., 131f., 145, 152ff., 157f., 160ff., 199, 207, 218, 233, 255, 293, 295f., 298, 302, 304, 312, 355, 363f., 366, 371 – ästhetischer und theoretischer 371 Räumlichkeit 160f., 208, 211, 364 Raumzeit 152, 154f., 255, 306 Relationalität 37, 54, 161 – diegetische 8, 14, 55, 58, 72, 75, 205, 363 – erzählerische 8, 14, 55, 58, 72, 75, 128 – semantische 8, 14, 55, 58, 72, 75, 363 Roman – Artusroman 233 – galanter 12
– höfisch-historischer 12, 76, 87, 108f., 111f., 113, 184, 209, 230, 245, 289, 313ff., 327, 342, 344, 368, 374 – Minneroman 218, 235 – niederer 12 – Picaroroman 303 – Prosaroman 6, 9ff., 63 – Raumroman 296 – Schäferroman 12, 89, 368 – Schelmenroman 6 – Schwankroman 78, 108 Romantheorie 17f., 23 Säkularisierung 8, 17ff., 28ff. Schema 53, 100, 119 – der Mahrtenehe 148 – narratives 56, 143, 218 Schwank 5, 78f., 81, 134, 281 Selektion 56, 82, 84f., 90, 107, 119, 205, 240 Semantik – historische 8, 14, 35, 52, 54, 58f., 91, 144, 165ff., 173, 365, 367 showing 176, 244, 273 Simultanität 39, 55, 100f., Siehe Gleichzeitigkeit Spur 55, 57, 112, 132ff., 144, 152, 161, 208, 226, 229, 231f., 320ff. Struktur – temporale 72f., 75, 77, 90, 129, 133f., 139, 144, 152, 160f., 208, 243, 270, 363 Subjektivität 10, 119ff., 128f., 147, 152, 161, 208, 210f., 220, 282, 318, 334, 343, 348, 364, 367 Symbol 275, 277, 280f., 319, 321, 368 Synchronie 39 Synchronisation 223ff. Syntagma 100, 106, 112f., 119, 220, 319 – komplexes 56 Tagesrhythmus 105, 222, 226, 248, 274, 283, 288, 317f., 336 telling 176, 244, 273 translatio imperii 201ff., 374 Uhr 65, 107, 126f., 195, 283, 347f., 352 Unglück 97, 140, 144, 182f., 227, 320 Utopie 296, 340, 345, 357, 360f., 365, 368
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Verbalisierung 14, 55f., 61, 72, 119f., 133, 207, 261, 363, 366f., Verzeitlichung 17ff., 27f., 207, 259f., 340 Wahrscheinlichkeit 41, 371f. Welt – pluriregionale 15, 154ff., 160, 162, 211, 297, 305, 312, 342, 364, 368 Weltalter 14, 58, 164, 167, 186, 192f., 196, 198, 206f., 210, 363 Wiedererzählen 10 Zahl 77, 80, 102, 104, 135, 184, 188, 190, 192, 205, 234f., 257, 261, 267, 276f., 280f., 289, 339, 342, 347f., 354ff., 362, 364f., 368 Zeit 161 – abstrakte 15, 22, 64, 72f., 75, 129, 251, 349, 368f. – als Interpretationskategorie 17, 19, 36, 163 – diegetische 13, 44, 47, 365 – einwertige 73, 75, 129, 172, 209 – heterogene 15, Siehe Heterogenität von Zeit – homogene 23, 28, 213 – inkohärente 70, 75, 81, 129, 209, 222 – inkonsistente 74f., 81, 129, 135 – kohärente 15, 74f., 129, 158, 209, 222, 248, 251, 285, 290, 334, 342, 349, 368f.
– konkrete 64, 72f., 75, 129, 208, 247, 258, 274, 317, 338 – konsistente 15, 74f., 129, 222, 251, 285, 290, 342, 349, 368f. – lineare 29, 73, 75, 86, 90, 129, 188, 369 – mehrwertige 73, 75, 129, 133, 172, 209, 223, 368f. – unzeitliche 76, 82, 100, 129, 158, 160, 208, 267, 270, 273, 280f., 283, 286f., 364 – zyklische 29, 64, 72f., 75, 129, 180, 182, 188, 192, 208 Zeitgerüst 92, 246, 249, 260, 274, 288, 290 Zeitlichkeit 14, 27, 33, 45f., 57, 134, 147, 167ff., 171ff., 178, 205ff., 211, 232, 260, 267f., 270, 272f., 303, 306ff., 363f., 374 Zeitpermutation 39 Zeitreise 58 Zeitüberlagerung 39 Zeitverflechtung 39 Zeitwahrnehmung 122, 125ff., 147, 152, 305, 342 Zufall 91, 96f., 113, 141, 149, 177, 179, 209 Zukunft 18f., 28ff., 32, 35, 58, 63, 84, 87, 89, 91, 94f., 97, 101, 146, 170, 178, 197, 205, 246f., 249ff., 260, 319, 337, 340, 369 Zustandsveränderung 40f., 68, 76, 132f., 144, 161