Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft: Literarische Repräsentationen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in (West-)Deutschland (1945–1989) [1 ed.] 9783737005852, 9783847105855


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Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft: Literarische Repräsentationen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in (West-)Deutschland (1945–1989) [1 ed.]
 9783737005852, 9783847105855

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 21

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte

Miriam Schumacher

Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft Literarische Repräsentationen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in (West-)Deutschland (1945–1989)

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-0585-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung durch Druckkostenzuschþsse der Axel Springer Stiftung sowie der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. aus Mitteln des »Dorothee Fliess Fond«. Dissertation Oldenburg 2015  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Das Buchcover zeigt eine Postkarte von Otto und Elise Hampel [BArch, R3018 (altNJ)/36]. Sie ist den Akten zum Prozess des Volksgerichtshofes gegen das Ehepaar entnommen, das zum Vorbild fþr Hans Falladas Protagonisten Otto und Anna Quangel in dem Roman »Jeder stirbt f þr sich allein« (1947) wurde.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hinführende Überlegungen 1 Literarisches Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Widerstand als Handeln gegen NS-System und -Ideologie 1.2 ›Widerstandsliteratur‹ – Zum Gegenstand der Arbeit . . . 1.2.1 Zur Konstituierung des Korpus . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Texte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 ›Widerstandsliteratur‹ im Blick der Forschung . . . . . .

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2 Literarische Imaginationen und Reflexionen von Gemeinschaften – Prämissen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Imaginationen von Gemeinschaft – Zum Zusammenhang von semiotischen Kollektiv-Entwürfen und Identifikationen des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Gemeinschaften als imaginierte gesellschaftliche Großgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Imaginationen von Gemeinschaft durch Systeme kultureller Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Kollektive Identitäten als Identifikationen des Einzelnen mit semiotischen Gemeinschaftsentwürfen . . . . . . . . . . . . 2.2 Kontinuitäts- und kohärenzstiftende Verfahren der Gemeinschaftsimagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Erzählen und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Grenzziehung und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen . . . . . . . . 2.3.1 Literarische Gemeinschaftsimaginationen zwischen Erfahrungshaftigkeit und Fundierung . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3.2 Literarische (Selbst-)Reflexion und Selbstbezüglichkeit als Zur-Schau-Stellen gemeinschafts- und identitätsstiftender Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zur analytischen Rekonstruktion literarischer Gemeinschaftsentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Analysen 3 Integrationsangebote – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft . . . 3.1 Texte im Fokus: Günther Weisenborns »Die Illegalen« (1946) und Walter Erich Schäfers »Die Verschwörung« (1949) . . . . . . . . . 3.2 »Im Namen des Volkes…« – Widerstand als nationaler Befreiungskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Verkehrung von etablierten Zuschreibungen: Widerständige als wahre Patrioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Exterritorialisierung: Verortungen des Nationalsozialismus im Außen der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Entmenschlichungen: Der Nationalsozialismus als das unmenschliche Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Mehrdeutige Bilder : Skalare Grenzziehungen zwischen Nation und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »Und dafür, daß ein Deutscher wieder einmal einem Fremden offen ins Auge schauen kann.« – Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus . . . . . . . . . . . . . 3.4 »Eine recht gemischte Gesellschaft«? – Widerstand als integratives Gemeinschaftsprojekt und dessen Grenzen . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Proklamation versus Figuration: Widersprüchliche Entwürfe politisch-sozialer Heterogenität des Widerstands . . . . . . . 3.4.2 Imaginationen des Bürgerlichen als beschränkte Integrationsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Widerständige als nationale Vorbilder : Narrative des Lehrens und Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft als dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹ . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Langlebigkeit und Variationen des Topos vom ›anderen Deutschland‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Vom ›anderen Deutschland‹ zum ›anderen Soldaten‹: Militarismus-Kritik bei Hans Hellmut Kirst . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.5.3 Exponieren des Zeugnischarakters: Inszenierungen des Widerstands als Martyrium und Sühne durch paratextuelle und textuelle Rahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Widerstand als Vermächtnis an nachwachsende Generationen: Figurationen des didaktischen Impetus . . . . 3.5.5 Überwindung von politisch-sozialen Differenzen zu Gunsten des nationalen Anliegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Lösung kollektiver Bindungen – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Destabilisierung etablierter Gemeinschaften . 4.1 Texte im Fokus: Alfred Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« (1957) und Wolfgang Graetz’ »Die Verschwörer« (1965) . . 4.2 »Ich kann es nicht hören, wenn ein Bürger von der Revolution redet.« – Hervorhebung politisch-sozialer Binnengrenzen des Widerstands durch kontrastive Perspektivierungen des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 »gefährlich sind nur die Anderen« – Vom nationalsozialistischen zum totalitären Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Pragmatismus des Einzelnen versus ideologischer Idealismus 4.3.2 Kunst versus oder als ideologische Vereinnahmung? . . . . . 4.3.3 Nationale Un-Spezifik: Zur inszenierten Omnipräsenz der Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 »Ach was, Vaterland!« – Entnationalisierungen des Widerstands . 4.4.1 Dekonstruktion von Narrativen nationaler Kontinuität im Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Zwischen Auflösung, Konstrukt und Essenz: Widersprüchliche Konzepte nationaler Identität in »Sansibar oder der letzte Grund« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Das Widerstehen des Einzelnen: Literarische Varianten . . . . . . 4.5.1 Der emanzipierte Einzelkämpfer : Zur Funktion der kontrastparallelen Szenenstruktur in Peter-Paul Zahls Drama »Johann Georg Elser« (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Der vereinzelte Widerständige: Die nationale Desintegration des Widerständigen in »Der Verfolger« von Günther Weisenborn (1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Selbstreflexionen kollektiver Identitäten – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Texte im Fokus: Franz Josef Degenhardts »Zündschnüre« (1973) und Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« (1975–1981) . . . . .

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Inhalt

5.2 »Ich betrachte mich als Angehöriger, auch ohne Mitgliedsbuch« – Politisch-soziale Positionierungen und Perspektivierungen des Erzählens und der Erzählinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Räumliche Einsichten: Proletarische Lebenswelten im Fokus . 5.2.2 Außensicht: Zur Vagheit der nationalsozialistischen/faschistischen Anderen . . . . . . . . 5.2.3 Tradierung etablierter linker Grenzziehungen . . . . . . . . . 5.2.4 Kollektives Erzählen und seine Reflexion in der »Ästhetik des Widerstands« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 »Erzähl nochmal, wie ihr bei Remscheid die Reichswehr verhauen habt« – Widerstand als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Generationelle Kontinuitäten: Biographische Analepsen als Verflechtungen zwischen Familiengeschichte und linken Großnarrativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Symbolisierende Einschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Interpretieren von Kunstwerken zwischen Mythenkritik und Transzendieren des Klassenkampfs . . . . . . . . . . . . . . 5.4 »und wieder mal dachte er, daß sie viel zu wenig wußten von allem« – Die Geschichte der Arbeiterbewegung als Bildungs- und Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Aneignungen: Bildung als soziale Grenzüberschreitung . . . 5.4.2 Zum Widerstand der Ästhetik: Die Schriftstellergenese als zweifacher Emanzipationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 »So entsteht die paradoxe Situation, daß es zwischen all denen, die Gemeinsames anstreben, schärfste Trennungslinien gibt« – Der differenzierte und differenzierende Blick auf die widerständige Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Seitenwechsel: Die durchlässige Grenze zwischen Widerstand und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Streitgespräche: Figurale Verhandlungen von Binnengrenzen 5.5.3 Die antifaschistische Gemeinschaft als Zusammenschluss von Individuen: Komplexitätssteigerungen durch Namensfülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Imaginationen antifaschistischer Gemeinschaft im Ringen um nationale Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Resümee 6 Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

7 »Denn was man gesät hat, soll man auch ernten« – Ausblicke (ausgehend von Hans Falladas »Jeder stirbt für sich allein«) . . . . . 7.1 ›Widerstandsliteratur‹ im grenzüberschreitenden Vergleich . . . 7.2 Funktionsgeschichten von ›Widerstandsliteratur‹ . . . . . . . . . 7.3 »Wer wir sind«? Tendenzen des Erzählens vom Widerstand nach 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung »Schreiben ist nichts anderes als eine endlose Reihe von Zweifeln, die zugunsten eines Satzes schließlich überwunden werden müssen.« (Jurek Becker)

Das Widerständige des Schreibprozesses prägte die Arbeit an dieser Dissertation ebenso wie mitunter ganz praktische Widerstände, die es zu überwinden galt. Dass dies gelang, verdanke ich den Menschen, die das Projekt zu etwas Gemeinschaftlichem haben werden lassen. Mein Dank gilt zunächst Prof. Dr. Sabine Kyora, die mich zu diesem Projekt ermutigt und mir als ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin die Konzentration darauf ermöglicht hat. Ihr wie auch Prof. Dr. Sabine Doering danke ich zudem für die konstruktive Begleitung des Schreib- und Überarbeitungsprozesses, der weitere wertvolle Anregungen den Mitgliedern des literaturwissenschaftlichen Doktorandenkolloquiums der Universität Oldenburg verdankt. Ein besonderer Dank gilt Ina Cappelmann und Ella Margaretha Karnatz aus diesem Kreise: Der fachliche Austausch mit ihnen, aber auch ihre Ermutigungen waren eine große Unterstützung. Prof. Dr. Hans Henning Hahn wie auch den Mitgliedern des Oldenburger Kolloquiums für osteuropäische Geschichte sei herzlich für ihre Bereitschaft gedankt, meine Arbeit wiederholt zu diskutieren und somit ihr interdisziplinäres Profil zu schärfen. Den Brückenschlag zwischen literaturwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Widerstandsforschung ermöglichte mir auch Dr. Christoph Studt (Universität Bonn), dem ich wertvolle Hinweise und Einblicke verdanke. Gleiches gilt für die Kolleginnen und Kollegen des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, deren Unterstützung mir den Endspurt ebenso erleichterte wie das ›Mitfiebern‹ von Indre Döpcke. Dr. Valeska Lembke und meinem Vater Volkmar Runge möchte ich für ihre gründliche Durchsicht des Manuskriptes herzlich danken – dies war in der Endphase der Promotion eine große Entlastung! Erschienen Widerstände manchmal kaum überwindbar, so boten mir meine Mutter Ingeborg Runge-Spreen und Hartmut Spreen einen Rückzugsort. Ich danke ihnen dafür sehr wie auch meinem Mann Dirk Schumacher für seinen unerschütterlichen Glauben an mich. Dazu beigetragen, dass nun am Ende dieses Prozesses ein fertiges Buch vorliegt, haben weiterhin: Prof. Dr. Carsten Gansel (Universität Gießen) und Prof. Dr. Hermann Korte (Universität Siegen) als Herausgeber der Reihe

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Danksagung

»Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien«, die Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. mit der finanziellen Unterstützung der Publikation aus Mitteln des »Dorothee Fliess Fond«, die Axel Springer Stiftung, die die Publikation ebenfalls großzügig gefördert hat, sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlags V& R unipress, insbesondere Susanne Köhler und JohannaThea Mohrmann, die das Ganze schließlich ›in Form‹ gebracht haben. Auch ihnen gebührt mein Dank. Gewidmet sei dieses Buch meiner Großmutter Altburg Wittjen in Erinnerung an ihr stetes Interesse und ihren Zuspruch.

Hinführende Überlegungen

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Literarisches Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft – Einleitung

»Im Namen des Volkes« – in dem Vertrag, den Hans Fallada alias Rudolf Dietzen im Oktober 1945 mit dem Aufbau-Verlag über einen zu schreibenden ›Widerstandsroman‹ abschloss, war diese Wendung als zukünftiger Titel vorgesehen. Noch im Februar 1946 kündigte ein Prospekt des Aufbau-Verlags einen FalladaRoman unter diesem Titel an.1 Auch wenn »Im Namen des Volkes« schließlich doch nicht den Einband des 1947 posthum veröffentlichten Romans »Jeder stirbt für sich allein« zierte, tritt die Formel in der Diegese des Textes an prägnanter Stelle in Erscheinung: Dann sieht er, daß Trudel mit der Stirn nun grade gegen jenes Plakat lehnt, von dem er sie eben erst fortgezogen hat. Über ihrem Kopf steht in Fettschrift zu lesen: »Im Namen des Volkes«, ihre Stirn verdeckt die Namen der drei Gehängten… (Jsa: 36)2

Ein Plakat, mit dem hier die NS-Behörden über Hinrichtungen informieren, führt am Anfang der erzählten Handlung zur Festigung des Entschlusses von Protagonist Otto Quangel, sich mit seiner Frau Anna durch das Schreiben von Postkarten gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten aufzulehnen: Und wie eine Vision steigt es vor ihm auf, daß eines Tages solch ein Plakat mit den Namen von ihm und Anna und Trudel an den Wänden kleben könnte. […] Unsere Namen an der Wand, denkt er, nun völlig verwirrt. Und warum nicht? (Jsa: 36)

Ähnlich entdecken in der zweiten Szene des Dramas »Die Illegalen« (1946) von Günther Weisenborn die beiden Widerständigen Bulle und Spatz während einer nächtlichen Plakatier-Aktion ein propagandistisches Plakat, das die Öffentlichkeit über erfolgte Hinrichtungen informiert. SPATZ: Sieh dort! (zeigt auf ein anderes Plakat) BULLE: Ein rotes Plakat? 1 Vgl. Kuhnke 2001:17f. 2 Die hier zitierte Ausgabe orientiert sich an der 1947 posthum veröffentlichten Ausgabe des Aufbau-Verlags, die im Anschluss an einen leicht gekürzten, als wöchentliche Fortsetzungsfolge in einer Berliner Illustrierten erschienenen Vorabdruck erfolgte (vgl. Kuhnke 2001: 49).

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Einleitung

SPATZ: Im Namen des Volkes… BULLE: Drei Mann… Die Hinrichtung hat heute früh stattgefunden. Lebt wohl… lebt wohl, Kameraden! (I: 210)

In Wolfgang W. Parths Roman »Die letzten Tage«, der 1946 im Berliner AufbauVerlag erschien, wird die juristische Formel zur Floskel, die den nationalsozialistischen Verfolgungsinstanzen zugeschrieben wird, wenn einer der widerständigen Figuren folgende Gedanken in Erwartung ihres Prozesses vor dem Volksgerichtshof durch den Kopf gehen: Und morgen um neun Uhr, denkt sie mit Ingrimm, ist der Termin vor dem Volksgerichtshof. Wenn nicht wieder Alarm ist, wird sie am Vormittag vor dem zweiten Senat stehen und das ganze schauerliche und in seiner Hohlheit und Aufgeblasenheit doch auch wieder lächerliche Theater vor den rotumhüllten Männern erleben, die sich anmaßen, ihr Recht im Namen des Volkes zu sprechen. (DlT: 90)

In dem 2004 publizierten Roman »Mein Jahr als Mörder« legt schließlich der Autor Friedrich Christian Delius seinem Protagonisten und Ich-Erzähler beim Lesen eines Todesurteils von Roland Freisler folgende Worte in den Mund: Im Namen des Deutschen Volkes! Mit den am meisten missbrauchten deutschen Wörtern fing es an, mit einem herrischen, triumphierenden Ausrufezeichen als Zugabe. (MJM: 86)

»Im Namen des Volkes« – in den hier zitierten Passagen aus verschiedenen Werken wird diese Wendung durch die Verfolgungsinstanzen des NS-Staates verwendet, die damit floskelhaft ihren Anspruch postulieren, Recht zu sprechen. Die Formel »Im Namen des Volkes« erscheint dabei doppeldeutig: Agiert hier ein Akteur tatsächlich im Auftrag des Volkes oder maßt er sich zu Unrecht an, in dessen Namen zu sprechen? Aber nicht nur die komplexe Beziehung zwischen Volk und NS-Repräsentanten, die sich in dieser juristischen Formel andeutet, wird verhandelt, sondern auch die Relation zwischen Volk respektive Nation und Widerständigen gerät in den literarischen Widerstandsrepräsentationen in den Blick, wie beispielsweise in folgender Passage des Fallada-Romans: An diesem Morgen stand nur eine kleine Sache an: gegen Otto und Anna Quangel wegen Landes- und Hochverrats. Der Zuhörerraum war kaum zu einem Viertel gefüllt: ein paar Parteiuniformen […] und in der Hauptsache Studenten der Jurisprudenz, die lernen wollten, wie die Justiz Menschen aus der Welt schafft, deren Verbrechen darin bestand, ihr Vaterland mehr geliebt zu haben, als es die verurteilenden Richter taten. (Jsa: 498)

Diese Einschätzung der heterodiegetischen Erzählinstanz steht in dieser Sequenz des Romans, die den Prozess gegen das Ehepaar Quangel darstellt, in scharfem Kontrast zu den nachfolgend zitierten diffamierenden Tiraden des

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Gerichtspräsidenten Feisler.3 Die Betonung des patriotischen Charakters des Widerstands, also der Vaterlandsliebe der widerständigen Protagonisten, wirkt somit intradiegetisch als eine Gegen-Reaktion auf die in der NS-Propaganda dominante Verurteilung von Widerstand als Vaterlandsverrat: Der Präsident hackte zu: »Sie sollen mit Ja oder Nein antworten! Sind Sie ein gemeiner Volksverräter oder sind Sie es nicht? Ja oder nein!« Quangel sah den feinen Herrn dort über sich scharf an. Er sagte: »Ja!« »Pfui Teufel!« schrie der Präsident und spuckte hinter sich. »Pfui Teufel! Und so was nennt sich Deutscher!« (Jsa: 505)

Die Frage, welche handelnden Figuren zu Recht in Anspruch nehmen können, »im Namen des Volkes« zu agieren, wird also je nach Perspektive der verschiedenen Akteure unterschiedlich bewertet, wobei allerdings der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler Falladas mit seinem oben zitierten Kommentar zur Gerichtsverhandlung deutlich Stellung zu Gunsten der Widerständigen bezieht. Ausgehend von diesen exemplarischen Beobachtungen zum Fallada-Roman lassen sich erste zentrale Annahmen explizieren, die für die Argumentation dieser Arbeit und ihre Analysen literarischer Repräsentationen des Widerstands grundlegend sind. Erstens: Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus impliziert eine relativ strikte Grenzziehung, die oftmals mit einer antagonistischen Handlungsstruktur einhergeht. Widerständigen Figuren steht jemand oder etwas – der Nationalsozialist, die Nationalsozialisten, der NS-Staat mit seinen Verfolgungsinstanzen, die NS-Ideologie oder auch ›der Nationalsozialismus/Faschismus‹ – gegenüber, gegen den oder das sich ihr widerständiges Handeln richtet. In der Regel wird diese Grenzziehung durch die Kontrastierung zweier Bewertungsperspektiven begleitet: die der Widerständigen und die ihrer Gegner. So kulminiert im Fallada-Roman die Gegenüberstellung von Widerstand und Nationalsozialismus schließlich in der gerichtlichen Konfrontation, in der am Beispiel der Frage, was zu Recht als patriotisches Verhalten gelten kann,

3 Der Name der Figur des Gerichtspräsidenten verweist erkennbar auf die historische Person Roland Freisler. Freisler fungierte zwischen Sommer 1942 bis zu seinem Tod Anfang 1945 als Präsident des Volksgerichtshofes und führte damit den Vorsitz in diversen Verhandlungen gegen des Hoch- und Landesverrats angeklagte Widerständige. So verurteilte er unter anderem die Mitglieder des engeren Kreises der Weißen Rose sowie die Beteiligten am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 zum Tode. Als bekanntester NS-Richter scheinen ihm viele Richter-Figuren in den verschiedenen literarischen ›Widerstandstexten‹ nachgebildet zu sein, so zum Beispiel auch der »Gerichtspräsident« in Peter Lotars Drama »Das Bild des Menschen« (1954) oder – noch deutlicher – der Roland Freisler, der am Ende von Hans Hellmut Kirsts Roman »Aufstand der Soldaten« (1965) den Protagonisten Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede zum Tode verurteilt.

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Einleitung

auch die gegensätzlichen Bewertungen von Widerständigen und NS-Instanzen erkennbar werden. Zweitens: Für die ost- und westdeutsche Öffentlichkeit nach 1945 gehörte und gehört die klare »Absage an den Nationalsozialismus als vergangene Realität wie als politisches Programm zur ideologischen Grundausstattung«4. Entsprechend beziehen im Prinzip alle der in dieser Arbeit erfassten literarischen Widerstandsrepräsentationen auf verschiedene Weise deutlich Position pro Widerstand, wie auch immer sie ihn verstehen: »In der Nacherzählung des Widerstands gegen die Nazi-Herrschaft ist von vornherein entschieden, wer moralisch auf der richtigen Seite steht.«5 Bei Fallada ist dies exemplarisch erkennbar an der oben zitierten deutlichen Stellungnahme des heterodiegetischen Erzählers zum Gerichtsverfahren gegen das des Hoch- und Landesverrats angeklagte Ehepaar Quangel. Drittens: Die für das Erzählen vom Widerstand zentrale Grenzziehung, die oft durch eine mehr oder weniger strikte Scheidung zwischen Gut und Böse begleitet wird, erfordert es, einzelne handelnde Figuren oder auch durch sie repräsentierte Gruppen, von denen erzählt wird, zu dieser Gegenüberstellung in Beziehung zu setzen. Mit dieser Positionierung geht – ausgehend von der eben skizzierten »ideologischen Grundausstattung« – mindestens implizit, oft aber auch explizit eine entsprechende moralische Bewertung von Akteuren einher. Erzählen vom Widerstand macht somit potenziell Orientierungsangebote. Neben der Inszenierung von Figuren als positiv beurteilte Widerständige und solchen Figuren, die als ihre Gegner, also Repräsentanten des Nationalsozialismus, erkennbar und somit negativ bewertet werden, betreten dabei zum Teil Dritte, deren Einordnung nicht so eindeutig ist, die literarische Bühne. Darauf, dass die oftmals grundlegende antagonistische Struktur der Handlung dadurch potenziell an Komplexität gewinnt, verweisen die obigen Überlegungen zur 4 Benz 1995: 53. 5 Kyora 1992: 93. Im Gegensatz zur klaren Positionierung gegen die vergangene nationalsozialistische Politik und ihre ideologischen Grundlagen sowie – damit einhergehend – einer überzeugten Befürwortung des Widerstands in hegemonialen öffentlichen Diskursen ist für breite Bevölkerungskreise des ersten Nachkriegsjahrzehnts nicht zwangsläufig eine ähnliche Abgrenzung anzunehmen. So war nicht nur grundsätzlich ein Unterschied zwischen öffentlicher Erinnerungskultur einerseits und dem Verdrängen der nationalsozialistischen Verbrechen seitens der breiten Mehrheit andererseits, die die Verarbeitung »delegierte« und bald einen Schlussstrich forderte, zu beobachten (vgl. dazu exemplarisch Benz 1995: 53), sondern insbesondere die Haltung gegenüber verschiedenen Formen und Trägern des historischen Widerstands war oft ablehnend. Ihnen haftete nicht nur das durch die nationalsozialistische Propaganda evozierte Stigma des Verrats an (vgl. Kap. 3.2), sondern die Mehrheit tat sich »schwer mit einer Minderheit, deren Beispiel eine Alternative zum kollektiven Fehlverhalten darstellte« (Borgstedt 2004: 307). So sprachen sich 1956 noch 49 % und 1960 noch 40 % der befragten Deutschen dagegen aus, eine Schule nach einem Widerstandsträger des 20. Juli 1944 zu benennen (vgl. Noelle/Neumann 1957: 145; und Noelle/Neumann 1965: 235).

Einleitung

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Ambivalenz der juristischen Eingangsformel, die ein Nachdenken über die Relation von Widerstand, Nationalsozialismus und Volk (hier als dritte Instanz) iniziiert. Viertens: »Im Namen des Volkes« – die Tatsache, dass diese Formel sogar als Titel des geplanten ›Widerstandsromans‹ vorgesehen war und auch im Text gleich zu Beginn und somit an prominenter Stelle zum Ausgangspunkt für die Todesahnung des Protagonisten wird, lässt bereits erahnen, dass die Inszenierung von Widerstand in dem Roman Falladas nicht zuletzt mit der Frage nach dem Verhältnis von Widerstand und deutschem Volk zu tun hat. Damit steht dieser Roman nicht allein da, so die zentrale These dieser Arbeit: Erzählen vom Widerstand fungiert in einem Großteil der entsprechenden literarischen Texte als Erzählen von Gemeinschaft, oft, aber nicht immer von nationaler Gemeinschaft (vgl. Kap. 3). Nach dem Kriegsende 1945 und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Deutschen beziehungsweise sogenannten ›Dritten‹ Reiches stellte der Entwurf identitätsrelevanter, insbesondere nationaler, Gemeinschaft die westdeutsche Öffentlichkeit vor Herausforderungen: So offenbarte sich in Anbetracht des Ungültigwerdens bisheriger gemeinschafts- und identitätsstiftender Geschichtskonstrukte in den frühen intellektuellen Nachkriegsdebatten ein Bedürfnis der Gesellschaft nach Orientierung, das das Thema »Widerstand« – wie prägnant Jan Eckel argumentiert – in besonderer Weise befriedigen konnte: Der Bezug auf den Widerstand erlaubte nach 1945 zum einen eine klare Distanzierung von Ideologie und Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus, die für die Teilhabe an hegemonialen öffentlichen Diskursen nach 1945 als eine zentrale Voraussetzung gelten kann.6 Zum anderen wirkte die Bezugnahme auf den Widerstand aber auch potenziell kontinuitätsstiftend: Sie ermöglichte, an vermeintlich bessere, ältere Traditionen anzuknüpfen; Eckel spricht von »positiven, brückenschlagenden Anknüpfungspunkten«7. Bei Fallada ist es vor allem Otto Quangels Zellengenosse, Dr. Reichhardt, der Wider-

6 Daneben steht natürlich die Tatsache, dass eine ähnlich klare personelle oder institutionelle Abgrenzung in der jungen Bundesrepublik oft nicht erfolgte, wie rezeptionsgeschichtliche Arbeiten zum Nationalsozialismus, die seit den 1990er Jahren verstärkt entstehen und einen kritischen Blick auf die »Vergangenheitspolitik« (Frei 2005: 30) werfen, betonen. Vgl. exemplarisch auch König 2003: 7–48; und A. Assmann 1999: 140–150. Zur Bewertung des Kriegsendes als »bewußtseinsgeschichtlichen Bruch schwerster Art« vgl. Fischer 1986: 34. 7 Eckel 2003: 141. Inwieweit die zunehmend positive Bewertung des Widerstandes, insbesondere des 20. Juli 1944, in der Öffentlichkeit die Einstellungen der Bürger beeinflusst hat, bleibt weitestgehend unklar. Zunehmende Ehrungen der Verstorbenen des 20. Juli 1944 in den 1950er Jahren durch politische Würdenträger wie Theodor Heuss oder der Braunschweiger Remer-Prozess, der die Männer des 20. Juli 1944 zumindest juristisch rehabilitierte, zeitigten jedenfalls keine unmittelbare Wirkung in den Meinungsumfragen, die das Institut für Demoskopie Allensbach in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg durchführte (Noelle/Neumann 1956; Noelle/Neumann 1957; Noelle/Neumann 1965).

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stand als eine nationale Tat proklamiert und damit der Verzweiflung Quangels über die Erfolglosigkeit des eigenen Handelns begegnet: »Ja, und dann wird uns das Leben genommen, und was hat dann unser Widerstand genützt?« »Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können. Und mehr noch dem Volke, das errettet werden wird um der Gerechten willen, wie es in der Bibel heißt.« (Jsa: 482)

Fünftens: Die Wahl von Autor und/oder Verlag fiel aber schließlich auf »Jeder stirbt für sich allein« als Titel für den ›Widerstandsroman‹ Hans Falladas. Eine überraschende Kehrtwende, so scheint mir. Wäre der Titel »Im Namen des Volkes« nicht zuletzt als Versuch einer nationalen Sinnzuschreibung an den Widerstand zu deuten gewesen, erzeugt »Jeder stirbt für sich allein« einen genau gegensätzlichen Eindruck. Dieser Titel wirkt wie ein Kommentar über den ›Nutzen‹ des Todes, der letztendlich nur individuell zu bemessen sei. Die Protagonisten Anna und Otto Quangel sterben, entgegen ihrem Wunsch, schließlich nicht gemeinsam, sondern allein.8 Der Entschluss, für die eigenen Überzeugungen in den Tod zu gehen, resultiert – wie Otto Quangel betont – aus dem Bedürfnis »für sich allein« »anständig« (Jsa: 537) zu bleiben; eine kollektive Dimension wird aus dieser Perspektive nicht mitgedacht. Damit deutet der Roman bereits an, dass Erzählen vom Widerstand nicht nur als affirmatives Erzählen von Gemeinschaft fungiert. Vielmehr ist auch die gegenläufige Tendenz zu beobachten: Hier stellt Erzählen vom Widerstand Gemeinschaften in Frage, indem es Widerstand zum Akt des einzelnen Menschen macht, der sich damit gerade von kollektiven Bindungen emanzipiert (vgl. Kap. 4). Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, literarisches Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft in seiner hier angedeuteten Komplexität darzustellen. Dabei geraten ausgehend von konstruktivistischen Konzepten von Gemeinschaft und kollektiver Identität (vgl. Kap. 2) nicht nur literarische Imaginationen verschiedener gesellschaftlicher Großgruppen, insbesondere nationaler und politisch-sozialer Kollektive, in den Blick, sondern auch die Frage, wie 8 Das Alleinsein zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Roman und charakterisiert die Situation fast aller Figuren. Die Vereinzelung der Menschen erscheint primär als negatives Resultat der Lebensbedingungen in der Diktatur (vgl. exemplarisch. Jsa: 79, 92ff.). An einer Stelle wird das Alleinsein allerdings zu etwas Positivem: Es sind die einsamen Widerstandsträger, deren Existenz in der modernen Lebenswelt Sinn zugesprochen wird: »Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausdruck. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen, im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie. […] Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein […]. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dußlige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle« (Jsa: 155).

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die literarischen Widerstandsrepräsentationen die Beziehung des einzelnen Menschen zu diesen Gemeinschaften entwerfen. Mit dieser Fokussierung auf ›widerstandsliterarische‹ Gemeinschaftsentwürfe erweitert meine Arbeit das thematische Spektrum aktueller kulturwissenschaftlicher Ansätze der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Nachkriegsliteratur, die sich beispielsweise »Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah« (Michael Bachmann, 2010), dem »soldatischen Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman« (Norman Ächtler, 2013), oder – unter dem Titel »Heimat, Space, Narrative. Toward a transnational approach to flight and expulsion« (Friederike Eigler, 2014) – Darstellungen von Flucht und Vertreibung widmen. Ich eröffne damit zudem eine neue Perspektive auf ein Textkorpus, das in rezeptionsgeschichtlichen Arbeiten der historiographischen Widerstandsforschung bislang gar nicht, in literaturwissenschaftlichen Arbeiten eher selten untersucht wurde (vgl. Kap. 1.3).

1.1

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»Widerstand« im Allgemeinen entwickelte sich im letzten Jahrhundert zu einem »tagespolitisch instrumentalisierte[n] Schlagwort«9, mit dem inflationär auch oppositionelles Handeln in der Nachkriegsdemokratie bezeichnet wurde. Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurde dagegen vom Großteil der Bevölkerung kaum, in der offiziellen Erinnerungskultur lange nur einseitig wahrgenommen.10 Im Zuge zunehmender Ost-West-Konfrontation dominierte spätestens seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik der Blick auf den militärisch-bürgerlichen Widerstand sowie auf die Widerständigkeit aus religiösen Überzeugungen und den Widerstand der Weißen Rose sowohl das öffentliche Erinnern als auch die geschichtswissenschaftliche Forschung.11 Arbeiten, die die gesellschaftliche Breite des Widerstands unter Einbezug des kommunistischen Widerstands zu betonen versuchten – zu nennen sind hier Rudolf Pechels Arbeit »Deutscher Widerstand« (1947)12 sowie Günter Weisen9 Sator 1997: 152. 10 Vgl. Tuchel 2005: 7. 11 Vgl. Reich 1994: 635. Ein Beispiel für die Fixierung des öffentlichen westdeutschen Diskurses auf den 20. Juli 1944 sind die verschiedenen Jahrbücher und Studien, die Umfragen des Instituts für Demoskopieforschung zusammenfassen: Zum einen zielte ein großer Teil der Fragen speziell auf Wissen über oder Beurteilung des Attentatsversuchs. Zum anderen waren bei den stärker relational orientierten Fragestellungen der jüngeren Jahrbücher als Antwortmöglichkeiten aus dem Bereich »Widerstand« nur solche zum 20. Juli 1944 aufgeführt (vgl. Noelle-Neumann/Köcher 1993: 373f und 378). 12 Vgl. dazu Holler 1994: 73f.

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borns »Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933– 1945« »Der lautlose Aufstand« (1953) –, blieben die Ausnahme. Auf den Zeitraum von Mitte der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre datieren viele rezeptionsgeschichtlich arbeitende Autor/innen deutliche Veränderungen in der Widerstandsforschung, darunter eine verstärkt einsetzende Reflexion des Widerstandsbegriffes, die eine Ausdifferenzierung der Widerstandsforschung zur Folge hatte.13 Die Reflexion und Ausweitung des Widerstandsbegriffs erfuhr mit Peter Hüttenbergers »soziologische[n] Vorüberlegungen zum Widerstandsbegriff«14 sowie mit der Einführung des »Resistenz«-Begriffs durch Martin Broszat Anfang der 1970er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt, der die wissenschaftliche Diskussion intensivierte.15 Hüttenberger erarbeitete einen funktionalen Widerstandsbegriff: Widerstand soll demnach jede Form der Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen gegen eine zumindest tendenzielle Gesamtherrschaft heißen, wobei die Differenzierung der Formen des Widerstands sich aus den verschiedenartigen Möglichkeiten der asymmetrischen Beziehungen ergibt, die ihrerseits von der sozialen Struktur der implizierten Einheiten abhängen. […] Widerstand heißen sämtliche auflehnenden Handlungen, die einem Herrschaftsträger die Möglichkeit nehmen, an soziale Einheiten Leistungsanforderungen zu stellen sowie sämtliche Handlungen, die Leistungsverweigerungen sind oder zu Leistungsverweigerungen hinführen können.16

Diese Definition erfasst nicht nur den aktiven, auf den Sturz des Gesamt-Regimes ausgerichteten Widerstand, sondern auch das Widerstehen gegen einzelne Teilbereiche der Herrschaft.17 Martin Broszat plädierte ebenfalls für eine

13 Vgl. dazu exemplarisch die Ausführungen von Müller/Mommsen (1990: 16) zu verschiedenen Schulen der deutschen Widerstandsforschung. 14 Kißener 2006: 16f. 15 Vgl. Kißener 2006: 17ff. 16 Hüttenberger 1977: 126. 17 Gleichzeitig zielt sie auf die Unterscheidung von Widerstand und ›systemimmanentem Konkurrenzkampf‹ in einem demokratischen Staat: Die Demokratie stellt in diesem theoretischen Ansatz grundsätzlich ein symmetrisches Herrschaftsverhältnis dar, in dem verschiedene soziale Einheiten in einem Null-Summen-Spiel agieren, während von Widerstand nach Hüttenberger erst in den asymmetrischen Herrschaftsverhältnissen einer totalitären Diktatur gesprochen werden sollte: »Demnach kann z. B. die politische Feindschaft zwischen NSDAP und SPD oder KPD während der Weimarer Republik nicht als Widerstand der SPD etc. gegen den Nationalsozialismus bezeichnet werden. Erst die Verschiebung der Herrschaftsbeziehungen während der Machtergreifung bildet die Voraussetzung für die Anwendung des Widerstandsbegriffes« (Hüttenberger 1977: 124). Während Hüttenberger erst von Widerstand gegen den Nationalsozialismus ab der Machtergreifung 1933 spricht, weist Klaus Sator auf die Kontinuität des Kampfes gegen Hitler hin und kritisiert die Fixierung der Widerstandsforschung auf die »Systemphase«. Dies widerspreche dem Selbstverständnis vieler Widerstandskämpfer. Lediglich der mit dem klassischen Widerstandsrecht argu-

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Weitung des Widerstandsbegriffes, der auch die »vielen ›kleinen‹ Formen des zivilen Mutes«18 einschließe. Zu diesem Zweck führte er den Begriff der »Resistenz« ein, mit dem er widerständisches Verhalten wirkungsgeschichtlich fassen möchte. In seinem Sinne bedeutet Resistenz »[w]irksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen oder Kräften her«.19 Broszat argumentierte für eine verstärkte Erforschung verschiedener Formen von Resistenz im ›Dritten Reich‹, da sie Wirkungen gezeigt hätten, während der »aktive, fundamentale Widerstand gegen das NS-Regime fast überall vergeblich geblieben« sei.20 Die Abkehr vom »Bild des Widerstands als einer monolithischen Erscheinung«21 führte zu einer »›Entdeckung‹ des anderen Widerstands«22 : dem Widerstand ›von unten‹. So fokussierten neuere Studien zunehmend Widerstand in seinen lokalen und regionalen Ausprägungen, und es kam, unter anderem auf Grund steigender Rezeption der DDR-Forschung, zu einer Hinwendung zum »bis dahin stark vernachlässigten Widerstand aus der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften«23. Zunehmend gerät also eine »ganze Palette möglicher Widerstandshandlungen«24 ins Blickfeld der Forschung. Die Leistung der Ansätze von Hüttenberger und Broszat mit dem Ziel, der »Tendenz zur unkritischen Kanonisierung bestimmter Formen und Figuren von Widerstand«25 entgegenzuwirken, ist vor allem darin zu sehen, dass sie die ideologisch bedingte Einseitigkeit in der Wahrnehmung des Widerstands überwinden und zudem den Weg zum fundamentalen Widerstand als oftmals schleichenden Prozess, also nicht als eine spontane Entscheidung, sondern als eine zunehmende kritische Auseinandersetzung des Einzelnen oder bestimmter Gruppen mit der NS-Politik erkennbar werden lassen.26 Zu kritisieren ist allerdings mit Michael Mallmann und Gerhard Paul das sich aufbauend auf dem »Resistenz«-Begriff entwickelnde »unrealistisch-exkulpierende Bild einer breit

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mentierende Widerstand seitens der politischen Eliten, vor allem des Militärs, könne so angemessen erfasst werden (vgl. Sator 1997: 155f.). Broszat 1981: 693. Broszat 1981: 697. Als Beispiel für Resistenz, die bisher eher nicht als Widerstand erfasst worden sei, nennt Broszat die bäuerliche Widersetzlichkeit gegen einzelne Maßnahmen des Reichsnährstandes (vgl. Broszat 1981: 697). Broszat 1981: 698. Müller/Mommsen 1990: 17. Holler 1994: 189. Reich 1994: 638. Zu beobachten ist eine verstärkt sozialhistorische Herangehensweise, für die exemplarisch das 1973 am Münchener Institut für Zeitgeschichte gestartete Projekt »Bayern in der NS-Zeit« steht (vgl. Reich 1994: 640). Kleßmann 1985: 13. Broszat 1981: 692. Zu letzterem vgl. Müller/Mommsen 1990: 18f.

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gefächerten Widerständigkeit gegen das Dritte Reich«.27 Völlig unpolitisch motivierte Handlungen werden als Widerständigkeit begriffen und damit aufgewertet, während »systemkritische Widerstandsansätze im Resistenz-Ansatz – weil offensichtlich erfolglos – systematisch abgewertet«28 werden.29 Daher betonten andere Ansätze wieder stärker die grundsätzliche Systemkritik als Ausgangspunkt für Widerstand. Christoph Kleßmann beispielsweise definiert Widerstand als bewussten Versuch, dem NS-Regime entgegenzutreten, in einem für die Ideologie und Etablierung und Erhaltung der Herrschaft wichtigen Bereich, und zwar ausgehend von Wertvorstellungen, die den nationalsozialistischen partiell oder total entgegengesetzt waren und die zugleich über die bloße Verteidigung der eigenen oder der Gruppeninteressen hinaus die Herstellung elementarer Menschenwürde und Gerechtigkeit zum Ziel [haben].30 27 Mallmann/Paul 1993: 99. 28 Mallmann/Paul 1993: 103. 29 Mallmann und Paul weisen den Resistenzbegriff aus verschiedenen Gründen zurück: Neben der oben angesprochenen Überbewertung nicht-systemkonformer Verhaltensweisen stellen sie vor allem die tatsächlich Macht-einschränkende Wirkung zahlreicher Formen vermeintlicher Resistenz in Frage und torpedieren somit den wirkungsgeschichtlichen Ansatz Broszats (vgl. Mallmann/Paul 1993: 102ff.). Problematisch am Resistenz-Ansatz ist auch die damit einhergehende Re-Etablierung der Totalitarismustheorie. Hüttenberger und Broszat gehen von einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft durch den Nationalsozialismus und einer damit verbundenen annähernd vollständigen Vernichtung von Handlungsmöglichkeiten aus. Peter Steinbach dagegen weist auf die Entstehung von Nischengesellschaften hin, die als labiler Ersatz für zerstörte soziale Bindungen fungieren können (vgl. Steinbach 2001: XIII). Mallmann und Paul sprechen von »Nischen und Refugien relativ normalen gesellschaftlichen Lebens auch unter den Bedingungen der Diktatur«. Handlungen gegen bestimmte Auswirkungen der Herrschaft erscheinen »gleichsam strukturell vorgegeben« und weniger als »Verhaltenseigenschaft der Menschen«, die als Widerstand zu beschreiben wäre (vgl. Mallmann/Paul 1993: 105). 30 Kleßmann 1985: 15. Klaus Sator versteht ähnlich Widerstand als »jede politisch motivierte Handlung […], die entweder nach dem zeitgenössischen Verständnis der Akteure oder in der Beurteilung des NS-Regimes geleistet wurde, um seiner Ideologie oder seiner Herrschaftspraxis entgegenzuwirken« (Sator 1997: 159). Auch Regina Holler legt ihrer 1994 publizierten Dissertation über die Rezeption des 20. Juli 1944 eine Definition von Widerstand zu Grunde, wie sie in dieser Arbeit geteilt wird: »Widerstand im verwendeten Sinne meint einen Kampf gegen das nationalsozialistische Regime, d. h. seine Funktionäre oder Institutionen. Dieser Kampf muß als letztes Ziel nicht den Sturz der Regierung meinen, sondern kann der Schwächung des Staates gelten. Kampf heißt die Anwendung sowohl gewaltfreier Mittel als auch die von Gewaltmitteln. Widerstand wird verstanden als bewußtes politisches Handeln. Für unangepaßtes Alltagsverhalten, abweichendes Verhalten (z. B. Verweigerung des Hitler-Grußes, Meidung von NS-Organisationen etc.) werden die Begriffe Verweigerung und Protest benutzt. / Weder die ›innere Emigration‹ noch Konflikte (Lohnstreiks, ›Bummeln‹ usw.) fallen unter den Begriff. […] Widerstand muß auch mehr sein als bloße Erhaltung des eigenen Lebens oder der Gruppenexistenz und geht von einem Wertesystem aus, das dem des Nationalsozialismus entgegensteht und den Nationalsozialismus zu überwinden sucht« (Holler 1994: 50f.).

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Ausgehend von einem integrativen Widerstandsbegriff, der die oben skizzierten, oft politisch-ideologisch motivierten Einseitigkeiten vermeidet, soll Widerstand an diese Definition anschließend auch in meiner Arbeit alle solchen Handlungen bezeichnen, die Politik und Maßnahmen des NS-Systems grundlegend in Frage stellen und bekämpfen. Form, Wirkung und Träger widerständiger Handlungen spielen bei der Auswahl dagegen keine zentrale Rolle. Gegenstand der Analysen sind ausschließlich literarische Texte, die bewusste Abwehrhaltungen und -handlungen zum Thema haben und somit in der Regel besonders prägnant die oben beschriebene Grenzziehung und die damit einhergehende antagonistische Handlungs- und Wertungsstruktur etablieren.31 Um Widerstand gegebenenfalls von »loyaler Widerwilligkeit«32 zu trennen, ist der Blick auf den einzelnen Widerständigen und die Bewertung des jeweils dargestellten widerständigen Verhaltens als durch eine grundsätzliche Abwehr von NS-System und -Ideologie motiviert entscheidend. Diese Unterscheidung an Hand der Motive ist allerdings nicht immer trennscharf, nicht zuletzt da oft bereits lediglich nonkonformes Verhalten im sogenannten ›Dritten Reich‹ als gegen das System gerichtet bewertet und entsprechend drakonisch bestraft werden konnte. Zur Verdeutlichung dieser Unterscheidung aber ein literarisches Beispiel: Das Verhalten der adeligen Damen in Horst Bieneks Novelle »Königswald oder Die letzte Geschichte« (1984), die sich in den letzten Kriegstagen der Verteidigung ihres Schlosses durch die Waffen-SS widersetzen, fällt – da nicht prinzipielle Gegnerschaft zum NS-System ausdrückend – nicht unter den hier verwendeten Widerstandsbegriff. Die einzige Sorge der Damen gilt dem Erhalt des eigenen Schlosses: »Wenn diese Kanonen [die der SS; Anm. M. S.] hierbleiben, sagte die Gräfin, sind wir verloren. Wenn die nur eine einzige Granate auf den heranrückenden Feind abschießen, wird der das ganze Schloss in Trümmer und Schutt legen« (KDlG: 14). Die Damen entführen ein SS-Mitglied, um die SS zum Verlassen des Schlosses zu zwingen. Sobald der SS-»General« daraufhin droht, das Schloss sofort zu zerstören, geben sie ihre Gegenwehr auf. Anders ist es mit dem Verhalten der beiden Protagonisten in Falladas »Jeder stirbt für sich allein«. Hier kämpft das Ehepaar Quangel – unabhängig von Widerstandsorganisationen – mit staatsfeindlichen Postkarten einen aussichtslosen Kampf gegen das NS31 Dass in der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die sich mit dem Verhalten der Deutschen im Dritten Reich beschäftigt, auch die »kleinen Formen zivilen Mutes« (Broszat 1981: 693) zu berücksichtigen sind, kann hier nicht bestritten werden. Allerdings handelte es sich auch bei Formen von Resistenz, wie beim Widerstand allgemein, um Handlungen einer gesellschaftlichen Minderheit: »[D]er Widerstand gegen das NS-Regime war zugleich der Kampf gegen eine Gesellschaft, die sich in weiten Teilen ausdrücklich zu den Zielen nationalsozialistischer Weltanschauung bekannte und das Unrecht zu erkennen verlernt hatte« (Steinbach 2001: 37). 32 Mallmann/Paul 1993: 115.

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Regime. So erfolglos dieser Versuch anmutet, sind diese Handlungen doch als grundsätzlich gegen das NS-System gerichtet zu interpretieren und damit ein Beispiel für den hier zu Grunde gelegten Widerstandsbegriff. Trotz der Schwierigkeiten einer klaren Definition von Widerstand als Handeln gegen das NS-System gibt es dennoch einige Träger des Widerstands, deren grundsätzliche Ablehnung des NS-Regimes als in der heutigen Widerstandsforschung anerkannt gelten kann. Dazu zählen beispielsweise verschiedene kommunistische oder sozialistische Gruppierungen, die sogenannte ›Rote Kapelle‹ und Weiße Rose ebenso wie der Kreisauer Kreis und die StauffenbergGruppe. Auch der Hitler-Attentäter Georg Elser hat – wie viele weitere einer breiten Öffentlichkeit oft unbekannte Widerständige – mittlerweile wissenschaftliche Anerkennung und erinnerungskulturelle Aufmerksamkeit erfahren.33

33 Diese Auflistung ist keineswegs vollständig. Zur weiteren Information sei auf die Homepage der Gedenkstätte deutscher Widerstand (http://www.gdw-berlin.de/index.php; Zugriff 02. 10. 2014) und die dortige Sammlung von biographischen Informationen verwiesen. Den Ausstellungen und Forschungen der Gedenkstätte liegt ein integratives Widerstandskonzept zugrunde, das sich politisch-ideologischer Vereinnahmungen des Widerstands widersetzt (vgl. Steinbach 1998: 103). Zum deutschen Widerstand zählen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie in öffentlichen Erinnerungsakten heute in der Regel auch die Emigranten, die aus dem Ausland heraus den Kampf gegen das NS-Regime zu unterstützen versuchten. Gleiches gilt für Deserteure, insbesondere dann, wenn die Desertion als politisch motivierter Akt erscheint, sowie für den Widerstand von Kriegsgefangenen oder für den sogenannten ›Rettungswiderstand‹, dessen Ziel die Rettung von Menschen vor Verfolgung und Vernichtung war. In dieser Arbeit werden diese Formen jedoch nur dann bei der Zusammenstellung des Textkorpus berücksichtigt, wenn in den entsprechenden literarischen Texten erstens hauptsächlich widerständige Handlungen dargestellt werden, die grundsätzlich auch auf eine Herbeiführung des Sturzes des NS-Regimes abzielen, und zweitens solcher Widerstand die Darstellung dominiert, der ›von innen‹, also auf deutschem Reichsgebiet, ausgeübt wurde. Diese Einschränkungen sind keinesfalls als Ausdruck eines Werturteils zu verstehen. Die Vernachlässigung von Texten über den ›Rettungswiderstand‹ resultiert aus der Annahme, dass insbesondere die literarische Darstellung von aktivem Widerstand, der dezidiert den Sturz des Regimes intendiert, in der Regel eine antagonistische Handlungsstruktur impliziert, die die Formierung und Positionierung imaginierter Gemeinschaften in besonderem Maße ermöglicht. Die Konzentration auf Texte, die den ›innerdeutschen‹ Widerstand darstellen, ergibt sich aus der Beobachtung, dass diese auf Grund der räumlichen Situierung der Handlung besonders herausgefordert sind, intensiv das Verhältnis zwischen Widerstand und deutscher Bevölkerung zu reflektieren, was für die Analyse der literarischen Texte als Imaginationen von nationaler Gemeinschaft zentral ist.

›Widerstandsliteratur‹ – Zum Gegenstand der Arbeit

1.2

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›Widerstandsliteratur‹ – Zum Gegenstand der Arbeit

Im Unterschied zu Untersuchungen zu Literatur als Widerstand34 oder zur Literatur des Widerstands35 richtet sich der Blick hier also auf ›Widerstandsliteratur‹, verstanden als Literatur über Widerstand. Dass diese drei Perspektiven auf den Komplex ›Widerstand und Literatur‹ durchaus Schnittmengen aufweisen können, zeigt sich vor allem an der deutschsprachigen Literatur über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die – wie beispielsweise Jan Petersens Roman »Unsere Straße« – in der Zeit zwischen 1933 und 1945 im Ausland publiziert wurde und zum Teil illegal innerhalb Deutschlands verbreitet wurde. Diese Texte sind, wie der Petersen-Roman, der Mitte der 1930er in der Illegalität entstand, zum Teil auszugsweise, in verschiedenen europäischen Städten veröffentlicht wurde und den Widerstand der Arbeiterbewegung im Berlin der Jahre 1933/1934 thematisiert, wiederholt in literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Exilliteratur als Teil des politischen Kampfes gegen das nationalsozialistische Herrschaftssystem gedeutet worden. Aus dieser Perspektive wird die entsprechende Literatur über den Widerstand nicht nur als Widerstand, sondern auch als Literatur des Widerstands wahrgenommen.36 34 Vgl. exemplarisch Salzmann 2003, der »Literatur als Widerstand« als ein »poetologisches Topos der deutschsprachigen Literatur nach 1945« beschreibt und damit den Blick nicht nur auf die sogenannte »engagierte« oder »politische Literatur« richtet (vgl. Salzmann 2003: 334), sondern literarischen Nonkonformismus unter anderem als eine sich gewohnten Wahrnehmungsweisen gegenüber als sperrig erweisende Darstellungsweise versteht (vgl. Salzmann 2003: 335f.). 35 Vgl. dazu exemplarisch Vaßen 1986, der sich in einem Aufsatz unter dem Titel »Literatur unter dem Schafott« solchen literarischen Texten widmet, die von Widerständigen während und unter der nationalsozialistischen Herrschaft verfasst worden sind und als Teil illegaler politischer Arbeit verstanden wurden (ähnlich auch Emmerich 1976). Die Frage, inwieweit auch die Literatur der sogenannten »inneren Emigration« zumindest in Ansätzen als Teil des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gedeutet werden kann, wird zum Beispiel in dem von Frank-Lothar Kroll und Rüdiger von Voss herausgegebenen Sammelband »Schriftsteller und Widerstand« (2012) verhandelt. 36 So zum Beispiel von Gisela Berglund, die sich in ihrer Dissertation dezidiert der Darstellung der »[d]eutsche[n] Opposition gegen Hitler in Presse und Roman des Exils« (1972) widmet. Sie untersucht »die Romane der Exilautoren auf ihren politischen Gehalt, ihre politische Tendenz und ihre vom Autor beabsichtigte Propagandawirkung« (Berglund 1972: 8). In ähnlicher Weise versteht auch Rushdi Talib Rushdi in seiner 1985 in Leipzig publizierten Dissertation die »Gestaltung des antifaschisten Widerstandskampfes in deutschen Romanen 1933–1935« »nicht nur als Anklägerin, sondern auch als Mitstreiterin« (Rushdi 1985: III) des politischen Kampfes. In allgemeineren literaturgeschichtlichen Darstellungen zum deutschsprachigen Exil, wie zum Beispiel bei Inge Stephan (2001), werden mit Blick auf den Komplex »Widerstand und Literatur« vor allem die Bemühungen kommunistischer und sozialistischer Autor/innen um eine »Einheitsfront« sowie die Teilnahme von Schriftsteller/ innen am Spanischen Bürgerkrieg als Teil politischer Arbeit herausgestellt (vgl. Stephan 2001: 456–459).

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1.2.1 Zur Konstituierung des Korpus Die literarischen Repräsentationen des Widerstands, die in dieser Arbeit im Zentrum stehen, sind alle erst nach dem Kriegsende 1945 erstmals publiziert worden. Bereits 1946 erschienen in den verschiedenen Besatzungszonen erste literarische ›Widerstandstexte‹, darunter mit Stephan Hermlins Erzählung »Der Leutnant Yorck von Wartenburg« auch der meines Wissens erste narrative literarische Text, der deutliche thematische Bezüge zum gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 herstellt.37 Statt diese Texte als Mittel des politischen Kampfes gegen den Nationalsozialismus einzuordnen, richtet sich der Blick der Analysen auf die spezifischen Sinnangebote, die die literarischen Retrospektiven auf den Widerstand im Nachkriegsdeutschland unterbreiten. Ausgehend von dem einleitend mit Jan Eckel beschriebenen besonderen Potenzial des Themas ›Widerstand‹ wird ihr Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft erkennbar : Indem Bezüge auf den Widerstand sowohl eine klare Distanzierung vom besiegten NS-Staat und seiner Ideologie als auch die Etablierung positiv bewerteter Kontinuitäten ermöglich(t)en, dienten und dienen sie potenziell einer Auseinandersetzung mit etablierten und/oder verunsicherten Entwürfen von Gemeinschaft und kollektiven Identitäten. Entsprechend berücksichtigen meine Interpretationen die Historizität literarischer Sinnangebote.38 Nicht zuletzt aus diesem Grund fokussiert diese Arbeit primär Widerstandsdarstellungen der westdeutschen Literatur.39 Selbst wenn 37 Bereits 1946 war das Gedicht »Gefährten« von Albrecht Haushofer publiziert worden, das 1946 posthum in der Sammlung »Moabiter Sonette« bei Blanvalet in Berlin erschienen ist. In diesem Sonett gedenkt das lyrische Ich verschiedenen namentlich genannten und ermordeten historischen Widerstandskämpfern – »Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin, / die Hassel, Popitz, Helferich und Planck« (V. 3f.) –, die es als »Weggefährten« (V. 9) konzipiert. Ähnlich thematisiert auch das noch während des Krieges entstandene Gedicht Ricarda Huchs »An unsere Märtyrer«, das 1947 in der zweiten Auflage ihrer Anthologie »Herbstfeuer. Gedichte« vom Insel-Verlag veröffentlicht wurde, das Gedenken an die hingerichteten Widerstandskämpfer, ohne allerdings explizit Namen historischer Personen zu nennen. 38 Die Vorstellung von der »Historizität« literarischer Texte impliziert ihre Deutung als Teil sich diachron wandelnder und synchron ausdifferenzierter diskursiver Konstellationen (vgl. dazu auch Kap. 7). 39 Diese Arbeit konzentriert sich – wie ihr Titel bereits ankündigt – auf literarische Repräsentationen des Widerstands in Westdeutschland, also in erster Linie auf Texte, die in Westdeutschland uraufgeführt, in einem westdeutschen Verlag publiziert und/oder von einem Autor mit bundesrepublikanischer Staatsangehörigkeit verfasst worden sind. Diese Beschränkung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass ›westdeutsche Literatur‹ keinesfalls ein fest umrissenes Korpus, Feld o. ä. darstellt, dass also eine eindeutige Begrenzung auf diese Weise nicht möglich ist. Insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren sind Texte, wie zum Beispiel das »Illegalen«-Drama Weisenborns oft zeitnah sowohl in der SBZ oder in Ostberlin als auch in westdeutschen Besatzungszonen respektive in Westberlin publiziert worden. So

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man annimmt, dass es in der in der SBZ oder DDR publizierten ›Widerstandsliteratur‹ »in nur sehr begrenztem Maße zu Wandlungen des grundlegenden und bereits seit den späten 40er Jahren verbindlichen Handlungs- und Konfliktsmodells gekommen ist« und dass »das Primat klassenbewußt-kommunistischen Kämpfertums, das stets zugleich die Werte der Humanität und Solidarität verkörpert, […] bis zuletzt […] ungebrochen«40 blieb, stellte der Anspruch, west- und ostdeutsche Widerstandsdarstellungen vergleichend zu analysieren, eine arbeitsökonomische Überforderung dar. Dass ein solcher Vergleich – nicht nur mit der ostdeutschen ›Widerstandsliteratur‹, sondern auch mit anderssprachigen ›Widerstandsliteraturen‹, die in der Regel in jeweils anderen, durchaus national spezifischen Erinnerungskulturen zu verorten sind – gerade dann interessant ist, wenn es um das gemeinschaftsbegründende und -reflektierende Potenzial literarischer Widerstandsrepräsentationen geht, verdeutlicht der diese Arbeit beschließende Ausblick (vgl. Kap. 7.1). Bei der Konstituierung des Korpus ist über die bislang erörterten Determinanten hinaus der zu Grunde gelegte Literaturbegriff von Bedeutung. Für eine Analyse literarischer Widerstandsrepräsentationen, die deren Potenzial in den Vordergrund stellt, Gemeinschaften zu entwerfen und zu reflektieren, ist die Konzentration auf »geschehensdarstellende Literatur«, wie sie beispielsweise Holger Korthals in seiner 2003 publizierten Dissertation versteht, interessant. Damit einher geht die Verwendung eines weiten Narrationsbegriffs, der Erzählen als kontinuitätsstiftende Kulturtechnik begreift (vgl. Kap. 2.2.1) und sich mittlerweile in verschiedenen Ansätzen zu einer transgenerischen Narratologie etabliert hat.41 Ausgangspunkt ist dort oftmals ein von Seymour Chatman entwird »Die Illegalen« von Günther Weisenborn zwar am Westberliner Hebbel-Theater 1946 uraufgeführt. Die erste Publikation des Dramentextes aber folgte 1947 im Aufbau-Verlag in der Dramensammlung »Historien der Zeit«, bevor der Text ein Jahr später auch bei Piper in München erschien (vgl. Töteberg 2010). Andere Texte, die literaturgeschichtlich heute oftmals selbstverständlich als Teil der westdeutschen Literatur eingeordnet werden, wurden – wie Carl Zuckmayers Drama »Des Teufels General« – auf Grund von Vorbehalten der Westalliierten zunächst in der Schweiz veröffentlicht oder aufgeführt, bevor sie wenig später auch in Westdeutschland gedruckt werden konnten. 40 So Rüdiger Steinlein in seinem »Geleitwort« zu einer im Jahr 2000 veröffentlichten Studie von Karin Wieckhorst, die sich mit der »Darstellung des ›antifaschistischen Widerstandes‹ in der Kinder- und Jugendliteratur der SBZ, DDR« beschäftigt. 41 »Narration« wird in dieser Arbeit zum einen synonym mit »Narrativik« (und analog zu »Epik« oder »Dramatik«) als Bezeichnung für eine bestimmte Art von Text, also quasi als eine Art Gattungsbezeichnung für geschehensdarstellende Literatur verwendet. Zum anderen wird »Narration« auch als Synonym zu »narrativer Text« gebraucht und bezeichnet analog zu den Begriffen »Epos« oder »Drama« einen Einzeltext, also eine konkrete kulturelle Objektivation, die als zur Gattung Narration/Narrativik zugehörig eingestuft wird. »Erzählen« ist dann das Hervorbringen eines solchen narrativen Textes. »Das Narrative« oder auch »Narrativität« bezeichnen (analog zum »Epischen« oder »Dramatischen«) zum einen eine entsprechende Qualität von Texten, die nicht zwangsläufig als Ganze als zur Narrativik

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wickeltes Textmodell, das narrative Texte von argumentierenden, deskriptiven oder anderen Textformen abgrenzt und dann erst in der Kategorie der narrativen Texte zwischen solchen mit diegetischem und solchen mit mimetischem Modus unterscheidet.42 Entsprechende Ansätze gehen bei ihrer Definition des Narrativen »von der Ebene des Erzählten (Story)«43 aus, machen also die Vermittlung von Geschehen oder von einer Geschichte zum entscheidenden Merkmal von Narrationen und betonen so die Gemeinsamkeiten zwischen epischen und dramatischen Texten.44 Der Konzentration dieser Arbeit in erster Linie auf Dramen und Romane – neben wenigen kürzeren Erzählungen, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu ihrem zentralen Thema machen – liegt nicht nur die Einsicht zu Grunde, dass narrative Strukturen einen zentralen Beitrag zur Imagination von Gemeinschaften leisten, sondern zudem der Entschluss, fiktionale Literatur ins

gehörend, also als Narrationen betrachtet werden müssen. Zum anderen kann »das Narrative« auch mit Werner Wolf als Bezeichnung für ein »kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema« (Wolf 2002: 29) verstanden werden, das sich in verschiedenen einzelnen kulturellen Objektivationen realisiert. »Das Narrativ« dagegen dient als Bezeichnung für ein Erzählmuster im Sinne eines abstrakten Schemas von wiederholt zu beobachtenden ähnlichen narrativen Texten/Narrationen (vgl. Kap. 2.2.1). Der Begriff »Erzählung« bleibt weitestgehend solchen narrativen Texten vorbehalten, die der literarischen Gattung der Epik zugerechnet werden können, sich also durch die Dominanz einer Erzählinstanz auszeichnen, die ein Geschehen primär durch ihre eigene Sprachhandlung vermittelt. 42 Zur Rezeption Chatmans in Arbeiten zur transgenerischen Narratologie vgl. exemplarisch Jahn 2001: 674ff.; Nünning/Nünning 2002a: 7f.; Korthals 2003: 83 und 86; und Muny 2008: 17f. Zentral nicht nur für Korthals’ Argumentation, sondern auch für andere jüngere Arbeiten zu einer transgenerischen Narratologie, die Dramen in den Blick nimmt, ist der Fokus auf das Drama als (eigenständigem) literarischem Text. Eine Perspektive auf das Drama als Vorlage einer Theateraufführung, als »Partitur« (Zipfel 2001: 313), wird dagegen tendenziell nicht eingenommen oder sogar kritisch reflektiert (vgl. exemplarisch Korthals 2003: 53–74; Muny 2008: 24–34; und Nünning/Sommer 2002: 108). Dass diese Vorstellung vom Drama als eigenständigem literarischem Text, also die Vernachlässigung des Aufführungskriteriums, in dieser Arbeit übernommen wird, ist keinesfalls als Indiz für die Abwertung der Inszenierungs- und Aufführungsanalyse von Dramen zu werten. Im Gegenteil: Genauso wie der dramatische (schriftsprachlich fixierte) Dramentext sind auch Inszenierungen als eigenständige semiotische Systeme (vgl. dazu Fischer-Lichte 1983 und Hiß 1993) oder soziale Praktiken (vgl. Zipfel 2001: 304–312) zu begreifen, die allerdings durch andere Bedeutungsstrukturen gekennzeichnet sind als die literarischen Dramentexte. 43 Nünning/Nünning 2002b: 6. 44 Im Gegensatz zu klassischen Definitionen des Narrativen/der Narration, die mit dem Verweis auf die Mittelbarkeit, also auf die Existenz einer erzählenden Instanz argumentieren, richtet dieser strukturalistische Ansatz die Aufmerksamkeit auch auf solche verschiedenen Formen der Darstellung von Geschichten, die ohne eine konkrete vermittelnde Instanz, im Sinne eines sprechenden Vermittlers, auskommen. Zur Unterscheidung von klassischer und strukturalistischer Narratologie vgl. Schmid 2005: 11–16; und ähnlich auch Nünning/ Nünning 2002b: 6.

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Zentrum dieser Arbeit zu stellen.45 Aus produktionsästhetischer Perspektive führt die Verortung von Texten als Teil eines ›Make-believe-Spiels‹ zu einer Entpragmatisierung der externen Kommunikationssituation.46 Dies ist eine zentrale Voraussetzung für die Ausprägung bestimmter, literaturspezifischer narrativer Strukturen, wie zum Beispiel die Darstellung von Gedanken verschiedener Figuren, die nicht zuletzt ein spezifisch literarisches Potenzial von Gemeinschaftsimaginationen begründen (vgl. dazu Kap. 2.3.1).47

1.2.2 Texte im Überblick Legt man – wie oben skizziert – einen relativ weiten Widerstandsbegriff zu Grunde, also versteht Widerstand als jede Form des Kampfes gegen das nationalsozialistische Regime, mit dem Menschen in Deutschland versuchten, die NSHerrschaft zu beenden oder zumindest zu schwächen, so lassen sich knapp zwanzig Dramen- oder Erzähltexte finden, die zwischen 1945 und 1989 in einem westdeutschen Kontext publiziert wurden und Widerstand zu ihrem zentralen Thema machen.48 Darunter sind Werke bekannterer Autoren, die eher der so45 Für das Funktionieren des ›Fiktionsspiels‹ ist – analog zum autobiographischen Pakt Philippe Lejeunes – ein Fiktionspakt entscheidend, den ein Autor durch das Senden von Fiktionssignalen initiiert und ein Leser, der diese Signale erkennt, schließlich eingeht (vgl. Zipfel 2001: 283ff.; zu einem Fiktionskontrakt zwischen Autor und Leser vgl. Iser 1983: 135f.; und zu dessen Historizität Warning 1983: 194–198). Als zentral können in diesem Zusammenhang spezifische »Kontextmarkierung[en]« (Mart&nez/Scheffel 2000: 16) gelten, wie vor allem peritextuelle Hinweise (vgl. Genette 1989: 13: »Paratext = Peritext + Epitext«), ein für fiktionale Texte bekannter Publikationskontext oder epitextuelle Funktionszuschreibungen seitens des Autors oder Verlages. 46 Zu Fiktion als komplexe Sprachhandlungspraxis, die als ein ›make-believe-Spiel‹ beschrieben werden kann, vgl. Zipfel 2001. Mit Entpragmatisierung der Kommunikationssituation ist mit Birgit Neumann Folgendes gemeint: »Im Gegensatz zu anderen kulturökologischen Systemen wie wissenschaftlichen Spezialdiskursen ist Literatur weder zur Faktizität bzw. zur verifizierbaren, extratextuellen Referenzialität noch zur Orientierung an primär pragmatischen Zielen verpflichtet« (2005: 131). 47 Zu den Spezifika der fiktionaler Kommunikation aus rezeptionsästhetischer Perspektive vgl. exemplarisch Zipfel 2001: 258f; und Warning 1983: 193, die die Rezeption fiktionaler Texte als Rollenspiel und mithin in ihrem Spannungsfeld von Partizipation und Distanz beschreiben. 48 Neben den hier fokussierten fiktionalen Texten erschienen bereits kurz nach dem Kriegsende zahlreiche autobiographische Schriften. Neben Berichten von Überlebenden aus dem Umkreis der Verschwörer vom 20. Juli 1944 zählen hierzu beispielsweise Ruth AndreasFriedrichs Tagebuch »Der Schattenmann«, das 1947 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, Günther Weisenborns Autobiographie »Memorial« (1948), in der er unter anderem seine Erfahrungen mit dem Widerstand und der anschließenden Haftzeit thematisiert, oder Werner Eggeraths Text »Nur ein Mensch« (1947), der ebenfalls als authentischer Lebensbericht etikettiert wird. Bekannt geworden sind außerdem die Bemühungen Ricarda Huchs um ein »Gedenkbuch« mit biographischen Skizzen zu ermordeten Widerstands-

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genannten Höhenkammliteratur zugeordnet werden, wie Carl Zuckmayers »Des Teufels General« (Uraufführung 1946), Alfred Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« (1957) oder Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands« (1975–1981). Susanne M. Wagners ohnehin problematische Behauptung, dass die Darstellung des 20. Juli 1944 im deutschsprachigen Drama zwar »literarisch belanglos, aber soziopolitisch enorm interessant«49 sei, ist auf die in dieser Arbeit fokussierte ›Widerstandsliteratur‹ also erst recht nicht übertragbar. Gleichwohl finden sich neben den genannten prominenteren Werken viele Texte zumindest heute mehr oder weniger unbekannter Verfasser – vor allem die sogenannten ›Juli-Dramen‹ von Karl Michel (1947), Walter Erich Schäfer (1949), Walter Löwen (1952/1966) und David Sternbach (1984) dürften vielen Leser/ innen dieser Arbeit bislang unbekannt sein – genauso wie solche, die oft eher dem trivialliterarischen Spektrum zugerechnet werden, so zum Beispiel verschiedene Romane von Hans Hellmut Kirst (»Die Nacht der Generale« [1962], »Aufstand der Offiziere« [1965], »Aufstand der Soldaten« [1966]). Das Verteilen von Flugblättern oder politisch motivierte Sabotage, also Widerstandsformen, die oft mit sogenanntem ›linken‹, aus dem Untergrund heraus agierenden Widerstand assoziiert werden, sind dabei, wenn auch deutlich weniger häufig, literarisch ebenso verarbeitet worden wie das Attentat vom 20. Juli 1944; Beispiele dafür sind neben dem genannten monumentalen Werk von Peter Weiss Günther Weisenborns Drama »Die Illegalen« (UA 1946), Franz Josef Degenhardts »Zündschnüre« (1973) und Christian Geisslers Roman »Wird Zeit, daß wir leben« (1976), der sich auf die Auseinandersetzungen zwischen »Roten« und hier sogenannten »Weißen« im Zeitraum 1923 bis 1933 konzentriert. Der Widerstand, der heute in der öffentlichen Wahrnehmung in erster Linie mit dem Namen Stauffenberg verbunden wird, erlebte vor allem Mitte der 1960er Jahre mit Dramatisierungen des 20. Juli 1944 von Wolfgang Graetz (»Die Verschwörer« [1965]), Kirst und Weisenborn (»Walküre 44« [1966]) einen kleinen literarischen Boom. Auch Arno Schmidt hat in der kürzeren Erzählung »Kühe in Halbtrauer«, die 1964 in dem gleichnamigen Erzählband erschienen ist, das gescheiterte Stauffenberg-Attentat, aber vor allem die Auseinandersetzung damit nach dem Krieg, zum Thema gemacht. Neben dem militärisch-konservativen Widerstand sowie widerständigen Personen der politischen Linken betraten zwischen 1945 und 1989 weitere Träger des deutschen Widerstands die literarische Bühne: Der »Graf« in Peter Lotars Hörspiel und Drama »Das Bild des Menschen« (1952/1954) erinnert ebenso an Helmuth James Graf von Moltke wie auch der »Graf Schwerin/Loy« in kämpfern, das sie allerdings vor ihrem Tod im Jahr 1947 nicht mehr fertigstellen konnte und das in Auszügen erst 1971 aus ihrem Nachlass veröffentlicht wurde (vgl. Schwiedrzik 1998: 32–48). 49 Wagner 2006: 368.

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Walter Erich Schäfers Drama »Die Verschwörung«, das mit seinem »Viersener Kreis« auf den historischen Kreisauer Kreis referiert. Der katholische Pfarrer bei Peter Lotar scheint in Teilen Alfred Delp nachempfunden, wie der evangelische Gefängnisgeistliche dem historischen Gefängnispfarrer Harald Poelchau. Günther Weisenborn lässt seinen Ich-Erzähler in dem Roman »Der Verfolger« (1961) vom Widerstand einer Musikgruppe »Silberne Sechs« erzählen, deren historiographische Relevanz nicht geklärt ist.50 Peter Paul Zahl stellt in seinem Drama »Johann Georg Elser« (UA 1982) den gescheiterten gleichnamigen Hitler-Attentäter in den Mittelpunkt. Auf den ersten Blick erscheinen die westdeutschen literarischen Widerstandsrepräsentationen also als relativ heterogen: Sie fokussieren unterschiedliche Formen und Träger des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und referieren in unterschiedlichem Maße auf historiographisch tradiertes Widerstandsgeschehen; sie lassen sich verschiedenen literarischen Gattungen (Roman, Drama, Erzählung) zurechnen und sind in verschiedenen Jahrzehnten entstanden; einige gelten als Beiträge zur Höhenkammliteratur, andere werden zur Trivialliteratur gezählt, wenige sind heute einer breiteren Öffentlichkeit, viele nur unter Literaturwissenschaftler/innen bekannt, manche auch weitestgehend vergessen. Trotz dieser Heterogenität ist vielen dieser Texte allerdings – so die im Folgenden zentrale These – eines doch gemeinsam: Ihr Erzählen vom Widerstand stellt sich als ein Erzählen von Gemeinschaft dar. Gemeint ist damit: Mit der Darstellung von Widerstand gegen den Nationalsozialismus geht in dem Großteil der Texte die Imagination und/oder Reflexion gesellschaftlicher Großgruppen und kollektiver Identitäten einher : Wenn sie vom Widerstand erzählen, verhandeln sie ganz zentral den Stellenwert nationaler oder politischsozialer Gemeinschaft sowie Fragen kollektiver Identitäten, also das Verhältnis des einzelnen Menschen zu solchen gesellschaftlichen Großgruppen.

50 Inwieweit Günther Weisenborn sich mit der Darstellung der »Silbernen Sechs« an einem konkreten historischen Vorbild orientierte, scheint unklar. So berichtet Lew Kopelew in einem 1966 erstmals in russischer Sprache veröffentlichten Aufsatz über »Der Verfolger« von einem Gespräch mit Weisenborn, in dem dieser den Roman als Resultat tatsächlicher Erfahrungen darstellt, wobei allerdings laut Kopelew unklar geblieben sei, ob es sich um persönliche Erfahrungen Weisenborns oder eines seiner Bekannten gehandelt habe (vgl. Kopelew 1976: 124ff.). Darüber hinaus beschreibt Weisenborn selbst in seiner historiographischen Darstellung des Widerstands »Der lautlose Aufstand« (1953/1954) eine Widerstandsgruppe mit dem Namen »Goldene Sechs«, die aus sechs Musiker/innen bestand und die offensichtlich als Vorbild für die »Silberne Sechs« des Romans diente. Als einzige Informationsquelle für die Ausführungen Weisenborns in »Der lautlose Aufstand« wird ein Zeitzeugenbericht genannt, der als der Redaktion des Buches vorliegend ausgewiesen wird (vgl. Weisenborn 1974: 193).

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›Widerstandsliteratur‹ im Blick der Forschung

Die Auseinandersetzung mit dem historischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus war und ist – wie die »zweite Geschichte«51 des Nationalsozialismus insgesamt – ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, der im westlichen Nachkriegsdeutschland unterschiedliche gesellschaftliche Subsysteme tangiert, verschiedene performative Ausprägungen erfährt und keineswegs stringent verläuft. Er umfasst [d]ie ordnungspolitische, vor allem aber politisch-justizielle und politisch-kulturelle Überwindung der Hitler-Diktatur, sodann ihre kritisch-verstehende Deutung, Einordnung und Bewertung in übergreifender und vergleichender Perspektive. Und nicht zuletzt die ästhetisch-kulturelle, politisch-symbolische, öffentliche Erinnerung an sie und deren verpflichtende Festschreibung für Generationen. Es geht bei der ›zweiten Geschichte‹ also um dauerhafte Anstrengungen und Aktivitäten, die nicht etwa nacheinander, auch nicht kumulativ und zielgerichtet, einem Plan, einer inneren Logik folgten, sondern gleichzeitig stattfanden, wenn auch in jeweils sehr unterschiedlicher Intensität und inhaltlicher Akzentuierung, von Zufällen ebenso beeinflusst wie von strukturellen Faktoren.52

Vor allem seit den 1990er Jahren richtet die Forschung in verschiedenen Disziplinen verstärkt ihre Aufmerksamkeit auf diese »zweite Geschichte«, also auf die Rezeptionsgeschichte des Widerstands. Wie exemplarisch der einleitend bereits zitierte Aufsatz Jan Eckels (2003) zeigt, gilt die Aufmerksamkeit dabei nicht primär der Rekonstruktion der vielfältigen Widerstandshandlungen und ihrer Erklärung, sondern der Frage, wie jene nach 1945 in Deutschland aufgearbeitet, gedeutet und erinnert worden sind. Erforscht werden unter anderem die juristische und politische Aufarbeitung,53 der massenmedial gestützte Widerstandsdiskurs54, Formen institutionalisierten Gedenkens55 sowie Repräsentationen des Widerstands im Spielfilm56 und die bisherige geschichtswissen51 52 53 54

Reichel/Schmidt/Steinbach 2009. Reichel/Schmidt/Steinbach 2009: 8f. Vgl. exemplarisch Perels 1997, Wassermann 1998, Fröhlich 2005 und Frei 2005: 129–144. Für die Widerstandsrezeption unter anderem in der westdeutschen Presse vgl. vor allem Holler 1994. 55 Darauf, dass das Gedenken an den Widerstand in den ersten Nachkriegsjahren vor allem durch Angehörige oder Überlebende des Widerstands getragen wird, verweisen die Aufsätze von Danyel 1994, Groehler 1994 und Studt 2005; unter anderem Emrich/Nötzold 1984 und Holler 1994 fokussieren Gedenkreden anlässlich von Jahrestagen wie dem 20. Juli, und Walle 1987 oder Tuchel 2000 setzen sich mit der Repräsentation des Widerstands in Ausstellungen und Gedenkstätte auseinander. 56 Die Darstellung von Widerstand, insbesondere des gescheiterten Stauffenberg-Attentats vom 20. Juli 1944, im Spielfilm nehmen unter anderem Tschirbs 2005 und Robnik 2009 in den Blick.

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schaftliche Widerstandsforschung.57 Der 1994 von Gerd R. Ueberschär herausgegebene Sammelband »Der 20. Juli. Das ›andere Deutschland‹ in der Vergangenheitspolitik nach 1945«, der Beiträge zu ganz unterschiedlichen Zeiträumen, Institutionen, gesellschaftlichen Systemen, Personengruppen und Medien vereint, verdeutlicht exemplarisch diese Mehrdimensionalität der Rezeptionsgeschichte des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus.58 Die literarische Verarbeitung des Widerstands wurde bislang in solchen rezeptionsgeschichtlichen Sammelbänden völlig vernachlässigt.59 Die germanistische Literaturwissenschaft hat sich dagegen wiederholt der Frage zugewandt, wie der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus in literarischen Texten dargestellt wurde und wird. Noch bevor in den 1960er Jahren erste dezidiert literaturwissenschaftliche Arbeiten zur ›Widerstandsliteratur‹ erschienen, legten in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Journalisten Franz Ahrens und dem Theologen Friedrich Siegmund-Schultze zwei ›Nicht-Literaturwissenschaftler‹ Bibliographien zur ›Widerstandsliteratur‹ vor, die auch literarische Texte erfassten.60 Erklärtes 57 Ein frühes Beispiel für die Selbstreflexivität der Widerstandshistoriographie ist der 1965 von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Sammelband zu »Stand und Problematik der Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus«, der in der Reihe »Studien und Berichte aus dem Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung« publiziert wurde. Neben den Debatten um die Definition von Widerstand, die seit etwa Mitte der 1960er Jahre vermehrt geführt werden (vgl. Kap. 1.1), sei hier exemplarisch auf Arbeiten von Steinbach (unter anderem 1986, 1994), Müller/Mommsen 1990, von Klemperer 1995, Beck 1995, Altgeld 1996, Leugers 2002 und Kißener 2006 verwiesen. Neben einer historiographischen Selbstreflexion ist auch die Darstellung des Widerstands in Schulbüchern und der historisch-politischen Bildungsarbeit in den letzten Jahrzehnten wiederholt einer kritischen Prüfung unterzogen worden, zuerst im Sammelband von Weick 1967, dann unter anderem von Schüddekopf 1977, Schramm 1980, Markmann 1998 und Lange 2004 sowie nochmals in einem Sammelband von Ringshausen 1994. 58 Neben diesem 1998 als Paperback erneut publizierten und einem weiteren von Ueberschär herausgegebenen Sammelband (2002), der »Wahrnehmung und Wertung [des deutschen Widerstands; Anm. M. S.] in Europa und den USA« thematisiert, kann der 1994 von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Band »Das andere Deutschland. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Mythos und Vermächtnis«, dessen Beiträge im selben Jahr fast komplett auch im siebten Heft der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« (42. Jahrgang) erschienen, ebenfalls als Beispiel für den Versuch gelten, der Mehrdimensionalität der Widerstandsrezeptionsgeschichte gerecht zu werden. 59 Dies ändert sich 2016 mit der Publikation des von Nils Kleine und Christoph Studt herausgegebenen Tagungsbandes zur XXVII. Königswinterer Tagung der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. (»Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.« – Der Widerstand gegen das »Dritte Reich« in Öffentlichkeit und Forschung seit 1945). Unter dem Titel »Zwischen Rehabilitierung von Gemeinschaft und Emanzipation des Einzelnen« fasst mein Aufsatz dort am Beispiel ausgewählter literarischer Widerstandsrepräsentationen zentrale Ergebnisse dieser Dissertationsschrift zusammen. 60 Spezialbibliographien bieten in dem schon lange kaum noch zu überschauenden Forschungsfeld Orientierung. Neben den genannten Textsammlungen von Siegmund-Schultze

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Ziel beider Autoren ist es, die Bevölkerung im besetzten Deutschland über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufzuklären. Ahrens möchte mit seiner Arbeit der zukünftigen Forschung dienen, sie soll als »Hinweisquelle für Richter«61 fungieren und die überlebenden Widerstandskämpfer bei der Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen unterstützen. Eine weitere Zielgruppe sind pädagogisch tätige Menschen, die in seiner Bibliographie gezielt Hinweise auf Texte erhalten, die besonders zur »Erziehung der heutigen Jugend« im Sinne der »Taten schöpferischer Humanität«62 geeignet seien. Eine ähnliche Intention wird bei Siegmund-Schultze deutlich: Wonach wir ausschauen, ist ein aus dem gesamten Zeitgeschehen erwachsendes neues Erkennen und Streben der jungen Generation. Daß die Welle von Pessimismus und Skepsis, die notwendigerweise kommen mußte, durch eine innere Neugestaltung aus ewigen Kräften überwunden werde, ist unsere bisher noch wenig gestärkte Hoffnung. Zu einem solchen Neuwerden aber gehört die Anknüpfung an das Große, das getan worden ist. Der Freiheitskampf, der hunderttausenden der besten Deutschen das Leben kostete, muß in seiner Bedeutung für die Gestaltung der Zukunft erkannt werden. In der Vereinigung der Ideale von Freiheit und Frieden liegt die Rettung der Menschheit. Möge unser deutsches Volk in seiner schwersten Leidenszeit die innere Kraft finden, zu diesen Zielen hin neu Wege zu weisen!63

Hier zeigt sich der Versuch, an eine durch die Verbrechen des Nationalsozialismus vermeintlich nicht belastete Tradition, die bald in der Rede von einem ›anderen Deutschland‹ ihren gängigen Ausdruck findet, anzuknüpfen und somit den Zusammenbruch des bis Kriegsende gültigen Wertesystems zu kompensieren. Die Erinnerung an den Widerstand, die zu diesem frühen Zeitpunkt fast ausschließlich von Überlebenden oder Angehörigen ermordeter Widerstandskämpfer getragen wurde, fungiert als Mittel des moralischen Wiederaufbaus und

(1947) und Ahrens (1948) folgen mit Brüdigam 1959, Hochmuth 1973 und Büchel 1975 weitere bibliographische Bücher, die nicht nur historiographische Darstellungen des Widerstands, sondern neben »Fachliteratur« auch »Publizistik« (Büchel) erfassen. Aktuellere bibliographische Überblicke zur historiographischen Erforschung des Widerstands bieten beispielsweise Ruck (2000a: 584–662, 2000b: 1291–1304), Leugers (2002) und Roth (2004), dessen Zusammenstellung, die online frei zugänglich ist, unter den erfassten 1.600 Texten nicht nur weitere Bibliographien und Literaturberichte auflistet, sondern auch einige literarische Texte nennt. 61 Ahrens 1948: 5. 62 Ahrens 1948: 6. 63 Siegmund-Schultze 1947: 57. Diese Arbeit zeigt exemplarisch, dass es auch unter den Zensurbestimmungen der frühen Besatzungszeit möglich war, Arbeiten zum Widerstand in Deutschland zu publizieren. Der Literaturbericht Siegmund-Schultzes wurde im ReclamVerlag in Stuttgart 1947 »[v]eröffentlicht unter Zulassung Nr. US-W 1099 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung« (Siegmund-Schultze 1947: 2).

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wird in den ersten Nachkriegsjahren zum fraktionenübergreifenden Minimalkonsens der unmittelbaren Nachkriegszeit.64 Dieser Zusammenhalt der Angehörigen verschiedener Widerstandsgruppen zerbricht bereits vor den Gründungen der beiden deutschen Nachkriegsstaaten.65 Das Gedenken an den Widerstand, das ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend auch von Politiker/innen forciert wird, ist nun geprägt durch den Systemgegensatz der beiden deutschen Staaten. Dies zeigt sich auch in den ersten literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema, die in den 1960er Jahren in der Auslandsgermanistik und der DDR erschienen. John Kempers schrieb eine Dissertation mit dem Titel »Antinationalsozialistische Gestalten im deutschen Nachkriegsroman« (Syracuse 1960); Gerhard Meier wurde mit einer Untersuchung der »Gestaltung des antifaschistischen Widerstandskämpfers in deutschen Romanen nach 1945« (1966) in Potsdam promoviert. Kempers konzentriert sich auf die Analyse einzelner »antinationalsozialistischer« Figuren in »Zeitromane[n] politischen Inhalte[s]«66 und arbeitet deren Einstellung zum Nationalsozialismus heraus. Die untersuchten Romane stellen für ihn den Versuch ihrer Autor/innen dar, sich mit der Erfahrung der NSHerrschaft und dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen und dabei zu allgemeingültigen Schlussfolgerungen zu gelangen: Hinter diesen Romanen stehen deutlich die Fragen: wie konnte es 1933 dazu kommen […]? Wie konnte er [Hitler; Anm. M. S.] so lange an der Macht bleiben? Unsere Gestalten äußern sich zu diesen Fragen, die Autoren versuchen dabei durchwegs, sie Antworten finden zu lassen, die nicht nur für sie allein, sondern für das ganze Volk gelten sollen.67

Gerade in seinen Urteilen über Texte von DDR-Autoren wie Heinz Rein, Anna Seghers und Willi Bredel zeigt sich die Verstrickung Kempers in zeitgenössischen ideologischen Debatten, wenn er den »sozialistischen und kommunistischen Autoren«68 die Legitimation für Kritik am Nationalsozialismus abspricht: Hier wird das nationalsozialistische Deutschland oft indirekt, durch den Gegensatz zum kommunistischen Sowjetrußland gekennzeichnet […] Auf solche Weise wird zwar glaubhaft, daß diese Gestalten Gegner Hitlers sind, aber ihrer indirekten wie direkten Kritik des Nationalsozialismus fehlt jede Überzeugungskraft, weil der (nicht-kommunistische) Leser, dem der Autor ja deutlich seine kommunistische Einstellung hat merken lassen, diese Kritik auch gleich auf Sowjetrußland anwenden wird.69 64 65 66 67 68 69

Vgl. dazu auch Holler 1994: 65f. Vgl. Holler 1994: 66ff. Kempers 1960: 7. Kempers 1960: 215. Kempers 1960: 218. Kempers 1960: 218.

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Aber auch seine Präferenz von Romanen, die Figuren als »Gegner aus allgemeinen menschlichen Gründen« – so eine seiner vier bereits an Hand der Gliederung der Arbeit erkennbaren Kategorien – zeigen, zeugt von einer Nähe seiner Argumentation zum westdeutschen Widerstandsdiskurs der 1950er und frühen 1960er Jahre: Neben der Ausgrenzung des kommunistischen Widerstands ist in diesem Zeitraum die Tendenz zu beobachten, Widerstand als Ausdruck einer Gewissensentscheidung zu verstehen. Eine solche »Überbetonung des ethisch-moralischen Impulses«70 bringt die folgende Wertung von Kempers zum Ausdruck: Die Gestalten dieses Kapitels hinterlassen einen tieferen Eindruck als die Gegner aus militärischen, politischen und persönlichen Gründen. Obwohl auch ihre Gegnerschaft ohne direktes Resultat bleibt, so sind doch ihre Leiden und Qualen, weil auf einer ethisch höheren Stufe stehend, ergreifender und überzeugender.71

Gerhard Meier sieht ebenfalls die von ihm untersuchten Romane auf der »Suche nach Beantwortung der Kernfrage, wie es überhaupt zu einer faschistischen Diktatur kommen konnte«72. Er liest die von ihm untersuchten Texte durchweg als Ausdruck der politischen Einstellungen ihrer Autoren und unterscheidet – wie bereits die Gliederung seiner Arbeit verdeutlicht – zwischen »apologetischen«, »bürgerlich-kritischen« und »sozialistischen Romanen«. Die Textanalysen dienen ihm primär zu einer politischen Beweisführung für die Überlegenheit des kommunistischen Widerstands und des ostdeutschen Staates. Die Feststellung Johannes Tuchels, dass Widerstandsforschung in der DDR »immer auch als Teil der Parteigeschichtsschreibung, also der Darstellung der KPD- und SED-Aktivitäten verstanden«73 wurde, trifft auch in diesem Fall zu, wie besonders an Meiers Schlusswort deutlich wird: Am Ende unserer Untersuchung soll aber noch einmal auf das wichtigste Ergebnis mit Nachdruck hingewiesen werden. Bei all den bewußt von uns in den Vordergrund gerückten Gemeinsamkeiten mit bürgerlich-kritischen Autoren gelingt nur den sozialistischen Schriftstellern die richtige historische Einschätzung der antifaschistischen Widerstandskämpfer aus dem Proletariat. Sie hatten die größten Verdienste im Kampf gegen Hitler, und in unserer Gegenwart bilden sie und die durch sie Erzogenen die Gewähr für ein glückliches sozialistisches Leben in Frieden und in Freundschaft mit allen Menschen aller Völker.74 70 71 72 73 74

Ueberschär 1998: 126. Vgl. auch Eckel 2003: 159. Kempers 1960: 212. Meier 1966: 13. Tuchel 2005: 16. Meier 1966: 265. Entsprechende Tendenzen zeigen sich besonders deutlich auch in einem einseitigen Diskussionsbeitrag von Karl-Heinz Jespers, der 1959/1960 unter dem Titel »Die westdeutsche Belletristik über den antifaschistischen Widerstandskampf« in einem Sonderheft (»Die Gestalt des antifaschistischen Widerstandskämpfers in der Literatur«) der

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Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass gerade die ältere Forschungsliteratur nicht unabhängig von zeitgenössischen politischen und insbesondere erinnerungskulturellen Kontexten zu bewerten ist. Der Grund hierfür ist vor allem in den normativen Setzungen zu sehen, die in den Untersuchungen vorgenommen werden. Mindestens implizit liegt ihnen jeweils die Vorstellung vom ›richtigen‹ Widerstand zu Grunde; die literarischen Texte werden daraufhin überprüft, inwieweit sie Widerstand historisch korrekt – im Sinne Kempers beziehungsweise Meiers – darstellen. Die Urteile über die literarischen Texte sind oftmals nicht zu unterscheiden von Werturteilen, die sich auf den historischen Widerstand beziehen. Eine Möglichkeit, sich dieser Problematik zu entziehen, besteht darin, ›Widerstandsliteratur‹ unter stärker gattungstheoretischen Fragestellungen zu betrachten, wie dies Heinz Geiger tut. 1973 wurde seine Abhandlung zum Komplex »Widerstand und Mitschuld« im deutschen Drama »von Brecht bis Weiss« publiziert, in der er motiv- beziehungsweise stoffgeschichtliche mit gattungstheoretischen Fragestellungen verbindet. Es geht Geiger darum, exemplarisch an einzelnen Texten den »wechselseitigen Bezug von zeitgeschichtlichem Stoff und dramatischer Struktur«75 aufzuzeigen. Im Vordergrund steht dabei die Entwicklung der deutschen Dramatik im 20. Jahrhundert, wobei »Stücke über den Widerstand gegen Hitler, speziell über den 20. Juli 1944«76 nur in einem seiner insgesamt vier stofflich-thematisch orientierten Analysekapitel im Zentrum stehen. Ähnlich wie Geiger konzentrieren sich auch Ian C. Loram (1960) und Susanne M. Wagner (2006) auf die Darstellung von Widerstand im deutschsprachigen Drama.77 Loram stellt in seinem kurzen Aufsatz acht verschiedene ›Wider»Wissenschaftliche[n] Zeitschrift der Universität Rostock« publiziert wurde, sowie in der später veröffentlichten Dissertation Rushdi Talib Rushdis über frühe literarische Widerstandsdarstellungen des deutschsprachigen Exils. Hier proklamiert der Autor dezidiert den Nutzen der von ihm analysierten Romane für die »Gegenwart, die geprägt ist von härtesten politischen Kämpfen«, bevor anschließend einleitend »der amerikanische und britische Imperialismus, seit der Jahrhundertwende ein Verbündeter des Zionismus« (Rushdi 1985: IV), und dessen Israelpolitik zur Zielscheibe seiner Kritik werden. 75 Geiger 1973: 9. 76 Geiger 1973: 10. 77 Auch Gene A. Plunka konzentriert sich in seiner 2012 publizierten Studie »Staging Holocaust Resistance« auf dramatische Texte. Seine Aufmerksamkeit gilt vor allem englischsprachigen Dramen, die verschiedene Formen des sogenannten Rettungswiderstands innerhalb Deutschlands oder in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten darstellen. Einzig mit Carl Zuckmayers »Des Teufels General« wird auch ein deutschsprachiges Stück zum Mittelpunkt eines Analysekapitels (vgl. Plunka 2012: 25–43). Dabei dominiert – ähnlich wie auch in den Analysen von Susanne M. Wagner (2006) – ein nacherzählender Duktus; es geht nicht zuletzt um eine Überprüfung der (vermeintlichen) historischen Korrektheit der Darstellung. So heißt es beispielsweise über Oderbruch, dass er »does not represent the true spirit of German resistance to the Nazis«, während »[i]n contrast to Oderbruch, Harras

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standsdramen‹ – darunter, neben Texten von Ferdinand Bruckner und Friedrich Wolf, Carl Zuckmayers »Des Teufels General«, Günther Weisenborns »Die Illegalen« und Peter Lotars »Das Bild des Menschen« – vor und unterscheidet vergleichend zwischen Stücken, »we are presented with the conflict within the individuals or a group of individuals«, und solchen, die den »active, external conflict«78 fokussierten. Wagner widmet sich in ihrer umfangreichen Dissertation der Darstellung des »20. Juli 1944 auf der Bühne« aus verschiedenen Perspektiven. So heißt es im Abstract: Bei der Analyse […] interessiert die Repräsentation des historischen Stoffes und dessen Rezeption durch das westdeutsche Nachkriegspublikum. Die folgende Arbeit stellt diverse Stufen und Methoden der Bearbeitung, Darbietung und Manipulation historischer Ereignisse in literarisch-szenischer Form gegenüber. Gleichzeitig werden die Juli-Dramen in den Kontext des in Deutschland beliebten Geschichtsdramas eingeordnet. Das verbindende Element des klassischen historischen Dramas mit den vorliegenden Doku-Dramen ist die historische Thematik, die in beiden Fällen durch das Spiel mit der Weltgeschichte gekennzeichnet ist. Die sieben Dramen, aus deren Rezeption sich gesellschafts-politische Entwicklungen der frühen Nachkriegszeit erkennen lassen, werden im sozio-politischen und historischen Kontext als Beitrag zur kulturellen Erinnerung des deutschen Widerstands gegen Hitler diskutiert.79

Wagners Interesse ist »sowohl ein historisches als auch ein literarisches«, weshalb die Arbeit mit einer umfangreichen Auseinandersetzung (66 Seiten) mit »Naturrecht und Widerstandsrecht«, mit verschiedenen Widerstandsdefinitionen und der Zeitabhängigkeit des Widerstandsbegriffes sowie mit einem Nachdenken über die »Widerstandsmotivation der nationalkonservativen Eliten« einsetzt. Darauf folgt eine kürzere Reflexion verschiedener geschichtsdramatischer Genres wie dem Dokumentardrama oder dem Zeitstück, bevor Wagner im dritten Teil ihrer Arbeit in sieben Einzeltextanalysen Autoren, Dramen und deren feuilletonistische Rezeption vorstellt respektive analysiert. Wie bereits die einleitend formulierten vielfältigen eigenen Ansprüche vermuten lassen, ist ein stringenter argumentativer Fokus nicht vorhanden; die Analysen, die zwar durchaus wertvolle Informationen zu Autorenbiographien, Publikationsgeschichten und Hinweise zu in den Dramen verwendeten historischen Quellen bieten,80 gelangen oft nicht über Nacherzählungen der Handlung seems to personify the mentality shared by the resisters of the 1944 assassination attempt on Hitler« (beide Zitate Plunka 2012: 41). 78 Loram 1960: 13. 79 Wagner 2006: viii f. 80 So dekonstruiert Wagner beispielsweise reflektiert das Selbstbild Walter Erich Schäfers, der sich in seiner Autobiographie »Bühne eines Lebens« (1975) als persona non grata des ›Dritten Reichs‹ inszeniert, indem sie es mit gegenteiligem Quellenmaterial kontrastiert (vgl. Wagner 2006: 142–151). Außerdem macht sie in ihren Textanalysen wiederholt auf die Orientierung konkreter Textpassagen an überliefertem Quellenmaterial zur Geschichte des

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hinaus;81 die angekündigten Rezeptionsanalysen erfolgen nur zum SchäferDrama »Die Verschwörung« (1949) systematisch, während ein Blick auf die feuilletonistische Wahrnehmung der Dramen in den anderen Kapiteln – in die Textanalysen integriert – zum Teil eher nacherzählend, zum Teil gänzlich ausbleibt.82 Überwiegt in den bis dato vorliegenden Arbeiten die Konzentration auf jeweils eine literarische Gattung – sei es Roman oder Drama83 –, so wird mit einem Aufsatz von Karl Prümm (1977) erstmals ein gattungsübergreifender Überblick über die historische Entwicklung der deutschsprachigen literarischen Widerstandsdarstellungen geboten. Prümm konstatiert für die literarischen Widerstandserinnerungen der Bundesrepublik eine Dominanz des 20. Juli 1944, die erst durch die zum damaligen Zeitpunkt jüngst erschienenen Romane von Franz Josef Degenhardt und Peter Weiss zum kommunistischen Widerstand gebrochen werde.84 Er stellt dieser westdeutschen Entwicklung die ›Widerstandsliteratur‹ von DDR-Autor/innen wie Anna Seghers und Stephan Hermlin gegenüber, deren Darstellung eines kollektiven antifaschistischen Widerstands – im Gegensatz auch zur »Bevorzugung des Kolportagehaften und Personalistischen«85 bei Alfred Neumann (»Es waren ihrer sechs«) und Hans Fallada – seine, wenn auch nicht unkritische, Wertschätzung gilt.86 Mit ihren »Überlegungen zu aktuellen literarischen Formaten der Geschichtsdarstellung am Beispiel von Filmen und Texten über den 20. Juli 1944« setzt Cornelia Blasberg (2014) diese literaturhistorische Perspektive fort, erweitert sie aber stärker um gattungs- und erinnerungskulturtheoretische Überlegungen. Sie fokussiert in ihrem Aufsatz primär literarische Darstellungen des 20. Juli 1944, die seit der Jahrtausendwende publiziert worden sind, während sie die bis dato erschienenen ›Stauffenberg‹-Dramen als ästhetisch wenig überzeugend marginalisiert:

81 82 83 84 85 86

Widerstands aufmerksam, so zum Beispiel, wenn sie auf intertextuelle Bezüge der Dramen von Schäfer und Lotar auf Briefe des verhafteten James Graf von Moltke hinweist (vgl. Wagner 2006: 163f. und 195ff.). Gravierend vor allem zu Karl Michels »Stauffenberg« (1947): Die Darstellung orientiert sich über dreißig Seiten ausschließlich an der Chronologie der Dramenhandlung beziehungsweise der im Drama präsentierten Szenenfolge (vgl. Wagner 2006: 107–141). Rezeptionsanalysen fehlen zu den Dramen von Peter Lotar, Walter Löwen und Wolfgang Graetz, wobei zu letzterem die komplexe Publikations- und Aufführungsgeschichte kenntnisreich dargestellt wird. Die Überlegungen von Kempers (1960), Meier (1966) und Jespers (1959/1960) beziehen sich ausschließlich auf Romane, während Loram (1960) und Geiger (1973) sich auf Dramentexte konzentrieren. Vgl. Prümm: 1977: 53 und 58. Prümm 1977: 47. Vgl. Prümm 1977: 47–53.

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Obwohl die Gattung Drama durchaus geeignet gewesen wäre, die tiefgründigen Ambivalenzen aufzuspüren, die nicht nur in den Motiven und Handlungen der Attentäter lagen und durch Befehlsstrukturen und Kommunikationsformen gegeben waren, sondern die auch im fatalen Scheitern aller Attentate auf Hitler seit 1938 sichtbar wurden – als Kontingenz, Verhängnis, Versagen – wurde durch die genannten Stücke keine fortführungswerte literarische Tradition begründet.87

Ausgehend von einer Reflexion der »Gründe für die Abstinenz der Literatur gegenüber dem Widerstand der Offiziere bis in die 1990er Jahre« konstatiert Cornelia Blasberg »ein neues Interesse am Thema in der Literatur nach 2000«88, das sie mit einem verstärkt europäischen Bezugsrahmen kollektiven Erinnerns,89 aber vor allem mit der »sich durch die neuen Medien rapide verändernde[n] Geschichtskultur«90 erklärt. Die zunehmend digitalisierte und globalisierte Geschichtskultur vereine einen »nie vorher dagewesenen Realismus der Bilder […] mit dem Bewusstsein ihrer Simuliertheit«91 und begünstige somit zwei Genres, die der aktuell grundsätzlich zu beobachtenden Tendenz zum subjektivierten und zugleich fiktionalisierten Zugang zu den Themen Nationalsozialismus, Holocaust und Weltkrieg entsprächen: »die genealogische Erzählung, die das Erbe des Gedächtnis- und Generationendiskurses diskutiert, und den kontrafaktischen Geschichtsroman«92 (vgl. dazu auch Kap. 7.3). Ein Aufsatz von Rudi Baier u. a. zu »Widerstand und Literatur« (1977) stellt die erste dezidiert rezeptionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit literarischen Widerstandsrepräsentationen dar. Indem Baier u. a. ausgehend von der »Intention des behandelten Buches bzw. Stückes […] die Lehren, die die einzelnen Rezensenten aus dieser Intention zogen«,93 in den Blick nehmen, hoffen sie in erster Linie »einige mögliche Tendenzen und Haltungen« der Rezensionsorgane aufzuzeigen und damit »bestimmte Einschätzungen des Standortes der Zeitschriften und damit der literarischen Intelligenz der Nachkriegszeit zu bestätigen und auszuweiten oder auch zu korrigieren.«94 Basierend auf einer zusammenfassenden Darstellung von Rezensionen zu den acht berücksichtigten literarischen Werken über den Widerstand konstatieren die Autor/innen, dass sich die Rezensenten über die Notwendigkeit der »Verbreitung und Popularisierung von Literatur über Kampf und Leiden grundsätzlich«95 einig seien und sie ästhetische Kritik zu Gunsten des erzieherischen Impetus der besprochenen 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Blasberg 2014: 52f. Beide Zitate Blasberg 2014: 52. Vgl. Blasberg 2014: 55. Blasberg 2014: 56. Blasberg 2014: 57. Blasberg 2014: 58. Baier u. a. 1977: 37. Beide Zitate Baier u. a. 1977: 55. Baier u. a. 1977: 56.

›Widerstandsliteratur‹ im Blick der Forschung

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Texte oft zurückstellen. Zwar seien vereinzelt Forderungen nach eingehenderer Analyse des Nationalsozialismus durch die literarischen Texte zu vernehmen, aber in einem Großteil der Rezensionen selbst zeige sich die »Tendenz, Widerstand als Tragisches zu begreifen«96, und statt Ursachenforschung zu betreiben, das Thema Widerstand als Anlass zur Reflexion einer individuellen Problematik von Schuld und Mitläufertum zu beleuchten. Entsprechend vermeide ein Großteil der Rezensenten klare politische Festlegungen; eine Tendenz, die Baier u. a. kritisch beurteilen: Relativierung aller Werte und gleichzeitig unklare Bestimmung neuer bzw. alter Begriffe (wie Kultur, Geist, Toleranz) geben nur ein schmales Fundament ab, von dem aus sich Wertungen vornehmen lassen.97

Wie Baier u. a. widmet sich auch Ursula Heukenkamp (1996) der Rezeption der Widerstandsliteratur, wobei ihr funktionsgeschichtlich argumentierender Beitrag, der sich dezidiert auf das literarische Feld Berlins bis zur doppelten Staatsgründung beschränkt, zumindest in Ansätzen über die an den einzelnen Akteuren und Rezensionen orientierten Darstellungen von Baier u. a., aber auch von Wagner (2006) hinausgeht. Ausgehend von einer Beschreibung zentraler Argumentationen der Schulddebatte der ersten drei Nachkriegsjahre, als deren Protagonistin sie Ricarda Huch verortet, fokussiert Heukenkamp zunächst die »Literatur aus dem Widerstand«98, also von Autor/innen, die in irgendeiner Form als Gegner des Nationalsozialismus gelten konnten, bevor sie dann ostund westdeutsche ›Widerstandsliteratur‹ und deren Rezeption im Lichte literatur- und gesellschaftspolitischer Entwicklungen diskutiert. Sie konstatiert – ähnlich wie Baier u. a. – eine primär moralische Interpretation der Texte, eine zunehmende Instrumentalisierung in der politischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West sowie – am Beispiel der feuilletonistischen Auseinandersetzung mit dem »Illegalen«-Drama Weisenborns – die Vernachlässigung ästhetischer, darstellerischer Fragen zu Gunsten erzieherischer Aspekte.99 Mit ihrer Arbeit »Resistance in Women’s Literature of World War II« (2004) hat L. Leigh Westerfield die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Widerstandsrepräsentationen um eine gendertheoretische Perspektive erweitert. Sie vergleicht Texte französischer (u. a. Simone de Beauvoir, Marguarite Duras und Edith Thomas) und deutscher Autorinnen (Ruth Andreas-Friedrich, Irmgard Keun, Elisabeth Langgässer und Anna Seghers), wobei sie weniger nationale Unterschiede beobachtet, sondern die untersuchten Texte in Ansätzen 96 97 98 99

Baier u. a. 1977: 57. Baier u. a. 1977: 58. Heukenkamp 1996: 281. Vgl. Heukenkamp 1996: 301.

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mit denen männlicher Schriftstellerkollegen beziehungsweise Widerstandskämpfer kontrastiert: Women’s narratives delve into the resistance experience to expose the sorrow, the hurt, and the terror that informed illegal work. Writers put a human face on Anti-Nazi activity by replacing the dispassionated political rhetoric and the catchwords of resistance with a close attention to the pain, grief, fear, and other feelings that pervaded the day-to-day existance of individuals involved in these movements. Offical resistance discourses that emphazises patriotism or national goals or cherished ideals have distanced readers from the ways in which involvement in the underground had an effect on an individual’s psychological and emotional state. The private dimensions of war and subversive activity have been omitted from the assumption that a soldier or a partisan was waging a battle for a just and noble cause.100

Da bei Westerfield das Textkorpus weitestgehend aus Erzähltexten, die vor 1945 entstanden sind, besteht, sind ihre Überlegungen nicht unmittelbar relevant für die Analysen dieser Arbeit. Ihre Feststellung, dass Frauen, gemäß traditionellen Rollenbildern, sich selbst eher in alltäglichen Resistenzhandlungen als »caretakers« denn in politischen Aktionen schildern, kann aber erklären, weshalb das meinen Analysen zu Grunde liegende Korpus ausschließlich Texte männlicher Autoren umfasst. Zusammengefasst: Der Großteil vor allem der älteren Forschung (Ahrens, Siegmund-Schultze, Kempers, Meier und 1985 Rushdi Talib Rushdi mit seiner Dissertation zu literarischen ›Widerstandstexten‹ des frühen Exils 1933–1935) stellt das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse hinter gesellschaftspolitische Ziele zurück, ist eng mit den ideologischen Dispositionen des Kalten Krieges verknüpft und/oder koppelt die literarischen Darstellungen eng an die Autor/innenbiographien. Weitere Untersuchungen, vor allem seit den 1970er Jahren, fokussieren dramentheoretische Überlegungen, wie in erster Linie Heinz Geiger, Ian C. Loram und in Ansätzen Susanne M. Wagner, oder verfolgen rezeptionsgeschichtliche Ansätze wie Baier u. a., Heukenkamp oder, ebenfalls in Ansätzen, Wagner. Neben dem gendertheoretischen Ansatz Westerfields artikuliert sich zudem mit den Aufsätzen von Prümm und Blasberg eine dezidiert literaturhistorische Perspektive, wobei Blasberg erste Vorschläge zu einer kulturhistorischen Verortung von ›Widerstandsliteratur‹ bietet. Eine kulturhistorische Perspektive strebt auch meine Arbeit an. Mit der Deutung des literarischen Erzählens vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft bietet sie erstmals einen Zugriff auf die westdeutsche ›Widerstandsliteratur‹ an, der eine Zusammenschau von auf den ersten Blick sehr heterogenen Texten (vgl. dazu Kap. 1.2.2) plausibilisiert. Basis hierfür ist zum einen die Orientierung an dem bereits skizzierten integrativen Widerstands100 Westerfield 2004: 183.

›Widerstandsliteratur‹ im Blick der Forschung

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konzept (vgl. Kap. 1.1): Statt einer Beschränkung auf bestimmte Formen oder Trägergruppen, wie sie beispielsweise in der Fokussierung des StauffenbergAttentates bei Wagner und Blasberg zu beobachten ist, wird so nicht nur die Tradierung politisch-ideologischer Selektionen des Kalten Krieges vermieden, sondern zudem der Tatsache Rechnung getragen, dass sich insbesondere seit den 1970er Jahren auch im bundesrepublikanischen Diskurs eine Perspektive auf Widerstand etabliert, die die Bekämpfung des Nationalsozialismus durch Akteure ganz unterschiedlicher politischer und sozialer Gruppen berücksichtigt. Zum anderen zielt das in Kapitel 1.1 explizierte Verständnis von Widerstand als Handeln, das auf eine Schwächung oder Beendigung der NS-Herrschaft gerichtet ist, auf eine plausible Zusammenstellung und Begrenzung des den Analysen zu Grunde liegenden Textkorpus: Erst der erinnernde Bezug auf widerständige Handlungen eröffnet das einleitend mit Jan Eckel beschriebene besondere Potenzial des Themas »Widerstand« in den westdeutschen Erinnerungsdiskursen, das sich durch die Möglichkeit einer klaren Abgrenzung vom Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Stiftung von positiv konnotierter Kontinuität auszeichnet. Entsprechend wird in dieser Arbeit erstens die unreflektierte Gleichsetzung von Verfolgten mit Widerstandskämpfern, von Holocaust und KZ-Erfahrung mit Widerstand, die in den frühen Bibliographien von Ahrens und Siegmund-Schultze zu beobachten ist, verhindert. Außerdem erhält das Korpus dadurch eine klare Kontur, dass zweitens – anders als vor allem bei Kempers und Geiger – Texte, die ausschließlich das »Phänomen des allgemeinen Versagens und Mitläufertums«101 in den Blick nehmen oder Figuren ins Zentrum stellen, die trotz vermeintlicher Gegnerschaft gegen die NS-Herrschaft passiv bleiben,102 nicht berücksichtigt werden. Der Fokus meiner Arbeit richtet sich vor allem auf eine Rekonstruktion der ›widerstandsliterarischen‹ Sinnangebote, die deren Historizität berücksichtigt (vgl. Kap. 2.4). Statt einer Nacherzählung der dargestellten Handlungen und ihrem bewertenden Abgleich mit einer vermeintlichen historischen Realität, wie er vor allem in vielen der genannten älteren Publikationen,103 aber durchaus auch noch in der Dissertation Susanne M. Wagners zu finden ist,104 gilt die 101 Geiger 1973: 36. 102 Vgl. Kempers 1960: 221. 103 John Kempers Analysen zum Beispiel zielen – wie er einleitend expliziert – »auf die Gedanken dieser Gestalten in Bezug auf den Nationalsozialismus wie auch auf die Handlungen, die durch diese Gedanken veranlaßt werden« (Kempers 1960: 6). Entsprechend dominiert in seiner Auseinandersetzung mit den literarischen Texten ein nacherzählender Duktus und die Fokussierung auf die histoire, während den Darstellungsstrukturen, dem discours, kaum Aufmerksamkeit gewidmet wird. 104 Wagner kritisiert beispielsweise Walter Erich Schäfers Drama »Die Verschwörung« (1949), weil es Gefahr laufe, »statt ›sachlicher Hinweise‹ auf die Ereignisse des 20. Juli zu geben, in die Geschichtsklitterung abzurutschen« (Wagner 2006: 161). Wolfgang Graetz attestiert sie

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Einleitung

Aufmerksamkeit der narratologisch fundierten Analysen den spezifischen Verfahren, mit denen die literarischen Texte Vorstellungen von Gemeinschaft entwerfen und das Verhältnis von Individuum und Kollektiv verhandeln. Dabei geht es nicht um die Begründung ästhetischer Qualitäts- beziehungsweise Geschmacksurteile, wie sie oft insbesondere die gattungstheoretisch fundierten Auseinandersetzungen mit den Dramatisierungen des 20. Juli 1944 begleiten,105 sondern darum, das ›widerstandsliterarische‹ Erzählen von Gemeinschaft in seinen verschiedenen Ausprägungen zu beschreiben. Ausgehend von kulturtheoretischen Überlegungen zu »imagined communities« (vgl. Kap. 2) werden so drei unterschiedliche Typen der literarischen Imagination und Reflexion von Gemeinschaft sowie deren erkennbare Bezüge zu zentralen, die westdeutsche Öffentlichkeit der ersten vierzig Nachkriegsjahre prägenden Diskursen herausgestellt (vgl. Kap. 3–5). Die Ordnung der verschiedenen literarischen Widerstandsrepräsentationen zu der in den Kapiteln 3 bis 5 entwickelten Typologie gründet auf Interpretationen der Texte, die deren gemeinschaftsimaginierende und -reflektierende Strukturen betonen. Inwieweit diese Lesart auch für das jeweils zeitgenössische Lesepublikum Relevanz oder Gültigkeit besaß und inwieweit beziehungsweise wie sich die möglicherweise dominanten Lesarten im Laufe der Zeit wandelten,106 kann meine Arbeit – nicht zuletzt auf Grund der immensen methodischen Herausforderungen einer diskursanalytisch orientierten Kontextualisierung von Texten (vgl. Kap. 7.2) – nicht abschließend beantworten. Allerdings kann sie unter anderem durch die Berücksichtigung existierender Forschungen zu den »Quellenmanipulation«, wenn er »zur Charakterisierung seiner Stauffenberg-Figur Claus Stauffenberg eine Aussage seines Bruders Berthold in den Mund legt, die dieser wahrscheinlich als Schutzbehauptung vor der Gestapo machte« (beide Zitate Wagner 2006: 247). Über das ›Juli-Drama‹ von Hans Hellmut Kirst (1966) schließlich urteilt sie: »Das Produkt ist keine Dramatisierung, sondern eine schlecht konzipierte, Fakten aneinanderreihende Geschichtsvorlesung, die Wesentliches ausläßt« (Wagner 2006: 304). 105 So konstatiert beispielsweise Heinz Geiger das »Fehlen eines überzeugenden Dramas über die deutsche Widerstandsbewegung und den 20. Juli 1944« und führt dies unter anderem darauf zurück, dass für die »bedeutenderen Nachkriegsdramatiker das Interesse an der Darstellung des deutschen Widerstands hinter der dramatischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des allgemeinen Versagens und Mitläufertums« (beide Zitate Geiger 1973: 36) zurücktrat. Ähnlich behauptet auch Susanne M. Wagner, »daß es nur wenige und zumeist schlechte Dramen zum 20. Juli gibt […]. Auch wenn die Bevölkerung an der JuliVerschwörung interessiert ist, scheint dies bei denen, die literarisch die Fähigkeit gehabt hätten, nicht der Fall zu sein. Dürrenmatt, Frisch, Peter Weiss, Hochmuth, Heiner Müller, Brecht: alles Kandidaten, denen man eine Verarbeitung dieses Themas zutrauen würde, denen es aber nicht ins Konzept paßte« (Wagner 2006: 368; vgl. insbesondere auch Wagner 2006: 379). »[K]eines dieser Dramen konnte ästhetisch überzeugen« (Blasberg 2014: 52), urteilt schließlich Cornelia Blasberg über die frühen Dramen zum Stauffenberg-Attentat und schätzt ähnlich auch die Dramatisierungen des 20. Juli 1944 aus den 1960er Jahren ein. 106 Vgl. Sommer 2000: 331.

›Widerstandsliteratur‹ im Blick der Forschung

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eingangs dieses Kapitels skizzierten verschiedenen Dimensionen der Rezeptionsgeschichte des Widerstands Hypothesen zur Partizipation literarischer Texte an erinnerungskulturellen Konjunkturen formulieren. Sie macht somit die Privilegierung bestimmter Lesarten auch durch zeitgenössische Rezipienten – mithin Annahmen zum identifikatorischen Potenzial bestimmter literarischer Gemeinschaftsentwürfe – im Zuge ihrer Analysen plausibel. Dadurch geht sie über die vorhandenen Arbeiten (Baier u. a. und Wagner) zur Wahrnehmung der Widerstandsliteratur im Feuilleton und die damit einhergehende Konzentration auf professionelle Rezeptionsakte, die durchaus einzelne wertvolle Hinweise für die Analysen dieser Arbeit geben, hinaus beziehungsweise eröffnet Perspektiven für eine Fortführung komplexerer wirkungsgeschichtlicher Ansätze (Heukenkamp).

2

Literarische Imaginationen und Reflexionen von Gemeinschaften – Prämissen und Perspektiven

Lutz Niethammer kritisiert in seiner im Jahr 2000 publizierten umfangreichen Monographie zur Geschichte des Begriffs »kollektive Identität« dessen Verwendung als »Plastikwort[ ]«107. Er orientiert sich dabei an den Ausführungen des Mediävisten Uwe Pörksen (1988) zu »Plastikwörter[n]« als »konnotative[n] Stereotype[n]«, deren »Hitliste«108 von dem Begriff »Identität« angeführt werde.109 Als eines der »Plastikwörter« zeichne sich dieser Begriff nach Niethammer unter anderem dadurch aus, dass er ein »Allerweltswort für jedweden Kontext geworden«110 sei und dass durch seinen Gebrauch die Gegebenheit von kollektiver Identität als anthropologische Konstante proklamiert werde.111 Außerdem verberge der Begriff die »Unbestimmbarkeit der Sache unter dem Anschein wissenschaftlicher Bestimmtheit« und entziehe somit »ihre Wertimplikationen der Diskussion«112. Diese Kritik Niethammers richtet sich – wie seine einleitenden Beispiele zeigen113 – gegen Verwendungsweisen des Begriffs »kollektive Identität«, wie sie dem von Jürgen Straub skizzierten »normierenden […] Typus« zuzuordnen sind: Stereotype und normierende Konstruktionen kollektiver Identität finden sich insbesondere dort, wo die Kollektive groß und unüberschaubar werden – anonyme Großgruppen wie »Geschlechter«, »Klassen« oder »Nationen« sind berüchtigte Beispiele. […] Derartige ideologische Konstrukte propagieren oftmals Pseudo-Identitäten für Pseudo-Kollektive. Charakteristika echter Wir-Gruppen werden in solchen Fällen lediglich unterstellt, beschworen und instrumentalisiert.114 107 108 109 110 111 112 113 114

Niethammer 2000: 33. Niethammer 2000: 33. Vgl. Niethammer 2000: 33. Niethammer 2000: 34f. Vgl. Niethammer 2000: 36f. Niethammer 2000: 37. Vgl. Niethammer 2000: 12–28. Beide Zitate Straub 1998: 100. Auch Gerhard Lüdekers verweist – ähnlich argumentierend – in seiner Dissertationsschrift »Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalso-

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Prämissen und Perspektiven

Diese »bloß ideologisch-manipulativen oder normierenden Konstruktionen kollektiver Identitäten«115 entlarvt auch Straub in seinem Aufsatz über »[p]ersonale und kollektive Identität«116 – ähnlich wie Niethammer – als »Ideologeme einer Praxis und Politik […], die zum Zwecke der Manipulation von Menschen von der Differenz ihrer Erfahrungen absieht und auf deren gewaltförmige Homogenisierung setzt«117. Diese Arbeit teilt die Auffassung Straubs, dass normierende und stereotype Zuschreibungen kollektiver Identität insbesondere in wissenschaftlichen Kontexten problematisch sind.118 Dennoch beschäftigt sie sich mit einem Thema – der Imagination von Gemeinschaften in literarischen Widerstandsrepräsentationen –, das eine theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen »Kollektiv/Gemeinschaft«119 und »(kollektive) Identität« sowie ihrer Relation unumgänglich macht. Ausgehend von der Kritik Niethammers und Straubs an der Verwendung des Begriffs »kollektive Identität«, die ich nachfolgend noch vertiefen werde, werden in dieser Arbeit »kollektive Identität« und »Kollektiv/Gemeinschaft« allerdings keinesfalls als Synonyme verwendet (vgl. Kap. 2.1). Zudem werden Gemeinschaften hier eben nicht als quasi-natürliche Entitäten verstanden, die als handlungsfähige Kollektive, bestehend aus ›gleichen‹ Menschen oder womöglich ausgestattet mit einer wie auch immer gearteten ›Kollektiv-Seele‹, zu treibenden geschichtsmächtigen Subjekten werden, deren Charakteristika dann zu untersuchen wären. Statt entsprechende nationale oder politisch-soziale Gemeinschaften zu behaupten beziehungsweise zu charakterisieren, werden gerade die von Straub kritisierten normierenden Entwürfe gesellschaftlicher Großgruppen und kollektiver Identitäten, wie sie in den ›widerstandsliterarischen‹ Texten präsent sind, in den Blick genommen, ihr Konstruktcharakter aufgedeckt und sie somit entnaturalisiert. Dabei geraten insbesondere solche literarischen Verfahren in den Blick, die zur Imagination von Gemeinschaften beitragen, Entwürfe von Gemeinschaften wertend gegenüber stellen und möglicherweise auch deren Reflexion leisten. Ein zentraler Aspekt wird dabei zudem das in den literarischen Texten inszenierte Verhältnis zwi-

115 116 117

118 119

zialismus, DDR und Wiedervereinigung im Deutschen Spielfilm nach 1989« auf die Gemeinsamkeiten der Begriffskritik bei Niethammer und Straub (vgl. Lüdeker 2012: 20f.). Straub 1998: 104. Straub 1998: 73. Straub 1998: 104. Straub setzt sich in diesem Aufsatz explizit zustimmend mit Niethammers Überlegungen zum Begriff »kollektive Identität« auseinander, die dieser Mitte der 1990er Jahre vor der Veröffentlichung der bereits genannten umfangreichen Monographie artikuliert hat (vgl. Straub 1998: 100f), öffnet im Gegensatz zu dem Historiker aber – wie noch erläutert wird – den Blick für das analytische Potenzial, das dieser Begriff trotz aller berechtigter Kritik bietet. Vgl. Straub 1998: 101f. Die Begriffe »Gemeinschaft«, »Kollektiv« und »(gesellschaftliche) Großgruppe« werden dabei in dieser Arbeit synonym verwendet.

Imaginationen von Gemeinschaft

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schen Individuum und Gemeinschaft sein, das nicht zuletzt unter dem Stichwort »kollektive Identität« in den Blick gerät. Zur theoretischen Fundierung der analytischen Auseinandersetzung mit den literarischen Texten wird im Folgenden zunächst das Verständnis vom Verhältnis zwischen semiotischen Gemeinschaftsentwürfen, personaler Identität und kollektiven Identitäten beziehungsweise Identifikationen erläutert, wie es dieser Arbeit zu Grunde liegt (Kap. 2.1). In einem zweiten Schritt gilt der Blick dann den bedeutungskonstituierenden Verfahren von semiotischen Gemeinschaftsimaginationen (Kap. 2.2), bevor in einem dritten Schritt das spezifisch literarische Potenzial der Imagination und Reflexion von Gemeinschaften reflektiert wird (Kap. 2.3).

2.1

Imaginationen von Gemeinschaft – Zum Zusammenhang von semiotischen Kollektiv-Entwürfen und Identifikationen des Einzelnen

Lars Gertenbach und seine Mitautoren unterscheiden in ihrer 2010 publizierten Einführung »Theorien der Gemeinschaft« drei verschiedene Konzepte von Gemeinschaft: Sie sprechen erstens von einem »alltäglichen Verständnis«, das auf pragmatische Zusammenschlüsse von Gruppen referiert, identifizieren zweitens einen »politisch-normativen Begriff von Gemeinschaft, der immer dann benutzt wird, wenn eine solche Gruppe als identitätsrelevant verstanden wird«, und sehen »Gemeinschaft« drittens als »analytische Kategorie«, mit der in den Sozialwissenschaften »eine spezifische Form der Vergesellschaftung gemeint ist, welche Solidarität stiftet, auf einem gemeinsamen Normenhorizont basiert und häufig von Affekten begleitet wird.«120 Der Blick dieser Arbeit richtet sich auf die von Gertenbach u. a. an zweiter Stelle genannten, als identitätsrelevant dargestellten Gemeinschaften und darauf, wie diese in den widerstandsliterarischen Texten entworfen werden: Denn im Gegensatz zu einer bloßen Menschenansammlung benötigt eine Gemeinschaft ebenfalls eine Vorstellung davon, wer oder was bzw. überhaupt dass sie ist. Zu den genannten Aspekten tritt daher ein zumindest impliziter Selbstentwurf.121

120 Alle vier Zitate Gertenbach u. a. 2010: 175. 121 Gertenbach u. a. 2010: 84.

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Prämissen und Perspektiven

2.1.1 Gemeinschaften als imaginierte gesellschaftliche Großgruppen Im Mittelpunkt stehen dabei gesellschaftliche Großgruppen, deren Mitglieder »die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden«122. Zentraler Ausgangspunkt ist hier ein Verständnis von solchen Gemeinschaften als »imagined communities«, wie es Benedict Anderson in seiner breit rezipierten gleichnamigen Abhandlung, die im Deutschen unter dem Titel »Die Erfindung der Nation«123 publiziert wurde, vorschlägt.124 Zwar konzentriert sich Anderson in seiner Arbeit auf das Kollektiv Nation,125 aber vor allem seine Überlegungen zum Imaginationscharakter von Nationen lassen sich auf andere gesellschaftliche Großgruppen, wie soziale, politische, religiöse, generationelle oder geschlechtliche Gemeinschaften, übertragen: In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Faceto-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften. Gemeinschaften sollten nicht in ihrer Authentizität unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, wie sie vorgestellt werden.126 122 Anderson 1988: 15. 123 Anderson 1988. 124 Die Bedeutung von Andersons 1983 erstmals und 1988 in deutscher Sprache veröffentlichten Studie erläutert unter anderem Ulrike Jureit. Sie weist, wie ähnlich auch Philipp Sarasin (2001: 22–27), darauf hin, dass Überlegungen zum Konstruktcharakter von Kollektiven wie Nationen oder Ethnien zwar bereits von Max Weber formuliert worden seien, allerdings erst das Buch von Anderson zu einem Durchbruch dekonstruierender Strategien bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Großgruppen geführt habe (vgl. Jureit 2001: 7ff.; vgl. auch Assmann/Friese 1998: 12; Gertenbach u. a. 2010: 84; und Grabbe/Köhler/Wagner-Egelhaaf 2012: 9f.). 125 Benedict Anderson definiert »Nation« als »vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.« (Anderson 1988: 15) Im Gegensatz zu dem Aspekt der Vorstellung, den Anderson entgegen des Titels der deutschen Übersetzung seines Buches ausdrücklich im Sinne von »Kreieren« und nicht von »Erfinden« verstanden wissen will (vgl. Anderson 1988: 16), spielen die Merkmale »begrenzt« und »souverän«, die nach Anderson das imaginierte Bild einer Nation konstitutiv prägen (vgl. Anderson 1988: 16f.), für nicht-nationale gesellschaftliche Großgruppen nicht zwangsläufig eine entscheidende Rolle. 126 Anderson 1988: 15. Auch wenn Andersons Konzept der »imagined communities« auf andere Großgruppen übertragbar ist, ist es doch primär in der Nationalismusforschung rezipiert worden, die mittlerweile – ebenso wie die Disziplinen übergreifende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit kollektiven Identitäten – einen beinahe unüberschaubaren Umfang erreicht hat. Eine knappe und stringente Auseinandersetzung mit der Nationen- und Nationalismusforschung bieten Ruth Wodak u. a. in ihrer groß angelegten Studie »[z]ur diskursiven Konstruktion nationaler Identität« am Beispiel Österreichs (vgl. Wodak u. a. 1998: 20–40). Auch bei Jansen/Borggräfe (2007: 7–24) und umfangreich vor allem bei Rolf-Ulrich Kunze (2005) finden sich Darstellungen zu Entwicklung, Schwerpunkten und Herausforderungen der Nationen- und Nationalismusforschung.

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Ähnlich wie Anderson, der die Entstehung von Nationen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert situiert,127 erklären auch Gertenbach u. a. das verstärkte Aufkommen von nicht-religiösen Gemeinschaftsentwürfen als Resultat gravierender gesellschaftlicher Veränderungen im 19. Jahrhundert. Mit der Herausbildung moderner polyzentrischer, komplexer und kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen gingen »Orientierungslosigkeit und Verunsicherung des modernen Menschen« sowie ein – aufgrund des beschleunigten sozialen Wandels und der Aufklärungskritik – gesteigertes »Kontingenzbewusstsein« und »Gefühl eines allmählichen Sinnverlusts«128 einher. Vor dem Hintergrund einer so beschriebenen Gesellschaft, die als historisch veränderbar erscheint, sei Gemeinschaft zum Gegenkonzept geworden, das »vom kontinuierlichen Lauf der Welt – also dem neuzeitlichen Zeitverständnis schlechthin – nicht tangiert werden kann«, welches aber in der Moderne als »bedrohte[s] Gebilde« imaginiert würde. Sowohl für die »großen Visionen politischer Kollektive (Nation, Proletariat etc.)«, die vor allem durch die kommunistischen und sozialistischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur »politischen Kampfvokabel« sowohl der »Restauration wie der Revolution« geworden seien, als auch für die »vermeintlich unsterbliche[ ] Liebe der romantischen Zweierbeziehung« konstatieren Gertenbach u. a.: In diesen Vorstellungswelten überdauert und übergreift die Gemeinschaft stets die Einzelnen. Angesichts der Erfahrungen der Moderne impliziert dies für die Individuen zugleich ein Versprechen, das insbesondere in individuellen und kollektiven Krisenzeiten eine hohe Attraktivität besitzt: dass nämlich der Bezug auf eine zeitlich höher gelagerte Gemeinschaft eine Möglichkeit darstellt, die spezifische Sinnlosigkeit und Diesseitigkeit des modernen Daseins zu überschreiten.129

Aus der (de-)konstruktivistischen Neuausrichtung der Nationalismusforschung, die Ruth Wodak u. a. unter anderem mit den Arbeiten von Ernest 127 Anderson führt »die Möglichkeit, ›die Nation vorzustellen‹« auf verschiedene Faktoren zurück: So hätten auf Grund ökonomischer, sozialer und naturwissenschaftlicher Entwicklungen sowie der Intensivierung globaler Kommunikation »drei grundlegende kulturelle Modelle ihren langen axiomatischen Zugriff auf das Denken der Menschen verloren«: das Modell allegorischer Schrift- und Weltdeutung, die Legitimierung religiös fundierter, dynastischer Herrschaftsformen und Zeitvorstellungen, die die Vorherbestimmtheit menschlichen Lebens implizierten. Bei der nun anstehenden »Suche nach einer neuen Möglichkeit, Sinn, Macht und Zeit sinnvoll miteinander zu verbinden«, hätten die rasanten Entwicklungen im Druckgewerbe einen entscheidenden Einfluss gehabt, da sie die »Entstehung völlig neuer Vorstellungen von Gleichzeitigkeit« förderten, durch die »Gemeinschaften des ›horizontal-säkulären und historischen‹ Typs möglich« wurden (alle Zitate Anderson 1988: 42f.). Die Etablierung einer standardisierten Schriftsprache wird von Anderson dabei zum entscheidenden Ausgangspunkt für die Etablierung eines Nationalbewusstseins (vgl. Anderson 1988: 51). 128 Alle Zitate Gertenbach u. a. 2010: 33. 129 Alle Zitate Gertenbach u. a. 2010: 35.

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Gellner, Eric J. Hobsbawm und Benedict Anderson verbinden,130 resultiert auch ein neuer Blick auf den Zusammenhang zwischen Literatur und Nation respektive Gemeinschaft: In diesem Rahmen erscheinen Literatur und Geschichtsschreibung nicht mehr als kulturelle Selbstvergewisserung der schon vorgängig existierenden Nation, sondern als Vorgänge, in denen erst die Identität der Gesellschaft behauptet, beschrieben und geschaffen wird.131

Dass Gemeinschaften aus wissenschaftlicher Perspektive als imaginierte Phänomene konzipiert werden, heißt allerdings nicht, ihre Wirkmächtigkeit in Abrede zu stellen, die vor allem daraus resultiert, dass sie für historische und gegenwärtige Akteure selbst oft »objektive Gültigkeit« besitzen, also als »›essentialisierte‹ Wirklichkeit« erscheinen, und somit »in machtvoller Weise homogenisierend und ausgrenzend wirken können.«132 Bei Entwürfen von verschiedenen Gemeinschaften kann zwischen solchen, die die Zugehörigkeit des Entwerfenden implizieren, und solchen, die aus dieser Perspektive als für die eigene Person nicht relevant oder gar alteritär imaginiert werden, unterschieden werden.133 Nur im ersten Fall möchte ich solche Gemeinschaftsentwürfe als Konstitutionen kollektiver Identität verstehen, d. h. den Begriff »kollektive Identität« ausschließlich als Bezeichnung für identifikatorische Akte verwenden, in denen ein Individuum seine eigene Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft postuliert.134 Ähnlich wie bei Jan Assmann wird hier also die Relevanz des Selbstbezugs des ›Sprechers‹ hervorgehoben: 130 131 132 133

Vgl. Wodak u. a. 1998: 29–34. Giesen 1991: 12. Alle Zitate Götz 2011: 69. Die Begriffe »Imagination«, »Entwurf« und »Vorstellung« werden in dieser Arbeit synonym verwendet und verweisen in Anlehnung an Anderson auf das Vorgestelltsein von gesellschaftlichen Großgruppen, welche als imaginierte Gemeinschaften, nicht als Menschengruppen, deren Mitglieder alle empirisch nachweisbare Merkmale teilen, verstanden werden. Auf den Begriff »Konstruktion« wird dagegen weitestgehend verzichtet, da er – wie Andrea Polaschegg in Anlehnung an Ian Hacking (1999) argumentiert – als eine »Metapher aus dem Bereich Ingenieurtechnik, der Geometrie und des Bauens« fungiert und damit »unmittelbar ein intentionales und vollständig beherrschbares Tun« (beide Zitate Polaschegg 2005: 286) impliziert. Zwar lassen sich – wie insbesondere Kapitel 2.2 argumentiert – möglicherweise Regelmäßigkeiten in den Verfahren semiotischer Gemeinschaftsimaginationen beobachten. Von einer berechenbaren oder gar intendierten Struktur als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses ist aber nicht auszugehen, sondern der hier noch zu entwickelnde Begriff »Systeme kultureller Repräsentation« impliziert eine dynamische Prozesshaftigkeit semiotischer Bedeutungsproduktion. 134 Die Begriffe »(personale) Identität« und »Selbst« werden in dieser Arbeit synonym verwendet und bezeichnen Akte des Selbstverstehens und der Selbstinterpretation von Subjekten (vgl. Reckwitz 2010: 17). So verstandene Identität erscheint entsprechend als etwas spezifisch Menschliches; Dinge, Pflanzen oder Tiere bilden keine so verstandene personale Identität aus (vgl. dazu [in kritischer Abgrenzung unter anderem von Wolfgang Welsch]

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Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen.135

Auch Jürgen Straub orientiert sich an dieser Definition von Jan Assmann und grenzt sie von den von ihm kritisierten normierenden Vorstellungen von kollektiver Identität ab, die er – wie bereits einleitend erläutert – als ideologisch zurückweist.136 Er betont in Anlehnung an Assmann die Fragilität kollektiver Identitäten sowie die Möglichkeit von Mehrfachzugehörigkeiten des Einzelnen137 und favorisiert »empirisch-rekonstruktive[ ] Binnenanalysen der jeweils interessierenden Aspekte des Selbst- und Weltverhältnisses der betreffenden Personen«138. Im Unterschied allerdings zu Straub und Assmann wird in dieser Arbeit kollektive Identität kategorial an das Individuum gebunden und somit als Teil personaler Identität konzipiert.139 Kollektive Identität gilt hier als die Beant-

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Straub 2000: 170). Mit »Individuum« ist in dieser Arbeit ein Mensch als abgrenzbares Einzelwesen gemeint. Anders als beispielsweise für Andreas Reckwitz impliziert die Rede vom Individuum hier keine wie auch immer verstandene Individualität des jeweiligen Menschen (vgl. Reckwitz 2010: 17f. und 140f.), sondern »Individuum« fungiert als Antonym zum Begriff »Kollektiv«, welcher mehrere/eine Gruppe von Menschen bezeichnet. Entsprechend werden hier »Individuum« und »Einzelner« synonym verwendet. Dass es sinnvoll ist, theoretisch strikt zwischen Fragen nach Identität (Wer bin ich? Wer möchte ich sein?) und solchen der Individualität (Inwiefern bin ich ein einzigartiger, unverwechselbarer Mensch?) zu unterscheiden, betont auch Jürgen Straub (vgl. Straub 2000: 170). J. Assmann 1992: 132. In Anlehnung an Reinhard Kreckel verweist Straub auf den ideologischen Charakter normierender Identitätszuschreibungen an Kollektive, die ›von außen‹ vorgenommen würden, häufig empirischer Grundlagen entbehrten, extrem stereotyp seien und zu »fragwürdigen Etikettierungen des Eigenen und des anderen« (Straub 1998: 100) führten. Diesen von ihm kritisierten normierenden Vorstellungen »kollektiver ›Pseudo-Identitäten‹« (Straub 1998: 100) stellt Straub kollektive Identitäten gegenüber, die er wie folgt versteht: Sie sind für ihn »Konstrukte, die nichts anderes bezeichnen als eine näher zu spezifizierende Gemeinsamkeit im praktischen Selbst- und Weltverhältnis einzelner. Kollektive Identitäten finden im übereinstimmenden praktischen Verhalten sowie in qualitativen Selbst- und Weltbeschreibungen Ausdruck, in denen Menschen übereinkommen. Sie sind in solchen Übereinkünften, in konsensfähigen Selbst- und Weltbeschreibungen und gemeinsamen Praktiken begründet« (Straub 1998: 103). Vgl. Straub 1998: 102. Straub 1998: 104. Jan Assmann unterscheidet auf einer ersten Ebene »Ich«- und »Wir«-Identität, wobei er letztere als kollektive Identität bezeichnet. Auf einer zweiten Ebene differenziert er die »Ich«-Identität weiter aus in individuelle und personale Identität, wobei erstere auf die Individualität des einzelnen Menschen, auf sein »am Leitfaden des Leibes entwickelte[s] Bewußtsein seines irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit« referiert und letztere auf die soziale Handlungsfähigkeit, auf »alle dem Einzelnen

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wortung der Frage »Welcher Gemeinschaft fühle ich mich zugehörig?« Sie entspricht somit dem, was Alois Hahn in seinem gleichnamigen Aufsatz als »partizipative Identitäten«140 bezeichnet hat, und kann entsprechend in der Regel nur im Plural gedacht werden: Ein einzelner Mensch imaginiert sich als Teil verschiedener Kollektive wie Familie, Berufsgruppe, Glaubensgemeinschaft, Nation. Kollektive Identitäten werden als Teil von nicht abschließbaren psychischen Prozessen verstanden, in denen Individuen in der Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt ein möglichst kohärentes und kontinuierliches Selbstverständnis entwickeln (vgl. Kap. 2.1.3 und 2.2). Der Vorstellung von einer Gruppe, deren Mitglieder eine kollektive Identität ausbilden, wird dagegen eine Absage erteilt. Grund dafür sind neben der kulturellen Fragmentarisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts141 die wissenschaftlichen Risiken der Übertragung des Identitätsbegriffs auf Gruppen von Menschen, die Jürgen Straub selbst bereits reflektiert. Er erörtert die Schwierigkeiten der Konstitution des betreffenden Kollektivs selbst: Welche Personen werden von wem und auf welche Weise »aneinandergerückt« und »zusammengebunden«, unter bestimmten Gesichtspunkten als eine Einheit aufgefaßt, indem ihnen bestimmte gemeinsame Merkmale und Bindungen zugeschrieben werden? Während im Falle der persönlichen Identität aufgrund der Leiblichkeit personalen Seins klar ist, um wen es sich (im Sinne der numerischen Identifizierbarkeit) handelt, wenn jemand die Identitätsfrage stellt, so muß, sobald man nach der Identität eines Kollektivs fragt, der Kreis der betroffenen Personen zunächst einmal festgelegt werden (bzw. im Zuge der Beantwortung dieser Frage bestimmt werden).142

Diese Schwierigkeit zeigt sich bereits implizit im obigen Assmann-Zitat: So wird auch dort – zumindest grammatikalisch – eine »Gruppe« zum imaginierenden Subjekt, deren Konstitution nicht näher reflektiert wird, die ja aber doch erst durch diese Imagination entsteht.143 Außerdem greift Straub Reinhard Kreckels

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durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen« abzielt (alle Zitate J. Assmann 1992: 131f.). Vgl. Hahn 2000: 13f. Vgl. hierzu die knappe Beschreibung der veränderten Bedingungen der Identitätskonstitution in der sogenannten zweiten Moderne von Irene Götz (2011: 71–75). Götz charakterisiert hier heutige westliche Gesellschaften in Anlehnung an Clifford Geertz (1996) als »Welt in Stücken« und betont orientiert an Akteuren der Postcolonial Studies die Pluralisierung von Identitäten. Dabei reflektiert sie auch die Kritik an einer positiven Überbetonung der Vorteile hybrider Identitätsentwürfe, wie sie Akteuren der Postcolonial Studies unterstellt wird. Straub 1998: 98. Auch wenn Straub und Assmann die Instabilität kollektiver Identitäten sowie ihre Abhängigkeit vom Bekenntnis Einzelner betonen, besteht auch bei den von Straub vorgeschlagenen empirisch-rekonstruktiven Binnenanalysen die Gefahr von Zirkelschlüssen: Zwar können – wie Straub vorschlägt – Identifikationen Einzelner empirisch beispielsweise

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Kritik an der Vorstellung von der Ausbildung von »Kollektivpersönlichkeit« oder »Gruppenseele«144, also an Personifizierungen von Kollektiven, auf. Selbst Arbeiten, die den Konstruktcharakter kollektiver Identitäten explizit und theoretisch fundiert reflektieren, wie Bernhard Giesens Monographie »Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2« (1999),145 sind vor entsprechenden Tendenzen nicht gefeit, wie exemplarisch das folgende Zitat zeigt: Wenn eine soziale Bewegung oder Gemeinschaft ihre für sich bestimmte kollektive Identität in der Öffentlichkeit darzustellen versucht, trifft sie zumeist auf Vorstellungen, die andere sich von ihr machen. Solche fremdkonstruierten Bilder fügen sich nur in den seltensten Fällen nahtlos in die Identität, die eine Gemeinschaft sich für sich selber entworfen oder gesetzt hat. Gelegentlich treffen Gemeinschaften auf seit langem eingeschliffene Erwartungen und Zumutungen von Identität; nicht nur bei individuellen, sondern auch bei kollektiven Identitäten kann die von außen herangetragene fremdbestimmte Identität älter und stärker als die selbstbestimmte Identität sein. […] Zumeist läßt sich allerdings eine solche fremdbestimmte Konstruktion von Identität kaum auf Dauer stellen: Ebenso wie die Kinder erwachsen und mündig werden, so können auch soziale Gruppen ihre von außen geschaffene und fremdbestimmte Gleichartigkeit gegen den Bildungsvorsprung derjenigen wenden, die ihnen eine Identität zugemutet haben. Sie lehnen sich auf gegen die gewohnte Ordnung, die die Ordnung der anderen ist.146

Der anthropomorphisierende Vergleich von Gemeinschaften mit zunächst unmündigen Kindern verweist auf die konzeptionelle Unschärfe eines Identitätsbegriffs, der sich auf eine Gruppe als Ganzes bezieht: Er unterscheidet oftmals unzureichend zwischen der Imagination von Gemeinschaften und ihren möglichen Institutionalisierungen oder Organisationen.147 Es sind gesellschaftliche Institutionen oder Organisationen, die als soziale Akteure in Erscheinung treten

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in Gruppendiskussionen o. ä. erfasst werden, aber es bleibt das logische Problem der Zusammenstellung der ›untersuchten‹ Gruppenteilnehmer/innen. Die Tendenz zur Setzung der Gruppe a priori erscheint mir als allen Untersuchungen, die die kollektive Identität einer (konkreten) Gruppe erforschen wollen, als zwangsläufig inhärent und ist mit der Grundannahme von der Imagination von Gemeinschaften nicht zu vereinbaren. Zu einer ähnlichen Kritik an Analysen kollektiver Identität vgl. Wagner 1998: 69f. Straub 1998: 99. Vgl. Giesen 1999: 11–23. Giesen 1999: 122. Vgl. Kreckel, Reinhard: Soziale Integration und nationale Identität. In: Berliner Journal für Soziologie 4. 1994, S. 13–20. Zitiert nach Straub 1998: 99. »Gesellschaft« wird in dieser Arbeit daher als Bezeichnung für die Gesamtheit eben solcher Institutionen und Organisationen sowie ihrer Interaktion untereinander sowie mit ihren Mitgliedern verwendet. Mit Blick auf meinen Untersuchungsgegenstand und -zeitraum ist mit Gesellschaft hier in der Regel die westdeutsche Interaktion von Institutionen, Organisationen und territorial verstandener Bevölkerung gemeint, wie sie innerhalb und durch die staatlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland geregelt wird.

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– und dabei ihr Handeln oft mittels des Bezugs auf Gemeinschaftsentwürfe legitimieren –, aber nicht die imaginierten Gemeinschaften selbst.148

2.1.2 Imaginationen von Gemeinschaft durch Systeme kultureller Repräsentationen Auch wenn aus den eben erörterten Gründen die Differenzierung zwischen Gemeinschaft, ihren Institutionen oder Organisationen und kollektiven Identitäten vor allem für die präzise Formulierung von Erkenntnisinteressen zentral ist, sind diese Phänomene als empirisch eng aufeinander bezogen zu denken. Ausgangspunkt dafür ist die Annahme, dass die Imagination gesellschaftlicher Großgruppen durch »Systeme kultureller Repräsentationen«149, wie sie Stuart Hall versteht, erfolgt.150 Unter Repräsentation versteht Hall »the production of meaning of the concepts in our minds through language«151, wobei er erstens einen breiten Sprachbegriff zu Grunde legt, der die Zeichenhaftigkeit auch anderer, nicht verbaler kultureller Phänomene betont.152 Zweitens postuliert er ein 148 Diese mindestens heuristisch notwendige Unterscheidung soll allerdings nicht vergessen lassen, dass gerade identifikatorische Gemeinschaftsentwürfe im Rahmen personaler Identitätsprozesse, sobald sie durch eine größere Zahl von Menschen in ähnlicher Weise vollzogen werden, oftmals Institutionalisierungen nach sich ziehen und nicht zuletzt dadurch gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Dass kollektive Identitäten auch umgekehrt als Produkt spezifischer gesellschaftlichen Strukturen entstehen, zeigt bereits Andersons Nationalismusanalyse. Bernhard Giesen macht in seiner 1999 publizierten Monographie »Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2« in diesem Zusammenhang einleitend auf die Komplexität von Gemeinschafts-konstituierenden Prozessen aufmerksam und reflektiert die Grenzen und Verknüpfungsmöglichkeiten verschiedener sozialwissenschaftlicher Ansätze wie der Ritualtheorie und kulturalistischen Deutungen (vgl. Giesen 1999: 11–21). 149 Hall 1994: 200. 150 Während ich davon ausgehe, dass Gemeinschaften in oder durch Systeme kultureller Repräsentation erzeugt und mit Bedeutung versehen werden, verstehe ich sie – anders als Hall (vgl. Hall 1994: 200) und in Anlehnung an ihn Ruth Wodak u. a. (vgl. 1998: 38f.) – nicht selbst als solche Systeme kultureller Repräsentation. Grund dafür ist, dass die Konzeptualisierung von Kollektiven, wie beispielsweise der Nation, als solche Systeme ein Widerspruch zum Konzept der imaginierten Gemeinschaft inhärent ist, ähnlich wie er bezüglich der Problematik des Begriffs »kollektive Identität« bereits oben erläutert wurde. Dies soll allerdings nicht heißen, dass es nicht wissenschaftlich möglich, sinnvoll und erforderlich ist, solche Formationen kultureller Repräsentationen zu beschreiben, die Gemeinschaftsentwürfe in sehr ähnlicher Art und Weise hervorbringen und als in einem konkreten historisch-sozialen Kontext als dominant gelten können. Nur sind die Festlegung dieses historisch-sozialen Kontextes und die in ihm zu beobachtenden Systeme kultureller Repräsentationen heuristisch voneinander zu unterscheiden. 151 Hall 2011b: 17. 152 Vgl. Hall 2011b: 18f. Vgl. dazu auch Halls Ausführungen zur Semiotik, in denen er vor allem die poststrukturalistische Adaption der Konzepte Ferdinand de Saussures durch Roland

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konstruktivistisches Verständnis von Bedeutung und wendet sich entsprechend gegen mimetische Konzeptionen: Things don’t mean: we construct meaning, using representational systems – concepts and signs. […] Constructivists do not deny the existence of the material world. However, it is not the material world which conveys meaning: it is the language system or whatever system we are using to represent our concepts.153

Hall unterscheidet zwei verschiedene Ebenen von Repräsentationen, die interagieren: zum einen das »system of concepts and images formed in our thoughts«154, welches Bedeutungen dadurch erzeugt, dass es empirisch nachweisbare oder imaginäre Phänomene – »people, objects and events, real or fictional«155 – ausgehend von verschiedenen Organisationsprinzipien klassifiziere und in komplexer Form zueinander in Beziehung setze. Zum anderen versteht Hall Sprachen respektive kulturelle Zeichensysteme als weitere Repräsentationssysteme, welche den interindividuellen kommunikativen Austausch über geteilte »conceptual maps«156 erst ermöglichten.157 Dabei greift, wie Hall betont, die Vorstellung von Sprache respektive anderen kulturellen Zeichensystemen als bloßen Artikulations- und Kommunikationsmedien, mithin ein intentionalistisches Verständnis von Sprache und Bedeutung, zu kurz: Language can never be a wholly private game. Our private intended meanings, however personal to us, have to enter into the rules, codes and conventions of language to be shared and understood.158

Nicht nur der Prozess der Versprachlichung erfolgt innerhalb sozialer Konventionen, sondern bereits die Welt- und Selbstwahrnehmung des Einzelnen sind durch kulturelle Repräsentationssysteme präfiguriert, wie Reiner Keller aus wissenssoziologischer Perspektive verdeutlicht: Die entsprechenden Zeichen/Typisierungen werden als kollektiver Wissensvorrat gespeichert und in Sozialisationsprozessen subjektiv angeeignet. Sie funktionieren dann, bezogen auf das individuelle Erleben, gleichzeitig als Schemata der aktiven Erfahrung

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Barthes skizziert (2011b: 36–41). Daran anschließend wird in dieser Arbeit etwas dann als »kulturell« bezeichnet, wenn es als bedeutungshaftes Zeichen interpretiert werden kann. Entsprechend ist zur Beschreibung kultureller Phänomene immer auch der Blick auf Sender und Empfänger eines Zeichens sowie auf mögliche Konventionen beziehungsweise Codes, die eine Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat etablieren, relevant. Hall 2011b: 25. Hall 2011b: 17. Hall 2011b: 18. Hall 2011b: 18. Vgl. Hall 2011b: 17f. Anders als die Etymologie des Wortes »Repräsentation« es nahelegen würde, ist damit nicht »ein Wieder-Präsentmachen oder das Kopieren eines präexistenten Objekts oder Zustands« gemeint, sondern »Repräsentation« bezeichnet die »symbolische Konstitution einer Welt« (beide Zitate Jannidis 2004: 173). Hall 2011b: 25.

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oder Wahrnehmung (Apperzeption) und als solche der über das Zeichen hinausweisenden Deutung, der Appräsentation, also der Interpretation des Wahrgenommenen und des intervenierenden Deutens/Handelns.159

Anders als beispielsweise Roland Posner, der Kultur in ihrer Gesamtheit als (ein) Zeichensystem beschreibt160 und damit in der Tradition der interpretativen Kulturanthropologie verortet werden kann,161 beschränkt Hall den Systembegriff auf die Benennung der »different ways of organizing, clustering, arranging and classifying concepts, and of establishing complex relations between them«162, also zur Beschreibung kultureller Codes als klassifizierende Konventionen. Ein so verstandenes System von Konventionen soll nicht als statisch und 159 Keller 2013: 38. Vgl. ähnlich z. B. auch Landwehr 2009: 91. Keller verweist in diesem Zusammenhang auf ein Verständnis vom Menschen als »animal symbolicum«, wie es vor allem von Ernst Cassirer begründet wurde (vgl. Keller 2013: 39). Cassirer beschreibt in seiner Studie 1944 unter dem Titel »An Essay on Man«, die im Deutschen als »Versuch über den Menschen« erschienen ist, das Symbol als »Schlüssel zum Wesen des Menschen« (Cassirer 2007: 47). Der Mensch sei nach Cassirer als »animal symbolicum« (2007: 51) zu verstehen, da er »der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten« (2007: 50) könne: »So hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe« (2007: 50). In Anlehnung an Cassirer erscheint die Eingebundenheit des Menschen in die von Hall beschriebenen Repräsentationssysteme also als eine anthropologische Konstante. 160 Vgl. Posner 2003: 54. Analog zu der Differenzierung von Zeichenbenutzern, Zeichen und Codes unterscheidet Posner drei Dimensionen von Kultur : die soziale, die materiale und die mentale. Als soziale Kultur bezeichnet er die verschiedenen »Kulturträger« einer Gesellschaft. Als solche »Zeichenbenutzer« können sowohl Individuen als auch Institutionen auftreten. Sie sind als Produzenten (Sender) oder Rezipienten (Empfänger) an kulturellen Zeichenprozessen beteiligt (vgl. Posner 2003: 49f.). Unter materialer Kultur fasst Posner die Zivilisation, die er als Gesamtheit der Artefakte einer Gesellschaft, »unter Einschluß der Fertigkeiten ihrer Herstellung und Verwendung« (Posner 2003: 50) definiert. Kultursemiotisch sind diese »Zeichen« der Kultur, zu denen literarische Werke, aber auch das einzelne Wort zu zählen sind, als Texte zu verstehen, die durch Zeichenträger produziert oder im Rezeptionsakt mit Bedeutung ausgestattet werden. Die mentale Dimension umfasst die kulturspezifischen Codes als »Systeme von Signifikant-Signifikat-Zuordnungen« (Posner 2003: 53), die das interpersonale Verstehen von Zeichenprozessen ermöglichen. Hier zeichnet sich eine problematische, weil unreflektierte Deckung zwischen Kultur- und Gesellschaftsbegriff ab. Zum einen besteht dabei, wie Wolfgang Bergem erläutert, die Gefahr, dass »dann Konflikte der Gesellschaft allein als Fragen der Kultur betrachtet« (Bergem 2005: 35) und dadurch entpolitisiert würden (zur Kritik an Kulturalismus vgl. ähnlich auch Bachmann-Medick 2003: 102; und Müller-Funk 2008: 10f.). Zum anderen suggeriert die Gleichsetzung von Kultur und Gesellschaft möglicherweise eine Geschlossenheit und Homogenität von Kultur, die ihrer Ausdifferenzierung in modernen Gesellschaften nicht gerecht wird. Da Gesellschaften in und seit der Moderne oftmals als staatlich organisiert konzeptualisiert werden, würde Kultur so potenziell im Deutungsrahmen Nation verankert, was ihrer heutigen Komplexität und Globalität nicht gerecht würde. 161 Zur interpretativen Kulturanthropologie als einer Tradition der Kulturwissenschaften vgl. Bachmann-Medick 2003: 89–91; und Bachmann-Medick 2009: 58–103. 162 Hall 2011b: 17.

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unveränderbar gelten,163 sondern impliziert dynamische Prozesshaftigkeit.164 Diese resultiert nach Hall nicht nur aus der Unabschließbarkeit von binärer Bedeutungsproduktion, wie er in Anlehnung an Jacques Derrida konstatiert,165 sondern auch aus der Interdependenz zwischen kultureller Bedeutungsproduktion und gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie Michel Foucault konzipiert. Dabei betont Hall nicht nur den wirklichkeitskonstituierenden Status von Sprache und anderen kulturellen Zeichensystemen, wie ihn Foucault in seiner »Archäologie des Wissens« herausgearbeitet hat,166 sondern skizziert vor allem dessen Hinwendung zum Zusammenhang zwischen Diskurs, Wissen und Macht.167 Solche Überlegungen sind für diese Arbeit relevant, sofern sie die Möglichkeit bieten, erstens die Herausbildung hegemonialer Gemeinschaftsentwürfe als Prozesse von Grenzziehungen (vgl. dazu Kap. 2.2.2) und zweitens die historisch-soziale Situiertheit von Gemeinschaftsentwürfen zu erklären. Der Begriff »System« soll hier also keinesfalls ein »holistisches Kulturkonzept« implizieren, »das ein Kultur- und Bedeutungsganzes unterstellt«168. Stattdessen erscheinen die kulturellen Prozesse der Klassifikation – gerade mit Blick auf die Imagination von gesellschaftlichen Großgruppen – als pluralistische, auch

163 Anders argumentiert Bergem, für den der Systembegriff »die statische Vorstellung kausal zuzuordnender Funktionen nahe[legt]« (Bergem 2005: 31). Er schlägt vor, stattdessen von Ensembles von Symbolen zu sprechen. Dies scheint mir wiederum zu sehr eine Beliebigkeit der Zusammenstellung zu suggerieren, die die Komplexität klassifizierender Repräsentationssysteme übersieht. Gleichwohl soll der Begriff »System« hier keinesfalls Gesetzmäßigkeiten suggerieren, die sich als allgemeingültige Regeln der Produktion aller systemimmanenten Bedeutungen beschreiben ließen. Entsprechende Versuche können, beispielsweise mit Ernesto Laclau, als essentialistisch zurückgewiesen werden: »Als das linguistische Modell in das allgemeine Feld der Humanwissenschaften eingeführt wurde, war dieser Effekt von Systematizität vorherrschend, so daß der Strukturalismus zu einer neuen Form von Essentialismus wurde: zu einer Suche nach den zugrundeliegenden Strukturen, die das inhärente Gesetz jeder möglichen Variation bilden« (Laclau/Mouffe 2000: 150). 164 Vgl. auch Reinfandt 2001: 620f. 165 Vgl. Hall 2011b: 42. 166 Reiner Keller macht in diesem Zusammenhang auf die Gemeinsamkeiten zwischen der Diskurstheorie Foucaults und der konstruktivistischen Wissenssoziologie Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns aufmerksam, deren Abhandlung über »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« ebenfalls die Welt-erzeugende und -deutende Macht der Sprache betone (vgl. Keller 2013: 24ff.). Gerade mit Blick auf Gemeinschaften als imaginierte Phänomene erscheint Foucaults bekannte Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Sprache und Objekt als besonders zentral, wenn er Diskurse als »Praktiken« beschreibt, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«, und damit den konstruierenden Charakter von Sprache – »Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen.« – betont (Foucault 1981: 74). 167 Vgl. Hall 2011b: 41–51. 168 Beide Zitate Bachmann-Medick 2009: 77.

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konfliktträchtige Aushandlungen von Bedeutungen,169 die allerdings auf einer »kontingente[n] Minimalkohärenz«170 kulturspezifischer Bedeutungskonstitution basieren, welche für interindividuelle Verständigung notwendig ist.171 An die Überlegungen Halls anschließend werden Gemeinschaft sowie konkrete Ausprägungen von Gemeinschaft wie Nationen oder politisch-soziale Kollektive in dieser Arbeit als Produkte von konventionalisierten Klassifikationen verstanden, die einerseits als mentale Konzepte ›in den Köpfen‹ von Menschen existieren und andererseits als kulturelle, oft auch kulturspezifische Zeichen oder in der Regel Zeichenkombinationen, die in verschiedenen Kontexten von verschiedenen Akteuren erzeugt, zirkuliert, tradiert oder interpretiert werden. Während letztere in ihrer Komplexität kulturwissenschaftlich erfasst, beschrieben und gedeutet werden können, ist die Analyse von mentalen Gemeinschaftskonzepten nicht unmittelbar möglich, sondern auf die ›Versprachlichung‹ durch den Einzelnen, also auf die Übertragung der mentalen Konzepte in bedeutungshafte Zeichen angewiesen.

2.1.3 Kollektive Identitäten als Identifikationen des Einzelnen mit semiotischen Gemeinschaftsentwürfen Kollektive Identitäten sind entsprechend die spezifischen Formen der mentalen Repräsentation von Gemeinschaften, die die Zugehörigkeit des jeweiligen Menschen implizieren und die in verschiedenen Akten der kulturspezifischen ›sprachlichen‹ Selbstbeschreibung sichtbar werden.172 Dabei ›bedienen‹ sich 169 Ähnlich gehen auch Aleida Assmann und Heidrun Friese davon aus, dass eine imaginierte Gemeinschaft, die sie begrifflich – anders als hier vorgeschlagen – mit kollektiver Identität gleichsetzen, »über kulturelle Symbole und diskursive Formationen befestigt wird und daß die wichtigste Strategie, bestimmte Werte oder Grenzen als unverrückbar erscheinen zu lassen, darin besteht, sie als ›Natur‹, als objektiv, unverfügbar und unzugänglich darzustellen, um sie damit persönlicher Entscheidbarkeit und politischer Veränderbarkeit zu entziehen. […] Die Inszenierungen von Identität werden dann als Teil sozialer und politischer Praktiken sowie als kultureller Text verstanden, der unterschiedliche Signifikate bezeichnet, historisch unterschiedlich codiert ist und unterschiedliche Bilder hervorbringt und aktiviert« (Assmann/Friese 1998: 12). 170 Bergem 2005: 31. 171 Vgl. ähnlich auch Woodward 1997: 30. 172 Ähnlich argumentiert auch Irene Götz in ihrer 2011 publizierten Habilitationsschrift, wenn sie Identität einerseits als das in der Innensicht von Akteuren sich entwickelnde Selbstverständnis des Einzelnen bezeichnet und andererseits die Relevanz kultureller Praktiken für die Beobachtbarkeit von Identitäten beschreibt (vgl. Götz 2011: 69f.): »Identität ist demnach keine statische Größe, sondern immer nur situativ im Sinne eines ›doing identity‹ erfassbar. Sie muss indirekt durch das zu beobachtende Handeln (in Gruppen und Kontexten) erschlossen werden. So äußert sie sich nicht nur als Sprechpraxis – durch die Reflexion von Identität, die Verbalisierung einer Erfahrung, die auf die eigene ›Identität‹

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Einzelne nicht nur sozial präexistenter ›Sprachen‹, um ihren kollektiven Identitäten Ausdruck zu verleihen, sondern gleichzeitig bedingen kulturell tradierte und zirkulierende Gemeinschaftsentwürfe die Identitäten des Einzelnen, wie auch Kathryn Woodward verdeutlicht: Representation includes the signifying practices and symbolic systems through which meanings are produced and which position us as subjects. Representations produce meanings through which we can make sense of our experience and of who we are. We could go further and suggest that these symbolic systems create the possibilities of what we are and what we can become. Representation as a cultural process establishes individual and collective identities and symbolic systems provide possible answers to the question: who am I?; what could I be?; who do I want to be?173

Die Ausbildung kollektiver Identitäten ist also kein Ergebnis der individuellen, bewussten Wahl, sondern eine Folge unseres Eingebundenseins in kulturelle Repräsentationssysteme.174 Außerdem erscheint sie als in der Regel unbewusster psychischer Prozess. So erklärt Woodward die ›Investition‹ des Einzelnen in kulturelle Identitätsangebote, die im Folgenden als »Identifikation« bezeichnet werden soll, aus psychoanalytischer Perspektive in Anlehnung an Jacques Lacans Vorstellungen vom Spiegelstadium: When we look in the mirror we see an illusion of unity. Lacan’s mirror stage represents the first realization of subjectivity where the child becomes aware of the mother as an object distinct from itself. […] Because identity depends for its unity on something outside itself, it arises from a lack, that is a desire for a return to the unity with the mother which was part of early infancy but which can only be illusory, a fantasy, once the separation had actually taken place. The subject still longs for the unitary self and the oneness with the mother of the imaginary phase, and this longing, this desire, produces the tendency to identify with powerful and significant figures outside itself. hinweist –, sondern auch indirekt, zum Beispiel in der Aneignung und Präsentation tradierter kultureller Objektivationen als symbolischen ›Kommunikationssignalen‹« (Götz 2011: 70). 173 Woodward 1997: 14. Woodward greift in diesem Zusammenhang auf Louis Althussers Vorstellung von der Anrufung (interpellation) des Einzelnen durch Ideologien, von ihr verstanden als Repräsentationssysteme, zurück (vgl. Woodward 1997: 42f.). Entsprechende Zusammenhänge zwischen Einzelnem, Subjekt und Ideologien hat Althusser vor allem in einem 1970 erschienenen Aufsatz, der später im Deutschen unter dem Titel »Ideologie und ideologische Staatsapparate« veröffentlicht wurde, erläutert (vgl. Althusser 2010). Darin beschreibt Althusser Subjektkonstitution als Folge und Voraussetzung von Ideologien, wobei er letztere als »›Repräsentation‹ des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 2010: 75) versteht. 174 Zur »dialogischen (und konflikthaften) Klärung kollektiver Identität« vgl. auch Gertenbach u. a. 2010: 100f. Zur Einbindung personaler Identitätskonstruktionen in kulturelle »Erzählmuster« vgl. Müller-Funk 2008: 13. Eine kritische Reflexion von strukturalistischen Vorstellungen von der Determination von Subjekten oder personaler Identität durch symbolische Formen, Diskurse und Praxen findet sich bei Jürgen Straub (2013: 116ff.) in Anlehnung an Ernst E. Boesch.

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There is thus an ongoing process of identification, where we seek some unified sense of ourselves through symbolic systems and identify with the ways in which we are seen by others.175

Ähnlich versteht Slavoj Zˇizˇek – mit Blick auf nationale Identitäten – auch die Identifikation mit Kollektiven dezidiert in Anlehnung an Lacan als unbewussten Prozess. Kollektivimaginationen können aus dieser Perspektive als Begehren eines Objekts, eines ›Dings‹, verstanden werden, mit dem der Einzelne seine Mangelerfahrung kompensiert.176 Diese Beziehung zu dem Ding ist das, was auf dem Spiel steht, wenn wir von der Bedrohung sprechen, die der Andere für unseren »way of life« darstellt: sie ist das, was bedroht ist, wenn zum Beispiel ein weißer Engländer in Panik gerät, angesichts der wachsenden Präsenz von »Fremden«. Was er um jeden Preis verteidigen will, ist nicht reduzierbar auf das sogenannte Set von Werten, die die nationale Identität stützen. Nationale Identifizierung ist ihrer Definition nach aufgebaut auf eine Beziehung zur Nation als Ding.177

Kollektive Identität als so verstandene Identifikation mit einer gesellschaftlichen Großgruppe ist entsprechend etwas anderes als das, was in der Soziologie als Rollenübernahme beschrieben wird.178 Auch die soziologische Vorstellung von kollektiver Identität als 175 Woodward 1997: 44f. Vgl. ähnlich auch Grabbe/Köhler/Wagner-Egelhaaf 2012: 12f. Lacan selbst beschreibt das Spiegelstadium – wie der Titel seines berühmten Aufsatzes sagt – als »Bildner der Ichfunktion« und betont selbst dessen prägenden Einfluss auf die Entwicklung von Menschen: »[D]as Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen (r8colements du moi) hervor« (Lacan 1973: 67; die kursiv gedruckten Wörtern erscheinen laut Übersetzer bereits im französischen Original als deutsche Begriffe). 176 Zˇizˇek rekurriert hier in erster Linie auf Jaques Lacans Ausführungen in dessen »Seminar«Schriften (Band I und VII). Zum psychoanalytischen Konzept des »Begehrens« und dem Objektbegriff Lacans, der Zˇizˇeks Überlegungen zu Grunde liegt, vgl. die entsprechenden Lemmata in Dylan Evans »Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse« (Wien: Turia und Kant 2002). 177 Zˇizˇeks 1994: 135. In ähnlicher Form beschreiben Gertenbach u. a. »das Geschehen in Vergemeinschaftungsprozessen als eine Ersetzung des Ich–Ideals der beteiligten Personen«, bei der »ein gemeinsames Objekt, eine Person, ein Symbol oder ähnliches die Stelle des Ich–Ideals einnimmt« (Gertenbach u. a. 2010: 86). Sie verweisen in diesem Zusammenhang neben Zˇizˇek unter anderem auf Wilhelm Reich, Elias Canetti, Alexander Mitscherlich und Klaus Theweleit (vgl. Gertenbach u. a. 2010: 86f.). 178 Zur »Sozialisation als Vergesellschaftungsprozess«, welche in der Soziologie in der Tradition Talcott Parsons als Integration des Heranwachsenden in verschiedene soziale Systeme

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im Zuge der Sozialisation internalisierter Komplex von gemeinsamen oder ähnlichen Überzeugungen und Meinungen […], von gemeinsamen oder ähnlichen emotionalen Einstellungen und Haltungen […] sowie von gemeinsamen oder ähnlichen Verhaltensdispositionen, zu denen unter anderem inklusive, solidarische und exklusive, ausgrenzende Dispositionen zählen,179

also die Vorstellung von einem großgruppenspezifischen Habitus, wie er in den 1990er Jahren zunehmend mit Blick auf Nationen angenommen wurde,180 ist hiervon zu unterscheiden.181 Zudem ist kollektive Identität – mit Slavoj Zˇizˇek verstanden als identifikatorischer Prozess mit dem ›Gemeinschafts-Ding‹ – abzugrenzen sowohl »von einer bloßen kognitiven Überzeugung«182 als auch vom Wechselspiel von narrativ erzeugter Empathie und Parteinahme, wie es Fritz Breithaupt in seiner Monographie »Kulturen der Empathie« (2009) beschreibt: Identifikation beinhaltet die imaginäre Verschmelzung der Perspektiven von Beobachter und Beobachtetem bis hin zur vollständigen Ersetzung des einen durch den anderen. Identifikation ist tendenziell total und situationsunabhängig, während Parteinahme an die eine Situation des Konflikts gebunden bleibt. Bereits im nächsten Konflikt kann man die Partei eines anderen ergreifen.183

Dabei erweisen sich Zˇizˇeks Überlegungen als anschlussfähig an das in dieser Arbeit vertretene Konzept der »immagined communities«, wenn er den »tautologische[n] Charakter des Dinges« und somit seine semantische Leere betont: Das nationale Ding existiert so lange, wie die Angehörigen des Gemeinwesens daran glauben, es ist buchstäblich ein Effekt dieses Glaubens an es.184

Dieser Glaube weise dabei eine reflexive Struktur auf, da er durch den Glauben, dass »andere (Angehörige des Gemeinwesens) an das Ding glauben«185, verstärkt werde. Hier zeigt sich ein weiteres Mal die Relevanz kultureller Repräsentationen von Gemeinschaft, da sie die Vorstellung vom ›geteilten Glauben‹ an die Gemeinschaft potenziell verstärken.186 Diskursive semiotische Entwürfe von Gemeinschaften, wie im Falle dieser Arbeit die literarischen Repräsentationen des Widerstands, können entsprechend unter anderem als Identifikationsangebote

179 180 181 182 183 184 185 186

beschrieben wird, die in der Übernahme entsprechend ausdifferenzierter, situationsspezifischer Rollen kulminiert, vgl. Niederbacher/Zimmermann 2011: 45–47. Wodak u. a. 1998: 69. Vgl. Wodak u. a. (1998: 68f.), die hier unter anderem auf Norbert Elias’ umfangreiche Monographie »Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert«, die 1989 erstveröffentlicht wurde, verweist. Zur Konzeptualisierung von nationaler Identität im Habitus-Paradigma Pierre Bourdieus vgl. Goltermann 2001: 84–87. Mühler/Opp 2006: 18. Vgl. auch Kraus 2006: 151f. Breithaupt 2009: 165f. Beide Zitate Zˇizˇek 1994: 136. Zˇizˇek 1994: 136. Vgl. ähnlich auch Grabbe/Köhler/Wagner-Egelhaaf 2012: 13f.

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Prämissen und Perspektiven

verstanden werden, auf die sich das Begehren des einzelnen Menschen potenziell ausrichten kann, sprich an denen er seine eigene kollektive Identität konstituieren kann. Ulrike Jureit beschreibt dieses Verhältnis mit Blick auf nationale Gemeinschaften wie folgt: Die Idee der Nation beruht auf Vorstellungen über beispielsweise eine gemeinsame Herkunft, und die damit verbundene Konstruktion bewegt sich im Spannungsfeld zwischen einem Imaginations- und einem Identifikationsprozeß. Unter erstem ist das nur in der Imagination der Akteure existierende Kollektivsubjekt zu verstehen, woran sich idealtypisch ein Identifikationsprozeß anschließt, in dem sich die Einzelmitglieder mit der vorher geschaffenen Gemeinsamkeit identifizieren. Dabei müssen sich die Trägerschichten einer solchen Konstruktionsleistung gegen mehrere Widerstände durchsetzen, insbesondere gegen die individuellen, aber auch kollektiven Erfahrungen von sozialer, ökonomischer und politischer Ungleichheit.187

Der Blick dieser Arbeit richtet sich dabei allerdings nicht auf solche potenziellen Identifikationen von realen Menschen, sondern auf die ›Angebotsseite‹, auf die von Jureit so benannten Imaginationsprozesse. Er gilt sowohl den Merkmalen, die verschiedenen Gemeinschaften literarisch zugeschrieben werden, als auch den literarischen Verfahren, mit denen verschiedene Merkmale zueinander in Beziehung gesetzt, möglicherweise zu einer Gemeinschaft als Einheit synthetisiert oder verschiedene Gemeinschaften in ein bedeutungsvolles Verhältnis zueinander gesetzt werden. Fokussiert werden also – wie man literaturwissenschaftlich ›umgangssprachlich‹ ausdrücken könnte – das Zusammenspiel von Form und Inhalt der Gemeinschaftsimaginationen oder, um wiederholt mit Stuart Hall zu sprechen, die »different ways of organizing, clustering, arranging and classifying concepts, and of establishing complex relations between them«188. Kollektive Identitäten als Identifikationen Einzelner mit gesellschaftlichen Großgruppen werden insofern zum Gegenstand der Analysen, als sie als inszenierte Identitätsprozesse der literarischen, mithin fiktiven Erzählinstanzen oder Figuren in Erscheinung treten und somit einen durchaus zentralen Aspekt der literarischen Imagination von Gemeinschaften darstellen (s. Kap. 2.3.1).

2.2

Kontinuitäts- und kohärenzstiftende Verfahren der Gemeinschaftsimagination

Die eben skizzierte Unterscheidung zwischen zugeschriebenen Merkmalen einerseits und den Verfahren der Zuschreibung, Einheitsstiftung oder Klassifizierung andererseits schließt in etwa an Jürgen Straubs Differenzierung zwi187 Jureit 2001: 12. 188 Hall 2011b: 17.

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schen qualitativer Bestimmung von Identität und der Auseinandersetzung mit formalen Strukturen von Identitätsprozessen an, wie er sie bezüglich personaler Identität vornimmt. Der qualitative Identitätsbegriff bezieht sich nach Straub auf die fundamentalen Schwerpunkte des »Selbst- und Weltverhältnisses einer Person«, also auf die Vorstellungen des Einzelnen, »was für ein Mensch er ist und sein möchte«189. Ein qualitativer Gemeinschaftsbegriff fokussiert entsprechend die für eine Gemeinschaft als zentral geltenden Charakteristika, also die mit ihr assoziierten Merkmale, sprich das, was in den verschiedenen Imaginationen eine Gemeinschaft als solche ›ausmacht‹. Es erscheint evident, dass die in dieser Arbeit fokussierten nationalen und politisch-sozialen Kollektive gerade auf dieser Ebene, also bezüglich der ihnen zugeschriebenen zentralen Charakteristika unterschieden werden können: So exponiert beispielsweise die Vorstellung von einer Gemeinschaft der Arbeiter andere Charakteristika als die Imagination eines Kollektivs der Kleinbürger. Identität als »formaltheoretischer Begriff«190 nimmt nach Straub dagegen die »Prozesse in den Blick, mit denen Personen sich als Einheit«191 konstituieren, versteht also die »Identität einer Person als Konstrukt«192 : Einheit ist zum einen als Kohärenz von moralischen und ästhetischen Maximensystemen zu denken, zum anderen als Kontinuität zeitlicher Differenzen, was im Falle personaler Identität vorrangig heißt: als biographische Kontinuität, sodann auch als Geschichtsbewusstsein einer Person, durch das sich diese gleichsam in der Historie identitätsrelevanter Bezugskollektive verortet. […] Mit beiden formaltheoretischen Begriffen (Kohärenz, Kontinuität) geht es letztlich um die Integration von Verschiedenem (bzw. vom Subjekt Unterschiedenem) in eine insgesamt einheitliche und (an bestimmten Kriterien gemessene) stimmige Gestalt. […] Identität als Struktur-, Gestalt- oder Formbegriff ist das Resultat psychischer Integrationsleistungen, die man theoretisch als eine Synthesis des Heterogenen begreifen kann.193

Übertragen auf die Imagination von Gemeinschaften geraten aus dieser Perspektive solche Verfahren in den Blick, mit denen verschiedene Merkmale zueinander in Beziehung gesetzt werden und dabei möglicherweise die Vorstellung von einer Gruppe von Menschen und Merkmalen als Einheit erzeugt wird, die von einer anderen zu unterscheiden ist.194 Die »Synthesis des Heterogenen« hat nach Jürgen Straub zwei zentrale iden189 190 191 192 193 194

Straub 1998: 91. Straub 1998: 92. Straub 1998: 91. Straub 1998: 93. Straub 1998: 91f. Hierzu Gertenbach u. a.: »So wird bereits einem oberflächlichen Blick nicht entgehen, dass sich eine Homogenisierung, Angleichung oder Harmonisierung nach innen von einer Absetzung, Distinktion oder Differenzsetzung nach außen unterscheiden lässt« (Gertenbach u. a. 2010: 67).

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Prämissen und Perspektiven

titätskonstituierende Funktionen: die Herstellung von Kontinuität einerseits und die Produktion von Kohärenz andererseits, welche wiederum auch für die Imagination von Gemeinschaften zentral sind. Eine Arbeit, die sich der Analyse literarischer Gemeinschaftsimaginationen widmet, fokussiert nun insbesondere verbal-sprachliche Verfahren, die diese beiden Funktionen erfüllen. Die Herstellung von Kontinuität erfolgt aus dieser Perspektive in erster Linie über Narrationen, wie im ersten Unterkapitel erläutert wird (Kap. 2.2.1). Das zweite Unterkapitel konzeptualisiert dann sich sprachlich manifestierende Grenzziehungen als ein zentrales Verfahren, mittels dessen potentiell Kohärenz erzeugt werden kann (Kap. 2.2.2). Während Identitäten und Gemeinschaften sich bezüglich ihrer qualitativen Merkmale unterscheiden, lassen sich mit Straub diese genannten Verfahren der Identitätskonstitution durchaus als für verschiedene Identitäten und Gemeinschaften gleichermaßen gültig verstehen,195 weshalb sie hier im Vorfeld der Analysen explizit theoretisch reflektiert werden sollen. Während Jürgen Straub allerdings beide Aspekte – also inhaltliche und formale Bestimmung von Identität – analytisch strikt voneinander trennen will196 und selbst die Konzentration auf die Theoretisierung formaler Identitätsprozesse präferiert,197 halte ich die verbindende Berücksichtigung beider Aspekte für die Analyse von literarischen Gemeinschaftsimaginationen, ähnlich wie Heiner Keupp u. a. es für die sozialpsychologische Identitätsforschung postulieren, für noch gewinnbringender : Wenn diese formale Seite auf der Ebene der anthropologischen Basisprozesse beantwortet wird, dann ist sie wenig hilfreich. Wenn sie aber mit Bezug auf den Herstellungsprozess von Identitätskonstruktionen in eine sozialpsychologische Detailanalyse aufgenommen und rekonstruiert werden kann, dann ist das durchaus eine vielversprechende Frageperspektive. Letztlich wird aber eine gehaltvolle Identitätsforschung nicht von den Inhalten ›gereinigt‹ und auf die formalen Vollzugsprozesse reduziert werden können. Nur in der Abarbeitung an den material-inhaltlichen Problemkom-

195 Diese Aussage bezieht sich vor allem auf in einer gemeinsamen historisch-kulturellen Situation existierende Identitäts- und Gemeinschaftsentwürfe (vgl. Straub 1998: 92). Der von Heiner Keupp u. a. formulierte Vorwurf, Straub plädiere für eine »›zeitlose Identitätsmechanik‹« (Keupp u. a. 2006: 32), überspitzt daher Straubs Theoretisierungen zu unrecht. 196 Straub 1998: 91; vgl. ähnlich auch Straub 2000: 171. 197 »Identität ist als theoretische Kategorie – im Pragmatismus, im symbolischen Interaktionismus, in der Psychoanalyse, der Theorie kommunikativen Handelns und anderen Ansätzen – ein im wesentlichen formaltheoretischer Begriff. Auf theoretischer Ebene geht es eben nicht um qualitative Bestimmungsmerkmale der Identität konkreter Menschen, sondern um formale Strukturmerkmale eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses von Personen, einer historischen und kulturspezifischen Subjektivitätsform« (Straub 1998: 92).

Kontinuitäts- und kohärenzstiftende Verfahren der Gemeinschaftsimagination

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plexen kann das Wirkgeschehen der sich vollziehenden Identitätsarbeit sichtbar gemacht werden.198

In der analytischen Auseinandersetzung mit den widerstandsliterarischen Texten wird es entsprechend darum gehen, zu beschreiben, wie in den und durch die Texte konkrete unterschiedliche qualitative Merkmale der imaginierten Gemeinschaften – in Anlehnung an Straub kann man sie »Identitätsprädikate«199 nennen – zu kontinuierlichen und kohärenten Gemeinschaftsentwürfen synthetisiert werden – oder eben auch nicht.

2.2.1 Erzählen und Gemeinschaft Zur Konzeption narrativ-autobiographischer Identität In den 1990er Jahren etablierte sich auch in der deutschsprachigen Sozialpsychologie, Soziologie und Philosophie mit den Arbeiten von Norbert Meuter (1995), Wolfgang Kraus (1996), Heiner Keupp u. a. (1999) sowie Jürgen Straub die Vorstellung von einer sich narrativ konstituierenden personalen Identität.200 Aus dieser Perspektive wird das Erzählen zu einem, wenn nicht dem zentralen Verfahren, mittels dessen Individuen sich als sinnvolle Einheiten entwerfen, also heterogene Aspekte ihres Lebenslaufs zu etwas Bedeutungsvollem zusammenfügen: Und es ist diese Verknüpfung von Identität und Sinn, die es letztlich auch ermöglicht, ein narratives Identitätsmodell zu entwickeln: bei Geschichten bzw. narrativen Einheiten handelt es sich immer um jeweils mehr oder weniger komplexe sinnhafte Identitäten. Das Erzählen einer Geschichte bedeutet, eine sinnhafte Ordnung aufzubauen, die sich zu einer Einheit schließt, die selbst wiederum sinnhaft ist. (Die spezielle Identität einer Person besteht dann in dem Aufbau bzw. der Konstruktion der sinnhaften Ordnung einer jeweiligen Lebensgeschichte.)201

Einen gemeinsamen Bezugspunkt dieser Arbeiten zum Verständnis des Narrativen stellen die Überlegungen Paul Ricœurs dar, allen voran seine dreibändige 198 Keupp u. a. 2006: 32. 199 Straub 2000: 171. 200 Auf die vorgängige Entwicklung des Konzepts der narrativen Identität vor allem im angloamerikanischen Sprachraum in den 1980er Jahren machen Norbert Meuter (vgl. 1995: 13) und Wolfgang Kraus (vgl. 1996: 168–182) aufmerksam. Zur zunehmenden kulturwissenschaftlichen Adaption oder Ausrichtung narratologischer Konzepte vgl. A. Nünning 2013. 201 Meuter 1995: 32. Zur Unterscheidung zwischen »Biographie und Lebenslauf« vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Alois Hahn. Hahn differenziert hier zwischen einem Lebenslauf als »Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen« und Biographien als »selektive[n] Vergegenwärtigungen« (Hahn 2000: 101).

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Prämissen und Perspektiven

Abhandlung zum Zusammenhang von »Zeit und Erzählung« (dt. 1988–1991). Hier entwickelt Ricœur sein Verständnis von Narration als »Synthesis des Heterogenen«202, welches er dann insbesondere in der daran anschließenden Monographie »Das Selbst als ein Anderer« (dt. 1996) zur Konzeptualisierung von Identität als narrative Konstruktion weiter ausbaut.203 Ricœur versteht hier die (ipse-)Identität des einzelnen Menschen, sein Selbst, als diejenige der Figur einer erzählten Geschichte, die die Handlung in einer Erzählung vollziehe und somit selbst »zum Gegenstand einer Fabelkomposition«204 werde: Aus dieser Korrelation zwischen der Handlung und der Figur der Erzählung ergibt sich eine innere Dialektik der Figur, die das genaue Gegenstück zu der durch die Fabelkomposition entfalteten Dialektik von Konkordanz und Diskordanz bildet. Diese Dialektik besteht darin, daß auf der Ebene der Konkordanz die Figur ihre Einzigartigkeit aus der Einheit ihres Lebens schöpft – eine Einheit, die ihrerseits als selber einzigartige zeitliche und sich von jeder anderen unterscheidende Totalität angesehen wird. Auf der Ebene der Diskordanz wird diese Totalität durch den Unterbrechungseffekt unvorhersehbarer Ereignisse bedroht (Begegnungen, Zwischenfälle usw.), die sie markieren. Die konkordant-diskordante Synthesis bewirkt, daß die Kontingenz eines Ereignisses zur gewissermaßen nachträglichen Notwendigkeit einer Lebensgeschichte beiträgt, mit der die Identität der Figur gleichzusetzen ist. […] Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.205 202 Ricœur 1988: 7. 203 Besonders zwei Aspekte dieser Gedankengänge Ricœurs werden in den verschiedenen fachdisziplinären Bereichen der Identitätsforschung immer wieder aufgenommen: zum einen seine Unterscheidung zwischen idem- und ipse-Identität (vgl. dazu exemplarisch Reckwitz 2001), zum anderen seine sich daraus ergebende Konzeption der ipse-Identität, des »Selbst«, als narrative Identität. Die erstgenannte Unterscheidung bildet den Ausgangspunkt der Argumentation in »Das Selbst als ein Anderer«. Unter der idem-Identität, die er als relationalen Begriff begreift, subsummiert Ricœur die numerische Identität, welche auf die Reidentifizierung des Selben abziele, die qualitative Identität, die auf der größtmöglichen Ähnlichkeit des Gleichen gründe, und Identität verstanden als ununterbrochene Kontinuität, die für strukturelle Beständigkeit durch die Zeit stände (vgl. Ricœur 1996: 144–146). Die Konzeption der ipse-Identität wird dagegen zur Antwort auf die Frage, wie »eine Form der Beständigkeit in der Zeit, die nicht bloß das Schema der Kategorie der Substanz darstellt«, gedacht werden kann; oder mit Ricœur noch einprägsamer formuliert: »Läßt sich eine Form der Beständigkeit in der Zeit mit der Wer-Frage verbinden, insofern diese sich auf keinerlei Was-Frage reduzieren läßt?« (Beide Zitate Ricœur 1996: 147) Hier setzt seine Konzeption von personaler Identität als narrative Identität an, bei der er dann auf seine Überlegungen zur Vermittlungsfunktion von Narrationen zurückgreift, wie er sie vor allem im ersten Band von »Zeit und Erzählung« im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Aristotelischen Mimesis-Begriff und im Anschluss daran expliziert (vgl. Ricœur 1988; 54–135). 204 Ricœur 1996: 176. 205 Ricœur 1996: 181f. Vgl. ähnlich auch Ricœur 1991: 396. In »Zeit und historische Erzählung« beschreibt Ricœur den Akt der Fabelkomposition wie folgt: »Die Kompositionskunst be-

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Jürgen Straub beschreibt diesen Zusammenhang von Erzählen und Identität wie folgt und verweist dabei mindestens implizit auch auf die therapeutische Funktion des Erzählens: Die auf Kontinuität abzielende Erzählung führt, einem gängigen Vorurteil zum Trotz, keineswegs zur nachträglichen »Eliminierung« von Kontingenzerfahrungen. Sie macht Kontingenz vielmehr deutlicher bewußt. Sie bedarf ihrer und bearbeitet sie. Gewiß, diese Bearbeitung führt auch zur Reduktion von Kontingenz, genauer zu einer Art Verwandlung. […] Sie macht aus der erlebten Kontingenz, aus einem abrupten, diskontinuierlichen Vorfall, der ins Leben einbricht und für den betroffenen dennoch etwas »Äußerliches« darstellt, etwas Sinn- und Bedeutungsvolles. Sie transformiert ein kontingentes Geschehen in ein artikulierbares, in eine Geschichte integrierbares Widerfahrnis. Dieses besitzt fortan eine narrativ konstituierte Bedeutung. […] Die Erzählung schafft Kontingenzbewußtsein, während sie das Diskontinuierliche, Zufällige, Widerfahrnisartige unserer Erfahrung kognitiv bearbeitet und zu dessen emotionaler Verarbeitung beiträgt.206

Das Konzept einer narrativen Identität verdeutlicht somit einerseits den engen Zusammenhang zwischen autobiographischen Erinnerungsprozessen und personaler Identität. Erinnerungen im narrativen Modus des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses dienen der Identitätsbildung, sie ermöglichen dem Menschen »›Ich‹ sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen«207. Andererseits reagieren die entsprechenden Arbeiten damit nicht zuletzt auf die Frage, inwieweit Identität in Anbetracht komplexer, sich ausdifsteht darin, diese Dissonanz als eine Konsonanz erscheinen zu lassen: dann triumphiert das ›durch einander‹ (dia) über das ›nach einander‹ (meta) […]. Im Leben, nicht in der tragischen Kunst zerstört die Dissonanz die Konsonanz« (Ricœur 1988: 73. 1988: 73). Die in »Zeit und Erzählung« verwendeten Begriffe »Konsonanz« und »Dissonanz« werden in der später erschienenen Monographie »Das Selbst als ein Anderer« durch die weitestgehend synonym verwendeten Begriffe »Konkordanz« und »Diskordanz« ersetzt. 206 Straub 2000: 173. 207 Markowitsch/Welzer 2005: 11. Zu unterscheiden ist hier zwischen der Vorstellung von Erinnerung »als grundsätzlich von Bewusstsein begleitet« (Zierold 2006: 43) und Gedächtnis als einer Funktion des Gehirns, die für verschiedene – bisweilen auch unbewusste – kognitive Prozesse verantwortlich ist. Erinnerungen referieren im Gegensatz zu automatisierten motorischen Prozessen (prozedurales Gedächtnis) oder dem Abruf erlernten Wissens (semantisches Gedächtnis) auf eigene vergangene Erfahrungen, »in der Regel biographische Episoden, die emotional gefärbt sind und die man kontextgebunden, also in einer Art mentaler Zeitreise, zurückverfolgt« (Markowitsch/Welzer 2005: 83). Alois Hahn allerdings versteht die Zeitlichkeit narrativ-autobiographischer Identitätsentwürfe als eine dezidiert kulturspezifische Variante der Identitätskonstruktion, die um so stärker hervortrete, je größer die von einer Gesellschaft »sozialstrukturell angebotenen Freiheitsräume[ ]« (Hahn 2000: 108) seien: »Die Verzeitlichung der Selbstdarstellung wird vielmehr erst da zwingend, wo gleiche Gegenwarten der Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten sein können, wo also die Gegenwart nicht mehr hinlänglich viel Vergangenheit transparent macht. Erst in einer solchen Situation weiß man nicht mehr, wer ich war, wenn man weiß, wer ich bin« (Hahn 2000: 107).

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Prämissen und Perspektiven

ferenzierender Gesellschaften und einer »Destandardisierung der Normalbiographie«208 noch als einheitliche Gestalt denkbar ist.209 Sie betonen zudem durchweg den Prozesscharakter von Identität, die nicht als etwas Statisches gedacht werden könne, sondern immer wieder von Individuen aktiv hervorgebracht werde.210 Norbert Meuter plädiert in diesem Zusammenhang – ähnlich wie Straub – dafür, nicht mehr zu fragen, »was eine Identität ist, sondern wie (und wozu) sie produziert wird«211. In Anlehnung an Niklas Luhmann spricht Meuter daher von »poietische[n] Leistungen«212 von Identitätsprozessen: Diesen kreativen und individuellen Prozeß sehe ich als das Muster, nach dem sich allgemein die Produktion von Identitäten verstehen läßt. Der Begriff der poiesis bietet sich vor allem im Hinblick auf ein narratives Modell von Identität an, denn die Herstellung einer Geschichte oder Fabel läßt sich wiederum als das Muster oder Paradigma für die poietische Produktion der Einheiten eines Werkes verstehen.213

Anders oder stärker als Erik H. Erikson, der die Herausbildung von einem »einigermaßen sichere[n] Gefühl der Identität«214 als zentrale Herausforderung vor allem der menschlichen Adoleszenz versteht,215 betonen die genannten Autoren dabei die Unabschließbarkeit und ›Lebenslänglichkeit‹ von Identitätsprozessen. 208 Kraus 1996: 3. 209 Vgl. dazu Kraus 1996: 1–11. Wie für Gemeinschaft gilt auch für Identität, wie neben vielen anderen Heiner Keupp u. a. argumentieren, dass es sich um ein Phänomen handelt, das in seiner gesellschaftlichen Relevanz nur als spezifisch modernes Phänomen zu verstehen ist (vgl. vor allem auch Hettlage 2000: 9–16). Während Keupp u. a. bezüglich Identitätsprozessen vor allem mit dem Aufbrechen der organisierten Moderne in den 1970er Jahren eine neue Dynamik konstatieren (vgl. Keupp u. a. 2006: 70–76; ähnlich auch Götz 2011: 70–74), hält insbesondere Jürgen Straub diese These von spezifisch postmodernen Identitätsprozessen für nicht empirisch belegt (vgl. insbesondere Straubs kritische Auseinandersetzung mit Wolfgang Welschs und Wolfgang Kraus’ Arbeiten [2000: 176–186]). 210 Dazu Neumann/Nünning 2008: 7: »The potential of narratives to suggest a rather coherent identity, therefore, does not imply that the process of self-narration could ever be completed. Because every narrative self-account is itself part of a life, embedded in a lived context of interaction, intention, ambiguity and vagueness, there is always a next and different story to tell.« 211 Meuter 1995: 28. 212 Meuter 1995: 29. 213 Meuter 1995: 30. Die Prozesshaftigkeit von Identität betonend sprechen zum Beispiel Keupp u. a. von »alltäglicher Identitätsarbeit« (Keupp u. a. 2006) und Wolfgang Kraus von »Identität als Projekt« (Kraus 1996: 164–167). 214 Erikson 1989: 114. Zum zentralen Stellenwert und der Diskussion der seit den 1950ern publizierten Arbeiten Erik H. Eriksons, vor allem seines Stufenmodells von »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit« (Erikson 1989: 55), für die (sozial-)psychologische Identitätsforschung vgl. Kraus 1996: 13–21; Keupp u. a. 2006: 25–33; und Straub 1998: 83–86. 215 Vgl. Erikson 1989: 106–114. Allerdings verweist auch Erikson selbst an anderer Stelle bereits auf die ›Lebenslänglichkeit‹ der Identitätsbildung (vgl. Erikson 1989: 140f.).

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Kollektive Identitäten als ›eingebettete‹ Selbst-Narrationen An diese Überlegungen anschließend lässt sich personale Identität als SelbstNarration beziehungsweise Selbst-Erzählung verstehen; Begriffe, die von den eingangs genannten Autoren wiederholt verwendet werden.216 Solche SelbstNarrationen erzeugen die Vorstellung von einer Person als über die Zeit hinweg einheitliche Gestalt. Sie stiften potenziell Kontinuität, also fundieren diachrone Identität, indem sie Lebensgeschichten entwerfen: Eine Person erhält sich im Wandel der Zeit als ein und dieselbe (unter anderem) dadurch, daß sie Geschichten bzw. eine Selbst-Geschichte erzählt, die temporale Differenzen (und die damit verwobenen Selbst-Veränderungen) »relationiert«, synthetisiert und die präsentierte Lebensgeschichte dadurch als einheitlichen Zeitzusammenhang, als autobiographische Gestalt, erscheinen läßt.217

Wie Maurice Halbwachs, der als einer der Ersten die Rahmung individueller Erinnerungsprozesse durch ›cadres sociaux‹ herausgearbeitet und somit die Kontextabhängigkeit und den kollektiven Charakter von Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozessen betont hat,218 versteht auch Wolfgang Kraus Selbst-Narrationen als grundsätzlich kulturspezifisch: Erzählend organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einen geschlossenen Verweisungszusammenhang. Die narrativen Strukturen sind indes keine Eigenschöpfung des Individuums, sondern im sozialen Kontext verankert und von ihm beeinflußt, so daß ihre Genese und ihre Veränderung in einem komplexen sozialen Prozess stattfinden. Insofern präformieren sie die Art und Weise, in der eine Person sich erzählen kann, und damit auch ihr Verständnis von sich selbst. Aus dieser Sicht kann das Selbst auch als ein narratives Selbst verstanden werden.219

Kraus spricht in diesem Zusammenhang von einem »Set von ›Ready Made‹Verständlichkeiten«, womit er kulturell etablierte Narrationstypen/Narrative bezeichnet, an deren narrativen Grundstrukturen sich Selbst-Narrationen orientierten: Denn um verständlich zu sein, müssen die Geschichten des Selbst allgemein akzeptierte Regeln der narrativen Konstruktion verwenden.220

216 Vgl. exemplarisch Keupp u. a. 2006: 102; Kraus 1996: 170; und Straub 2000: 172. 217 Straub 2000: 172. Vgl. ähnlich auch Straub 1998: 128–130. 218 Vgl. Halbwachs 1985 (1925). Dass die kollektive Prägung individuellen Erinnerns nach wie vor ein zentrales Forschungsobjekt darstellt, zeigen Studien des Sozialpsychologen Harald Welzer zum »kommunikativen Gedächtnis«, in denen er sich mit der »erfahrungsabhängigen Gehirnentwicklung« und der Rolle sozialer und kultureller Schemata für die Entwicklung des Gedächtnisses auseinandersetzt (vgl. Welzer 2002: 10ff.). 219 Kraus 1996: 159f. Vgl. dazu auch V. Nünning 2013: 148. 220 Beide Zitate Kraus 1996: 176. Kraus unterscheidet in diesem Zusammenhang dezidiert zwischen literarischen Grundformen des Erzählens einerseits und sozialpsychologisch

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Darüber hinaus verweist er auf die Verankerung des Individuums in einer »Vielzahl unterschiedlicher Lebenswelten […], für die es eigene Formen der Selbst-Narration«221 gäbe. Lebensgeschichten erscheinen so als »Narrationsnester«, sie sind ›eingebettet‹ in weitere lebensweltlich relevante narrative Texte: Narrationsnester sind Geschichten, die in andere Narrationen eingelagert sind, also Geschichten innerhalb von Geschichten. Eine Person kann sich z. B. als Teil einer historischen Entwicklung darstellen.222

Kollektive Identitäten sind entsprechend als solche Selbst-Narrationen zu verstehen, die in enger, beinahe metaleptischer Wechselbeziehung zu solchen Narrationen stehen, die Gemeinschaften entwerfen. So kann die eigene Lebensgeschichte beispielsweise als Teil einer nationalen Geschichte respektive Geschichtsschreibung konzipiert sein, oder ein Ich versteht und erklärt sich selbst als Teil einer benachteiligten ›Klasse‹ und drückt dies nicht zuletzt dadurch aus, dass es sich eines entsprechenden ›klassenkämpferischen‹ Vokabulars bedient. Selbst-Narrationen verschiedener kollektiver Identitäten können zwar prinzipiell miteinander verknüpft, aber nicht beliebig miteinander kombiniert werden: In welchem Maße Kohärenz möglich ist, hängt zum einen davon ab, in welchem Umfang eine Gesellschaft über solche übergeordneten Narrationen verfügen kann und welche Einnistungsmodelle sie den Subjekten dafür zur Verfügung stellt. […] [S]o ist […] davon auszugehen, daß es Gesellschaften und Epochen gibt, die kohärentere Ideologieangebote machen (können) als andere und es den Individuen dadurch erleichtern, Selbst-Narrationen im Sinne von Narrationsnestern zu entwickeln. Bedrohlich wird diese Situation dann, wenn die gesellschaftlichen Sinnangebote nicht mehr tragen und ihr Zusammenbruch auch die daran gekoppelten Selbst-Narrationen zerstört.223

Wolfgang Kraus verdeutlicht, dass Selbst-Narrationen nicht nur mit verschiedenen lebensweltlich oder situativ spezifischen Narrativen interagieren, sondern dass sie zudem auf »handlungsstützende Rollenbesetzungen«224 angewiesen sind, in dem Sinne, dass soziale Interaktionspartner durch ihr Verhalten und

221 222 223

224

relevanten allgemeinen Formen der Selbst-Narration andererseits (vgl. Kraus 1996: 173– 176). Kraus 1996: 177. Kraus 1996: 178. Kraus 1996: 178f. Peter Braun und Bernd Stiegler betonen in diesem Zusammenhang die Relevanz gesellschaftlicher Institutionen, die, »qua ihrer Autorität und Macht, bestimmte Muster und Präskripte« bereitstellen. Solche Institutionen – als Beispiel für das europäische Mittelalter nennen sie die katholische Kirche – bezeichnen sie in Anlehnung an Alois Hahn als »Biographiegeneratoren« (beide Zitate Braun/Stiegler 2012: 12). Kraus 1996: 180.

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Handeln den narrativen Entwurf des Ichs stützen.225 Auf Konstitutionen kollektiver Identität übertragen bedeutet dies, dass diese zumindest in gewissem Rahmen anderer Menschen bedürfen, die die in der Selbst-Narration hervorgehobenen Gemeinsamkeiten in der sozialen Interaktion oder Kommunikation bestätigen. Außerdem sind sie auf die intersubjektive Anerkennung der narrativ entworfenen Zugehörigkeiten angewiesen und sind nicht zuletzt dadurch durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägt. So argumentiert Wolfgang Kraus aus diskurstheoretischer Perspektive, dass »Selbst-Narrationen nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Prozesse«226 sind: Indem sie sich auf das gesellschaftlich verfügbare Formenpotenzial stützen, schreiben sich die darin eingewobenen Machtbeziehungen auch ein in die Ausgestaltung individueller Selbst-Narrationen. […] Die Freiheitsgrade in der Neugestaltung und Weiterentwicklung von Selbst-Narrationen sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen erkämpft werden. Die Veränderungen sind selbst Ergebnis gesellschaftlicher Macht, und wenn sich Subjekte dagegen anerzählen können, dann weil es ihnen gelingt, ihre Autonomie zumindest graduell und vorübergehend zu verteidigen und einzuschreiben in dieses Formenpotenzial. Das bedeutet Kampf und Auseinandersetzung.227

Das hier skizzierte Verständnis von kollektiver Identität als ›eingebettete‹ SelbstNarration, also als in andere machtvolle Erzählungen integrierte Erzählung, verdeutlicht den bereits in Kapitel 2.1 skizzierten engen Zusammenhang zwischen personaler respektive kollektiver Identität einerseits und semiotischen Entwürfen von Gemeinschaft andererseits. Zugleich stützt es die unter anderem von Ludwig Fischer vertretene These vom Ende des Zweiten Weltkriegs als eines »bewußtseinsgeschichtlichen Bruch[s] schwerster Art« in der deutschen Gesellschaft, in der »für weite Kreise der Bevölkerung zentrale Identifikationsangebote«228 ihre Anerkennung verloren.

Gemeinschaftsnarrationen und -narrative: Narration und Gemeinschaft aus einer modifizierten Perspektive kulturwissenschaftlicher Erinnerungstheorien In seiner großangelegten Monographie »[ü]ber die Kultur und ihre Narrative« verweist Wolfgang Müller-Funk (2001) auf die Relevanz, die Narrationen sowohl für die Herausbildung personaler Identität als auch für die Konstitution von Gemeinschaften haben: 225 Vgl. ähnlich auch Neumann/Nünning, die ebenfalls die Akzeptanz von Selbst-Narrationen durch Andere betonen (2008: 8). 226 Kraus 1996: 181. 227 Kraus 1996: 181f. Zur Relevanz des Konzepts »Anerkennung« für Theorien kollektiver Identitäten vgl. auch Kraus 2006: 152ff. 228 Beide Zitate Fischer 1986: 34.

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Ganz offenkundig speisen sich die Erzählungen der kleinen wie der großen imaginären Subjekte aus demselben Reservoir: dem Formenbestand des Narrativen.229

Dass Narrationen auch für die Imagination von Gemeinschaften zentral sind, haben in den letzten Jahrzehnten vor allem auch und wiederholt kulturwissenschaftliche Publikationen gezeigt, die sich aus verschiedenen Perspektiven an den Konzepten »kollektive Identität« und »kollektives Gedächtnis« abgearbeitet haben.230 Im Fokus stand und steht hier oftmals der Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen von Erinnerungen oder institutionalisierten Vergangenheitsbezügen einerseits und der Herausbildung kollektiver Identität andererseits, den Birgit Neumann wie folgt skizziert: Die bewusste Vergegenwärtigung, identitätsstiftende Aneignung und intersubjektive Vermittlung von gruppenkonstitutiven Erfahrungen sind auf Prozesse der Narrativierung angewiesen. Durch Akte der Selektion werden aus der Fülle von möglichen Vergangenheitsreferenzen – Orten, Zeitpunkten, Persönlichkeiten oder Ereignissen – jene Elemente ausgewählt, die im Lichte gegenwärtiger Bedingungen als relevant und erinnerungswürdig erscheinen. Durch Prozesse der narrativen Konfiguration werden diese Elemente in eine sequenzielle, d. h. diachron strukturierte Ordnung gebracht. […] Ebenso wie auf individueller Ebene stellen sich Narrationen auch auf kollektiver Ebene als Akte der Sinnstiftung, also als Versuch der »Sinnbildung über Zeiterfahrung« (Rüsen 1994, S. 8) dar. Erzählungen erfüllen kaum zu überschätzende sozial-interaktive Funktionen, die den Aufbau einer längerfristigen Gemeinschaft sicherstellen. In Form von so genannten kollektiven bzw. gruppenspezifischen Selbstnarrationen können sie zum zentralen Instrument der Identitätsstiftung und Gruppenkohäsion werden. […] In Narrationen aktualisieren Gruppen jene Vergangenheitserfahrungen und damit verbundene Wertehierarchien, die sie als eben diese Gruppe auszeichnen.231 229 Müller-Funk 2008: 14. 230 Als Auslöser für diesen andauernden ›Boom‹ kulturwissenschaftlicher Gedächtnis- und Erinnerungstheorie kann – auf jeden Fall im deutschsprachigen ›Wissenschaftsraum‹ – die einschlägige Monographie »Das kulturelle Gedächtnis« von Jan Assmann (1992) gelten. Eine Skizze der Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungstheorie, die auch die theoretischen Bezugspunkte Assmanns integriert, liefert Astrid Erll in ihrer Einführung »Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen« (vgl. Erll 2005: 13– 40). 231 Neumann 2005: 101f. Die von Birgit Neumann zitierte Aussage Rüsens referiert auf folgende Monographie des Historikers: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurecht zu finden. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1994. Das Zitat Neumanns verdeutlicht die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen kollektivem ›Erinnern‹, das in der Terminologie Aleida Assmanns als »Funktionsgedächtnis« bezeichnet wird, und dem, was Aleida Assmann als Speichergedächtnis – Astrid Erll spricht später von kultursemantischem Gedächtnis (vgl. Erll 2005: 106) – konzipiert hat. In Anlehnung an psychologische Vorstellungen vom individuellen Gedächtnis beschreibt Aleida Assmann das Funktionsgedächtnis als die »in der Konfiguration der story gebundenen Elemente« (A. Assmann 1995: 184) des Vergangenheitsbezugs. Das Speichergedächtnis umfasse dagegen die »›amorphe Masse‹ ungebrauchter nicht-amalgierter Erinnerungen, die andererseits aber auch nicht schlechthin vergessen wird, weshalb wir sie einem zweiten

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Problematisch erscheinen solche Überlegungen, wenn sie den Begriff der ›Selbst-Narration‹ eins zu eins auf Gruppen übertragen. Die Rede von »kollektiven bzw. gruppenspezifischen Selbstnarrationen« erweist sich als ungenau, wenn man nach der konkreten Instanz fragt, die sie hervorbringt. Bei Neumann treten – wenn nicht, wie zu Beginn der zitierten Passage, passivisch formuliert wird – ausschließlich »Gruppen« als Urheber der Erzählungen in Erscheinung; eine Formulierung, die – sofern man nicht über von einem Autorenkollektiv hervorgebrachte Texte spricht – nur metonymisch gemeint sein kann. Dies verdeckt eine Ungenauigkeit in der theoretischen Konzeptualisierung des Verhältnisses von Individuum, Gruppe und Imagination, die von mir ähnlich bereits in Kapitel 2.1 mit Blick auf den Begriff der »kollektiven Identität« diskutiert wurde: Es sind nicht imaginierte gesellschaftliche Großgruppen, die Erzählungen und somit ihre vermeintliche kollektive Identität hervorbringen, sondern in der Regel ist ein Einzelner der Urheber einer konkreten Narration. Mit Blick auf ein Kollektiv von Selbst-Narrationen zu sprechen ist daher ähnlich problematisch wie von kollektiver Identität als Identität einer Gruppe zu sprechen. Ein einzelner narrativer Text eines sicherlich kulturell spezifisch geprägten Urhebers erzeugt zwar potentiell eine bestimmte Vorstellung einer Gemeinschaft und trägt somit zur Imagination von Gemeinschaften bei; sie begründet damit aber noch keine wie auch immer geartete Gemeinschaft von Menschen, die als solche homogen wäre oder gar als eine Art Kollektivsubjekt Selbst-Narrationen hervorbringen würde.232 Als einen möglichen Ausweg aus dieser konzeptionellen Ungenauigkeit schlägt Roy Sommer ein Verständnis von »Kollektiverzählungen« als Rezeptionsphänomen vor, das Aleida Assmanns Bestimmung »kultureller Texte« ebenso zum Ausgangspunkt nimmt wie Astrid Erlls Konzept »kollektiver Texte«: Der Begriff ›Kollektiverzählungen‹ bezeichnet also in Anlehnung an den von Assmann und Erll ausgearbeiteten rezeptions- und funktionsorientierten Textbegriff konkrete Geschichten oder abstrakte Erzählmuster, die zum einen dazu beitragen, einer Gruppe ein kollektives (von allen Mitgliedern der Gruppe geteiltes) Gedächtnis und/oder eine Gedächtnis zuordnen müssen. […] Es hält ein Zusatzwissen bereit, welches als Gedächtnis der Gedächtnisse dafür sorgen kann, daß das real existierende Funktionsgedächtnis kritisch relativiert und gegebenenfalls erneuert oder verändert werden kann. Es stiftet selbst keinen Sinn und begründet keine Werte, aber es kann den sei es stabilisierenden, sei es korrektiven Hintergrund zu solchen Operationen bilden« (A. Assmann 1995: 184f.). 232 Nicht zuletzt Paul Ricœur selbst trägt zu einer solchen unreflektierten Übertragung des Begriffs der Selbst-Narration auf Kollektive bei, wenn er sie – wie vor allem in den »Schlußfolgerungen« zu »Zeit und Erzählung« – selbst vornimmt, ohne den ontologischen Unterschied zwischen dem Verhältnis eines Sprechers respektive Erzählers zu seiner SelbstNarration und dem einer Gruppe zu einer Narration, die ein Bild von ihr entwirft, zu reflektieren (vgl. Ricœur 1991: 395). Zu einer entsprechenden Kritik Ricœurs vgl. auch Scharfenberg 2011: 347f.

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kollektive (allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsame) Identität zu verschaffen. Voraussetzung für die Definition einer Erzählung als Kollektiverzählung in diesem Sinne wäre, dass alle Mitglieder eines Kollektivs die erzählte Geschichte als konstitutiv für die geteilte Identität auffassen.233

Gerade mit Blick auf gesellschaftliche Großgruppen wie zum Beispiel Nationen gerät ein solches Konzept von »Kollektiverzählungen« allerdings an seine Grenzen: So ist es doch relativ unwahrscheinlich, dass es einen narrativen Text oder ein Narrativ gibt, das alle Menschen, die sich selbst als Deutsche verstehen, »als konstitutiv für die geteilte Identität auffassen«. Gerade Debatten um eine deutsche ›Leitkultur‹ zeigen, dass eine Definition des Deutschen über verbindlich geteilte und anerkannte Werte, Bräuche, Wissen oder kulturelle Objektivationen sich selbst ad absurdum führt, statt Kohärenz und Kontinuität zu stiften. Statt die hier exemplarisch von Neumann und Sommer repräsentierten Vorstellungen zum Zusammenhang von Narration und Gemeinschaft zu übernehmen, soll der Begriff »Gemeinschaftsnarration« daher für konkrete narrative Texte eines Urhebers verwendet werden, die eine oder die Geschichte eines Kollektivs entwerfen. Dass es sich bei der Hervorbringung solcher Narrationen um einen konstruktiven oder poietischen Erzählakt und nicht um eine Abbildung vermeintlicher vergangener Realität handelt, verdeutlicht der Hinweis Neumanns auf die Selektions- und Syntheseleistung des Erzählens, wie sie auch in der oben skizzierten Konzeption narrativer Identität reflektiert wird. Ähnlich wie identitätsfundierende Selbst-Narrationen einzelner Menschen dazu tendieren, Chaos und Kontingenz des menschlichen Lebenslaufs zu einer kontinuierlichen und kohärenten Gestalt zu synthetisieren, fügen Gemeinschaftsnarrationen – oft in Form von »Vergangenheitserzählungen«234 – diachron und synchron äußerst Heterogenes und Disparates – Menschen, Ereignisse, Institutionen – zu einer kontinuierlichen Geschichte zusammen und bringen somit eine Gemeinschaft als Imaginierte hervor. Die Betonung des singulären Urhebers eines konkreten narrativen Textes soll dabei in dieser Definition keinesfalls übersehen lassen, dass oftmals eine Viel233 Sommer 2009: 232. Sommer bezieht sich hier zum einen auf Aleida Assmanns breit rezipierten Aufsatz »Was sind kulturelle Texte?«, der 1995 in einem von Andreas Poltermann herausgegebenen Sammelband zu »Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung« erschienen ist. Zum anderen rekurriert er auf Astrid Erlls Konzeption kollektiver Texte, wie sie es in ihrer Dissertation entwirft. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie die von ihnen benannten ›Textarten‹ als Rezeptionsphänomene beschreiben: Während Assmann auf solche Texte rekurriert, »denen man Zeitenthobenheit attestierte« (A. Assmann 1995: 238), meint Erll solche literarischen Texte, die »der Leserschaft als Modelle des Kollektivgedächtnisses« dienen, indem sie als »Gedächtnisbildung« oder »Gedächtnisreflexion« (alle Zitate Erll 2003: 88) vorführende oder induzierende Medien fungieren. 234 Lüdeker 2012: 62.

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zahl von Gemeinschaftsnarrationen auf sehr ähnliche Art und Weise sehr ähnliche Vorstellungen einer konkreten Gemeinschaft hervorbringt, sprich verschiedene Gemeinschaftsnarrationen, wie Sommer konstatiert, »demselben abstrakten Muster entsprechen«235. Solche »Ensemble[s] strukturanaloger und funktionsäquivalenter Einzelerzählungen«236 bezeichne ich als Narrative. Auch wenn eine einfache Übertragung des Begriffes der »Selbstnarration« vom Individuum auf eine Gruppe hier zurückgewiesen wird, kommt gerade Gemeinschaftsnarrativen durchaus gesellschaftliche Relevanz zu. So lassen sich Gemeinschaftsnarrative dann, wenn sie positiv konnotiert sind, als Indizien für eine empirische Verbreitung einer entsprechenden kollektiven Identität deuten. Darüber hinaus beeinflussen umgekehrt dominante Narrative potenziell den einzelnen Menschen bei seiner Identitätskonstitution.237 Je mehr Menschen das in einem Narrativ entworfene Bild einer Gemeinschaft als für ihre eigene kollektive Identität relevant empfinden, sich also als Mitglied der imaginierten Gemeinschaft verstehen respektive erzählen, desto mehr gesellschaftliche Wirkung mag eine solche Gemeinschaftsimagination potenziell entfalten. So können konkrete Gemeinschaftserzählungen und insbesondere Ensembles ähnlicher Gemeinschaftserzählungen, also Gemeinschaftsnarrative, potenziell Handlungen konkreter Menschen induzieren, die zum Beispiel in einer Institutionalisierung von Gemeinschaften münden können.238

Zentrale Formen narrativer Gemeinschaftsentwürfe: Mythisches, symbolisierendes und kollektives Erzählen Das Interesse dieser Arbeit gilt ausgehend von einer Analyse konkreter Gemeinschaftsnarrationen, als die die ›widerstandsliterarischen‹ Texte gelesen werden können, insbesondere möglichen Gemeinschaftsnarrativen, also wiederkehrenden Erzählmustern, die sich einzeltextübergreifend beobachten lassen. Dabei geraten mit mythischem, symbolisierendem und kollektivem Erzählen auch und gerade solche Formen des Erzählens in den Blick, die grundsätzlich als relativ typisch für Identitäts- oder Gemeinschaftsnarrationen gelten können. Erstens: Mythisches Erzählen wird vor allem von kulturwissenschaftlich argumentierenden Autor/innen wiederholt als eine sehr zentrale Art und Weise des Erzählens von Gemeinschaften herausgestellt. So ist auch für das von Jan Assmann vorgeschlagene Verständnis von Mythos als zu »fundierende[r] Ge235 236 237 238

Sommer 2009: 231. Sommer 2009: 232. Vgl. auch Kraus 2006: 155–157. Vgl. dazu auch Müller-Funk 2008: 13f.; und A. Nünning 2013: 42–46.

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schichte verdichtete Vergangenheit«239, also als eine spezifische Form von »Vergangenheitserzählungen«240, der Bezug zwischen Narration und Gemeinschaft zentral: Verinnerlichte – und genau das heißt: erinnerte – Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung. Diese Erzählung hat eine Funktion. Entweder wird sie zum »Motor der Entwicklung«, oder sie wird zum Fundament der Kontinuität. […] Fundierende Geschichten nennen wir »Mythos«. Diesen Begriff stellt man gewöhnlich der »Geschichte« gegenüber und verbindet mit dieser Gegenüberstellung zwei Oppositionen: Fiktion (Mythos) gegen Realität (Geschichte) und wertbesetzte Zweckhaftigkeit (Mythos) gegen zweckfreie Objektivität (Geschichte). Beide Begriffspaare stehen seit längerem zur Verabschiedung an. […] Das, was hier als Formen erinnerter Vergangenheit untersucht werden soll, umfaßt ununterscheidbar Mythos und Geschichte. Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist.241

Mythen werden hier zu solchen narrativen Texten, in denen zum einen durch den Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit Gemeinschaften begründet, entsprechende Ordnungen der Welt legitimiert und als für die Zukunft verbindlich gesetzt werden.242 Zum anderen erscheinen konkret erzählte Mythen selbst als »vorgeblich stabiles Erinnerungsobjekt«243. Durch ihre vermeintliche Tradierung244 sowie die Kenntnis von Mythen, die als verbindliche, als kanonische ›Erinnerungsobjekte‹ gelten, weist sich ein Mensch als Mitglied einer imaginierten Gemeinschaft aus. Im Rahmen dieser Arbeit steht nicht dieses zuletzt skizzierte Verständnis von Mythen als Bestandteil eines gruppenkonstituierenden kulturellen Gedächtnisses im Vordergrund, wie es von Jan Assmann etabliert wurde,245 sondern die 239 J. Assmann 1992: 78. 240 Lüdeker 2012: 62. 241 J. Assmann 1992: 75f. Assmanns Hinweis auf eine notwendige Überwindung der von ihm benannten binären Oppositionen entspricht der Feststellung Christoph Jammes, dass die »Vorstellung vom Mythos als Widerpart des Logos und der Episteme […] heute obsolet« (Jamme 1991: 11) sei. Jamme verweist zudem auf die Heterogenität der Denktraditionen, in denen der Mythos-Begriff verortet werden kann (vgl. Jamme 1991: 15; vgl. dazu auch Wodianka 2006: 1) und liefert mit seiner Arbeit eine Reflexion der Entwicklung moderner Mythen-Theorien, die in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann und soll. 242 Vgl. J. Assmann 1992: 76. Vgl. ähnlich auch Müller-Funk 2008: 104f. 243 Wodianka 2006: 6. 244 Im Anschluss an Wodianka ist diese tatsächlich besser als jeweils neue Aktualisierung zu fassen. Vgl. Wodianka 2006: 5f. 245 Vgl. dazu auch J. Assmann 1988: 15: »Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.«

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Begründung von Wert- und Weltordnungen, speziell Ordnungen des Gemeinsamen, die als Effekt mythischen Erzählens verstanden wird. Dabei geht es weniger darum, vollständige Narrationen als Mythen zu beschreiben, sondern der Blick gilt möglichen mythischen Qualitäten des Erzählens vom Widerstand: Mythos wird in diesem Sinne nicht als ein ›Etwas‹, sondern als eine Qualität verstanden: als ein Modus des Erinnerns, der sich an verschiedene Narrationsformen und Erzählgegenstände anheften kann.246

Mythisches Erzählen zeichnet sich dabei dadurch aus, dass es – wie bei Jan Assmann expliziert wird – zwar durchaus auf historisch konkrete Ereignisse Bezug nehmen kann, diese aber im Modus überzeitlicher Gültigkeit vorführt.247 Neben dem Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit der dargestellten (Welt-)Ordnung kennzeichnet mythisches Erzählen seine »prinzipiell unironische, niemals subjektiv vorgetragene«248 Erzählweise, die konkrete Urheberschaft verbirgt249 und nicht zuletzt dadurch essentialisierende und naturalisierende Konzeptionen gesellschaftlicher Großgruppen befördert.250 Schließlich schreibt mythisches Erzählen dem dargestellten Geschehen den Status des

246 247

248 249 250

Während Jan Assmann in seiner Monographie »Das kulturelle Gedächtnis« die solchermaßen gemeinschaftsstiftende Funktion mythischen Erzählens vor allem am Beispiel antiker Gesellschaften diskutiert, beobachtet Wolfgang Müller-Funk die Etablierung ›neuer Mythen‹ im 19. Jahrhundert. Er schließt damit an die bereits in Kapitel 2.1 skizzierte Dialektik von Gesellschaft, die als »rationale abstrakte Maschine konzipiert« wird, und »einer greifbaren, organischen Gemeinschaft« (Müller-Funk 2008: 104) an, die nicht zuletzt für die Herausbildung von Nationalstaaten konstitutiv war (vgl. Müller-Funk 2008: 122). Mit Blick auf den für diese Arbeit relevanten historisch-kulturellen Kontext halte ich die Feststellung Christoph Jammes, dass in der Moderne »[m]ythische Inhalte […] in ihrer sozial-orientierenden Vorbildlichkeit verloren« gingen (Jamme 1991: 299), für zutreffend. Diese Einschränkung des konkreten Funktionspotenzials mythischen Erzählens schließt allerdings nicht aus, dass sich ein entsprechender Anspruch nicht weiterhin als ein Effekt konkreter Texte generiert, wie vor allem die Analysen der frühen Widerstandstexte, aber auch von Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« zeigen werden. Wodianka 2006: 2. Vgl. auch Wodianka 2006: 3. Dabei muss, wie Astrid Erll in Anlehnung an Stephanie Wodianka verdeutlicht, die Vergangenheit, auf die sich der Mythos bezieht, nicht zwangsläufig eine ferne sein, sondern insbesondere seit der beginnenden Moderne werde zunehmend auch erst kurze Zeit zurückliegendes Geschehen als Mythos erzählt (vgl. Erll 2005: 116). Beide Zitate Müller-Funk 2008: 113. Vgl. Wodianka 2006: 3. Hier kommt der Ausgestaltung der narrativen Vermittlungsinstanz/en eine wichtige Funktion zu. So können insbesondere heterodiegetische Erzählinstanzen, da »sie nicht selbst Figuren der Geschichte sind, sondern quasi göttlich über ihr stehen« (Erll 2005: 172), für ihre Deutungen des Geschehens Autorität beanspruchen. Indem sie Figuren und ihr Handeln beispielsweise explizit oder implizit als exemplarisch für bestimmte Gemeinschaften bewerten, die Figuren also zu Repräsentanten machen, behaupten sie die Existenz dieser Gemeinschaften, unabhängig von der konkreten fiktiven Geschehenssituation.

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Prämissen und Perspektiven

Heiligen zu und grenzt es von einer profanen Alltagswirklichkeit ab.251 Nach Wolfgang Müller-Funk ist mythisches Erzählen insofern »strukturkonservativ«252, als dass es gegen alltäglichen historischen Wandel den Bezug auf etwas überdauerndes Heiliges etabliere.253 Zweitens: Als symbolisierendes Erzählen bezeichne ich ein Erzählen, das eigentlich komplexe Geschichten in zum Symbol verdichteter Form präsentiert. Solche symbolisch komprimierten ›Kleinstnarrationen‹ entsprechen dem, was Jürgen Straub als »narrative Abbreviaturen« bezeichnet: Narrative Abbreviaturen sind Zeichen oder Symbole (Worte, Namen, Zahlen, Bilder, Gesten, Körpergestalten und Gesichtsausdrücke, Räume, Plätze, Bauwerke oder allerlei Dinge, usw.), die Erzählungen voraussetzen bzw. gleichsam ›enthalten‹. Sie blieben also ohne eine zumindest hinweisende Bezugnahme auf diese impliziten Geschichten (und ihre zumindest mögliche Entfaltung) schlechterdings unverständlich.254

Mit narrativen Abbreviaturen geraten »all die wahrlich zahllosen verdichteten Kürzel für die für Individuen oder Kollektive bedeutsame[n] Geschichte[n]«255 in den Blick, deren sprachliche Artikulation oder materielle Präsentation sie als für eine imaginierte Gemeinschaft relevant erscheinen lassen. Eine solche Definition verdeutlicht, dass symbolisierendes Erzählen einer kontextualisierenden Deutung bedarf, also die Bedeutung der verwendeten narrativen Abbreviaturen für die Imagination eines Kollektivs nur durch die Kenntnis entsprechender Diskursgeschichten zu beschreiben ist. Als eine spezifische Form von narrativen Abbreviaturen lassen sich etwa Erinnerungsorte sensu Pierre Nora begreifen,256 deren Kontextgebundenheit Etienne FranÅois und Hagen Schulze in ihrer Adaption des Konzeptes von Nora für die von ihnen herausgegebene Sammlung »Deutsche Erinnerungsorte« (2001) betonen: Dergleichen Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke – im heutigen Sprachgebrauch ließe sich von ›Ikonen‹ sprechen. Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion. Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische 251 Vgl. Müller-Funk 2008: 113. 252 Müller-Funk 2008: 113. 253 Als ein viertes Merkmal vor allem konkreter Mythen lassen sich schließlich mit MüllerFunk auch die »großen, übermenschlichen Heroen« (Müller-Funk 2008: 117) als zentrales Strukturelement der präsentierten Geschichte verstehen. Diese erscheinen mir mit Blick auf mythisches Erzählen als narrativem Modus allerdings eher als fakultatives, denn als konstituierendes Merkmal. 254 Straub 2013: 85. 255 Straub 2013: 86. 256 Vgl. Nora 1998: 11–42.

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Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert. […] Wir sprechen von einem Ort, der seine Bedeutung und seinen Sinn erst durch seine Bezüge und seine Stellung inmitten sich immer neu formierender Konstellationen und Beziehungen erhält.257

Ein prägnantes Beispiel für die Funktionsweise narrativer Abbreviaturen mit Blick auf literarisches Erzählen vom Widerstand ist die Nennung des Namens »Stauffenberg« durch den Ich-Erzähler in Friedrich Christian Delius’ Roman »Mein Jahr als Mörder« (2004). Mit seiner Feststellung: »Eins wollte ich auf keinen Fall: so feige sein wie Stauffenberg« (MJM: 270), nimmt der Erzähler nicht nur Bezug auf die historische Person Stauffenberg und das Scheitern von dessen Attentatsversuch, sondern er verweist implizit auf eine spezifische (›linke‹) Tradition der kritischen Deutung des 20. Juli 1944. Die Nennung des Namens »Stauffenberg« steht hier für eine Geschichte, die sich wie folgt ›entfalten‹ ließe: Sie handelt von dem Versuch Adolf Hitler mit einer Bombe zu töten, ohne dabei aber bereit zu sein, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um den Tod des Diktators mit Sicherheit zu gewährleisten. Die Attentäter vom 20. Juli 1944 erscheinen so nicht als verehrungswürdige, weil sich für ein Volk aufopfernde Helden, sondern als tendenziell egoistische Militärs. Sie unterscheiden sich damit deutlich vom im Roman sich inszenierenden erlebenden Ich, das im Umfeld der 68er Bewegungen (noch eine narrative Abbreviatur!) verortet wird.258 Drittens: Während sowohl für mythisches als auch für symbolisierendes Erzählen der Bezug auf eine ›gemeinsame‹ Vergangenheit zentral ist, ist für kollektives Erzählen ein Vergangenheitsbezug keineswegs konstitutiv, um einen Beitrag zu Gemeinschaftsimaginationen zu leisten. »Kollektives Erzählen« bezeichnet ein Erzählen, das ein autonarratives Wir vorführt, wie es Jürgen Link definiert hat. Gemeint ist ein Erzählen, dessen Erzählinstanz als »Wir« in Erscheinung tritt, bei dem also das Personalpronomen der 1. Person Plural als Anzeiger für das sprechende Subjekt fungiert.259 Dieses erzählende Wir kann dabei unterschiedliche Expansionsgrade aufweisen, wie Link am Beispiel von Texten Ernst Jüngers, Franz Kafkas und Peter Weiss’ erläutert. Es kann intradiegetisch-empirische Kleingruppen genauso bezeichnen wie institutionalisierte Menschenzusammenschlüsse oder imaginierte Großgruppen, zu denen sich der Sprechende zählt.260 Zudem wechselt nicht nur der Expansions- beziehungsweise Kontraktionsgrad des Wir, sondern das Wir als Markierung der 257 258 259 260

FranÅois/Schulze 2001: 17f. Vgl. dazu auch Runge 2014. Vgl. Link 2012: 146f. Vgl. Link 2012: 151.

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Prämissen und Perspektiven

Sprechinstanz steht immer auch in einem jeweils spezifischen Wechselverhältnis zum sprechenden Ich der Erzählinstanz.261 Grundsätzlich ist bei »Wir-Erzählungen« nach Link zu unterscheiden zwischen einerseits »interpersonal-interaktionistischen Geschichten«262, in denen eine relativ begrenzte Menge Personal auftritt und ein »wir« in der Regel eine »Koalition von zählbar identifizierbaren Einzelpersonen«263 bezeichnet, und andererseits »gruppen- oder massendynamischen Geschichten«264, in denen es um »kollektive Prozesse«265 geht. Im letzten Fall lässt sich mit Link noch zwischen einem molaren und einem molekularen Wir differenzieren; Begriffe, die Link von Gilles Deleuze und F8lix Guatteri übernimmt.266 Das molare Wir entfaltet eine totalisierende Wirkung, da es auf den Einschluss aller potenziellen Mitglieder einer Gemeinschaft abhebt, während das molekulare Wir sich potenziell als Minderheit oder auch als Teilgruppe von etwas denken kann, ohne allerdings abzählbar zu sein.267 Ein molares Wir […] lebt ewig, es ist das jeden einzelnen Tod überlebende Wir der Kirche, der Nation (auch der Partei) oder der Menschheit. Ein molekulares Wir dagegen ist sterblich, kann zerfallen und schrumpfen bis auf isolierte Ichs oder bis zur Vernichtung.268

2.2.2 Grenzziehung und Gemeinschaft Die vorangehenden Überlegungen zum Zusammenhang von Narration und Gemeinschaft fokussieren primär die kontinuitätsstiftende Leistung narrativer Synthesis des Heterogenen. Mit dem eben skizzierten kollektiven Erzählen ist allerdings bereits auf eine narrative Form verwiesen, die Gemeinschaft nicht nur über den Entwurf einer gemeinsamen Geschichte imaginiert, sondern die Imagination von Zusammen- und Zugehörigkeit auch aus synchroner Perspektive ermöglicht, also Kohärenz erzeugt.

261 Vgl. Link 2012: 157. Eine noch detailliertere Differenzierung verschiedener ›sprechender Wirs‹ bieten Ruth Wodak u. a. in ihrer Untersuchung zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität. Sie unterscheiden zwischen hörerexklusivem »Autorenplural«, nur scheinbar sprecherinklusivem »paternalistische[m] Wir« (beide Zitate Wodak u. a. 1998: 100) und verschiedenen »metonymische[n] Realisierungen des Wir« (Wodak u. a. 1998: 101). 262 Link 2012: 157. 263 Link 2012: 158. 264 Link 2012: 157. 265 Link 2012: 157. 266 Vgl. Link 2012: 150. 267 Vgl. Link 2012: 150, 152 und 158. 268 Link 2012: 154.

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»Kontinuität« und »Kohärenz« bezeichnen zwar gleichermaßen einen »einheitlichen Zusammenhang« […]. »Kontinuität« bezog sich fortan auf einen zeitlichen Zusammenhang. Identität ist jedoch nicht allein temporal strukturiert, Kontinuität nicht die einzige formale oder strukturale Konstituente der Identität. Gewiß, auch im Hinblick auf die Sach- und Sozialdimension besitzt das Erzählen eine »relationierende«, synthetisierende oder integrierende Funktion. Diesbezüglich gewinnen jedoch andere Sprachformen an Gewicht. Konsistenz wird nicht, Kohärenz nicht primär narrativ konstruiert.269

Während Konsistenz, mit Jürgen Straub verstanden als logische »Widerspruchsfreiheit von Aussagen«, »als eher untergeordneter Aspekt personaler Identität«270 eingeschätzt werden kann, ist Kohärenzstiftung sowohl für die Konstitution personaler Identitäten als auch für die Imagination von Gemeinschaften zentral. Im Unterschied zur diachronen Kontinuität bezeichnet Kohärenz die Synthesis von synchron Heterogenem zu einer zumindest potenziell einheitlichen Struktur. Mit Blick auf personale Identität geht es hier vor allem um die Frage, wie es einzelnen Menschen gelingt, sich trotz der Divergenz, bisweilen sogar Widersprüchlichkeit sozialer Rollenanforderungen als einheitliche Gestalt wahrzunehmen respektive zu entwerfen. Erscheint dies nicht zuletzt im Kontext sich ausdifferenzierender Gesellschaften und Lebenswelten bereits für ein Individuum als fordernde Aufgabe, so ist es für die Imagination von Gemeinschaften eine mindestens ebenso große Herausforderung. Für Imaginationen von Gemeinschaften – unabhängig davon, mittels welcher semiotischen Systeme sie hervorgebracht werden – ist es konstitutiv, dass es ihnen gelingt, trotz der synchronen Vielfalt von menschlichen Individuen und der synchronen Komplexität sozialer Interaktionen Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit zu entwerfen, also der Vielfalt empirisch zu beschreibender Unterschiede zwischen Menschen eine wie auch immer geartete und bewertete Gleichheit eben dieser Menschen entgegen zu setzen. Zu möglichen entsprechenden Verfahren, die personale Identität auf synchroner Ebene ermöglichen, äußert sich Jürgen Straub wie folgt: Am Rande bemerkt: Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie eine nicht auf logische Konsistenz reduzierbare, vom Subjekt »spürbare«, fühlbare oder erlebbare Kohärenz eigentlich zustandekommt und reproduziert wird, worin genau sie besteht, wie sie (sprach-) symbolisch artikulierbar und kognitiv repräsentierbar ist. Ebenso ist längst nicht hinreichend geklärt, aus welchen Gründen und auf welche Weise sie gefährdet wird und zerbrechen kann.271

269 Straub 2000: 175. 270 Beide Zitate Straub 2000: 175. 271 Straub 2000: 175.

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Prämissen und Perspektiven

Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die von Straub beschriebene Forschungslücke zu schließen und eine Konzeptualisierung von Verfahren personaler Kohärenzstiftung vorzulegen. Gleichwohl wirft die Auseinandersetzung mit semiotischen Gemeinschaftsimaginationen auch hier die Frage auf, ob oder inwiefern neben kontinuitätsstiftendem Erzählen weitere Verfahren denkbar sind, die zu Entwürfen von Gemeinschaft beitragen. Wie gelingt es Gemeinschaftsimaginationen – abseits von oder ergänzend zu Entwürfen gemeinsamer Geschichte – synchrone Heterogenität von Menschen und sozialen Interaktionen zu Vorstellungen von Gemeinschaft zu synthetisieren? Eine mögliche Antwort – oder besser : mögliche Antworten – auf diese Frage versuche ich im Folgenden in der Auseinandersetzung mit theoretischen Konzeptualisierungen von Grenzziehung respektive Differenzsetzung, wie sie sich in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen darstellen, zu entwickeln. Die folgende Feststellung von Aleida Assmann und Heidrun Friese aus der Einleitung ihres »Identitäten«-Sammelbandes (1998) trifft also auch auf meine Überlegungen zu: »Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Grenze, ohne den Identität gar nicht denkbar ist«272. Ausgehend von einer Reflexion der Relevanz von Grenzsetzungen in Bedeutungsprozessen wird es dabei zunächst darum gehen, die Imagination von Gemeinschaften als einen Teil kultureller Ordnungsprozesse zu beschreiben. In einem zweiten Schritt wird dann in Anlehnung an Arbeiten Ernesto Laclaus die Herausbildung hegemonialer Gemeinschaftsentwürfe als spezifischer Signifikationsprozess dargestellt. Imaginationen von Gemeinschaft als Teil relationaler Bedeutungs- und Ordnungsprozesse Grenzziehungen sind – wie Stuart Hall im Rückgriff auf strukturalistische (de Saussure) und kultursemiotische (Douglas, L8vi-Strauss) Ansätze betont273 – 272 Assmann/Friese 1998: 23. Neumann und Nünning konstatieren in Anlehnung an Galen Strawsons (2004) Unterscheidung zwischen narrativen/diachronen und episodischen Formen der Selbstkonstitution »that life and self are not only temporal but also spatially positioned, i. e. in the here and now« (2008: 11). Daran anschließend ließen sich die im Folgenden zu beschreibenden Formen der Grenzziehung nicht nur auf Grund der raumsemantischen Assoziationen des Begriffs als spatiale Verfahren der identitäts- und Gemeinschaftskonstitution von den vorher beschriebenen narrativen Verfahren abgrenzen. 273 In dem Kapitel »The Spectacle of the ›Other‹« seiner Einführung »Representation« beantwortet Stuart Hall einleitend die Frage »Why does ›difference‹ matter?« mit dem Verweis auf verschiedene »theoretical accounts«, die die kulturelle Relevanz des Anderen herausstellen. Als Erstes beschreibt er ausgehend von der strukturalistischen Linguistik de Saussures die Funktion, die Differenzen/Differenzsetzung bei der Konstitution von Bedeutung zukommt: »meaning depends on the difference between opposites« (Hall 2011a: 235). Zweitens

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konstitutiv an allen semiotischen Bedeutungsprozessen beteiligt. Über Grenzziehungen entsteht eine »Ordnung der Dinge«274, ein System von Repräsentationen (Hall), das im Anschluss an Niklas Luhmanns systemtheoretische Konzeptualisierung von Sinn als kumulative Folge von grenzsetzenden Beobachtungen verstanden werden kann:275 Bezeichnet werden kann nur etwas im Unterschied zu etwas anderem. Das Unterscheiden bietet dem Bezeichnen also zwei Möglichkeiten an (die beiden Seiten der Differenz). Daß sie nur noch zwischen zwei Seiten wählen kann, ist sozusagen der Preis, den die Bezeichnung für die Möglichkeit ihres Vollzugs bezahlen muß. […] Auf der anderen Seite produzieren Bezeichnungen bestimmte Anschlußmöglichkeiten für weitere Unterscheidungen.276

Imaginationen von Gemeinschaft sind ein zentraler Teil so verstandener Ordnungs- und Bedeutungsprozesse, wie Bernhard Giesen betont: Im folgenden wollen wir eine besondere dieser symbolischen Formen behandeln, mit denen Unterschiede in der Sicherheit unseres alltäglichen Wissens erfaßt werden. Es handelt sich um die Konstruktion der Grenze zwischen dem Innenraum einer Gemeinschaft und der Außenwelt jenseits dieser Grenze. Wir gehen davon aus, daß diese Unterscheidung eine elementare Operation der Herstellung sozialer Wirklichkeit bildet skizziert Hall in Anlehnung an Michail Bachtin die Dialogizität von Bedeutung und Bedeutungsprozessen, betont also ihre soziale Dimension: »Everything we say and mean is modified by the interaction and interplay with another person. Meaning arises through the ›difference‹ between the participants in any dialogue. The ›Other‹, in short, is essential to meaning » (Hall 2011a: 235f.). Als Drittes bezieht sich Stuart Hall auf anthropologische Ansätze wie die von Mary Douglas und Claude L8vi-Strauss, die Kulturen als klassifikatorische Systeme beschreiben. Zuletzt und viertens rekurriert Hall auf psychoanalytische Ansätze von Sigmund Freud, Jaques Lacan und Melanie Klein, die die Relevanz des Anderen für die Konstitution personaler Identität herausstellen und dabei die Unabschließbarkeit von Identitätsprozessen betonen (vgl. Hall 2011a: 237f.). 274 Vgl. Waldenfels 1999: 139. 275 »Bedeutung« soll hier in Anlehnung an Thomas Luckmann als soziales Phänomen – in Abgrenzung von einem eher individuell und situativ konzipierten »Sinn« – verstanden werden: »Bedeutung verwende ich keineswegs als Synonym für Sinn. Mit Sinn ist der jeweilige Zusammenhang gemeint, innerhalb dessen der Einzelne seine Erfahrung oder Handlung subjektiv erfasst, aber nicht nur einzelne Erfahrungen und Handlungen, sondern auch ganze Erfahrungs- und Handlungskomplexe bis hin zu größeren Lebensabschnitten. Von Bedeutung spreche ich hingegen dann, wenn der subjektive Sinn von Erfahrungen und Handlungen nicht auf die augenblickliche Erfahrung oder Handlung eines Einzelnen beschränkt bleibt, sondern anderen mitgeteilt und von anderen erfasst wird und damit in ihr kollektives Gedächtnis eingehen kann. / Die Bedeutungsbestände einer Gesellschaft sind Grenzziehungen, die es einer Gemeinschaft ermöglichen, Mensch und Tier, Land und Leute, Freund und Feind, Gott und Teufel gemeinsam und einigermaßen übereinstimmend zu erkennen und dementsprechend zu handeln« (Luckmann 2007: 142f.). Anders als Luckmann und entsprechend auch anders als in dieser Arbeit verwendet Niklas Luhmann (und im Anschluss an ihn auch Norbert Meuter) »Sinn« als Bezeichnung für das, was hier als »Bedeutung« bezeichnet wird. 276 Meuter 1995: 70f. Vgl. dazu auch Luhmann 1987: 94f.; und Opitz 2008: 179.

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– ähnlich wie die Unterscheidung zwischen gewünschten und verbotenen Handlungen oder diejenige, welche durch Macht und Abhängigkeit konstituiert wird. […] Das Grundlegende dieser Unterscheidungen zeigt sich darin, daß wir uns keine soziale Wirklichkeit vorstellen können, in denen [sic!] diese Operationen nicht auf diese oder jene Weise vorgenommen wurden.«277

Zentral sowohl für das Verständnis von kultureller Bedeutungsproduktion allgemein als auch konkret für die Konzeptualisierung von Gemeinschaftsimaginationen ist die Einsicht in die Relationalität der jeweiligen Konstrukte: So wie die Interdependenz von Wortbedeutungen eine Grundannahme der strukturalistischen Sprachwissenschaft darstellt, bildet die Betonung der Relationalität von Eigenem/Identität und Anderem/Alterität einen zentralen Konsens verschiedener Ansätze der Identitäts-/Gemeinschaftsforschung278. Sie ist ein »semiotischer Gemeinplatz«279 und prägt entsprechend auch die Argumentation dieser Arbeit: We know what it is to be ›British‹, not only because of certain national characteristics, but also because we can mark its ›difference‹ from its ›others‹ – ›Britishness‹ is notFrench, not-American, not-German, not-Pakistani, not-Jamaican and so on.280

Hier sollen dabei die Begriffe »Identität«, »Eigenes« und »Selbst« synonym und als komplementäre Antonyme zu den Begriffen »Alterität«, »Anderes«, und »das/der/die Andere« verwendet werden.281 Die Relation zwischen diesen Ant277 Giesen 1999: 24f. 278 Bernhard Waldenfels beispielsweise spricht aus phänomenologischer Perspektive von einem »Fremdbezug[ ] im Selbstbezug« (Waldenfels 1999: 147), der Sprachwissenschaftler Wolfgang Raible betont die »Dialektik von Identität und Alterität« (Raible 1998: 7) und Hans-Joachim Gehrke argumentiert nicht zuletzt aus der Sicht des Historikers, »daß die Frage nach Grenzen, nach der Grenzziehung und der unterschiedlichen Qualität von Grenzen für die Analyse von Identitätsprozessen besonders wichtig ist« (Gehrke 1999: 15). Vor allem auch Niklas Luhmann konzipiert in seiner systemtheoretischen Gesellschaftstheorie »Identität« als einen dezidiert differenztheoretischen Begriff, wenn er Sinn als Resultat der Operation von Unterscheiden und Bezeichnen wie folgt beschreibt: »Die entsprechenden semantischen Resultate heißen: Differenz und Identität. Die Differenz von Differenz und Identität wird gleichsam quer zur Differenz von Aktualität und Möglichkeit eingesetzt, um diese in der Operation zu kontrollieren. Das Mögliche wird als Differenz verschiedener Möglichkeiten (einschließlich derjenigen, die gerade aktualisiert ist und auf die man zurückkommen kann) aufgefaßt, und die zu aktualisierende Möglichkeit wird dann in ihrer Identität als dies-und-nichts-anderes bezeichnet« (Luhmann 1987: 100f.; zur Relevanz von Grenzziehungen in der soziologischen Systemtheorie vgl. auch Opitz 2008: 178f.). Zur Relationalität von Identität und Alterität vgl. außerdem Hall 1996: 4f.; Reuter 2001: 13f., 69f.; und: Wierlacher 2003: 27. 279 Reckwitz 2010: 76. 280 Hall 2011a: 234f. 281 ›Der/die/das Fremde‹ wird hier nicht als Synonym für ›Alterität‹ verwendet, sondern in Anlehnung an Andrea Polaschegg als graduelles Antonym zum ›Vertrauten‹ verstanden: »Während die system- und identitätserhaltende DIFFERENZierung zwischen dem ›Eige-

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onymen sei als »Differenz« bezeichnet. Mit »Grenzziehung« (oder auch »Differenzsetzung«) ist entsprechend die Konstitution solcher Relationen gemeint, wobei eine solche Grenzziehung mit Bernhard Waldenfels als dezidiert ›einseitig‹, also perspektiviert, und nicht als Akt eines neutralen Dritten zu bewerten ist: Auch die weiteren Differenzen gehen nicht darauf zurück, daß ein neutraler, leib-, geschlechts- oder altersloser, ein transnationaler oder transkultureller Dritter zwischen Mann und Frau, Erwachsenem und Kind, Franzosen und Deutschen, Europäern und Asiaten oder zwischen Wachen und Schlafen, Leben und Tod, Mensch und Tier unterscheidet. Vielmehr kommen die Unterscheidungen dadurch zustande, daß der Mann sich von der Frau oder die Frau sich vom Mann, daß der Franzose sich vom Deutschen oder dieser sich vom Franzosen unterscheidet. Das Oder, das verschiedenen Unterscheidungsrichtungen entspricht, ist alternativ zu verstehen (aut), nicht fakultativ (vel). Wer sich unterscheidet, steht auf einer Seite, und der, die oder das Fremde ist genau das, was sich auf der anderen Seite befindet.282

Mit Blick auf die Imagination von Gemeinschaften werden darüber hinaus auch die Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« (»Othering«) relevant, bezeichnen sie doch die Prozesse, durch die einzelne Menschen oder Menschengruppen im Zuge von Grenzziehungen aus der Perspektive des Sprechenden entweder diesseits oder jenseits einer Grenze verortet werden. Eine solche Grenze ist nicht als räumlich-geographische oder politische Entität zu verstehen, sie existiert »keinesfalls vor den Prozessen der Identitäts- bzw. Alteritätskonstitution«, sondern wird »erst im Rahmen dieser Prozesse mitkonstituiert«283. Doris Feldnem‹ und dem ›Anderem‹ über Operationen von Grenzziehung, Positionierung und Zuordnung funktioniert, entsteht die Relation zwischen dem ›Vertrauten‹ und dem ›Fremden‹ durch die Dynamik zwischen hermeneutischer DISTANZnahme und verstehender Annährung. / Gemeinsam ist beiden Begriffsoppositionen die reziproke Beziehung ihrer jeweiligen Elemente zueinander« (Polaschegg 2005: 43). Mit Blick auf die theoretische Konzeptualisierung von Identitätsprozessen spielt das Fremde entsprechend eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl kann es für die Analyse semiotischer Imaginationen von Gemeinschaft durchaus interessant zu sein, zu beobachten, inwieweit das Andere hier möglicherweise zugleich als etwas Fremdes konzipiert wird, zu dem eine ›verständnisvolle‹ Annährung möglich ist. 282 Waldenfels 1999: 146f. Dass trotz dieser von Waldenfels beschriebenen Asymmetrie das Andere und auch das Fremde nicht ausschließlich als einseitige Zuschreibung im Rahmen einer Täter-Opfer-Dichotomie verstanden werden kann, verdeutlicht Julia Reuter mit ihrem Hinweis auf Tendenzen zur »Identifikation mit stereotypen Zuschreibungen seitens der ›Zugeschriebenen‹« (Reuter 2001: 36). Und ähnlich macht auch Ruth Florack in ihrer Reflexion über nationale Stereotype in der deutschen und französischen Literatur darauf aufmerksam, dass die dichotome Unterscheidung zwischen Auto- und Heterostereotypen in den im Rahmen ihres Projektes untersuchten Texten nicht trägt, sondern dass »es einen gemeinsamen Stereotypenfundus jenseits nationalkultureller Unterschiede gibt« (Florack 2001: 21). 283 Fludernik 1999: 106.

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mann bringt die Zusammenhänge zwischen Verfahren der Grenzziehung und der Gemeinschaftsimagination wie folgt auf den Punkt: Differenzsetzung ist in diesem Zusammenhang eine fundamentale Operation von Ordnungskonstruktionen, die der sprachlich-kulturellen Zuschreibung von Bedeutung sowie der Identifikation von Zugehörigkeit und damit der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen Gruppen zur Durchsetzung bzw. Anerkennung spezifischer Interessen dient. D. h., dass gesellschaftlich-kulturelle Ordnungsmuster – einschließlich Identitäts- und Hierarchisierungsbildungen – notwendig über Differenzen verlaufen.284

Imaginationen von Gemeinschaften als Teil kultureller Ordnungskonstruktionen, als Produkt von Abschlussoperationen, können hinsichtlich des Grades unterschieden werden, in dem sie ihre eigene Konstrukthaftigkeit und damit auch Veränderbarkeit reflektieren. Und erst die Anschlußoperationen weben ein Netz von Rekursionen, das heißt ein Netz von Rückgriffen und Vorgriffen, das weitere Anschlußmöglichkeiten eröffnet und andere unwahrscheinlich macht. In diesem Sinne entsteht die Selbstfestlegung des Systems auf der Basis kontingenter Selektionen – und daher immer nur vorläufig, revidierbar.285

Die gerade im Zusammenhang mit Gemeinschaftsimaginationen immer wieder beobachteten und zu beobachtenden Tendenzen zur Naturalisierung oder Essentialisierung von Zugehörigkeiten, die häufig auch Institutionalisierungen von Exklusionen nach sich ziehen, können so als Folge von Anschlussoperationen, die die ursprüngliche Kontingenz der Unterscheidung ›verschleiern‹ und die Konstruktionen (scheinbar) ›auf Dauer‹ stellen, verstanden werden.286 Die Trennung des Eigenen vom Fremden erscheint im Handeln und Bewußtsein der Menschen aber nicht pausenlos als Folge einer Ordnungskonstruktion, also als menschliche Produktion, sondern besitzt vielerorts den Status des ›Selbstverständlichen‹. Das liegt vor allem daran, daß die Trennung zwischen Eigenem und Fremdem eine Trennung zwischen sozial verhandelten Bedeutungskategorien ist, die zum 284 Feldmann 2010: 60. 285 Opitz 2008: 179. 286 Bernhard Giesen spricht in diesem Zusammenhang von ›primordialen Codes‹: »Wenn die Unterscheidung zwischen innen und außen auf Geschlecht oder Generation, Verwandtschaft oder Herkunft, Ethnizität oder Rasse beruht, dann sprechen wir von primordialen Codierungen. Primordiale Codes binden die grundlegende Differenz zwischen uns und den anderen an ursprüngliche und scheinbar unveränderbare Unterscheidungen, die an jene Strukturen der Welt gebunden sind, die wir als gegeben betrachten und von der Veränderung durch Diskurs, Tausch und Wahl ausnehmen. Der abendländische Begriff für diesen Bereich ist Natur. Sie wird für Identitätsfragen als Leiblichkeit erfahrbar« (Giesen 1999: 32). Er betont die scheinbare Stabilität und Rigidität entsprechender Grenzziehungen: »Innen und außen werden hart und unvermittelt miteinander konfrontiert« (Giesen 1999: 33).

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Großteil habitualisiert, institutionalisiert, durch Sozialisation und Typisierung zu einer ›objektiven Tatsache‹ der gesellschaftlichen Wirklichkeit geronnen sind.287

Außerdem unterscheiden sich Ordnungen von Gemeinschaften bezüglich ihres Grades an Komplexitätsreduktion. Stereotype, die »Einzelne als Mitglieder einer Gruppe«288 imaginieren, sind in diesem Zusammenhang als eine Extremform stark simplifizierender Grenzziehungen zu beschreiben: Stereotypes get hold of the few ›simple, vivid, memorable, easily grasped and widely recognized‹ characteristics about a person, reduce everything about the person to those traits, exaggerate and simplify them, and fix them without change or development to eternity.289

Das konstitutive Außen: Paradoxe Hegemonialisierungen von Gemeinschaften durch die Nivellierung von Binnengrenzen Von Gemeinschaften lässt sich also nur dann sinnvoll sprechen, wenn es Menschen gibt, die als nicht zugehörig imaginiert werden; oder anders: Gemeinschaften können »immer nur als begrenzte Gemeinschaften gedacht werden«290. Ob Grenzen im Zuge der Imagination von Gemeinschaften als skalar gedacht »ein Kontinuum bilden und lediglich graduelle Unterschiede und Abstufungen bezeichnen«291 oder »eine binäre Opposition bezeichnen, eine strikte Grenzlinie«292, hängt dann unmittelbar zusammen mit der Vorstellung, die von einer Gemeinschaft entworfen wird, und ihrer Bewertung: Entscheidend ist also nicht die äußere Gestalt einer Grenze, sondern ihre Wertigkeit, ihre Qualifizierung durch die jeweiligen Vorstellungen vom Wir und von den Anderen, von Identität und Alterität.293

Wiederholt ist in diesem Zusammenhang die Etablierung hegemonialer Gemeinschaften als Absolut-Setzung einer Außengrenze beschrieben worden, die 287 Reuter 2001: 10. 288 Hahn/Hahn 2002: 21. 289 Hall 2011a: 258. Zu einer Abgrenzung des Begriffs »Stereotyp« von »Vorurteil« und »Klischee« vgl. Florack 2001: 9–16. Bei Stereotypen kann es sich sowohl um eine Fremd- als auch um eine Selbstzuschreibung handeln, wobei mit Hans Henning und Eva Hahn wiederum die Relationalität zwischen Hetero- und Autostereotypen betont werden kann (vgl. Hahn/Hahn 2002: 26–32). Insbesondere Heterostereotypen dürften dazu tendieren, die so imaginierten Menschen(gruppen) als ›anormal‹ aus einer Sphäre vermeintlicher Normalität zu exkludieren, wie es Stuart Hall in Anlehnung an Richard Dyer als typisches Merkmal von Stereotypisierungen allgemein beschreibt (vgl. Hall 2011a: 258). 290 Gertenbach u. a. 2010: 78. 291 Gehrke 1999: 15. 292 Gehrke 1999: 16. 293 Gehrke 1999: 16.

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zu einer inneren Homogenisierung von Gemeinschaften, mithin einer Nivellierung von Binnendifferenzen, führe: Im Feld der Differenzen, in dem verschiedene Signifikantenketten zum Beispiel »mich« beschreiben und viele Selbstbeschreibungen sich in zum Teil widersprüchlicher Weise überlagern (»ich bin Arbeiter und Katholik und ein Mann und Untertan und Deutscher und Sozialdemokrat und…, während mein Kumpel Protestant ist und Kaninchenzüchter und…«), wird »starke« Identität als Klasse, Nation, Ethnie oder gar »Rasse« nur erzeugt, wenn dieses Gleiten mit seinen divergierenden, instabilen Effekten zum Stoppen gebracht, und das heißt: durch privilegierte Signifikanten fixiert wird (»Wenn ich mein Land gegen die Franzosen verteidige, bin ich nur Deutscher«).294

Eine solche Abgrenzung von einem als grundsätzlich mit dem Eigenen unvereinbar markierten »Dritten«295 respektive »konstitutive[n] Äußere[n]«296 wird »durch Bündelung von Unterschieden (sprachlichen, kulturellen, moralischen) gleichsam verdichtet und verstärkt«297: Die Unterscheidung zwischen dem Innen und Außen einer Gemeinschaft kann so zum Beispiel an die Differenz von gut und böse, von Natur und Kultur oder von Vergangenheit und Zukunft gekoppelt werden. […] Aber ein solches Anreichern von Bedeutung bleibt nicht auf die Ebene elementarer Operationen beschränkt. Es können sehr spezielle Embleme und die Erinnerung an ganz bestimmte Ereignisse sein, mit denen die Angehörigen einer Gemeinschaft sich wechselseitig auszeichnen und von den Außenstehenden unterscheiden.298

Gleichwohl kommt gerade in einer solchen Dominant-Setzung einer Außengrenze – oder, zeichentheoretisch formuliert, in der Privilegierung bestimmter Signifikanten – die Unmöglichkeit zum Ausdruck, hegemoniale Gemeinschaften als solche positiv zu definieren und endgültig festzuschreiben, wie mit Hilfe der Adaption des Diskurs- und Hegemoniemodells Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes für eine Theorie imaginierter Gemeinschaften erklärt werden kann.299 So erzeugt die Installation einer zentralen Außengrenze zwar eine »ausgeprägte Äquivalenzrelation«300 zwischen den an sich unterschiedlichen Mitgliedern 294 Sarasin 2001: 36. Vgl. dazu exemplarisch auch Reuter 2001: 44f.; und Gertenbach u. a. 2010: 76ff. Beide beschreiben hier die Integrationsfunktion strikter Abgrenzungsverfahren und machen in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch auf den entsprechenden Stellenwert der »Sozialfigur des Außenseiters« (Reuter, in Anlehnung an Howard S. Becker) und des »Sündenbock[s]« (Gertenbach u. a., in Anlehnung an Ren8 Girard) aufmerksam. 295 Sarasin 2001: 36. 296 Laclau/Mouffe 2000: 27. 297 Gehrke 1999: 17. 298 Giesen 1999: 25. Vgl. ähnlich auch Giesen 1999: 25f. 299 Entsprechendes bietet Philip Sarasin in einem Aufsatz zum »Konzept der imagined communities« (2001), dessen Argumentation die folgenden Überlegungen maßgebliche Impulse verdanken (vgl. Sarasin 2001: 32–38). 300 Sarasin 2001: 36.

Kontinuitäts- und kohärenzstiftende Verfahren der Gemeinschaftsimagination

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einer Gemeinschaft respektive zwischen verschiedenen ›Binnengemeinschaften‹ und konstituiert somit eine hegemoniale Gemeinschaft. Wie die von Laclau und Mouffe beschriebenen diskursiven Einheiten respektive Systeme haben hegemoniale Gemeinschaften aber »keinen positiven Grund« und können »folglich sich selbst nicht im Sinne irgendeines positiven Signifikats bezeichnen«301, wie auch für das konstitutive Außen als »reine Negativität«302 gilt, dass es nicht als differenzielles Signifikat repräsentiert werden kann: Ein erster Effekt der ausschließenden Grenze ist, daß sie eine essentielle Ambivalenz in das von solchen Grenzen gebildete System von Differenzen einführt. Einerseits hat jedes Element des Systems nur insofern eine Identität, als es von den anderen verschieden ist. Differenz = Identität. Andererseits jedoch sind alle diese Differenzen einander äquivalent, insoweit sie alle zu dieser Seite der Grenze der Ausschließung gehören. […] Nur, wenn die Systemhaftigkeit des Systems eine direkte Folge der ausschließenden Grenze ist, dann ist es allein diese Ausschließung, welche das System als solches gründet.303

Dieser Mangel an direkter Repräsentierbarkeit wird nun nach Laclau (und Mouffe) durch leere Signifikanten kompensiert respektive verdeckt. Sie repräsentieren »jene fehlende Ganzheit (›fullness‹), die soziale Gruppen als eine notwendige Fiktion von sich entwerfen müssen«304. Leere Signifikanten sind dabei solche Signifikanten, die bereits in kulturellen, auch kulturspezifischen Repräsentationssystemen verwendet werden, dort aber mehr oder weniger konkrete, also differenzielle Signifikate denotieren. Wie Ernesto Laclau unter anderem am Beispiel der »Konstitution der Einheit der Arbeiterklasse«305 erläutert, werden dann im Zuge politisch-sozialer Auseinandersetzungen einzelne Signifikanten ihres »bestimmten, differentiellen Signifikat[s]« ›entleert‹306 und zu Signifikanten der unmöglichen Geschlossenheit einer hegemonialen Gemeinschaft: Daher muss eine dieser Differenzen die unmögliche Totalität verkörpern – ohne dabei allerdings aufzuhören, ein Partikulum zu sein. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, haben wir es hierbei mit der Produktion eines leeren Signifikanten zu tun: Dieser signifiziert eine Totalität, die tatsächlich unmöglich ist. Von einem anderen Blickwinkel aus handelt es sich um eine hegemoniale Operation […]: eine bestimmte

301 302 303 304 305 306

Beide Zitate Laclau 2002: 67f. Laclau 2002: 68. Laclau 2002: 67. Vgl. auch Laclau/Mouffe 2000: 168; und Opitz 2008: 182. Sarasin 2001: 37. Laclau 2002: 70. Dazu Laclau 2002: 65: »Ein leerer Signifikant ist genau genommen ein Signifikant ohne Signifikat.«

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Prämissen und Perspektiven

Partikularität transformiert ihren eigenen Körper in die Repräsentation einer inkommensurablen Totalität.307

Welches »Partikulum« nun die Repräsentation der imaginierten Totalität einer Gemeinschaft – oder umgekehrt die des konstitutiven Außens308 – übernimmt, ist dabei grundsätzlich kontingent und wird in der durch komplexe Machtbeziehungen gekennzeichneten »Unebenheit des Sozialen«309 verhandelt: Hegemonisieren bedeutet genau, diese Füllfunktion zu übernehmen. ([…] Jeder Begriff, der in einem bestimmten politischen Kontext zum Signifikanten des Mangels wird, spielt dieselbe Rolle. Politik ist möglich, weil die konstitutive Unmöglichkeit von Gesellschaft sich nur durch die Produktion leerer Signifikanten repräsentieren kann.)310

Die Unmöglichkeit einer positiven Bestimmung hegemonialer Gemeinschaft begründet entsprechend die Möglichkeit ihrer Subversion und entzieht somit normativen Letztbegründungen von Gemeinschaften den Boden.311 So macht Laclau an Hand seines oben bereits erwähnten Beispiels des ›Arbeiterkampfes‹ im zaristischen Russland auf die grundlegende Ambivalenz hegemonialisierender Signifikationsprozesse aufmerksam: Nehmen wir an, daß eine Mobilisierung von Arbeitern darin Erfolg hat, ihre eigenen Ziele als Signifikant der ›Befreiung‹ im allgemeinen darzustellen. (Wie wir gesehen haben, ist das möglich, weil die unter einem repressiven Regime erfolgende Mobilisierung der Arbeiter auch als Kampf gegen das System wahrgenommen wird.) In gewissem Sinn ist das ein hegemonialer Sieg, da die Ziele einer partikularen Gruppe mit der ganzen Gesellschaft identifiziert werden. Aber in einem anderen Sinn ist es ein gefährlicher Sieg. Wenn ›Arbeiterkampf‹ zum Signifikanten von Befreiung an sich wird, dann wird sie [sic!] zur Einschreibungsfläche, durch die alle Befreiungskämpfe ausgedrückt werden, so daß die um diesen Signifikanten vereinte Äquivalenzkette dazu

307 308 309 310

Laclau 2007: 30. Vgl. auch Opitz 2008: 182f. Vgl. Laclau 2007: 31. Laclau 2002: 73. Laclau 2002: 76. Als nunmehr leerer Signifikant ist er kein Begriff mehr, da die einzelnen Elemente einer Gemeinschaft nicht als regelhafte Unterordnung zu ihm zu verstehen sind. Stattdessen beschreibt Laclau den theoretischen Status von leeren Signifikanten als Namen und ihre Etablierung als »Taufe ohne das Fundament einer allgemeinen Regel«, bei der also die »Einheit des Objekts aus dem Akt des Benennens folgt« (beide Zitate Laclau 2007: 32). 311 Dazu Opitz 2008: 183: »Im Unterschied zur Systemtheorie sensibilisiert die Diskurstheorie Laclaus für die Brüchigkeit jeder Grenzziehung. Weil die Repräsentation einer Totalität im Anschluß an Derrida als Repräsentation einer Unmöglichkeit erscheint, lenkt Laclau den Blick auf die permanente Readjustierung an den Rändern. Das notwendige Aufbrechen aller Schließungsbemühungen macht den Grenzverlauf zwischen Innen und Außen zum Gegenstand der Auseinandersetzung.« Zur potenziellen Instabilität diskursiver Formationen vgl. auch Laclau/Mouffe 2000: 171 und 186f.; und Hebekus/Völker 2012: 56ff.

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

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neigt, ihn zu entleeren und seine Verbindung mit dem tatsächlichen Inhalt, mit dem er ursprünglich verbunden war, zu verwischen.312

2.3

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

Semiotische Imaginationen von Gemeinschaften, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden, basieren also auf zwei zentralen Verfahren, durch die Disparates – Menschen, soziale Interaktionen und Ereignisse – potenziell zu einer Einheit respektive verschiedenen Einheiten synthetisiert wird: Erzählen stiftet in diachroner Perspektive Kontinuität, während Grenzziehungen, zumal dann, wenn sie hegemoniale Gemeinschaften hervorbringen, synchron Heterogenes zu einer vermeintlichen Totalität integrieren.313 Eine Analyse literarischer Repräsentationen des Widerstands, die diese als Gemeinschaftsnarrationen versteht, fokussiert entsprechend sowohl den narrativen Charakter der Texte als auch die in ihnen auf verschiedenen Ebenen inszenierten Grenzziehungen. Dabei stellt sich allerdings die Frage nach dem spezifischen Potenzial literarischer Gemeinschaftsimaginationen, das diese möglicherweise von anderen semiotischen – narrativen und/oder differenzbasierten – Gemeinschaftsimaginationen unterscheidet (zum hier zu Grunde gelegten Literaturbegriff vgl. auch Kap. 1.2.1). Dieses Unterkapitel nähert sich einer Antwort aus zwei Perspektiven: Zum einen geht es darum, das Potenzial literarischer Gemeinschaftsimaginationen literaturtheoretisch zu begründen. Zum anderen aber stützen sich die entsprechenden Ausführungen bereits auf erste Beobachtungen zu den konkreten Primärtexten. Durch entsprechende Textbeispiele soll die Relevanz der theoretischen Annahmen zu symbolsystemspezifischen Strukturen für die 312 Laclau 2002: 76f. 313 Mit Erzählen und Grenzziehung werden hier zwar zwei zentrale Verfahren der Gemeinschaftsimagination genannt, die gerade für literarische Gemeinschaftsimaginationen als besonders relevant gelten können; eine erschöpfende Auflistung aller denkbaren Verfahren semiotischer Gemeinschaftsimaginationen ist damit jedoch nicht angestrebt. So scheinen mir Rituale ebenfalls einen entsprechenden Beitrag zu leisten. Man denke etwa an den Gottesdienstbesuch am Heiligen Abend, der für die Vorstellung von einer christlichen Gemeinschaft zentral sein dürfte. Ein weiteres Verfahren, das – obwohl es hier nicht umfassend erläutert wird – einen wichtigen Stellenwert auch in literarischen Gemeinschaftsimaginationen hat, ist das Benennen. Indem in einem literarischen Text von »den Arbeitern«, »den Kleinbürgern« oder »den Deutschen« gesprochen wird, also auch indem Menschen als Mitglieder einer imaginären Großgruppe etikettiert werden, entsteht erst eine entsprechende Vorstellung oder werden entsprechende Vorstellungen tradiert. Die folgende Beobachtung von Fotis Jannidis zu fiktiven Figuren lässt sich somit auf die in literarischen Narrationen inszenierten Gemeinschaften in doppelter Weise beziehen: »Das Bezeichnete wird durch den ersten Akt des Referierens zugleich auch geschaffen« (Jannidis 2004: 129).

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Prämissen und Perspektiven

Analysen ›widerstandsliterarischer‹ Texte, also des konkreten Gegenstands dieser Arbeit, herausgestellt werden. In einem ersten Schritt wird das Potenzial literarischer Texte reflektiert, imaginierte Gemeinschaften einerseits als überindividuelle, gesellschaftlich relevante Phänomene darzustellen (Fundierung) und andererseits kollektive Identitätsprozesse als menschliche Erfahrungen vorzuführen (Erfahrungshaftigkeit). Die Kombination oder auch Konfrontation von fundierendem und erfahrungshaftigem Modus wird so als Spezifikum literarischer Gemeinschaftsimaginationen erkennbar. In einem zweiten Schritt richtet sich die Aufmerksamkeit dann auf die mögliche Selbstreflexivität respektive -referenzialität literarischer Texte, mit der ihr Potenzial, gemeinschaftsund identitätsstiftende Verfahren zur Schau zu stellen und somit gesellschaftlich etablierte Gemeinschaftsimaginationen zu hinterfragen, begründet werden kann.

2.3.1 Literarische Gemeinschaftsimaginationen zwischen Erfahrungshaftigkeit und Fundierung Insbesondere das spezifisch literarische Zusammenspiel zwischen Fundierung und Erfahrungshaftigkeit soll im Folgenden als ein zentrales Charakteristikum literarischer Gemeinschaftsimaginationen hervorgehoben werden; ein Ansatz, der sich an einer Typologie Astrid Erlls von ästhetischen Verfahren, die einen literarischen Text potenziell zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses machen, orientiert.314 Literarische Texte verhandeln Vorstellungen von Gemeinschaften nicht nur in komplexer Form als ein gesellschaftliches Phänomen oder Problem (fundierender Modus), sondern kombinieren diese Perspektive mit dem Blick auf einzelne Menschen respektive konfrontieren sie mitunter mit 314 Erll unterscheidet darin fünf verschiedene Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses: Erfahrungshaftigkeit, Monumentalität, Antagonismus, historisierender und reflexiver Modus (vgl. Erll 2005: 167–193). Mit ihrer Unterscheidung zwischen erfahrungshaftigem und monumentalem (in dieser Arbeit: fundierendem) Modus orientiert sich Astrid Erll an Aleida Assmanns Differenzierung zwischen Kultur als Monument und Kultur als Lebenswelt. Während Lebenswelt im Sinne von Alltagskultur als »impliziter Nahhorizont« einer »Kommunikationsgemeinschaft« gelten kann, gehören Monumente zur »Ansichtsseite der Kultur«. Sie begründen den Zusammenhalt einer »Kulturgemeinschaft«, indem sie »über die Eigenschaft der Stilisierung hinaus eine an die Mit- und Nachwelt gerichtete Botschaft kodieren« (A. Assmann 1991: 14; vorherige Zitate A. Assmann 1991: 11–13). Der monumentale Modus literarischer Gedächtnisdarstellungen zeichnet sich nach Astrid Erll nun dadurch aus, dass »das Dargestellte als verbindlicher Gegenstand eines übergreifenden kulturellen (nationalen, religiösen) Sinnhorizonts, als Mythos des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses« erscheint. Der erfahrungshaftige Modus dagegen stellt das »Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses« (beide Zitate Erll 2005: 168) dar.

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

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diesem (erfahrungshaftiger Modus). Astrid Erlls nachfolgend zitierte Einschätzung zum Stellenwert literarischer Texte in erinnerungskulturellen Prozessen lässt sich daher ähnlich auf den Status literarischer Gemeinschaftsimaginationen, der diesen in den gesellschaftlichen Ensembles semiotischer Gemeinschaftsentwürfe zukommt, übertragen: Gerade aus der Möglichkeit zur literarischen Gestaltung solcher Übergänge – der Transformation von ›gelebter Erfahrung‹ in ›kulturellen Sinn‹ und vice versa, die Anreicherung des kulturellen Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit – bezieht Literatur ihr besonderes Leistungsvermögen in der Erinnerungskultur.315

Fundierung als Verortung von Gemeinschaften in Traditions- und Diskursgefügen In seiner Monographie »Das kulturelle Gedächtnis« verwendet Jan Assmann den Begriff »Fundierung«, um eine bestimmte Form des Erzählens von Vergangenem, den Mythos, zu beschreiben: Die eine Funktion des Mythos wollen wir »fundierend« nennen. Sie stellt Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt.316

Auch in dieser Arbeit sollen mit »Fundierung« solche Formen des Erzählens bezeichnet werden, die das Erzählte in diachroner und/oder synchroner Perspektive in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen verorten.317 Fundierend sind literarische Gemeinschaftsimaginationen immer dann, wenn sie – in welcher Form auch immer – überindividuelle Gültigkeit behaupten. Mythisches Erzählen, wie es bereits in Kapitel 2.2.1 definiert wurde, stellt dabei aber nur eine von vielen möglichen Formen dar.318 Im fundierenden 315 Erll 2005: 175. 316 J. Assmann 1992: 79. 317 Auf den Begriff »Monumentalität«, den Erll verwendet, wird hier zu Gunsten des Begriffes »Fundierung« verzichtet, da »Monumentalität« zu deutlich eine zeitliche Dimension impliziert. So gelten Monumente nicht nur aus (kultur-)historiographischer Perspektive als eine spezifische historische Quelle, also eine, die bewusst der Nachwelt hinterlassen wird. In den folgenden Überlegungen zum fundierenden Potenzial literarischer Gemeinschaftsimaginationen wird aber nicht nur deren Anknüpfung an historische Traditionen, sondern auch ihre Auseinandersetzung mit synchronen Diskursen fokussiert, für die der Begriff des »Monumentalen« auf Grund seiner zeitlichen Implikation als unpassend erscheint. 318 Die folgende knappe Skizze von Verfahren, die für den fundierenden (oder später den erfahrungshaftigen) Modus zentral sind, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll lediglich den Blick schärfen für die Funktionen, die bestimmten Merkmalen literarischer Texte bei der Imagination von Gemeinschaften zugewiesen werden können. Dies schließt nicht aus, dass noch weitere oder andere hier nicht genannte textuelle Aspekte einen Beitrag zu Fundierung (oder Erfahrungshaftigkeit) im literarischen Text leisten können.

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Prämissen und Perspektiven

Modus – wie er hier verstanden wird – verorten literarische Texte ihre Gemeinschaftsimaginationen zudem in Traditions- und Diskursgefügen, stellen also sowohl diachrone als auch synchrone Bezüge zu etablierten Gemeinschaftsentwürfen her. Dabei spielen erstens peritextuelle Rahmungen des fiktionalen Haupttextes eine zentrale Rolle.319 So können die Textproduzenten in Vor- oder Nachworten dem literarischen Werk als Ganzem explizit bestimmte gesellschaftliche, zum Beispiel gemeinschaftsstiftende Funktionen zuweisen, dadurch die Rezeptionshaltung der Leser steuern und zur Gemeinschaftsimagination beitragen. Beispielsweise wird auf dem hinteren Umschlag des Buches »Stauffenberg. Die Tragödie des 20. Juli 1944«, welches unter dem Pseudonym David Sternbach 1985 publiziert wurde, das in dem Drama dargestellte persönliche Ringen Stauffenbergs im Kampf zwischen Gut und Böse explizit als Vorbild für die aktuelle weltpolitische Situation angepriesen: Ein ›heiliges Deutschland‹ – trotz Hitler und Holocaust? Ist diese Idee Stauffenbergs nicht geradezu gotteslästerlich? Der Autor der ›Tragödie des 20. Juli 1944‹ sagt nein. Die Botschaft Stauffenbergs kann auch heute noch heilsam sein. Vielleicht verhindert sogar nur ihr Verständnis den gegenwärtig drohenden atomaren Holocaust.

Ähnliches gilt für »Widmungen an Mitglieder einer (fiktiven) kommunikativen Gedächtnisgemeinschaft«320. Exemplarisch sei auf die Widmung verwiesen, die Carl Zuckmayer seinem Drama »Des Teufels General« voranstellt: Den ersten Entwurf zu diesem Stück / widmete ich im Jahre 1942 / Dem unbekannten Kämpfer / Jetzt widme ich es dem Andenken / meiner von Deutschlands Henkern / aufgehängten Freunde / Theodor Haubach / Wilhelm Leuschner / Graf Hellmuth von Moltke (DTG: 5).

Interessant ist hier mit Blick auf Gemeinschaftsimaginationen nicht nur die semantische Ambivalenz der Genetivkonstruktion »Deutschlands Henkern«, sondern die dezidierte Positionierung des Autors als Freund der getöteten Widerständigen, die als implizite Vorgabe für die Bewertung des nachfolgend dargestellten Widerstandsgeschehens gelesen werden kann. Zweitens geraten intertextuelle Verweise in den Blick, die im fiktionalen Haupttext auf den verschiedenen Ebenen – fiktive Figuren, Erzählinstanz, Textganzes – zum Entwurf von Gemeinschaften beitragen können. Verstanden als »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text«321 erscheinen sie zum einen in ihrer Funktion, die textinternen Gemeinschaftsimaginationen seitens 319 Zur Funktion paratextueller Phänomene als Illokutionsindikatoren, die die Auseinandersetzung des Rezipienten mit einem literarischen Text entscheidend beeinflussen, vgl. Zipfel 2001: 37f. 320 Erll 2005: 170. 321 Genette 1993: 10. Zu den verschiedenen Formen, die einen Text in »eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten« (Genette 1993: 9) bringen, vgl. Genette 1993.

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Erzählinstanz/en oder Figuren in synchronen Diskursgeflechten zu positionieren, als relevant. Zum anderen verorten intertextuelle Bezüge die literarischen Gemeinschaftsimaginationen potenziell in diachronen Traditionszusammenhängen und legitimieren sie dadurch: Literarische Werke beziehen Autorität aus vorgängiger Literatur, indem sie auf kanonische oder klassische Texte Bezug nehmen.322

Umgekehrt weisen sie auch den Bezugstexten erneut Relevanz für eine konkrete Gemeinschaft zu, indem sie sie als Bezugspunkt der textinternen Gemeinschaftsimagination in den Blickpunkt des Rezipienten treten lassen. Literarische Gemeinschaftsimaginationen knüpfen also nicht nur an aktuelle gesellschaftliche Diskurse und tradierte Bedeutungszusammenhänge an, sondern schreiben sie auch fort.323 Intertextuelle Bezüge auf flankierende gesellschaftliche Diskurse verdichten dabei potenziell die literarischen Gemeinschaftsentwürfe, indem sie Elemente ganz heterogener gesellschaftlicher Bereiche zusammenführen, und machen sie gleichzeitig anschlussfähig an aktuelle Identitätsdebatten. So wird beispielsweise der Protagonist Faller, der in Sobo Swobodniks Roman »Fallers Held« (2005) eine Dissertation über das Attentat Georg Elsers auf Adolf Hitler sowie dessen Rezeptionsgeschichte erarbeitet, nicht zuletzt durch Anspielungen wie die folgende in seiner Abgrenzung von politisch konservativen Positionen erkennbar : Er ging zu Fuß. Vom Hauptbahnhof bis zum Gasteig wurde er zweimal kontrolliert. Einmal von einer Polizeistreife in Uniform, ein anderes Mal von Zivilbeamten. Beide Male verlangten sie seinen Personalausweis. Vielleicht lag es an seiner Akne, vielleicht verlieh sie seinem Gesicht ja einen verwegenen Ausdruck. Oder an der Stadt selbst. Das ist keine Weltstadt mit Herz, dachte Faller, sondern ein Dorf mit vielen Bullen. Mit Sicherheit ein gutes Gefühl! fiel ihm ein. Wenn Damenbinden-Slogans zum politischen Programm werden, kann man darauf nur mit einem Blutbad reagieren […]. (FH: 209)

Bei dem Zitat »Mit Sicherheit ein gutes Gefühl!« handelt es sich unter anderem um einen Slogan, mit dem die CSU auf Plakaten im Landtagswahlkampf 2001/ 322 Erll 2005: 170. 323 Vgl. dazu Erll 2005: 170f.; sowie zum Gedächtnis der Literatur die Überlegungen Birgit Neumanns zur Intertextualität, die sich damit an Renate Lachmann (1990) orientiert (vgl. Neumann 2005: 189f.). Dies gilt nicht nur für intertextuelle Einzeltextreferenz, sondern auch für Formen von Architextualität sensu Genette (Systemreferenz), also die Orientierung von literarischen Texten an etablierten »Gattungsnormen und Schreibweisen« (Martinez 2005: 443). Zudem kann das Fortschreiben etablierter Gattungsmuster insbesondere Imaginationen von Gemeinschaften auf der Ebene des Textganzen beeinflussen: Indem sie beim Rezipienten konventionalisierte Deutungsschemata aktivieren, lassen etablierte Formen der Geschehensvermittlung – wie beispielsweise die Tragödie – das Dargestellte weniger als individuellen Einzelfall, denn als exemplarische Darstellung von gesellschaftlicher Relevanz erscheinen.

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Prämissen und Perspektiven

2002 um Wählerstimmen warb. Neumanns folgende Einschätzung des Potenzials literarischer Gedächtnisdarstellung lässt sich mithin auf literarische Gemeinschaftsimaginationen übertragen: Offensichtlich beruht das spezifische Leistungsvermögen der fiktionalen Gedächtnisdarstellung darin, daß sie auch vorerst disparate, d. h. lebensweltlich unverbundene Elemente, wie sie von verschiedenen sozialen (einzelnen Personen oder Erinnerungsgemeinschaften) und materialen (unterschiedliche fiktionale und nicht-fiktionale Gedächtnismedien) Dimensionen der Kultur memoriert werden, zusammenführen und diese modellhaft zu neuen Gedächtnisversionen strukturieren kann.324

Nicht nur der Bezug auf andere literarische Texte, sondern auch Verweise auf einzelne nicht-literarische Texte sowie auf nicht primär schriftsprachlich überlieferte kulturspezifische Symbole können hier mit einem weiten Intertextualitätsbegriff erfasst werden (vgl. dazu die Ausführungen zum symbolisierenden Erzählen in Kap. 2.1.2.). So wird beispielsweise in Franz Josef Degenhardts Roman »Zündschnüre« ein wiederholt zitierter gemeinsamer Liederkanon zum Symbol politischer Zugehörigkeiten (vgl. Kap. 5.4.2).

Erfahrungshaftigkeit als Vorführen fiktiver figuraler Identifikationen oder Konfrontationen Während mit »fundierendem Modus« solche literarischen Verfahren bezeichnet werden sollen, die den Eindruck gesellschaftlicher Relevanz der im literarischen Text artikulierten Gemeinschaftsentwürfe erzeugen, geraten mit dem Begriff »Erfahrungshaftigkeit« im Folgenden solche Textphänomene in den Blick, die Gemeinschaft und die Zugehörigkeit oder auch Nicht-Zugehörigkeit zu ihr als eine spezifische Erfahrung des einzelnen Menschen darstellen. Stellt man auf diese Weise »die Existenz von fiktiven Personen in einer fiktiven Welt in den Mittelpunkt der Betrachtung«325, wie es Monika Fludernik anregt, wird deutlich, dass literarische Texte Gemeinschaften nicht nur als gesamtgesellschaftliches und relativ abstraktes Phänomen imaginieren und verhandeln (fundierender Modus), sondern dass zudem fiktive Figuren als mögliche Subjekte kollektiver Identitätsprozesse inszeniert werden können (erfahrungshaftiger Modus). Dabei können etablierte, oft stereotype Gemeinschaftsimaginationen mit der Komplexität individueller Lebenswelt und individueller Identitätsprozesse konfrontiert und so dekonstruiert werden. Außerdem machen literarische Texte, indem sie Prozesse kollektiver Identität am Beispiel fiktiver Figuren modellhaft 324 Neumann 2003: 69. Ähnlich verwendet auch Astrid Erll (2005: 148) den Begriff ›Interdiskurs‹. 325 Fludernik 2006: 14.

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

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vorführen, diese nicht zuletzt auch für den Leser erfahr- und beobachtbar, was einen zentralen Aspekt spezifisch ästhetischer Erfahrung darstellt: Die ästhetische Erfahrung hat stets eine intersubjektive Komponente: In den literarischen Alternativmodellen des Lebens und der Identität werden vielfältige Möglichkeiten der Begegnung mit einem ›Anderen‹ angeboten, das gerade erst durch die pragmatischen Alltagszwängen enthobene Fiktionalität des Ästhetischen im Wechselspiel von Identifikation und reflexiver Distanz der symbolischen Erfahrung zugänglich wird. Im literarischen Spannungsfeld zwischen Eigenem und Anderem, zwischen Vertrautem und Fremdem wird nicht nur eine ständige Erneuerung von Sprache und Wahrnehmung bewirkt, sondern auch ein Prozeß des Selbst- und Fremdverstehens, der die Erfahrung von Alterität zum irreduziblen Bestimmungsmoment eigener Identitätsfindung macht.326

In Fluderniks Überlegungen zu einer »›Natural‹ Narratology« wird die Darstellung menschlicher Erfahrungen nicht nur zu dem zentralen Merkmal des Narrativen,327 sondern in kritischer Abgrenzung von Paul Ricœur zu einem Distinktionsmerkmal von Fiktion einerseits und Historiographie andererseits: Such a distinction would be based not on the cognitive issues of intentionality or the fulfilment of goals, but on the essential experience of the events which the necessarily human agents undergo in fictional texts and which is lacking for historical agents in historical discourse. To clarify : historical protagonists are of course also perceived as ordinary human agents who have goals, harbor unacknowledged intentions, evince weaknesses of character, engage in duplicitous dealings, etc.; what their personal experience was like (their hopes and fears, their loves and hates, their suffering) becomes noteworthy only in so far as it relates to the historical plot. It is therefore no coincidence that history is frequently bare of personal interest, that it is so difficult to make historical characters come alive […].328

Aus dieser Perspektive lässt sich die Inszenierung von Erfahrungshaftigkeit, also das Potenzial literarischer Texte, »partikulare Erfahrung«329 darzustellen, als ein Spezifikum beschreiben, das – zumindest in der Neuzeit – literarische von anderen Narrationen unterscheidet. Erfahrung soll dabei als eine Form sinnlichen 326 Zapf 2001: 148. 327 Dazu Fludernik 1996: 26f.: »My distinctions furthermore disqualify the criteria of mere sequentiality and logical connectedness from playing the central role that they usually hold in most discussions of narrative. I do, however, acknowledge that they are still a necessary ingredient for most narrative texts in the traditional understanding of that term. Actants in my model are not defined, primarily, by their involvement in a plot but, simply, by their fictional existence (their status as existents). Since they are prototypically human, existents can perform acts of physical movement, speech acts, and thought acts, and their acting necessarily revolves around their consciousness, their mental centre of self-awareness, intellection, perception and emotionality.« 328 Fludernik 1996: 24. Vgl. dazu auch Fludernik 2006: 94. 329 Erll 2005: 169.

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Prämissen und Perspektiven

Erlebens verstanden werden, durch das psychische, also emotionale oder mentale, Vorgänge ausgelöst werden.330 Eine solche Annahme von der Erfahrungshaftigkeit von Literatur setzt eine theoretische Konzeption literarischer Figuren voraus, die diese einerseits nicht in strukturalistischer oder poststrukturalistischer Weise als bloß »textuelle Phänomene« begreift, aber andererseits auch nicht in ein Verständnis fiktiver Figuren als »direkte Wiedergabe von realen Personen«331 zurückfällt. Ein solches Modell bietet Fotis Jannidis, der unter anderem in Anlehnung an Ralf Schneider (2000) literarische Figuren als mentale Modelle beschreibt, die ein (Modell-)Leser332 basierend auf den im Text vermittelten Informationen entwickelt. Eine Voraussetzung dafür, dass ein Phänomen eines literarischen Textes überhaupt als Figur erkannt wird, ist nach Jannidis, dass es einem anthropomorphen Basistypus entspricht: Dieses Modell folgt in seiner Binnenstruktur einem Basistypus, der folgende Eigenschaften hat: – Es wird zwischen einem Inneren und einem Äußeren unterschieden. Das Äußere ist für andere Figuren und Wahrnehmungsinstanzen sinnlich wahrnehmbar, das Innere nur für Wahrnehmungsinstanzen. – Dem Inneren lassen sich kurzfristige mentale Zustände zuschreiben, z. B. Annahmen, Wünsche und Gefühle. Außerdem lassen sich ihm langfristige Eigenschaften zuschreiben. – Auch dem Äußeren können kurzfristige Zustände und langfristige Eigenschaften zugeschrieben werden. […] Das mentale Modell der Figur auf der Grundlage des Basistypus ermöglicht es, Figuren von Objekten zu unterscheiden und sie anders als diese in der Motivierung von Handlungen einzusetzen.333

Ausgehend von dieser Mindestbedingung, dass Figuren einem anthropomorphen Basistypus zumindest nahekommen müssen, um für den fiktiven Adres330 Es kann an dieser Stelle allerdings weder darum gehen, die wissenschaftliche, vor allem philosophische, pädagogische und soziologische, Geschichte des Erfahrungsbegriffs nachzuvollziehen, noch die verschiedenen umgangssprachlichen Verwendungsweisen des Begriffs voneinander abzugrenzen oder gegeneinander auszuspielen. Zu beiden Perspektiven auf »Erfahrung/en« vgl. Peskoller 2013: 51–59; und Westphal 2013. 331 Beide Zitate Jannidis 2004: 172. 332 Jannidis arbeitet hier mit dem Konzept des Modell-Lesers in Anlehnung an Umberto Eco (vgl. Jannidis 2004: 28–33), welches von mir in dieser Arbeit ähnlich wie ein möglicher abstrakter oder impliziter Autor nicht als Teil der literarischen Kommunikationssituation konzipiert wird (vgl. Kap. 3). Entsprechend wird hier abweichend von Jannidis die Figur als mentales Modell eines realen Lesers konzipiert, welches sich in dessen Auseinandersetzung mit der Struktur des Textganzen ausgehend von seinen eigenen anthropologischen Vorstellungen herausbildet. Dieses kann intersubjektiv als mehr oder weniger der Textstruktur angemessen erscheinen und den vermeintlich vom Autor intendierten Vorstellungen mehr oder weniger nahekommen. 333 Jannidis 2004: 240f.

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

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saten oder den realen Leser überhaupt als Figuren erkennbar zu sein, kann man literarische Entwürfe fiktiver Figuren nun danach unterscheiden, inwieweit sie den von Jannidis skizzierten Basistypus mit weiteren Informationen anreichern, also als wie komplex sie die Figuren entwerfen. Für die Frage, »ob die Figur komplex genug [ist], um die Illusion einer Person zu ermöglichen«334 und somit als ein mögliches Subjekt kollektiver Identitätsprozesse rezipiert zu werden, spielen sicherlich Art und Umfang der im Text vermittelten Figureninformationen und die »figurenbezogenen Tatsachen in der erzählten Welt«335, die die Modellbildung der Leser/innen beeinflussen, eine wichtige Rolle.336 Darüber hinaus sind vor allem ausgewählte Aspekte interessant, die Jannidis unter dem Stichwort »Identifikation« verhandelt: Wie auch immer man aber Identifikation als Prozeß auffaßt, auf jeden Fall handelt es sich um die psychischen Prozesse von Lesern – und dazu kann die Narratologie als textzentrierte Theorie offensichtlich nichts beitragen. Allerdings kann sie einen genuinen Beitrag dazu leisten, wie der Text die Beziehung des Lesers zum Protagonisten bestimmt. ›Bestimmung‹ soll hier nicht suggerieren, daß der Text dieses Verhältnis alleine und gänzlich determiniert, da bekanntlich die Angebote des Textes von Lesern unterschiedlich aufgenommen und auch ganz ausgeschlagen werden können.337

Ausgehend von der Annahme, dass »Menschen die Gefühle anderer Menschen nachvollziehen können« und dass dies »kein rein kognitiver Prozeß, sondern in erster Linie ein affektiver«338 ist, werden in diesem Zusammenhang vor allem Empathie auslösende Signale von Texten relevant.339 Dazu zählen alle »Informationen des Textes, die die Situation aus der Sicht einer Figur vermitteln«340, 334 335 336 337 338 339

Jannidis 2004: 106. Jannidis 2004: 207. Vgl. dazu differenziert Jannidis 2004: 197–221. Jannidis 2004: 231. Beide Zitate Jannidis 2004: 231. Die folgenden Überlegungen zum identifikatorischen Potenzial literarischer Figuren sollen allerdings nicht übersehen lassen, dass fiktiven Figuren in literarischen Gemeinschaftsimaginationen noch weitere Funktionen jenseits der Modellierung von Prozessen kollektiver Identität zukommen können. Als ein zentraler Aspekt kann in diesem Zusammenhang die Figurenkonstellation des Textes gelten. So werden auch Figuren, die als (psychisch) weniger komplexe Charaktere konzipiert sind, für die literarische Imagination von Gemeinschaften relevant, wenn sie allegorisch Ideen oder Ideologien personifizieren oder als Typen zu symbolischen Repräsentanten imaginierter Gemeinschaften werden (zu Figuren als Teil komplexer Bedeutungsstrukturen vgl. Jannidis 2004: 107). Auch die Frage, aus welcher (Figuren-)Perspektive ein Geschehen vermittelt wird, ob verschiedene Perspektiven gleichwertig nebeneinander gestellt werden oder hierarchisch angeordnet zu sein scheinen, kann eine Form der Bewertung von Figuren, ihren Identitäten und somit den durch sie repräsentierten Gemeinschaften darstellen (vgl. dazu Erll 2005: 180). 340 Jannidis 2004: 232. Es geht um die Darstellung der sinnlichen Wahrnehmung der Außenwelt und des eigenen Körpers durch die Figur, also die Möglichkeiten fiktionaler Texte, Figurenwahrnehmung dem Leser in Formen von interner oder Nullfokalisierung zugänglich zu

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Prämissen und Perspektiven

was als das »besondere Leistungsvermögen literarischer Texte«341 nicht nur in der Erinnerungskultur, wie Astrid Erll proklamiert, sondern auch bei semiotischen Imaginationen von Gemeinschaften gelten kann.342 Zudem kann mit Jannidis analog zu Mimik und Gestik in der face-to-face-Kommunikation die »Expressivität der Sprache« von Figuren und Erzählerrede als Empathie auslösender Faktor verstanden werden: »Dazu gehören alle Formen des sprachlichen Ausdrucks, die symptomhaft emotionale Zustände kommunizieren«343 und damit dazu anregen, fiktive Figuren als komplexe psychische, also auch identitätausprägende Personen zu interpretieren. So evoziert beispielsweise folgender Redebeitrag der Figur Stauffenberg in Wolfgang Graetz’ Drama »Die Verschwörer« (1965) auf Grund der dominierenden Ausrufesätze den Eindruck eines Menschen, für dessen Identität die Identifikation mit den durch Julius Leber repräsentierten sozialistischen Ideen zentral ist: »Doch! Ich bin allein! Wenn ich es denen überlasse, verpatzen sie es! Glauben Sie denn, daß Goerdeler mit seinen Ideen noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlockt? wieder verbissen Ich sage Ihnen: Wir brauchen Leber! im Aufbruch Ich muß ihn herausholen! Und ich werde ihn rausholen! Verlassen Sie sich darauf! Morgen platzt die Bombe – ganz gleich, wie! stürmt davon, die anderen folgen« (Vsch: 26).

Literarische Texte können also Figuren nicht nur als identitätsausprägende Personen konzipieren, sondern sie – anders als dies beispielsweise in historiographischen Texten die Regel ist – auch als solche in ihren Identitätsprozessen vorführen. Literarische Gemeinschaftsimaginationen zeichnen sich daher insbesondere durch das Wechselspiel von fundierenden Gemeinschaftsinszenierungen und erfahrungshaftigen Entwürfen von kollektiver Identität aus. Insbesondere wenn positiv dargestellte Figuren sich mit Gemeinschaften identifimachen (vgl. Jannidis 2004: 232). Aber auch »Informationen, die eine Situation aus einer gedanklichen, weltanschaulichen oder emotionalen Perspektive darstellen« (Jannidis 2004: 233), und die Frage, ob diese eher in einem dramatischen oder einem narrativen Modus vermittelt werden, wird hier relevant. Während Jannidis davon ausgeht, dass eher das ›showing‹ des dramatischen Modus »zum Mitfühlen« (Jannidis 2004: 233) anregt, verweist Fludernik konträr dazu auf die Herausforderung, nicht nur verbale Bewusstseinsinhalte zu berücksichtigen: So seien gerade Gedankenberichte, die dem narrativen Modus zugeordnet werden, »sehr flexibel und vom verbalen Inhalt des beschriebenen Bewusstseins ganz unabhängig; sie eignen sich bestens um Gefühle, Ängste, Wünsche und Motive der Personen zu schildern, während der innere Monolog und auch die erlebte Rede viel mehr verbale Strukturen suggerieren« (Fludernik 2006: 95). Ähnlich wie Fludernik betont Erll das Potenzial literarischer Innenweltdarstellung »Aspekte pränarrativer Erfahrung« (Erll 2005: 173) zu inszenieren. 341 Erll 2005: 173. 342 Als ein ›Widerstandsroman‹, bei dem gerade die (wechselnde) interne Fokalisierung zum zentralen Verfahren der Kontrastierung verschiedener Gemeinschaftsentwürfe wird, sei hier Alfred Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« genannt. 343 Beide Zitate Jannidis 2004: 234. Fludernik spricht in diesem Zusammenhang vom »Mentalstil« (Fludernik 2006: 100).

Potenziale literarischer Gemeinschaftsimaginationen

105

zieren, also eine entsprechende kollektive Identität artikulieren, leisten literarische Texte potenziell die Etablierung und Tradierung von Gemeinschaften, wie es sich vor allem in den literarischen Widerstandsrepräsentationen zeigt, die im Analyseteil als nationale Integrationsangebote gelesen werden (vgl. Kap. 3). Umgekehrt ermöglicht die Kombination von fundierendem und erfahrungshaftigem Modus dann eine Dekonstruktion von Gemeinschaftsentwürfen, wenn die individuelle Erfahrung von Figuren mit fundierenden Behauptungen von Gemeinschaft kontrastiert wird. Eine entsprechende Tendenz zeigt sich vor allem in den ›Widerstandstexten‹, die in dieser Arbeit als destabilisierende Entwürfe von Gemeinschaft und Gemeinschaften gelten (vgl. Kap. 4).

2.3.2 Literarische (Selbst-)Reflexion und Selbstbezüglichkeit als Zur-Schau-Stellen gemeinschafts- und identitätsstiftender Verfahren Auch unter dem Begriff »reflexiver Modus« sollen im Folgenden – wenn auch aus einer anderen Perspektive – literarische Texte in ihrem Potenzial, Gemeinschaftsentwürfe dekonstruieren zu können, in den Blick genommen werden. Beim reflexiven Modus geht es um das Herausstellen, Reflektieren und Problematisieren von Prozessen der Gemeinschaftsimagination und daher potenziell auch um eine Selbstreflexion der Darstellung und Funktion des literarischen Textes selbst: Den reflexiven Modus konstituieren Darstellungsverfahren, die den literarischen Text zu einem Medium der Beobachtung zweiter Ordnung werden lassen.344

Ähnlich wie es Erll für eine reflexive Gedächtnisrhetorik literarischer Texte beschreibt, zeichnen sich auch literarische Gemeinschaftsreflexionen einerseits durch »ein kritisches Hinterfragen der Selektionsmechanismen, der Produktion, Kontinuierung, Manipulation und politischen Funktionalisierung«345 von Gemeinschaftsentwürfen aus.346 Andererseits geraten literarische Texte hier in 344 Erll 2005: 189. Zur einer Unterscheidung zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, die dieser Aussage zu Grunde liegt, vgl. auch Erll (in Anlehnung an Luhmann) 2005: 265f.; sowie Meuter 1995: 75. 345 Erll 2005: 188. 346 Auch die Verfahren, die Erll in diesem Zusammenhang beschreibt, erscheinen potenziell übertragbar: So kann der Konstruktcharakter und die Standortgebundenheit von Gemeinschaftsimaginationen offengelegt werden, indem beispielsweise Widersprüche von Gemeinschaftsentwürfen fiktiver Figuren oder Erzählinstanz/en nicht aufgelöst werden oder diese in ihrer Selektivität vorgeführt werden; Imaginationen von Gemeinschaft könnten durch die Unzuverlässigkeit eines sie hervorbringenden Erzählers in ihrer relativen Kontingenz problematisiert werden; Figuren oder Erzählinstanzen können explizit auf Alltags- oder wissenschaftliche Theorien von Gemeinschaft/en oder gemeinschafts-

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Prämissen und Perspektiven

ihrer möglichen Poetizität in den Blick, die mit Roman Jakobsons bekannten Worten als »Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen«347 beschrieben werden kann. Diese »Autofunktionalität«348 poetischer Sprache kann Rezipienten die Materialität von Zeichen vor Augen führen, also ihre Aufmerksamkeit weg vom Signifikat hin zur Signifikantenstruktur lenken.349 Durch »prägnante Formulierung[en]«350 können literarische Texte automatisierte Prozesse, die auf die Entschlüsselung inhaltlicher Mitteilungen zielen, unterbrechen. So beobachtet beispielsweise Jurij M. Lotman »in der Struktur des künstlerischen Textes gleichzeitig zwei einander entgegenwirkende Mechanismen«: der eine zielt darauf ab, alle Elemente des Textes einem System unterzuordnen und sie in eine automatisierte Grammatik zu verwandeln, ohne die kein Kommunikationsakt möglich ist; und der andere zielt darauf ab, die Automatisierung zu zerstören und die Struktur selbst zum Träger der Information zu machen.351

Texte, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diese Weise herausfordern und auf die Form des Zeichens, weniger auf seine Bedeutung verweisen, induzieren potenziell Aufmerksamkeit für die »Semantisierung literarischer Formen«352. Übertragen auf die Imagination von Gemeinschaften ermöglicht dieser Perspektivwechsel vor allem die Reflexion bedeutungserzeugender Grenzziehungen, wie sie in Kapitel 2.2 als zentral für semiotische Gemeinschaftsentwürfe herausgestellt werden. Wenn Gemeinschaftsbezeichnungen – sei es in Form von entsprechenden Personalpronomen oder konkreten ›Namen‹ wie »Deutsche«, »Bildungsbürger« oder »das Kapital« – als Materialitäten sui generis und nicht als untrennbar mit einem Bezeichneten verbunden vorgeführt werden, wird stärker ihre jeweilige Situiertheit in einem Geflecht semantischer Grenzziehungen ins Zentrum gestellt und weniger der ›Inhalt‹, also ein Signifikat, das sie denotieren und/oder konnotieren.353 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi-

347 348 349

350 351 352 353

konstituierenden Prozessen Bezug nehmen, diese diskutieren oder sie implizit durch die Verwendung einer entsprechenden Metaphorik artikulieren. Vgl. Erll 2005: 184–187. Jakobson 1979: 92. Link/Parr 2005: 111. Vgl. Link/Parr 2005: 111f. Da Poetizität kein Auswahlkriterium bei der Zusammenstellung der in dieser Arbeit zu analysierenden literarischen Widerstandsdarstellungen ist, ist in den Textanalysen im Einzelfall darauf zu achten, inwieweit in den einzelnen epischen oder dramatischen Narrationen Sprache auch in einer poetischen Funktion erkennbar wird. Jakobson selbst hat darauf hingewiesen, dass die poetische Funktion der Sprache in den verschiedenen literarischen Genres in unterschiedlichem Maße mit den von ihm beschriebenen fünf weiteren Sprachfunktionen vermischt ist (vgl. Jakobson 1979: 93f.). Link/Parr 2005: 112. Beide Zitate Lotman 1993: 114. A. Nünning 2001: 579. Bei einer Analyse der literarischen Widerstandsdarstellungen geraten diese semantischen Grenzziehungen nicht nur auf der Ebene einzelner Sätze oder Passagen – also auf primär

Zur analytischen Rekonstruktion literarischer Gemeinschaftsentwürfe

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schen Gemeinschaften und/oder Individuen erscheinen so potenziell nicht mehr als ontologisch gegeben, sondern als Resultat von sprachlichen Zuschreibungen, deren Bedeutung sich erst im literarischen Text selbst – in einem komplexen Netz von Äquivalenzen oder Abgrenzungen – konstituiert. Zur Veranschaulichung dieser Überlegungen sei eine Passage aus Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« zitiert, in der der homodiegetische Erzähler »die Begüterten« in Abgrenzung zu den »Eigentumslosen« wie folgt beschreibt: Sie standen auf der Seite des Fortschritts, sie verteilten die Arbeit, sie holten sich heran, den sie brauchten, sie entließen den, der ihnen nicht mehr paßte, sie gründeten Werkstätten und Fabriken, sie trieben, nachdem die rivalisierenden ägyptischen Behörden die Ausfuhr von Papyros verboten hatten, die Herstellung von Schreibhäuten voran, sie entwickelten die Technik des Färbens von Schafwolle. Weberinnen, Sandalenmacher, Schneider und Schmiede waren für sie am Werk, ihre Karawanen erhandelten aus China Elfenbein, Jade, Seide, Porzellan, aus Indien Gewürze, Duftstoffe, Salben und Perlen. Für ihre Werften ließen sie sich das Holz aus den Hochwäldern holen, sie ließen sich Kupfer und Eisenerz, Gold und Silber aus den Gruben fördern […]. Damals, sagte Coppi, entstand der Vorsprung, den sie uns gegenüber einnehmen […].« (ÄdW1: 40f.)

Die vor allem zu Beginn der zitierten Passage parallele Satzstruktur lenkt die Aufmerksamkeit noch zusätzlich auf das anaphorisch verwendete Pronomen »sie«. Dieses »sie« wird dabei deutlich kontrastiert mit dem rhetorisch in der nachfolgenden Rede Coppis dominierenden »wir«. Das auch formale Herausstellen des Kontrastes von »sie« und »wir« kann an dieser Stelle als Zur-SchauStellen der den ganzen Roman prägenden Standortgebundenheit des erzählerischen Vergleichs verschiedener gesellschaftlicher Großgruppen gelesen werden (vgl. Kap. 5.2).

2.4

Zur analytischen Rekonstruktion literarischer Gemeinschaftsentwürfe

Im Zentrum der folgenden Kapitel steht die Analyse der literarischen Widerstandsrepräsentationen als Gemeinschaftsnarrationen. »Gemeinschaftsnarrationen« sind bereits als konkrete narrative Texte eines Urhebers definiert worden, die eine oder die Geschichte eines Kollektivs entwerfen (vgl. Kap. 2.2.1). Die hier fokussierten Gemeinschaftsimaginationen ebenfalls auf einen konkreten Urheber zurückzuführen, wäre allerdings ein analytischer Kurzschluss. Stattlexikalischer Ebene – in den Blick, sondern auch die Struktur des Gesamttextes – also seine formale Untergliederung oder Aspekte der Figurenkonstellation – ist für die Frage nach bedeutungskonstituierenden Grenzziehungen, mittels derer Vorstellungen von Gemeinschaften etabliert werden, zentral.

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Prämissen und Perspektiven

dessen kann – an Überlegungen zur doppelten Kommunikationssituation in Romanen und Dramen als fiktionalen Texten anschließend354 – die Frage nach den jeweiligen Instanzen, die im »Akt des Konfigurierens« Heterogenes zu Imaginationen von Gemeinschaft zusammenfügen, durch die Unterscheidung verschiedener Kommunikationsebenen differenzierter beantwortet werden.355 In einem ersten Schritt sind die Gemeinschaftsimaginationen der fiktiven narrativen Instanz/en, die ein Geschehen vermittelt/n,356 und der agierenden Figuren, von denen die narrative Instanz erzählt, zu unterscheiden, die untereinander in einem Subordinationsverhältnis stehen.357 Darüber hinaus stellt sich die Frage nach einer möglichen Präsenz des konkreten Autors und seinen Vorstellungen von Gemeinschaften im literarischen Text. Eine entsprechende Antwort darauf betrifft das Verhältnis zwischen externer und interner Kom-

354 Im Gegensatz zu beispielsweise Manfred Pfister, der für das Drama das Fehlen einer vermittelnden Kommunikationssituation, also eines fiktiven Erzählers und Adressaten, als Normalfall konstatiert (vgl. Pfister 2001: 20ff.), soll hier im Anschluss vor allem an Elke Muny von einer erzählerischen Vermittlung von Geschehen auch im dramatischen Text ausgegangen werden. Sowohl die epischen Widerstandserzählungen als auch die dramatischen Darstellungen des Widerstands – sofern man sie als Lesedramen und nicht als direktive Anweisungen des Autors für eine Bühneninszenierung versteht (zu den verschiedenen Perspektiven auf dramatische Texte vgl. Jahn 2001: 661f.) – können so mit dem Modell einer doppelten Kommunikationssituation beschrieben werden. Wird »das Drama als Lese-Text ernst genommen«, lässt sich der Nebentext – oder zumindest große Teile von ihm – als »komplex narrative Rede« (beide Zitate Muny 2008: 69) fassen, die die Darstellung des Geschehens organisiert. Entgegen Annahmen von einer Autonomie oder Absolutheit der Figurenrede oder Geschehensdarstellung in dramatischen Texten wird so ihre Vermitteltheit – analog zur epischen Geschehensdarstellung – betont. 355 Zum Begriff der »doppelten Kommunikationssituation« sei hier exemplarisch auch auf das von Ansgar Nünning in seiner 1989 erschienenen Dissertation skizzierte Kommunikationsmodell epischer Texte verwiesen. Vgl. A. Nünning 1989: 22–40. Vgl. zudem die Reflexion erzähltheoretischer Kommunikationsmodelle bei Jannidis 2004: 15ff. und 34–44. 356 Auch wenn die Erzählinstanz mit Manfred Jahn verstanden werden kann als »the agent who manages the exposition, who decides what is to be told, how it is to be told (especially, from what point of view, and in what sequence), and what is to be left out«, ist sie nicht als eine Art »overt narrator« sensu Chatman zu denken, sondern als ausschließlich im fiktiven Sprechakt zu erkennende narrative Instanz. Ihre Organisationsfunktion erschließt sich ausgehend von der verbalsprachlichen Strukturierung ihres Erzählvorgangs. Entgegen Manfred Jahns Schlussfolgerung bleibt die fiktive narrative Instanz in meiner Konzeption also »the one who answers to Genette’s question ›who speaks?‹« (beide Zitate Jahn 2001: 670). 357 Vgl. A. Nünning 1989: 28. Aus dieser Perspektive erscheint homodiegetisches Erzählen insofern als Sonderfall, als die Konzeptualisierung der fiktiven Kommunikationssituation als Subordinationsverhältnis die theoretische Differenzierung zwischen erzählendem und erlebendem Ich voraussetzt: »Der Erzähler ist streng genommen nur das erzählende Ich, das auf der Ebene der Exegesis im fiktionalen ›Jetzt‹ berichtet, während das erlebende Ich auf der Ebene der Diegesis im fiktionalen ›Damals‹ im Grunde nur eine Figur unter anderen ist.« (Lahn/Meister 2008: 70; vgl. dazu auch A. Nünning 1989: 46).

Zur analytischen Rekonstruktion literarischer Gemeinschaftsentwürfe

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munikationssituation und berührt so unweigerlich die Debatte um das Konzept des impliziten respektive abstrakten Autors.358 Wenn man die Struktur literarischer Narrationen mit dem Modell der doppelten Kommunikationssituation beschreibt, kommt die Autorin respektive der Autor innerhalb der internen Kommunikationssituation nicht unmittelbar zu Wort: »Der sprachhandlungslogische Produzent der Erzählung […] ist allerdings nicht der Autor, sondern der Erzähler«359. Grundsätzlich gilt aber : Die Autorin/der Autor erfindet den Erzähler und somit auch das, was dieser erzählt. Sie/Er ist zwar nicht das Aussagesubjekt der einzelnen fiktionsintern geäußerten Behauptungen, aber das literarische Werk einschließlich der peritextuellen Elemente ist ihre/seine Aussage in der externen Kommunikationssituation mit dem konkreten Leser.360 Geht man mit Wolf Schmid in Anlehnung an Karl Bühlers Organonmodell davon aus, dass sich in jeder Sprachhandlung der »unwillkürliche, nicht-intendierte Selbstausdruck des Sprechenden« zeigt, so vermittelt sich auch im literarischen Text mindestens implizit eine Vorstellung vom Textproduzenten: In ihm drückt sich mit Hilfe von Symptomen, indizialen Zeichen der Autor aus. Das Ergebnis dieses semiotischen Aktes ist allerdings nicht der konkrete Autor, sondern das Bild des Urhebers, wie er sich in seinen schöpferischen Akten zeigt. Dieses Bild, das eine zweifache, objektive und subjektive Grundlage, hat, d. h. im Werk enthalten ist und durch den Leser konstruiert wird, nenne ich den abstrakten Autor […].361

Wenn man ein solches Modell des abstrakten Autors als das im Text sich vermittelnde und im Lektüreakt zu rekonstruierende, besser zu konstruierende Bild des vermeintlichen konkreten Autors akzeptiert,362 so kann man davon ausgehen, dass sich ausgehend vom Text potenziell auch Rückschlüsse auf dessen Gemeinschaftsimaginationen ziehen lassen. Allerdings ist hier aus verschiedenen Gründen Vorsicht vor interpretativen Kurzschlüssen geboten, die literarische Texte allzu unreflektiert als Medien der Autor-Vorstellung von Gemeinschaften deuten. Erstens ist einschränkend der Einfluss weiterer an der Textproduktion beteiligter Instanzen, wie Lektor/innen oder Verleger/innen, zu berücksichtigen.363 Zweitens ist eine sich im Werkganzen möglicherweise ver358 Als zentrale Bezugspunkte dienen hier einerseits Wolf Schmids Verständnis des abstrakten Autors, wie er es in »Elemente der Narratologie« (2005, 2008) erläutert, und andererseits Ansgar Nünnings grundsätzliche Kritik an verschiedenen Konzepten des impliziten Autors, wie er sie in seiner Dissertation (1989), aber vor allem in seinem Aufsatz zu »Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ›implied author‹« (1993) expliziert. 359 Zipfel 2001: 120. 360 Vgl. Zipfel 2001: 121f. 361 Beide Zitate Schmid 2008: 46. 362 Vgl. Schmid 2008: 61; und auch Muny 2008: 74. 363 Vgl. exemplarisch die Publikationsgeschichte des Romans »Jeder stirbt für sich allein«, der

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Prämissen und Perspektiven

mittelnde Vorstellung von Gemeinschaften keineswegs als eine vom Autor/von der Autorin intendierte zu begreifen. Zum einen ist auf Basis von Textanalysen nicht sicher zu klären, inwiefern konkrete Aspekte des Textes auf eine bewusste Gestaltungsentscheidung des Autors/der Autorin zurückzuführen, also in dem Sinne von ihm/ihr intendiert sind.364 Zum anderen sind die mentalen Gemeinschaftsimaginationen eines Autors/einer Autorin, wie sie im literarischen Text möglicherweise erkennbar werden, immer als kulturell geprägte zu verstehen (vgl. Kap. 2.1). Eine Zuordnung von konkreten Gemeinschaftsimaginationen zum einzelnen Textproduzenten erscheint aus dieser wissenssoziologischen oder diskurstheoretischen Perspektive weniger relevant als der Blick auf in unterschiedlichen Texten wiederholt zu beobachtende Verfahren und qualitative Merkmale von Gemeinschaftsentwürfen.365 Drittens schließlich macht Wolf Schmid selbst dezidiert darauf aufmerksam, dass nicht nur jedes Werk »seinen eigenen abstrakten Autor« hat, sondern dass »nicht nur jedem Werk und jedem Leser, sondern sogar jedem Leseakt ein eigener abstrakter Autor«366 entspreche. Mit dieser Betonung der Konstruktionstätigkeit der konkreten Rezipienten verbietet sich nun aber jede theoretische Rückbindung des im Text sich vermittelnden abstrakten Autors an den konkreten Autor. Da der Begriff des abstrakten oder impliziten Autors diese aber mindestens semantisch nahelegt, möchte ich auf ihn im Folgenden verzichten. Stattdessen spreche ich mit Ansgar Nünning von der »Ebene der Gesamtstruktur des Textes«367, auf der Imaginationen von Gemeinschaften jenseits derer von Erzähler und/oder Figuren möglich sind. Mit Nünning ist das Werkganze als Kommunikatbasis in Form eines komplexen Zeichenzusammenhangs zu beschreiben, nicht als Botschaft, die von einem konkreten Adressaten nach konventionalisierten Regeln entschlüsselt und der eine eindeutige Information entnommen werden kann. Es ist aufgrund

364 365

366 367

1947 erstmals posthum veröffentlicht wurde (vgl. dazu Kuhnke 2001). 2011 erschien eine veränderte Version des Romans, erstmals ohne die in den 1940er Jahren vorgenommenen Eingriffe des Lektorats des Aufbau-Verlags. Der Versuch, das Textganze als Ergebnis »aller schöpferischen Akte« in der Form des abstrakten Autors als einer »anthropomorphe[n] Hypostase« (beide Zitate Schmid 2008: 60) zu modellieren, erzeugt den Eindruck einer singulären Produktionsinstanz, die den verlegerisch begleiteten Produktions- und Publikationsprozessen des deutschen Literaturbetriebs im 20. Jahrhundert nicht gerecht wird (vgl. dazu auch Jannidis 2004: 28/Anm. 22). Zur Diskussion um die »Intentional Fallacy« im Zuge des New Criticism vgl. Schmid 2008: 51ff.; und Jannidis u. a. 1999: 11f. An dieser Stelle zeigen sich durchaus Anknüpfungspunkte zu den bekannten poststrukturalistischen Autorkritiken der 1960er Jahre von Roland Barthes, Julia Kristeva und Michel Foucault, die einer vermeintlichen Souveränität des Autors zugunsten einer (ebenfalls vermeintlichen) Autonomie kultureller Texte eine Absage erteilen. Vgl. dazu Jannidis u. a. 1999: 14f. Beide Zitate Schmid 2008: 61. A. Nünning 1993: 15.

Zur analytischen Rekonstruktion literarischer Gemeinschaftsentwürfe

111

seiner formalen und inhaltlichen Komplexität polysem und seine Bedeutungen realisieren sich erst im Rezeptionsakt, sind also in großem Maße abhängig von der Aktualisierung durch einen konkreten Leser.368 Ähnlich wie Schmid den abstrakten Autor als ein »Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks«369 beschreibt, spricht Nünning von einer »virtuelle[n] Struktur, die erst im Rezeptionsprozeß realisiert wird, indem der Leser Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines Textes konstituiert.«370 Die Struktur des Textganzen lässt sich dabei nicht »in irgendeinem Teil des Textes lokalisieren«371, sondern ist nach Nünning nur als Zusammenhang verschiedener Relationen wie zum Beispiel Differenz, Kontrast, »Häufigkeit, Symmetrie, Korrespondenz, Kongruenz, Übereinstimmung«372 beschreibbar. Ein solches Abstraktum lässt sich als Resultat einer Textinterpretation verstehen, die sowohl das Ziel hat, zentrale Strukturprinzipien des Textes zu erfassen, als auch eine »Rekonstruktion der vom Text vorgegebenen Normen«373 anstrebt. Insbesondere die Kategorisierung der ›Widerstandsliteratur‹, also die Unterscheidung von drei verschiedenen Typen ›widerstandsliterarischer‹ Gemeinschaftsnarrationen, die in der nachfolgenden Kapitelanordnung (Kap. 3–5) zum Ausdruck kommt, geht von solchen Interpretationen des Werkganzen aus, die die Frage nach den in den literarischen Texten dominierenden Konzeptionen von Gemeinschaften sowie das in ihnen inszenierte Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen. Ausgehend von Überlegungen dieses Kapitels zu »imagined communities«, deren Verhältnis zu kollektiver Identität und den spezifischen Verfahren ihrer Konstitution (Erzählen und Grenzziehung) zielen die Analysen dieser Arbeit darauf, die hier fokussierten literarischen Texte als Sinnangebote zu deuten, die potenziell eine Auseinandersetzung mit verschiedenen gesellschaftlichen Großgruppen, ggf. auch kollektiven Identitäten anregen. Primäres Ziel der Analysen ist es, die verschiedenen literarischen Strukturen und Verfahren herauszuarbeiten, die das Erzählen vom Widerstand in den Texten jeweils zu einem Erzählen von Gemeinschaft machen. Mit dieser Fokussierung auf das Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft geht zwangsläufig die Dominant-Setzung eines Deutungsansatzes Vgl. dazu A. Nünning 1989: 23ff. Schmid 2008: 60. A. Nünning 1993: 19. Vgl. auch A. Nünning 1993: 24. A. Nünning 1993: 20. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt 1985, S. 527. Zitiert nach A. Nünning 1993: 20. 373 Jannidis u. a. 1999: 23. Zur Unterscheidung verschiedener Interpretationstypen und ihrer Konzeptualisierung von Autor/Autorschaft vgl. ebenfalls Jannidis u. a. 1999: 22–25. 368 369 370 371 372

112

Prämissen und Perspektiven

einher ; das möglicherweise »breite Spektrum potenzieller Funktionen sowie eine Pluralität möglicher Interpretationen«374, das Marion Gymnich und Ansgar Nünning in Anlehnung an Winfried Fluck (1997) als typisch insbesondere für literarische Texte beschreiben, wird also eingeengt. Plausibilisiert werden die jeweiligen Lesarten hier aber erstens durch den Vergleich verschiedener literarischer Texte miteinander : Dies ermöglicht die Identifikation und Beschreibung zeitgenössisch dominanter Narrative und Grenzziehungen über die Grenzen eines Einzeltextes hinweg. Zweitens führt der Rekurs auf existierende Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, aber auch zur Ideen- und Ideologiegeschichte Westdeutschlands zu einem ersten Nachdenken über das Wirkungspotenzial von Texten in ihren jeweiligen kulturellen Entstehungskontexten. Wie jede wissenschaftliche Interpretation muss sich dennoch die folgende Strukturierung des Analyseteils und die entsprechende Ordnung der ›widerstandsliterarischen‹ Gemeinschaftsnarrationen danach beurteilen lassen, wie gut es ihr gelingt, die in den Texten zu beschreibenden formalen und inhaltlichen Aspekte der figuralen und erzählerischen Gemeinschaftsimaginationen untereinander, zueinander und mit ihren (erinnerungs-)kulturellen Kontexten in Beziehung zu setzen und so übergeordnete Strukturen oder Wertimplikationen, die als Imagination und Reflexion von Gemeinschaften gedeutet werden können, plausibel erscheinen zu lassen.

374 Gymnich/Nünning 2005: 11.

Analysen

3

Integrationsangebote – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

Wir Überlebenden haben als Instrument der Toten die sehr konkrete Verpflichtung, Denkmäler für die Dahingegangenen in die Gegenwart zu setzen. Wir haben die Verpflichtung, ihre Taten unserem deutschen Volk und besonders seiner Jugend bekannt zu machen. Jene allein sind uns Stimme und Gewissen, jene sind nicht überhörbar, jene sind Gesetz. Die Welt muß erfahren, daß es in unserem Vaterland zahllose Menschen gab, rein wie Eis, gläubig und freiheitsliebend, die für die Menschlichkeit kämpften und starben. Dieses Schauspiel möge den Anstoß geben, daß die Taten der illegalen Organisationen überall in der Öffentlichkeit berichtet und diskutiert werden. Es ist Zeit. Wie sich unser leidgezeichnetes geliebtes Deutschland innerlich zu den Taten der Illegalen verhalten wird, das wird für seine Beurteilung in der Welt entscheidend sein!

Mit diesen Worten endet das eine Seite umfassende Vorwort, welches Günther Weisenborn seinem Drama »Die Illegalen«, das im März 1946 am Berliner Hebbel-Theater uraufgeführt wurde, voranstellt (vgl. I: 101)375. Es erscheint als eine recht explizite Anweisung, die dazu auffordert, den dargestellten Widerstand als einzig gültigen, nationale Werte stiftenden historischen Bezugspunkt anzuerkennen. Indem Weisenborn hier erstens den Vorbildcharakter der Widerständigen vor allem für die deutsche Jugend betont, zweitens eine Vielzahl Widerständiger »in unserem Vaterland« behauptet und diese drittens bereits in Ansätzen als Freiheitskämpfer stilisiert, die für »Menschlichkeit« eintraten und starben, nimmt er nicht nur zentrale Argumentationsmuster der in seinem Dramentext zu beobachtenden Figurenrede vorweg, sondern exponiert auch solche Aspekte, die in diesem Kapitel als prototypische Merkmale des Erzählens vom Widerstand als Rehabilitierung von nationaler, konkret: deutscher Gemeinschaft herausgearbeitet werden. Dazu zählen die Darstellung des Wider375 Bei der hier zitierten Ausgabe handelt es sich um die erste »nach dem Kriege im AufbauVerlag erschienene[ ] Teilsammlung Weisenbornscher Stücke« (Schneider 1968: 1511), deren Wortlaut auch die westdeutsche Erstausgabe 1948 im Piper-Verlag folgt. Zu weiteren, von dieser Ausgabe auch abweichenden Versionen des Dramas vgl. Niefanger 1997: 57ff.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

stands als nationaler Befreiungskampf (Kap. 3.2), moralische Fundierungen des nationalen Wiederaufbaus durch Konzeptionen des Widerstands als Martyrium (Kap. 3.3) sowie die Vorstellung vom Widerstand als gesamtgesellschaftlichem Gemeinschaftsprojekt (Kap. 3.4). Prototypisch werden diese genannten Aspekte nicht nur in dem Stück »Die Illegalen«, sondern auch in Walter Erich Schäfers Drama »Die Verschwörung« verwirklicht, das im Folgenden ebenfalls im Zentrum der Analysen steht. Darüber hinaus gilt aber – wie der dieses Kapitel abschließende Abschnitt (Kap. 3.5) zeigt – für viele weitere literarische Darstellungen des Widerstands, insbesondere aus der ersten Nachkriegsdekade, dass sie als Begründungen des nationalen Wiederaufbaus interpretiert werden können, auch wenn nicht immer alle drei der im Folgenden exponierten Verfahren respektive Merkmale gleichermaßen realisiert werden.

3.1

Texte im Fokus: Günther Weisenborns »Die Illegalen« (1946) und Walter Erich Schäfers »Die Verschwörung« (1949)

Günther Weisenborns (1902–1969) Drama »Die Illegalen« ist einer der ersten deutschsprachigen Texte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus thematisieren.376 Weisenborn, der als Vierzigjähriger 1943 von den Nationalsozialisten wegen »Nichtanzeige eines Verbrechens« zu drei Jahren Haft verurteilt worden war,377 thematisiert in seinem dreiaktigen Drama, das den Untertitel »Drama aus der deutschen Widerstandsbewegung« trägt, Formen und Bedingungen von Widerstandsarbeit im Untergrund während der Kriegszeit. Den Schwerpunkt der Handlung bilden die Aktivitäten zweier illegaler Widerstandszellen im Berlin des Jahres 1942, die durch eine Liebesgeschichte um die beiden Protagonisten 376 Gleichzeitig ist es auch der erste einer ganzen Reihe von Texten Weisenborns, die sich mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beschäftigen. Neben den Dramen »Die Illegalen«, »Walküre 44« (1946) und dem »Klopfzeichen«-Fragment, das 1982 im ostdeutschen Henschelverlag von Heinz Dieter Tschörtner als nachgelassenes Stück herausgegeben wurde, sowie dem Roman »Der Verfolger« hat sich Günther Weisenborn nach 1945 noch in verschiedenen faktualen Arbeiten mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus auseinandergesetzt: zunächst in seinem autobiographischen ProsaBand Memorial, in dem sich in der Haft geschriebene Texte mit nach dem Krieg entstandenen Beschreibungen der Haftzeit abwechseln (vgl. Töteberg 2007). 1953 erschien sein umfassender »Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes« »Der lautlose Aufstand«, der laut Michael Töteberg »auch heute noch ein Standardwerk, das in Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« Spuren hinterlassen hat«, sei (Töteberg 2007). 1956 erhielt Weisenborn zudem gemeinsam mit Werner Jörg Lüddecke den Bundesfilmpreis in Silber für das Drehbuch zu Falk Harnacks Film »Der 20. Juli« (1955). 377 Vgl. Willmann 2002: 156.

»Die Illegalen« und »Die Verschwörung«

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Lill und Walter ergänzt werden. Die eine Widerstandsgruppe umfasst sieben Mitglieder, darunter Lill, und widmet sich vor allem dem Verteilen von Flugblättern. Lill hat den Auftrag, Walter, die zweite Hauptfigur und Sohn der Gastwirte, für die sie arbeitet, für die illegale Arbeit zu gewinnen, was ihr auch gelingt. Walter ist allerdings bereits als illegaler Sender Waldemar I im Widerstand aktiv, was die Gruppe um Lill aber erst spät erfährt. Die Widerstandsgruppen sind ständig der Gefahr ausgesetzt, enttarnt zu werden: Die Mutter Walters, Manna, bedroht Lill. Zudem wird ein Gruppenmitglied, Bulle, verhaftet und Walter bereits überwacht, wie Szenen, die in der Gestapo-Zentrale spielen, zeigen. Am Ende des Dramas steht die Gestapo bei Walter vor der Tür. Dieser entzieht sich der Verhaftung durch Selbstmord, indem er einen Polizisten angreift, um die weiteren Gruppenmitglieder zu schützen. Formal besonders auffallend sind in diesem Drama die zahlreichen erzählenden oder kommentierenden Monologe einzelner Figuren, die teilweise eine lyrische Form aufweisen oder durch den Nebentext explizit als Lieder ausgewiesen werden, sowie die Sendungen Walters als Waldemar I (vgl. I: I.1, II.24, II.28, III.38. III.40). Insbesondere in diesen montierten lied- oder gedichtähnlichen Monologen sowie politischen Reden zeigt sich in dem Drama der Großteil der Gemeinschafts- und Identitätsnarrationen, die in den folgenden Analysen im Zentrum stehen. Es sind vor allem diese Elemente sowie die »balladeske[n] Einsprengel«378 um den Witwer »Sargnägelchen« und die »traurige Erna« (vgl. I: I.7, I.11, I.15), die in beinahe allen literaturwissenschaftlichen Annäherungen an das Drama eine Reflexion des Verhältnisses Weisenborns zur Dramaturgie Bertolt Brechts evozieren. Dabei wird oftmals differenziert die formale Nähe zwischen den beiden Dramatikern herausgestellt, ohne die eher konventionelle Konfliktdramaturgie, den moralisierenden und auf Identifikation mit den Hauptfiguren zielenden Duktus der Figurenrede sowie die Tendenz des »Illegalen«-Dramas zur poetischen Überhöhung des dargestellten Widerstands und seiner Träger zu übersehen.379 Neben solchen Überlegungen zur dramatischen Poetik Günther Weisenborns, wie sie jüngst in einer Dissertation von Mingyi Yuan über die »Bühnenstücke von Günther Weisenborn« (2002) fortgesetzt werden,380 dominieren in der bisherigen Forschung Auseinandersetzungen mit der Biographie des Autors, die Weisenborn nicht zuletzt als Widerständigen gegen den Nationalsozialismus würdigen.381 Dies gilt nicht nur für Arbeiten mit dezidiert biogra378 Töteberg 2007. 379 Vgl. Prümm 1977: 53; Schneider 1968: 1511; Schwarz 1995: 9; und Töteberg 2007. Vgl. ähnlich auch Geiger 1973: 26–29; Niefanger 1997: 59; und Rühle 1974: 868. 380 Vgl. Yuan 2002: 166–171. 381 Vgl. dazu exemplarisch den 2002 von Frank Overhoff herausgegebenen Sammelband »Günther Weisenborn zum 100. Geburtstag«. Zur Frage, inwiefern Günther Weisenborn an

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phischem Erkenntnisinteresse, sondern auch für solche, die sich mit den literarischen Werken Weisenborns auseinandersetzen. Jüngstes Beispiel dafür ist eine 2013 erschienene Monographie Hans-Peter Rüsings, die unter dem Titel »Das Drama des Widerstands. Günther Weisenborn, der 20. Juli 1944 und die Rote Kapelle« vor allem Bezüge zwischen der Biographie Weisenborns und seinen drei Dramen »Die Illegalen«, »Walküre 44« und »Klopfzeichen« kenntnisreich herausarbeitet und den Autor dabei als »literarischen Chronisten der ›deutschen Widerstandsbewegung‹«382 begreift. Aus der Tatsache, dass Günther Weisenborn freundschaftliche und konspirative Kontakte zum Kreis um Harro Schulze-Boysen, also zu Mitgliedern der sogenannten ›Roten Kapelle‹ pflegte, folgert auch Roswita Schwarz, die in ihrer 1995 veröffentlichten Dissertationsschrift das »Weisenbornsche Schaffen während der Weimarer Republik und nach 1933 möglichst umfassend«383 darstellen möchte, die Notwendigkeit eines biographischen Zugriffs auf die von ihr untersuchten Texte Weisenborns.384 Ihre daran anschließend formulierte These, dass die »politischen und weltanschaulichen Positionsbestimmungen, aus dem expressionistischen Ideenschatz stammend, die Grundlage für sämtliche untersuchten Werke des Autors bilden«385, führt allerdings bereits über einen Ansatz, der mit der Relevanz autobiographischer Erfahrungen argumentiert, hinaus. Dass es entgegen ihrer einleitenden Behauptung weniger »autobiographische Erfahrung[ ]«386, sondern stärker der den Autor umgebende diskursive Kontext ist, der sich in dem Text fortschreibt, zeigt sich nicht zuletzt in den Schlussbemerkungen von Schwarz selbst. Im Fazit ihrer Arbeit konstatiert sie »eine bedenkliche Annäherung des Weisenbornschen Heldenmythos an nazistische Ideologeme«387; ein Hinweis auf

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den widerständigen Aktivitäten der Schulze-Boysen-Gruppe mitgewirkt hat, vgl. die Ausführungen von Nadine Willmann, die den Autor in einem Aufsatz als »engagierte[n] Zeitzeugen« (Willmann 2002: 133) bezeichnet. Willmann sieht die Leistung Weisenborns für den Widerstand weniger in möglichen Aktivitäten während des ›Dritten Reiches‹. Im Gegenteil: Sie zieht mehrfach entsprechende autobiographische Aussagen Weisenborns durch die Kontrastierung mit anderen Quellen in Zweifel, ohne allerdings dessen widerständiges Engagement grundsätzlich zu bestreiten (vgl. Willmann 2002: 150ff.). Sein entscheidender Beitrag zum Widerstand sei aber ein anderer : »Eigentlich – und mit dieser Feststellung tun wir seiner Courage keinen Abbruch – tat Weisenborn nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mehr für die Widerstandsbewegung, indem er überlebte und ohne Unterlass über sie Zeugnis ablegte« (Willmann 2002: 157). Rüsing 2013: 12. Schwarz 1995: 10. Schwarz 1995: 16: »Weisenborn nahm immer sehr stark Bezug auf politische Ereignisse der Zeitgeschichte und verarbeitete oft autobiographische Erfahrungen in seinen Stücken und Romanen. Daher erscheint die Einbeziehung der Biographie des Autors in diese Arbeit besonders wichtig.« Schwarz 1995: 16. Schwarz 1995: 16. Schwarz 1995: 325.

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den Einfluss kultureller Deutungsmuster auf die Entstehung der literarischen Texte. Entsprechend wendet sich Dirk Niefanger in seinem Aufsatz zur »Dramatisierung der ›Stunde Null‹« (1997) gegen eine, auch durch die Äußerungen Weisenborns im Vorwort nahegelegte, »biographische Lesart«388 des Dramas und betont stattdessen »die Macht ideologischer Dispositive bei der literarischen Gestaltung des Neuanfangs«389, die sich – ähnlich wie bei Carl Zuckmayers Drama »Des Teufels General« – nicht zuletzt in den inhaltlichen Veränderungen zwischen den verschiedenen publizierten Auflagen des Dramas zeige.390 Auch die tendenziell ahistorische Gestaltung des Dramas spricht gegen eine Analyse und Interpretation des Textes aus Autor-biographischer Perspektive: So lassen sich erstens keine prägnanten Übereinstimmungen zwischen den Biographien von Mitgliedern der widerständigen Schulze-Boysen-Gruppe – soweit mir bekannt – und den knappen Informationen zu den fiktiven Biographien der beiden Hauptfiguren Walter und Lill feststellen.391 Zweitens bezieht sich der Dramentext zwar durch die in einer Radioansprache genannten Namen von Widerstandsträgern aus dem Umfeld der sogenannten ›Roten Kapelle‹ (vgl. I: 282)392 punktuell auf ein historisches Vorbild und inszeniert mit dem Drucken und nächtlichen Verteilen von Flugblättern und illegalen Zeitschriften Aktivitäten, die 388 Niefanger 1997: 56. Niefanger weist bereits auf den deutlichen Gegenwartsbezug der frühen Nachkriegsdramen von Borchert, Weisenborn und Zuckmayer, also auch des »Illegalen«Dramas, hin, die für ihn »eigentlich erst lesbar aus ihrer reflexiven Haltung zur eigenen Entstehungszeit« (Niefanger 1997: 70) sind. Er liest sie als »Dokumente[ ] eines zentralen Kulturdiskurses, der die oft beschworene ›Stunde Null‹ eigentlich erst kreiert« (Niefanger 1997: 70). Entsprechend fokussiert er in seinen Analysen die dramatischen »Perspektivierungen auf Wende und Neuanfang« und weniger die »in allen drei Dramen zu findende Thematisierung der Kriegszeit« (Niefanger 1997: 50). 389 Niefanger 1997: 70. 390 Vgl. Niefanger 1997: 65–70. 391 Lediglich die beiden Vornamen können als Referenz auf Mitglieder der Schulze-BoysenGruppe gedeutet werden: Walter war der Vorname von gleich zwei Männern – Walter Husemann, Walter Küchenmeister – aus dem engsten Kreis um Harro Schulze-Boysen, mit denen Günter Weisenborn freundschaftlich verbunden war (vgl. Willmann 2002: 152). Die Ehefrau Schulze-Boysens, Libertas Schulze-Boysen, zu der Weisenborn ebenfalls eine enge Beziehung pflegte, wurde ›Libs‹ genannt (vgl. Willmann 2002: 149). Auf Grund der Ähnlichkeit der Namen Libs und Lill lässt sich auch hier von einer intendierten Referenz auf die Freundin Weisenborns aus dem Schulze-Boysen-Kreis ausgehen, also nicht – wie Dirk Niefanger vermutet – von einer »rein fiktive[n] Namensnennung der Figuren« (Niefanger 1997: 57). 392 Als Vorbilder für die »deutsche Jugend« werden in dieser Ansprache fünf Namen von Personen aus dem engsten Kreis der Gruppe um Harro Schulze-Boysen, die als ein Teil der sogenannten ›Roten Kapelle‹ bekannt ist, genannt (vgl. Danyel 2004: 401): »Und wenn du verzweifeln willst, flüstere ihre geheiligten Namen. Und ihre Namen sind diese: / Harro Schulze-Boysen, / Walter Husemann, / Kurt Schumacher, / Elisabeth Schuhmacher, / Walter Küchenmeister« (I: 282).

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denen ähneln, von denen der Autor Weisenborn in den Jahren 1937 bis zu seiner Verhaftung im September 1942 Kenntnis hatte und an denen er zum Teil beteiligt war.393 Während das Vorwort Weisenborns vor allem durch die Wahl der Personal- oder Demonstrativpronomina noch den Eindruck erweckt, dass der Autor von einer konkreten, historisch identifizierbaren Gruppe spricht, bleibt der Bezug des Dramentextes auf den historischen Widerstand im Umfeld der sogenannten ›Roten Kapelle‹ dann allerdings doch relativ vage. Es ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem Postulat von Authentizität sowie dem Anspruch »ihre Taten […] bekannt zu machen« im Vorwort einerseits und den kaum erkennbaren Bezügen des Dramas auf konkrete historische Personen und Ereignisse sowie dessen eher symbolischer statt realistischer Darstellungsweise andererseits. Zudem greift das Drama mit der Thematisierung illegaler FunkSender-Aktivitäten zwar einen zu seiner Entstehungszeit weit verbreiteten Topos der Auseinandersetzung mit der ›Roten Kapelle‹ auf: die Annahme eines »intensiven Sendebetriebes«. Allerdings bezog diese sich auf vermeintliche konspirative Funkverbindungen »aus Berlin nach Moskau«394 und nicht auf öffentliche Aufrufe zum Umsturz.395 Das Senden von Widerstandsaufrufen zählte also keinesfalls – wie von Heinz Geiger behauptet – zu den »für die Untergrundbewegung typischen Situationen«396. Entsprechend spricht Niefanger zu Recht von einem »unkonkreten Duktus der historischen Situierung«397 und macht darauf aufmerksam, dass dieser in späteren Ausgaben des Dramas durch Textänderungen – zum Beispiel die Streichung der Nennung der fünf getöteten 393 Vgl. dazu auch Rüsing 2013: 24ff. 394 Beide Zitate Danyel 2004: 406. 395 Das Drama tradiert somit einerseits Gerüchte über die Funkttätigkeiten, die in der Realität aus nur einem gelungenen Funkspruch bestanden (vgl. Tuchel 1998: 355), was ein Hinweis darauf ist, dass hier weniger autobiographische Lebenserfahrungen des Autors verarbeitet werden, als vielmehr auf Diskursfragmente reagiert wird. Zum anderen verwandelt der Text den – wenn auch sporadischen – Kontakt der historischen Widerstandsgruppe zu sowjetischen Kontaktpersonen in patriotische Aufrufe an das eigene Volk. Hier zeigt sich der Versuch, der spätestens Anfang der 1950er Jahre einsetzenden Bewertung der SchulzeBoysen-Gruppe als »kommunistische Spionage- und Agentengruppe« (Tuchel 1998: 347) entgegenzutreten. Dies geschieht aber nicht in Form einer positiv konnotierten Darstellung der deutsch-sowjetischen Kontakte, sondern durch ihr Verschweigen. Der Text passt sich damit der diskursiven Wertelogik an, die Kontakte mit insbesondere dem osteuropäischen Ausland zum Sturz des NS-Regimes weiterhin als Spionage und Landesverrat verurteilt (vgl. Tuchel 1998: 347). Johannes Tuchel verweist in diesem Zusammenhang auf die veränderte Neu-Auflage des 1946 veröffentlichten Buches »Offiziere gegen Hitler«, einem Bericht des am 20. Juli 1944 beteiligten Fabian von Schlabrendorff über das Attentat, und die Goerdeler-Biographie Gerhard Ritters, die 1956 veröffentlicht wurde. Beide Arbeiten verstärkten maßgeblich die kritische Sicht auf die Tätigkeiten der Widerständigen im Umfeld der ›Roten Kapelle‹. 396 Geiger 1973: 26. 397 Niefanger 1997: 58.

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Mitglieder der ›Roten Kapelle‹ sowie die Streichung des Aufrufs eines unbekannten Widerstandsmannes in II.28 – noch verstärkt werde.398 Als ein zweiter Text, der als Prototyp ›widerstandsliterarischer‹ Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft interpretiert werden kann, wird in den folgenden Analysen Walter Erich Schäfers (1901–1981) Drama »Die Verschwörung« vorgestellt, das 1949 im Schlosspark-Theater in Berlin uraufgeführt wurde. Schäfer, der seit 1928 als Dramaturg, ab 1949 dann als Generalintendant am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart arbeitete,399 thematisiert in seinem »Schauspiel« das Scheitern des Anschlags vom 20. Juli 1944, von dem allerdings fast ausschließlich durch Figurenrede berichtet wird. Handlungsort ist die Berliner Gestapo-Zentrale am Tag des Attentats. Die szenisch dargestellte Handlung konzentriert sich zum einen auf die Verhöre, die mit Gefangenen und des Hochverrats Verdächtigten geführt werden. Hier stehen die Aussagen von Angehörigen des sogenannten »Viersener Kreises«, vor allem die des Grafen Schwerin400 und seiner Sekretärin Magda Hauff, im Zentrum. Zum anderen werden Gespräche zwischen verschiedenen Beamten unterschiedlicher NS-Behörden dargestellt, die sich vor allem zwischen dem unsympathischen SSGruppenführer Eichmann, dem SS-Brigadeführer Dr. Karl Sonn, der sich am Ende des Stücks als widerständiger Saboteur entpuppt, sowie dem GestapoKommissar Kreisler abspielen. Gemeinsam ist den beiden hier analysierten Dramen, dass sie in den ersten Jahren nach ihrer Uraufführung vielfach aufgeführt wurden. So spricht bei398 Vgl. Niefanger 1997: 58 und 64; und ähnlich Geiger 1973: 170. 399 Die Biographie des Autors und dessen Tätigkeiten im ›Dritten Reich‹ geraten in Publizistik und Forschung verschiedentlich in den Blick, besonders differenziert in der Dissertation Wagners, die Schäfer als ein Beispiel für die personelle Kontinuität im Kulturbetrieb über die Zäsur 1945 hinaus versteht (vgl. Wagner 2006: 142; vgl. außerdem Luft 1982: 86; und Alker 1977: 601). Wagner dekonstruiert zudem die Selbstdarstellung Schäfers als im nationalsozialistischen Deutschland verfolgter oppositioneller Künstler in seiner Autobiographie »Bühne eines Lebens« (1975), indem sie dessen entsprechende Behauptungen mit Aussagen aus anderem Archivmaterial kontrastiert (vgl. Wagner 2006: 144ff.). 400 Der Name dieser Figur, die im Nebentext des Dramas als »Graf Schwerin« ausgewiesen wird, soll laut Hinweis im Figurenverzeichnis in »Graf Loy« geändert werden. Susanne M. Wagner erklärt diese Namensänderung damit, dass Verwechslungen mit historisch nachweisbaren Personen – dem NS-Kabinettsmitglied Lutz Graf Schwerin von Krosigk oder dem am 20. Juli 1944 beteiligten Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld – vermieden werden sollten (vgl. Wagner 2006: 160). Als Vorbild für den Grafen Schwerin und den Viersener Kreis ist der Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke zu erahnen. Sowohl Moltke als auch die Figur Schwerin sind promovierte Juristen, auch Moltke saß bereits vor dem 20. Juli 1944 in Haft und auf seinem Gut trafen sich ebenfalls Angehörige verschiedener politischer Überzeugungen und sozialer Gruppen, um Pläne für den Fall des Sturzes der NS-Herrschaft zu erarbeiten (vgl. Brakelmann 2004 oder Ueberschär 2006). In den folgenden Analysen wird die Figur »Graf Schwerin/Graf Loy« unbeachtet der einleitenden Anweisung weiter als Graf Schwerin bezeichnet, um aufwendige Veränderungen der Dramenzitate zu vermeiden.

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spielsweise Michael Töteberg vom Weisenborn-Drama als »Erfolgsstück der Saison«401, und Schäfers »Verschwörung« ist laut Susanne M. Wagner mit »Inszenierungen an über 30 deutschen Bühnen, und etwa 350 Aufführungen, […] ein Jahr lang populärer als Zuckmayers Des Teufels General (1942–1945) oder Borcherts Draußen vor der Tür (1947)«402 gewesen. Diesen frühen Erfolgen steht das Vergessen der beiden Stücke in den folgenden Jahrzehnten entgegen. Während Günther Weisenborn »bloß noch ein Name [sei], auf den GermanistikStudenten stoßen«403, erregt(e) Walter Erich Schäfer selbst in der NachkriegsGermanistik so gut wie kein Interesse. In den wenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Drama Schäfers auseinandersetzen, wie auch in frühen publizistischen Besprechungen der Theateraufführungen wird erstens insbesondere die »problematische Akzentverlagerung von der Widerstandsbewegung auf die Gestapo bzw. SS«404 verurteilt, die sich aus der weitestgehend indirekten Darstellung des Widerstands mittels Botenbericht, Teichoskopie oder hinter-szenisch Hörbarem ergibt (vgl. exemplarisch V: 6f., 12f. und 45ff.). Zweitens wird fast immer das »unverständliche[ ] Nachspiel«, das die Wandlung Dr. Sonns vom SS-Mann zum Saboteur zeigt, kritisch bewertet.405 Über die beiden genannten Aspekte hinaus werden vor allem das »sprachliche Niveau des Stückes«406, die Glorifizierung der Widerständigen407 sowie eine »historisch unrichtige Bagatellisierung der Funktionen der Arbeiterschaft im Widerstand überhaupt«408 kritisiert. Susanne M. Wagner beschreibt das Stück als »nicht analytisch, historisch korrekt, sondern eher tendenziös und historisch verzer401 Töteberg 2007. Allerdings ist der vermeintliche ›Erfolg‹ der Aufführungen zu relativieren, sofern der folgende Hinweis von Rudi Baier u. a. zutrifft: »Wie aus den Rezensionen zur Uraufführung der Illegalen hervorgeht, war das Stück schlecht besucht« (Baier u. a. 1977: 38). 402 Wagner 2006: 152. 403 Töteberg 2007. 404 Geiger 1973: 21. 405 Heinz Geiger verurteilt dies als »geschmacklose Verherrlichung eines SS-Brigadeführers« (1973: 22f.). Vgl. neben Geiger 1973 auch Rilla 1950f.: 28f; Prümm 1977: 56; und die Rezension Friedrich Lufts aus dem Jahr der Uraufführung 1949 (Luft 1982). Auch Susanne M. Wagner kritisiert in ihrer 2006 publizierten Dissertation den Entwurf der Figur des Dr. Sonns, attestiert Schäfer aber bezüglich der indirekten Darstellung des Widerstands ein »gewisses dramatisches Geschick«: »Hiermit umgeht Schäfer die Probleme der Aktionsdramatik, die ein naturalistisches Nachspielen des Attentates in der Wolfschanze und des Putschversuchs in Berlin bedeutet hätten« (Wagner 2006: 152). Neben diesem Urteil Wagners ist Ernst Alkers Kommentar zu dem Drama, in dem er auf Grund der indirekten Darstellung des Widerstandes »W. E. Schäfers Befähigung zur szenenstarken Konzentration« (Alker 1977: 601) zu erkennen meint, die einzige positive Beurteilung des Stückes in einer literaturwissenschaftlichen Publikation. 406 Geiger 1973: 21. 407 Vgl. Prümm 1977: 56. 408 Luft 1982: 85; vgl. auch Rilla 1950: 30.

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rend« und schließt ihre Analyse mit dem Hinweis, »daß es sich bei Schäfers Verschwörung nicht um das schlechteste 20. Juli Drama handelt. Allerdings ist die Auszeichnung, das beste unter den schlechten zu sein, nicht besonders schmeichelhaft.«409 Friedrich Luft urteilt noch vernichtender : Das Ganze [ist] ein Beispiel dafür, wenn es dessen bedurft hätte, daß, auch wenn eben denazifizierte Autoren sich hurtig auf antifaschistische Stoffe werfen, der Teufelsfuß immer sichtbar bleibt.410

Die folgenden Analysen zielen nicht auf solche Pauschalurteile über das Drama Schäfers. Vielmehr richtet sich der Blick auf den Beitrag, den auch die oben genannten, bereits in vorgängigen Arbeiten und Rezensionen beschriebenen Merkmale des Textes für seinen Entwurf nationaler Gemeinschaft leisten. Dass sich der Entwurf Schäfers von Nation dabei durchaus auch solcher Inhalte und Verfahren bedient, die ebenfalls als Bestandteile nationalsozialistischer Zeichenpolitik gelten, ein »Teufelsfuß« im Sinne Lufts so also durchaus erkennbar ist, wird dadurch nicht bestritten.

3.2

»Im Namen des Volkes…« – Widerstand als nationaler Befreiungskampf

In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1944 wandte sich Adolf Hitler mit einer Radioansprache an die deutsche Öffentlichkeit. Er tat dies mit der Begründung, einen hörbaren Beweis für sein Überleben liefern und die Zuhörer genauer über das gescheiterte Attentat informieren zu wollen. Letzteres ordnet er dabei wie folgt ein: Es hat sich in einer Stunde, in der die deutschen Armeen in schwerstem Ringen stehen ähnlich wie in Italien, nun auch in Deutschland eine ganz kleine Gruppe gefunden, die nun glaubte, den Dolchstoß in den Rücken wie im Jahre 1918 führen zu können. Sie haben sich diesesmal aber sehr getäuscht. Die Behauptung dieser Usurpatoren, daß ich nicht mehr lebte, wird jetzt in diesem Augenblick widerlegt, da ich zu Euch, meine lieben Volksgenossen, spreche. Der Kreis, den diese Usurpatoren darstellen, ist ein denkbar kleiner. Er hat mit der deutschen Wehrmacht und vor allem auch mit dem deutschen Heer gar nichts zu tun. Es ist ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden.411 409 Wagner 2006: 188. 410 Luft 1982: 86. 411 Adolf Hitler, Rundfunkansprache zum Attentat vom 20. Juli 1944, 21. Juli 1944, 1.00 Uhr, Originalaufnahme, Auszug, Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt, DRA-Nr. 2623118. Zitiert nach: Reichherzer, Frank: Adolf Hitler, Rundfunkansprache zum Attentat vom 20. Juli 1944, 21. Juli 1944, 1.00 Uhr. http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0083_ahr_de.pdf (Zugriff 03. 10. 2014).

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

Die hier von Hitler aktualisierte Geschichte vom versuchten Dolchstoß, die erkennbar auf entsprechende Argumentationen im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zurückgreift, scheint in der deutschen Bevölkerung nicht nur unmittelbar nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat, sondern auch über das Kriegsende 1945 hinaus Wirkung entfaltet zu haben. Zwar waren 1952 41 % der vom Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) Befragten grundsätzlich der Meinung, dass jemand, der von NS-Verbrechen wusste, nach 1933 Widerstand leisten sollte. Anschließend wurde die Frage jedoch mit Blick auf den Kriegszeitraum wiederholt. Jetzt antworteten nur noch 20 % der Befragten mit »Ja«, während 34 % der Meinung sind, dass mit dem Widerstand bis nach Kriegsende gewartet werden sollte.412 Dieses Ergebnis korrespondiert mit Antworten, die auf die Frage nach den Ursachen für die deutsche Kriegsniederlage genannt werden: 1950 lag hier die Antwort »Verrat, Sabotage« mit 25 % noch an zweiter Stelle.413 In den Umfrageergebnissen wird deutlich, dass im Kriegsfall ein unbedingter Zusammenhalt der ›Volksgemeinschaft‹ erwartet wurde. Entsprechend konstatiert Johannes Tuchel mit Blick auf die ersten Nachkriegsjahre: Grundsätzlich wurde der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den westlichen Besatzungszonen in der direkten Nachkriegszeit in einer noch unmittelbar vom NSRegime geprägten Gesellschaft mit nur wenigen Ausnahmen negativ bewertet. Es war das Odium des »Verrats«, das die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer lange Zeit umgab. In den ersten Jahren nach 1945 gab es nur einige zaghafte Schilderungen und lediglich die Widerstandskämpfer und -kämpferinnen selbst oder ihre Angehörigen versuchten, die Erinnerung an die Toten aufrechtzuerhalten.414

An diese Beobachtungen anschließend werden im Folgenden die literarischen Repräsentationen des Verhältnisses von Widerständigen und Nation in ihrem defensiven Charakter erkennbar.

3.2.1 Verkehrung von etablierten Zuschreibungen: Widerständige als wahre Patrioten Gemeinsam ist den Dramen von Weisenborn und Schäfer nämlich, dass sie die Träger des Widerstands in ihrem Selbstverständnis als die wahren Patrioten darstellen und dadurch konträre Beurteilungen, die in breiten Kreisen der Be412 Vgl. Noelle/Neumann 1956: 138. 413 Vgl. Noelle/Neumann 1965: 233. Zum Vergleich: An erster Stelle werden »Eigene Schwäche, zu große Übermacht der Gegner« (35 %) genannt. Auf Rang 3 folgt »Allgemein schlechte Führung, schlechte Politik« (15 %), gefolgt von »Hitler« (11 %), »Deutsche Uneinigkeit (zwischen Partei, Wehrmacht, SS)« (7 %) und »Falsche Kriegsführung« (6 %). 414 Tuchel 2005: 8. Vgl. ähnlich unter anderem auch Wetzel 2000: 234; Faulenbach 1994: 589; und Danyel 1994: 612.

Widerstand als nationaler Befreiungskampf

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völkerung dominierten, in Frage stellen. Sie partizipieren damit an einem öffentlichen Diskurs, der – anders als das Meinungsbild eines großen Teils der Bevölkerung – geprägt ist durch eine aufklärerische Tendenz und sich dem Thema »Widerstand« mit »starkem moralischen Impuls und politischem Engagement«415 widmet, wie exemplarisch das folgende Zitat aus der 1947 publizierten Bibliographie Siegmund-Schultzes zeigt: Und doch wäre eine innere Aneignung der Ideen und Motive jener Widerstandskämpfer für das heutige Deutschland von größter Bedeutung. Das deutsche Volk würde nicht nur einer Pflicht der Dankbarkeit gegenüber seinen Toten genügen, sondern auch den Lebenden und Kommenden den größten Dienst leisten: Das deutsche Volk könnte sich an dem Geist der Tapferkeit seiner Freiheitshelden aufrichten […]; und es könnte dadurch, daß es sich jetzt noch zu den Märtyrern der Freiheit bekennt, manche Menschen in anderen Ländern überzeugen, daß es aus sich heraus für seine Freiheit Opfer gebracht hat und durch innere Teilnahme an diesen Opfern seine Ehre unter den Völkern wiederherstellen will.416

In Schäfers Drama »Die Verschwörung« geraten vor allem die Verhöre der Widerständigen durch ihre NS-Verfolger primär zu einer Auseinandersetzung darüber, welcher Seite in der erkennbar dichotomisch gestalteten Handlungssituation das Attribut »patriotisch« zu Recht zuzuschreiben ist. Zunächst wird dem Vorwurf des Vaterlandsverrats durch den Kommissar Kreisler der Hinweis des Grafen Schwerin auf die eigenen – militärischen – Leistungen für das Vaterland in der Vergangenheit entgegengestellt: KREISLER: Sie halten es für patriotisch, sich heute Gedanken zu machen über einen Zustand, wo Adolf Hitler nicht mehr der Führer ist? Wirklich, Herr Graf Schwerin? SCHWERIN: Herr Kommissar Kreisler. Achtundvierzig Grafen Schwerin sind glaub ich im Laufe der Zeit für Deutschland gefallen. Ich selbst bin so entartet, daß ich den Beruf des Soldaten nicht mehr für den besten halte. Und ich hoffe sehr, daß bald eine Zeit kommt, wo man ihn nicht mehr nötig haben wird. Aber so entartet bin ich nicht, daß ich bereit bin, von Ihnen Belehrung anzunehmen über das, was Patriotismus ist, – Herr Kommissar. (V: 60)

Auch die Sekretärin Schwerins, Magda Hauff, bezieht sich mit der Erwähnung der zurückliegenden Diplomatentätigkeit ihres von den Nationalsozialisten ermordeten Mannes auf vergangene Dienste für das Vaterland (vgl. V: 43).417 Die Widerständigen verstehen sich also selbst dezidiert als Verteidiger des Vaterlandes, die eine ungebrochene patriotische Haltung kennzeichnet; die Macht415 Müller/Mommsen 1990: 13. 416 Siegmund-Schultze 1947: 5. 417 V: 43: »KREISLER: Ihr Mann? / HAUFF: War Dr. Hermann Hauff. Gesandter des Deutschen Reiches. In sieben Staaten. / KREISLER: Und dann? / HAUFF: Er wurde verhaftet. Bei der – wie heißen Sie das? / KREISLER: Machtergreifung – wenn Sie das meinen.« (V: 43) Der Zusatz »In sieben Staaten.« betont dabei die hohe Qualität des Dienstes.

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ergreifung der Nationalsozialisten wirkt dagegen als Bruch mit einer positiven deutschen Tradition. Der Vorwurf des Vaterlandsverrats richtet sich aus dieser Perspektive schließlich gegen die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer, hier den General der Infanterie Frisch, der seine Beteiligung am von ihm als verräterisch eingeordneten Umsturzversuch verweigert hat: FRISCH (wischt sich die Stirn mit dem Taschentuch): Heute Nachmittag um 15 Uhr 30, am 20. Juli, kamen sie herein in mein Büro. Meuterer, Eidbrüchige, Attentäter. Und sagten mir, ich soll ihr Führer sein. Der Führer von Mördern. […] Und ich konnte nicht der Führer von Mördern sein. HAAG (sehr ernst): Und haben Deutschland verraten, Herr General. (V: 78)418

Der von den Nationalsozialisten als Verrat am deutschen Volk bewertete Widerstand erscheint auch im Selbstverständnis von Weisenborns Protagonisten als wahrer Dienst am Vaterland. Sind es bei Schäfer allerdings die NS-Repräsentanten, gegen deren Vorwürfe sich die Widerständigen in der direkten Konfrontation als Patrioten behaupten, wird der Verratsvorwurf bei Weisenborn in monologischen Ansprachen an die Bevölkerung verhandelt. Statt den Verratsvorwurf gegen die Widerständigen bereits dadurch klar zu diskreditieren, dass er – wie bei Schäfer – ausschließlich von NS-Repräsentanten geäußert wird, zeugt die entsprechende Argumentation der Widerständigen bei Weisenborn von einer gewissen Vorsicht bei der Umkehrung der im Nationalsozialismus etablierten nationalen Freund/Feind-Schemata. Deutlich wird dies insbesondere in der Verlesung des »Brief[es] eines Zuchthäuslers an die deutsche Jugend« (I: 280)419 durch Walter als »Sender Waldemar I« in der vorletzten Szene des Dra418 Als historisches Vorbild für die Figur Frisch ist Friedrich Fromm, Generaloberst und Befehlshaber des Ersatzheeres, anzunehmen, der, vermutlich um seine Kenntnis der Verschwörungspläne zu vertuschen, am Abend des 20. Juli 1944 von Stauffenberg sowie die Mitverschwörer Olbricht, von Haeften und Mertz von Quirnheim standrechtlich erschießen ließ und Ludwig Beck zum Suizid aufforderte (vgl. Ueberschär 2006: 209ff.). Fromm selbst konnte später die Beteiligung an der Verschwörung nicht nachgewiesen werden, aber er wurde wegen »Feigheit vor dem Feind« vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und im März 1945 erschossen. Das gleiche Schicksal droht im Drama dem General der Infanterie Frisch (vgl. V: 67f.; vgl. auch Geiger 1973: 21). 419 Bereits der Titel der Radio-Botschaft »Brief eines Zuchthäuslers an die deutsche Jugend« erinnert an die »Rede an die deutsche Jugend«, die Ernst Wiechert am 11. November 1945 im Münchener Schauspielhaus gehalten hat. Darüber hinaus ist beiden Reden gemeinsam, dass sie den durch den Nationalsozialismus korrumpierten Status des »Vaterlandes« reflektieren und die Widerständigen gegen den Nationalsozialismus als wahre Patrioten ehren. So spricht Wiechert: »Die Helden und Märtyrer jener Jahre […] sind diejenigen, die hinter Gittern und Stacheldraht zur Ehre des deutschen Namens starben und verdarben« (zitiert nach: http://www.ernst-wiechert.de/Ernst_Wiechert_Rede_an_die_deutsche_Jugend/Ernst_Wiechert_Herbig_Rede_an_die_deutsche_Jugend.pdf, S. 11. Zugriff 03. 10. 2014). Dass diese Ähnlichkeiten nicht zufällig, sondern bewusste Anlehnungen Weisenborns sind, ist anzunehmen. Weisenborn kannte nachweislich die Rede Wiecherts, die er in Auszügen in seinem 1953 erstmals veröffentlichten Überblickswerk »Der lautlose Aufstand.

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mas, die nicht zuletzt auf Grund der integrierten rhetorischen Fragen die mögliche Gegenposition in die eigene Argumentation integriert: Ich aber wollte die Niederlage Deutschlands. Das ist ein furchtbarer Vorsatz für einen Deutschen. Und dafür hab’ ich jahrelang illegal mit meiner Gruppe gearbeitet, bis uns die Gestapo faßte. […] Es waren junge Freiheitskämpfer, wie von einem Dichter erträumt, in ihrer heiteren und herrlichen Todesbereitschaft, junge, schöne Menschen, die Besten, eine kühne Elite der deutschen Geschichte, in die sie eingegangen sind. Aber wie war es möglich, daß tapfere deutsche Menschen ihr Leben für die Niederlage ihres Vaterlandes opferten? Was war mit diesem Vaterland geschehen? – Es wird langsam dunkel auf der Szene Nun, in unser Vaterhaus war eine Seuche eingedrungen […]. Unser Volk, unser geliebtes Volk der Deutschen begann mit Wutschaum vor dem Mund zu rasen. (I: 280f.)420

Gemeinsam ist den Dramen Schäfers und Weisenborns nicht nur die explizite Auseinandersetzung der Protagonisten mit dem Verratsvorwurf und seine explizite Umkehrung, sondern auch die militärische Konnotation des Patriotismus-Begriffs, die implizit ebenfalls zu einer Verkehrung der von den Nationalsozialisten etablierten Zuschreibungen beiträgt. Die Bezeichnung »Freiheitskämpfer«, die Rede von der »herrlichen Todesbereitschaft« sowie der Hinweis auf die Kühnheit der Widerstandsträger assoziieren in der Radio-Ansprache im Weisenborn-Drama Patriotismus mit militärischem Kampf und Soldatentum. Das Idealbild des Widerstandsträgers ist bei Weisenborn das eines selbst- und emotionslosen Kämpfers: Aber eines Tages wirst du die Angst hinter dir haben. Dann hast du die Tricks und die Technik gelernt, du wirst ein eiserner illegaler Kämpfer sein, erfahren in der Konspiration, gelassen in deinen Gedanken und furchtbar im gelernten Verrat, ein organisierter Kämpfer für die Freiheit in der beispiellosen Unterdrückung des Reichs. (I: 234)

Auch Schäfers Graf Schwerin artikuliert in der zu Beginn dieses Unterkapitels bereits thematisierten Szene ein ähnliches Konzept von Patriotismus, in dem der Soldatentod für das Vaterland zentraler Bestandteil zu sein scheint. Sein Hinweis auf seine Verwundung im Ersten Weltkrieg – »Steckschuß überm Herzen« Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945« zitierte (vgl. Weisenborn 1974: 170). 420 Nadine Willmann attestiert in ihrem biographisch ausgerichteten Aufsatz über das Verhältnis Günther Weisenborns zum Widerstand dem Autor vor allem mit Blick auf dessen »Memorial« ein »starkes Bedürfnis, hervorragende Persönlichkeiten zu bewundern und sie als absolut bewundernswert darzustellen«, welches sich auch in diesem Dramenzitat zeigt. Sie erklärt die »Verklärung« Harro Schulze-Boysens zum einen mit der »rückblickenden Form der Erzählung« (Willmann 2002: 147) von dem ermordeten Freund. Zum anderen führt Willmann die überhöhende Darstellung auch auf die intellektuelle Prägung Weisenborns durch Max Scheler und »dessen Auffassung einer ›Revolution der Elite‹« zurück (Willmann 2002: 148).

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(V: 56) – charakterisiert ihn als tapferen Soldaten und begegnet dem unterschwelligen Vorwurf des feigen Verrats, den der Gestapo-Kommissar Kreisler andeutet: »Kreisler : Warum sind Sie, Graf, nicht im Militärdienst? In Ihrem Alter?« (V: 56) Insbesondere im Zusammenhang mit dieser Inszenierung der Widerständigen als kämpferische Patrioten zeigt sich in den beiden Dramen einerseits eine semiotische Nähe zu NS-Literatur und -Propaganda. So verwendet beispielsweise Graf Schwerin in »Die Verschwörung« weiterhin unkritisch das Adjektiv »entartet«, wenn er sein Verhältnis zur militärischen Tradition seiner Familie beschreibt. Auch die oben zitierte Rede von den Widerständigen im Weisenborn-Drama deutet auf die von Michael Töteberg auch für das Gesamtwerk Weisenborns konstatierte stilistische Nähe des Autors zur NS-Literatur hin, die sich vor allem in der »Tendenz zur Heroisierung« und wenn der Autor »in Sentiment und schwülstigem Pathos partiell das Menschenbild der staatlich geförderten Blut- und Boden-Literatur«421 streift, zeige. Andererseits zeugen solche Passagen aber von einem Seitenwechsel zeitgenössisch positiv konnotierter Begriffe, der auf den veränderten machtpolitischen Kontext und die damit verbundene Neubewertung der Relation Nationalsozialismus/Widerstand hinweist. Dies gilt insbesondere auch für den Elite-Begriff, der in beiden Dramen zur Charakterisierung der Widerständigen verwendet wird. Während die Widerständigen im Weisenborn-Drama sich selbst als »junge, schöne Menschen, die Besten, eine kühne Elite der deutschen Geschichte« (I: 280f.) verstehen, erfolgt die Bezeichnung der Widerstandsträger als »Blüte der Nation« zwar durch einen SS-Mann und wird mit Kritik an dieser Elite verknüpft: EICHMANN: Weiß Gott, es ist ein Anblick, der einem ans Herz greift. Da sitzen sie vor mir, die Blüte der Nation. Kandidaten der Theologie. Juristen. Uralter Adel. Offiziere. Und auch die zünftige deutsche Hausfrau fehlt nicht. Alles was dieses Deutschland angeblich zur Höhe geführt hat. Und in die Scheiße bis an den Hals. […] Alles sitzt da sauber vor mir. (V: 89f.)

Allerdings mindert Eichmanns Kritik nicht die im Drama angelegte Wirkung der Widerstandsträger als nationale Elite, im Gegenteil: Eichmanns Versuch der Ironie misslingt. Die Widerstandsträger erscheinen durchweg als positive Figuren, vor allem deswegen, weil sie einem Repräsentanten des NS-Regimes, Eichmann, entgegenstehen, der nicht nur in dieser Szene, sondern durchgehend durch seine aggressive, vulgäre Ausdrucksweise, die mit fehlender Bildung in 421 Töteberg 2007. Töteberg urteilt differenziert: »Man findet bei diesem Autor keine kriegshetzerischen Töne und keine rassistischen Ressentiments, aber auf der semiotischen Ebene gibt es verräterische Korrespondenzen mit der von den Nazis propagierten Literatur« (Töteberg 2007; vgl. auch Schwarz 1995: 325).

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Verbindung gebracht wird, als negativer Held konzipiert ist.422 Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird also gerade auch in dieser Gegenüberstellung vom »kleine[n] Klüngel verbrecherischer Elemente«, der »mit dem deutschen Heer gar nichts zu tun«423 hat, zum Kern eines besonders positiv verstandenen Deutsch-Seins, zur Elite. Dass die Darstellung der Widerstandsträger als Patrioten und nationale Elite nicht nur intradiegetisch als Abwehr nationalsozialistischer Propaganda notwendig ist, sondern sich auch an extradiegetische Adressaten richtet, zeigt sich besonders deutlich an dem bereits thematisierten Monolog des Senders Waldemar I in »Die Illegalen«. Hier existiert zwar einerseits ein klarer intradiegetischer Adressat für die oben beschriebene Rechtfertigung des Widerstands aus der Defensive, die als Radio-Botschaft verbreitet wird. Sie richtet sich an die »jungen Deutschen […], ob ihr nun Lehrlinge, Schüler, Mädchen, Studenten, Hilfsarbeiter oder Soldaten seid« (I: 280), die sich dem nahenden Ende des Deutschen Reiches stellen müssen: Nun, der Zusammenbruch wird euch gehören, sonst nichts. Es wird der Tag kommen, da stehst du, deutsche Jugend, vor der furchtbarsten Aufgabe, vor die je eine junge Generation gestellt wurde. Wirst du sie bewältigen? (I: 281)

Andererseits lassen aber – neben dem vorweggenommenen »Zusammenbruch« – die handlungslogisch motivierte Ansprache-Rhetorik des Monologs sowie dessen Positionierung am Ende des Dramas zusammen mit der oben zitierten Regieanweisung zur Beleuchtung der Szene die Schlussfolgerung zu, dass sich dieser Monolog nicht nur intradiegetisch an die »deutsche Jugend« richtet, sondern auch einen Appell an den extradiegetischen Adressaten – konzipiert als Leser respektive Zuschauer der frühen Nachkriegszeit – darstellt. Entsprechend spricht Dirk Niefanger vom »Epilogcharakter« dieser Passagen. Auch die Dialogpassagen des Dramas werden nicht nur wiederholt durch Monologe in lyrischer Form (vgl. I: 218, 244, 273f.) ergänzt, sondern mehrfach ist ein sehr pathetischer Duktus der Figurenrede beobachtbar (vgl. exemplarisch das Selbstgespräch Mannas in der Szene I.21 oder den Dialog Walters und Lills in der Szene III.39). Hierzu Heinz Geiger : Ebenso widerspruchsvoll wie der Aufbau des Stückes im Wechsel von realistischer Szene und bloßem Bericht ist die sprachliche Gestaltung. Auch hier wechselt ein realistisches, der illegalen Situation gemäßes Sprechen der Figuren mit einer sentenzen-

422 Bezüglich solcher intradiegetisch als ironisch zu verstehenden Kommentare Eichmanns konstatiert Karl Prümm, dass »Schäfer darauf angewiesen [sei], daß der Zuschauer dies in eine ernstgemeinte Bewertung überträgt« (Prümm 1977: 56). 423 Adolf Hitler, Rundfunkansprache. 1944 (wie Anm. 411).

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haft explizierenden oder hymnisch gesteigerten Sprache, in der der Autor sich direkt ans Publikum wendet.424

Nicht nur der Jugend des nationalsozialistischen Deutschlands auf Handlungsebene, sondern auch der realen Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland soll die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erklärt werden sowie die Erinnerung an den Widerstand als moralische Leitschnur nahegebracht werden. Ähnlich lässt sich auch in »Die Verschwörung«, vor allem im letzten Akt des Dramas, in dem Eichmann im Verhör Tonbandaufnahmen Stauffenbergs vorspielt, von einer doppelten Adressierung der Figurenreden oder mit Niefanger von einem »Implantat der Nachkriegsperspektive«425 sprechen: Ich erkläre, meine Freunde, wenn es heute noch jemand wagen darf, sich Deutscher zu nennen, ohne zu erröten, nach diesen fürchterlichen Jahren und Taten, so danken wir es jenen sauberen Männern. Sie werden in einer künftigen Regierung, nach dem Erfolg, auf den wir alle hoffen, Minister und Chef der Wehrmacht sein, unter denen meine Freunde als Staatssekretäre stehen. Wie es dann freilich später werden wird, in einer Welt, in der sich jede Stunde verjüngt und neue unerhörte Aufgaben bringt, das wissen wir nicht. (V: 93)

Die Figurenrede wird in beiden Fällen deutlich in ihrem fundierenden Charakter erkennbar und erinnert merklich an das oben bereits zitierte Vorwort Günther Weisenborns. Auch das deutlich knappere Vorwort Walter Erich Schäfers, das anmahnt, dass das im Drama Dargestellte »es verdient [habe], in der Erinnerung des Volkes lebendig zu bleiben«, zielt – wie beide Texte insgesamt – auf ein gemeinschaftsstiftendes Erinnern, das man auch als zukunftsgerichtet charakterisieren kann.426 Der Bezug auf den Widerstand wird somit nicht nur zum Imperativ des Wiederaufbaus für nachwachsende Generationen, sondern er fungiert – deutlich erkennbar in diesem letzten Zitat – zugleich als Legitimation einer möglichen zukünftigen deutschen Regierung. 424 Geiger 1973: 27; vgl. auch Loram 1960: 11; und Prümm 1977: 54. 425 Niefanger 1997: 62. 426 Schäfer fokussiert in seinem Vorwort allerdings ausschließlich »das Bild einer Persönlichkeit«, um die der »Ausschnitt aus diesen Ereignissen«, gemeint sind die »Vorgänge des 20. Juli« 1944, »gruppiert« sei. Mit dieser »Persönlichkeit« ist – auch wenn an dieser Stelle nicht namentlich genannt – wahrscheinlich der im Drama nur als »Stimme« präsente Claus Schenk Graf von Stauffenberg gemeint, der dort als den Widerstand initiierender »Staatsfeind Nummer 1« in Szene gesetzt wird (vgl. auch Geiger 1973: 23). Die Verwendung des Verbes »verdienen« macht das Erinnern zu einer Hommage an eine herausstechende menschliche »Persönlichkeit«. Die erinnernde Huldigung des Volkes richtet sich hier ausschließlich auf den ›großen Mann‹; eine mögliche Relevanz der widerständigen Taten und Werte für die Gesellschaft der Rezipienten wird an dieser Stelle – im Gegensatz zum Vorwort Weisenborns – noch nicht thematisiert.

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3.2.2 Exterritorialisierung: Verortungen des Nationalsozialismus im Außen der Nation Mit der Inszenierung der Widerständigen als nationale Elite und wahre Patrioten, denen eine Vorbildfunktion beim nationalen Wiederaufbau zugeschrieben wird, geht eine Darstellung des Nationalsozialismus als eigentlich ›undeutsche‹ Bewegung einher. Voraussetzung hierfür ist eine Grenzziehung zwischen Nationalsozialismus einerseits und der Gesamtheit oder zumindest Mehrheit des deutschen Volkes respektive der deutschen Nation andererseits. Eine solche Grenzziehung kommt im Schäfer-Drama »Die Verschwörung« zum Ausdruck, auch wenn darin die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Mehrheit der Deutschen zum Nationalsozialismus nur geringen Raum einnimmt. Hier stehen sich mit den Widerstandsträgern einerseits und den Mitarbeitern der NS-Verfolgungsbehörden andererseits zwei konkurrierende Blöcke gegenüber, deren Auseinandersetzung, die ab dem zweiten Akt vor allem ein verbaler Schlagabtausch ist, das zentrale Thema des Dramas darstellt. Der Eindruck einer dichotomischen Gegenüberstellung von Gut und Böse, bei der die Mehrheit der Deutschen auf die Rolle als Verfügungsmasse der Herrschenden reduziert bleibt, wird unter anderem dadurch verstärkt, dass die Figurenrede durch den Bezug auf christliche Geschichten und Motive geprägt ist. Der Gemeinschaft der Widerstandsträger als vermeintlichem »Club von Engeln« (V: 62) steht Eichmann als der »leibhaftige Teufel« (V: 82) gegenüber. Das Volk wird zum unmündigen Spielball degradiert, um den Protagonist und Antagonist kämpfen. Während die Widerstandsträger dabei als Elite und damit als besonders guter Teil des deutschen Volkes dargestellt werden, gilt dies für die Repräsentanten des NS-Regimes nicht. Zwar wirkt das Schicksal Deutschlands in der folgenden Aussage Schwerins eng mit dem des durch Eichmann repräsentierten Nationalsozialismus verknüpft, aber der Eindruck von numerischer Identität wird durch die Formulierungen nicht erweckt, wenn im letzten Satz beide Instanzen dezidiert getrennt genannt werden: SCHWERIN (sehr ernst): Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht gibt es für Sie wirklich nur Sieg. Sieg oder Untergang. Für Sie und für Deutschland. (V: 61)

Deutlicher noch zeigt sich diese Nicht-Identität zwischen NS-Repräsentanten und Deutschland beziehungsweise deutschem Volk in Schwerins im Folgenden zitierter Antwort auf die Frage Eichmanns, weshalb er sich den Nationalsozialisten nicht offen entgegen gestellt hätte: SCHWERIN: Weil wir glaubten, daß für die Zeit – wenn Sie verschwunden sind – mit Ihren Henkern, aus unserem Land, Herr Eichmann, noch jemand übrig bleiben muß, der regiert. Männer mit sauberen Händen und klarem Kopf. Um das zu retten, was noch zu retten ist, wenn Sie nicht mehr da sein werden.

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EICHMANN: Aber wir werden da sein, Mann. Wir werden den Krieg gewinnen. Und tausend Jahre regieren. Und wenn uns doch der Teufel holt, dann werden wir das ganze Volk zertreten, wie man eine Wanze zertritt. Nach uns wird nichts mehr da sein als der Tod. (V: 97f.)

Die Nationalsozialisten erscheinen hier aus beiden für die antagonistische Handlungsstruktur des gesamten Dramas zentralen Figuren-Perspektiven als fremde, besetzende Macht, die nicht das Wohl des Volkes im Blick hat, sondern »aus unserem Land« vertrieben werden muss. Ähnlich lässt sich auch bei Weisenborn die Tendenz beobachten, die Nationalsozialisten vor allem durch die Verwendung lokaler Präpositionen als besetzende Macht zu inszenieren. Dies suggeriert nicht nur die im Eingangsmonolog dominante Spinnen-Metaphorik (vgl. I: 207) sowie die Vorstellung von einer in das »Vaterhaus« eindringenden »Seuche«, die in dem von Walter verlesenen »Brief eines Zuchthäuslers« artikuliert wird (vgl. I: 281), sondern vor allem einer der letzten Ausrufe Walters vor seiner Festnahme: Eingekreist! Verdammt, die Stunde ist gekommen! Hört, ihr Deutschen, überall: Der Feind steht vor der Tür! Dies ist die letzte Minute des Senders Waldemar I… (I: 283)

Während Regina Holler für die deutsche Historiographie der frühen Nachkriegszeit konstatiert, sie betone die »besondere Situation des deutschen Widerstands, der im Gegensatz zu den Widerstandskämpfern in den besetzten Ländern gegen die eigene Regierung gekämpft habe«427, nähert sich die literarische Darstellung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus hier insbesondere durch solche räumlichen Implikationen semantisch derjenigen des Befreiungskampfes in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten an.

3.2.3 Entmenschlichungen: Der Nationalsozialismus als das unmenschliche Andere Neben der Exterritorialisierung und somit auch Entnationalisierung des Nationalsozialistischen hat eine weitere Exklusionsstrategie, die sich sowohl bei Weisenborn als auch bei Schäfer findet, das Potenzial, als Legitimation des Kampfes gegen die nationalsozialistische Herrschaft zu fungieren: der Ausschluss des Nationalsozialistischen aus der Gemeinschaft der Menschen.428 Al427 Holler 1994: 77. 428 Waltraud Wende beschreibt sowohl die Entmenschlichung des Nationalsozialismus als auch seine metaphorische Umschreibung als »Seuche« respektive »Massenepidemie« sowie seine Dämonisierung als zentrale, die ersten Nachkriegsjahre dominierende »Diskursstrategie« (2007: 143), die auf eine Entschuldung der Deutschen in den öffentlich verhan-

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lerdings unterscheiden sich beide Dramen in der Art und Weise, wie sie Menschsein, Deutschsein und Nationalsozialismus aufeinander beziehen. In »Die Verschwörung« verstärkt die antithetische Gegenüberstellung von menschlichen Widerständigen und unmenschlichen Verfolgern einmal mehr die antagonistische Struktur, die das Drama zwischen Nation und Nationalsozialismus etabliert. So antwortet Magda Hauff in ihrem Verhör auf die Frage nach der Zusammensetzung des Viersener Kreises mit dem Ausspruch »Wir haben Menschen eingeladen« (V: 47) und macht damit das Menschliche zu der die unterschiedlichen Widerständigen verbindenden Eigenschaft: EICHMANN: Ich meine, Frau Hauff, waren auch Offiziere unter den Gästen? HAUFF: Auch Offiziere sind Menschen, Herr Eichmann. (V: 47)

Etwas später im Verhör Schwerins durch Eichmann wird dann diesen menschlichen Widerstandsträgern das Mörderische der Verfolger gegenüber gestellt, wenn Schwerin auf die Frage Eichmanns nach seinem Kontakt zum Attentäter Stauffenberg folgendes antwortet: SCHWERIN: Mein Gut war immer für alle offen. EICHMANN: Auch für Mörder, Graf Schwerin? SCHWERIN: Auch für Sie, Herr Eichmann. (V: 64f.)

Das von dem SS-Mann als Etikett für den gescheiterten Attentäter gewählte Attribut »Mörder« wird in der Replik Schwerins durch die Großschreibung des Personalpronomens »Sie« zur Bezeichnung für Eichmann selbst und verweist auf einen Wechsel der Bezugsgröße (2. Pers. Sg. statt 3. Pers. Pl.).429 Diese grammatikalisch und semantisch zunächst überraschende neue Zuordnung des Attributs »Mörder« betont eine Differenz zwischen dem ursprünglich als »Mörder« gekennzeichneten Widerständigen und dem nun als »Mörder« etikettierten SS-Mann, dem damit das Mörderische und nicht mehr Menschliche als Attribut anhaftet. Damit schließt das Drama an dämonisierende Entwürfe des Nationalsozialistischen an, die wiederholt als typisch für die frühen intellektuellen Erklärungen des ›Dritten Reichs‹ herausgestellt worden sind: Der als dämonisch entworfene ›Führer‹ Adolf Hitler sowie ein »›Bodensatz‹ pathologischer Verbrechernaturen, aus denen sich vor allem das Personal der Konzentrationslager rekrutierte«430, gelten als Unmenschen und Alleinverantwortliche für bloß ›im deutschen Namen‹ begangene Verbrechen.431 delten Fragen nach Mitschuld, Beteiligung an und Ursachen für die nationalsozialistischen Verbrechen zielte (vgl. Wende 2007: 142ff.). 429 Dieser ist in der gesprochenen Sprache des Aufführungstextes nur durch eine entsprechende Betonung des Sprechenden erkennbar. 430 Eckel 2003: 153. 431 Vgl. exemplarisch Holler 1994: 89, die hier die Dämonisierung Hitlers in Gedenkreden anlässlich der jährlichen Wiederkehr des 20. Juli (1944) herausstellt.

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Im Gegensatz zur im Schäfer-Drama eher marginalen Verhandlung der Unterscheidung von Menschen und Unmenschen, die zudem nur die schlichte Zweiteilung des dramatischen Personals in gute Deutsche/Widerständige und böse ›Nazis‹ stützt, erweist sich die Verbindung von Menschsein, Deutschsein und Nationalsozialismus in »Die Illegalen« als ambivalenter. Zum einen findet sich auch bei Weisenborn die deutliche Unterscheidung zwischen menschlichen Widerständigen und unmenschlichen, hier tierischen Nationalsozialisten, wie sie vor allem in der vierten Szene des dritten Aktes in Walters lyrischem Monolog zum Ausdruck kommt: Bist du ein Mensch, so bist du auch verletzlich. Ein Kätzchen ritzt dir spielend schon die Haut, wie dünn ist aber deine Menschenhaut, wenn ihr ein Tiger gegenübertritt. […] Wie sehr verletzlich ist der Mensch und wie verloren, wenn ihn das Untier anfällt, es ist stärker, mit Dolch, mit Mord, mit Gas, mit dem Schafott. […] Schon wendet sich das furchtbare SS-Gebiß in unsere Richtung, die Gestapo leckt ihr Maul, dicht vor der Tür steht leise die Gefahr. Es ging um Leben, jetzt geht’s um den Tod… (I: 273f.)

Hier steht die Selbstinszenierung des Widerständigen als verletzlicher, schwacher Mensch der Inszenierung der NS-Behörden als Tiger antithetisch gegenüber : Hier steht der Tiger, und hier steht die Gruppe. Scharf ist sein Zahn, und dünn ist unsere Haut. (I: 274)432

Zum anderen aber wird in dem Drama eine solche eindeutige Grenzziehung unterlaufen. So lassen sich nicht nur Imaginationen der Widerständigen als auszurottendes Ungeziefer aus der Verfolger-Perspektive beobachten: ADAM: Nein. Die Gruppe 17 hat durch die Verhaftung Wind gekriegt. Die stellen sich tot wie die Mistkäfer. Aber wir pieken sie mit der Nadel wieder auf, passen Sie mal auf, Sturmbannführer, wie sie dann krabbeln. Ach, krabbeln die! Und dann kommen sie in unser großes Herbarium Plötzensee. (I: 259).

432 Wolfgang Brekle verweist darauf, dass diese antagonistische Gegenüberstellung kein Sonderfall in Weisenborns Werk ist: »Den Kampf gegen den Faschismus sieht Günther Weisenborn in den »Illegalen« und anderen Werken hauptsächlich als einen Kampf der Guten gegen die Unmenschlichen, als einen Kampf der Freiheitsliebenden gegen die Machtbesessenen« (Brekle 1985: 127).

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Auch die Widerständigen selbst beschreiben sich als Tiere: »KARL: Die Gruppe stellt sich tot. Auf zur Treibjagd mit Piff und Paff« (I: 236). Die unterschiedlichen Bildspender aus dem Bereich des Tierischen evozieren dabei einerseits deutlich unterschiedliche Wertungen des Widerstands, andererseits verdeutlichen sie aber auf ähnliche Art und Weise das Machtgefälle zwischen den sich entgegen stehenden Gruppen: Hier sind es die NS-Repräsentanten als Menschen, die zur Bedrohung für die als tierisches Ungeziefer oder Jagdwild imaginierten Widerständigen werden. Als noch ambivalenter erweist sich die Darstellung des Menschlichen und Tierischen im Weisenborn-Drama vor allem in Passagen, die das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus modellieren: FLÖTE (tritt ein): […] Unsereins erkennt die Menschen unter den Deutschen an einer Art Witterung. Unsereins spürt wie ein Tier. Die Deutschen haben einen wilden Geruch in diesem Krieg, aber zuweilen wittre ich einen Menschen darunter, das ist unser Mann. (I: 215)

Diese Worte, mit denen Flöte, Mitglied derselben Illegalen-Zelle wie Lill, die Schwierigkeiten der Widerständigen beschreibt, weitere Personen für ihre Arbeit zu gewinnen, sprechen scheinbar den Deutschen allgemein, nicht nur den NS-Repräsentanten im Drama das Menschliche ab. Durch die Differenzierung zwischen »Menschen« und »Deutschen« erscheinen die Deutschen als Unmenschen mit einem »wilden Geruch«, als prinzipiell bedrohliche Spezies. Dieser wird der »Mensch[ ]« als potenzieller Widerstandsträger gegenübergestellt, als »unser Mann«. Auffallend ist an dieser Stelle aber, dass hier die vermeintliche Dichotomie zwischen Menschen/Widerstandsträgern einerseits und wilden, unmenschlichen Deutschen andererseits wieder unterlaufen wird, da sich Flöte selbst auch Eigenschaften eines Tieres zuschreibt: Er »spürt wie ein Tier« und nimmt Witterung auf. Diese Tendenz des Dramas zu einer mehrdeutigen Inszenierung von Gemeinschaften und Gemeinschaftsgefügen bleibt keineswegs auf die Positionierung des Menschlichen in der Konstellation von Widerstand, Nationalsozialismus und Deutschsein beschränkt. Vielmehr finden sich wiederholt weitere literarische Bilder, die ein komplexeres Verständnis vom Zusammenhang von Nation und Nationalsozialismus indizieren, als es im Schäfer-Drama zu beobachten ist.

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3.2.4 Mehrdeutige Bilder: Skalare Grenzziehungen zwischen Nation und Nationalsozialismus Typisch für die frühe Forschung ist nach Regina Holler der exkulpierende Blick auf den Großteil der deutschen Bevölkerung,433 wie er sich exemplarisch in Rudolf Pechels Arbeit »Deutscher Widerstand« (1947) zeigt: Auf der einen Seite stand also die Partei mit ihrem Apparat und das Lumpengesindel, auf der anderen Seite – das Volk d. h. der Teil, der zum Widerstand entschlossen blieb. Zwischen beiden vegetierte die amorphe Masse derer, die umnebelt und verführt waren.434

Wie im Schäfer-Drama etabliert auch Pechel hier einerseits eine dichotome Gegenüberstellung von Widerstand und Nationalsozialismus, bei der die »Masse« der Deutschen lediglich zum ›Vegetieren‹ degradiert wird. Allerdings bleibt es bei Pechel andererseits nicht wie bei Schäfer bei einer bloß binären Gegenüberstellung von Nationalsozialisten und Widerständigen, in der die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt keine Rolle spielt, sondern die Attribute »umnebelt und verführt« verweisen bereits auf eine zumindest etwas komplexere Bestimmung des Verhältnisses von Deutschen und Nationalsozialisten, die auf eine Erklärung des Erfolgs der Nationalsozialisten in Deutschland abzielt. Während eine solche im Schäfer-Drama auch auf Grund der ausschließlich antagonistischen Handlungsstruktur und Figurenkonstellation nicht zu finden ist, erweist sich das Weisenborn-Drama in dieser Hinsicht gerade auf Grund seiner facettenreichen Bildlichkeit als mehrdeutiger, wie der doppelt adressierte »Aufruf eines unbekannten Widerstandsmannes« zeigt, den Walter als Sender Waldemar I im zweiten Akt an das deutsche Volk richtet: Das alte Volk der Deutschen wird heute wie eine gewaltige Herde der Katastrophe entgegengeführt, umtanzt von hunderttausend Amtswaltern, umbrüllt von Versprechungen und Lobgesängen! Vorne die Gläubigen, die verklärten Auges hinter Hitler herrennen, der vor ihnen die Palmwedel des Lobes schwingt, den Weihrauch der falschen Versprechungen spendet, den goldenen Sterntalerregen der Ritterkreuze ausstreut. Und den Zaghaften zur Seite hinkt der kleine Einflüsterer mit dem Honig, den er ihnen ums Maul schmiert. Millionen von Fahnen und Girlanden rauschen im Wind, und das riesige Volk stampft beladen dahin. Sie marschieren immer hinterher, immer hinterher! Hinten aber, am Ende des Schicksalsmarsches der Deutschen, hinten trabt die armselige Schar der Unwilligen, der Ungläubigen, der Neinmeinenden, der Flüsterer und Meckerer, auf sie knallt die lange Peitsche Himmlers nieder. Am Ende des Zuges stolpern die Opfer, fallen, bleiben liegen. Schwärme von deutschen SS-Henkern machen sie fertig: immer hinterher, immer hinterher! 433 Vgl. Holler 1994: 75f.; und ähnlich auch Eckel 2003: 152. 434 Pechel 1947: 34. Zitiert nach Holler 1994: 76.

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Aber das Volk blickt sich nicht um, es beachtet die Zurückbleibenden nicht. Es starrt fasziniert nach vorn, wo die goldenen Borten blinken, die Ritterkreuze hageln, wo die Beförderungen, Verdienste, Profite, die Ehrendolche, die silbernen Kragensterne, die Goethe-Medaillen, die Nationalpreise, die Ehrenstandarten, die Einladungen, die Titel, die Ehrenämter, die Orden und die Ministergeschenke verteilt werden. Geblendet, wild vor Gier nach allem Elend starrt das Volk dahin und rennt den flinken Verteilern nach. Immer hinterher, immer hinterher! – Führer befiel, wir folgen! (I: 251f.)

Hitler, Goebbels als »der kleine Einflüsterer«, die »lange Peitsche Himmlers« sowie die »Schwärme von deutschen SS-Henkern« repräsentieren hier die Mitglieder der NSDAP oder ihrer Untergliederungen, die – trotz des Attributs »deutsch«, mit dem zumindest die »SS-Henker« gekennzeichnet sind – als nicht zur Herde gehörend inszeniert werden. Große Teile des deutschen Volkes scheinen zwar die NS-Politik durchaus zu unterstützen, sie sind aber, wie das Bild der rennenden Herde signalisiert, Mitläufer und nicht führend bei ihrer Gestaltung und Ausübung der NS-Politik. Diese Rolle übernehmen die Anderen, die Bewacher der Herde.435 Der Vergleich des deutschen Volkes mit einer getriebenen Herde impliziert verschiedene Vorstellungen über die Ursachen für den ›Erfolg‹ der nationalsozialistischen Bewegung und Politik. Vor allem sind es die Führungspersönlichkeiten der NSDAP sowie die Mitglieder von Parteiorganisationen, die den Weg des Volkes bestimmen. Sowohl »die Gläubigen, die verklärten Auges hinter Hitler herrennen«, als auch die getriebene Schar der »Unwilligen« erscheinen wie bei Pechel als verführte Opfer, nicht als treibende oder verantwortliche Akteure des Geschehens im sogenannten ›Dritten Reich‹. Aber nicht nur in diesem Zitat bietet das Drama zum Beispiel mit Hinweisen auf »die Gier nach allem Elend« durchaus auch ambivalentere Erklärungsmuster an, sondern vor allem eine detaillierte Analyse des bereits angesprochenen Schlussmonologs von Walter alias Waldemar I ist in dieser Hinsicht ergiebig: Nun, in unser Vaterhaus war eine Seuche eingedrungen, eine goldverbrämte Seuche, die alle ansteckte und krank machte. Unser Volk, unser geliebtes Volk der Deutschen begann mit Wutschaum vor dem Mund zu rasen. Es wollte endlich einmal aus dem Elend heraus, und es ward ihm vom Rattenfänger aus Braunau ein Weg gezeigt. Ach, es war ein schrecklicher Weg, ein Golgathaweg. Es kochten auf den alten Herden unseres großen Volkes die uniformierten Wutanfälle auf, und der Vorgarten unseres Vaterhauses war mit den bösglühenden Blüten infamer Lügen bestückt. Dieser historische Amoklauf eines Volkes wird ihm Millionen von Toten kosten… (I: 281)

435 In dem obigen Zitat lässt sich zudem eine weitere Abgrenzungsrichtung beobachten: Der letzte Satz impliziert deutlich eine Trennung zwischen dem »Volk«, das sich nicht umblickt, und den »Zurückbleibenden«, die der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda nicht verfallen sind. Sie werden als nicht zum »Volk« gehörig inszeniert.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

Neben der im vorangehenden Unterkapitel beschriebenen Imagination der Nationalsozialisten als eindringende, fremde Macht evoziert die Fortsetzung des Zitates zunächst stärker die Vorstellung von einer Inkorporation des Nationalsozialismus durch das deutsche Volk, welche allerdings als tollwütig, also krankhaft und somit als nicht ›normal‹ gewertet wird. Der dritte Satz des Zitates bietet dann einen dritten Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Nationalsozialismus und dem »Volk der Deutschen«, der deutliche Ähnlichkeit zur oben zitierten Herdenmetaphorik aufweist: In Anlehnung an die bekannte Sage »Die Kinder zu Hameln« wird hier Adolf Hitler als der »Rattenfänger aus Braunau« zum Verführer, der die Deutschen ins Unglück stürzt. Auch in dem von Walter verlesenen »Aufruf eines unbekannten Widerstandsmannes« im zweiten Akt des Dramas ist Hitler der »Rattenfänger aus Braunau, der Schimärenbläser aus der Reichskanzlei!« (I: 253) Denkt man diese Analogie weiter, erscheinen die Deutschen als die der Sage nach ins Unglück geführten »Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an«436. Ähnlich wie die Spinnen-Metaphorik, die den Beginn des Dramas dominiert (vgl. I: 207f.), erzeugt auch diese intertextuelle Analogie den Eindruck vom deutschen Volk als passivem Opfer : Vermittelt die Spinnen-Metaphorik aber stärker die Vorstellung von einer schleichenden Totalisierung der deutschen Gesellschaft – »Er läßt sich mit tausend Spinnenfäden umgarnen, so daß bald jeder Herzschlag von ihm ein gefesselter ist.« (I: 207) –, fokussiert die Rattenfänger-Analogie eher den verführenden, propagandistischen Anteil des nationalsozialistischen Aufstiegs und schreibt zudem der Person Hitler eine gravierende Bedeutung zu. Als Viertes entsteht in dem obigen Zitat durch die Metapher des »Golgathaweg[s]« das Bild vom notwendig leidenden (und möglicherweise messianischen?) Volk. Eine ähnliche, aber noch deutlicher deterministische Konnotation hat in dem »Aufruf« des zweiten Aktes das Bild vom unaufhaltsamen »Schicksalszug des deutschen Volkes«, der »in den Untergang« »donnert« (I: 252). Im Gegensatz zu diesen bisherigen Entwürfen erscheint der Nationalsozialismus im vorletzten Satz des oben stehenden Zitates stärker als Konsequenz spezifisch deutscher Geschichte: Durch die Rede von den »alten Herden unseres großen Volkes« entsteht der Eindruck einer Kontinuität deutscher Geschichte, die vor allem in den »uniformierten Wutanfällen[n]«, also in einer militaristischen Tradition zu bestehen scheint. Diese Kontinuität militaristischer Traditionen wird auch in dem »Aufruf eines unbekannten Widerstandsmannes« inszeniert, wobei die Aneinanderreihung der verschiedenen Substantive, die Begehrtes repräsentieren, metonymisch das Zusammenspiel von Militarismus und Nationalismus inszeniert. 436 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Die Kinder zu Hameln. In: dies. (Hg.): Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 249– 251. S. 251.

Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

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Insgesamt kommen in der erläuterten Ambivalenz der bildlichen Konzeption des Verhältnisses von Deutschen und Nationalsozialismus in dem Drama »Die Illegalen« also sehr unterschiedliche Erklärungsmodelle für Aufstieg und Praxis des Nationalsozialismus zum Ausdruck. Heinz Geiger kritisiert, dass die »Realität des Terrorregimes […] durch diese Metaphernflut nicht evident gemacht, sondern eher verwischt«437 werde. Diese Kritik übersieht allerdings, dass das Phänomen Nationalsozialismus mit dieser »Metaphernflut« nicht eindimensional erklärt, sondern als Resultat verschiedener Faktoren dargestellt wird und dadurch ein gewisses Maß an Komplexität erlangt: Die Vorstellung vom verführten deutschen Volk dominiert zwar, wirkt aber nicht ausschließlich exkulpierend, wenn gleichzeitig der Eindruck einer Affinität des deutschen Volkes zu nationalistischem Chauvinismus und kriegerischer Gewalt hergestellt wird. Andererseits wiederum erscheint das Volk als leidende und benachteiligte Gemeinschaft, die »endlich einmal aus dem Elend heraus« will beziehungsweise »gebissen vom Schmerz« ist; dies sind Formulierungen, die den Nationalsozialismus als Reaktion auf die deutsche Geschichte der Zwischenkriegszeit erklären, sich mit dem Topos von der ›Schmach von Versailles‹ in Verbindung bringen lassen und stärker eine Identifikation der Deutschen mit der nationalsozialistischen Revisionspolitik betonen. Darüber hinaus werden mittels der Spinnen-Metaphorik die Mechanismen totalitärer Politik reflektiert und durch die Rattenfänger-Analogie der Eindruck einer besonderen Anfälligkeit des deutschen Volkes für propagandistische Beeinflussung evoziert. Im Gegensatz zum Schäfer-Drama relativieren »Die Illegalen« in solchen Passagen die strikte Grenzziehung und Unterscheidung zwischen Nation und Nationalsozialismus und mindern somit den Eindruck einer unreflektierten Gleichsetzung des deutschen Volkes mit den von der deutschen Wehrmacht und den Einsatzgruppen von SS und Polizei bekämpften Völkern.

3.3

»Und dafür, daß ein Deutscher wieder einmal einem Fremden offen ins Auge schauen kann.« – Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

Als Grund dafür, dass öffentliches Erzählen vom deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus im besetzten Nachkriegsdeutschland als defensiv respektive verteidigend erschien,438 werden in den meisten rezeptionsgeschichtlichen Aufsätzen nicht nur die oben beschriebenen Vorbehalte in der (west-)deutschen Bevölkerung genannt, sondern auch die alliierte These von 437 Geiger 1973: 27. 438 Vgl. Tuchel 2005: 11.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

einer deutschen Kollektivschuld.439 Letztere habe in der frühsten Nachkriegszeit zu einer Tabuisierung des deutschen Widerstands geführt, so dass erste Forschungsarbeiten zunächst größtenteils im Ausland, vor allem in der Schweiz und Großbritannien, veröffentlicht wurden.440 Aber : Trotz aller Schwierigkeiten bei der Forschung und bei der Veröffentlichung konnte die im Auftrag des Münchener Instituts für Zeitgeschichte erstellte Bibliographie der Jahre 1945–50 immerhin 681 Titel unter der Rubrik »Verfolgung und Widerstand« ausmachen.441

Die Frage, welchen Stellenwert die Kollektivschuldthese für die westlichen Besatzungsmächte tatsächlich hatte, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet, oft abhängig davon, ob der Blick eher dem öffentlichen Diskurs oder politisch-juristischen Maßnahmen der Aufarbeitung gilt: Mag man auch darüber streiten, inwiefern die alliierte Rhetorik bei Kriegsende in dieser Weise verstanden werden konnte – zu denken wäre hier vor allem an die edukatorische Konfrontation vieler Deutscher mit den Leichenbergen in den befreiten Konzentrationslagern –, so war es doch in der Praxis der dann folgenden politischen Säuberung doch gerade nicht um kollektive, sondern um individuelle Schuld gegangen; die Entnazifizierung, also das bürokratische Verfahren der massenhaften Überprüfung von Einzelfällen, war dafür im Grunde der beste Beweis.442

Unabhängig von der jüngeren geschichts- und kulturwissenschaftlichen Debatte um den möglichen Kollektivschuldvorwurf der Alliierten, auf die Frei hier zu reagieren scheint,443 partizipieren die literarischen Darstellungen, insbesondere 439 Vgl. exemplarisch Müller/Mommsen 1990: 13; und Steinbach 1998: 104ff. 440 Vgl. Ueberschär 1998: 125; und Holler 1994: 70. 441 Holler 1994: 72. Als zentralen Durchbruch beschreibt Peter Steinbach die 1947 zunächst im Ausland und in englischer Sprache publizierte Darstellung zum deutschen Widerstand von Hans Rothfels, dem vermeintlichen »Nestor der Forschung über den deutschen Widerstand« (von Klemperer 1995: 34). Außerdem seien insbesondere seit der Gründung der Bundesrepublik deutsche Verlage nicht nur aus politischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen zunehmend an Veröffentlichungen über den Widerstand interessiert gewesen: »Bahnbrechend wirkte die in mehreren Auflagen erschienene monumentale Biographie über Goerdeler des Freiburger Historikers Gerhard Ritter, aber auch Margret Boveris grundsätzliche Studie über den Verrat im 20. Jahrhundert…« (Steinbach 1998: 115). 442 Frei 2005: 32. 443 Norbert Frei bezieht sich hier vermutlich auf Ausführungen Aleida Assmanns, die die Idee der Kollektivschuld gerade nicht als eine bloße Erfindung der Deutschen zur Abwehr von Schuld ansieht (vgl. A. Assmann 1999: 116f.), sondern stattdessen daraufhin weist, dass das Verhalten der Alliierten in der ersten Phase der Besatzungspolitik, also bis zum Ausbrechen der Gegensätze des Kalten Krieges, darin bestanden habe, den Deutschen ihre kollektive Schuld durch KZ-Besuche, Filme über die Konzentrationslager, Plakate mit KZ-Fotos und entsprechenden Schuldvorwürfen vor Augen zu führen (vgl. A. Assmann 1999: 120ff.). Diese öffentliche, »globale« Zurschaustellung deutscher Schuld sei zwar juristisch beziehungsweise politisch selten so thematisiert worden und letztlich ohne strafrechtliche Konsequenzen geblieben, sie habe sich aber als Trauma der Scham, nicht der Schuld, in die

Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

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der frühen Nachkriegszeit, erkennbar an einem von deutschen Intellektuellen getragenen Erinnerungsdiskurs, der entweder auf die Kollektivschuldvorwürfe der Alliierten reagiert oder diese erst selbst diskursiv als Legitimation von Schuldabwehr hervorbringt: Beteiligt waren Schriftsteller, Philosophen, Publizisten, Geistliche. Der Diskurs stand nicht im Einklang mit den Schuldauffassungen, die im Ausland vertreten wurden. Im Gegenteil, das Anliegen, die eigenen Landsleute zur Einsicht zu bringen, verband sich mit der Abwehr von Pauschalverurteilungen, wie sie verschiedene Lesarten der Kollektivschuld-These darstellten.444

In diesem Zusammenhang ist vor allem die Tendenz der literarischen Repräsentationen des Widerstands relevant, die Widerständigen als Märtyrer zu inszenieren, die mit ihrem Tod die Existenz eines ›anderen Deutschlands‹ bezeugen: STIMME: Ich möchte Sie im fünften Jahre dieses Krieges nicht mit einer pathetischen Phrase füttern. […] Sie müssen sich aber klar sein, meine Freunde, daß die Gemeinschaft, die wir im Handeln bilden, sehr leicht zu einer Gemeinschaft im Tode werden kann. (V: 92)

Die Gemeinschaft der widerständigen Figuren bei Weisenborn und Schäfer ist sich der Gefahr, die aus ihrem widerständigen Verhalten für ihr Leben resultiert, stets bewusst, wie nicht nur die hier zitierte Ansprache Stauffenbergs, sondern auch die bereits in der Einleitung erwähnte zweite Szene des Weisenborn-Dramas zeigt, in der die beiden ›Illegalen‹ Spatz und Bulle auf das Plakat stoßen, das sie über die Hinrichtung von »Kameraden« (I: 210) informiert. Gemeinsam ist beiden Texten zudem, dass ihre Geschichten mit dem Tod oder dem absehbaren Tod der verhafteten und überführten Protagonisten enden. Der in den Texten dargestellte Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist also ebenso wenig erfolgreich, wie es der historische war, sofern man seinen Erfolg an dem Ziel misst, die NS-Herrschaft ›von innen heraus‹ zu beenden. Dennoch wird der physischen Vernichtung, die de facto das Scheitern der Widerständigen bedeutet, in beiden Texten der Anschein der Niederlage genommen und Sinn deutsche Psyche eingebrannt (vgl. A. Assmann 1999: 124ff.). Anders als Assmann urteilt Wolfgang Benz: »Die Kollektivschuldthese ist also nicht mehr als ein Konstrukt der Abwehr. Der vermeintliche Vorwurf diente als willkommener Vorwand der Verweigerung. […] Und im Gefühl, Unrecht zu erleiden, ließ sich eine allgemeine und umfassende Schulddebatte vermeiden. Insofern war die These von der kollektiven Schuld gut erfunden und diente ihrem Zweck« (Benz 1995: 52). Christoph Kleßmann regt in diesem Zusammenhang – ähnlich wie Frei – eine differenzierte Beschreibung öffentlicher Diskurse an, wenn er darauf aufmerksam macht, dass »die von den Westalliierten verbreitete These von der Übereinstimmung von Nationalsozialismus und deutschem Volk […] keineswegs eine für das besetzte Deutschland verbindliche Sprachregelung war, die keine Abweichung erlaubte« (Kleßmann 1985: 12). 444 Heukenkamp 1996: 272.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

zugesprochen. In der Situation, in der die Widerständigen scheinbar endgültig ohne die Chance zu autonomem Handeln sind, verleihen ihnen die Texte Autonomie durch die Möglichkeit, durch eigene Rede die Deutungshoheit über ihren drohenden Tod auszuüben: So reagiert der Graf Schwerin auf die Konfrontation der Verhörten mit den belastenden Tonbandaufnahmen einer Ansprache Stauffenbergs wie folgt: SCHWERIN: Wenn ich für meine Freunde antworten darf – ? Herr Eichmann, wir sind alle nicht von der Art, daß wir geboren wurden, um für Deutschland zu sterben. Wir wollen leben für Deutschland. Jetzt haben wir zwei Stimmen gehört. Ihre Stimme, Herr Eichmann, die Stimme des Henkers. Und die Stimme des Kameraden. Nun bleibt uns nichts mehr, als zu ihm zu treten und unsere Stimme mit seiner zu vereinigen. Zu einem Chor, Herr Eichmann, den keine Macht, kein Teufel und keine Gestapo dämpfen wird. (V: 98)

Und auch Bulle, der vor den Augen seiner etwa siebenjährigen Tochter Marie über- und abgeführt wird, bekennt im Drama Weisenborns: BULLE (ausbrechend, groß): Und wenn sie dich fragen, warum ich gegangen bin, Marie, dann sag ihnen: für die Freiheit, Marie, für die Freiheit! Vergiß das nie! (I: 263)445

Nicht zuletzt wegen des pathetischen Duktus ihrer Figurenmonologe erinnern beide Dramen in Ansätzen an barocke Märtyrerdramen. Wichtiger als ein jenseitig orientiertes Heilsversprechen ist für die Märtyrer Weisenborns und Schäfers jedoch, dass ihr Martyrium in Erzählungen bezeugt wird und somit in einer nahen diesseitigen Zukunft Wirkung zeigt. Die Tatsache, dass alle Protagonisten den Tod letztendlich in der Überzeugung, die richtigen Werte zu vertreten, akzeptieren, wird in den beiden Texten nicht oder nicht primär als ein Akt individueller Selbstbehauptung inszeniert, sondern als ein Bekenntnis, das sich an Dritte richtet, wie bereits die beiden obigen Aussagen Schwerins und Bulles erkennen lassen. Wie es Jos8 Brunner und Aleida Assmann als typisch für den religiösen Zeugen beschreiben, gilt auch für die »Märtyrer« der beiden Dramen, dass sie ihre physische Vernichtung in einen symbolischen Akt verwandeln, der als Zeugnis für die Nachwelt tradiert werden soll: Die performative Botschaft, die im Sterben zum Ausdruck gebracht wird, ist das Bekenntnis zu einem überlegenen Gott. Im Akt dieses Bekenntnisses verwandelt sich das wehrlose, passive und widerwillige Opfer (im Sinne von lat. victima) in ein überlegenes, aktives und williges Subjekt/Objekt der Opferhandlung (im Sinne von lat. sacrificium). Diese radikale Inversion von politischer Unterlegenheit in religiöse Überle445 Neben den hier genannten Beispielen lassen sich auch Walters Verlesung des Briefes eines inhaftierten Widerständigen kurz vor seiner Verhaftung (vgl. V: 280ff.) sowie die Bekenntnisse der Sekretärin Hauff und des Major Haag zu Stauffenberg in Gegenwart der Verhörer (vgl. V: 95f.) als Versuche, ein oppositionelles Zeichen zu setzen, deuten.

Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

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genheit, von Trauma in Triumph, ist eine Sache des kulturellen Rahmens, in dem dieses Geschehen erlebt, erzählt, interpretiert, bewertet wird.446

Bei Schäfer wird der Tod der Widerständigen besonders deutlich als Martyrium inszeniert: Zum einen wird hier in diesem Zusammenhang sogar explizit der Begriff »Märtyrer« sowohl von den Widerständigen selbst als auch von ihren Gegenspielern verwendet: SONN: Sag mal, Franz – hast du nicht das Gefühl, daß es Dinge gibt, für die man stirbt – EICHMANN: Na, sag schon: als Märtyrer. SONN: Also – als Märtyrer. EICHMANN: Du hör mal, Mann, komm mir nicht mit solchen Gewissenskisten, mit solchen ganz verdammten Gewissenskisten wie der Heydrich. (V: 23)

Zum anderen kulminiert das Märtyrer-Konzept der Figurengestaltung schließlich in der freiwilligen Selbstenttarnung Sonns in der letzten Szene des Dramas: EICHMANN: Warum sagst du mir das? SONN: Ich glaube, Franz, heute ist der Tag, wo man’s sagen muß. Mit Schweigen und mit Tarnen ist nichts mehr geschafft. Jetzt kann man nur noch schreien. Oder sterben. (V: 103)

Das Opfer des eigenen Lebens erhält um seiner selbst willen einen Wert und ist nicht mehr Folge des widerständigen Handelns. Der Tod wird zum Zeichen, das eine Botschaft an Dritte kodiert: Hängen müßt ihr mich vor allen Leuten, hängen, so hoch es geht. Daß der letzte Bürger in Deutschland sieht: Da hängt einer von den Henkern dabei. (V: 105)447 446 A. Assmann 2007: 37. Zum Begriff des religiösen Zeugen respektive Märtyrers vgl. auch Brunner 2012: 95f. 447 Als Motiv für seinen Widerstand führt Sonn vorher auf die entsprechende Frage Eichmanns die Vernichtung der Juden an: »Seit ich in Auschwitz war. Vor einem Jahr. Am Sonnabend, den 15. Mai. Da sah ich einen Haufen zum Schlachthaus gehen. Männer, Weiber, Kinder. Alle nackt. Ich hab seither nicht mehr schlafen können« (V: 104). Damit ist in dieser Hinsicht das Schäfer-Drama einer Entwicklung voraus, die Jan Eckel mit Blick auf einige historiographische Arbeiten der 1960er Jahre konstatiert: »Ein Wandel innerhalb des dominierenden moralischen Interpretationsansatzes zeichnete sich in einigen Widerstandsarbeiten der sechziger Jahre insofern ab, als nun zunehmend die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, insbesondere die Judenmorde, als ein wesentlicher Gegenstand der ›sittlichen Empörung‹ herausgestellt wurden, die die Widerständler angetrieben habe« (Eckel 2003: 162). Entsprechend dient auch in den literarischen Texten der 1960er Jahre der Hinweis auf den Widerstand als Beweis für ein ›anderes Deutschland‹ (vgl. exemplarisch AdO: 62 und 115) nicht mehr nur der Zurückweisung von Kollektivschuldvorwürfen, sondern zunehmend einer dezidierten Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, wie im Folgenden bei der Stauffenberg-Figur in Hans Hellmut Kirsts Roman »Aufstand der Soldaten« (1965): »Stauffenberg beugte sich vor. ›Bis dahin können sich die Verluste an Menschenleben verdoppeln. Deutschland kann bis zur Unkenntlichkeit

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

In dem Drama ist nicht der Widerstand an sich zentral, sondern die Bedeutung der Figuren und ihres Handelns liegt gerade in ihrer Wirkung als Märtyrer, in der die eigentliche Bedrohung für die NS-Herrschaft gesehen wird: »HAUFF: […] Dann weiß ich, Herr Eichmann, wir werden bald stärker sein, als wenn wir noch lebten« (V: 98). Entsprechend ist die Darstellung insbesondere der Selbstauslieferung Dr. Sonns weniger als eine gewisse »Stilisierung in die Opferrolle, obwohl letzteres nicht in das dramatische Konzept des Doktors paßt«448, einzuordnen, sondern als Etablierung einer Deutungshoheit der Widerständigen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die aggressive Gegenwehr Eichmanns, dem das Lachen, entgegen seiner Behauptung, im Verlauf der Handlung längst abhanden gekommen ist. Seine abwertende Aussage wirkt wie der verzweifelte Versuch, die Macht des Märtyrertums, also die Macht des Zeichens, einzudämmen: Glotzt nicht so bedeutend, verdammt nochmal. Wie die Märtyrer aus dem Kalender. Nehmt euch nicht so wichtig. Wir tun’s auch nicht. Wir lachen bloß über euren noblen Verein. (V: 99)449 zerstört werden. Und die Verbrennungsöfen rauchen weiter – Tag und Nacht.‹ / ›Du bist überzeugt davon, daß der Beweis erbracht werden muß: Es existiert noch ein anderes Deutschland – als das dieser Mordvereine.‹ / ›Die Welt muß wissen: wir haben es gewagt‹« (AdS: 8; vgl. ähnlich auch AdS: 33). Auch in anderen in diesem Zeitraum veröffentlichten Texten wird nun vermehrt eine Beendigung der NS-Verbrechen, vor allem des Massenmordes an den europäischen Juden, als Motiv für den Widerstand angeführt. So konstatiert der widerständige Generalmajor Kahlenberge in Kirsts Roman »Die Nacht der Generale«: »›[…] Wenn wir nicht bald was dagegen unternehmen, werden wir als Handlanger von Mördern in die Geschichte eingehen‹« (NdG: 37); Ludwig Beck führt in Weisenborns »Walküre 44« die Wannseekonferenz und sog. »Endlösung« als Argument zum Widerstand an (vgl. W: 7) und in »Aufstand der Offiziere« argumentiert Beck wie folgt für den Einsatz des eigenen Lebens im Widerstand: »FROMM: […] Sie sollten Ihre persönliche Situation durchdenken. / BECK: Die ist mir gleichgültig geworden. Mir geht es nur noch um unsere Armee, die für mich immer Deutschland gewesen ist. Aber Offiziere und Generale sind zu Handlangern von Massenmördern geworden. Wissend! Sie wissen um die vielfachen Verstöße gegen die Menschenrechte, die Vertreibung ganzer Volksstämme und die Sklaventransporte der Fremdarbeiter. Sie wissen auch um die brutale Gewaltjustiz, die beste deutsche Menschen ausgerottet hat. / FROMM: Sie haben keinen Sinn für die Realitäten eines totalen Krieges. Sie haben nicht erkannt, was Weltkommunismus bedeutet. / BECK (sehr leise): Und die Millionen zu Tode gequälter Juden?« (AdO: 117f.). Wie auch Jan Eckel vermutet, dürfte dieser Wandel vor allem auf die intensive Berichterstattung über die großen Strafverfahren Ende der 1950er beziehungsweise Anfang der 1960er Jahre – den Ulmer Einsatzgruppenprozess sowie den Jerusalemer Eichmann- und den Frankfurter Auschwitzprozess – zurückzuführen sein (vgl. auch Eckel 2003: 163). 448 Wagner 2006: 158. 449 Die Aussage »Glotzt nicht so bedeutend« evoziert bei einem mit der Theaterpraxis und -theorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertrauten Leser fast unwillkürlich eine Nähe zu Brechts bekannt gewordener Aufforderung »Glotzt nicht so romantisch«. Ein intendierter intertextueller Verweis Schäfers auf das Brecht-Diktum aus der 1922 erfolgten Uraufführung des Dramas »Trommeln in der Nacht« ist aber deswegen unwahrscheinlich,

Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

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Auch die Protagonisten bei Weisenborn nehmen ihren Tod in Kauf, um für ihre Überzeugungen einzustehen. Während im Fall Bulles dessen Tochter Marie zur sekundären Zeugin avanciert, der er die Tradierung seines testamentarischen Zeugnisses auferlegt, wird Lill zur Zeugin der Selbstopferung Walters. Allerdings wird eine entsprechende Tradierungsaktivität Lills nicht mehr thematisiert. Wichtiger erscheint daher in diesem Zusammenhang der letzte Funkaufruf Walters: Dieser fordert nicht nur die deutsche Jugend zum Umdenken angesichts des nahenden Zusammenbruchs auf, sondern mit der Nennung der Namen von getöteten Widerständigen dient er dem Gedenken an diese und macht sich damit zum Verkünder des Martyriums der Widerständigen, bevor er selbst getötet wird: In derselben fast aussichtslosen Lage befanden sich jene jungen Menschen, die sich damals gegen die Gewalt erhoben, heldenhafte Männer und Frauen in Berlin. (Finsternis) Bewege ihr Bild in deinem Herzen und gehe ihren großen Weg. Und wenn du verzweifeln willst, flüstere ihre geheiligten Namen. Und ihre Namen sind: Harro Schulze-Boysen, Walter Husemann, Kurt Schumacher, Elisabeth Schumacher, Walter Küchenmeister. Es gab viele Helden auf allen Fronten dieses Krieges, aber die bitterste Front war die Schafottfront, und hier fielen die Helden in bleichen, schweigenden Kolonnen, die dir den Weg gewiesen haben, den Weg in die Menschlichkeit. (I: 282)

Sein sekundäres Bezeugen richtet sich allerdings nicht nur intradiegetisch an die Jugend, sondern sein Aufruf wird auch in diesem Zusammenhang wieder als Teil einer extradiegetischen Kommunikationssituation erkennbar, als deren Adressat Leser/innen respektive Zuschauer/innen im Nachkriegsdeutschland erscheinen. Ein Beleg dafür ist in erster Linie die unvermittelte Nennung von Namen historisch bezeugter Widerständiger, die in der dargestellten Geschichte bislang keine Rolle gespielt haben. Als unerwartet auftretende »immigrant objects«, also als »aus der Realität übernommene Objekte«450, die in ein ansonsten historisch höchst unkonkretes fiktives Geschehen relativ unvermittelt integriert sind, stellen sie plötzlich für mögliche zeitgenössischen Leser/innen oder Zuschauer/innen sehr konkrete Bezüge zu deren Realität her.451 Darüber hinaus weil der Dramentext – wie auch Karl Prümm plausibel erläutert (vgl. Prümm 1977: 56) – insgesamt darauf abzielt, die kritisch gemeinten Äußerungen Eichmanns in positive Wertungen und eine Heroisierung der Widerständigen umzudeuten. Das Brecht-Zitat zielt dagegen gerade auf eine Entheroisierung dramatischer Figuren und dramatischen Geschehens. 450 Zipfel 2001: 98. 451 In den im Ostberliner Aufbau-Verlag 1946 und 1947 publizierten Ausgaben wird dieser

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

sind es bei Walter nicht nur Zweifel an der Anerkennung des Widerstands bei der gegenwärtigen Bevölkerung des ›Dritten Reichs‹, die ihn zum Tradieren von Erinnerungen an den Tod der Kameraden treiben, sondern er antizipiert skeptisch eine Zukunft nach dem Krieg, in der dem Widerstand, seinen Trägern und den durch sie repräsentierten Werten ein angemessenes Gedenken verwehrt bleibe. Seine entsprechenden Vorausdeutungen aus Figurenperspektive lassen sich unschwer nicht nur als intradiegetisch gültige Kritik an der NS-Gesellschaft, sondern auch als Mahnung des Dramas an seine potenziellen Leser/innen oder Zuschauer/innen interpretieren. WALTER: Das ist viel, das ist ungeheuer viel! Eine junge Frau gibt ihre Jugend, ihre Liebe für irgendeine neue Zeit… für alle Menschen. […] WALTER: Und wenn die neue Zeit kommt, sitzen die Menschen breit auf dem Sofa am Kaffeetisch, schimpfen über die Bürgermeister, spielen Skat, machen ihre Einkäufe, hocken im Büro, bummeln ins Kino… und wissen nichts von solch einer jungen, herrlichen Frau. […] WALTER: Ja, sie kümmern sich einfach nicht um die Menschen, die jahrelang ihr Leben und ihre junge Liebe ihnen geopfert haben, ihre Schönheit, ihre Tatkraft, ihren Heldenmut. Und diese Menschen werden tot sein, wenn die Zeit gekommen ist, oder häßlich, früh gealtert, ohne Zähne, krank mit unappetitlichen Leiden und müde… so werden sie durch die neue Zeit schleichen und etwas verlegen lächeln, wenn sie von den Stärkeren zurückgestoßen werden. Ja, sie haben sich geopfert. Die Welt liebt Opfer, aber die Welt vergißt sie. Die Zukunft ist vergeßlich. (I: 249f.)

Das Drama erscheint so selbst als sekundäres Zeugnis› indem es den Opfertod Deutscher, die während des ›Dritten Reichs‹ solche Werte verkörpert hätten, an die die Gesellschaft nach dem Krieg anknüpfen solle, ›bezeugt‹. Als Adressaten dieses Zeugnisses erscheinen bei Weisenborn »alle Menschen« respektive »die Welt«, nicht nur Deutsche. Der Tod der Widerständigen wird dabei weniger als Folge von widerständigem Handeln und Verfolgung erkennbar, sondern als notwendige Voraussetzung für »irgendeine neue Zeit«, für einen moralischen Wiederaufbau (vgl. auch I: 248f.). Ähnliches gilt für den Ansprache-Monolog der »Stimme« alias Stauffenberg im Schäfer-Drama: Ich habe noch auf zwei Fragen Antwort zu geben, die mir aus Ihrem Kreis gestellt worden sind: Ob es nicht jetzt zu spät ist, um zu handeln. Und: Ob die äußerste Gewalt bejaht werden darf. – Ich weiß so gut wie Sie, daß der Erfolg unseres Handelns nur noch Eindruck noch dadurch verstärkt, dass die Widerständigen in Walters Ansprache als Teil einer »Schafottfront« bezeichnet werden und damit ein Begriff aufgenommen wird, der auch in der nur diesen Ausgaben vorangestellten Widmung »…niedergeschrieben als Denkmal der Schafottfront« (I: 196) verwendet wird. Dazu Niefanger : »Durch das Zusammenspiel der Helden-Widmung mit der Integration der historischen Namen in die sonst rein fiktionale Namensgebung der Figuren will das Stück seinem Anspruch, »Denkmal« des anderen Deutschland zwischen 1933 und 1945 zu sein, gerecht werden.« (Niefanger 1997: 57).

Das Märtyrer-Narrativ als Legitimation des nationalen Wiederaufbaus

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gering sein wird. […] Wenn ich heute trotzdem Ja zum Handeln sage, so ist es nur um unseres Gewissens willen. Man soll nicht sagen, daß die sauberen Männer, die seit 33 tapfer und aufrecht dem Verbrechen widerstanden haben, nur planen und reden, aber nicht handeln konnten. Um dieser Männer willen müssen wir handeln. Und dafür, daß ein Deutscher wieder einmal einem Fremden offen ins Auge schauen kann. Und dafür, daß der Geist, für den wir leben, reingewaschen wird von Lüge und Blut. Dafür müssen wir handeln. Und sterben, wenn’s sein muß.« (V: 93f.)

Das literarische Tradieren des Martyriums der deutschen Widerständigen erscheint so als Versuch, die Fortexistenz des und der Deutschen trotz des staatlichen Zusammenbruchs und angesichts von »Verbrechen«, die in den Augen von »einem Fremden« für einen Deutschen beschämend seien, gegenüber den Besatzungsmächten zu legitimieren. Gerade in dieser Konzeption der Widerständigen als Märtyrer, aber auch als Kämpfende in der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zeigt sich einmal mehr die Ähnlichkeit der literarischen Repräsentationen des Widerstands mit denen nicht-literarischer Widerstandsdiskurse, denen Jan Eckel ähnliche heilsgeschichtliche Narrationsstrukturen attestiert: Der hochmoralisch aufgeladene Widerstandsdiskurs vollzog sich schließlich auch über religiöse Verstehensformen, die den Erörterungen eine weitere Bedeutungsschicht gaben und die anzeigen, daß sich manifeste Heilserwartungen an das historische Geschehen knüpften. […] Der Gedanke, daß das stellvertretende Martyrium und Opfer der hingerichteten Verschwörer eine historische Selbstreinigung bewirken könne, fand sich, durchaus mit Anklängen an das christliche Evangelium, in einer ganzen Reihe von Texten.452

Dass der Tod der Widerständigen in den beiden Dramen nicht nur als höchstund letztmögliche Form von Bekenntnis zu einem ›anderen Deutschland‹, sondern zudem partiell – wie beispielsweise im obigen Zitat aus »Die Verschwörung« – als eine Art Sühneopfer erscheint, verstärkt diesen Eindruck. So endet auch das Weisenborn-Drama nach der Erschießung Walters mit dem verzweifelten Ausruf Lills: »Ja, das ist wahr… das ist wahr!«, mit dem sie in Umdeutung eines vorgängigen Kommentars ihrer Vermieterin bestätigt, dass Walter »bezahlt« hat. »Bezahlt hat er jedenfalls« (I: 284) aus ihrer Perspektive nicht nur die Miete; ihr Ausspruch bleibt an dieser Stelle mindestens für Leser/innen respektive Zuschauer/innen mehrdeutig.453 452 Eckel 2003: 161f. 453 Der literarische Text als »Zeugnis« des Widerstehens – besonders deutlich zeigt sich diese Vorstellung noch in einem ansonsten ganz anderen Werk: der 1954 publizierten Erzählung »Das Brandopfer« von Albrecht Goes. Dieser Text, der im Unterschied zu den beiden Dramen von Weisenborn und Schäfer tendenziell weniger die Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft betreibt, als vielmehr deren Infragestellung durch den vereinzelten Widerstand, das »Brandopfer« einer Metzgersfrau, setzt prologartig mit folgenden Worten ein:

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3.4

Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

»Eine recht gemischte Gesellschaft«? – Widerstand als integratives Gemeinschaftsprojekt und dessen Grenzen

Historiker – und Politiker – entdeckten schnell den deutschen Widerstand als Integrationsmoment, Legitimationschance und Basis zur Konsensfähigkeit unterschiedlicher Gruppen.454

So beschreibt Regina Holler mit Blick auf den Zeitraum 1945 bis 1954 die frühe Funktionalisierung des Widerstandsgedenkens, das neben Antikommunismus, Verdrängung der NS-Verbrechen und steigender wirtschaftlicher Prosperität der moralischen Stabilisierung der jungen Bundesrepublik dienen sollte.455 Der Bezug auf den Widerstand nach 1945, das öffentliche Sprechen über ein ›anderes Deutschland‹, kann also nicht nur als Versuch einer außenpolitisch gewendeten diskursiven Rehabilitierung der Nation und eines deutschen Nationalstaates gedeutet werden, sondern auch als Beitrag zu einem ›inneren‹ Wiederaufbau in Anbetracht des »fundamentalen bewußtseinsgeschichtlichen Bruch[s]«456, der der Kriegsniederlage, dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates und der Desavouierung seiner Ideologie folgte. Eine nationale Rehabilitierung bedurfte nicht nur der außenpolitischen Anerkennung, sondern auch der Integration verschiedener politisch-sozialer Gruppierungen zu einer stabilen national organisierten Gesellschaft. Neben der diskursiven Rehabilitierung der Widerständigen als wahre Patrioten und einer entsprechenden Entnationalisierung des Nationalsozialismus (vgl. Kap. 3.2) zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Widerstand in den ersten Nachkriegsjahren entsprechend die Tendenz, einen breiten gesellschaftlichen Konsens der Ablehnung des Nationalsozialismus zum Ausdruck zu bringen. So etablierte sich in den ersten intellektuellen Widerstandsdeutungen der frühen Nachkriegsjahre zunächst das »Geschehenes beschwören: aber zu welchem Ende? Nicht, damit der Haß dauere. Nur ein Zeichen gilt es aufzurichten im Gehorsam gegen das Zeichen des Ewigen, das lautet: ›Bis hierher und nicht weiter.‹ Ein Gedenkzeichen, geschrieben – wohin und für wen? Ach, in die Luft schreibt, wer ihrer gedenkt, ihrer, deren irdisches Teil vergangen ist, Staub und Asche im Wind. Man hat vergessen. Und es muß ja auch vergessen werden, denn wie könnte leben, wer nicht vergessen kann? Aber zuweilen muß einer da sein, der gedenkt. Denn hier ist mehr als Asche im Wind. Eine Flamme ist da. Die Welt würde erfrieren, wenn diese Flamme nicht wäre« (DB: 7). Der Erzähler beendet schließlich seinen Bericht über das Wirken der Metzgersfrau, Frau Walker, indem er genau die Frage nach dem Wert ihres Opfers im Kontext einer möglichen Kollektivschuld stellt: »Die Frage: ob da einer ist, der die furchtbare Schuld der Zeit aufrechnen könnte gegen das wilde Opfer einer Metzgersfrau, gegen diese Bereitschaft, die in den feurigen Ofen kriecht? […] In dem Brandmal freilich auf dem Gesicht der Frau soll es aufgerichtet bleiben, das Zeichen, und anders nicht zu lesen als ein Zeichen der Liebe, jener Liebe, welche die Welt erhält – –« (DB: 74). 454 Holler 1994: 65, in Anlehnung an Martin Broszat. 455 Vgl. Holler 1994: 64f. 456 Fischer 1986: 35.

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»Bild einer immens ausgedehnten, alle Gesellschaftsschichten und politischen Lager umfassenden Widerstandsbewegung«457, welches auch in den literarischen Widerstandsdarstellungen Weisenborns und Schäfers zu beobachten ist. Gleichwohl verweist die Gestaltung und Interaktion der in den beiden Dramen auftretenden widerständigen Figuren darauf, dass die Proklamationen eines breiten Widerstands, der auf einer gleichberechtigten Beteiligung verschiedener politisch-sozialer Gruppen basiert, zwar als zeitgemäßer ideologischer Imperativ gelten kann, aber längst nicht als Verinnerlichung demokratischer Prinzipien erscheint (vgl. Kap. 3.4.1). Darüber hinaus zeigen sich in beiden Dramen durchaus auch Grenzen einer möglichen gesamtgesellschaftlichen Rehabilitierung: Sie resultieren aus der Herausforderung, nationalsozialistische (»Die Verschwörung«) oder zumindest nicht-widerständige Figuren (»Die Illegalen«) auf die Bühne zu stellen, was zwangsläufig zu deren konkreterer Charakterisierung und somit zur Etablierung auch politisch-sozialer Zuschreibungen führt. In diesem Zusammenhang werden vor allem die Auseinandersetzung der Dramen mit dem Bildungsbürgerlichen (»Die Verschwörung«) und dem Kleinbürgerlichen (»Die Illegalen«) relevant, die auf die Etablierung von Binnengrenzen innerhalb einer literarisch antizipierten Nachkriegsgesellschaft zielen (vgl. Kap. 3.4.2). Diese Binnendifferenzierungen führen nicht zuletzt zu einer stärkeren politisch-sozialen Konturierung der Gemeinschaft der Widerständigen. An deren Vorbildcharakter lassen die Werke keinen Zweifel, im Weisenborn-Drama wird er sogar mittels des Lehrer-Schüler-Narrativs, das die Beziehung zwischen Widerständigen und breiter Bevölkerung modelliert, expliziert (Kap. 3.4.3).

457 Eckel 2003: 154. Daneben zeigte sich zunächst auch eine organisatorische Zusammenarbeit verschiedener politisch-sozialer Gruppen beim Gedenken an den Widerstand sowie bei der Unterstützung ehemaliger Verfolgter. Allerdings beobachtet Regina Holler einen entscheidenden Wandel Ende der 1940er Jahre, den sie an Hand des Entstehens verschiedener Vereinigungen ehemaliger Widerstandskämpfer belegt: In der frühsten Nachkriegszeit sei zwar von einem Zusammenhalt verschiedener Widerstandsgruppen auszugehen; dieser habe sich aber, insbesondere vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, zunehmend in politische Lager aufgespalten (vgl. Holler 1994: 66ff.). Vgl. dazu ähnlich auch Danyel 1994, der an Hand dreier früher »Versuche der Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Widerstands« (612) – erstens der Entwicklung der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) und deren 1948 veranstalteten Ausstellung »Das andere Deutschland«, zweitens der Sammlung biographischer Darstellungen von Widerständigen, die Ricarda Huch unter dem Titel »Für die Märtyrer der Freiheit« plante, und drittens der Arbeit der 1948 in Hannover gegründeten Forschungsgemeinschaft des »Anderen Deutschlands« – eine ähnliche Entwicklung skizziert.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

3.4.1 Proklamation versus Figuration: Widersprüchliche Entwürfe politisch-sozialer Heterogenität des Widerstands Proklamationen gesellschaftlicher Breite des Widerstands Auch wenn die beiden Dramentexte verschiedene Arten von Widerstand darstellen – bei Schäfer die Ereignisse um das Attentat vom 20. Juli 1944, das in der Widerstandsforschung oft als Höhepunkt der Militäropposition gewertet wird,458 bei Weisenborn Widerstand, der vor allem in Kleingruppen organisiert ist, wie es seit Mitte der 1930er Jahre eher für den Widerstand kommunistischer oder sozialdemokratischer Gruppierungen typisch war459 –, ist beiden Texten gemeinsam, dass zentrale Figuren einen soziale und politische Grenzen überschreitenden Konsens der Widerstandsträger proklamieren. WALTER: Wer sind die Menschen? Welche Art, welche Partei? LILL: Es gibt nur noch eine einzige Partei, die heißt: Freiheit! Etwas anderes interessiert uns nicht mehr. WALTER: Sind da Sozis und Kommune mit dabei? LILL: Ja. Sie kennen keinen Unterschied, wie im KZ. WALTER: Und das Zentrum? Und Demokraten? LILL: Sind auch dabei. Nach der Partei wird nicht gefragt. Es wird nur gefragt: Ist der Mann gut? (I: 223)

Diese Dialogsequenz entstammt einem Gespräch im ersten Akt des WeisenbornDramas, in dem Lill vorsichtig versucht, Walter für ihre Widerstandsarbeit zu gewinnen, woraufhin Walter Genaueres über ihre Widerstandszelle erfahren will. Auch in dem Verhör Bulles im Gestapo-Hauptquartier wird in den »Illegalen« die Einheit der Widerständigen trotz parteipolitischer Diversität betont (vgl. I: 255f.). Ähnliches beschreibt der SS-Mann Eichmann im Schäfer-Drama: Da, schau dir mal den Kreis von Viersen an. Da ist irgendwas los. Da hocken Sozis und Konservative verdammt verdächtig in einem Nest beisammen. Und da lies den Bericht der Leitstelle 7. Feststellung, daß seit April entgegen früherer Gewohnheit dauernd Offiziere in Viersen verkehren. Besonders viele vom Generalstab dabei. (V: 30)

Daneben artikuliert Eichmanns folgende Beschreibung des Viersener Kreises, der in dem Drama als Hort des Widerstands vom 20. Juli 1944 dargestellt wird, die unterschiedliche soziale Positionierung der Figuren in der Gesellschaft: EICHMANN: Ist es Ihnen nicht aufgefallen, Frau Hauff, daß das eine recht gemischte Gesellschaft war? Konservative Barone, Arbeiterführer, Schriftsteller, Rechtsanwälte, Diplomaten, Geistliche von beiden Konfessionen, – recht gemischt. (V: 47) 458 Vgl. beispielsweise Steinbach/Tuchel (Hg.) 2004. 459 Vgl. Ueberschär 2006: 15ff.

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Die Tendenz, den Widerstand in der Figurenrede als politische und soziale Differenzen übersteigenden Konsens zu beschreiben, kulminiert am Schluss der Verhörszenen im Schäfer-Drama in der Vorstellung von einem beinahe messianischen Stauffenberg als Vereiniger und Führer einer europäischen Arbeiterschaft. Die vom Arbeiter Siffke mit den anderen Angehörigen des Viersener Kreises geteilte Vision eines Kollektivs europäischer »Kumpel« unter Führung des adeligen Stauffenberg, die Paul Rilla nicht ganz zu unrecht als einen »schlechte[n] Witz auf die proletarische Front des Widerstands«460 bezeichnet,461 verweist einerseits auf öffentliche Diskussionen über eine mögliche »sogenannte »Ostorientierung« Stauffenbergs und einiger anderer Verschwörer»462, die Regina Holler insbesondere für die ersten zehn Nachkriegsjahre konstatiert. Andererseits treibt sie vor allem die Behauptungen einer breiten politischen Kooperation auf die Spitze, indem sie vermeintliche politische Gegensätze in einer Figur – dem adeligen Arbeiterführer Stauffenberg – zusammenführt: SIFFKE: […] Und wenn die dann marschieren – mit den Armeen – die andern, die draußen, und wollen besetzen – dann hätte er sie aus den Fabriken geholt – die Kumpels alle – die aus den anderen Ländern, 11 Millionen, und unsere Kumpels dazu. – Eine Front – kapierst du – eine Front, wie’s im Manifest steht, vereinigt euch. Und da hätt’ er auf die Kumpels gezeigt und gesagt, der Stauffenberg, seht her, das ist jetzt Europa. In einem Topf. Das kocht. Und das wächst. Und wenn es auch ernst damit ist, dann laßt’s wachsen. – Ob’s nun so ist, wie der Stauffenberg meint oder was anderes. Mein Gott, wer kann das wissen. Aber daß was kommen muß, was Neues – zum Teufel, das spürt doch ein Steinklotz. EICHMANN: Jedenfalls ein schönes Märchen – Siffke. Für einen solchen Idioten wie dich. HAAG: Nein, Herr Eichmann. Das ist kein Märchen. Das waren die letzten Gedanken von Stauffenberg. (V: 100f.)

Die Darstellung der Widerstandsträger als »recht gemischte Gesellschaft« erscheint so vordergründig als ein zentrales Anliegen beider Dramentexte, werden doch die entsprechenden Behauptungen sowohl von Widerständigen selbst als auch von den Verfolgern artikuliert und nirgends explizit in Zweifel gezogen. Damit erweisen sich die beiden Dramen als anschlussfähig an das »Bild einer immens ausgedehnten, alle Gesellschaftsschichten und politischen Lager um460 Rilla 1950: 30. 461 Abgesehen von diesem Urteil ist die Abhandlung Rillas, die er unter der Kapitelüberschrift »Der Mythos des 20. Juli« anbietet, nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kaum ernst zu nehmen, handelt es sich doch um eine primär politische, stark polemisierende Aburteilung des historischen Widerstands vom 20. Juli 1944, den Rilla als »blutig dilettantisch, wie jede reaktionäre Revolte verläuft, wie der Hitlerismus selber verlief« (Rilla 1950: 32) diffamiert. 462 Holler 1994: 80.

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fassenden Widerstandsbewegung«463, das nach Jan Eckel auch die frühe historiographische Darstellung des Widerstands in ihrer exkulpatorischen Funktion kennzeichnet.464 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Dramen ein gleichberechtigtes, demokratisches Nebeneinander verschiedener sozialer Gruppen oder politischer Positionen ins Bild setzen würden; bereits die Vision Siffkes von Stauffenberg als uneingeschränktem Anführer verdeutlicht dies. Statt dessen weisen sie eine Diskrepanz auf zwischen der einerseits behaupteten gleichberechtigten Partizipation verschiedener politisch-sozialer Gruppen am Widerstand und der andererseits dargestellten politisch-sozialen Homogenität der konkret auftretenden widerständigen Figuren (Weisenborn) oder der wertenden Hierarchisierung der durch die beteiligten Figuren repräsentierten sozialen Großgruppen (Schäfer). Eine Auseinandersetzung mit konkreten politisch-sozialen Differenzen, die schließlich im Geiste des gemeinsamen Widerstands gleichberechtigt in eine Gemeinschaft integriert werden, findet – wie die folgenden Ausführungen zeigen – nicht statt. Figurale Harmonisierungen: Die »Illegalen« als politisch-sozial homogenes Figurenensemble So wird im Weisenborn-Drama auf der Ebene der Figurendarstellung die von Lill erwähnte Vielfalt der politischen Orientierungen nicht sichtbar, sondern die Widerständigen erscheinen als sozial und politisch homogene Gruppe. Die zentralen Figuren – insbesondere Lill und Walter – entstammen dem ArbeiterMilieu: Lill arbeitet als Serviermädchen, Walter ist der Sohn eines Tischlers. Beide Figuren werden zudem in einer Tradition politischer Kämpfe und linker Positionen verortet: Walters Widerstandstätigkeit wird als in der Nachfolge seines Vaters stehend inszeniert, der als streikender Arbeiter politischer Verfolgung zum Opfer gefallen ist: MANNA: Eure ganze Weltverbesserung ist ein ganz gottverdammter Unsinn! Diese Welt hier läßt sich nicht verbessern! Mein erster Mann wollte sie auch verbessern! Darauf haben sie ihn beim Hamburger Streik ins Fleet geschmissen… (I: 217) MANNA: Ich bin ihm auf der Spur, der Junge ist auf einem bösen Weg, das läßt mir keine Ruhe… Die Politik holt mir den Jungen, wie sie seinen Vater geholt hat. (I: 237)

Lill kann man eine marxistisch orientierte, materialistische Weltanschauung attestieren: LILL: Ist nicht alles politisch auf der Welt? WALTER: Wie meinen Sie das? 463 Eckel 2003: 154. 464 Vgl. Eckel 2003: 156.

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LILL: Nun, wenn jemand ein Butterbrot ißt, so ist das doch sicher eine politische Handlung. Er verzehrt Roggen und Butter, das hat mit der Landarbeit zu tun, mit der Mühlenindustrie, mit Transportfragen, Preis und Lohn. WALTER: Sieh einer an. Lange Haare und kein dummer Kopf. (I: 216)

Walters abschließende anerkennende Worte legen nahe, dass er ähnliche Auffassungen vertritt. So wird Wolfgang Brekles Feststellung, dass Weisenborns dramatis personae »Helden, meist Arbeiter[ ], die politisch und weltanschaulich nicht gebunden sind«, seien, denen der »Klassenstandpunkt und die politischkonkrete Zielstellung, die über einen allgemeinen Antifaschismus hinausführen«, fehle,465 durch diese Aussage Lills zumindest implizit relativiert. Über die soziale und politische Identität der weiteren beteiligten widerständigen Figuren erfährt der Leser nichts Genaueres, aber ihr Verhalten während der Skatrunde in der Kneipe (vgl. I: 232ff.), die schlichten Decknamen sowie die erwähnten Kontakte des Kuriers Tünn zu »Borsig« in Berlin (vgl. I: 219) lassen die Figuren ebenfalls als Repräsentanten des Arbeitermilieus erscheinen, so dass Ursula Heukenkamps Behauptung, dass alle Figuren aus demselben Milieu stammten,466 zuzustimmen ist. Menschen aus anderen sozialen Großgruppen oder mit einem nicht-materialistischen Weltbild scheinen in diesem Drama als Widerstandsträger nicht darstellbar. Außerdem treten, wie bereits das oben zitierte Gespräch zwischen Lill und Walter zeigt, konkrete politische Ziele der verschiedenen Widerstandsträger hinter den Widerstand als Kampf für sehr allgemeine Werte wie Menschlichkeit und Freiheit zurück.467 Unterschiede politischer Positionen werden entsprechend nicht thematisiert, die widerständige Gemeinschaft harmoniert, eine Austragung politischer Konflikte findet nicht statt. Die von Lill proklamierte Beteiligung verschiedener politischer Fraktionen am Widerstand bleibt so bloße Behauptung.

465 Brekle 1985: 127f. 466 Vgl. Heukenkamp 1996: 301. 467 Die Nicht-Thematisierung konkreter politischer Motive, Ziele und Strukturen, die in dem Drama zu beobachten ist, bezeichnet Roswita Schwarz in ihrer Dissertation als typisch für das gesamte Werk Weisenborns und erklärt dies mit dessen »Neigung zum Subjektivismus« (Schwarz 1995: 325; vgl. auch Brekle 1985: 127f.; Hahn 1987: 256; und Prümm 1977: 54). Ihre Schlussfolgerung, dass Weisenborn in der Nachkriegszeit daher weniger »um die Aufarbeitung der Frage der Faschismusgenese und -analyse bemüht [war], sondern […] die Information über individuelles Widerstehen im Dritten Reich ins Zentrum seines Interesses« rückte, ist aber so pauschal für das Drama »Die Illegalen« nicht haltbar, wie die obigen Ausführungen zu den literarischen Erklärungsmodellen für Etablierung und Durchsetzung der NS-Politik in der deutschen Gesellschaft zeigen.

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Figurale Hierarchisierungen: Tradierung politisch-sozial gestufter Gesellschaftsstrukturen Im Gegensatz zu den Homogenisierungs- und Harmonisierungsbestrebungen im Weisenborn-Drama, die mögliche unterschiedliche gesellschaftliche Positionen innerhalb einer widerständigen Gemeinschaft negieren, treten bei Schäfer als Widerstandsträger Figuren auf, die deutlich als zu unterschiedlichen sozialen Großgruppen gehörend imaginiert werden. Sie sind eher als soziale Typen denn als individuelle Charaktere konzipiert: Graf Schwerin repräsentiert den adeligen Großgrundbesitzer, Magda Hauff als Witwe eines promovierten Gesandten des Deutschen Reiches das Bildungsbürgertum. Ergänzt werden die Vertreter des Viersener Kreises durch Major Haag, der sich als ehemaliger »Kandidat der Theologie« (V: 70) vorstellt. Ein weiterer Widerstandsträger ist der bei »Borsig« arbeitende Siffke, der wegen widerständiger Aktivitäten in Haft sitzt und der – wie der auf ihn angesetzte Spitzel Albert Mauck richtig erkennt (vgl. V. 6) – über das geplante Attentat vom 20. Juli 1944 unterrichtet ist. Neben diesen im Drama direkt auftretenden Figuren erscheint vor allem das höhere Militär als Träger des 20. Juli 1944 (vgl. V: 13). Die Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Großgruppen treten allerdings nicht als gleichberechtigt auf, sondern die Art, wie die Figuren miteinander agieren, impliziert eine Hierarchisierung. Der adelige Großgrundbesitzer Schwerin erscheint als Patriarch, der eine Schutzfunktion gegenüber seinen »Freunden« erfüllt. Das patriarchale Gebaren des Grafen wird von den anderen Figuren akzeptiert, die herausgehobene Stellung seiner sozialen Gruppe entsprechend im Drama tradiert: EICHMANN: Kennen Sie diesen Mann? HAUFF: Ich kenne ihn. […] EICHMANN: – – Sein Name? HAUFF: Es ist nicht an mir, ihn zu nennen. SCHWERIN: Nein. Ich glaube, es ist an mir, dem Hausherrn. Denn er ist mein Gast in Viersen gewesen. […] Er hat zu meinen Freunden gesprochen. Ich habe zu verantworten, was er sprach… (V: 95)

Der Eindruck, dass politische Verantwortung und politisches Handeln primär Aufgabe der militärisch-konservativen Eliten, hier insbesondere des Adels, sind, wird verstärkt durch die Exponierung der Figur Stauffenberg, der als von Eichmann gesuchter »Staatsfeind Nummer Eins« (V: 33) unangefochten an der Spitze der dargestellten Verschwörung steht. Stauffenberg erscheint als die zentrale Figur des Widerstands, ohne die der entscheidende Schritt zum Attentat nicht denkbar gewesen wäre: EICHMANN: Und sonst habt ihr keinen gehabt, ihr Helden in der Bendlerstraße? HAAG: Oh doch. Sehr viele.

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EICHMANN: Aber – ? HAAG: Keinen, der so war wie er. EICHMANN: Und Sie? Hat der Gute Sie nicht auch behext? SCHWERIN: Nein. Überzeugt. – Wenn ich an eins glaube, dann ist es das: Man soll niemals erzwingen, was reifen kann. Darum war ich aus dem Grund meines Herzens gegen Rebellion. Und gegen den Mord. Und alle meine Freunde dachten wie ich. Aber dann kam er. Und hat uns überzeugt.« (V: 97)

Stauffenberg ist nicht nur die Figur, die die konservativen Verschwörer von ihrer »Denkschrift aufgejagt« (V: 90) und »aus dem Geschwätz Rebellion gemacht hat« (V: 89), sondern auch der Arbeiter Siffke bedarf seiner Führung: EICHMANN: Ach. Dich hat wohl auch einer beschwatzt, Siffke? SIFFKE: Wen Sie mich schon fragen – Eichmann – mit einem – hab ich gesprochen. EICHMANN: Jetzt sag bloß Stauffenberg, dann haut’s mich hin. SIFFKE: Ja. (V: 99f.)

Die Positionierung des ›roten‹ Siffke in der dargestellten gesellschaftlichen Hierarchie ist insbesondere in den letzten Wortwechseln des abschließenden Verhörs im dritten Akt des Dramas äußerst ambivalent. Einerseits erscheint er als potenzielles Mitglied einer von den Widerständigen geplanten zukünftigen Regierung und somit als den anderen Figuren gleichgestellt (vgl. V: 101). Andererseits wird die Differenz zwischen ihm und der militärisch-konservativen Elite tradiert und Siffke als Fremdkörper in dieser »anständigen Gesellschaft« dargestellt: SIFFKE: Ich bin kein Säugling mehr. Meine Herrn, – ich hab mir schon immer gewünscht, in anständiger Gesellschaft abzukratzen. (V: 102)

Der Arbeiter Siffke selbst stellt in diesem Kommentar die gängigen gesellschaftlichen Hierarchien nicht in Frage, sondern tradiert die sie legitimierenden Wertmodelle, wenn er seinen Kontakt zur militärisch-konservativen Elite als Aufstieg kennzeichnet und positiv bewertet. An anderer Stelle widerspricht er auch Eichmann nicht, als dieser ihm die sozialen und politischen Differenzen zwischen ihm und den Mitgliedern des Viersener Kreises vor Augen führt. Die vorgängigen Behauptungen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als soziale oder politische Grenzen überschreitendem Konsens werden so konterkariert: EICHMANN: Mensch, der hat dich dumm geredet. Ein Graf. Ein Offizier. Ein Versemacher. Einer von der scheißnoblen Sorte. Was glaubst du, was du für den bedeutest, Siffke? Für den Grafen Stauffenberg? SIFFKE: Und was bin ich vielleicht für dich – und für deine Bullen. In der Plötze. Eichmann, he? EICHMANN: Immerhin. Man ist Arbeiterpartei. Für die, die wollen. SIFFKE (lacht)

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EICHMANN: Aber was ihr für eine Regierung von Generalen seid, Mensch, Siffke, das kannst du dir selber an deinen Knöpfen abzählen. SIFFKE: Was weißt du denn, – was wissen denn die da drüben – wie lang die Regierung – wie lang die geblieben wär. (V: 100)

3.4.2 Imaginationen des Bürgerlichen als beschränkte Integrationsangebote Die integrativen Tendenzen der Widerstandsdarstellung bei Schäfer und Weisenborn werden aber nicht nur durch deren figurale Hierarchisierungen (Schäfer) oder Homogenisierungen (Weisenborn) unterlaufen. Vor allem auch die in beiden Texten zu beobachtende Auseinandersetzung mit verschiedenen Facetten von Bürgerlichkeit und Bürgertum evoziert Prozesse von Inklusion und Exklusion. Diese laufen bei Schäfer über die Gegenüberstellung von Bildung versus Unbildung, wenn das Bildungsbürgerliche zum zentralen Differenzkriterium zwischen Nationalsozialismus und Widerstand wird. Bei Weisenborn erlangt in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung von unpolitischer Privatheit versus politischer Aktivität Bedeutung, wie sie sich in dem Drama als eine Kritik am Kleinbürgerlichen artikuliert. Entwürfe geistiger Aristokratie: Bildungsbürgerliche Widerstandskämpfer versus ungebildete NS-Repräsentanten Im Drama Schäfers wird die dichotomische Gegenüberstellung von Widerstand und Nationalsozialismus, die durch die Verhörsituation etabliert und zu einem quasireligiösen Gut-/Böse-Antagonismus zugespitzt wird (vgl. Kap. 3.2), durch die einseitige Zuschreibung bildungsbürgerlicher Attribute verstärkt. Der Unterschied zwischen Widerstandsträgern und NS-Anhängern erscheint primär als einer von Bildung, Geist und Zivilisation. Bereits zu Beginn des ersten Aktes wird zwischen dem Spitzel Mauck und dem Saboteur Dr. Sonn ein Gegensatz aufgebaut, wenn Mauck äußert: Ich mag den Sonn nicht. […] Ich kann dem Doktor seine Augen nicht leiden. Wenn der einen anschaut, da wird mir so – (V: 3)

Während zudem Mauck bereits durch seine grammatikalisch unkorrekten Äußerungen als zu einer bildungsfernen Schicht zugehörig charakterisiert wird, verweist Sonns Doktortitel auf dessen gegensätzlichen Bildungshintergrund. Auch im Vergleich mit Eichmann, dessen Sprachgebrauch durch Beleidigungen, Flüche und die Verwendung von Schimpfwörtern geprägt ist (vgl. V: 13, 15, 81), sticht neben den gediegeneren Umgangsformen (vgl. V: 51f.) Sonns Bildung hervor :

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EICHMANN: […] Schüler von Stefan Schorsch. – Wer ist das: Schorsch? SONN: Stefan George. Dichter. (V: 32)

Gleiches gilt für den Grafen Schwerin, der »die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Gestapo«468 genießt, und auch für die Darstellung Magda Hauffs: EICHMANN: Der Inhalt? HAUFF: Kultur. – Wenn ich Ihnen das klar machen kann. EICHMANN: Ist nicht mein Ressort. (V: 47)

Die Bildungs- beziehungsweise ›Geistesferne‹ der Nationalsozialisten bleibt in dem Drama nicht nur Zuschreibung durch ihre Gegner oder Effekt impliziter Figurencharakterisierung, sondern ist auch Selbstbekenntnis des NS-Repräsentanten Eichmann, wie neben dessen eben zitiertem Ausspruch auch der folgende Auszug zeigt: EICHMANN: Der Geist, in dem Ihr Ding da – wie heißen Sie das? Theoretische Betrachtungen – geschrieben ist, den hassen wir wie die Pest. Das ist der Geist, na – na – SCHWERIN: Eben der G e i s t, Herr Eichmann. (V: 61)

In dem Drama Schäfers verbinden sich in den widerständigen Figuren des Viersener Kreises kulturelle Bildung und politischer Führungsanspruch zu einer Art geistigen Aristokratie; eine Vorstellung, die nicht zuletzt auf Grund der expliziten Erwähnung Stefan Georges, der als eine der wenigen historischen Personen namentlich genannt wird, auch als eine Reminiszenz an Gedankengut aus dem George-Kreis, wie es in den frühen Nachkriegsjahren diskutiert wurde, verstanden werden kann.469 Die in der Figurenrede proklamierte vermeintliche 468 Wagner 2006: 163. 469 Als ein Beispiel sei in diesem Zusammenhang auf Dominik Josts 1949 publizierte Arbeit über »Stefan George und seine Elite« verwiesen, deren zentrale Argumentation Michael Petrow in seiner Dissertation über die Wirkung Georges im sogenannten ›Dritten Reich‹ wie folgt beschreibt: »Einerseits sieht der Autor den George-Kreis als »Reich des Geistes«, das »den Gesetzen des irdischen Wandels entrückt« ist, andererseits hebt er die aktive Komponente unter den Georgeanern, ihr »Ethos der Tat« hervor« (Petrow 1995: 217). Während Petrow die Rezeption Georges nach 1945 als umstritten – schwankend zwischen Faschismusvorwurf und Deutung Georges als einem der führenden Repräsentanten des Humanismus – skizziert (vgl. Petrow 1995: 216), herrschte laut Jürgen Egyptien unmittelbar nach Kriegsende in »der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit […] vorwiegend Schweigen« über den vermeintlich als Wegbereiter des ›Dritten Reiches‹ diskreditierten George (vgl. Egyptien 2012: 1016). Sowohl im hier analysierten Drama Walter Erich Schäfers als auch in den literarischen Darstellungen des 20. Juli 1944 von Karl Michel (vgl. St: 74f.), Walter Löwen (vgl. Sb: 24, 51) und später Hans Hellmut Kirst (vgl. AdO: 29, 114; und AdS: 50) erscheint George allerdings keinesfalls als eine »persona non grata« (Egyptien 2012: 1016). Stattdessen wird durchweg die persönliche und ideelle Nähe Stauffenbergs zu George betont, so dass letzterer hier zu einer positiv besetzten, antinationalsozialistischen Instanz wird. Zu den Beziehungen des historischen Hitler-Attentäters und seiner Brüder zu Stefan George und seinem Kreis vgl. Riedel 2006.

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politisch-soziale Breite des Widerstands, deren Darstellung im öffentlichen Erinnern an den Widerstand nach 1945 möglicherweise eine integrative Funktion zukam, erfährt somit im Drama eine weitere Einschränkung: Bildung erscheint als eine zentrale Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer positiv konnotierten nationalen Gemeinschaft und politisch-sozialen Elite; oder plakativ gesagt: Wer – wie der Nationalsozialist Eichmann – nur des ›Führers‹ Wagner (vgl. V: 71f.), aber nicht Stefan George kennt, gehört nicht dazu. »Widerstand gegen den Widerstand«? Mehrdeutige Positionierungen des Kleinbürgerlichen in einer triadischen Figuren- und Handlungsstruktur Während der Bezug auf bildungsbürgerliche Attribute in »Die Verschwörung« die Grenzziehung zwischen Nationalsozialismus und Widerstand semantisch anreichert und damit verstärkt, erweitert das Drama Weisenborns durch den Bezug auf das Kleinbürgerliche – vor allem durch die Einführung von als kleinbürgerlich inszenierten Figuren – eine mögliche bloß dichotome Gegenüberstellung von widerständigen Protagonisten und NS-Antagonisten zu einer Triade. So stellt Hans-Peter Rüsing in seiner Monographie zu Weisenborns literarischen Widerstandstexten mit Blick auf das Illegalen-Drama zu Recht (in Anlehnung an Mingyi Yuan) die Relevanz der Bilderbogenstruktur des Stücks heraus und konstatiert mehrere Konfliktlinien: Neben der zentralen Auseinandersetzung zwischen Widerständigen und NS-Repräsentanten beobachtet er zweitens eine insbesondere am Beispiel der weiblichen Figuren verhandelte Frage nach der Vereinbarkeit von »politischem Widerstand und privater Liebe«470 und macht drittens auf den »Konflikt zwischen den Widerstandskämpfern und den Vertretern des Kleinbürgertums, die den Widerstand ablehnen und versuchen, sich in die Privatsphäre zu flüchten«471, aufmerksam. Sowohl die Spannung zwischen privaten Emotionen und widerständiger Aktivität als auch die zwischen Widerständigen und Kleinbürgern prägt in der Tat die Dialoge und Handlungen der Dramenfiguren. Allerdings ist eine Unterscheidung dieser Aspekte als zwei verschiedene Konflikte kaum möglich, erscheint doch die Auseinandersetzung zwischen Widerständigen und Kleinbürgern in dem Drama gerade als eine um den Status des Privaten: So diskutieren vor allem Lill und Walter in ihren Gesprächen die Notwendigkeit, zugunsten des Widerstands privates Glück hintenanzustellen (vgl. I: 248–250, 275–280), während das Kleinbürgerliche im Drama besonders durch seine eigennützige Wendung ins Private charakterisiert wird. Zentral ist hierfür vor allem die Figur Manna, die gleich bei ihrem ersten 470 Rüsing 2013: 40. 471 Rüsing 2013: 40.

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Auftritt – gemeinsam mit ihrem Mann die Silberhochzeit feiernd – im Nebentext explizit als Kleinbürgerin etikettiert wird: Durch die Tür ziehen gravitätisch das Silberpaar und die Gäste in drei Paaren herein mit Bratenröcken und der entschlossenen Würde festlich gestimmter Kleinbürger (I: 211).

Manna vermutet richtig, dass es sich bei der Annährung zwischen ihrem Sohn Walter und Lill nicht ausschließlich um einen privaten Flirt handelt, den sie akzeptieren würde (vgl. I: 226), sondern um »[p]olitische Verführung« (I: 217). Sie droht Lill mit Kündigung, wenn diese ihren Sohn nicht in Ruhe lasse. Ihr erster Mann ist wegen politischer Aktivitäten »beim Hamburger Streik ins Fleet geschmissen« worden (I: 217) und sie will ihren Sohn nicht auch durch politische Aktivitäten verlieren, welche sie für privates Unglück verantwortlich macht (vgl. I: 218). Die Figur verkörpert keineswegs das Nationalsozialistische im Drama, sondern steht hier repräsentativ für einen unpolitischen Teil der Bevölkerung, der den Rückzug ins Private als Überlebensstrategie propagiert. Ihr »Lied vom Geschrei« wirkt wie eine generelle Kritik am politischen Streit, den sie als Bedrohung ihres privaten Friedens empfindet: Ich liebe kein Geschrei, was kann man machen? Sie haben rote Köpfe vor Geschrei, sie kümmern sich um aller Leute Sachen, sie schrein sich heiß, warum ist einerlei. In Lust und Tod und bei der Freierei Bleib ich dabei: ich liebe kein Geschrei! (I: 227)

Mit dieser Einstellung ist sie nicht allein, sondern die »Privatsphäre erscheint als das bevorzugte Betätigungsfeld der Kleinbürger«472 generell, wie Rüsing am Beispiel der Kneipen- und Feierszenen des ersten Aktes herausstellt: Der Kneipenwirt Weihnacht, Mannas Mann, verkündet, dass das Paar sich entschieden habe, »so wenig Freunde einzuladen, daß wir unter eine Lampe passen«, da »unsere Silberhochzeit in dieses beispiellose Zeitalter fällt« (I: 211). Auch Walter betont in seinen Laudationes auf das »Silberpaar« deren privates Wirken in Wirtschaft, Haus und Garten (vgl. I: 212f.). Die auch von Rüsing beschriebenen deutlichen Bibel-Anspielungen in Walters Reden473 können in diesem Zusammenhang bereits als ironischer Kommentar dieses ausschließlich privaten Wirkens seiner Eltern gedeutet werden. Vollends parodistisch geraten schließlich die Szenen um die Figuren Sargnägelchen und Erna, die – sich betrinkend und unterhaltend – die Einäscherung von Sargnägelchens gerade im Bombenkrieg verstorbener Frau Anna verpassen. Die vier Szenen, in denen die 472 Rüsing 2013: 53. 473 Vgl. dazu Rüsing 2013: 53ff.

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beiden Figuren auftreten (I.7, I.11, I.14, I.15), sind bloß episodisch und nicht weiter mit der Haupthandlung verknüpft. Sie dienen ausschließlich der Überzeichnung solcher Eigenschaften, die im Drama als kleinbürgerlich gelten und kritisiert werden, und zeigen die von Karl Prümm konstatierte »typisierte Zeichnung des spießigen Kleinbürgertums mit grotesken Effekten«, die »stark an Brechts frühe Stücke«474 erinnere: ERNA: Wo soll ich nun mit dem Kranz hin? SARGNÄGELCHEN: Wo wir jetzt hingehn, Erna, brauchen wir keinen Kranz. ERNA: Was hast du vor mit mir? SAGNÄGELCHEN: Du bist mein Sündenröselein, und ich will dich begießen, trink. ERNA: Du bist schlimm, aber du bis uk. gestellt. (I: 228)

Es sind vor allem die Beschränkung auf den eigenen privaten Lustgewinn und der Fokus auf eigenen ökonomischen Profit, die das Kleinbürgerliche im Drama als Rückzug ins Private kennzeichnen und eine Grenze zwischen Widerständigen und Kleinbürgern etablieren. Deutlich wird dies nicht nur in Lills Auseinandersetzung mit Manna und in der Erna/Sargnägelchen-Episode, sondern auch im Verhalten der Vermieterin von Lill, Frau Fisch, die – mit ihrem neuen Regenschirm ›kämpfend‹ – als naive Profiteurin des Krieges erscheint: FRAU FISCH: Wat? Wir sind in der Klemme? Mit’n Krieg? LILL: Ja, es sieht doch so aus. FRAU FISCH: Pah, kann ja nicht! Kann ja jarnich schief jehn! Auf uns können die sich verlassen, drüben in de Wilhelmstraße. Wir ham doch een prima Leben! Bloß det der Schirm nich zujeht, det ärgert ma. Jetzt ha’ck en ooch noch vabojen! […] Geh zum Teufel. Pariser Tinneff, vadammter! (sie haut den Schirm kaputt, daß die Fetzen fliegen) (I: 242)

Diese Verfasstheit des Kleinbürgertums wird zur Bedrohung für den Erfolg des Widerstands, wie auch Lills lyrisch-monologische Reaktionen auf die Dispute mit Manna zeigen, in denen sie zum einen eine Isolation der Widerständigen (»Wer hilft dir?« [I: 218]) und zum anderen die Allgegenwart einer Bedrohung durch ihre Mitmenschen herausstellt: »Pst… Ein falsches Wort… und der Verdacht ist da…« (I: 244). Mannas abschließender Kommentar nach ihrem letzten Streit mit Lill kann daher nicht nur als Warnung, sondern vor allem als Drohung gedeutet werden: MANNA (steckt ihren Kopf durch die Tür, leise): Denken Sie daran: wer die Welt verbessern will, der endet im Schauhaus! (ab) (I: 244)

Nicht zu Unrecht analysiert daher Hans-Peter Rüsing die Darstellung des Kleinbürgertums in »Die Illegalen« unter der Kapitelüberschrift »Der Wider474 Beide Zitate Prümm 1977: 54.

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stand gegen den Widerstand«. Allerdings lässt sich die Beziehung, die im Drama zwischen Kleinbürgern und Widerständigen etabliert wird, nicht als ein bloß zweiter Antagonismus beschreiben, der den ersten zwischen Widerstand und Nationalsozialismus ergänzt. Vor allem die Darstellung der Figur Manna erweist sich dafür als zu komplex: Denn auch wenn Manna an vielen Stellen als Gegenspielerin der Heldin Lill erscheint, ist sie nicht konsequent als negative Figur gezeichnet. So wird das Verhältnis zwischen Walter und seiner Mutter als durchaus liebesvolles und von beidseitiger Zuwendung geprägtes inszeniert (vgl. exemplarisch I: 268). Manna ist vor allem getrieben von der – wie sich spätestens am Ende des Dramas herausstellt – berechtigten Sorge um ihren Sohn, die sie zu den Attacken gegen Lill treibt. Insbesondere auch der Kontrast zwischen ihrer Machtposition gegenüber Lill (vgl. die Szenen I.9, I.13, II.23) und der in dem nächtlichen Monolog artikulierten Hilflosigkeit (Szene I.21) verhindert ein ausschließlich negatives Bild. Das Drama bleibt entsprechend in der Beurteilung von als kleinbürgerlich markierten Lebensmodellen ambivalent. Eine klare Verurteilung, die annähernd so radikal wie die des Nationalsozialismus und seiner Repräsentanten ausfallen würde, transportiert der Text nicht. Er stellt allerdings durchaus einen Zusammenhang zwischen bürgerlicher Politikscheu und Etablierung der NS-Herrschaft her. Es ist diese Ambivalenz – einerseits Abgrenzung vom Kleinbürgerlichen, andererseits kommunikative Hinwendung –, die in dem Drama die im Folgenden beschriebene didaktische Funktionalisierung der Widerstandsdarstellung ermöglicht und begründet: Nicht das grundsätzlich Andere oder grundsätzlich Böse kann zum Objekt der Belehrung werden, sondern nur der Mensch, der als wert erachtet wird, die Rolle des Schülers zu übernehmen. Trotz aller Kritik am Kleinbürgerlichen kann das Drama daher durchaus als ein Integrationsangebot gerade an eine als kleinbürgerlich imaginierte Mehrheit der Deutschen verstanden werden. Vorausgesetzt wird aber die Akzeptanz des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, welches sowohl für die Identität der agierenden widerständigen Figuren, also ihr Selbstverständnis als Lehrende, als auch für den Appellcharakter des gesamten Dramentextes grundlegend ist.

3.4.3 Widerständige als nationale Vorbilder: Narrative des Lehrens und Lernens Die Selbstinszenierung der Widerstandsträger als Lehrer des deutschen Volkes bei Weisenborn erscheint intradiegetisch als Reaktion auf Beobachtungen zur Bevölkerung. Als zentrales Kennzeichen ihres Großteils wird eine unpolitische Haltung und vor allem fehlendes Nachdenken dargestellt:

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

LILL: Sehn Sie, in Berlin leben 4 Millionen, davon denken 3 Millionen nicht nach, bleibt 1 Million. Davon haben 900 000 Angst, laufen nach, jubeln und verdienen, bleiben 100 000, von denen haben 90 000 zu viel zu tun, oder sie sagen, sie sind unpolitisch und haben keine Gelegenheit, bleiben 10 000. Von denen sind 9000 hochgegangen, bleiben 1000. Tausend entschlossene Männer und Frauen in ganz GroßBerlin, davon sind mir 993 unbekannt, bleiben 7, das ist unsere Gruppe. Wenn wir also von 4 Millionen Menschen nur 7 sind, so kommt Ihnen das vielleicht ein bißchen wenig vor. Aber irgendwo in Berlin müßten noch andere sein, das wissen wir. (I: 224)

Der Mangel an politischem Durchblick, der in dem Text mit kleinbürgerlichen Denk- und Verhaltensmustern in Verbindung gebracht wird, wird in dem Drama nicht nur der von Walter antizipierten Nachkriegsgesellschaft attestiert, sondern erscheint als zentrale Ursache bereits für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Deutlich wird dies schon in der ersten Szene, in der der gute Nachbar grundsätzliche Überlegungen zur innenpolitischen Unfreiheit der Deutschen im nationalsozialistischen ›Dritten Reich‹ äußert. Sein Monolog wirkt dabei fundierend und fungiert als eine Art integrierter Prolog: Hier reflektiert keine psychologisch komplexe Figur ihre persönliche Lebenssituation oder artikuliert ihr Innenleben, sondern verortet das nachfolgend dargestellte Geschehen von Anfang an in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang: DER GUTE NACHBAR (zündet sich eine Pfeife an, lehnt am Zaun): Ich denke an warmen Abenden mit einer gewissen Zärtlichkeit an den Menschen. Er jammert nach Freiheit und hat er sie, weiß er nichts mit ihr anzufangen. Er läßt sich mit tausend Spinnfäden umgarnen, so daß bald jeder Herzschlag von ihm ein gefesselter ist. Ihm bleiben nur gewisse Bewegungen wie die Arbeit, der Skat, der Sonntagsspaziergang und die nächtlichen Bewegungen zwischen den Laken. […] Wir alle sind im Netz, Brüder, jeder in einem anderen, und der Einspeichler, der die Fäden zog, ist ein rechter deutscher Mann, er heißt Himmler. […] Der Deutsche muß mit seinem kurzsichtigen Auge die Spinnfäden an seinen Handgelenken sehen lernen […]. Er sieht in den eroberten Provinzen Butterberge und Schinkengletscher leuchten, für ihn allein. Aber er sieht nicht, daß die Sonne darüber aus rauschendem Propagandablech gemacht ist und blutumrandet tropft. Der Deutsche muß sehen lernen! Er muß wie ein Kind das Alphabet der sanften Gewalt lesen lernen. Zu diesem Zweck haben einige Männer und Frauen dieses Volkes beschlossen, den Deutschen Unterricht im Lesen zu geben. (I: 207f.)

Denkt er zunächst »an den Menschen« allgemein und evoziert somit – scheinbar anthropologisch argumentierend – eine generelle Unfähigkeit des Menschen, die »sanfte fadenziehende Gewalt des Alltags« (I: 207) zu erkennen und sich ihrer zu erwehren, fokussiert er im zweiten Teil dann »den Deutschen«. In der Erzählung des guten Nachbarn erscheinen die Deutschen als Volk, das zwischen dem »rauschende[n] Propagandablech« der Nationalsozialisten und »den zweihundert Flugblätter[n]« (I: 208) der Widerständigen positioniert wird. Dem politisch unmündigen Volk werden die Widerstandsträger als Lehrer gegenüber

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gestellt, wobei die Zuschreibung ›deutsch‹ in diesem Monolog ambivalent verwendet wird: Einerseits erscheint der »Einspeichler« Himmler und somit der das Mächtespiel beherrschende Nationalsozialist als »rechter deutscher Mann«, andererseits soll »[d]er Deutsche« Adressat der aufklärerischen Aktivitäten der Widerstandsträger sein. ›Die Deutschen‹ sind also weder Nationalsozialisten noch erscheinen sie hier als Träger des Widerstands, erzeugt doch der letzte Satz des oben stehenden Zitats trotz des Demonstrativpronomens »dieses Volkes« den Eindruck eines Widerspruchs zwischen dem lehrenden Subjekt (»einige Männer und Frauen dieses Volkes«) und dem zu belehrenden Objekt (»den Deutschen«). Dass sich die lehrende Funktion der Widerständigen nicht nur intradiegetisch auf die Deutschen des sogenannten ›Dritten Reichs‹ richtet, zeigen schließlich der zweite und dritte Akt des Dramas, dessen dominierende RadioAnsprachen, wie bereits oben erläutert, durchaus als Ansprachen an das zeitgenössische Publikum verstanden werden können.475 Zudem sind dem zweiten Akt folgende Verse vorangestellt, die den didaktischen Duktus von der intradiegetischen Figurenkommunikation auf die extradiegetische Kommunikationsebene übertragen: Die Stirn umkränzt mit falschem Lorbeer, geblendet vom Gold der Erfolge, jetzt aber in der Asche des Zusammenbruch kniend, graues Volk unserer Väter, lerne! (I: 239)

Lernen soll nun das Volk im Anblick des »Zusammenbruchs«, also nach der militärischen Niederlage.476 Die ersten beiden Verse des oben stehenden Zitats 475 Dass Weisenborns Dramaturgie ein didaktisches Konzept zu Grunde liegt, wird in der Forschung mehrfach betont (vgl. exemplarisch Drewitz 1981: 163; Geiger 1973: 28; Baier u. a. 1977: 37f.; und Heukenkamp 1996: 301). Einen dezidiert didaktischen Anspruch kann man aber nicht nur in Weisenborns Drama oder weiteren literarischen Widerstandsdarstellungen beobachten, sondern auch filmische Repräsentationen des 20. Juli 1944 aus den 1950er Jahren weisen einen »didaktischen Gestus« (Tschirbs 2005: 217) auf: Ähnlich wie Dramen über das Stauffenberg-Attentat häufig eine personalisierte Erzählinstanz installieren (vgl. Kap. 3.5.3), richtet sich in Georg W. Papsts »Es geschah am 20. Juli« (1955) eine Stimme aus dem Off direkt an ein Publikum; ihr Schlusssatz lautet: »Nun liegt es an uns, ob dieses Opfer umsonst gewesen ist.« In Falk Harnacks Spielfilm »Der 20. Juli« aus demselben Jahr manifestiert sich eine quasi personalisierte Erzählinstanz ebenfalls in einem Voiceover am Ende des Films, der mit folgendem Kommentar endet: »Mit gutem Gewissen kann Tresckow jetzt vor Gottes Richterstuhl verantworten, was er getan hat. Gott richtet nicht nach dem Erfolg. Er weiß, dass euer Kampf ein Aufstand des Gewissens war«. 476 Hier klingt bereits Weisenborns Prägung durch die Schmerz-Philosophie von Max Scheler an, die in der Forschung mehrfach betont wird (vgl. Brekle 1985: 128; Hahn 1987: 239; und Schwarz 1995: 324) und in der Wendung vom »ungeheuren Impuls des Schmerzes« (I: 281)

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

tauchen auch in dem »Aufruf eines unbekannten Widerstandsmannes« auf, den Walter als Sender Waldemar in Szene II.28 übermittelt. Hier wiederholt sich auch der dezidiert aufklärerische Duktus, wobei auch in diesem Ausruf Menschund Deutschsein ähnlich mehrdeutig wie in den prologähnlichen Passagen des Dramenbeginns aufeinander bezogen bleiben: Deutschland erwache! Deutscher, denk nach, beginn endlich nachzudenken. Es gibt keinen ehrlicheren Anruf als diesen, der den Menschen zum eigenen Nachdenken auffordert. […] Auf den totalen Krieg wird der totale Untergang folgen! Soll das sein, Deutsche? Besinnt euch! Erwacht! (I: 251ff.)

Steht den intradiegetischen Adressaten dieses Monologs der totale Untergang noch bevor, sind die antizipierten extradiegetischen Adressaten unmittelbar mit der totalen militärischen Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation von Wehrmacht und deutschem Staat konfrontiert. Der Aufruf zum Umdenken kann aus dieser Perspektive also keine Aufforderung zum Sturz der NS-Herrschaft mehr sein, sondern lässt sich als Appell zu einem vor allem ideologischen Umdenken interpretieren. Die Widerständigen bekommen in diesem Zusammenhang Vorbildcharakter : Als nationale Elite werden sie zu Bürgen einer ›reeducation‹ der Deutschen, die die Durchsetzung ›richtiger‹ Werte – »Menschlichkeit« (I: 248) und »Freiheit« (I: 263) – garantieren. Einem solchen Narrativ, das die Lernfähigkeit des deutschen Volkes herausstellt, ist eine Zukunftsorientierung inhärent. Statt Überlegungen zum Umgang mit Schuld zielt es auf eine Politik der Kooperation und Integration eines ›verführten‹ Volkes in eine Nachkriegsordnung, die sich in erster Linie als Gegenentwurf zu einer unmenschlichen Diktatur versteht.477

3.5

Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft als dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹

Die beiden Dramen »Die Illegalen« und »Die Verschwörung« tragen in dreifacher Weise zu einer diskursiven Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft, zu einer »Wiederbegründung der Nation«478, bei: Erstens unterscheiden sie – in unterschiedlich komplexer Weise – zwischen Nation und Nationalsozialismus und führen dabei die Gemeinschaft der Widerständigen als eine nationale Elite vor, die zur Vorkämpferin für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsoziaim Schlussmonolog Walters alias Waldemar I noch deutlicher artikuliert wird (vgl. Brekle 1985: 128). 477 Zum Vorbildcharakter, der in den ersten Nachkriegsjahren von Literatur und Literaten beansprucht und/oder ihnen zugeschrieben wird, vgl. Wende 2007: 137f. 478 Heukenkamp 1996: 314.

Dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹

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lismus wird. Sie fördern dadurch die Umkehrung von im sogenannten ›Dritten Reich‹ etablierten Negativzuschreibungen und begründen die strikte Abgrenzung von NS-Staat und -Ideologie, die als zentrale Dominante öffentlicher Vergangenheitsdiskurse nach 1945 gelten kann. Zweitens legitimieren sie einen nationalen Wiederaufbau, indem sie die Widerständigen als Märtyrer darstellen. Beide Dramen inszenieren sich als sekundäres Zeugnis für das Bekenntnis zu einem ›anderen Deutschland‹, das einer möglichen kollektiven nationalen Verurteilung zuwiderläuft. Sie lassen sich somit »in der Tradition eines Legitimierungszwangs westdeutscher Nachkriegsdemokratie« verorten, in der vor allem, aber – wie das Weisenborn-Beispiel zeigt – nicht nur »die Männer des 20. Juli 1944 mit ihrer Tat der moralischen Rechtfertigung der Deutschen«479 dienten. Drittens lassen sich die Texte als Versuch lesen, über die Betonung der politischsozialen Vielfalt des Widerstands breiten Bevölkerungskreisen Möglichkeiten zur Identifikation mit einer nun antinationalsozialistischen Gesellschaft zu bieten. Dass dabei trotz gegenteiliger figuraler Proklamationen nicht alle politisch-sozialen Binnendifferenzen zu Gunsten einer homogenen nationalen Widerstandsgemeinschaft überwunden werden können, zeigen vor allem die Grenzziehungen der Texte zwischen Widerstand, Nationalsozialismus und verschiedenen Varianten des Bürgerlichen. Nichtsdestotrotz erscheinen beide Dramen insgesamt als Integrationsangebote: Insbesondere durch die doppelte Adressierung von Figurenrede in Kombination mit den Vorworten, die einen deutlichen didaktischen Impetus aufweisen, erweisen sie sich als Plädoyers für eine nationale Konsolidierung nach innen und außen. »Die Illegalen« Weisenborns (1946) und Schäfers »Die Verschwörung« (1949) zählen zu den frühsten literarischen Widerstandsdarstellungen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Westdeutschland erschienen sind. Sie sind aber bei Weitem nicht die einzigen ›Widerstandstexte‹, die in der ersten Nachkriegsdekade in Westdeutschland publiziert oder uraufgeführt worden sind. Es sind insbesondere diese verhältnismäßig zahlreichen frühen dramatischen Widerstandsrepräsentationen, die in dem oben skizzierten Sinne als Versuche einer diskursiven Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft gelesen werden können. Zu ihnen zählt Carl Zuckmayers 1946 uraufgeführtes Drama »Des Teufels General« ebenso wie die beiden »Stauffenberg«-Dramen Karl Michels (1947) und Walter Löwens (1952/1966) sowie Peter Lotars Hörspiel und Drama »Das Bild des Menschen« (1952/1954), auch wenn diese Texte nicht immer alle der drei herausgestellten typischen Narrative und semiotischen Grenzziehungen aufweisen. Aber auch über diese relativ früh nach dem Krieg publizierten Darstellungen hinaus dient das Thema ›Widerstand‹ in literarischen Texten potenziell der Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft. Ein prägnanter Beleg 479 Beide Zitate Benz 1995: 59.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

hierfür ist, dass Zuckmayer sein Drama »Des Teufels General« 1963 zunächst zurückzog und es drei Jahre später in einer überarbeiteten Fassung erneut veröffentlichte, die, wie Dirk Niefanger konstatiert, »die kritische Haltung des Protagonisten zum Nationalsozialismus stärker hervorhob«480. Niefanger macht zudem darauf aufmerksam, dass sich auch die »vielleicht deutlichste Behandlung der Schuldfrage […] erst in der überarbeiteten Fassung des Dramas« findet, die zudem expliziter eine »kollektive Verantwortung«481 betone.482 Neben dieser Neuausgabe Zuckmayers zeigen vor allem verschiedene Werke Hans Hellmut Kirsts die Tendenz zur ›widerstandsliterarischen‹ Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft auch in den 1960er Jahren: Während Heinz Geiger dessen 1966 in einer Inszenierung von Erwin Piscator uraufgeführtes Drama »Aufstand der Offiziere« gemeinsam mit dem ›Juli-Drama‹ von Wolfgang Graetz (s. Kap. 4) – in Abgrenzung beispielsweise zu Lotars »Das Bild des Menschen« – einer »zweiten Phase der Beurteilung [zuordnet], in der nicht mehr die Würdigung der ethischen Motive der Opposition im Vordergrund steht, sondern die kritische Auseinandersetzung mit ihren politischen Vorstellungen«,483 heben die folgenden Ausführungen dagegen stärker die Gemeinsamkeiten dieses Kirst-Textes mit den frühen literarischen Widerstandsdarstellungen hervor.484 Entsprechend wird mit Kirsts »Roman des 20. Juli 1944« »Aufstand der Soldaten« (1965), dem Karl Prümm einen Fall »zurück in die kritiklose Heroisierung der Nachkriegsdramen«485 attestiert, und den beiden vorher veröffentlichten Romanen »Fabrik der Offiziere« (1960) und »Nacht der Generale« (1962) verfahren.486 Als jüngste der in dieser Arbeit berücksichtigten literarischen Widerstandsrepräsentationen, die zwischen 1945 und 1989 publiziert worden sind, ist das Drama »Stauffenberg. Die Tragödie des 20. Juli 1944« von David Sternbach alias Diether Lorenz noch als Versuch einer literarischen Rehabilitierung nationaler Ge480 Niefanger 1997: 65. 481 Beide Zitate Niefanger 1997: 68. 482 Abweichend von der sonstigen Praxis dieser Arbeit beziehen sich die folgenden Ausführungen zu dem Zuckmayer-Drama daher auf das Drama in überarbeiteter Form und nicht auf den Wortlaut der Erstausgabe. Relevant ist dieser Unterschied vor allem bei dem Blick auf den bekannten Dialog zwischen General Harras und Oderbruch am Ende des Dramas, auf den sich die oben genannten Äußerungen Niefangers primär beziehen. 483 Geiger 1973: 29. 484 Auch Susanne M. Wagner konstatiert einen zentralen Unterschied zwischen den Dramen von Graetz und Kirst, der meine folgenden Überlegungen bestärkt: Während Graetz ausgezogen sei, um zu entmythologisieren, schrieb Kirst »mit dem Aufstand der Offiziere vor allem gegen die These der deutschen Kollektivschuld an« (Wagner 2006: 316). 485 Prümm 1977: 57. 486 In letzteren ist allerdings zum einen aktiver Widerstand gegen den Nationalsozialismus thematisch weniger zentral als in den beiden erstgenannten Texten und zum anderen zielen sie stärker auf eine Rehabilitierung des deutschen Soldaten denn primär auf eine Legitimation des Deutschen allgemein ab.

Dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹

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meinschaft zu interpretieren. 1985 erstmals veröffentlicht, erfuhr es 1994 eine zweite Auflage und war 2004 im Berliner Schiller-Theater als Uraufführung zu sehen. Anders als Ursula Heukenkamp konstatiert, lässt sich mit Blick auf die literarischen Repräsentationen des Widerstands also nicht pauschal von einem baldigen »Wertverlust des Nationalen«487 nach dem Verebben der intellektuellen Schulddebatte ausgehen.

3.5.1 Langlebigkeit und Variationen des Topos vom ›anderen Deutschland‹ Eine Grenzziehung zwischen Nation und Nationalsozialismus ist in den vorangehend analysierten literarischen Darstellungen des Widerstands von Weisenborn und Schäfer der zentrale Ausgangspunkt für deren Tendenz zur Rehablitierung der deutschen Nation. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nation und Nationalsozialismus wird entsprechend auch in den eben genannten Texten intensiv verhandelt. Sie wird dabei teils – ähnlich wie vor allem bei Walter Erich Schäfers »Verschwörung« – mit einer relativ strikten, antagonistischen Unterscheidung beantwortet. Teilweise zeigen sich aber – manchmal auch in denselben Texten – durchaus gegenläufige Tendenzen hin zu einer mehr skalaren Grenzziehung zwischen Nation und Nationalsozialismus. Als besonders häufig wiederkehrende Form der Grenzziehung ist in diesem Zusammenhang die Exklusion des Nationalsozialistischen aus dem Menschlichen zu beobachten. In Peter Lotars »Das Bild des Menschen«, in dem ein solcher Ausschluss bereits in Titel und Vorwort erkennbar wird,488 manifestiert sich die Grenzziehung zwischen Nationalsozialist und Mensch in der Figur des als Raubtier imaginierten Präsidenten (vgl. exemplarisch BM: 31f., 66, 69). Gleiches gilt für die Inszenierung des Widerstands als Kampf der Guten gegen einen dämonisch wirkenden Adolf Hitler in Sternbachs »Stauffenberg«-Drama aus dem Jahr 1985 (vgl. exemplarisch Sf: 1, 5, 19–23, 46–49, 50f.) ebenso wie für die diabolische Zeichnung der fanatischen NS-Anhängerin »Pützchen« in »Des Teufels General« (vgl. DTG: 104–124).489 Die Trennung von menschlichen Wi487 Heukenkamp 1996: 314. 488 Nicht nur der konkrete Dramentitel »Das Bild des Menschen« ist in einem intertextuellen Zusammenhang mit einer entsprechenden Formulierung von Karl Jaspers in seiner Rede anlässlich der Wiedereröffnung der Heidelberger Universität im August 1945 zu lesen (vgl. A. Assmann 1999: 105), sondern die »Frage nach dem neuen Menschen«, die »eine Wendung ins Abstrakte, Universale, Anthropologische« (A. Assmann 1999: 104) nimmt, wird von Aleida Assmann in ihrer Auseinandersetzung mit intellektuellen Diskussionen des Kriegsendes als typisches Moment einer Enthistorisierung der rückblickenden Auseinandersetzung mit dem ›Dritten Reich‹ beschrieben (vgl. A. Assmann 1999: 104ff.). 489 Zur Grenzziehung zwischen »bösen Nazis auf der einen Seite und dem anständigen, menschlich sympathischen und schließlich heroisch-tragisch endenden Fliegergeneral auf

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

derständigen/Deutschen und unmenschlichen ›Nazis‹ findet sich ebenfalls zumindest in Ansätzen in Karl Michels »Stauffenberg«-Drama, wenn der widerständige Hauptmann im Gespräch mit dem NS-treuen Koch wie folgt argumentiert: HAUPTMANN: Der Osten erwartet von uns Menschlichkeit. Im Vertrauen darauf sind die Arbeiter aus dem Osten zu uns gekommen. KOCH: Menschlichkeit ist eine Schwäche auf dieser Welt. Härte macht stark! Wir w a r e n in Gefahr zu degenerieren. Aber wir sind rechtzeitig erwacht. HAUPTMANN: Wir werden sehen, was stärker ist, Geist oder Macht, Menschlichkeit oder Härte (verlässt das Büro, zu sich selber): Wir s i n d in Gefahr zu degenerieren, aber wir werden rechtzeitig erwachen. (St: 20; vgl. auch St: 58f., 68, 74)

Allerdings stehen hier solchen grenzziehenden Proklamationen aus Figurenperspektive solche Szenen gegenüber, die – wie die Auseinandersetzung um einen Kinobesuch der ›Ostarbeiterin‹ Rusja (vgl. St: 43–46) – auch durchschnittliche Bürger – wie die Kinobesucherin oder den 3. Kinobesucher – als Verkörperungen nationalsozialistischer Ideologie auf die Bühne stellen. Eine ähnliche Ambivalenz findet sich auch in Carl Zuckmayers »Des Teufels General«. Hier proklamiert der Fliegergeneral Harras ein wahres Deutschland, das mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun habe, wenn er folgenden Trinkspruch äußert: »Auf das Deutschland, in dem er gewachsen ist. Das echte. Das unvergängliche.« (DTG: 57). Gleichzeitig zeigt er allerdings durchaus einen kritischen Blick auf die Frage nach dem ›wahren‹ Deutschland und offenbart in Ansätzen eine problematisierende Reflexion des Begriffs ›Deutschland‹: »Was für ein Deutschland haben wir geliebt? Das alte – mit’m steifen Kragen und Einglaszwang? Oder das liberale mit’m Schmerbauch und Wackelbeenen?« (DTG: 38) In Walter Löwens »Stauffenberg«-Drama bleibt dagegen die folgende Forderung des Protagonisten unreflektiert und unbestritten: »Wir müssen dem Volk die Wahrheit sagen, damit es sich von dem Verbrecher abkehrt und zu seinem wahren Wesen findet« (Sb: 11). Auch in den Werken Hans Hellmut Kirsts zeigen sich sowohl Tendenzen zur klaren Grenzziehung zwischen Nation und Nationalsozialismus als auch Gegenläufiges. Mit Blick auf ersteres wird dort eine Form der Exkludierung des Nationalsozialistischen aus dem Deutschen zentral, die so in den anderen Texten nicht zu beobachten ist: die Etablierung einer deutlichen Dichotomie zwischen dem »Deutschen« des Widerstands und dem »Großdeutschen« des Nationalsozialismus und seinen Vertretern. So sprechen NS-Repräsentanten selbst wiederholt von »Großdeutschland«, wenn sie sich auf Deutschland beziehen (vgl. exemplarisch AdS: 233, 298; und AdO: 89). Aber auch die Widerständigen der anderen« (Reichel 2004: 54) und der kontroversen Rezeption des Zuckmayer-Dramas vgl. auch Reichel 2004: 51–60.

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verwenden mit Blick auf den Nationalsozialismus und seine Repräsentanten das Attribut »großdeutsch«, das im bundesdeutschen Diskurs der 1960er Jahre, also zur Zeit der Veröffentlichung der Kirst-Texte, aufgrund seiner nationalchauvinistischen Implikationen vermutlich als diskreditierende Zuschreibung galt: Ein Widerständiger in »Aufstand der Soldaten« erzählt vom Leben auf »großdeutsche Staatskosten« (AdS: 339), wenn er von seinen KZ-Erfahrungen berichtet, in »Aufstand der Offiziere« ist es Schulenberg, der von »großdeutschen Gefolgshammeln« (AdO: 38) spricht (vgl. auch AdO: 54), und in »Die Nacht der Generale« wird der widerständige Generalmajor Kahlenberge in einem »Zwischenbericht« wie folgt eingeführt: Jedenfalls war er wohl der einzige, der niemals versuchte, uns blauen Dunst vorzumachen. Redeten die einen vom Heldentod, sagte er : Sie haben den Arsch zugekniffen. Hieß es, das Vaterland ruft, meinte er : Jetzt wird kassiert! Und wenn er Scheiße sagte, dann stank es auch. Auch sprach er gelegentlich gerne von einer ›großdeutschen Kanalratte‹ – womit er den damaligen Führer und Obersten Befehlshaber meinte. (NdG: 49; Kursivdruck im Original)

Im ›Juli-Roman‹ »Aufstand der Soldaten« wird die Unterscheidung zwischen »großdeutschen Nazis« und »deutschen« Widerständigen noch dadurch verstärkt, dass auch die allwissende Erzählinstanz Figuren, die NS-Politik und -Ideologie unterstützen, entsprechend attribuiert: Nichts konnte für endlösungsbereite großdeutsche Menschen unmißverständlicher sein. Danach war die Sippe die alleinmaßgebliche Keimzelle jeder Gemeinschaft. (AdS: 328; vgl. auch AdS: 267, 354)

An diese semantische Unterscheidung anschließend tradieren die Widerstandsrepräsentationen von Hans Hellmut Kirst – wie die der anderen Autoren – typischerweise die Vorstellung von den Widerständigen als den wahren Patrioten. Wie auch in den »Stauffenberg«-Dramen Michels, Löwens und Sternbachs stirbt in den beiden Juli-Texten von Kirst Stauffenberg mit dem Ausruf »›Es lebe das heilige Deutschland!‹« (AdS: 289; und AdO: 119)490 und die ei-

490 In den beiden Dramen Löwens und Sternbachs stirbt der namensgebende Protagonist mit dem berühmt gewordenen Ausruf: »Es lebe das heilige Deutschland!« auf der Bühne (St: 73; und Sf: 227), während in Michels »Stauffenberg«-Drama der Zuschauer durch ein mitzuverfolgendes Telefonat Goebbels’ wie folgt von der Erschießung der Hauptfigur erfährt: »GOEBBELS: […] Wie starb er? Verzweifelt und zusammengebrochen? – Nein? Ruhig und gefaßt, das darf nicht bekannt werden! – was hat er gerufen? Es lebe ein freies Deutschland? Davon darf kein Wort an die Öffentlichkeit!« (Sb: 126) Im Unterschied zur Eindeutigkeit der literarischen ›Todesrufe‹ Stauffenbergs ist historiographisch nicht endgültig zu entscheiden, welche Worte Claus Schenk Graf von Stauffenberg kurz vor seiner Erschießung ausgerufen hat. Im Unterschied zu den hier zitierten Texten wird dort vermehrt auch der Bezug auf das »geheime« oder »heimliche« Deutschland als wahrscheinlich erachtet, von

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gentliche Hauptfigur des Romans »Aufstand der Soldaten«, Hauptmann Graf von Brackwede, stellt dem erwartbaren Todesurteil durch den Gerichtspräsidenten Roland Freisler folgende letzte Worte entgegen: »Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Unglück zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehängt werde. Aber ich bereue meine Tat nicht.« (AdS: 374)

Ähnlich argumentiert der Gefreite Lehmann gegenüber dem Leutnant Konstantin von Brackwrede: »Und eben deshalb müssen wir damit rechnen, daß an jeder Ecke einer steht, der diesen Strauchdieb Hitler für den bedingungslos zu liebenden Vater des Vaterlandes hält. In diesem Deutschland, Herr Leutnant, sind jetzt die ehrlichsten Patrioten Freiwild.« (AdS: 318; vgl. auch AdS: 76, 106, 256, 268, 289, 298, 374; und NdG: 120)491

Insbesondere in dem Kirst-Drama »Aufstand der Offiziere« wird Adolf Hitler zum eigentlich Eidbrüchigen gegenüber »dem Wohl des Deutschen Volkes« (AdO: 62f.): STAUFFENBERG: In welchen Gewissenskonflikt hat uns dieser Mensch gestürzt! Ein Russe, ein Franzose, ein Engländer kann offen und ehrlich für sein Land kämpfen – wir können das nicht. Wenn auch wir wieder ein Vaterland haben wollen, müssen wir Hitler von Deutschland trennen! (AdO: 63; vgl. auch AdO: 95)

Es werden wiederholt die enormen deutschen Verluste des letzten Kriegsjahres – Tote, Zerstörungen und daran anschließende staatliche Teilung – betont, die durch ein erfolgreiches Attentat möglicherweise zu verhindern gewesen seien. So werden vor allem im zweiten Teil des Dramas photographische und audiovisuelle Bilder auf die Bühne projiziert, die Bombenangriffe auf Berlin und ihre Folgen darstellen (vgl. AdO: 42, 48 und 56). Außerdem thematisieren einzelne widerständige Figuren die bei weiterem Kriegsverlauf zu erwartenden Verluste dem auch Joachim Fest in seiner Monographie »Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli« (1994) ausgeht (vgl. dazu Riedel 2006: 5, und dort insbesondere Anm. 3). 491 Auch der Graf als widerständiger Protagonist in Peter Lotars »Das Bild des Menschen« bekennt sich zur Liebe für »unser aller Vaterland« (BM: 61) und Zuckmayer lässt den widerständigen Saboteur Oderbruch sagen: »Ich lebe nur noch, weil ich nicht aufgeben darf zu kämpfen. Für Deutschland, Harras« (DTG: 150). Im Gegensatz zu den beiden Dramen von Weisenborn und Schäfer zeigt sich bei Zuckmayer allerdings zumindest auf der Ebene der Figurenrede in Ansätzen ein distanzierter Blick gegenüber dem vermeintlich Heroischen des Krieges, wenn Harras den Krieg und den ›Heldentod‹ wie folgt beschreibt: »Ach Scheiße. Das sind olle Tiraden. Ich weiß – du empfindest was dabei – aber was Falsches, verstehst du? Der Tod auf dem Schlachtfeld – der stinkt, sag ich dir. Er ist ziemlich gemein, und roh, und dreckig. Hast du nicht selbst gesehen, wie sie rumliegen? Was ist groß daran? Und ewig? Er gehört zum Krieg, wie die Verdauung zum Fraß. Sonst nichts« (DTG: 67). Allerdings werden diese kriegskritischen Aussagen insbesondere durch die Erzählungen Harras’ über die gemeinsamen Erlebnisse mit der Figur Pfundtmayer im Ersten Weltkrieg, die diesen als Abenteuer unter Männern inszenieren, relativiert (vgl. DTG: 23f.).

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(vgl. AdO: 60), und in der den zweiten Teil beschließenden »Zwischendokumentation« werden diese quasi prophetischen Figurenaussagen durch eine intradiegetisch-heterodiegetische Sprechinstanz, die den Verlauf des Krieges zwischen Juli 1944 und Kriegsende schildert, bestätigt: Krieg und Völkermord werden zur »Katastrophe, die Hitler verursacht hatte« (AdO: 65; vgl. auch AdO: 32). Darüber hinaus erweist sich auch die einzige Figur, die im Drama als Repräsentantin des deutschen Volkes außerhalb der Dichotomie Widerständige versus Nationalsozialisten gelten kann, als klare Kritikerin Hitlers. So zeigt das Drama eine namentlich nicht näher benannte Frau, die Leber in seiner Kohlenhandlung aufsucht und dabei nicht nur Witze über NS-Größen erzählen, sondern Hitler dezidiert tot sehen möchte (vgl. AdO: 44f.).

3.5.2 Vom ›anderen Deutschland‹ zum ›anderen Soldaten‹: Militarismus-Kritik bei Hans Hellmut Kirst Solche tendenziell exkulpatorischen Entwürfe, die Adolf Hitler als Repräsentanten eines »großdeutschen« Chauvinismus zum Alleinverantwortlichen NSVerbrecher machen, werden allerdings bei Kirst durchaus von ambivalenteren Deutungen des Verhältnisses zwischen Nation und Nationalsozialismus begleitet. Zentraler Aspekt ist in diesem Zusammenhang die hier tradierte Vorstellung vom deutschen Volk als unmündigem Kollektiv : LEHMANN: […] Hitler hat dieses Volk versaut. GOERDELER: Und warum konnte er es versauen? LEHMANN: Weil Sie und Ihresgleichen wirksamste Vorarbeit geleistet haben – seit Jahrzehnten. Sie und Ihre konservativen Staatserhalter haben nichts wie saudumme Untertanen erzeugt – primitiv-biedere Gefolgsleute, einfältig-betende Ja-Sager und jene hirnrissigen Gewaltpatrioten, die ihr sendungsgewilltes Deutschtum hemmungslos hinausgeifern. (AdO: 84f.; vgl. auch AdO: 104)

Ähnlich wie bei Weisenborn fungiert in den Kirst-Texten die »Herden«-Metapher als Kritik an der Untertanenmentalität der Deutschen, wie beispielsweise im folgenden Gespräch zwischen Kahlenberge und dem französischen Kommissar Pr8vert im Roman »Die Nacht der Generale«: »[…] Ich [Kahlenberge; Anm. M. S.] weiß nur soviel: Die Menge ist genauso entsetzlich dumm oder haarsträubend gleichgültig, wie ich schon immer vermutet habe. Schlachtvieh! Und Generale sind wie Leithammel.« »Auch Sie sind ein General.« »Ich bin ein Soldat«, sagte Kahlenberge bitter. »Aber ich habe wohl nicht rechtzeitig erkannt, daß Soldaten keine Daseinsberechtigung haben, wenn Militärs um ihre Posten würfeln.« »Ist das ein Spiel, das unsere Zeit erfunden hat?«

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»Es ist aber zu unserer Zeit eine Art Nationalsport für Führungsschichten geworden! Die Voraussetzung dafür ist die systematische Verblödung der Masse. Man redet ihnen ein, daß sie Auslese sind, eine Ehre haben, eine Aufgabe – daß sie Geschichte machen, einer besseren Menschheit und der Vorsehung dienen. Und die Hammelherde glaubt bereitwillig daran! Sogar wenn eine Kanalratte das sagt.« (NdG: 313; vgl. dazu auch AdS: 111, 201f.; und AdO: 61)

Hier richtet sie sich nicht nur gegen konservative Politiker, die für die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen verantwortlich gemacht werden, sondern erscheint vor allem als Kritik an einem spezifisch deutschen Militarismus. Sie zielt zum einen auf die Befehlshörigkeit der Deutschen und insbesondere der deutschen Soldaten, in der eine zentrale Ursache für das ›Dritte Reich‹ gesehen wird: »Schulenberg: […] Bei uns ist nichts mehr normal! Der deutsche Soldat steht auf dem Kopf und legt, wie üblich, die Hände stramm an die Hosennaht« (AdO: 38). Zum anderen ist die Kritik an einer deutschen Untertanenmentalität – wie bereits das oben zitierte Gespräch zwischen Kahlenberge und Pr8vert andeutet – geprägt durch eine klare Unterscheidung zwischen einer verantwortlichen Generalität einerseits und der Menge der einfachen Soldaten andererseits. Erstere erscheint als zentrale Mitschuldige am Aufstieg und den Verbrechen des Nationalsozialismus, wenn zum Beispiel der Sprecher des »Dokumentarfilm-Prolog[s]« (AdO: 2) gleich zu Beginn von »Aufstand der Offiziere« die Entwicklung der Reichswehr zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg wie folgt beschreibt: Eine Armee verlor den Krieg. […] Knapp fünf Jahre später sieht man den gleichen Generalstabschef an der Seite eines Mannes, namens Hitler. Schließlich sogar der Feldmarschall des »großen Krieges« selbst. – Hindenburg. […] Die Generale folgten ihrem Führer und leisteten willig ganze Arbeit. […] So wurden die Generale mitschuldig an dem Blut, das zwölf Jahre lang erst Deutschland und dann Europa überströmte. (AdO: 2f.)

Als ein weiterer Höhepunkt der Unterscheidung zwischen einfachem Soldaten und Generalität kann die am Ende von »Nacht der Generale« einmontierte »REDE, DIE NIE GEHALTEN, DIE ABER IMMER WIEDER GEDACHT WORDEN IST« (NdG: 415–422; Hervorhebungen im Original), gelten, die den Untertitel »Ein Soldat an seinen General« trägt. Diese Rede, die nicht als Teil der dargestellten Handlung respektive der Diegese verstehbar wird, kann nicht zuletzt auf Grund von expliziten Querverweisen auf den Roman »Fabrik der Offiziere« – sie nimmt Bezug auf die fiktive Figur des General Modersohn – der heterodiegetischen Sprechinstanz des Romans, wenn nicht sogar dem Autor Kirst selbst zugeschrieben werden. Diese Grenzziehungen zwischen General und Soldat implizieren die Unschuld des einfachen Soldaten. Die Kirst-Texte erscheinen daher – nicht zuletzt

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auf Grund von Aussagen wie der folgenden – als Plädoyer für den Fortbestand einer deutschen Armee: Denn ohne den Soldaten ist ein Volk nicht denkbar, nicht ein Vaterland, nicht eine Nation – auch kein General. (NdG: 421)

In Kombination mit der durchaus gleichzeitig exponierten Kritik an der Untertanenmentalität auch des einfachen Soldaten erweisen sie sich als anschlussfähig an Forderungen nach mündigen Soldaten und können somit in der Tradition der Gründungsdebatten der Bundeswehr um »Innere Führung« und den »Staatsbürger in Uniform« verortet werden. Ute Frevert beispielsweise macht in ihren Überlegungen zu »Gedächtnisorte[n] der frühen Bundesrepublik«492, zu denen sie auch den 20. Juli 1944 zählt, darauf aufmerksam, dass nicht nur im öffentlichen Diskurs das Gedenken des militärischen Widerstands, besonders des Stauffenberg-Attentates, der Legitimation einer nationalen Wiederbewaffnung diente. Darüber hinaus sei die Frage nach der Haltung zum 20. Juli 1944 zum Auswahlkriterium für die Rekrutierung führender Bundeswehrangehöriger geworden und auch das 1957 vom Verteidigungsministerium veröffentlichte »Handbuch Innere Führung« sowie der Erlass »Bundeswehr und Tradition« von 1965 hätten auf eine Integration dieser Erinnerungen in den Traditionsbestand und das Selbstverständnis der bundesdeutschen Armee gezielt.493

3.5.3 Exponieren des Zeugnischarakters: Inszenierungen des Widerstands als Martyrium und Sühne durch paratextuelle und textuelle Rahmungen Neben der grundlegenden Grenzziehung zwischen Nation und Nationalsozialismus und der Inszenierung der Widerständigen als wahre Patrioten ist für die weiteren ›widerstandsliterarischen‹ Rehabilitierungen nationaler Gemeinschaft auch die Darstellung der Widerständigen als Märtyrer und die oftmals damit einhergehende Vorstellung vom Widerstand als Sühnehandlung zentral. Mit diesen beiden Narrativen geht in den frühen literarischen Widerstandsrepräsentationen fast zwangsläufig ein didaktischer, zukunftsgerichteter Impetus des Gedenkens einher, der sich in den verschiedenen Texten vor allem in ähnlichen Formen der textuellen und/oder paratextuellen Rahmung manifestiert. Auffällig häufig ist den frühen literarischen Widerstandsdarstellungen eine Widmung vorangestellt, die nicht nur eine Verbundenheit der Autoren mit den 492 Frevert 1999: 189. 493 Vgl. Frevert 1999: 202f. Zur bundesdeutschen Auseinandersetzung mit der Rolle der Wehrmacht vgl. auch Wette 2005.

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Widerständigen inszeniert, sondern zudem bereits an exponierter Stelle den Gedenkcharakter der Texte andeutet. So widmet Carl Zuckmayer sein Drama »dem Andenken meiner von Deutschlands Henkern aufgehängten Freunde / THEODOR HAUBACH / WILHELM LEUSCHNER / GRAF HELLMUTH VON MOLTKE« (DTG: 5) und Karl Michel seines »meinem Kameraden Claus Schenk Graf von Stauffenberg« (St: 5). Daneben finden sich – wie bei Weisenborn und Schäfer – auch Vorworte. Als besonders umfangreich und didaktisch ähnlich explizit wie die paratextuelle Rahmung des Autors zu den »Illegalen« erweist sich vor allem Peter Lotars Vorwort, das sich gegen eine kollektive nationale Verurteilung wendet, wenn es wie folgt endet: Der Konflikt zwischen der Treue zu Deutschland und der Treue zur Menschheit, an dem die Männer unseres Dramas zerbrachen, entstand, weil ein Führer Deutschlands mit der Menschheit gebrochen hatte. Die Antwort der Menschheit darauf sollte lauten: Dem wahren und edlen Deutschland die Hand zu reichen, so wie dieses der Menschheit die Treue hält. Die Frage, wie das Bild dieser Menschen in unserer Erinnerung und in unser aller Herzen gestaltet sein wird, ist eine Schicksalsfrage Deutschlands, ist das Schicksal der ganzen Welt. (BM: VIII).

Auch Walter Löwen fordert in seinem Vorwort zu dem Drama »Stauffenberg«: Kein Held hat je die Tragik erlitten, wie sie den Opfergänger traf, der in diesem ersten Globaldrama agiert. Unser Volk und vor allem die deutsche Jugend muß sein Vermächtnis erfüllen. (Sb: 4)

Gemeinsam ist beiden Dramen zudem eine weitere Form der Rahmung durch die Einführung personalisierter Erzählerfiguren. So ist dem ersten Akt im Löwen-Drama ein »Vorspruch vorm Vorhang« vorangestellt, der das »[v]erehrte[ ] Publikum« adressierend gegen die Politik der alliierten Besatzungsmächte vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg wettert und ein »wirklich ungewöhnliches Theatererlebnis« ankündigt. Damit greift dieser »Vorspruch«, der hier als Ausspruch der extradiegetisch-heterodiegetischen Vermittlungsinstanz des Dramas verstanden wird, inhaltlich Gesichtspunkte des vorangehenden Vorwortes des Autors auf und nimmt gleichzeitig zentrale Aspekte des nachfolgenden Dramentextes vorweg. In dem Drama »Das Bild des Menschen« von Peter Lotar wird der didaktische Duktus – ähnlich wie danach in Kirsts Drama »Aufstand der Offiziere« (vgl. AdO: 1f.) und in Weisenborns ›Juli-Drama‹ »Walküre 44« (1966) – durch die Einführung einer intradiegetisch-homodiegetischen Erzählinstanz verstärkt, einem Gefängnisgeistlichen, der später wiederholt das Geschehen kommentiert (vgl. exemplarisch BM: 27, 32): (Ein einfacher, sehr unauffälliger Mann steht vor uns im Licht. Wir wissen noch nicht, woher er kam. Erst später wird uns klar, daß er unserer eigenen Vergangenheit ent-

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stammt. Kein sichtbarer Vorhangspalt hat ihn entlassen, wie wir überhaupt von keinerlei Maschinerie des Theaters etwas sehen und wissen möchten, denn auch der Mann, der vor uns steht, ist nicht dem Bereich des Theaters zugehörig. Er ist von so schlichter Art, daß ihn nur etwas überaus Dringliches dazu gebracht haben kann, vor die Öffentlichkeit zu treten.) (BM: 1)

Mit dessen erstem Auftritt beginnt das Drama. Sein Eingangsmonolog führt die Argumentation aus Lotars Vorwort, die dezidiert nach dem Sinn des Widerstands und des Todes der Widerständigen fragt (vgl. BM: VIIf.), fort. Er möchte, daß Sie sie [die letzte Nacht der verhafteten Widerständigen vor der Hinrichtung; Anm. M. S.] mit mir durchwachen und mit diesen Männern und Frauen, damit wir alle gemeinsam Klarheit erlangen. Ich nehme Sie mit in dieses traurige Haus. (BM: 2)

Dass Widerstand und der daraus resultierende Tod in dem Drama »Das Bild des Menschen« zum Glaubenszeugnis und Sühneopfer stilisiert wird, wird im Folgenden vor allem an der Hauptfigur deutlich, dem durch den Zellentrakt des Gefängnisses wandernden Grafen, der die Gelegenheit hat, mit verschiedenen Mitgefangenen zu sprechen: GRAF: Unser physisches Ende wird zu einem Anfang, der unabsehbar ist, wenn wir ihm einen Sinn verleihen, der uns überlebt. (BM: 37)

Im Gespräch mit einem Professor und dessen jungen, ebenfalls inhaftierten Studenten dominiert die Vorstellung vom Sühneopfer im Sinne einer nationalen Rehabilitierung: STUDENT: Es ist immer noch unser Vaterland. GRAF: Ja, es ist unser Vaterland. Aber es ist entehrt und geschändet. STUDENT: Deshalb müssen wir es nur noch inniger lieben. GRAF: Ja. (Erhebt sich) Und diese Liebe gebietet uns vor allem, das Erniedrigte wieder aufzurichten und das Entehrte zu reinigen. (BM: 61)

Diese Vorstellung erscheint – wie vor allem im Drama Schäfers – wieder als Auseinandersetzung mit der Kollektivschuldfrage, wenn ihr folgende Aussage des widerständigen Professors vorausgeht: PROFESSOR: Es war nicht einmal mehr bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es auch in unserem Volke Männer gibt, die für die Menschlichkeit und Freiheit kämpfen. (BM: 59)

Zugespitzt wird diese Argumentation im späteren Gespräch, das der Graf mit dem Oberst, einem gescheiterten Attentäter, führt. Hier ist es der Oberst, der dem an der Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des gewaltvollen Widerstands zweifelnden Grafen den nahenden Tod als notwendiges Sühneopfer und wegweisendes Zeichen für zukünftige Generationen darlegt:

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OBERST: Es gibt eine Tiefe der Schuld, in der es keine Umkehr, nur noch ein Ertrinken gibt. Um einem Volk dieses Äußerste zu ersparen, müssen manche seiner Söhne sich selbst zum Opfer bringen. Das war mir auferlegt und meinen Kameraden. Es ist nötig, daß wir sterben, damit unser Volk in uns aufersteht und wir in seinem Herzen. (BM: 73)

Insbesondere in den Dialogen des Grafen mit dem Gefängnisgeistlichen und dem Pfarrer wird Widerstand dann zu einem Ausdruck spirituellen Glaubens und zum Handeln mit und für Gott (vgl. exemplarisch BM: 25f.). Diese Argumentation, die den Tod im Widerstand zu einem (Glaubens-)Bekenntnis zum Guten werden lässt, kulminiert schließlich in den letzten Szenen des Dramas, beginnend mit einem Gespräch des Grafen, das er mit dem Gerichtspräsidenten, der im Drama den Nationalsozialismus repräsentiert, führt. Ähnlich wie in Schäfers Drama »Die Verschwörung« verhöhnt dieser durchweg als unmenschlich gezeichnete Präsident (vgl. exemplarisch BM: 31f., 66, 69) die Möglichkeit widerständigen Märtyrertums: PRÄSIDENT: Ah! (Sieht auf) Nun – ist endlich das Wort gefallen, auf das ich gewartet habe: »Leiden«. Sie sind von der Krankheit des Leidenwollens befallen. Dann muß ich Sie verloren geben. Denn diese Krankheit ist unheilbar. Sie werden nun also mit Ihren Freunden in die Reihe der ehrwürdigen und rührenden Märtyrer eingehen, die nichts als ihr elendes bißchen Leben dahingeben müssen, um für glorreich und unsterblich aufzuerstehen – ist es nicht so? GRAF: Das alles werden nicht wir entscheiden. PRÄSIDENT: […] Ihr werdet niemals auferstehen. Auch dafür ist gesorgt. (BM: 78)

Seiner Drohung, das Ansehen der Widerständigen auch posthum nachhaltig durch die »Worte Feigheit, Eidbruch und Hochverrat« (BM: 79; vgl. auch BM: 73f.) zu schädigen, steht folgende Forderung im Abschlussmonolog des Grafen entgegen, der einem imaginierten Zwiegespräch mit seiner Frau gleicht: Diese armseligen Kreaturen, nicht einmal begreifen würden sie, wie wenig sie nehmen können. (Er steht auf. Nur um seine Gestalt allein ist Licht.) Nein, Ihr werdet mich nicht verlieren. Ihr müßt aus mir eine Legende machen, die eingeht in die Herzen unseres Volkes. Ich bin nun einmal das Gefäß gewesen, für das der Herr alle diese unendliche Mühe aufgewandt hat. (BM: 85)

Das Drama endet schließlich mit einem kurzen Monolog des als intradiegetische Erzählinstanz fungierenden Gefängnisgeistlichen. Abschließend erhebt dieser das Drama zum sekundären Zeugnis des Martyriums und betont zugleich – unterstützt durch Regieanweisungen zur Beleuchtung der Szene – die moralische Verpflichtung der extradiegetischen Adressaten für das Erbe des Widerstands. GEFÄNGNISGEISTLICHER: (Steht an der gleichen Stelle, an der er uns seine Geschichte zu erzählen begann.) […] Die Legende, die uns zu erzählen auferlegt war, ist zu Ende.

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Vielleicht, wie man sagt, sind die Toten weiter mit uns. Aber wichtiger ist es, daß sie gerne bei uns sind. (Das Licht geht von ihm über auf uns.) (BM: 86)

Auch in den Dramentexten von Zuckmayer, Michel, Löwen und Sternbach sind es vor allem die Schlussszenen, die die Dramen als sekundäre Zeugnisse des Martyriums sowie als Appelle zu einer moralischen Orientierung am Widerstand erscheinen lassen.494 So ist auch die letzte Szene aus Zuckmayers »Des Teufels General« durch die Verbindung der Narrative von Martyrium und Sühne im Widerstandsgeständnis Oderbruchs geprägt, die auf eine Zurückweisung möglicher Kollektivschuldvorwürfe zielt: ODERBRUCH: […] Wir werden alle fallen. HARRAS: Das heißt – es ist umsonst. Sinnlose Hekatomben. ODERBRUCH: Nicht sinnlos. Nicht umsonst. Wir wissen, wofür. HARRAS: Was nutzt das, wenn ihr verfault? Was ändert das, wenn ihr verscharrt seid? Gemartert – verbrannt – und vergessen? ODERBRUCH nach einem Schweigen: Gregor der Große wurde einst gefragt, ob das Erleiden der Marter ein Verdienst um den Himmel sei, für jeden, dem es widerfährt. Nein, sagte Gregor. Die Marter allein ist nichts. Wer aber weiß, wofür er leidet – dessen Zeugnis ist stärker als der Tod. Wir wissen, wofür. (DTG: 151f.)

Darüber hinaus versteht der Saboteur Oderbruch seinen Widerstand als Möglichkeit der Wiedergutmachung von Schuld, wenn er über das Dulden der Verbrechen durch die Deutschen sagt: »– das wird dauern, über unser Leben und unser Grab hinaus – es sei denn, wir tilgen die Schuld, mit unsrer eigenen Hand« (DTG: 149). Als Auslöser für seinen Entschluss zum Widerstand gibt er an, dass er sich eines Tages »geschämt« habe, Deutscher zu sein (DTG: 151). Entsprechend erscheint dann auch der unmittelbar anschließende Suizid des Generals Harras, den dieser als »Gottesurteil« versteht (DTG: 154), sowohl dessen Einsicht in die Richtigkeit des Widerstands (vgl. DTG: 153) als auch in eigene Schuld geschuldet. Statt für die durchaus mögliche Flucht, die er als »Begnadigung« (DTG: 155) ablehnt, entscheidet Harras sich, begleitet von Oderbruchs »Vater unser« und den Worten »und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« (DTG: 156), für den Tod. Intradiegetisch bleibt ihm die Anerkennung als Märtyrer versagt, wenn die Szene und somit das Drama mit folgenden Worten des NS-Repräsentanten Dr. Schmidt-Lausitz endet: DR. SCHMIDT-LAUSITZ: Hauptquartier? Reibungslos abgewickelt. General Harras soeben in Erfüllung seiner Pflicht tödlich verunglückt. Beim Ausprobieren einer Kampfmaschine. Jawohl. Staatsbegräbnis. (DTG: 156) 494 Dies gilt nicht für die vier ›Widerstandstexte‹ Kirsts, die allerdings ebenfalls – wenn auch vor allem in den drei Romanen weniger dominant – vom Widerstand als Martyrium und/ oder Sühneopfer erzählen (vgl. exemplarisch AdS: 8, 33; AdO: 117f.; und NdG: 37).

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Der extradiegetische Adressat des Dramas aber erkennt die Lüge von SchmidtLausitz als solche und ist somit aufgefordert, eine abweichende Deutung des Todes von Harras zu entwerfen. Naheliegend erscheinen dann vermutlich die Identifikation mit dem das Drama dominierenden Protagonisten Harras und die Orientierung an dessen in der letzten Szene gewandelten Selbstverständnis. In Karl Michels »Stauffenberg« wird dem Zuschauer diese ›Denkleistung‹ abgenommen; hier hat der sich letztendlich gegen Goebbels auflehnende Leutnant das letzte Wort: SOLDAT: Und die anderen! Die fallen? Die erschossen worden sind? Was ist mit denen? Mit Stauffenberg und seinen Kameraden? LEUTNANT: Wer gegen die Dämonen kämpft und dabei fällt, der lebt ewig weiter als Vorbild und Mahnung. Der wirkt und baut mit an den zeitlos gültigen Fundamenten der Menschheit. (St: 135)

Löwens »Stauffenberg«-Drama schließlich endet mit einem »Nachspiel«: Edelgard, die Tochter der getöteten Schulenburgs, steht »vor der Wand, an der mein Patenonkel vor einem Jahr den Märtyrertod starb« (Sb: 73), und hält ein Jahr nach dem 20. Juli 1944 eine Ansprache vor Hinterbliebenen. Sie konstatiert, »ein ungeheurer Sturzbach des Schmähens« ergieße sich über das deutsche Volk, und fordert die »Rücknahme der bereits wütenden Kollektivstrafen«. Sie beendet ihre Rede mit dem Singen des leicht abgewandelten Deutschlandliedes (inkl. der ersten Strophe), mit dem ihr Patenonkel Stauffenberg ihr »klar machte, wie er sich unser Vaterland erträumte« (alle Zitate Sb: 74). Ähnlich mutet auch Sternbachs Drama noch 1985 in der Schlussszene seinen Leser/innen den »heilgen Mut der Märtyrer« (Sf: 225) zu, deren Anklage sich dann verstärkt – intradiegetisch prophetisch – gegen das vermeintlich antizipierte Verhalten der Besatzungsmächte richtet: STAUFFENBERG: (Lacht.) Der Sieg? Hier ist unser Sieg! Der gewaltigste, reinste Sieg des ganzen Krieges! Noch seht Ihr ihn nicht. Doch ertragt die letzten Minuten! Ihr erweist dem deutschen Volk den größten Dienst, und tiefe Dankbarkeit wird unser gedenken. Doch – deutsches Volk, erkennst du den Sinn unseres Opfers? Bald wirst du getreten, geschmäht, geschlagen von Feindesmacht am Boden liegen. Verurteilt, gebrandmarkt, zerrissen für Jahrhunderte! Osten und Westen werden sich wie die Aasgeier um deinen gequälten Leib streiten. Doch ich weiß es, sag es heute: Ein gerechter Gott wird deine Wunden heilen […]. Dein Reich bestehe fort in einer anderen Welt. Weit größer ist es dort als hier. Ja, ich seh es, das große allverbindende Reich göttlichen Lichts, umarmend Osten, Westen, Norden und Süden. Deutschland, erkenne deine Stunde! Erst jetzt ist sie da! Höre auf deine Propheten, auserwähltes Volk! Schon lange reden sie! Erkenne sie! Begreife sie! Sonst… (Sf: 225f.)

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3.5.4 Widerstand als Vermächtnis an nachwachsende Generationen: Figurationen des didaktischen Impetus Neben den paratextuellen Leserlenkungen und der die Dramen rahmenden Hervorhebung der Märtyrer- und Sühne-Narrative – zum Beispiel in Form der Einführung personalisierter Erzählinstanzen oder der Integration von pro- oder epilogartigen Monologen, die erkennbar auch auf extradiegetische Adressaten zielen – manifestiert sich das didaktische, zukunftsorientierte Anliegen der Texte in der Einführung von Figuren, die als Repräsentanten junger, nachwachsender Generationen fungieren. In Löwens »Stauffenberg«-Drama ist es die Tochter-Figur Edelgard, die im »Nachspiel« des Jahres 1946 das Überleben widerständigen Gedankenguts symbolisiert (vgl. Sb: 73f.). In Michels »Stauffenberg« ist es der Protagonist selbst, der den echten »Dynamismus der idealistischen Jugend« repräsentiert und sich so von den »Alten« auch unter den Widerständigen unterscheidet (vgl. St: 61). Besonders deutlich zeigt sich die Inszenierung jugendlicher ›Erben‹, die auf die symbolische Tradierung widerständiger Werte zielt, wieder in Zuckmayers »Des Teufels General«. Der letzte Akt des Dramas zeigt nicht nur die ›Bekehrung‹ des Protagonisten Harras, sondern auch einen Sinneswandel des jungen Fliegeroffiziers Hartmann, der nach dem Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg sein ideelles »Zuhause« (DTG: 68) in der Hitler-Jugend, der Ordensburg und der »Truppe« (DTG: 69) fand. Später ist Hartmann von Verbrechen deutscher Soldaten an der Ostfront entsetzt (vgl. DTG: 139f.) und fragt Harras, der in diesem Dialog erkennbar zu seinem väterlichen Vorbild wird (vgl. DTG: 141),495 nach dessen Einschätzung. Nicht nur Hartmann selbst zeichnet sich dabei als Teil einer Generation: »Und es sind dieselben – dieselben Jungens – dieselben, die mit mir in der Hitler-Jugend gelebt haben, geschwärmt und gesungen« (DTG: 139). Auch General Harras sieht ihn als Repräsentanten für die Jugend, wie der Wechsel des Anredepronomens von der 2. Pers. Sg. in die 2. Pers. Pl. im folgenden Zitat zeigt: HARRAS: Ich weiß es nicht. Ich habe seine Hand nicht ergriffen. Ich habe – die andere gewählt. Du aber – wenn du mich fragst – du darfst ihm vertrauen. HARTMANN: Es ist sehr schwer. HARRAS: Es war wohl immer schwer – für jeden, der gefragt hat. Für euch ist es am schwersten. Wir hatten es kinderleicht dagegen, in unserer Jugend. Ihr seid in den Tag geboren, mit dem das Recht zerbrach. Aber glauben Sie mir – es gibt ein Recht. (DTG: 141; Hervorhebung M. S.)

Wenn Harras dem jungen Hartmann schließlich kurz vor seinem Suizid seine Armbanduhr, die für ihn Überleben symbolisiert (vgl. DTG: 95), vermacht und 495 Vgl. auch Stüssel 2006: 175.

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er Oderbruch dezidiert auffordert, Hartmann in seine widerständigen Tätigkeiten einzuweihen (vgl. DTG: 155), dann wird der junge Fliegeroffizier zum Garanten sowohl von Kontinuität als auch von Neuanfang.496 Damit verkörpert sich in seiner Figur exemplarisch das, was Jan Eckel als das besondere Potenzial der Erinnerung an den Widerstand beschreibt: »beide Formen der historischen Positionsbestimmung«497 – Distanzierung vom Nationalsozialismus und die Schaffung positiv verstandener Kontinuitäten – zu vereinigen. Die Aussage Zuckmayers in seiner Autobiographie, er habe nach den Aufführungen des Stückes in Westdeutschland »einige hundert Briefe«498 erhalten, die mit den Worten »Ich bin Ihr Leutnant Hartmann…« begannen, verweist – auch wenn man die Selbststilisierung des Autors als trotz seines Exils ausgezeichneter Kenner der deutschen Situation berücksichtigt499 – auf das Identifikationspotenzial dieser geläuterten Figur für das zeitgenössische Publikum. In Peter Lotars »Das Bild des Menschen« sind es gleich zwei Figuren, die im Sinne Eckels sowohl Kontinuität als auch einen möglichen Neuanfang symbolisieren: der Student und das neugeborene Baby der zum Tode verurteilten Frau eines Sozialisten, Maria. Beide ›Erben‹ werden zu Repräsentanten einer nachwachsenden Generation respektive eines ideellen Neuanfangs stilisiert: STUDENT: Ich bin niemals wissentlich unwahrhaftig und lieblos gewesen, und mit mir Millionen anderer junger Menschen. Wir haben für wahr gehalten, was man uns sagte, wir glaubten damit unser Land zu lieben. GRAF: Ich klage nicht an. Niemand darf den anderen richten. Darum wehrt Euch, wenn Fremde Euch einst richten sollten, die über sich selbst noch nicht Gericht gehalten haben. (BM: 62)

Ähnlich wie bei Zuckmayer deuten auch hier sowohl der junge Mann selbst als auch der im Zentrum des Dramas stehende ältere Graf den Studenten als Teil einer jungen, hier als unschuldig verstandenen Generation. Den Bestrebungen der Nationalsozialisten, repräsentiert durch den Präsidenten, die Jugend dauerhaft für sich, also für das ›Böse‹ zu gewinnen (vgl. BM: 42, 79), stellt das Drama das Überleben dieser beiden Figuren und den Tod des Präsidenten entgegen: GRAF: (sehr still) Ein Größerer ist Ihr Gegenspieler. Ein Leben hat er schon aus Ihrer Hand genommen. Die Akten des Studenten sind verbrannt. Zur Wiederherstellung reicht die Zeit nicht mehr. Die Jugend, die Euch so sehr geglaubt und die Ihr so sehr betrogen habt, werdet Ihr nicht töten. (BM: 79)

Auch das Neugeborene entkommt der vom Präsidenten angedrohten Erziehung zu einem Mitglied der NS-Elite dank der Hilfe des »Vaters«. Bei dieser Figur – 496 497 498 499

Vgl. dazu auch Stüssel 2006: 173. Eckel 2003: 140. Zuckmayer 1971: 561. Vgl. exemplarisch Zuckmayer 1971: 558ff.

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eingeführt als ein »drittes Wesen«, das in der Nacht durch das Gefängnis schleicht, das »seltsamste, das sich von Zeit zu Zeit in unserem Hause blicken läßt« (BM: 27) – handelt es sich um eine Art Gefängnisbediensteten, der in der Nacht vor der Hinrichtung den Verurteilten die Haare abschneidet und ihre Schuhe durch Holzpantinen ersetzt (vgl. BM: 28f.).500 Er rettet das Baby vor der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten und auch vor dem Ersticken durch die eigene verzweifelte Mutter, indem er anbietet, es in seinem Schuhsack aus dem Gefängnis herauszuschmuggeln. Durch seine Unterstützung erweist sich der vorherige Traum Marias als sich bewahrheitende Vorausdeutung: Ich ging mit Richard über eine endlose, weiße Fläche, in dichtem Nebel und bei schneidender Kälte. […] Und an meiner Brust ruhte warm, wohlgeborgen das Kind. Da… plötzlich… trat mein Fuß ins Leere. Unter uns hatte sich der Boden geöffnet, gurgelte eine schwarze, tödliche Flut. […] Wir versanken hilflos in einer unauslotbaren Tiefe. Mit letzter, übermenschlicher Kraft ergriff ich Dich, mein Kind, und warf Dich weit von mir, bis an das rettende Ufer. Und bevor uns vollends das eisige Wasser verschlang, da sah ich noch, wie Dich eine Gestalt schützend in die Arme nahm… aber ich konnte nicht unterscheiden, ob es meine Mutter war oder vielleicht der Engel des Herrn. (Sie schließt die Augen. Pause. Mit tiefer, hoffnungslosester Bitterkeit, die ihrer Stimme jeglichen Ausdruck nimmt.) Träume sind Schäume. Ich kann Dich nicht retten, mein Kind. Denn das Ufer, an dem ich Dich aussetzen müßte, gehört der Hölle, und der Dich dort erwartet, will einen seiner Teufel aus Dir machen. Das Grauenvollste aber wäre, daß Du es nicht einmal wüßtest, daß Du einer bist. (BM: 67f.)501

Das Überleben der jungen Generation wird in den ›widerstandsliterarischen‹ Rehabilitierungen nationaler Gemeinschaft zum Symbol für den Fortbestand des Deutschen, auch angesichts der ›teuflischen‹ nationalsozialistischen Verbrechen. Dafür, dass diese Kontinuität als eine wertvolle erscheint, garantiert in der Diegese des Dramas von Lotar die geplante Erziehung des Jungen durch die Großmutter im Geist der Widerständigen, die das Kind vor dem Zugriff der 500 Dass diese Figur »Vater« Züge einer metaphysischen Erscheinung trägt, verdeutlicht ihre Beschreibung im Nebentext: Sein »Alter ist unbestimmbar«, seine »weißen, strähnigen Haare und die wenigen verfärbten Zähne, die bloß noch im Munde stehen, verleihen ihm etwas Unheimliches, während die leicht melancholischen, wissenden Augen, die spitzbübischen Fältchen und eine leise dunkle Stimme von baßgeigenhaft tragender Resonanz etwas Beruhigendes, fast Tröstliches ausstrahlen. […] Bei aller Schlichtheit wirkt er so skurril, daß wir Mühe haben, ihn ganz der Wirklichkeit einzuordnen« (BM: 27f.). 501 Diese Traumerzählung weist erkennbare Gemeinsamkeiten mit einem Traum Sophie Scholls auf, von dem ihre Mitgefangene Else Gebel nach Kriegsende berichtet hat (vgl. Vinke 1996: 153–161). Dieser Bericht ist auch in dem 1952 erschienenem Buch »Die weiße Rose« von Inge Aicher-Scholl abgedruckt (http://www.mythoselser.de/texts/scholl-gebel.htm; Zugriff 04. 10. 2014) und scheint ein mögliches Vorbild für diese Dramenpassage Lotars gewesen zu sein, zumal die Traumschilderung – wie die gesamte Episode um die junge Mutter – in der 1952 erschienenen Hörspielfassung noch nicht, also erst in der 1954 publizierten Dramenfassung enthalten ist.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

»Hölle« bewahren wird. Analog dazu erscheint das Drama selbst in der Kommunikation zwischen realem Autor und realen Leser/innen als erzieherisches Medium, das die Tradierung widerständiger Werte garantiert und somit nationale Kontinuität auch außerhalb der fiktiven Diegese legitimiert.

3.5.5 Überwindung von politisch-sozialen Differenzen zu Gunsten des nationalen Anliegens Ein solcher diskursiver nationaler Neuanfang setzt neben der Anknüpfung an positiv besetzte Traditionen die Nivellierung von Unterschieden innerhalb einer imaginierten nationalen Gemeinschaft voraus. Eine solche Nivellierung von vor allem politisch-sozialen Grenzziehungen erfolgt in den Texten vom Typus Integrationsangebote auf zwei unterschiedliche Weisen: zum einen durch die Betonung von fraktionenübergreifendem Konsens innerhalb des gesellschaftlich breit verankerten Widerstands, zum anderen durch die Behauptung der Möglichkeit einer Überwindung von fraktionenübergreifendem Dissens, wie sie sich vor allem in entsprechenden Integrationsfiguren personifiziert. In den frühen literarischen Widerstandsdarstellungen von Günther Weisenborn und Walter Erich Schäfer wird in der Figurenrede politisch-soziale Heterogenität zumindest proklamiert (»Die Illegalen«) oder auch auf der Bühne durch auftretende Figuren repräsentiert (»Die Verschwörung«). Ähnlich verhält es sich mit Zuckmayers »Des Teufels General«. Auch hier wird eine politischsoziale Breite des Widerstands durch Figuren proklamiert, wenn Oderbruch behauptet: Unsere Namen – haben wir vergessen. Da waren solche dabei mit jahrhundertealtem Wappenglanz. Andere, die nur auf Lohnzetteln stehn. Das zählt nicht mehr. Für eine Weltstunde – sind wir gleich geworden. Klassenlos. Die Stunde dauert nicht. Das wissen wir. Aber sie ist ein Zeichen. Für alle Zeit. (DTG: 151)

Zudem wird sie in dem Drama auch – zumindest in Ansätzen – unmittelbar auf der Bühne vorgeführt, wenn eine enge Kooperation des Militärs Harras erstens mit dem ehemaligen KZ-Häftling (vgl. DTG: 76) und KPD-Mitglied Korrianke (vgl. DTG: 130f.) und zweitens mit Repräsentant/innen von Kunst und Kultur, wie den Opernsängerinnen Olivia und Diddo Geiss sowie dem Maler Schlick, dargestellt wird. Während in den drei Texten von Weisenborn, Schäfer und Zuckmayer die widerständigen Figuren eine harmonische Zusammenarbeit solcher verschiedener Fraktionen behaupten und die Texte eine solche zum Teil – bei Zuckmayer und Schäfer – eben auch auf der Bühne darstellen, wird in vielen weiteren Texten, die vorangehend als Angebote zu einer nationalen Integration interpretiert

Dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹

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worden sind, durchaus die Konfliktträchtigkeit der widerständigen Koalitionen zur Schau gestellt. So zeigt sich beispielsweise in Peter Lotars Drama »Das Bild des Menschen« (1952/54) zwar eine sehr ähnliche Figurenkonstellation wie im Schäfer-Drama, die auf eine Repräsentanz von politisch-gesellschaftlicher Heterogenität des Widerstands zielt.502 Allerdings führen insbesondere die Figurendialoge wesentlich stärker als beispielsweise im Schäfer-Drama konkrete politische Dispute vor. Nicht nur zwischen linken und konservativen Figuren (vgl. exemplarisch BM: 34), sondern auch innerhalb dieser zwei Lager zeigen sich Konflikte (vgl. exemplarisch die Gespräche zwischen den beiden Kommunisten Otto und Paul über sozialdemokratische Mitstreiter [vgl. BM: 8] und zwischen dem Gefängnisgeistlichen und dem General über die militärischen Attentäter [vgl. BM: 19]). Gleiches gilt für sowohl für das »Stauffenberg«-Drama von Walter Löwen (1952) als auch Hans Hellmut Kirsts Drama »Aufstand der Offiziere« (1966). Bei Löwen agieren Stauffenberg und Schulenburg als Kritiker sämtlicher anderer Positionen: SCHULENBURG: Claus, der einzige Mann, der uns hilft, bist du! Goerdeler will die Grenzen von 1914, Beck will die Republik von Weimar, Leuschner träumt von der Weltrevolution, Popitz paktiert mit Himmler – mach Schluß damit! Gib der Welt den Frieden, und du stiftest das Weltjulifest! (Sb: 53)

Im Kirst-Drama werden politisch-soziale Diskrepanzen der Widerständigen gleich in der ersten Szene deutlich zur Schau gestellt, als im Hause Becks Goerdeler, Schulenburg und Leber aufeinander treffen, was von dem beobachtenden Lehmann als Kollision von »Gesinnungslokomotiven« (AdO: 9) bezeichnet wird. Es wird nicht nur die politische Diskussion zwischen den verschiedenen Fraktionen gezeigt, die eine Konkurrenz um die zukünftige Reichskanzlerschaft zwischen Goerdeler und Leber verdeutlicht und in der es vor allem um Goerdelers Wunsch nach einer »Westlösung« (AdO: 17), einer möglichen »Sperrmauer – gegen den Osten« (AdO: 18) und die Kontakte des Sozialdemokraten Leber zu kommunistischen Gruppierungen (vgl. 19f.) geht. 502 Im Vergleich mit dem Schäfer-Drama spielen allerdings mit dem protestantischen Gefängnisgeistlichen und dem katholischen Pfarrer Repräsentanten der Kirche eine wesentlich prominentere Rolle. Dass Fragen religiöser Orientierung in diesem Drama für das Selbstverständnis der widerständigen Figuren relativ zentral sind, zeigt zum einen die folgende Selbstreflexion des Grafen: »Gerade meine Freundschaft mit aktiven Katholiken ist am meisten attackiert und verurteilt worden. Und so stand ich vor Gericht nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adeliger, – sondern als Christ und sonst gar nichts« (BM: 26). Zum anderen betont auch der einzige deutliche NS-Repräsentant des Dramas, der Gerichtspräsident, im Gespräch mit dem Grafen die Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus: »Warum kann man eigentlich nicht Christ sein und mit uns gehen?« (BM: 77) Es ist insgesamt somit – wie auch die Schlussworte des Grafen zeigen (vgl. BM: 84f.) – nicht zuletzt die christliche Glaubensgemeinschaft, die in dem Drama als identifikatorisches Gegenmodell zum Nationalsozialismus dargestellt wird.

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Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft

Darüber hinaus startet der Darsteller des Beck seinen Auftritt gleich mit der Feststellung, dass es »keine einheitliche Widerstandsbewegung in Deutschland« (AdO : 10) gegeben habe. Trotz dieser Zurschaustellung von politisch-sozialem Dissens, die die ›widerstandsliterarischen‹ Interpretationsangebote von Löwen, Lotar und Kirst von denen Weisenborns, Zuckmayers und Schäfers unterscheidet, erweisen sich erstere dennoch als Plädoyers für eine Überwindung politisch-sozialer Differenzen in einem von einer nationalen Gemeinschaft getragenen gemeinsamen Widerstand. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Vorführen der jeweiligen widerständigen Zentralfiguren als Integrationsfiguren, die politischsoziale Gegensätze in sich vereinen: So wird in Lotars »Das Bild des Menschen« der Graf zur entscheidenden integrierenden Figur, nicht nur indem er seinen Kontakt zu verschiedenen sozialen und politischen Gruppierungen des Widerstands herausstellt (vgl. BM: 26), sondern vor allem durch seine Forderung nach der Überwindung politisch-sozialer Differenzen: Und am allerschwersten opfern wir unsere Gewohnheiten und Vorurteile. Kaste, Klasse, Rasse, all dessen müssen wir uns entledigen, um des Größeren willen: ein Mensch zu sein. (BM: 36)

In den beiden ›Juli-Texten‹ Kirsts, vor allem in dem Roman »Aufstand der Soldaten«, erscheinen die Widerständigen als christlich-sozialistische Preußen, wie das folgende Gespräch zwischen Beck und Leber verdeutlicht: »Genau das«, sagte Beck anerkennend. »Offenbar stimmt das, was man von Ihnen sagt: Sie sind ein sozialistischer Preuße.« »Das stimmt möglicherweise im gleichen Ausmaß, wie etwa die Behauptung, daß Stauffenberg und Brackwede rote Grafen sind – so stark verwischen sich da manchmal die Grenzen.« (AdS: 18; vgl. auch AdS: 17, 22f.; und AdO: 13f.)

Und in Löwens »Stauffenberg« schließlich ist es der titelgebende Protagonist, der die politischen Dispute seiner Mitstreiter über Deutschlands Zukunft mit folgendem Versöhnungsvorschlag beendet: STAUFFENBERG: Danach frag ich nicht mehr! Hitlers Tod bedeutet die Rettung des Reiches und den Neubeginn! Wir wollen ein Europa der Vaterländer ohne Sieger und Besiegte! Nur das solidarisierte Europa ist noch ein Ausweg! Europäischer Geist, europäische Kultur und Zivilisation haben das Gesicht der Erde geprägt. Jetzt ist Europa in Gefahr, zur Halbkolonie außereuropäischer Mächte herabzusinken, weil es vom Bruderkrieg verwüstet und innerlich zerrissen ist! Unser Ziel muß sein, ein Europa der freien Vaterländer zu schaffen, in dem sich jede europäische Nation zu ihrer Idealgestalt entfalten darf! (Sb: 35)

Die im Gegensatz zu den Dramen von Weisenborn, Zuckmayer und Schäfer verstärkte Betonung politisch-sozialer Differenzen zwischen den verschiedenen

Dominanter Modus früher literarischer ›Widerstandsnarrationen‹

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am Widerstand beteiligten gesellschaftlichen Gruppen kann als eine Auseinandersetzung der Texte mit der sich zuspitzenden politisch-ideologischen Konfrontation des Kalten Krieges erklärt werden.503 Die Widerstandsrepräsentationen von Löwen, Lotar und Kirst reagieren darauf mit der Kritik an politischen Binnengrenzen, denen sie – vor allem in Form der beschriebenen Figurenentwürfe – nationale Geschlossenheit gegenüberstellen. Die konfliktträchtige figurale Verhandlung politisch-sozialer Grenzziehungen dient in diesen Texten also der Konstitution und Festigung einer übergeordneten nationalen oder – wie vor allem im Lotar-Drama – allgemein menschlichen Gemeinschaft, die Binnengrenzen zu nivellieren beansprucht.

503 Vgl. dazu auch Ursula Heukenkamps Beobachtungen zur zunehmenden Blockkonfrontation im literarischen Feld Berlins seit 1948 (1996: 292–296).

4

Lösung kollektiver Bindungen – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

Eine gänzlich andere Funktion kommt der Darstellung politisch-sozialer Differenzen in den nun fokussierten Texten »Sansibar oder der letzte Grund« (1957) von Alfred Andersch und »Die Verschwörer« (1965) von Wolfgang Graetz zu. Dort zielt sie, wie die folgenden Analysen zeigen, nicht auf die Etablierung einer übergeordneten Gemeinschaft, sondern auf eine grundsätzliche Lösung kollektiver Bindungen. Während die im vorangehenden Kapitel analysierten literarischen Widerstandsdarstellungen insgesamt als Versuche der diskursiven Rehabilitierung von nationaler Gemeinschaft interpretiert werden können, stehen nun im Folgenden solche Texte im Mittelpunkt, die geradezu entgegengesetzt auf die Emanzipation des Einzelnen im Sinne einer Lösung von Bindungen an eine Gemeinschaft zielen. Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel der literarischen Widerstandsrepräsentationen von Andersch und Graetz, wobei erstens die Grenzziehungen zwischen den dargestellten Widerständigen in den Blick geraten: Statt widerständiger nationaler oder politischsozialer Gemeinschaft inszenieren die beiden Texte die Widerständigen als Akteure, die sich durch ihr Handeln gerade von kollektiven Bindungen emanzipieren. Nicht einer gemeinschaftsfundierenden Abgrenzung vom Außen des Nationalsozialismus, sondern der Unterscheidung zwischen den Widerständigen selbst dienen die zentralen narrativen und semantischen Grenzziehungen (Kap. 4.2). Mit dieser Fokussierung des Individuums als zentralem widerständigen Akteur geht in beiden Texten eine Ablehnung jeder Art von ideologisch fundierter Vergemeinschaftung einher, die im Folgenden als Militarismus- und Totalitarismus-Kritik interpretiert wird. Der Nationalsozialismus erscheint dabei in beiden Texten nicht mehr als die einzige, zentrale Bedrohung der Widerständigen, sondern weitere Formen ideologisch begründeter Vereinnahmungen geraten in den Blick: bei Graetz vor allem der preußische Militarismus, bei Andersch der totalitäre Dogmatismus einer kommunistischen »Partei« (vgl. Kap. 4.3). Aber in den hier als diskursive Destabilisierungen kollektiver Bindungen interpretierten Texten werden nicht nur bestimmte politisch-soziale Gemeinschaften sowie die Zugehörigkeit zu ihnen, sondern insbesondere auch

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

die Nation als identitätsrelevante Gemeinschaft in Frage gestellt. Fungieren die vorgängig beschriebenen ›widerstandsliterarischen‹ Integrationsangebote als Rehabilitierung insbesondere nationaler Gemeinschaft, wird ein Verständnis des Widerstands als vor allem nationale Tradition sowohl in »Sansibar oder der letzte Grund« als auch in »Die Verschwörer« dekonstruiert: Das Narrativ vom Widerstand als ›anderem Deutschland‹ funktioniert hier nicht mehr (vgl. Kap. 4.4).

4.1

Texte im Fokus: Alfred Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« (1957) und Wolfgang Graetz’ »Die Verschwörer« (1965)

Alfred Anderschs (1914–1980) Roman »Sansibar oder der letzte Grund«, der 1957 erstmals veröffentlicht wurde, zählt sicherlich zu den bekanntesten literarischen Widerstandsrepräsentationen, die innerhalb der ersten vier Nachkriegsdekaden in Westdeutschland publiziert worden sind. Ein Indiz für den Bekanntheitsgrad des Romans ist nicht nur die umfangreiche auf ihn bezogene Sekundärliteratur, die seit Ende der 1950er Jahre bis in die Gegenwart erschienen ist, sondern auch die wiederholt zu findenden Hinweise auf eine ungewöhnlich schnelle Integration des Romans in schulische Lektürekanones legen eine breite Rezeption nahe.504 Außerdem gelang es Andersch noch im Erscheinungsjahr des Romans Rechte für eine Hörspiel- und eine Spielfilmfassung zu verkaufen.505 Die im Roman von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler präsentierte Geschichte spielt an einem Tag im Oktober 1937 in der kleinen Ostseestadt Rerik, wo nacheinander die fünf Hauptpersonen aufeinander treffen: Gregor, ein kommunistischer Funktionär, soll Heinrich Knudsen, einem Reriker Fischer und Anhänger der Partei, einen Auftrag vom Zentralkomitee überbringen und will anschließend seine Parteiarbeit beenden und ›desertieren‹. Judith Levin ist eine junge Frau, die als Jüdin verfolgt wird und sich nach der Selbsttötung ihrer Mutter auf der Flucht befindet. Helander, der ortsansässige Pfarrer, möchte eine als ›entartet‹ klassifizierte Skulptur aus seiner Kirche, den »lesenden Klosterschüler«, vor der Vernichtung retten und bittet Knudsen, sie mit dem Schiff nach Schweden zu bringen. Die fünfte Figur ist der namentlich nicht weiter gekennzeichnete »Junge«, der als Schiffsjunge für Knudsen arbeitet und angeregt von der Lektüre der Abenteuer Tom Sawyers und Huckleberry Finns davon träumt, das Land zu verlassen, um Abenteuer zu erleben, um 504 Vgl. unter anderem Schütz 1980: 46; und Jendricke 1999: 85. 505 Vgl. Reinhardt 1990: 294.

»Sansibar oder der letzte Grund« und »Die Verschwörer«

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»Sansibar zu sehen« (SlG: 82).506 Den fünf Hauptfiguren stehen als immer wieder erwähnte Gegenspieler die »Anderen« gegenüber, die die nationalsozialistische Bedrohung repräsentieren, aber kaum als konkrete Personen in Erscheinung treten.507 Während die widerständigen Hauptfiguren hinsichtlich ihrer nationalen und politisch-sozialen Identitäten bestimmbar sind, bleiben ihre nationalsozialistischen Gegner in dieser Hinsicht also tendenziell konturlos. In den insgesamt 37 unterschiedlich langen Abschnitten des Romans, in denen das Geschehen chronologisch aus den verschiedenen Perspektiven der in den Abschnittsüberschriften genannten Hauptfiguren erzählt und kommentiert wird,508 steht das Bemühen der unterschiedlichen Figuren im Vordergrund, das Land zu verlassen, etwas aus dem Land herauszuschmuggeln oder dabei zu helfen. Schließlich ist es Gregor, der zum einen Helander anbietet, mit der Hilfe Knudsens und des Jungen den »Klosterschüler« per Schiff nach Schweden zu bringen, und zum anderen dafür sorgt, dass auch Judith auf gleichem Weg das Land verlassen kann. Der »Genosse Klosterschüler« ist spätestens damit »ein politischer Fall« (SlG: 129). Gregor selbst bleibt schließlich zurück, in der Hoffnung, auf anderem Wege flüchten zu können. Helander, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat, entschließt sich, sich seiner Verhaftung, die ihm wegen des Verschwindens der als ›entartet‹ geltenden Skulptur droht, durch Suizid zu entziehen. Zu diesem Zweck schießt er auf die ankommenden »Anderen« und wird anschließend durch deren Schüsse getötet. Der Roman endet 506 Vereinzelt ist in der Forschung der »Lesende Klosterschüler« als sechste Hauptfigur gezählt worden (vgl. Hamburger 1959: 11; und Jendricke 1999: 82), um damit die zentrale Stellung der Skulptur herauszustellen. Allerdings vernachlässigt eine solche Zählung erstens die Nennung der zentralen Figuren in den Abschnitt-Überschriften des Romans und zweitens zentrale Unterschiede zwischen den menschlichen Figuren und der Skulptur, so zum Beispiel die existenziellen Entscheidungssituationen, in die die menschlichen Figuren, nicht aber der »Klosterschüler«, gestellt werden. Vor allem aber schmälert die Einreihung der Klosterschüler-Skulptur in die Gruppe der Hauptfiguren drittens gerade ihren Status als zentraler ›agens movens‹ der Figuren. Letzteren hat insbesondere Irene HeidelbergerLeonard in ihrer Dissertation zu den »Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit« (1986) im Werk von Andersch herausgearbeitet (vgl. Heidelberger-Leonard 1986: 29ff.). 507 Einzige Ausnahme sind die vier Männer, die den »lesenden Klosterschüler« abholen wollen und schließlich versuchen, Helander zu verhaften (vgl. SlG: 154ff.). 508 Der Roman gliedert sich in insgesamt 18 Szenenpaare, von denen jeweils die erste Szene, die durch Kursivdruck vom übrigen Text abgehoben ist, von Gedanken und Erlebnissen des Jungen berichtet, während die zweite Szene jeweils eine, zwei oder drei der anderen Hauptfiguren ins Zentrum stellt. Ein 19. Abschnitt, der sich wiederum dem Jungen widmet, aber ohne Partnerszene bleibt, beschließt den Roman. In der Regel wird das Geschehen in den einzelnen Abschnitten aus der Perspektive der in der Überschrift genannten Figur respektive Figuren vermittelt. Es handelt sich also weitestgehend um eine variable interne Fokalisierung, nur vereinzelt wird das gleiche Geschehen aus verschiedene Perspektiven erzählt (multiple interne Fokalisierung). Zur Funktion dieser den Roman dominierenden variablen internen Fokalisierung für die Destabilisierung von Gemeinschaften vgl. Kap. 4.2.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

mit einer ›Jungen-Szene‹: Knudsen, Judith und der Junge sind mit dem »Klosterschüler« in Schweden angekommen. Der Junge nutzt schließlich die Gelegenheit in Schweden unterzutauchen, um so seinem Freiheitsdrang nachzugeben, wider Erwarten nicht und kehrt nach einem kurzen, unbemerkten Ausflug zu Knudsens Schiff zurück. Die Flucht-Thematik fokussierend ist der Roman in der Forschungsliteratur wiederholt nicht nur als Fortsetzung des autobiographischen Berichts »Die Kirschen der Freiheit« (1952) gelesen worden,509 sondern auch als typisch für Anderschs Gesamtwerk: Die Grundthematik von Anderschs Werk ist die Verwirklichung individueller Freiheit und ihre existenzielle Problematik. Das Fortgehen, die Desertion, das Wegtreten aus den Bindungen ist die immer wiederholte und variierte Geste.510

Dabei werden – wie hier in dem Zitat von Alfons Bühlmann – oftmals die existenzphilosophischen Implikationen des Romans herausgestellt.511 Im Hinblick auf meine Argumentation sind solche Überlegungen erstens dann relevant, wenn mit dem konstatierten »Wegtreten aus den Bindungen« die Ideologieskepsis des Romans betont wird,512 die – vor allem im Fall der Gregor-Figur – zu einer Desintegration des Einzelnen aus einer ehemals identitätsrelevanten Gemeinschaft führt (vgl. Kap. 4.3.1). Zweitens ist es die Rezeption des Romans als 509 Vgl. exemplarisch Jendricke 1999: 80; und Hinck 2006: 155. Insbesondere »Die Kirschen der Freiheit«, aber auch andere Texte Anderschs, erfuhren spätestens in den 1990er Jahren im Anschluss an die Biographie von Stephan Reinhardt (1990) eine Neudeutung, wobei die Kontroverse um Andersch entscheidend auch durch Winfried G. Sebalds polarisierende Ausführungen intensiviert wurde, die 1993 erstmals in »Lettre international« veröffentlicht und 1999 in »Luftkrieg und Literatur« erneut abgedruckt wurden (vgl. Sebald 1999: 129ff.). Der autobiographische Bericht wurde auf Grund der nun öffentlich bekannten kompromittierenden Fakten über Anderschs erste Ehe mit und Scheidung von der als Jüdin verfolgten Angelika Albert, mit der er eine gemeinsame Tochter hatte, als »literarisch überhöht« und als »nachgeholter Widerstand« (Wehdeking 1994: 13) bewertet (vgl. auch Heidelberger-Leonard/Wehdeking 1994: 7ff.; und HeidelbergerLeonard 1995: 36ff.). 510 Bühlmann 1973: 7. Zur zentralen Stellung des Flucht-Motivs im Andersch-Œuvre vgl. auch Heidelberger-Leonard 1986: 77. 511 Zur Deutung von »Sansibar oder der letzte Grund« als »[e]xistenzialistische Parabel« (Hinck 2006) vgl. unter anderem Reich-Ranicki 1963: 107; Fritzsching 1966: 119 und 223; Wehdeking 1983: 77; Hinderer 1994: 164; Jendricke 1999: 84f.; Stocker 2004: 272; und Hinck 2006: 158. Einen Überblick über die Forschung zum Verhältnis von Anderschs Gesamtwerk zum Existenzialismus bietet Michael Hesse in seiner 2004 erschienenen Dissertation »Kunst als fraktales Spiel. Potenziale der Kommunikation in den Romanen Alfred Anderschs« (vgl. Hesse 2004: 14–21). 512 Vgl. dazu vor allem Heidelberger-Leonard 1986: 92f. und 95; außerdem Fritzsching 1966: 119; und Schütz 1980: 50ff. Ansätze, die Freiheitsproblematik in Anderschs Werk autobiographisch zu deuten, wie dies Reich-Ranicki (vgl. 1963: 108f.) und Bühlmann (vgl. 1973: 53f., 69, 78 und 98f.) anbieten, spielen dagegen in dieser Arbeit keine Rolle.

»Sansibar oder der letzte Grund« und »Die Verschwörer«

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»ein Gleichnis von der Willensfreiheit und der individuellen Verantwortung des Menschen«513, die auf seine Tendenzen zur Abstraktion von der historisch zu kontextualisierenden nationalsozialistischen Bedrohung zu Gunsten der »Anderen« als absolutem Bösen aufmerksam macht. Kurt Sollmanns Frage – »Hat das existenzphilosophische Modell die historische Konkretion hinwegstilisiert?«514 – bringt diese Perspektive auf den Punkt, die allerdings nicht unumstritten ist. Während insbesondere die zahlreichen Autor/innen, die »Sansibar oder der letzte Grund« als literarische Modellierung existenzialistischer Entscheidungssituationen lesen, tendenziell die Abstraktion des Romans von der konkreten historischen Situation betonen, heben einzelne, wie Rolf Geissler515 und Werner Zimmer516, gerade die Aspekte der erzählten Geschichte hervor, die den konkreten historischen Hintergrund des sogenannten ›Dritten Reichs‹ akzentuieren. Ähnlich argumentiert auch Ursula Reinhold in ihrer 1988 in Ostberlin erschienenen Monographie zu Alfred Andersch, wobei sie explizit die beiden konträren Deutungsansätze skizziert und ihre eigene Position kritisch nicht nur von der anders verfahrenden Forschung, sondern vor allem auch von entsprechenden zeitgenössischen Kritiken abgrenzt: Die geschichtliche Situation im Spätherbst des Jahres 1937 wird mit wesentlichen, bedrohlichen Zeichen der Unterdrückung und der Gefahr kenntlich gemacht. Diese präzise zeitliche und räumliche Fixierung des Geschehens vermerkt allerdings die überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Kritiker überhaupt nicht oder aber akzeptiert sie nicht als Bedingung für den Wert des Romans.517

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Reich-Ranicki 1963: 107. Sollmann 1994: 36. Vgl. Geissler 1968: 218. Vgl. Zimmermann 1969: 200ff. Reinhold 1988: 124. Erhard Schütz hat als einer der Ersten differenziert und pointiert die frühe Rezeptionsgeschichte des Romans zusammengefasst. Er beschreibt bezüglich der Frage nach der historischen Konkretheit des Romans widerstreitende Tendenzen bei aller Einhelligkeit des positiven Gesamturteils: Einerseits lobten Rezensenten gerade die ästhetische Konzeption des Romans und die damit assoziierte Wendung Anderschs vom politisch engagierten Moralisten zum autonomen Dichter ; Andersch habe »Zeitliches überzeitlich verdichtet« (Schümann, Kurt: Ein 47er wird zum Dichter. In: Der Mittag. 04./ 05. 01. 1958. Zitiert nach Schütz 1980: 45). Andererseits werde in den bekannten Rezensionen von Helmut Heißenbüttel und Arno Schmidt nicht nur die Darstellung des sogenannten ›Dritten Reichs‹ gewürdigt, sondern darüber hinaus der Roman als Kritik an der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft gelesen und gelobt (vgl. Schütz 1980: 44f.; vgl. ähnlich auch Sollmann 1994: 36f.). Schütz bezieht sich dabei auf die Rezensionen »Vom letzten Grund der Politik« (Helmut Heißenbüttel; in: Frankfurter Hefte 12. 1957. H. 2, S. 889f.) und »Das Land aus dem man flüchtet« (Arno Schmidt; in: Die Andere Zeitung 43. 24. 10. 1957), die beide in dem 1974 von Gerd Haffmans herausgegebenen Materialband »Über Alfred Andersch« (vgl. Haffmans 1980: 340) abgedruckt sind.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

Während Reinhold – nicht zuletzt auf Grund ihrer im DDR-Kontext zu verortenden politisch-ideologischen Prämissen – die politischen Implikationen von »Sansibar oder der letzte Grund« herausstellt,518 betonen Erhard Schütz519 und Kurt Sollmann520 stärker die Wechselwirkung zwischen historischer Konkretisierung und Entkonkretisierung, die die Wirksamkeit des Romans, bei dem das »scheinbar Unaufdringliche«521 der historischen Bezüge beeindrucke, ausmache. Ausgehend von diesen Beobachtungen fokussieren die folgenden Analysen dieser Arbeit insbesondere die Darstellung der »Anderen« im Andersch-Roman in ihrem Schwanken zwischen Konkretisierung und damit einhergehender Nationalisierung einerseits und Entkonkretisierung und entsprechender Entnationalisierung der nationalsozialistischen Bedrohung andererseits. Diese Ambivalenz wird nicht zuletzt zu einem zentralen Argument dafür, den Roman weniger als Beitrag zu einer diskursiven Abgrenzung von Politik und Ideologie des ›Dritten Reichs‹, sondern als grundsätzliche Kritik an gemeinschaftsbegründenden totalitären Ideologien und Strukturen zu lesen (vgl. Kap. 4.4). Als zweiter Text rückt das Drama »Die Verschwörer« von Wolfgang Graetz (1926–1999) ins Zentrum der folgenden Analysen. Graetz’ »erstes und zugleich bedeutendstes Theaterstück«522 ist neben Hans Hellmut Kirsts Vorlage zur Piscator-Inszenierung »Aufstand der Offiziere« (1965), Günther Weisenborns »Walküre 44« (1966) und Walter Löwens Tragödie »Stauffenberg« (1966) die vierte Dramatisierung des Attentats vom 20. Juli 1944, die Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht worden ist. Das Drama wurde erstmals im Rahmen einer Lesung der Humanistischen Union in München im Oktober 1965 einem größeren Publikum vorgestellt. Dieser Lesung und der ebenfalls im Herbst 1965 erfolgenden Buch-Veröffentlichung im Münchener Verlag Rütten & Loening ging eine öffentliche, kontrovers geführte Debatte über das Stück voraus:523 Als bekannt wurde, dass verschiedene Intendanten – Erwin Piscator an der West-Berliner Freien Volksbühne, Harry Buckwitz in Frankfurt und August Everding von den Münchener Kammerspielen – Interesse an einer Veröffentlichung des Stückes bekundet hatten und in Verhandlungen mit dem Autor standen, gab es öffent-

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Vgl. exemplarisch Reinhold 1988: 130. Vgl. Schütz 1980: 45. Vgl. Sollmann 1994: 36f. Sollmann 1994: 37. Hofmann/Pfeifer 2007: 50. Vgl. Wassiljew 1965: 9; und den Eintrag »Graetz, Wolfgang« in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv. URL: http://www.munzinger.de/document/ 00000011144 (abgerufen von Universität Oldenburg Universitätsbibliothek am 20. 11. 2014).

»Sansibar oder der letzte Grund« und »Die Verschwörer«

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liche Proteste sowohl »von der politischen Rechten«524 als auch durch Interessensverbände der Überlebenden und Angehörigen des 20. Juli 1944.525 Das Bekanntwerden der Tatsache, dass ein ›Zuchthausliterat‹ die Absicht hatte, sich an einem zentralen Gegenstand bundesrepublikanischer Feierstunden zu vergreifen, sorgte für einen Sturm der Entrüstung.526

Bei diesen Protesten ging es nicht nur um die Tatsache, dass der Autor Graetz derzeit als verurteilter Häftling in der JVA Butzbach einsaß und bereits 17mal vorbestraft war,527 sondern die Kritik des Dramas an den Akteuren des 20. Juli 1944 tangierte ein gesellschaftliches Tabu, wie die Ausführungen von Sascha Feuchert und Andreas Pfeifer zum Stellenwert der »Verschwörer« in der bundesrepublikanischen Rezeptionsgeschichte des Stauffenberg-Attentats betonen: Die Phase der Idealisierung hatte zu Beginn der sechziger Jahre einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Aus den Männern und Frauen des 20. Juli waren idealisierte Heroen geworden, die ausnahmslos und von Anfang an aus moralischen Motiven Widerstand geleistet hatten. […] Vor dem Hintergrund einer erst langsam einsetzenden Entmythologisierung des deutschen Widerstands konzipierte Wolfgang Graetz Die Verschwörer. Sein Ansinnen war es, das noch vorherrschende, idealisierte Bild des 20. Juli radikal in Frage zu stellen.528

524 Hofmann/Pfeifer 2007: 53. 525 Pawel Wassiljew nennt in seinem 1996 im »kürbiskern« erschienenen Aufsatz »Der ›Fall‹ Wolfgang Graetz« den Kölner Volkswartbund und die Münchener National- und Soldatenzeitung als publizistische Organe, in denen gegen das Drama von Graetz agitiert worden sei. Des Weiteren beschreibt Wassiljew die abwehrende Reaktion von Michael Graf Soltikow, der sich als Vertreter der »Witwen und Waisen der Opfer des 20. Juli« inszenierte (Wassiljew 1965: 10). Soltikow habe unter anderem versucht, mit Klagedrohungen unmittelbar vor der Ur-Lesung des Dramas am 28. 10. 1965 dessen Veröffentlichung zu verhindern; ein Verhalten, von dem sich darauf das »Hilfswerk 20. Juli« umgehend distanzierte (vgl. Wassiljew 1965: 10). Zu Positionen und Akteuren der Debatte vgl. auch Feuchert/Pfeifer 2006: 81f. 526 Hofmann/Pfeifer 2007: 52f. 527 Vgl. o. A.: Schriftsteller Graetz. Bombe aus Butzbach. In: Der SPIEGEL. 18/1965, S. 142– 147; hier : 142. 528 Feuchert/Pfeifer 2006: 78f. Vgl. dazu auch Wagner 2006: 246–262. Als ein Beispiel dafür, dass drastische öffentliche Kritik an den Widerständigen des 20. Juli 1944 noch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sanktioniert wurde, sei auf das Verbot des Romans »Catacombe. Feige Attentäter sterben im Juli« (Autor : Roger Giuliano Merenda [Pseudonym]) aufmerksam gemacht: Der Roman handelt zwar eigentlich von einem Aufstand von Sizilianern in Palermo im Jahr 1282 (Sizilianische Vesper). Allerdings enthält die publizierte Ausgabe drei Anmerkungen in Fußnotenform, die sehr explizit diffamierende Vergleiche mit dem 20. Juli 1944 herstellen. Ein Schöffengericht verurteilte den verantwortlichen Hannoveraner Verleger Hans Pfeiffer wegen Verunglimpfung des Ansehens Verstorbener zu 400 Mark Geldstrafe. Zudem wurde Hinterbliebenen von Hingerichteten das Recht zuerkannt, das Urteil auf Kosten des Angeklagten in einer Tageszeitung zu veröffentlichen, und die gesamte Auflage des Buches mit den Fußnoten, sein Schutzumschlag und die entsprechenden Druckstöcke waren unbrauchbar zu machen. (Diese Informationen zum

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

Das Drama setzt mit einer Szene ein, die im Büro des Grafen Helldorff spielt, dem Polizeipräsidenten von Berlin, der die Anschlagspläne der Verschwörer unterstützt. Am Vormittag des 15. Juli 1944 unterhalten sich dort Helldorff und die ebenfalls eingeweihten Arthur Nebe, Reichskriminaldirektor, und HansBernd Gisevius, Vizekonsul im diplomatischen Dienst, über Chancen, Gründe und Probleme des geplanten Attentats. Dass der Putsch zu scheitern droht, wird bereits zum Auftakt des Dramas daran deutlich, dass Helldorff und Nebe den Verdacht hegenden stellvertretenden Gauleiter von Berlin, Schach, in Sicherheit wiegen müssen, und auch das zweite von insgesamt zehn »Bildern« zeigt Claus Graf Schenk von Stauffenberg und Friedrich Olbricht in einem Gespräch mit Beck, in dem das Scheitern aller bisherigen Anschlagspläne thematisiert wird. Der Großteil des Dramas, die Bilder 4 bis 10, spielt dann am Tag des Sprengstoffattentats auf Adolf Hitler und setzt sukzessive das befürchtete Scheitern der Verschwörung in Szene. Während die Bilder 4, 6, 8 und 10 das OKH Bendlerstraße als Handlungsort zeigen – auf einer »Simultanbühne mit vier Ebenen« (Vsch: 27) sind jeweils das Vorzimmer und das Büro Olbrichts, das Zimmer Friedrich Fromms, General der Infanterie, Chef des Allgemeinen Heeresamts und somit Vorgesetzter von Stauffenberg, sowie ein Flur des sogenannten ›Bendlerblocks‹ zu sehen –, präsentieren die Bilder 5, 7 und 9 wieder Gespräche in den Diensträumen Helldorffs.529 Die OKH-Szenen inszenieren ein zunächst zögerliches Verhalten Olbrichts und Hoepners, die sich auf Grund unklarer Informationen über die Bombendetonation im Hauptquartier weigern, den Aktionsplan »Walküre« auszurufen (vgl. Vsch: 27–31, 38–42), und stellen Merz von Quirnheim, Ludwig Beck und Stauffenberg als die einzigen entschlossen handelnden Personen vor. Die Szenen im Polizeipräsidium stellen wiederholt Gespräche zwischen Helldorff, Nebe und Gisevius ins Zentrum, in denen vor allem Helldorff Pläne, Personen und das Handeln der militärischen Verschwörer kritisch kommentiert. In diesen Gesprächen wie auch in den OHK-Szenen erscheinen unzureichende Organisation (vgl. exempl. Vsch: 41), fehlende Entschlossenheit (vgl. exempl. Vsch: 68f.) und eine ausgeprägte GehorsamsmenGerichtsverfahren basieren auf einem mir vorliegenden Bericht einer Tageszeitung [Autorenkürzel Rt.], vermutlich aus dem Hannoveraner Raum, vom 6. November 1968). 529 Das dritte Bild nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als dass nur hier weder Handlungsort noch Handlungszeit konkret benannt werden: »Ort: unbestimmt. / Zeit: nachts.« (Vsch: 24), wobei durch seine Positionierung zwischen die Bilder 2 und 4 und aus einer Aussage Stauffenbergs (vgl. Vsch: 26) zu schließen ist, dass die Szene in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli 1944 spielt. Diese Szene ist allerdings – wie bereits die nicht vorhandene Ortsangabe vermuten lässt – weniger für Planung und Fortgang des Attentats relevant, sondern dient primär der Inszenierung politisch-ideologischer Reflexionen zentraler »Verschwörer«-Figuren. So zeigt die Szene ausschließlich ein Gespräch zwischen Stauffenberg, Yorck und Schulenburg, das von der Frage nach den politischen Alternativen zum Nationalsozialismus dominiert wird.

»Sansibar oder der letzte Grund« und »Die Verschwörer«

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talität (vgl. exempl. Vsch: 35)530 neben einer persönlichen Verbundenheit der Verschwörer mit NS-System und -ideologie (vgl. Kap. 4.3) als Ursachen dafür, dass der Putschversuch fehlschlägt und die Verschwörer letztlich überwältigt werden. Das Drama endet schließlich mit dem misslingenden Suizid Becks und der hinterszenisch akustisch inszenierten standesrechtlichen Erschießung von Stauffenberg, Merz von Quirnheim, Olbricht und Werner von Haeften. Das Stück »Die Verschwörer« wird in den wenigen, größtenteils jüngeren Forschungsarbeiten, die sich mit ihm auseinandersetzen, dem Genre der geschichtspolitisch skandalträchtigen Dokumentardramatik der 1960er Jahre zugeordnet.531 Graetz selbst gibt im Anhang der gedruckten Erstausgabe seines Dramas Einblick in das von ihm genutzte Quellenmaterial (vgl. Vsch: 112–133). Bereits hier wird durch die Vielzahl der abgedruckten Zitate die deutliche Orientierung von Graetz an der umstrittenen Edition der sogenannten »Kaltenbrunner-Berichte« deutlich.532 Als weitere Quellen nennt Graetz im »Verschwörer«-Anhang unter anderem Eberhard Zellers frühe Arbeit über den 530 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Susanne M. Wagner in ihrer 2006 erschienenen Dissertation »Der 20. Juli 1944 auf der Bühne«, S. 226–231. Wagner beschreibt hier detailliert, inwiefern Wolfgang Graetz in seinem Drama die Widerständigen als Scheiternde zeigt, denen die notwendigen Eigenschaften zur Revolte fehlten. Dabei scheinen ihre Ausführungen allerdings primär darauf abzuzielen, die Darstellung im Drama mit einer historischen Realität zu vergleichen. Ihre Werturteile über das Drama basieren somit in erster Linie auf möglichen historischen Ungenauigkeiten, wie das folgende Zitat exemplarisch zeigt: »Sie [die historischen »Verschwörer«; Anm. M. S.] planten und konspirierten, ohne ihr Gehorsams- und Ordnungsbewußtsein abzulegen. Graetz beklagt den blinden Gehorsam des Offizierskorps, der den Amoklauf des Regimes bis zur Katastrophe mitmachte. Dabei übersieht er, daß die Juli-Männer sich von dem in ihren Familien seit Generationen verankerten Bewußtsein befreit hatten« (Wagner 2006: 229f.; vgl. dazu vor allem auch Wagners Urteile über die Figurengestaltung des Dramas, S. 231f.). 531 Vgl. dazu Geiger 1973: 31f.; Reichel 2004: 82; Feuchert/Pfeifer 2006: 81; Wagner 2006: 240; und Hofmann/Pfeifer 2007: 51. Auch zeitgenössische Besprechungen des »›Fall[s]‹ Wolfgang Graetz« (Wassiljew 1965: 6) sehen die »Die Verschwörer« in der Tradition von geschichtspolitisch brisanten Dokumentardramen wie vor allem Hochhuths »Der Stellvertreter« (vgl. Wassiljew 1965: 7f.; »Bombe aus Butzbach« 1965 [Anm. 527]: 142). 532 Bei den sogenannten »Kaltenbrunner-Berichten« handelt es sich um eine Zusammenstellung von Informationen aus den Ermittlungen der »Sonderkommission 20.7.«, die der SSObersturmbannführer Walter von Kielpinski, leitender Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes der SS, verfasst hat und mit denen ab dem 21. Juli 1944 Martin Bormann und Adolf Hitler regelmäßig über die Erkenntnisse der Ermittlungen zum Attentat informiert wurden. 1961 wurden diese »Kaltenbrunner-Berichte« erstmals als Dokumentenband publiziert. Die vom Stuttgarter Seewald Verlag herausgegebene Dokumentation, die Wolfgang Graetz als Quellengrundlage diente, war vor allem deswegen umstritten, weil sie jegliche quellenkritische Kommentierung vermissen ließ und die abgedruckten Quellen als »Spiegelbild einer Verschwörung« – so der Titel – verkaufte. Der unkommentierte Abdruck von Aussagen, die am Attentat beteiligte Personen in den Verhören der Gestapo – zum Teil nachweislich unter Gewaltandrohungen und Folter – getätigt hatten, wirkte als Diffamierung der Widerständigen durch den Herausgeber Karl Heinrich Peter (vgl. Jacobsen 2010: 109–111).

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

20. Juli 1944, »Geist der Freiheit« (ca. 1952), deren »deutsch-völkische[r] Jargon« ihn nach eigener Aussage »skeptisch gemacht«533 und zur näheren Auseinandersetzung mit dem Thema motiviert habe. Außerdem verweist er auf Gerhard Ritters Goerdeler-Biographie (1954) und Hans Bernd Gisevius’ zweibändiges Buch »Bis zum bitteren Ende«, das autobiographisch geprägte Schilderungen des ›Dritten Reichs‹ und insbesondere des Juli-Attentates enthält. Die Frage, inwieweit sich Graetz’ Darstellung des 20. Juli 1944 an authentischem Quellenmaterial und aktuellem Wissen über das historische Geschehen orientierte, prägte entscheidend die zeitgenössische Debatte über das Drama sowie die in diesem Zusammenhang entstehenden Gutachten von Historiker/innen, die im Auftrag von am Stück interessierten Verlagen und Theatern erstellt wurden.534 Neben dem Bezug auf die »KaltenbrunnerBerichte« ist es vor allem die enge Zusammenarbeit mit dem öffentlich umstrittenen überlebenden Widerständigen Hans Bernd Gisevius im Zuge der Entstehung des Dramas, die in der Öffentlichkeit und den Gutachten für Ablehnung sorgte.535 Die wiederholte zeitgenössische Kritik an der möglichen historischen Ungenauigkeit des Stückes, die noch 2006 von Susanne M. Wagner in ihrer Dissertation fortgeführt wird,536 führte schließlich zum Rückzug der drei Theater-Interessenten, so dass das Drama »in den Giftschränken der Dramaturgen«537 verschwand und erst 1968 am Pfalztheater Ludwigshafen uraufgeführt wurde: Binnen dreier Jahre hatte sich die Brisanz der Verschwörer offensichtlich fast vollständig verflüchtigt. In der Zwischenzeit hatten die Studentenunruhen das Selbstverständnis des westdeutschen Teilstaates nachhaltig erschüttert, im Revoltenjahr 1968 brauchte es mehr als Graetz’ Widerstandsthesen, um einen Skandal auszulösen. In533 Zitiert nach »Bombe aus Butzbach« 1965 [Anm. 527]: 144. 534 Die am Münchener Institut für Zeitgeschichte arbeitende Historikerin Franziska Violet fertigte im Auftrag des Rütten & Loening Verlags ein Gutachten, das sich – wie Wassiljew skizziert – trotz der schlussendlichen Ablehnung des Dramas als ambivalent erweist (vgl. Wassiljew 1965: 9). Hermann Graml, auch Historiker am IfZ, erstellte ein ebenfalls ablehnendes Gutachten im Auftrag des Intendanten der Münchener Kammerspiele, August Everding, in dem er darauf insistierte, »die ›Verschwörer‹ hätten ›edlere Motive‹ gehabt« (Wassiljew 1965: 9). Auch Golo Mann erhielt – vom Schauspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt a. M. – den Auftrag, ein zeitgeschichtliches Gutachten zu erstellen, das allerdings nach Aussage Manns nie entstanden sei. Er habe lediglich in einem privaten Brief an den Dramaturgen seine ablehnende Meinung kundgetan (vgl. Wassiljew 1965: 7f.). Im SPIEGEL-Bericht »Schriftsteller Graetz. Bombe aus Butzbach« ist von insgesamt neun Gutachten die Rede, die »Theater- und Rundfunkleute« angefordert hätten (»Bombe aus Butzbach« 1965 [Anm. 527]: 142), und Feuchert/Pfeifer sprechen von einem »regelrechte[n] Gutachterkrieg« (2006: 82). 535 Vgl. dazu Pfeifer/Feuchert 2006: 80f. 536 Vgl. Wagner 2006: 227. 537 Feuchert/Pfeifer 2006: 82.

Hervorhebung politisch-sozialer Binnengrenzen des Widerstands

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sofern bietet die Rezeptionsgeschichte der Verschwörer auch einen Einblick in den Bewusstseinswandel, der innerhalb kurzer Zeit in der deutschen Öffentlichkeit stattgefunden hatte. […] Als sich die Verweigerungshaltung seinem Stück gegenüber löste, war das einst avancierte Drama thematisch paradoxerweise überholt.538

4.2

»Ich kann es nicht hören, wenn ein Bürger von der Revolution redet.« – Hervorhebung politisch-sozialer Binnengrenzen des Widerstands durch kontrastive Perspektivierungen des Geschehens

Als ein zentraler Unterschied zwischen literarischen Widerstandsrepräsentationen, die als Rehabilitierung von nationaler Gemeinschaft wirken, und den hier fokussierten Erzählungen vom Widerstand, die auf eine Destabilisierung kollektiver Bindungen abzielen, kann die jeweilige Auseinandersetzung mit der Heterogenität politisch-sozialer Gemeinschaften und entsprechender Positionierungen gelten. In »Sansibar oder der letzte Grund« fungieren die einzelnen Hauptfiguren vor allem zu Beginn des Romans als Repräsentanten verschiedener sozialer oder politischer Gruppen; ein Eindruck, der in erster Linie implizit durch ihre je spezifische gedankliche Weltdeutung und Interpretation der jeweils anderen Figuren oder explizit durch die gegenseitigen Fremdcharakterisierungen erzeugt wird. Gregor erscheint – hier aus Knudsens Perspektive – als pragmatischer kommunistischer Parteifunktionär : Einer vom Jugendverband, dachte Knudsen, ich kenne die Typen. Sind keine Arbeiter, die Burschen, aber auch keine richtigen Intellektuellen. Sind einfach nur harte, trainierte Burschen. Ich wollte, die Partei schickte mal einen richtigen Arbeiter. (SlG: 45)

Knudsen ist der »letzte Genosse von Rerik« (SlG: 48) und repräsentiert den ›roten‹ Arbeiter (vgl. exemplarisch SlG: 15, 22, 27, 30f., 56f.). Judith wird aus Gregors Perspektive zur »süßen Bourgeoisen« (SlG: 116; vgl. auch SlG: 103f.), Helander als Pfarrer zum »tadellosen Edelmann Gottes« (SlG: 116) oder – laut Knudsen – zum »Bürger« (SlG: 30).539 Im Gegensatz zu den frühen Dramen von Weisenborn (1946) und Schäfer (1949) inszeniert Anderschs Roman – wie auch das Graetz-Drama – nun kein harmonisches Miteinander verschiedener poli-

538 Feuchert/Pfeifer 2006: 86f. Zur Publikationsgeschichte vgl. auch Wagner 2006: 251–259. 539 Dass die Figuren zudem auch durch die sprachliche Spezifik ihrer Rede und Gedanken als sozial differente Charaktere dargestellt werden, hat bereits Rolf Geissler in einer der ersten Arbeiten zu dem Roman beobachtet. Er spricht in diesem Zusammenhang von der »soziologische[n] Funktion« der Sprache (Geissler 1968: 231). Vgl. dazu auch Fritzsching 1966: 111.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

tisch-sozialer Gruppen. So verweigert Knudsen die Zusammenarbeit mit Helander : Hören Sie auf! sagte Knudsen. Ich kann es nicht hören, wenn ein Bürger von der Revolution redet. Sie haben keine Ahnung, wie falsch das klingt. Ich bin kein Bürger, sagte Helander wütend. Ich bin ein Pfarrer. Ein Pfarrer für die Bürger, Herr Pfarrer! Und das ist der Grund, warum ich nicht für Sie nach Skillinge fahre! […] Knudsen verschanzte sich hinter seinen Sprüchen, dachte der Pfarrer. (SlG: 30f.)

Dieser wiederum will sein »Gotteshaus« gegenüber den ›Roten‹ verteidigen: Aber das ist doch die Höhe! Er bellte plötzlich los: Das Gotteshaus ist kein Ort, in dem ihr die Geschäfte eurer Partei abwickeln könnt! (SlG: 53)

Und Gregor fühlt sich im Anblick der bürgerlichen Allianz von Judith und Helander außen vor (vgl. SlG: 116) und verweigert sich auch im Angesicht der bedrohlichen Fluchtsituation dem christlichen Segenswunsch des Pfarrers: Ich habe eine andere Bitte an Sie, sagte der Pfarrer, ich möchte noch ein Vaterunser sprechen, für Sie und für dieses junge Mädchen und natürlich auch für die Figur. Nein, sagte Gregor sehr schnell, ich weiß nicht mehr, wie lange ein Vaterunser dauert, und wir haben es nun sehr eilig. Es dauert nicht länger als eine Minute, sagte der Pfarrer. Nein, erwiderte Gregor. Der Pfarrer machte eine zornige Bewegung, aber er bezwang sich. Kommen Sie zu mir her, sagte er zu Judith. (SlG: 119)

Auch fraktionsintern zeigen sich Konflikte: Helander distanziert sich von seinen Kirchenbrüdern: »Und: die Kirche, das bin leider nur ich.« (SlG: 30); Knudsen wiederum von Gregor : »Der hochnäsige Kerl, dachte Knudsen, der verdammte hochnäsige Kerl. Der Kerl mit seinem ZK-Hochmut« (SlG: 141). Entsprechend konstatiert Günther Stocker : Alle diese Kommunikationsstörungen sind durch dogmatisches Denken und gegenseitige Vorurteile verursacht worden. […] Die ideologischen Scheuklappen verhindern die angemessene Wahrnehmung der anderen und damit die Basis für eine gelingende Kommunikation. Andersch verdeutlicht das mit der konsequent durchgehaltenen Erzähltechnik der »parallelen Figurenführung«.540

Trotz der Repräsentanzfunktion der Figuren, also trotz ihrer zunächst relativ klaren Zuordnung zu politischen Positionen oder sozialen Milieus, wirken diese als isolierte Akteure; ein Eindruck, der – wie Stockers Aussage verdeutlicht – nicht zuletzt durch die narrative Gestaltung der Figurenkommunikation im 540 Stocker 2004: 269. Mit dem Hinweis auf die »parallele[ ] Figurenführung« zitiert Stocker an dieser Stelle aus dem KLG-Eintrag von Rhys Williams über Alfred Andersch.

Hervorhebung politisch-sozialer Binnengrenzen des Widerstands

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Roman verstärkt wird. Auffällig sind in diesem Zusammenhang vor allem die häufigen Unterbrechungen der Darstellung von gesprochener Sprache durch Einschübe, in denen die Gedanken der am Gespräch beteiligten Figuren in erlebter Rede vermittelt werden. Werner Zimmermann hat entsprechend auf die zur Schau gestellte Diskrepanz zwischen kommunikativen Äußerungen und Gedanken aufmerksam gemacht, die »jene Atmosphäre des Mißtrauens spürbar«541 mache, die selbst das Verhältnis zwischen den Parteigenossen Gregor und Knudsen präge (vgl. exemplarisch SLG: 46).542 Schon früh und wiederholt ist diese figurenabhängige Perspektivierung des Geschehens und die Interaktion zwischen Außenwelt-Darstellung und Gedankenwiedergabe in der Sekundärliteratur zum Andersch-Roman beschrieben worden. Käte Hamburger war die Erste, die in ihren Überlegungen zu den »Erzählformen des modernen Romans« (1959) die narrative Struktur des Romans differenziert analysiert hat. Ähnlich wie nach ihr Rolf Geissler, Werner Zimmermann, Alfons Bühlmann und Volker Wehdeking sowie in jüngerer Zeit Walter Hinderer und Rhys Williams543 betont sie den Zusammenhang zwischen Erzählverfahren und zur Schau gestellter Isolierung der Figuren, die als Einzelne außerhalb von Kollektiven agieren: Sie kommen zwar in Berührung miteinander, und die Wechselrede geht darum naturgemäß in die Erzählung ein. Aber in ihrem eigentlichen Sein, in dem, was ich ihre ›Plastizität‹ nannte, erleben wir sie nicht in ihren Beziehungen zueinander, ihrem Dialog also, sondern jede in ihrem Fürsichsein, jede versenkt in ihre eigene Situation und Not, letztlich also schweigende, in sich verschlossene und abgeschlossene Gestalten.544

541 Zimmermann 1969: 214. 542 Ähnliches hat bereits Rolf Geissler beobachtet: »Identifiziert sich die Erzählperspektive nahezu immer mit der jeweils vorgestellten Person, so ergibt sich beim Zusammentreffen mehrerer Personen mit Notwendigkeit eine Dialogsituation […]. Aber diese Gespräche werden nicht immer offen und ehrlich geführt. Mißtrauen beherrscht die Menschen in einer Zeit politischer Unterdrückung und Bespitzlung. […] Dieses Sich-nicht-aussprechen hat zur Folge, daß der Gesprächspartner in ganz anderer Weise über seinen Mitredner nachdenken, reflektieren muß. […] Die Erzählung schwankt zwischen Reflexion und Beobachtung […]. Dieser Perspektivenwechsel leistet vor allem zweierlei: Zunächst unterstreicht er noch einmal das Mißtrauen und die Isolierung der Menschen, die dadurch zum verschärften Beobachten angehalten werden, sodann entsteht durch die Wiedergabe von Beobachtungen ein indirektes Berichten. […] [I]ndem so die naive Erzählung gebrochen wird, indem das, was erzählt werden soll, oft nur im Spiegel der anderen Person sichtbar wird, eben in dieser Reflexion, ist es Ergebnis schon des Nachdenkens und steht damit auf einer höheren Stufe des Bewußtseins als die normale Erzählung. Die Personen interpretieren in ihren Reflexionsakten den Roman gleichsam selbst« (Geissler 1968: 222f.). 543 Vgl. Geissler 1968: 222f.; Zimmermann 1969: 214f.; Bühlmann 1973: 18f.; Wehdeking 1983: 86; Hinderer 1994: 148f.; und Williams 2002. 544 Hamburger 1959: 11.

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Während in »Sansibar oder der letzte Grund« die verschiedenen auftretenden Figuren selbst als tendenziell typisierte Repräsentanten sowohl verschiedener politischer Positionen – Kommunismus (Knudsen, Gregor) und Konservatismus (Helander) – als auch sozialer Klassen – Arbeiter (Knudsen), ›Bourgeoisie‹ (Judith, Helander) – erscheinen und somit entscheidenden Anteil an der »Betonung des Modellcharakters des Romans«545 haben, bilden die handelnden Figuren bei Graetz eine vor allem sozial verhältnismäßig homogene Gruppe. Sie rekurrieren – gemäß dem dokumentarischen Anspruch des Autors – auf an den Verschwörungsplänen gegen Adolf Hitler und den NS-Staat zentral beteiligte Personen: Fast alle bei Graetz auftretenden Figuren gehör(t)en zum Militär beziehungsweise zur Polizei oder sind Angehörige paramilitärischer Parteiorganisationen, ein großer Teil zählt zum Adel; Gisevius als nicht-adeliger Diplomat im Auswärtigen Dienst ist die prominente Ausnahme in diesem Figurenspektrum. Statt die Figuren – wie Andersch – über biographische Merkmale zu typisierten Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Fraktionen zu machen, vermittelt das Drama »Die Verschwörer« differierende politisch-soziale Positionen und Positionierungen zum einen durch Streitgespräche zwischen den auftretenden »Verschwörern« und zum anderen durch seine alternierende Szenenstruktur. Dabei verhandelt das Drama erstens politische Konflikte zwischen konkurrierenden politischen Positionen, in die die militärischen »Verschwörer« des Bendlerblocks verstrickt sind, und verweist dabei auf ähnliche Konfliktlinien zwischen linken und konservativen Fraktionen wie der Andersch-Roman. Die Figuren (Carl Friedrich) Goerdeler und (Julius) Leber, die selbst eben nicht unmittelbar als handelnde Figuren in Erscheinung treten und entsprechend auch nicht im Verzeichnis der dramatis personae genannt sind, werden dabei zu personalisierten Exponenten sich konträr gegenüberstehender politischer Richtungen. In Dialogen über diese beiden Figuren positionieren sich die agierenden militärischen »Verschwörer«: STAUFFENBERG Aber – bei Leber : sehen Sie, da ist doch ein Ansatz! erregt Ich muß ihn rausholen, bevor er diesem Freisler in die Hände fällt! Der läßt ihn sofort aufhängen. Eben, weil Leber als einziger etwas dagegenzusetzen hat. Und er ist auch der einzige, der für mich als Reichskanzler in Frage kommt. YORCK Bis jetzt ist noch Goerdeler vorgesehen. STAUFFENBERG winkt ab Der bleibt nicht lange. Dazu fehlt ihm das Format. SCHULENBURG Viel zu reaktionär – und auch ohne jede neue Idee. (Vsch: 24)

Stauffenberg und Schulenburg sind sich »darin einig – daß ein gewisser Sozialismus durchaus seine Berechtigung hat« (Vsch: 24). Sie sehen sich damit einem 545 Wehdeking 1983: 77. Zur Modellartigkeit des Romans vgl. auch Reinhold 1988: 130; und Stocker 2004: 272.

Hervorhebung politisch-sozialer Binnengrenzen des Widerstands

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Goerdeler gegenüber, den sie als »[v]iel zu reaktionär« einschätzen und als Vertreter einer überholten Generation beschreiben, die »reif […] zum Absterben« ist: STAUFFFENBERG heftig Er [der Nationalsozialismus; Anm. M. S.] mußte ja auch kommen! Sehen Sie sich doch die alten Herren an! Wenn die nicht reif sind zum Absterben, diese müden Greise…! (Vsch: 24)

Allerdings verweist Schulenburgs Sprechen von einem »gewisse[n] Sozialismus« bereits auf die Begrenztheit des Bezugs auf marxistische Positionen, wie sie von den jungen militärischen »Verschwörern« artikuliert werden. So etablieren die Figurendialoge der militärischen »Verschwörer« zweitens eine Grenze zwischen Widerstand und Kommunismus als einem Gegen- und Feindbild, das die »alten«, »reaktionär[en]« Kräfte (Vsch: 24) mit den jüngeren Leber-Sympathisanten zu vereinen vermag. In ihnen erscheint zunächst auf semantischer Ebene der Kommunismus als das die differierenden widerständigen Positionen integrierende konstitutive Äußere: BECK irritiert Meinen Sie, daß er zum Kommunismus neigt? HANSEN Das glaube ich bestimmt nicht. BECK Weil er – mir gegenüber – auch etwas erwähnte – von diesen Sozialisten. HANSEN Die sind völlig einwandfrei, soweit ich es beurteilen kann. Er hat geradezu sein Erstaunen geäußert, daß er dort soviel nationales Verständnis gefunden hat. BECK Nun ja, die Leute werden sich vermutlich auch gewandelt haben. HANSEN Vor allem möchte er die Sache natürlich auf eine breitere nationale Basis stellen… GISEVIUS spöttisch Weiß bloß nicht, wie! HANSEN Aber einesteils muß man ihm recht geben: wir sind zu wenige! Die meisten kann man gar nicht voll einweihen, sondern muß darauf vertrauen, daß sie sich im entscheidenden Moment überrumpeln lassen! Und – deswegen sucht er natürlich nach einer Idee, die die Massen mitreißt! GISEVIUS Habe ich gemerkt! Genau gesagt: er greift nach Strohhalmen! Siehe: sein Sozialismus! HANSEN Halten Sie den nicht für echt? Gisevius weicht aus. (Vsch: 21)

Zwar begründet Hansen seine Annahme, Stauffenberg neige »bestimmt nicht« zum Kommunismus, in keiner Weise mit inhaltlichen Argumenten: Auch der Begriff »Sozialismus« bleibt in dem Drama lediglich Schlagwort und die von Nebe kritisierten »unendlichen religiösen Diskussionen« (Vsch: 32) auf der Bühne un(auf)geführt. Aber in den Ausführungen Hansens zeigt sich eine relationale Anordnung der entleerten Begriffe, die zwar keinen Aufschluss über konkrete politische Konzepte gibt, aber eine bestimmte Wertigkeit der Schlagworte vermittelt: So wird das »nationale[ ] Verständnis«, welches Stauffenberg bei den »Sozialisten« »gefunden« hat, zum Argument für eine entsprechende Kooperation der Widerständigen; es gilt als »völlig einwandfrei«. Eine Neigung

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

zum »Kommunismus« dagegen erscheint als inakzeptabel, geradezu als undenkbeziehungsweise als ›unglaubbar‹. Er ist das ›Nicht-Einwandfreie‹, während die Sozialisten »sich vermutlich auch gewandelt haben«, sprich von einer unerwünschten nicht-nationalen zu einer erwünschten nationalen Haltung übergegangen und somit integrierbar sind. Der folgende Dialog etabliert ebenfalls deutlich ein Wertesystem, das den Kommunismus zum Inakzeptablen macht, wenn hier der »marxistischen Spielart« der Nationalsozialismus als Ideologie vorgezogen wird: YORCK Und welche Idee haben wir? SCHULENBURG unsicher Ich denke, wir sind uns darin einig – daß ein gewisser Sozialismus durchaus seine Berechtigung hat. Das war immer meine Ansicht, und deshalb bin ich auch schon früh zum Nationalsozialismus gestoßen – um der marxistischen Spielart etwas entgegensetzen zu können. Das wissen Sie ja. Und die Idee haben wir doch im Grunde alle bejaht. YORCK Möchte ich nicht unbedingt unterschreiben. (Vsch: 24)

Yorcks hier zitierter vorsichtiger Einspruch gegen die von Schulenburg vorgenommene Gewichtung von Kommunismus und Nationalsozialismus bleibt im Drama singulär, die Abgrenzung vom Kommunismus somit unter den militärischen »Verschwörern« insgesamt unangetastet.546 546 Die Tendenz, eine Befürwortung des Kommunismus zum geradezu ›Undenkbaren‹ zu machen, zeigt sich in Ansätzen auch im Weisenborn-Roman »Der Verfolger« (1961), wenn die widerständige Hauptfigur Daniel Brendel im Gespräch mit dem Rechtsanwalt M. den Kommunismus-Verdacht strikt zurückweist: »›Dafür hat er [Adolf Hitler ; Anm. M. S.] gesorgt, daß es wenige blieben. Es gibt sie immer wieder, diese todbereiten Kinder, die Tod verbreiten und sterben, Traumtänzer irgendwelcher Ideen.‹ / ›Und wenn diese Ideen siegen, nennt man sie Revolutionäre.‹ / ›Sind Sie etwa Kommunist?‹ / ›Nein.‹ / ›Und diese ›Silberne Sechs‹?‹ / ›Keineswegs. Alles junge Menschen, die nichts außer dem Nationalsozialismus kannten. […]‹« (Vf: 18). Bereits der Modalpartikel »etwa« in der Frage des Anwalts lässt das ›Kommunist-Sein‹ als Unerwartbares, beinahe als Unzumutbares erscheinen. Brendels folgende strikte Verneinungen – »[n]ein« und »[k]eineswegs« – verdeutlichen, dass er sich bei der Beurteilung des Kommunismus in derselben Wertelogik bewegt wie sein Anwalt. Solche politischen Grenzziehungen bleiben in dem Roman allerdings marginal, fällt er doch gerade wegen der positiv bewerteten Absenz politisch-ideologischer Positionierungen auf. Anders ist dies in dem Drama »Stauffenberg« von Walter Löwen (1952/1966), das sich als politisches Programm des Autors, als Plädoyer für die von ihm auch anderweitig postulierte europäische »Solidargemeinschaft«, lesen lässt. Hier erscheint der Kommunismus nicht nur durch die Darstellung Stalins als kriegstreibendem Weltrevolutionär im gleichen Maße bedrohlich wie der Nationalsozialismus, sondern er wird auch aus der Perspektive des Titelhelden, die im Drama nicht relativiert wird, entschieden zurückgewiesen, wie hier im Gespräch mit Leuschner : »STAUFFENBERG: Sie wollen doch bloß die alten Herren stürzen, um dem deutschen Volk neue Vergewaltiger aufzuhalsen« (Sb: 53). Dass auch andere ›Widerstandstexte‹ als relativ konkrete politische Positionsnahmen ihrer Autoren in bundesrepublikanischen Auseinandersetzungen zu lesen sind, zeigt auch ein Zitat aus Kirsts Drama »Aufstand der Offiziere«, in dem der im Widerstand aktive Goerdeler als ehemaliger Oberbürgermeister von Leipzig dem »gelassen abwartend beiseite« (AdO: 10) stehenden

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Während es sich sowohl bei den Grenzziehungen zwischen konservativen und sozialistischen »Verschwörern« als auch beim zur Schau gestellten Antikommunismus ausschließlich um Identitätsverhandlungen der Figuren des Bendlerblocks handelt, etabliert das Graetz-Drama noch eine dritte politisch-soziale Abgrenzung, die sich als die das Drama dominierende erweist: GISEVIUS der Anregungen notiert hat, steht auf Damit läßt sich nichts anfangen. zu Beck Ihr Konzept widerspricht dem der jüngeren Herren, Goerdelers Vorstellungen durchkreuzen die von Stauffenberg, Graf Schulenburg steuert sozialromantische Wunschbilder dazu… SCHULENBURG Wenn Sie das nicht verstehen: wie wichtig die soziale Frage ist… GISEVIUS zu Beck Sie selbst rechtfertigen sich… SCHULENBURG Es hängt alles davon ab, ob es uns gelingt, die soziale Frage zu lösen… GISEVIUS Aber nicht nach dem Muster des Freiherrn vom Stein! (Vsch: 87)

Diese Einschätzung Gisevius’ bewegt sich einerseits noch auf der Ebene der Binnendifferenzierung des militärischen Widerstands, wenn sie die Auseinandersetzung zwischen dem »alten«, »reaktionär[en]« Goerdeler und den »jüngeren Herren« (Vsch: 24) zu einem auch innermilitärischen Generationenkonflikt zwischen der Gruppe um Stauffenberg und Ludwig Beck erweitert. Andererseits markiert Gisevius aber Schulenburgs »sozialromantische Wunschbilder« ebenfalls als überholt, wenn er in ihnen das »Muster des Freiherrn vom Stein« zu erkennen glaubt, und verweist damit bereits implizit auf die dritte und zentrale Grenzziehung des Dramas. Dieses etabliert vor allem eine Trennung zwischen den Verschwörern des Bendlerblocks auf der einen Seite und deren kritischen Mitverschwörern im Polizeipräsidium, in erster Linie Helldorff, auf der anderen Seite. HELLDORFF Brauchen ! – Aber haben! Von der Garnisonskirche, die uns da angeboten wird, halte ich nicht mehr viel. Die liegt in Potsdam – und da liegt sie nun eben auch. Übrigens hat es da auch angefangen, sollte man nicht vergessen: mit Pickelhaube und Zylinder und unserem Nationalgreis! NEBE Mit wem? HELLDORFF Mit Hindenburg. Und mit dem ollen Kaiser Wilhelm natürlich. Und mit dem Soldatenkönig. Alles Potsdam. Und da zieht es die Leute wieder hin. NEBE unschlüssig Na ja – vielleicht ist die Monarchie nicht mal das Schlechteste gewesen. Die Leute brauchen so was. HELLDORFF Jaja, weiß ich! Die brauchen so was! Entweder einen Kaiser oder einen Führer oder, wenn beides nicht da, auch mal einen lieben Gott. Daher nämlich… (Vsch: 32) ehemaligen Oberbürgermeister von Köln entgegengestellt wird. Letzterer kann hier – wenn er auch nicht namentlich genannt wird – als Konrad Adenauer identifiziert werden, der deutlich als außerhalb des Widerstands stehend erscheint; eine Position, die das Drama keinesfalls als eine moralisch zu würdigende inszeniert.

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Indem Helldorff durch den Verweis auf prägende preußische Traditionen die den »Verschwörern« im Bendlerblock gemeinsame nationalistisch-militaristische Orientierung betont und mit dieser Argumentation implizit an die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs intensivierende Kritik an einem preußischen Militarismus anknüpft,547 rückt er deren zuvor geschilderte politische Differenzen in den Hintergrund. Gleichzeitig etabliert er eine Grenze zwischen den als nationalistisch-militaristisch markierten militärischen Verschwören und sich selbst: »HELLDORFF geht zum Schreibtisch Die ganze Clique gefällt mir nicht! Dieses Grafenkollegium da in der Bendlerstraße!« (Vsch: 11) Während es »die Leute wieder hin« nach »Potsdam« ziehe, übt er sich selbst in ironischer Distanzierung zum Preußentum, ohne dem allerdings eine eigene politische Idee entgegenzusetzen: »HELLDORFF ironisch elegisch Jaja, unser Soldatenkönig! Das große Vorbild! Wenn wir den noch hätten!« (Vsch: 8) Diese vor allem von Helldorff behauptete Trennung zwischen sich und den militärischen »Verschwörern« des Bendlerblocks manifestiert sich auch in der aus dem Wechsel der Handlungsorte resultierenden alternierenden Szenenstruktur,548 in der Gisevius auf Grund seiner wechselnden Präsenz an beiden Handlungsorten, die im Drama einzigartig bleibt, als Mittlerfigur zwischen den 547 Bereits in dem im Potsdamer Abkommen 1945 formulierten Ziel der Siegermächte, den deutschen »Militarismus und Nazismus« ›auszurotten‹, wird der Stellenwert der Entmilitarisierungspolitik der Alliierten gegenüber Deutschland unmittelbar nach dem Kriegsende deutlich. Darüber hinaus konstatiert Wolfram Wette auch für breite deutsche Bevölkerungskreise in dieser Zeit eine Antikriegsstimmung, die aus den eigenen Kriegserfahrungen resultiere. Im deutschen historischen Diskurs sei es dann zuerst Friedrich Meinecke gewesen, der in seinem bereits 1946 veröffentlichten Buch »Die deutsche Katastrophe« die »Kontinuität bestimmter Strukturen und Denktraditionen« (Wette 2008: 23) herausstellte und diese explizit als »preußisch-deutschen Militarismus« (Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 1946, S. 6 [Vorbemerkung]. Zitiert nach Wette 2008: 23.) etikettierte: Wie nach ihm ähnlich auch der Historiker Ludwig Dehio (1955) oder – heute prominenter – Ludwig Fischer mit seinem Buch »Griff nach der Weltmacht« (1961) habe Meinecke »eine Linie von Friedrich Wilhelm I. (preußischer König von 1713 bis 1740) und Friedrich II. (preußischer König von 1740 bis 1786) zum NS-Staat Adolf Hitlers« (Wette 2008: 23) gezogen (vgl. Wette 2008: 26ff.). 548 Mit alternierender Szenenstruktur ist der Wechsel zwischen kommentierenden Dialogen im Polizeipräsidium (1., 5., 7., 9. Bild) versus Aktionen und Gespräche militärischer Verschwörer im Bendlerblock ([2.], 4., 6., 8., 10. Bild) gemeint. Das zweite Bild nimmt in Ansätzen eine Sonderstellung ein, da dort nicht das OKH in der Bendlerstraße Handlungsort ist, sondern das Privathaus Becks. In die Reihe der Bendlerblock-Bilder lässt es sich aber im Unterschied zu dem als Ausnahme zu sehenden dritten Bild auf Grund der für diese typischen Figurenkonstellation um Ludwig Beck und Friedrich Olbricht einordnen; beides Figuren, die in den folgenden Bendlerblock-Szenen ebenfalls immer dabei sind. Außerdem wird das zweite Bild durch die Nennung eines konkreten Handlungsortes und Handlungszeitraums (»ein Nachmittag vor dem 20. Juli 1944« [Vsch: 15]) explizit in den Handlungszusammenhang um das geplante Attentat eingebettet, während das dritte Bild dagegen scheinbar ›außerhalb von Raum und Zeit‹ steht: »Ort: unbestimmt. / Zeit: nachts.« (Vsch: 24).

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beiden Fraktionen erscheint. So ist es letztlich dieser kritische Blick Helldorffs, den auch das Drama als Ganzes zum Ausdruck bringt. Susanne M. Wagner konstatiert in diesem Zusammenhang überspitzt, die »Sympathien des Autors liegen bei den Herrn der Gestapo und der Polizei«549. Es wird nicht nur in den Bildern 4, 6, 8 und 10 sukzessive das Scheitern der Militärs als Resultat ihrer vermeintlichen Unfähigkeit in Szene gesetzt und entsprechend von Helldorff in den Bildern 5, 7 und 9 zynisch kommentiert, sondern das Drama endet mit dem Tod der zentralen militärischen »Verschwörer«. Für die Mittlerfigur Gisevius ist es schließlich nicht mehr »selbstverständlich, daß ich mich jetzt neben Beck stelle« (Vsch: 104). Er lässt sich von Helldorff zur Flucht in die Schweiz und somit zur Absage an ein Ehrkonzept überreden, die die »Kugel in den Kopf«, den Tod »in ›aufrechter Haltung‹« (Vsch: 105) als sinnlos herausstellt: GISEVIUS Aber wenn jemand für seine Überzeugung stirbt… HELLDORFF Dann ist es schade um die Überzeugung, die er mit ins Grab nimmt. (Vsch: 105)

Insbesondere die hilflosen Suizidversuche Becks am Schluss des Dramas werden zum Symbol für das Scheitern des preußischen Militarismus; Helldorffs Figurenrede wird somit durch die unmittelbare Darstellung des am Suizid scheiternden »müde[n]«, »schwach[en]« und »gekränkt[en]« Beck verifiziert: BECK müde Ich habe eine Pistole – die möchte ich aber für meine Privatzwecke behalten. […] BECK gekränkt Ich denke in diesem Augenblick an unsere gemeinsame Zeit früher… […] BECK drückt an der Schläfe ab, stöhnt War denn das richtig? FROMM Helfen Sie dem alten Herren! zwei Offiziere treten zu Beck Nehmen Sie ihm die Waffe weg! BECK schwach Nein, bitte – das möchte ich selbst… FROMM Er kann es nicht allein. BECK Doch! Wenigstens das… […] FROMM […] zu Beck Nun – wie ist das mit Ihnen!? BECK schwach Ich hatte doch – noch eine Pistole?! Bitte – geben Sie mir… auf Fromms Wink bekommt er eine zweite Pistole, setzt an, trifft abermals nicht richtig, sackt im Sessel zusammen und stöhnt. FROMM zu einem Offizier Erledigen Sie das! Er kann es nicht mehr. (Vsch: 109f.)

Am Ende des Dramas »Die Verschwörung« steht ein endgültig erscheinender Bruch zwischen den beiden zentralen Fraktionen von Widerständigen. Die den militärischen »Verschwörern« gegenübergestellte Gruppe um Helldorff bleibt dabei allerdings ohne weitere politisch-soziale Konturen und ausschließlich in ihrer Preußenkritik bestimmbar. 549 Wagner 2006: 236.

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4.3

Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

»gefährlich sind nur die Anderen« – Vom nationalsozialistischen zum totalitären Außen

Das Scheitern der »Verschwörer« ist im Graetz-Drama weniger auf die vorhandenen politischen Differenzen zwischen ›Sozialromantikern‹ und ›Reaktionären‹ zurückzuführen, sondern erscheint als Folge einer preußisch-militaristischen Prägung aller im Bendlerblock beteiligten Figuren, von der sich das Drama distanziert: HELLDORFF Und was sagt Beck? GISEVIUS Der ist erschüttert. HELLDORFF Über seine Brut? Er hat ihnen doch die dämlichen Sandkastenspiele beigebracht, auf der Kriegsakademie. GISEVIUS Aber verhext hat sie ein anderer. HELLDORFF Nachdem sie auf der Kriegsakademie zum Verhexen reifgemacht worden waren. (Vsch: 71)

Vor allem durch solche Kommentare Helldorffs, Nebes oder Gisevius’ aus der im Drama als widerständige Außensicht inszenierten Perspektive auf die »Verschwörer« des Bendlerblocks bricht das Drama den für alle bisher analysierten Texte konstitutiven Antagonismus zwischen Widerstand einerseits und Nationalsozialismus andererseits auf. HELLDORFF O ja, ich verstehe schon! Man hat gemerkt, daß in dem Regime nicht mehr viel drin ist an Elitefunktion, da braucht man jetzt eben ein neues! NEBE zu Gisevius Du hast ja selbst mal gesagt: Im Herrenclub hat’s angefangen, und im Herrenclub wird’s auch wieder enden. HELLDORFF Genaugenommen hat es in der Bendlerstraße angefangen. Und beim ollen Soldatenkönig! (Vsch: 11)

Die Widerständigen aus der »Bendlerstraße« erscheinen schließlich selbst als Verursacher, gar Träger des Nationalsozialismus, weshalb auch ihr Widerstand als zum Scheitern verurteilt erscheint. GISEVIUS […] Na ja, was Sie vorhin schon sagten: daß im Grunde jeder gegen sich selbst zu putschen hat. (Vsch: 59)

So sind es nicht ausschließlich die im Polizeipräsidium angesiedelten Figuren, die wiederholt eine Nähe der militärischen Verschwörer zum Nationalsozialismus konstatieren und diese als Grund für das Scheitern des Widerstands anführen: GISEVIUS Ist ja schon lange meine Rede: der Zeitpunkt ist längst verpaßt! Sie haben alle schon viel zu viel und viel zu lange mitgemacht und kommen von sich selber nicht mehr los! (Vsch: 21f.; vgl. auch Vsch: 34)

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Auch die im Bendlerblock agierenden Widerständigen artikulieren oder reflektieren ihre eigene Nähe zum Nationalsozialismus. So rechtfertigt Stauffenberg seine ursprüngliche Begeisterung für den Nationalsozialismus: STAUFFENBERG Ich habe die Grundideen des Nationalsozialismus, soweit sie positiv und gesund waren, durchaus bejaht! […] Den Kampf gegen die Korruption und gegen den Geist der Großstädte zum Beispiel, die Betonung des Bäuerlichen! Und des Führertums! – Und gleich mir haben viele im Nationalsozialismus ein zukunftsträchtiges Prinzip gesehen und waren auch bereit, im neuen Staat eine Führungsrolle zu übernehmen! (Vsch: 17)

Yorck von Wartenburgs folgende Selbsteinschätzung ist hingegen reflektierender : YORCK Und wir müssen uns ja nicht nur von Hitler befreien, sondern auch von uns selber – von Bindungen, die wir jetzt gar nicht mehr bemerken! (Vsch: 26)

Der preußische Militarismus, der als Ursache des Nationalsozialismus gedeutet wird, wird gleichzeitig nicht nur als zentraler sozial-politischer Hintergrund der militärischen »Verschwörer« in Szene gesetzt, sondern durch sie gleichsam verkörpert. Implizit zeigt sich die Identifikation der Widerständigen mit dem Nationalsozialismus vor allem in der anhaltenden Verwendung des sogenannten ›deutschen Grußes‹ durch die Widerständigen (vgl. Vsch: 51f.), die auch Gisevius kritisch bemerkt: GISEVIUS Hundert Prozent Gegnerschaft zu dem System, das man stürzen will, meine ich. Und hier findet man keine fünfzig. HOEPNER Meinen Sie, wir seien nicht gegen Hitler? GISEVIUS Solange Sie noch mit ›Heil Hitler‹ grüßen und andere ihn noch ihren ›Führer‹ nennen… (Vsch: 92)

Indem das Drama die Gruppe der dargestellten militärischen Widerständigen selbst als Unterstützer respektive Vorbereiter des Nationalsozialismus darstellt, desavouiert es den konservativ-militärischen Widerstand, der in den ersten beiden Nachkriegsdekaden in der westdeutschen Öffentlichkeit in der Regel als nationales Vorbild inszeniert wurde. Mit der hier skizzierten ablehnenden Perspektive auf die Widerständigen aus dem Umfeld des Juli-Attentates ist das Graetz-Drama daher neben der militarismustheoretischen Interpretation des Nationalsozialismus einerseits in einer Mitte der 1960er Jahre zuerst in der Historiographie einsetzenden kritischeren Auseinandersetzung mit den am Stauffenberg-Attentat beteiligten »Verschwörern« zu verorten. Viele Studien verzeichnen in dem Zeitraum von Mitte der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre deutliche Veränderungen in der Widerstandsforschung. Neben einer Reflexion des Widerstandsbegriffes zählt dazu vor allem der zunehmend kritischere Blick

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auf die Träger des Widerstands, die bis dahin im hegemonialen öffentlichen Gedenken als wegweisend für die nationale Konsolidierung galten: Von folgenschwerer Wirkung blieben […] die Neubewertungen der Verfassungs-, Gesellschafts- und Politikvorstellungen des bürgerlichen Widerstands einschließlich der militärischen Widerstandsgruppen. Die linksliberale Publizistik nahm die Neuakzentuierung des ›nationalkonservativen‹ Widerstands auf, der nun nicht mehr in die Kontinuität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern eher autoritärer Staatsvorstellungen gerückt schien.550

Andererseits lässt sich die dramatische Kritik am preußischen Militarismus – und darin ähnelt das Graetz-Drama dem Andersch-Roman »Sansibar oder der letzte Grund« – auch als Ablehnung jeder Art von autoritären Herrschafts- und Persönlichkeitsstrukturen interpretieren. So geraten in den folgenden Unterkapiteln die Werke von Graetz und Andersch als Plädoyers für eine Emanzipation des Einzelnen aus totalitären ideologischen Bindungen an Gemeinschaften in den Blick. Nicht mehr nur der Nationalsozialismus und seine Repräsentanten, sondern jede Art von umfassenden Welterklärungsansprüchen und ideologischen Vereinnahmungen des Individuums werden in den beiden Texten auf verschiedene Weise in Frage gestellt.

4.3.1 Pragmatismus des Einzelnen versus ideologischer Idealismus So wird in dem Drama von Wolfgang Graetz der Eindruck einer grundsätzlichen Diskrepanz zwischen den den preußischen Militarismus verkörpernden Figuren im Bendlerblock einerseits und deren Kritikern um Helldorff andererseits noch verstärkt durch die Gegenüberstellung von ideologisch orientiertem Idealismus und Pragmatismus, die ebenfalls durch die beiden entgegengesetzten Parteien der Figurenkonstellation repräsentiert werden. Auf der einen Seite ist vor allem die Stauffenberg-Figur bei Graetz dezidiert auf der Suche nach einem tragfähigen politischen Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Diktatur, die sich als verzweifelte Auseinandersetzung mit der eigenen brüchig gewordenen politischen Identität darstellt: STAUFFENBERG wieder nervös Aber wir brauchen ein Konzept! Wer folgt mir denn, wenn ich nicht sagen kann, wohin und wozu? YORCK Überlassen Sie das doch erstmal den anderen! 550 Steinbach 1994: 608. Immer wieder wird den Arbeiten von Hermann Graml, Hans Mommsen und Ger van Roon in diesem Zusammenhang eine »signalartige[ ] Bedeutung« (Steinbach 1994: 608) zugeschrieben (vgl. Müller/Mommsen 1990: 14; Holler 1994: 193ff.; Reich 1994: 638). Auch die bisherigen Ansichten zum ›Kirchenkampf‹ und der Weißen Rose wurden einer kritischen Revision unterzogen (vgl. Holler 1994: 192).

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SCHULENBURG Wem denn? YORCK Er ist ja nicht allein! STAUFFENBERG Doch! Ich bin allein! Wenn ich es denen überlasse, verpatzen sie es! Glauben Sie denn, daß Goerdeler mit seinen Ideen noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlockt? wieder verbissen Ich sage Ihnen: wir brauchen Leber! im Aufbruch Ich muß ihn herausholen! Und ich werde ihn rausholen! Verlassen Sie sich darauf! Morgen platzt die Bombe – ganz gleich, wie! stürmt davon, die anderen folgen. (Vsch: 26)

Die auffällige Häufung der Ausrufungszeichen und der hier als ›stürmisch‹ gekennzeichnete Abgang am Ende der dritten Szene erzeugen – wie die ihm zugeschriebenen Attribute »erregt« und »heftig« (Vsch: 24) – den Eindruck eines verzweifelten Attentäters. Die Vehemenz, mit der Stauffenberg sich für den durch Leber repräsentierten Sozialismus verbal einsetzt beziehungsweise durch seine geplante Befreiungsaktion einsetzen will, erscheint vor allem seinem Bedürfnis nach festem ideologischen ›Boden‹ zu entspringen: BECK Sie sehen jedenfalls: er sucht krampfhaft – und findet nichts mehr! Und wir haben ihm nichts mehr zu geben! Das ist letzten Endes unsere Schuld. Besonders in seiner Situation braucht er einen Halt – ich muß ihm schon deshalb in vielem nachgeben und zustimmen, damit er das Gefühl hat: hier gibt es noch eine Instanz, bei der er Halt und Deckung findet! Von wo soll er sonst abspringen? (Vsch: 21)

Nicht nur seine eigenen Beschreibungen über seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus (vgl. Vsch: 17), sondern auch diese explizite Fremdcharakterisierung Stauffenbergs durch Beck zeigen ihn als Orientierungslosen auf der Suche nach einer »Instanz, bei der er Halt und Deckung findet«. Neben der persönlichen Identifikation Stauffenbergs mit Lebers Position erscheinen strategische Überlegungen ebenfalls als gewichtiger Grund für die Einsicht der »Verschwörer« in die »Notwendigkeit gewisser sozialer Gedanken« (Vsch: 17). So wird die sozialistische Idee zum Argument, mit dem die Bevölkerung zur Unterstützung der Verschwörer motiviert, sie »hinter dem Ofen hervor[ge]lockt« (Vsch: 26) werden soll. Deutlich wird diese gemeinschaftsstiftende Funktionalisierung von Ideologie auch an folgendem Zitat, wenn Stauffenberg die Zusammenarbeit mit Leber als »bewusst[e]« Entscheidung präsentiert, dank derer die personelle Basis des Widerstands erweitert werden soll: BECK unbehaglich Aber Sie sehen doch ein, Graf Stauffenberg, daß – nicht alles ganz richtig war? STAUFFENBERG Selbstverständlich! Deswegen wollen wir ja auch dem Neuen zum Durchbruch verhelfen. BECK irritiert Welchem neuen? STAUFFENBERG Was nun – Wofür wir uns wieder einsetzen können! Meine Freunde und ich haben durchaus die Notwendigkeit gewisser sozialer Gedanken begriffen – und wenn wir zu Männern wie Leber Kontakt aufgenommen haben, dann geschah dies ganz

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bewußt, um auch das sozialistische Lager mit einzubeziehen und am nationalen Geschehen mehr als früher zu beteiligen! Deswegen lehnen die meisten von uns eine Rückkehr zu den verrotteten Zuständen der Systemzeit einfach ab! (Vsch: 17)

Einerseits zeigt sich in solchen Ausführungen somit ein Spannungsverhältnis zwischen den eher rationalen, als Taktik markierten Überlegungen und den dargestellten emotionalen Affekten Stauffenbergs, die als Ausdruck einer persönlichen Identitätskrise erscheinen. Andererseits machen die argumentativen Bezüge, die auf die Notwendigkeit eines »Konzepts« für die Mobilisierung größerer Kreise abzielen, Stauffenberg zur metonymischen Figur, deren politische Orientierungslosigkeit stellvertretend für die der Gesamtbevölkerung steht. In Anbetracht des Ungültigwerdens nationalsozialistischer Ideologie wird eine ideologische Neuorientierung – etwas, »[w]ofür wir uns wieder einsetzen können!« – somit nicht nur zur Legitimation ihres Widerstands durch die »Verschwörer« notwendig, sondern aus deren Perspektive zur scheinbar drängenden gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Einer solchen – auch in den ›widerstandsliterarischen‹ Ansätzen zur nationalen Rehabilitierung artikulierten – Vorstellung, die eine ideologische Neuorientierung als zwingend erforderlich für gemeinsames Handeln und das Herstellen von Gemeinschaft herausstellt, steht im Graetz-Drama allerdings wiederum die Position des Pragmatikers Helldorff gegenüber, aus dessen Perspektive die ideologischen Orientierungsversuche der militärischen »Verschwörer« zu unzweckmäßigem Idealismus werden: HELLDORFF Mensch, wenn Sie wüßten, was ich glaube! Glaube überhaupt nichts. Kriege ich nicht hin – da in dem idealistischen Schlinggewächs rumturnen wie die gebildeten Affen! Plumpse da immer gleich wieder durch und sitze mit dem Hintern auf der Erde. NEBE unbeholfen Ja, ich halte das ja auch nicht für ganz echt – diese endlosen religiösen Diskussionen! Haben doch einen Zug zum Sektiererhaften. HELLDORFF Na ja – können sich schließlich nicht / la Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, die Leutchen! greift in die Luft Brauchen da eben was, wo sie anfassen können. (Vsch: 32)

Die von Helldorff verwendeten Metaphern und Vergleiche aus den Bildfeldern Urwald/Tierwelt/Spiel lassen das von ihm als Idealismus markierte Verhalten der Widerständigen dabei als etwas Kindisches und wenig Zielführendes erscheinen und konnotieren es negativ. Verstärkt wird dies durch die im letzten Redebeitrag Helldorffs artikulierte Vorstellung, der Idealismus diene den militärischen »Verschwörern« lediglich zur Errettung aus einem Sumpf, in den sie sich – folgt man der Logik der Helldorff ’schen Argumentation – selbst hinein manövriert hätten. Nicht zuletzt auch auf Grund einer partiellen Gleichsetzung von militärischen »Verschwörern« mit den Trägern des Nationalsozialismus und

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der grundsätzlichen Abwertung der »Verschwörer« des Bendlerblocks wendet sich das Graetz-Drama somit insgesamt gegen Stauffenbergs ambitionierte Suche nach tragfähigen neuen ideologischen Idealen, plädiert also im Sinne Helldorffs für »illusionslos[en]« Pragmatismus: HELLDORFF Bin gewöhnt, mich ein bißchen illusionslos zu sehen. Natürlich unklug: dadurch bringt man sich selbst in Nachteil gegenüber den Idealisten, die sich selbst idealistischer sehen. (Vsch: 8)551 551 Die kritische Auseinandersetzung mit ideologischem Idealismus als Widerstandsmotivation vereint in gewisser Weise nicht nur die Werke von Graetz und Andersch, sondern zeigt sich auch in den ›Widerstandstexten‹ von Hans Hellmut Kirst, die wie das Graetz-Drama in den 1960er Jahren publiziert worden sind. Allerdings entsprechen diese sonst eher dem zuerst herausgearbeiteten Typus ›widerstandsliterarischer‹ Rehabilitierung von nationaler Gemeinschaft; eine Beobachtung, die verdeutlicht, dass eindeutige Unterscheidungen zwischen Texten der drei in dieser Arbeit modellierten Typen ›widerstandsliterarischer‹ Gemeinschaftsimaginationen und -reflexionen nicht möglich sind. In den beiden KirstRomanen »Die Nacht der Generale« und »Aufstand der Soldaten« wird das Spannungsfeld Idealismus versus Pragmatismus jeweils anhand der Figuren zweier junger Soldaten verhandelt: im ersten am Beispiel des Gefreiten Hartmann, im zweiten an dem des Leutnants Konstantin von Brackwede. In »Die Nacht der Generale« ist es der widerständige General Kahlenberge, der Hartmann wiederholt wegen seines Idealismus kritisiert: Er sei ein »saudummer Hund oder ein pennender Idealist«, »was meist so ziemlich dasselbe« (NdG: 34) sei, und werde allmählich zu einer Gefahr mit seinem »welt- und weiberumarmenden Idealismus« (NdG: 142) und »Weltbeglückungsfrohsinn« (NdG: 143). Hartmann erscheint tatsächlich als äußerst naiv und gerade daher dem NS-Repräsentanten Tanz in keiner Weise gewachsen (vgl. vor allem NdG: 245–269). In »Aufstand der Soldaten« ist es der junge Konstantin von Brackwede, der vor allem von seinem älteren Bruder als Idealist bezeichnet und kritisiert wird: »›Diese Welt‹, sagte Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede, während er nach seinen Schuhen langte, ›ist voller Idealisten – man kann sie auch, nach Lage der Dinge, Idioten nennen. Und die einen wie die anderen öden mich an – ich habe genug von allen!‹« (AdS: 321; vgl. auch AdS: 15) In dem Roman wird am Beispiel der Figur Konstantin von Brackwede der Idealismus als eine Ursache für die Anfälligkeit der Deutschen für den Nationalsozialismus dargestellt, wobei Idealismus mit »ungehemmter Einfalt« (AdS: 231) gleichgesetzt und dem Pragmatismus des widerständigen Bruders gegenübergestellt wird: »Kaum vorstellbar, daß diese beiden Brackwede Brüder waren. Was jedoch war in diesem Deutschland unmöglich?« (AdS: 26) In dem Drama »Aufstand der Offiziere« ist es die Figur des Gefreiten Lehmann, die eine dezidiert pragmatische, ideologieskeptische Perspektive verkörpert und sich damit von den anderen widerständigen Figuren abgrenzt: »GOERDELER: […] Da ist Stauffenbergs hektischer Idealismus, Schulenburgs zwielichtige Überzeugung, Lebers demokratische Turnübungen und Becks legendäres Gewissen! / Und was treibt Sie zu uns, alter Freund? / LEHMANN: Ich habe zur Zeit nur eine Weltanschauung: Reinlichkeit! / Ich wechsele Ihre Unterwäsche« (AdO: 84). Auch in dem Drama »Walküre 44« von Günther Weisenborn wird punktuell ein Zusammenhang von Idealismus und Erfolg des Nationalsozialismus hergestellt, wenn Stauffenberg Folgendes bemerkt: »Der Idealismus spürt eine Gefahr erst, wenn sie ihm auf dem Fuß steht« (W: 8). Allerdings zeigt sich in diesem Drama keine grundlegende Ideologieskepsis wie bei Graetz oder Andersch, im Gegenteil: Gerade der junge Stauffenberg verschreibt sich selbst den von Goerdeler kritisierten »neue[n] Ideen« (W: 10), einer Mischung aus Sozialismus und Soldatentum.

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In Graetz’ Drama »Die Verschwörer« geht es also nicht nur um eine Abgrenzung vom Nationalsozialismus, sondern diese wird ergänzt um den Ausschluss preußisch-militaristischer Autoritätshörigkeit und die Ablehnung jedweder idealistischer Hingabe an Ideologien. Letzterem wird – personifiziert vor allem durch das Überleben von von Helldorff und Gisevius sowie verstärkt durch die alternierende Szenenstruktur des Dramas – ein ›illusionsloser‹ Pragmatismus entgegengestellt, der das Eigenwohl des Einzelnen in den Mittelpunkt rückt. Mithin verbindet »Die Verschwörer« zwei NS-Interpretationsmuster, die Wolfram Wette (2008) auf unterschiedliche, beinahe gegensätzliche Perspektiven zurückführt, wenn er vom »Ende der Militarismusdiskussion« und dem anschließenden »Siegszug der Totalitarismustheorie«552 spricht.

4.3.2 Kunst versus oder als ideologische Vereinnahmung? Auch in dem Roman »Sansibar oder der letzte Grund« von Andersch ist die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Ideologien für politisches und/oder gesellschaftliches Handeln ein, wenn nicht das zentrale Thema. So erzählt der Roman nicht nur eine Geschichte der Flucht vor den »Anderen«, sondern auch von einem Pfarrer, der mit seinem Gott und seiner Kirche hadert, und von den »zwei Deserteuren« (SlG: 55), die sich aus verschiedenen Gründen von der »Partei« lossagen. Im Zentrum stehen also Figuren, die ihre bisherigen WerteOrientierungen in Frage stellen. Sie erleben, »wie ihre Weltbildklischees, mit denen sie das »Woher«, das »Wie« und das »Wohin« ihrer Existenz zu bewältigen glaubten, der Wirklichkeit nicht standhalten»553. Die Entscheidungssituationen, in die sie dadurch gestellt werden, lassen sich damit nicht nur – wie in der bisherigen Sekundärliteratur zum Roman dominant – bezüglich ihrer existenzialistischen Implikationen deuten, sondern als Kristallisationspunkte gravierender identitärer Verunsicherungen: Für Helander wird die Wahl, sich in ein Krankenhaus zurückzuziehen oder die Konfrontation mit den »Anderen« zu suchen, zur Entscheidung für oder gegen die Existenz seines Gottes und somit für oder gegen die Validität seines Glaubens und damit implizit auch seines Berufes: Ich brauche nur den Telefonhörer abzunehmen und die Sache ist entschieden, überlegte er. […] Wenn er aber den Telefonhörer nicht abnahm, dann … Plötzlich hielt der Pfarrer den Atem an. Er dachte: wenn ich den Telefonhörer nicht abnehme, dann ist Gott vielleicht gar nicht so fern, wie ich immer denke. Dann ist er vielleicht ganz nah? (SlG: 99) 552 Beide Zitate Wette 2008: 28. 553 Fritzsching 1966: 119.

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Und auch Knudsen reflektiert, vor die Frage gestellt, ob er sich weiterhin in der »Partei« engagieren soll, in allegorischer Form ein gravierendes identitäres Dilemma: Wenn die neuen Anweisungen des Zentralkomitees die Partei in Rerik nicht erreichten, dann gab es keine Partei in Rerik mehr. Dann gab es für Knudsen wie für alle anderen nur noch die Dorsche und die Heringe. Und Bertha. Wenn er aber hinging, so verstrickte er sich in die Maßnahmen, die die Partei traf, dachte Knudsen. […] Jetzt bin ich der Fisch, dachte Knudsen, der Fisch vor der Angel. Ich kann anbeißen oder nicht. Kann der Fisch sich entscheiden, fragte er sich. Natürlich kann er, dachte er mit seinem alten Fischeraberglauben. Und mit seiner alten Fischerverachtung: der Fisch ist dumm. Aber auf diesen Köder habe ich mein Leben lang angebissen, entsann er sich. Und immer hat der Haken weh getan. Aber immer hat er mich in die Luft gerissen, in der man die Schreie der Fische hören konnte. Verdammt will ich sein, dachte Knudsen voller Wut, wenn ich ein stummer Fisch sein soll. (SlG: 15f.)

Gregor schließlich ist ebenfalls in seiner Werte-Orientierung zutiefst verunsichert und rekapituliert skeptisch seinen bisherigen Selbst- und Lebensentwurf: Ich verstehe mich selber nicht, sagte Gregor. Ich habe einen falschen Paß und keinen Paß und keinen Namen, ich bin ein Revolutionär, aber ich glaube an nichts, ich habe Sie [Judith; Anm. M. S.] beschimpft, aber ich bedaure, Sie nicht geküsst zu haben. Ja, sagte sie, es war schade. Ich habe alles falsch gemacht, sagte er. Nein, erwiderte Judith. Sie retten mich doch. Das ist zu wenig, dachte Gregor ; man kann alles richtig machen und dabei das Wichtigste versäumen. (SlG: 127)

Für ihn ist die Konfrontation mit der »Klosterschüler«-Skulptur eine identitäre Herausforderung, indem sie ihn zwingt, sich der Frage nach dem Sinn seiner Parteiarbeit zu stellen (vgl. SlG: 49): »Alles muß neu geprüft werden, überlegte Gregor« (SlG: 144).554 554 Neben Gregor, Knudsen und Helander wird auch die vierte Hauptfigur, der Junge, in einer existenziellen Situation gezeigt, wenn er am Ende des Romans die Möglichkeit zu seinem lang ersehnten Abenteuer in der Fremde erhält (vgl. SlG: 158). Die Tatsache, dass er sich doch für eine Rückfahrt mit Knudsen entscheidet, lässt zum Schluss des Romans das Ideal des selbstbestimmten Menschen Wirklichkeit werden, wenn der Junge sich mit seinem entschlossen-gelassenen Gang auf das Schiff nicht zuletzt von der Vorherrschaft Knudsens und seiner Mutter befreit: »Der Junge blickte nicht mehr in den Wald zurück, als er den Steg betrat. Er schlenderte auf das Boot zu, als sei nichts geschehen« (SlG: 159). Wie auch dem Jungen, der sich zunächst den Weisungen Knudsens oder seiner Mutter ausgeliefert sieht, scheint auch der fünften Hauptfigur des Romans, Judith, eine freie Entscheidung zunächst weitestgehend unmöglich zu sein: Als Mensch mit einem »Paß, der einen großen roten Stempel trägt: Jude« (SlG: 74), hat sie »keine Wahl« (SlG: 75). Sie erscheint über weite Strecken des Romans als Spielball der anderen Figuren: So wird sie nicht nur von dem sie einladenden Schweden ›überrumpelt‹ (vgl. SlG: 74f.), sondern auch von Gregor wiederholt in ihrem Verhalten ›dirigiert‹: Er »zwang [sie] weiterzugehen« (SlG: 105) und »packte sie an

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Gemeinsam ist den drei genannten Figuren also die grundsätzliche Herausforderung, ihre bisherigen Handlungsmaximen und Welterklärungsmuster zu hinterfragen. Dabei stellt der Roman an Hand der Figuren modellhaft drei verschiedene Ausprägungen kollektiver Bindungen gegeneinander, verhandelt also verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit bislang dominierenden gemeinschaftsfundierenden Ideologien. Generationengrenzen: Der christliche Glaube als überholtes Modell von Vergemeinschaftung Die Problematik der Beziehung Helanders zur Kirche respektive zu Gott erscheint zunächst als der des Verhältnisses der beiden ›Deserteure‹ zur »Partei« ähnlich, wenn beispielsweise Gregor seinen Eintritt in die »Lenin-Akademie« mit dem Eintritt in ein »Kloster« (SlG: 24) vergleicht und Helander seine »heilige Figur« mit Knudsens »Bild von Lenin« (SlG: 30) oder seine Beziehung zur Kirche mit der Knudsens zur »Partei« (vgl. SlG: 31). Der Glaube an Gott wird scheinbar zu einer Ideologie unter anderen, deren Sinn bezweifelt werden kann: »Was kümmerte es den abwesenden Gott, der vielleicht nur ein fauler Gott war?« (SlG: 99) Diese Gleichsetzung von christlicher und kommunistischer Weltdeutung wird im Roman allerdings in mehrfacher Weise relativiert: Erstens überwindet Helander, anders als Gregor und vor allem Knudsen, seine Zweifel (vgl. exemplarisch SlG: 97ff.) sowie seinen Hass und bleibt in einer als frei gekennzeichneten Entscheidung seinem Glauben treu, während die beiden Parteigänger zu »Deserteuren« (SlG: 55) werden: Irgendein verrückter Eigensinn läßt mich noch an jenen Herrn glauben, der sich in Honolulu oder auf dem Orion befindet, ich glaube an die Ferne Gottes, aber nicht an das Nichts, und deshalb bin ich eine Persönlichkeit, dachte er höhnisch, ich falle auf, und weil ich auffalle, weil ich mich unterscheide, werden mich die Anderen erwischen. (SlG: 151) der Schulter und stieß sie fast in die Richtung der Buhne« (SlG: 141). Sie selbst delegiert die Entscheidung über ihr Schicksal sogar dezidiert an andere: »Herr Pfarrer, sagte sie, ich bin Jüdin. Dieser Herr hat mir seinen Schutz angeboten und mich hierher gebracht. Aber ich gehe sofort, wenn Sie nicht wünschen, daß ich bleibe« (SlG: 115). Auch in Anbetracht der anfänglichen Weigerung Knudsens, sie auf seinem Schiff mitzunehmen, weicht sie resignierend zurück (vgl. SlG: 137). Aber auch sie gelangt letztendlich doch noch an einen Punkt, an dem sie durch eine selbstbestimmte Entscheidung in einer Grenzsituation zum freien Menschen wird. Als sich ihr die Möglichkeit der Flucht schließlich bietet, entscheidet sie sich dagegen und für die Orientierung an den ihr eigenen Werten: »Judith schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie, ich kann dem Mann nicht sein Boot wegnehmen. So geht es nicht, wie Sie es sich gedacht haben« (SlG: 140). In dieser Wandlung der Figur gibt der Roman auch der bislang zur Passivität verurteilten jüdischen Figur Autonomie und überwindet somit durch das Aufzeigen von Handlungsoptionen symbolisch deren bloßen Opferstatus.

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Zweitens ist es nicht nur die Perspektive der Figur Helander, aus der der christliche Glaube auch in Anbetracht der »größten überhaupt denkbaren Ferne« Gottes (SlG: 97)555 legitimiert wird. Der Roman entzieht einer anti-religiösen Haltung die Grundlage, indem er mit Gregor eine vermeintlich ungläubige Figur vorführt (vgl. SlG: 119), für die christliche Weltdeutung und -praxis punktuell von größerer Relevanz zu sein scheinen, als sie sich eingesteht. So ist selbst für Gregor die Kirche ein »wunderbarer, weißer, lebendiger Mantel«, der ihn »wärmte« (SlG: 40). Zwar konstatiert er dies skeptisch, und »daß die Kirche mehr wäre als ein Mantel, darüber machte sich Gregor keine Illusionen«, sie sei »ein guter Treff, aber sie ist kein Heiligtum« (SlG. 40). Aber diese Gedanken Gregors werden unterlaufen durch Passagen, in denen der Glaube selbst mit Blick auf seine Person als quasi natürlich erscheint: Lieber Gott, betete er, mach, daß Knudsen bleibt! In bestimmten Augenblicken, in den Augenblicken, auf die es ankam, betete Gregor immer. Er dachte sich gar nichts dabei; es kam von selbst. (SlG: 68)556

Wenn sich Gregor von der »Linie der Partei« (SlG: 48), ihrer Faschismusdeutung, distanziert, gerät er in die Nähe einer christlich-religiösen Deutung der Welt und des ›Dritten Reichs‹, wie er selbst erstaunt registriert: Was ist er [der Tod der Mutter ; Anm. M. S.] denn? hörte er sie [Gregor Judith; Anm. M. S.] fragen. Er schwieg einige Zeit und dachte nach. Es ist gar nicht so leicht, darauf zu antworten, überlegte er. Früher hätte ich etwas von Faschismus gesagt, von Geschichte und Terror. Er ist eine kleine Ziffer im Plan des Bösen, sagte er schließlich. Genauso, dachte er im gleichen Augenblick, würde der Pfarrer seine Antwort formuliert haben. (SlG: 109)

Drittens wird Helanders Suizid zum Zeichen für die Präsenz Gottes – »Gott läßt mich schießen, weil er das Leben liebt.« (SlG: 155) – und der Roman endet mit dem Erscheinen und Erkennen der göttlichen »Schrift« (SlG: 156), deren Existenz durch den Bericht der Erzählinstanz beglaubigt wird. Am Ende steht somit das Versprechen der Erlösung im Glauben: Helander denkt, im Kugelhagel sterbend: »ich bin lebendig« (SlG: 156). Unabhängig davon, dass sich die Institution Kirche durch ihre partielle Kollaboration mit den »Anderen« auch aus der Perspektive des Gläubigen 555 Vielfach wird in der Sekundärliteratur darauf aufmerksam gemacht, dass am Beispiel der Figur Helander eine Auseinandersetzung mit der »Lehre des großen Kirchenmannes aus der Schweiz« (SlG: 97), Karl Barth, inszeniert wird. Vgl. dazu exemplarisch HeidelbergerLeonard 1986: 97; und Sollmann 1994: 31. 556 Ähnlich erscheint auch für Judith die Kirche als ›natürlicher‹ Schutzraum: »Ich habe jetzt Zeit, dachte sie, solange ich in dieser Kirche bin, kann mir nichts geschehen. Sie war über diesen Gedanken so wenig erstaunt wie darüber, daß man sie hierher geführt hatte – das Überwältigende war zugleich das Selbstverständliche: Kirchen waren zum Schutz da« (SlG: 107).

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kompromittiert hat – »die Schande der Kirche war unermeßlich« (SlG: 116; vgl. auch SlG: 30) –, bleibt die Autorität des Glaubens an sich im Roman somit prinzipiell unbeschadet. Dennoch erscheint er als ›aus der Zeit gefallen‹: […] so also sehen in unserer Zeit die Boten und die Söhne aus, die Boten der Rettung und die Söhne der Ideen: man kann sie nicht unterscheiden. Man konnte sie nicht erkennen, außer in ihren Handlungen. Sie sind keine Persönlichkeiten, dachte Helander, sie haben den Ehrgeiz, das Richtige zu tun und nicht aufzufallen. Sie glauben an nichts mehr, dieser junge Mensch glaubt nicht mehr an seine Partei und er wird niemals an die Kirche glauben, aber er wird immer bemüht sein, das Richtige zu tun, und weil er an nichts glaubt, wird er es unauffällig tun und sich aus dem Staub machen, wenn er es getan hat. Was aber treibt ihn an, das Richtige zu tun? fragte sich der Pfarrer, und er gab sich selbst die Antwort: Das Nichts treibt ihn an, das Bewußtsein, in einem Nichts zu leben, und der wilde Aufstand gegen das leere, kalte Nichts, der wütende Versuch, die Tatsache des Nichts, dessen Bestätigung die Anderen sind, wenigstens für Augenblicke aufzuheben. (SlG: 150f.)

Die Möglichkeit des Glaubens wird zur Generationenfrage (vgl. auch SlG: 54): Die überlebenden »Söhne« »glauben an nichts mehr«, der gläubige Helander dagegen stirbt. Somit wird der Roman auch zu einem melancholischen Abgesang auf das sinnstiftende Modell christlicher Lebensführung und Weltdeutung; die christlich-religiöse Identität Helanders erweist sich zwar für ihn letztlich als tragfähig, aber sie stellt kein zukunftsorientiertes, Gemeinschaft begründendes Modell dar : Wir unterscheiden uns voneinander, dieser Mensch, der sich Gregor nennt, und ich: er ist zum Nichts verurteilt und ich zum Tode. (SlG: 150f)

Scheiternde Ablösungsprozesse: Psychoanalytische Deutungen ideologisch fundierter Kollektivbindungen Während das ›Aussterben‹ von christlicher Lehre und Glauben im Roman nicht als Indiz für ihre prinzipielle Untauglichkeit inszeniert wird, wird am Beispiel der beiden kommunistischen ›Deserteure‹ die Lehre der und der Glauben an die »Partei« grundsätzlicher desavouiert. Die Lossagungen Gregors und Knudsens von der »Partei« resultieren zwar einerseits aus der Angst der Protagonisten vor lebensbedrohlichen Konsequenzen für sie oder – im Falle Knudsens – für Angehörige durch die »Anderen« (vgl. SlG: 13ff., 40, 57). Andererseits sind sie aber bei beiden Figuren auf jeweils unterschiedliche Weise vor allem in der Qualität der »Partei« oder Parteibindung begründet. Die Figur Knudsen fungiert dabei als Exempel, an dem – vor allem aus psychologischer respektive psychoanalytischer Perspektive – Möglichkeiten und Hindernisse von Identitätsprozessen angesichts des Fragwürdigwerdens bishe-

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riger Identifikationsangebote problematisiert werden. Seine Beziehung zur Partei erweist sich als eine primär emotionale: Nur noch diese Fahrt, dann wird es die Partei nicht mehr geben. Nicht mehr für mich. Dann wird es nur noch die Fische geben, das Boot und die See. Ob mir die Liebe dann noch Spaß machen wird? […] Wollte ich den Abschied von der Partei ein wenig hinauszögern, um die Lust am Leben noch eine kurze Spanne Zeit zu behalten? (SlG: 85)

Für Knudsen stellt die »Partei« eine fürsorgende Instanz dar, von der er sich vernachlässigt fühlt. Seine Wut resultiert aus dem Erkennen der Beschränkungen der »Partei«: Er fühlte wieder die Wut, die er auf Gregor hatte. Er wußte nicht, daß es die Wut auf die Partei war, die er an Gregor ausließ. Gerade in diesem Abtrünnigen repräsentierte sich für ihn die Partei; die Partei, die ihn, Knudsen, im Stich gelassen hatte. (SlG: 136)

Er befindet sich in einem Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach dem VersorgtWerden durch die »Partei« einerseits, das sich nicht zuletzt in dem Bild vom anbeißenden »Fisch vor der Angel« (SlG: 16) artikuliert, und der nur mit »schlechte[m] Gewissen« möglichen kritischen Distanzierung von der »Partei« andererseits: »Ist doch alles Murks, was wir [die Mitglieder der »Partei«; Anm. M. S.] gegen sie machen« (SlG: 48). Dieses Dilemma Knudsens, der sich zwischen zwei unvereinbar erscheinenden Optionen zerreibt, vermittelt der Roman auch durch die parallele Struktur des dritten Satzes des folgenden Zitats: Das war es also. Helander begriff plötzlich Knudsens Weigerung. Seinen Haß gegen die Partei, weil sie versagt hatte. Sein schlechtes Gewissen, weil er nun die Partei haßte. Es ist so ähnlich wie mit mir und der Kirche, dachte er. (SlG: 31)

Eine Abgrenzung gelingt Knudsen nur im völligen Bruch: Er wandte sich ab und ging weg. Als er beinahe am Portal angelangt war, rief Gregor ihm nach: Genosse Knudsen! Knudsen blieb stehen. Er sah zurück. Es ist Parteibefehl, Genosse Knudsen, sagte Gregor. Knudsen gab keine Antwort. (SlG: 57f; vgl. auch SlG: 87)

Dass er sich schließlich doch zum Transport des »Klosterschülers« und Judiths entschließt, ist nicht in einer Faszination durch den »Klosterschüler« begründet, sondern in der – auch durch Gregors Gewaltanwendung hervorgerufenen – resignativen Einsicht in das Versagen der »Partei« und des durch sie repräsentierten ideologischen Erklärungsmodells: Wenn die Partei schon im Eimer ist, dann müssen die Jüngeren so kneifen wie er [Gregor; Anm. M. S.], und die Älteren so wie ich. Dann ist es besser, wir machen solche

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Sachen wie die, zu der er mich heute gezwungen hat, Sachen ohne die Partei, private Sachen. (SlG: 141)

Während Knudsens emotionales Angewiesen-Sein auf parteiliche Einbindung zunächst an Stauffenbergs verzweifelte Ideensuche in »Die Verschwörer« erinnert, gleicht seine Haltung am Ende eher dem Pragmatismus Helldorffs im selben Drama. Während dieser dort allerdings tendenziell positiv konnotiert wird, erscheint die Figur Knudsen als »in seinen Enttäuschungen erstarrte[r] Fischer« (SlG: 137); Gregors Urteil, dessen Handlungen seien ausschließlich »eine Folge seines Hasses gegen mich« (SlG: 140) gewesen, wird im Roman nicht relativiert.557 Die Abkehr von der »Partei« wird zum bloß resignativen Akt. Seine Beziehung zur »Partei« erinnert somit an einen gestörten Ablösungsprozess eines Kindes von der fordernden Mutter, so dass der Roman hier eine psychoanalytische Lesart der Emanzipation von ideologisch begründeter Gemeinschaft entwirft.558

Erfahrungshaftige Abwehr totalitärer Vereinnahmungen: Gelingende Emanzipation von der »Partei« als zweitem Feindbild Werden mittels der Knudsen-Figur Probleme und Scheitern der Loslösung von überkommenen Ideologien und deren Träger-Institutionen verhandelt, so führt der Roman am Beispiel Gregors einen gelingenden Emanzipationsprozess vor, der sich weniger als emotionale Abnabelung denn als intellektuelle Abgrenzung, als bewusste »Entscheidung zur Selbstverantwortlichkeit«559 darstellt; in seinen Selbstreflexionen wird die grundsätzliche Kritik des Romans an ideologisch orientierten Konstruktionen politischer Identität explizit: 557 Dazu Heidelberger-Leonard: »Im Gegensatz zum gebildeten Gläubigen Helander und dem abtrünnigen Ästheten Gregor reicht sein dumpfes Bewußtsein nicht aus, der mißglückten kollektiven Aktion mit einer hoffnungsvollen persönlichen Initiative entgegenzutreten« (1986: 100). 558 In ähnlicher Weise wird auch die Auseinandersetzung Helanders mit Gott zum Teil psychologisiert. So erscheint Helanders »Aufstand gegen Gott« als eine Auflehnung gegen das durch den »ferne[n] hohe[n] Herr[n]« repräsentierte (über-)fordernde Über-Ich: »Helander erkannte, daß er sich im Aufstand gegen Gott befand. Er wurde sich klar darüber, daß er töten wollte, weil er auf Gott wütend war. Selbstmord war keine Antwort auf die Unbegreiflichkeit Gottes. Während der Pfarrer die Pistole noch unschlüssig in seinen Händen hielt, begriff er, daß man einen Gott, der den Seinen nicht beistand, züchtigen mußte. Du sollst nicht töten, hatte der ferne hohe Herr erklären lassen. Aber nicht einmal Moses hatte sich an dieses Gebot gehalten« (SlG: 153). Zudem eröffnen die Hinweise des Erzählers auf Helanders Freud-Studien einen entsprechenden Deutungsraum: Der Pfarrer, der den Begründer der psychoanalytischen Traumdeutung »von da an bewunderte und liebte«, habe »monatelang die Schriften Freuds studiert« (SlG: 149). 559 So lautet der Titel eines Aufsatzes von Walter Hinck (2006: 151), in dem er den Roman »Sansibar oder der letzte Grund« als »[e]xistentialistische Parabel« (Hinck: 2006: 151) liest.

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Es geht nicht mehr nur um eine Desertion aus der nationalsozialistischen Armee, nicht nur um eine Absage an die kommunistische Fahne, sondern um die kategorische Abwendung von jeder Ideologie. In Sansibar oder der letzte Grund herrscht totaler Ideologieverdacht.560

Aus Gregors Perspektive fungiert die als kommunistisch erkennbare »Partei« des Romans als Symbol für das Primat politisch-ideologischer Orientierung vor individuellen Erfahrungen, welches er zunehmend in Frage stellt; Kollektivzugehörigkeit und Identität des Einzelnen geraten aus seiner Perspektive in Widerspruch. So wird für ihn zum einen der Einzelne im »Kampf« gegen die »Anderen«, durch den sich die »Partei« und die Zugehörigkeit zu ihr im Roman legitimiert, ausschließlich zum fremdbestimmten Ausführer von »Aufträge[n]«, was Gregor nicht mehr akzeptieren möchte: Es war sein glücklichster und sein endgültiger Gedanke: ich steige aus. Er empfand keine Gewissensbisse dabei. Ich habe genug für die Partei getan, dachte er. Ich habe mir noch diese letzte Reise als Prüfung auferlegt. Die Reise ist beendet. Ich kann gehen. Ich gehe natürlich, weil ich Angst habe, dachte er unerbittlich. Aber ich gehe auch, weil ich anders leben will. Ich will nicht Angst haben, weil ich Aufträge ausführen muß, an die ich … Er fügte nicht hinzu: nicht mehr glaube. Er dachte: wenn es überhaupt noch Aufträge gibt, dann sind die Aufträge der Partei die einzigen, an die zu glauben sich noch lohnt. Wie aber, wenn es eine Welt ganz ohne Aufträge geben sollte? Eine ungeheure Ahnung stieg in ihm auf: konnte man ohne einen Auftrag leben? (SlG: 41)

Zum anderen wird Gregors Wille zur Flucht zum Ausdruck des »Verrats an einem Dogma« (SlG: 65), denn die »Linie der Partei« (SlG: 48), an die er »nicht mehr glaube«, erscheint zunehmend als ideologischer Dogmatismus, der der Komplexität der individuellen Erfahrung nicht gerecht wird: Aus irgendeinem Grund hatte irgend jemand auf dem Zollboot den Scheinwerfer für eine Minute abgeschaltet, es gibt also etwas, was man Zufall nennen kann, dachte Gregor, obwohl es nach dem Dogma der Partei keinen Zufall gibt – auch Willensfreiheit gibt es in ihm nicht, dachte er –, hinter dem transparenten Schein eines Zufalls steht die undurchdringliche Wand von Naturgesetzen, man hat für jeden Zufall die Gründe zu suchen, die ihn zu einer Notwendigkeit machen, also hinter dem Abschalten eines Scheinwerfers die Gründe, die einen Zollpolizisten bewegen, ihn in genau jenem Moment zu unterbrechen, der genügt, eine Flucht zu retten, so daß auch die Rettung dem Kausalitätsprinzip gehorcht, der Kausalität der Natur, wie die Partei sie lehrt, aber die Kausalität der Kirche erschien Gregor in diesem Augenblick, während sie dem sich entfernenden Polizeiboot nachblickten, annehmender als die der Partei, weil sie, wenn sie schon alles auf den Willen Gottes zurückführte, wenigstens diesem die Freiheit ließ, seine Zufälle dort zu wirken, wo sie ihm gerade angebracht erschienen. (SlG: 131)

560 Heidelberger-Leonard 1986: 92. Vgl. auch Stocker 2004: 280.

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So erscheint aus Gregors Perspektive die Loslösung von der Parteidogmatik als Grundlage für ein emotional erfülltes Leben: Und nun war auch noch ein Mädchen mit ins Spiel gekommen, ein ziemlich schönes Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Sowie man die Partei im Stich läßt, gibt es wieder Romantik, dachte Gregor. Eiskalte Aktion gegen die Anderen, aber doch Romantik. (SlG 84)

An diesem Zitat wird deutlich: Während an anderer Stelle ein ›Mönchsleben‹ notwendig zu sein scheint, um »den Anderen gewachsen zu sein« (SlG: 113), ist es hier nicht die gefahrvolle, verborgene Widerstandstätigkeit, die »[e]iskalte Aktion gegen die Anderen«, sondern die unbedingte Loyalität zur »Partei«, die den emotionalen Entfaltungsspielraum des Einzelnen beschneidet. Darüber hinaus resultiert sein Rückzug von der »Partei« auch aus einer historischen Erfahrung, die ideologisch begründete Parteibindungen grundsätzlich desavouiert hat. Die Zeit der ›Fahnentreue‹ ist aus seiner Perspektive vorbei: Aber er [Knudsen; Anm. M. S.] verweigert mir [Gregor ; Anm. M. S.] die Hilfe, weil er den Schritt nicht tun will, den Schritt vom gedachten Abfall zum getanen, von der Aufgabe zum Verrat. Er hat die Fahne heruntergeholt, aber er hat sie sorgfältig zusammengefaltet und in seinen Schrank gelegt, anstatt von ihr zu fliehen. Überwintern will er mit ihr, weil er nicht weiß, daß Flaggen, die man gestrichen hat, nie wieder so flattern werden wie ehedem. Natürlich gibt es Fahnen, die nach einer Niederlage glorreich wiederauferstehen. Aber es gibt keine Fahnen, die man in Schränke legen und wieder hervorholen kann. Deswegen werden die Fahnen, die man hissen wird, wenn die Anderen einmal nicht mehr herrschen werden, keine glorreichen Banner sein, sondern gefärbte Leinwandstücke, die man wieder erlaubt hat. Wir werden in einer Welt leben, dachte Gregor, in der alle Fahnen gestorben sein werden. Irgendwann später, sehr lange Zeit danach, wird es vielleicht neue Fahnen geben, echte Fahnen, aber ich bin mir nicht sicher, dachte er, ob es nicht besser wäre, wenn es überhaupt keine mehr gäbe. Kann man in einer Welt leben, in der die Flaggenmasten leer stehen? (SlG: 89f.)561

Dem individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse nicht berücksichtigenden Dogmatismus der »Partei« und dem Konzept der bedingungslosen Fahnentreue wird im Roman aus Gregors Perspektive die Vorstellung von einem Menschen gegenübergestellt, der sich nicht einer fixen Deutung von Welt verschreibt. In dem Moment, als Gregor die »ungeheure Ahnung« erfüllt, man könne »ohne einen Auftrag leben« (SlG: 41), wird er sich der »Anwesenheit der Figur« (SlG: 561 Die im Roman zum Ausdruck kommende Funktion des Begriffs »Fahne« als Symbol für jede Art von ideologischer, möglicherweise sogar jeglicher Kollektiv-Bindung wird in der Hörspiel-Adaption des Romans noch prominenter artikuliert. So trägt das 1958 produzierte Stück den Titel »Aktion ohne Fahnen« (Regie Fritz Schröder-Jahn). Vgl. HörDat: http://www.hoerdat.in-berlin.de/select.php?col1=au.av& a=Alfred& col2=au.an& b=An dersch (Zugriff 05. 10. 2014). Vgl. dazu auch Schütz 1980: 52.

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42) bewusst: Der »Klosterschüler« symbolisiert für ihn die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens ohne »Auftrag«; er gehört »in den Club derer, die sich verschworen hatten, niemandem mehr zu gehören« (SlG: 116) und eine »kritisch[e]« Distanz zum (ideologischen) Text562 zu bewahren: Das sind ja wir, dachte Gregor. […] Genauso sind wir in der Lenin-Akademie gesessen und genauso haben wir gelesen, gelesen, gelesen. […] Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt. Aber dann bemerkte er auf einmal, daß der junge Mann ganz anders war. Er war gar nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektüre hingegeben. Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. […] Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun. (SlG: 43)563

In dem Wunsch der Rettung des »Klosterschülers«, der die verschiedenen Figuren zur Kooperation bewegt, manifestiert sich vor allem aus Gregors Perspektive nicht nur die gemeinsame Gegnerschaft gegen die »Anderen«. Für Gregor wird Helanders »heilige Figur« (SlG: 30) zum Vorbild, zu »seinem Genossen«, der seine Abkehr von der »Partei« als einen erfolgreichen Schritt zur persönlichen Freiheit initiiert: Jedenfalls wird es meine Aktion sein, dachte Gregor arrogant. Zum erstenmal leite ich keine Parteiaktion. Es ist eine Sache, die nur mir gehört. Er fühlte sich glänzend aufgelegt. Das wunderbare Gefühl, das ihn befallen hatte, seitdem er den jungen Mönch, seinen Genossen, den freien Leser, gesehen hatte, verließ ihn nicht. (SlG: 84; vgl. auch SlG: 65)

Mit dieser gleichzeitigen Abkehr von Nationalsozialismus und Kommunismus lässt sich »Sansibar oder der letzte Grund« als Beitrag zur Totalitarismus-Debatte der 1950er Jahre lesen, die den ideologischen Absolutheitsanspruch bestimmter Herrschaftsformen betonte und kritisierte und dabei aber durch die Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus selbst zum Teil einer ›kaltkriegerischen‹ ideologischen Auseinandersetzung wurde.564 So verorten auch 562 Dass der »Klosterschüler« im Roman als ein Symbol einer Ideologiekritik, die sich nicht zuletzt als Textkritik versteht, fungiert, zeigt vor allem auch das folgende Zitat: »Der Bursche, der dort sitzt und liest, dreht sicherlich auch das Wort im Mund herum. Er dreht es herum und befühlt es von der anderen Seite« (SlG: 54). Auch Gregors innere Erregung über Knudsens autoritäre Haltung gegenüber dem Jungen zielt in diese Richtung: »Aber ich bin der Schiffer und er ist der Junge. Er hat keine Fragen zu stellen. / Er hat Fragen zu stellen, dachte Gregor heftig. Und er wird sie eines Tages stellen« (SlG: 86f.). 563 Vgl. dazu auch Stocker 2004: 278f. 564 Zum Totalitarismus-Begriff vgl. Rieger 2010. Zur Entwicklung des »Totalitarismuskonzept[s] in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts« vgl. Söllner 1997.

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Rhys Williams und Günther Stocker den Roman auf dem Feld deutsch-deutscher Auseinandersetzungen der 1950er Jahre. Williams liest in seinem 1999 erschienenen Aufsatz »›Nachrichten von der Grenze‹. Alfred Andersch’s Prose Writings« die literarische Verarbeitung des »Lesenden Klosterschülers« als Verweis auf die Auseinandersetzung Anderschs mit der DDR als totalitärem Staat: »Barlach is chosen, less because of Barlach’s position in the Third Reich, than because the work was hotly debated in the GDR in the early 1950s«565. Stocker dagegen sieht in der Figur des »Klosterschülers« »Lesen als Utopie der Freiheit«566 verkörpert und betont dabei stärker als Williams eine ideologiekritische Intention des Autors, die sich nicht nur auf »das geschlossene Mediensystem des ›Dritten Reichs‹«567 richte, sondern zudem auf die Gesellschaften beider deutscher Nachkriegsstaaten: Das ist eine klare Botschaft an die auch im Nachkriegsdeutschland immer wiederkehrenden Versuche, die literarische Freiheit einzuschränken, sei es im Namen von Anstand und Moral oder aus politischen Motiven. Das undogmatische, kritische Lesen des »Klosterschülers« wird also zum grundlegenden Akt des geistigen Widerstands, der sich auf verschiedene politische Kontexte beziehen lässt, nicht zuletzt auch auf die ideologisch aufgeladene Spannung des Kalten Krieges, die zur Entstehungszeit des Romans die deutsche Gesellschaft prägte.568

»Die Aktion ›Lesender Klosterschüler‹« – Kunst als gemeinschaftsbegründender Ideologieersatz? Neben der Symbolisierung von Ideologiefreiheit und dem Widerstandspotenzial, das der »Klosterschüler«-Skulptur als Vorbild individueller Emanzipation intradiegetisch zugeschrieben wird, fungiert sie handlungslogisch als integrierendes Moment für die sozial und politisch heterogenen Akteure. So wird nicht nur für Gregor, sondern auch für die anderen Figuren die Begegnung mit dem »Klosterschüler« zu einem prägenden Erlebnis. Mit taktischen Erwägungen sind die politisch-sozialen Differenzen der Figuren hin zu einer widerständigen Gemeinschaft nicht zu überwinden: Hör mal zu, Knudsen, sagte Gregor, du kennst die neue Taktik der Partei nicht! Wir arbeiten jetzt mit allen zusammen: mit der Kirche, mit den Bürgern, sogar mit den Leuten von der Armee. Mit allen, die gegen die Anderen sind. – Er deutete auf die Figur : Wenn wir ihn wegbringen, liefern wir ein Beispiel für diese Taktik. 565 Williams 1999: 166. So habe Andersch mit Rerik möglicherweise auch bewusst einen ostdeutschen Schauplatz gewählt, an Hand dessen die Schwierigkeiten der Flucht aus einem Land thematisiert würden (vgl. Williams 1999: 165). 566 So lautet der Obertitel des Aufsatzes von Günther Stocker (2004). 567 Stocker 2004: 280. 568 Stocker 2004: 281.

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Taktik, dachte der Pfarrer, es ist alles nur Taktik bei ihnen. Ich will nicht mit den Bürgern zusammenarbeiten, hörte er Knudsen sagen. Wenn wir rechtzeitig geschossen hätten, könnten wir uns jetzt solche Fisimatenten sparen. (SlG: 56f.)

Es ist die »Klosterschüler«-Skulptur, die die Figuren an- und zusammentreibt: Taktik? fragte er plötzlich, ist es wirklich nur eine Taktik Ihrer Partei? Klar, sagte Gregor, es ist Taktik. Eine neue Taktik ist etwas Wunderbares. Sie ändert alles. Eine unverständliche und unbefriedigende Antwort, dachte der Pfarrer. Aber plötzlich sah er Gregors Hand. Sie lag auf der Schulter des ›Lesenden Klosterschülers‹; in einer leichten und brüderlichen Bewegung hatte sie sich auf das Holz gelegt. (SlG: 58)

Sie wird zum wichtigen gemeinsamen identitätsstiftenden Symbol der Verweigerung gegenüber nicht nur den nationalsozialistischen Herrschaftsansprüchen: Und in der Tat hörte er sie sagen: Das ist eine sehr wertvolle Plastik. So wertvoll, bemerkte er spöttisch, daß Sie die Chance haben, von diesem Burschen aus Holz mitgenommen zu werden. Als Draufgabe sozusagen. Er ist uns nämlich wichtiger als Sie. Wen meinen Sie mit uns? fragte sie. Den Pfarrer dieser Kirche und mich, erwiderte er. (SlG: 111)

Sind es hier zunächst nur Gregor und der Pfarrer, die aus Gregors Perspektive das ›Wir‹ bilden, wird wenig später deutlich, dass die Integration verschiedener gesellschaftlicher Fraktionen weiter reicht. So widmet sich der Junge der »Klosterschüler«-Skulptur mit einer »sorgfältigen, fast ehrfürchtigen Bewegung« (SlG: 136), selbst Knudsen »nannte sie in seinen Gedanken jetzt nicht mehr den Götzen« (SlG: 135) und auch die Jüdin Judith wird Teil der Koalition: Bis dahin mußte die Aktion den Scheitelpunkt ihrer Kurve erreicht haben. Die Aktion ›Lesender Klosterschüler‹. Oder war es jetzt die Aktion ›Jüdisches Mädchen‹? (SlG: 84; vgl. auch SlG: 114)

Die ideologisch bedingten Konflikte von Figuren mit verschiedenen politischen und sozialen Bezügen, die eine Vereinzelung des Menschen induzieren, werden im Roman kompensiert durch die verbindende Wirkung des »Klosterschülers«. Besonders pointiert hat vor allem Heidelberger-Leonard in ihrer Dissertation auf diese integrative Funktion des »Klosterschülers« verwiesen. So halte er »die spannungsvolle Konstellation der fünf so verschiedenartigen Figuren einen ganzen Roman lang im Schwebezustand«569. Die Autorin liest die Holzplastik als Ausdruck eines im Roman angelegten emphatischen Kunstverständnisses: 569 Heidelberger-Leonard 1986: 32f.

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Wollten wir die Veränderungspotenz der Kunst im Werk von Alfred Andersch bestimmen, d. h. die Veränderungsfähigkeit der Realität durch Kunst, dann ist Sansibar oder der letzte Grund, Anderschs erster Roman, zweifellos der zukunftsträchtigste. Hier wird die ästhetische Erfahrung voll in real-politische Aktion übersetzt. Das Modell »Lesender Klosterschüler«, plastisches Symbol für kritisch-konstruktives Denken, für »überschreitendes Denken«, hat nicht nur partielle Folgen, wirkt nicht nur bewußtseinsverändernd, sondern generiert eine »Zukunftswelt«, d. h. eine reale Gegenwelt. […] So gläubig, so beseelt von der geschichtsverändernden Kraft der Kunst, so überzeugt von der Perfektibilität des Menschen, den das Kunstwerk als Verdichtung der Freiheit zu aktivieren weiß, so daß er subjektive Erkenntnisse in objektive Realität zu übersetzen vermag, ist Andersch nie wieder.570

Dass Kunst nicht nur fiktionsintern als Kompensation für den Autoritätsverlust politischer Ideologien fungiert, sondern den zeitgenössischen Rezipienten möglicherweise gleichsam zur Fundierung neuer eigener politisch-sozialer Identitäten gedient haben mag, vermutet Erhard Schütz: In Sansibar nun ist die ästhetische Repräsentation von ›Sinn‹ im bedeutenden Kunstwerk konzentriert. Dadurch ist der Roman für eine Generation, die sich ihre ethischen Normen aus problematischer Erfahrung der Vergangenheit heraus nicht mehr von den Kirchen, gar politischen Parteien vorgeben lassen wollte, zum Buch geworden, »auf das es ankommt«: weil es ihr bestätigte, was sie praktisch schon tat – in der Kunst die rechtfertigende Anleitung zur individuellen Entscheidung des richtigen Lebens suchen.571

Schütz konstatiert daran anschließend zu Recht eine Widersprüchlichkeit des Romans: Doch von heute aus gesehen kann der Roman diese Wirkung eben nur behaupten, sich selbst aber nicht schon zwingend durchsetzen als Buch, »auf das es ankommt«. Weil er die je individuelle Besonderheit und Entscheidung zu einem allgemeinen Programm erklärt, bleibt er notwendig widersprüchlich. Der Widerspruch wird sinnfällig bis ins Detail, in dem die Behauptung von Individualität und Einzigartigkeit kollidiert mit der zum Zweck der Beweisführung hergestellten Typisierung […].572

Diese Widersprüchlichkeit ist auch dem im Roman angelegten Kunstverständnis inhärent, wenn die Vorstellung von der gesellschaftlichen Rolle der Kunst als dem entscheidenden subversiven Mittel verabsolutiert wird und damit Gefahr läuft, zu einer Kunstideologie als neuem gemeinschaftsfundierendem Konsens zu gerinnen.

570 Heidelberger-Leonard 1986: 285. Vgl. dazu exemplarisch auch Heberling 1988: 135, 141; Jendricke 1999: 83; und Hesse 2004: 127. 571 Schütz 1980: 57. 572 Schütz 1980: 56.

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4.3.3 Nationale Un-Spezifik: Zur inszenierten Omnipräsenz der Bedrohung Weniger als Widersprüchlichkeit des Romans soll in diesem Unterkapitel dagegen die Darstellung der »Anderen« und der durch sie repräsentierten Gefahr in Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« gedeutet werden, auch wenn in diesem Zusammenhang ein Schwanken zwischen Nationalisierung und Entnationalisierung konstatiert wird. Diese Ambivalenz des Entwurfs der »Anderen« gerät wie auch die analoge historische Unkonkretheit der Raumdarstellung im Folgenden statt dessen vielmehr in ihrer spezifischen Funktion für die den Roman dominierende Totalitarismuskritik in den Blick. Während die Tendenzen einer Entnationalisierung des Nationalsozialismus in ihren verschiedenen Ausprägungen (zum Beispiel Exterritorialisierung und Entmenschlichung) in den ›widerstandsliterarischen‹ Ansätzen vom Typus Integrationsangebote primär einer diskursiven Rehabilitierung des Nationalen dienen, erscheinen sie bei Andersch nicht in erster Linie als exkulpierender Beitrag zu einer Debatte um deutsche Kollektivschuld. Zwar ist nicht auszuschließen, dass insbesondere der im Folgenden beschriebenen partiellen nationalen Anonymisierung der »Anderen« möglicherweise vor allem in der zeitgenössischen Rezeption des Romans eine entsprechende Entlastungsfunktion zukam. Eine Interpretation des Textes, die dessen Abwehr totalitärer Vereinnahmungen in den Mittelpunkt stellt, fokussiert aber eher ihren Beitrag zu einer Inszenierung von omnipräsenter Bedrohung des Einzelnen, für die der historische Nationalsozialismus lediglich als ein Beispiel unter anderen fungiert.

Das Changieren der »Anderen« zwischen Nationalisierung und Entnationalisierung im Kontext der Totalitarismuskritik So erfolgt eine konkrete historische Situierung der Bedrohung durch die »Anderen« in »Sansibar oder der letzte Grund« beinahe ausschließlich aus der Perspektive der Figur Judith. Sie ist es, die die Bedrohung, die von den »Anderen« ausgeht, zum Beispiel in ihrer Beschreibung schwedischer Seeleute im Reriker Hafen explizit in einem als ›deutsch‹ markierten Kontext und somit auch historisch relativ genau verortet: Sie hatten sich an den Tisch gesetzt, über dem, an der Wand, ein Bild des Führers der Anderen hing, aber sie schienen das gemeine, vollkommen seelenlose Bastardgesicht nicht zu beachten, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil es sie nicht interessierte; sie waren offenbar schon aus vielen Besuchen in deutschen Häfen daran gewöhnt und wunderten sich nicht mehr darüber ; es war für sie sicherlich nicht mehr als eine nationale Eigenart, nichts anderes als ein Guinnesplakat in einer Kneipe in Hull oder ein Bild der Königin im Hafenamt von Delfzijl. Schlechte Aussichten für mich, dachte

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Judith, wenn sie sich einfach da hinsetzen können, unter dieses Gesicht, ohne sich gestört zu fühlen. (SlG: 71)

Deutlicher noch als in diesem Zitat wird die Kontrastierung des Deutschen mit anderen Nationen durch Judiths Blick auf die Beflaggung von Schiffen, die im Reriker Hafen liegend von ihr als Fluchtmittel in Erwägung gezogen werden. Die »blaue Fahne mit dem gelben Kreuz« symbolisiert den rettenden schwedischen Frachter, dem eine bedrohliche »blutigrot[e]«, »kalkweiß[e]« und »schattenschwarz[e]« Realität entgegengestellt wird, wobei die Grundfarben Schwarz, Weiß, Rot auf die Reichsfarben des Deutschen Reiches, und möglicherweise auch auf die Farben der Hakenkreuzfahne, verweisen (vgl. SlG: 66 und ähnlich: SLG: 18). Dass es fast ausschließlich die Figur Judith ist, aus deren Perspektive die Auseinandersetzung mit dem Deutschen expliziert wird, erweckt den Eindruck eines spezifisch jüdischen Anliegens. Verstärkt wird dies durch Judiths folgenden Kommentar zu ihrer eigenen nationalen Identität: Und seit ein paar Jahren weiß ich, daß ich eine Jüdin bin. Früher dachte ich, ich sei eine Deutsche. Aber da war ich noch ein Kind. Seitdem hat man mich zu einer Jüdin gemacht. (SlG: 107)573

Das Erleben des Ausgeschlossen-Werdens aus der Gemeinschaft der Deutschen macht die Figur zur Jüdin und ›Nicht-Deutschen‹, aus deren Perspektive heraus die deutliche Etikettierung der Bedrohung als ›deutsch‹ möglich wird. Im Gegensatz zu solchen eindeutigen nationalen Zuschreibungen und damit auch historischen Verortungen, wie sie aus der Perspektive der Figur Judith Levin erfolgen, fällt in »Sansibar oder der letzte Grund« ansonsten gerade das Fehlen nationaler/deutscher Etikettierungen für die Bedrohung auf, das vor allem aus der Konturlosigkeit der bedrohenden Akteure resultiert. Bereits Passagen vom Anfang des Romans versperren den Blick auf konkrete handelnde Figuren, indem sie Rerik als den »Schauplatz einer Drohung« und das BedrohtWerden durch Verwendung von Passivsätzen als passive Erfahrung der Verfolgten inszenieren, bei der die drohenden Akteure verborgen bleiben (vgl. »vorausgesetzt, man ist nicht bedroht« [SlG: 7] und: »Da man jedoch bedroht 573 Dass ich an dieser Stelle von Judiths jüdischer Identität als nationaler und nicht als religiöser Identität spreche, resultiert aus der von Judith selbst artikulierten Gegenüberstellung von »deutsch« und »jüdisch« als zwei scheinbar auf der gleichen ontologischen Ebene angesiedelten Begriffen. Judiths Reflexionen verweisen bereits darauf, dass diese Nationalisierung des Jüdischen aus ihrer Perspektive als eine Folge der nationalsozialistischen Exklusions-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik inszeniert und kritisiert wird. Dennoch akzeptiert Judith diese nationalisierende Gegenüberstellung letztendlich zur eigenen Positionsbestimmung, was das Sprechen über ihre jüdische Identität als nationale Identität rechtfertigen kann.

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war« [SlG: 8]). Auch finden sich vermehrt Passagen, die eine Differenz zwischen den »Anderen« auf der einen und der Reriker Bevölkerung, die oft unter dem Personalpronomen »sie« (3. Ps. Pl.) subsummiert wird, auf der anderen Seite erzeugen: Über den Platz kamen zwei Polizisten auf die Anlegestelle zu, Landespolizisten in grünen Uniformen, die schwarzen Stiefel glänzend gewichst. […] Sie hat keine Ahnung, dachte Gregor, sie weiß nicht, daß die Grünen ungefährlich sind, gefährlich sind nur die Anderen. Gefährlich sind auch die Leute hier, die alle so tun, als sähen sie die Fremde überhaupt nicht, aber sie sehen sie doch und beobachten sie, auch wenn sie sie nicht anstarren, wie es die Leute in einem Hafen im Süden tun würden. Gefährlich werden ihre Reden nachher sein, unter sich, in ihren Häusern, die abgerissenen Worte, die halben Sätze, ›hast du die gesehen?‹, das Ungefähre einer mißgünstigen Verwunderung, das dunkle Gerücht, aus dem Nichts aufsteigend und um die Türme von Rerik webend, bis an die Ohren der Anderen. (SlG: 62)

Zwar wird in diesem Zitat, das das Hafengeschehen aus der Perspektive Gregors schildert, auch die Reriker Bevölkerung als »gefährlich« eingestuft, aber sie wird nicht gleichgesetzt mit den Trägern der eigentlichen Gefahr, den »Anderen«. Diese erscheinen vor allem auf Grund der verwendeten lokalen Präpositionen »aus« und »bis« sowie des Verbpartikels »auf« im letzten Satz als über der Stadt schwebende Macht, die unabhängig von dem Leben ›unter den Türmen‹ existiert.574 Ganz ähnlich konstruiert auch das folgende Zitat – dieses Mal aus der Perspektive Knudsens – einen Unterschied zwischen der »ganze[n] Stadt« und den »Anderen«, wobei deutlicher noch der Eindruck einer omnipräsenten Kontrolle durch Letztere erzeugt wird: Übrigens fühlte er sich nicht wohl in der Kirche. Wenn mich einer gesehen hat, wie ich in die Kirche ging, dann redet bald die ganze Stadt darüber, dachte er. Der Knudsen, der rote Hund, war in der Kirche, werden sie sagen. Das wird die Anderen aufmerksam 574 Dass der Roman an dieser Stelle explizit »Landespolizisten in grünen Uniformen« (SlG: 62), also die Ordnungspolizei des ›Dritten Reichs‹, als »ungefährlich« einstuft, erinnert an Argumentationsstrukturen der sogenannten ›Wehrmachtslegende‹, die Verantwortung für NS-Verbrechen ausschließlich Parteiorganisationen zuschreiben. Diese in dem Roman zu beobachtende ›Entschuldung‹ der staatlichen Ordnungspolizei ist ausgehend vom heutigen historiographischen Forschungsstand zu pauschal, wie eine Sonderausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin (2011: http://www.dhm.de/ausstellungen/ordnungund-vernichtung/; Zugriff 05. 10. 2014) zeigt (vgl. auch die Skizze des Projekts »Die Polizei im NS-Staat« auf der Homepage der Deutschen Hochschule für Polizei: http:// www.dhpol.de/de/hochschule/Fachgebiete/01_projekt.php; Zugriff 05. 10. 2014). Auch in der folgenden Passage, die aus Helanders Perspektive den »junge[n] Mann aus Rostock« (SlG: 28) beschreibt, der den Auftrag hat, den »Klosterschüler« zu beschlagnahmen, findet sich eine ähnliche Trennung zwischen konkreten ›staatstragenden‹ Figuren und den eigentlichen »Anderen«: »Helander geriet in Zorn, wenn er an den Besuch des jungen Herrn Doktor gestern Abend dachte. Keiner von den Anderen, sondern ein Geschickter, Wendiger, ein Karrierist« (SlG: 28).

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machen. Da stimmt irgend etwas nicht, werden sie sagen, der Knudsen wird wieder aktiv. (SlG: 47)

Zwar gibt es – beispielsweise neben dem Hinweis Knudsens auf die Verfolgung der ›Roten‹ – in dem Roman durchaus weitere Passagen, die die »Anderen« auch unabhängig von der Perspektive Judiths als historisch spezifische nationale und/ oder politische Bewegung erscheinen lassen (vgl. exemplarisch SlG: 26 und 95), und Werner Zimmermann hat zu Recht darauf verwiesen, dass »die historische Zeit […] auch ohne ausdrückliche Nennung von Namen, Daten und Fakten als Zeit der Hitler-Diktatur deutlich erkennbar«575 werde. Insgesamt überwiegt allerdings der Eindruck von den »Anderen« als eines ungreifbaren, nicht näher zu bestimmenden Kollektivs. Die Bedrohung durch die »Anderen« erscheint nicht als ein national-historisch spezifisches Phänomen, wenn – wie im folgenden Zitat – selbst aus der Perspektive Judith Levins erstens keine konkret handelnden Akteure sowie zweitens keine Schnittmengen mit der Bevölkerung sichtbar werden, und drittens die »Anderen« nicht zuletzt durch die Bezeichnung als »die Anderen« semantisch explizit zum gerade Nicht-Identischen werden:576 Sah er aus wie einer von den Anderen? Sie wußte nicht, wie sie aussahen, sie hatte keine Erfahrung mit ihnen, sie wußte nur, daß man vor ihnen floh oder daß man Selbstmord beging, wenn man nicht mehr vor ihnen fliehen konnte. (SlG: 102; vgl. auch SlG: 14, 15)577

Zu einer geradezu metaphysischen Kraft werden die »Anderen« dann vor allem in den theologischen Reflexionen des Pfarrers Helander, in denen die »Anderen« zu einer »Bestätigung« der »Tatsache des Nichts« (SlG: 151) werden. 575 Zimmermann 1969: 200. Ähnlich wie Rolf Geissler (vgl. 1968: 218) und nach ihm Kurt Sollmann (vgl. 1994: 37) verweist auch Zimmermann in diesem Zusammenhang auf zentrale Charakteristika des NS-Staates, die im Roman vor allem durch verschiedene Figuren und deren Schicksal verkörpert werden: Am Schicksal Judith Levins zeigen sich die Auswirkungen der Judenverfolgung, die Bedrohung Bertha Knudsens verweist auf die Gefahr der Euthanasie, Helander reflektiert die Rolle der Kirche und ihre Spaltung in Bekennende Christen und selbsternannte Deutsche Christen, am Beispiel des »Lesenden Klosterschülers« manifestiert sich der regimespezifische Umgang mit ›entarteter‹ Kunst und an der Untergrundarbeit der beiden Kommunisten Gregor und Knudsen verhandelt der Roman nicht nur die Bedingungen und Formen von Widerstand und Illegalität im sogenannten ›Dritten Reich‹, sondern zeigt letzteres auch – wie ebenfalls an Hand der Pass-Problematik – als Polizeistaat (vgl. Zimmermann 1969: 205). 576 Die Bezeichnung von Repräsentanten des Nationalsozialismus als die »Anderen« ist kein literarisch völlig neues Verfahren. So verweist Erhard Schütz darauf, dass es bereits in Peter Bamms Bericht »Die unsichtbare Flagge« (1952) zu beobachten sei (vgl. Schütz 1980: 56). 577 Dass Judith ausgerechnet ihren Gastwirt, der als einzige Figur des Romans eine konkrete, personalisierte Bedrohung darstellt, auch wenn er von Judith nicht als einer der »Anderen« eingeordnet wird, als »Chinese[n]« bezeichnet, passt in dieses Bild der ›Entdeutschung‹, vielleicht auch Exotisierung der möglichen Täter : »Ein Chinese, dachte Judith, ein großer, weißer, fetter Chinese. Nur nicht so leise wie ein Chinese« (SlG: 35).

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Statt auf ein konkretes historisches Phänomen zu verweisen, werden die »Anderen« – auch durch ihre häufige explizite Erwähnung im Roman578 – zu einer unkonkreten, aber allgegenwärtigen Bedrohung.579 Diese Anonymisierung der Bedrohung fällt besonders dann, wenn man die vorhandenen Bezüge des Romans auf die »historische Zeit« erkennt, als abstrahierendes Verfahren auf, bei dem konkrete historische Bezüge nebensächlich werden. Marcel Reich-Ranicki konstatiert daher in diesem Zusammenhang zu Recht, der Nationalsozialismus werde »in diesem Roman nicht als konkreter politischer Faktor behandelt, sondern fungiert als anonyme Macht der totalen Bedrohung des Menschen, als Sinnbild der Tyrannei«580.

Zur Semantisierung topographischer Räume in »Sansibar oder der letzte Grund« Ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Nationalisierung und Entnationalisierung wie in der Gestaltung der »Anderen« zeigt sich auch mit Blick auf die in dem Roman »Sansibar oder der letzte Grund« entworfene Topographie und die damit einhergehenden nationalen Zuschreibungen und Grenzziehungen. Einerseits weist der Roman den Grenzen zwischen verschiedenen Ländern durch die Thematisierung von Fluchtbewegungen wesentliche Bedeutung für den Handlungsverlauf zu. Das Überschreiten von Ländergrenzen oder zumindest der entsprechende Versuch sind ein zentrales Movens der erzählten Geschichte: Der ›Junge‹ will weg, muss aber »irgendwohin ankommen«, sprich »hinter der offenen See Land erreich[en]« (SlG: 7). Gregor erhofft sich ein Ende der Gefahr »jenseits des Hoheitsgebietes der Drohung, sieben Meilen von der Küste entfernt, auf einem Schiff nach Schweden« (SlG: 8) und denkt über sich und seine beiden Fluchtgefährten, Judith und den Klosterschüler, wie folgt nach: »Ich will weg, aber sie müssen weg« (SlG: 61). Die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Ländern fungiert als handlungskonstituierendes Prinzip; Antagonismen zwischen dem Land der »Finsternis« auf der einen Seite und dem »freundlichen Land« auf der anderen Seite, die im folgenden Zitat, das auf den ersten Seiten des Romans einen Blick auf die Familiengeschichte des Pfarrers Helander wirft, erzeugt werden, sind für fast alle Figuren zentral: Seine Vorfahren waren mit dem reisigen König aus einem Land gekommen, in dem die Häuser aus Holz gebaut und bunt gestrichen wurden. In jenem Lande knirschten die 578 Vgl. exemplarisch SlG: 14, 15, 18f., 26ff., 47f. 54f., 62, 95ff., 101f., 111, 115, 118, 135, 138, 147, 150f. 579 Vgl. dazu auch Sollmann 1994: 37. 580 Reich-Ranicki 1963: 107. Vgl. ähnlich auch Pischdovdjian 1978: 79; Hinderer 1994: 145f.; Jendricke 1999: 80; und Williams 2002.

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Schritte fröhlich auf dem Kies vor den hölzernen Pfarrhäusern, und auf den Balken war die Botschaft der Gerechtigkeit und des Friedens eingeschnitzt. Fröhliche Träumer waren seine Vorfahren gewesen, als sie sich verleiten ließen, in ein Land zu ziehen, in dem die Gedanken so dunkel und maßlos waren wie die Steinwände der Kirchen, darinnen sie begannen, die rechte Botschaft zu predigen. Sie wurde nicht gehört, die rechte Botschaft: die Finsternis war stärker geblieben als das kleine Licht, das sie aus dem freundlichen Land mitbrachten. (SlG: 10f.)

Dieser dichotomischen Darstellung des Handlungsraumes, durch die Ländergrenzen entscheidende Bedeutung erlangen, steht andererseits die gerade auch in diesem Zitat zu beobachtende Tendenz des Romans, den zentralen Handlungsraum zu entnationalisieren, entgegen: Zwar lässt sich als das Land der Vorfahren Helanders Schweden annehmen,581 so wie auch das Land, »in dem die Gedanken so dunkel und maßlos waren wie die Steinwände der Kirchen«, als das Deutsche Reich beziehungsweise dessen vorgängige Staaten erkennbar bleibt, aber die Länder werden in auffälliger Weise nicht namentlich benannt und eine explizite nationale Zuordnung unterbleibt. Vor allem die Wahl der unbestimmten Artikel im Zusammenhang mit den verhandelten Ländern lässt diese zunächst als nicht näher zu spezifizierende Regionen erscheinen. Außerdem verstärkt die stark kontrastierende Charakterisierung der beiden Länder – »bunt«, »fröhlich«, »Gerechtigkeit«, »Frieden«, »das kleine Licht«, »freundlich[ ]« versus »so dunkel und maßlos«, »Finsternis« – den Eindruck, die Passage erzähle von menschlichen Grunderfahrungen und weniger von nationalgeschichtlich zu kontextualisierendem Geschehen. Zeit und Raum erscheinen so als wenig konkretisierte Koordinaten.582 581 Der Bezug auf Schweden erscheint auf Grund des Hinweises auf die bunt gestrichenen Holzhäuser, der Situierung des Handlungsortes Rerik an der Ostseeküste, der Bedeutung dieses Landes als Fluchtort im übrigen Roman sowie der Rede von dem »König« als wahrscheinlich. 582 Diese Tendenz, historische Handlungsräume zu entkonkretisieren, zeigt sich in »Sansibar oder der letzte Grund« auch in Beschreibungen Reriks. Zwar wird die Stadt zu Beginn des Romans als eine Hafenstadt an der Ostsee neben andere namentlich genannte Städte – »Travemünde, Kiel, Flensburg, Rostock« (SlG: 18) – gestellt und damit scheinbar zu einem greifbaren »Punkt auf der Landkarte« (SlG: 22), aber in der Fortsetzung des Zitats wird sie als »ein toter kleiner Platz, an den niemand denkt« (SlG: 18) bezeichnet. Rerik wirkt auf Judith »klein und leer, leer und tot unter seinen riesigen roten Türmen« (SlG: 19). Insbesondere die Türme der Stadt, die deren Darstellung dominieren, sind nicht als Merkmale der topographischen Beschaffenheit des Handlungsortes relevant, sondern werden zu Symbolen, denen die Figuren verschiedene Bedeutungen zuschreiben. Für Gregor sind es »leere Türme« (SlG: 22), in denen zwar »auf keinen Fall […] die Anderen [saßen]« (SlG: 22), die ihn aber beobachten und seine Flucht erschweren – »Sie sahen alles. Auch einen Verrat« (SlG: 23). Und während in den Erzählungen von Judiths Mutter die Türme von Rerik als »wunderbare rote Ungeheuer, die man streicheln kann« (SlG: 20) erschienen, sind sie für die flüchtende Judith selbst dagegen beängstigend: »Unter dem kalten Himmel aber kamen sie Judith wie böse Ungeheuer vor. Auf jeden Fall waren es Türme, die sich um Mamas

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Die gleiche Diskrepanz zwischen der Vermeidung konkreter Ländernamen einerseits und der gleichzeitigen Etablierung von nationalstaatlichen Unterschieden andererseits findet sich auch in Gregors Beschreibung der »Leute« im Hafen von Rerik, die Judith »beobachten«, »auch wenn sie sie nicht anstarren, wie es die Leute in einem Hafen im Süden tun würden« (SlG: 62). Der geographische Bezug – »im Süden« – scheint hier wieder wenig konkret zu sein. Da das Deutschland des Romans aber keine Häfen »im Süden« hat, wird an dieser Stelle offensichtlich ein Unterschied zwischen »Leute[n]« verschiedener Länder etabliert, der allerdings nicht explizit als solcher benannt wird. Entsprechend konstatiert auch Jan Bürger, Andersch konstruiere den »Ostseeraum des Romans […] weniger nach den Konventionen der Geografie als nach symbolischen Erfordernissen.«583 Es ist vor allem Deutschland als zentraler Handlungsraum, das im Roman als ein national oft nicht weiter bestimmtes »reizendes Land – man steht vor fremden Schiffen an, um es zu verlassen« (SlG: 61)584 – erscheint. Während das rettende Jenseits der Grenze – vor allem Schweden als Zielland der Flucht – vermehrt explizit genannt wird, bleibt das Diesseits, der Ausgangspunkt der Flucht, oft ohne nationale Etikettierung;585 es bleibt das nicht näher benannte gefährliche »Reich der Anderen« (SlG: 98) und weniger eine explizit deutsche Bedrohung.

armen Gifttod nicht kümmerten, das fühlte Judith. Auch nicht um ihre Flucht. Von diesen Türmen war nichts zu erwarten« (SlG: 20). Ähnlich ist auch die Titel gebende ostafrikanische Insel/Inselgruppe »Sansibar« in diesem Roman nicht als konkreter geographischer Ort, sondern als Symbol für die Freiheitsträume des Jungen von Bedeutung und wird zum ›Gegenort‹ Reriks: »Man musste Rerik verlassen, erstens, weil in Rerik nichts los war, zweitens, weil Rerik seinen Vater getötet hatte, und drittens, weil es Sansibar gab, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter der offenen See, Sansibar oder den letzten Grund« (SlG: 82). 583 Bürger 2008: 62. 584 Bei dieser Aussage handelt es sich um Gedanken Gregors bei seiner Beobachtung des Hafens, wo er die fluchtwillige Judith entdeckt. Das Adjektiv »reizend« ist hier deutlich ironisch gemeint, wenn er das Land als eines beschreibt, aus dem nun schon drei ihm bekannte ›Menschen‹ fliehen wollen: »Erst war es nur ich, dann ist der Klosterschüler dazugekommen, jetzt diese da« (SlG: 61). 585 Während das Wort »Deutschland« in dem Roman kaum vorkommt (Ausnahme: SlG: 113), von den »Deutschen« sehr selten die Rede ist und auch das Attribut »deutsch« kaum Verwendung findet, werden Worte aus dem Wortfeld »Schweden« deutlich häufiger verwendet: »Der Schwede, der arme alte Schwede nahm sie nicht mit, der nahm niemand mit, er war ein ängstlicher alter Dampfer, der sich genau an die Gesetze hielt, das konnte man sehen« (SlG: 63; vgl. exemplarisch auch: SlG: 8, 21, 27, 34, 55, 56, 69, 70, 72ff., 134, 139, 145, 158).

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4.4

Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

»Ach was, Vaterland!« – Entnationalisierungen des Widerstands

Hätte ich sagen sollen, dachte er, Sie täuschen sich, ich bin kein Christ, ich bin Kommunist? Es hätte nicht gestimmt, denn ich bin kein Kommunist mehr, ich bin ein Deserteur. Ich bin auch kein Deserteur, sondern ein Mann, der begrenzte kleine Aktionen durchführt, im eigenen Auftrag. Und dann begann es ihm zu dämmern, daß er sich zu diesem jungen Mädchen in einer Beziehung befand, vor der Worte wie Christ, Kommunist, Deserteur, Aktivist verblaßten: ihr gegenüber war er nichts anderes als der junge Mann, der sich vor ein junges Mädchen stellte – eine klassische Rolle, wie er ironisch konstatierte. (SlG: 108)

Diese Gedanken von Anderschs Protagonisten Gregor bringen die antitotalitäre Ideologiekritik insbesondere, aber nicht nur von »Sansibar oder der letzte Grund« auf den Punkt. Politisch-soziale Positionierungen scheinen – wie auch in »Die Verschwörer« – als Konstituenten von Identitätsprozessen hinfällig zu werden. Das Zitat impliziert eine Unangemessenheit jeglicher Kollektivzuschreibungen und betont das Komplexe, Widersprüchliche menschlicher Identitäten. Insbesondere in der Konfrontation mit existenziellen Situationen erscheinen der Figur Gregor aber nicht nur politisch-soziale Kollektivzuschreibungen als unpassende Vereinnahmungen des Einzelnen. Auch die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft verliert – nicht nur für ihn – an Bedeutung. Seine Aussage, »Ich bin ein Niemand, der aus Russland ins Niemandsland geht.« (SlG: 127) induziert dabei nicht nur einen kritischen Blick auf das Konzept eines deutschen Nationalstaats, wenn sie die nationale Spezifizierung des Landes zum ›Niemand‹ macht, sondern erweist sich in dem Roman von Andersch zudem als symptomatisch erstens für die Desintegration der Widerständigen aus einer nationalen Gemeinschaft, wie sie auch bei Graetz thematisiert wird (Kap. 4.4.1), und zweitens für eine zumindest partielle Abwehr essentialistischer Vorstellungen von nationaler oder anderen Formen kollektiver Identität (Kap. 4.4.2).

4.4.1 Dekonstruktion von Narrativen nationaler Kontinuität im Widerstand Figurale Reflexionen von Kommunikationsstörungen: Ironische Destruktionen patriotischer Begründungen des Widerstands in »Die Verschwörer« In den in Kapitel 3 analysierten Texten erscheint Vaterlandsliebe als ein, wenn nicht das zentrale Motiv für das Handeln der widerständigen Figuren. Im Unterschied dazu spielt Patriotismus in »Sansibar oder der letzte Grund« keine Rolle. Als alle Figuren verbindender Grund für den Widerstand kann eher der

Entnationalisierungen des Widerstands

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Wille zur Rettung der »Klosterschüler«-Skulptur verstanden werden; eine Rettung des Vaterlands wird damit nicht intendiert. In dem Drama »Die Verschwörer« zeigt sich allerdings eine an die früheren Texte erinnernde Auseinandersetzung mit einer patriotischen Begründung des Widerstands. Im Unterschied zu den frühen Dramen von Weisenborn und Schäfer, die das Verhalten der Widerständigen als vorbildhaft patriotisch inszenieren, wird eine solche Argumentation im Graetz-Drama aber aufgebrochen. So sind es nur einige der kritisierten Repräsentanten des militärischen Widerstands im Bendlerblock, die sich selbst als Patrioten begreifen, in erster Linie Stauffenberg, der sowohl seine Beteiligung am Krieg als auch seine Bemühungen um Beteiligung sozialistischer Kreise am Widerstand mit Verweisen auf eine »vaterländische Pflicht« (Vsch: 16), das »nationale[ ] Geschehen« (Vsch: 17) oder das »nationale[ ] Anliegen« (Vsch: 17) rechtfertigt. Auch Aussagen von Schwerin – »Wer soll es sonst sühnen…?« (Vsch: 97) – und Beck – »Es geht schließlich darum, daß wir unsere Ehre wieder herstellen.« (Vsch: 97) – referieren auf die bereits in Kapitel 4 skizzierten Sühne- und Märtyrernarrative. Diese Bekenntnisse zur Nation werden nun durch Redebeiträge verschiedener Figuren als unangemessen zurückgewiesen, indem sie die Isolation der Widerständigen von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung problematisieren: »BECK Ich muß doch damit rechnen, daß die Bevölkerung gegen uns ist…« (Vsch: 87) Die Kommunikation zwischen Widerständigen und Bevölkerung erweist sich als gestört. Eine öffentlichkeitswirksame Legitimation des Widerstands, die die Rechtmäßigkeit eines gegen Hitler gerichteten Attentats proklamiert, ist hier nicht möglich. Es bleibt den Attentätern nur der ›Schwindel‹; die »Wahrheit« kann man aus der Perspektive der Widerständigen »doch der Bevölkerung gar nicht zumuten« (Vsch: 47): GISEVIUS ironisch interessiert Daß die SS gegen Adolf geputscht hat? Und wir sind nun die Retter? SCHULENBURG Die Version hätte am meisten Aussicht… GISEVIUS Ich weiß. Und das heißt ja wohl, man muß das Vaterland, das teure, erst beschwindeln, damit sich’s überhaupt retten läßt? YORCK deprimiert Das ist es ja! Wir stehen ganz einsam auf verlorenem Posten. (Vsch: 84)

Am deutlichsten kommt dies in der folgenden Einschätzung des am militärischen Widerstand beteiligten Peter Graf Yorck von Wartenburg zum Ausdruck: YORCK Offen gestanden: ich weiß nicht, was überhaupt vorgeht. Ich bin immer noch – oder schon wieder – der Auffassung, daß es sinnvoller gewesen wäre, die Katastrophe auslaufen zu lassen. GISEVIUS Zu der Meinung komme ich allmählich auch. SCHULENBURG Stauffenberg fühlt sich eben verpflichtet, das Vaterland noch zu retten. fragend Und wir doch auch?

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

YORCK Mir scheint, wir versuchen, aus einer verwesten Kuh noch ein gesundes Kalb herauszuschneiden. GISEVIUS Ihre Bilder sind prachtvoll! Tragen Sie das den andern mal vor! (Vsch: 59)

Deutet das Bild von der »verwesten Kuh« bereits an, dass in diesem Drama der Patriotismus der Widerständigen als Begründung des Widerstands nicht trägt, führt im Folgenden die abschätzige Äußerung Fromms gegenüber patriotischen Argumenten vor, dass auch die Gegner der Widerständigen nicht als Patrioten gelten können: OBRICHT Herr Generaloberst! Der Augenblick zum Handeln ist gekommen! Wenn wir jetzt nicht losschlagen, wird unser Vaterland zugrunde gehen! FROMM wegwerfend Ach was, Vaterland! Ich halte mich an meine Befehle und an meinen Eid! Alles andere interessiert mich nicht. (Vsch: 49)

Nicht Patriotismus, sondern Opportunismus wird im Drama zum entscheidenden Movens: Sowohl Widerständige als auch Anhänger des Nationalsozialismus werden in erster Linie als Opportunisten inszeniert, deren primärer Antrieb das selbstsüchtige Verfolgen der eigenen vor allem militärischen Karriere zu sein scheint. So ist es schließlich wieder Gisevius, der das Selbstverständnis der militärischen »Verschwörer« als Patrioten mit folgender Aussage am radikalsten ins Gegenteil verkehrt: HANSEN Daß Sie uns eine Räuberbande genannt haben, hat ihn natürlich ziemlich schockiert. BECK Und obendrein haben Sie noch das Offizierskorps angegriffen. GISEVIUS Ich habe nur den Vorwurf des Landesverrats an die richtige Stelle geleitet – nämlich an die Generäle, die diese Schafsherde von 80 Millionen in den größten Selbstmord aller Zeiten geführt haben! (Vsch: 20f.)

Symbolische Desintegration des Widerstands aus der Gemeinschaft der Deutschen in »Sansibar oder der letzte Grund« Den Eindruck, dass Widerständige und Bevölkerung zwei voneinander getrennt agierende Kollektive sind, vermittelt auch der Roman »Sansibar oder der letzte Grund«. Eine konstruktive kommunikative Interaktion findet auch hier nicht statt, wenn beispielsweise das Geschwätz der Bevölkerung zur Gefahr für die Sicherheit der Widerständigen wird (vgl. SlG: 47). Während bei Graetz allerdings der Bruch zwischen Widerständigen und Bevölkerung explizit reflektiert wird, wird in dem Roman »Sansibar oder der letzte Grund« ein Ausschluss der Widerständigen aus einer nationalen Gemeinschaft stärker implizit auf symbolischer Ebene verhandelt. So werden einzelne Figuren aus dem Kreis respektive Umfeld der Widerständigen mit solchen Attributen in Verbindung gebracht, die als deutsche Erinnerungsorte sensu Pierre Nora gelten können: Der Pfarrer hat

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ein »Verdun-Bein« (SlG: 27, 32), ist »der angesehenste Geistliche der Stadt, ein Mann, der für sein Vaterland gekämpft hat« (SlG: 96), und Judiths Vater hat seinen »geliebten Goethe« (SlG: 122). Diese Attribute ermöglichen eine Verortung der antinationalsozialistischen Gestalten in einer nationalen Erzählung, die der gewaltsamen Exklusionspolitik der Nationalsozialisten entgegen gestellt wird. Allerdings zeigt der Roman gleichzeitig, dass diese nationalen Attribute, die in der Vergangenheit den Einschluss der Figuren in ein deutsches Kollektiv narrativ fundierten, in der Gegenwart des ›Dritten Reichs‹ und angesichts der Präsenz der »Anderen« ihre gemeinschaftsstiftende Bedeutung verlieren: »[…] Goethe und Papa befanden sich irgendwo, hier waren sie undenkbar« (SlG: 122). Und auch das »Verdun-Bein« des Pfarrers, das metonymisch für die gemeinschaftsstiftende Erfahrung des Ersten Weltkriegs steht, verliert seinen Status: Aha, dachte Knudsen, offenbar war die Stunde gekommen, in der dem stolzen Pfarrer Helander sein Verdun-Bein nichts mehr nützte. Das Bein, das man ihm bei Verdun abgeschossen hatte. (SlG: 27)

Letztendlich stellt das »Verdun-Bein« nicht nur keinen Schutz vor Verfolgung mehr dar, sondern es begünstigt in banaler Weise den Tod Helanders: Das erneute Aufbrechen seiner Beinwunde und die pessimistische Diagnose seines Arztes führen zum Entschluss zum Suizid.

4.4.2 Zwischen Auflösung, Konstrukt und Essenz: Widersprüchliche Konzepte nationaler Identität in »Sansibar oder der letzte Grund« HELLDORFF platzt herein, setzt Stahlhelm auf So, mein lieber Herr! Jetzt darf ich Ihnen mal unsere Schizophrenie vorführen! stellt Lautsprecher an Die lieben Engländer werden uns gleich mit einem Luftangriff beehren! (Vsch: 13)

Wolf Heinrich Graf von Helldorff, einer der Widerständigen des Graetz-Dramas, verwendet im ersten Bild den Begriff »Schizophrenie«, um die Position der Widerständigen während des Krieges zu charakterisieren: Einerseits kämpfen sie, wie auch die Alliierten, mit ihrem geplanten Attentat gegen die nationalsozialistische Herrschaft, andererseits werden sie gemeinsam mit allen Deutschen respektive Trägern des Nationalsozialismus von den Alliierten durch Bombardierungen bedroht. Solchen schwankenden nationalen Allianzen oder Zugehörigkeiten der Widerständigen, die durchaus als ›schizophren‹ im Sinne von multipel gelten können, widmeten sich die bisherigen Unterkapitel. Nun geht es weniger um die Frage nach konkreten Ausgestaltungen des Verhältnisses zwischen Widerstand und Deutschem/Deutschen/Deutschsein. Stattdessen rücken Vorstellungen vom ontologischen Status kollektiver, vor allem nationaler Identitäten in den Blick. So verweist bereits die zitierte Aussage Helldorffs um

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

den Begriff »Schizophrenie« darauf, dass die Identifikation mit einem Kollektiv auch in dem Drama nicht letztgültig und eindeutig ist, sondern sich als komplexer Prozess darstellt. Damit stellt sie einen ersten – in dem Drama »Die Verschwörer« allerdings singulär bleibenden – Hinweis darauf dar, dass nationale Identität in den Texten, die auf die Destabilisierung kollektiver Bindungen zielen, im Unterschied zu den ›widerstandsliterarischen‹ Integrationsangeboten zumindest nicht ausschließlich als essentielle Eigenschaft von Menschen verstanden wird.586 Es ist vor allem der Roman »Sansibar oder der letzte Grund«, der einen entsprechenden nationalen Essentialismus problematisiert und kritisiert. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Selbstreflexionen der Figur Judith, die als einzige ihren Ausschluss aus einer nationalen deutschen Gemeinschaft explizit reflektiert und damit den Konstruktcharakters kollektiver, hier nationaler Identität offenlegt: Judiths Jüdisch-Sein erscheint nicht als etwas Wesenhaftes, Essentielles, sondern als Resultat eines Zuschreibungsprozesses (vgl. SlG: 107; und Kap. 4.3.3). Auf eine ähnliche Problematisierung von nationalen Kollektivzuschreibungen verweist auch die folgende Selbstbeschreibung Gregors im Gespräch mit Judith:

586 Einzig in Hans Hellmut Kirsts Roman »Die Nacht der Generale«, der in dieser Arbeit dem Typus Integrationsangebote zugeordnet wird, finden sich Passagen, in denen zwar nicht der Status kollektiver Identitäten verhandelt wird, wo sich aber zumindest Reflexionen der Tragweite von Kollektivzuschreibungen beobachten lassen. So charakterisiert Major Grau, der in Warschau und Paris an der Aufklärung der Prostituiertenmorde beteiligt ist, zunächst in einem Gespräch die deutsche Generalität per se wie folgt: »›Wir könnten ihnen ihre Vergangenheit um die Ohren hauen wie nasse Lappen. Wir könnten annehmen, daß diese Burschen, die immer gerne tönend von Ehre und Tradition reden, wenn es irgendwie in ihren Kram paßt, in Wirklichkeit arme geprügelte Hunde sind. Nehmen wir weiter an, daß diese pompösen Schattenexistenzen immer wieder den Schwanz einkneifen, wenn man sie nur entsprechend behandelt. So könnte man also sagen: Schon beim Großen Kurfürsten waren sie bessere Handwerker. Der alte Fritz hat aus ihnen Marionetten gemacht. Achtzehnhundertachtundvierzig ließen sie sich in Berlin von einer Handvoll ziemlich harmloser Revoluzzer in die Pfanne hauen. Unter Wilhelm dem Zweiten waren sie Anziehpuppen. In der Weimarer Republik beherrschte sie nur noch der Wunsch zu überleben. Und als dann der Führer kam, krochen sie willig zu Kreuz – zum Hakenkreuz‹« (NdG: 73). Anschließend relativiert er diese Pauschalisierung allerdings selbstkritisch: »›Natürlich sind Verallgemeinerungen immer Unsinn. So sind auch Generale weder Sagengestalten noch Gesinnungsgesindel. Es gibt zweifellos ungemein ehrenwerte Männer unter ihnen‹« (NdG: 74). Der Roman insgesamt erscheint beinahe als Versuch, diese Aussage Graus zu untermauern, stellt er doch drei deutsche Generale ins Zentrum, die drei jeweils unterschiedliche Handlungsmodelle in der antagonistischen Gegenüberstellung Widerstand versus Nationalsozialismus verkörpern. Darüber hinaus dient auch »EINE REDE, DIE NIE GEHALTEN, DIE ABER IMMER WIEDER GEDACHT WORDEN IST / Ein Soldat an seinen General«, die als Positionierung des Autors Kirst im letzten Teil des Romans gelesen werden kann, der Ausdifferenzierung von Generalstypen (vgl. NdG: 415–422).

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Wie heißen Sie eigentlich? Levin, sagte Judith, Judith Levin. Und Sie? Grigorij, sagte er lachend. Grigorij? fragte sie. Das ist ein russischer Name. Ich komme aus Rußland, sagte Gregor. Sind Sie Russe? Nein. Ich bin ein Niemand, der aus Rußland ins Niemandsland geht. Ich verstehe Sie nicht, sagte Judith. Ich verstehe mich selber nicht, sagte Gregor. Ich habe einen falschen Paß und keinen Paß und keinen Namen, ich bin ein Revolutionär, aber ich glaube an nichts, ich habe Sie beschimpft, aber ich bedaure, Sie nicht geküßt zu haben. (AlG: 127)

Eine Selbstdefinition über die Zugehörigkeit zu einer Nation lehnt Gregor strikt ab; die von Irene Heidelberger-Leonard formulierte Kritik an einer vermeintlich nationalistischen Konzeption des »wahren (deutschen) Helden Gregor«587 erweist sich entsprechend als wenig stichhaltig. Heidelberger-Leonards Kritik an Andersch und seinem Roman, wonach die »agierenden Personen Deutsche, wieder einmal vorbildliche Deutsche [seien], die alle bereit sind, ihre eigenes Leben zu riskieren, um die Jüdin in Sicherheit zu bringen«588, vernachlässigt zudem die oben beschriebene im Roman betriebene symbolische Desintegration der Widerständigen aus dem Kollektiv der Deutschen. Zwar besitzen die Figuren abgesehen von Judith Levin – handlungslogisch impliziert – die deutsche Staatsangehörigkeit, aber eine positive Bewertung dieser Tatsache findet sich nirgends. Im Gegenteil: Die Flucht aus Deutschland, also die auch räumliche Distanzierung von der sich im Nationalstaat manifestierenden Nation, bestimmt das Handeln der meisten Figuren. Michael Hesse bringt diesen Unterschied in seiner 2004 publizierten Dissertationsschrift mit Blick auf Anderschs Gesamtwerk wie folgt auf den Punkt: Der tendenziell überhöhte Geltungsanspruch der Bezugsgruppe ›Nation‹ wird in Anderschs Romanen vorwiegend kritisch dargestellt. […] Die Ablehnung gilt jedoch nur dem verabsolutierenden Geltungsanspruch, nicht der realen Existenz und Relevanz der nationalen Bezugsgruppe innerhalb der gesamten sozialen Wirklichkeit.589

Allerdings stellen die bisher zitierten Passagen, die Gregor und Judith in ihrem nationalen Selbstverständnis vorführen, eine Konstrukthaftigkeit von Kollektiv587 Heidelberger-Leonard 1995: 44. 588 Heidelberger-Leonard 1995: 43. Vgl. ähnlich polemisch auch Heidelberger-Leonard 1995: 44: »Des edlen Deutschen bedarf es, nur er hat ein Auge für ihre Not, nur er vermag es, sie den (allzu unsichtbaren) Nazischergen zu entreißen.« 589 Hesse 2004: 51. Dass der nationale Bezugsrahmen auch in »Sansibar oder der letzte Grund« von Bedeutung ist, wird besonders an der zentralen Flucht-Thematik deutlich, die wiederholt die Relevanz nationaler Grenzziehungen, vor allem in Form von Staatsgrenzen, betont. Vgl. dazu Kap. 4.3.3.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

Identitäten aus, die in merkwürdigem Kontrast zu solchen Passagen des Romans steht, die die Figur Judith aus Gregors Perspektive beschreiben. Eine Jüdin, dachte Gregor, das ist ja eine Jüdin. Was will die hier in Rerik? […] Niemand blickte auf Judith, das war nicht üblich in den kleinen Häfen des Nordens, aber Gregor konnte sehen, daß sie nicht zu den Leuten gehörte; niemand sprach mit ihr, sie war eine Fremde, eine junge Fremde mit einem in Rerik ungewohnten Gesicht. Gregor erkannte das Gesicht sofort; es war eines der jungen jüdischen Gesichter, wie er sie im Jugendverband in Berlin, in Moskau oft gesehen hatte. (SlG: 59)

Kennzeichnen die obigen Selbstäußerungen Judiths ihr Jüdischsein als etwas von außen Erzwungenes, Konstruiertes, so verankern die Beschreibungen Gregors das Jüdische im Körperlichen der Figur und ontologisieren es somit: Woher wußten Sie es? fragte Judith. Was habe ich gewußt, sagte Gregor erstaunt. Was meinen Sie? Daß ich Jüdin bin, sagte Judith. Das sieht man, erwiderte Gregor. (SlG: 108)

Die Tatsache, dass es ausgerechnet die im Roman mit intellektueller Autorität ausgestattete Figur Gregor ist, die hier das Jüdische als Essens der Figur Judith beschreibt und sie als »Fremde mit einem schönen, zarten, fremdartigen Rassegesicht« (SlG: 63) imaginiert, führt zu einer Widersprüchlichkeit der Konzeption kollektiver Identitäten in »Sansibar oder der letzte Grund«, die sich nicht durch die Multiperspektivität der Figuren erklären lässt. Entsprechend ist der Entwurf der Judith-Figur in Publizistik und Forschung wiederholt und zu Recht kritisiert worden; so spricht als erstes Marcel Reich-Ranicki von »Formulierungen, die Unbehagen zurücklassen«590. Bezieht sich dieses »Unbehagen« Reich-Ranickis primär auf die geschlechterstereotype Konzeption der JudithFigur,591 so resultiert es aus meiner Perspektive aus der hier beschriebenen Ontologisierung des Jüdischen, die ähnlich bereits Walter Hinderer kritisiert hat: Problematisch wird diese Technik des Beschreibungsstenogramms allerdings, wenn angebliche Kennzeichnen der von den »Anderen« verfolgten ethnischen Gruppe 590 Reich-Ranicki 1963: 113. 591 Ähnlich wie Reich-Ranicki betont auch Heidy M. Müller in ihrer Dissertationsschrift zur »Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa« vor allem die geschlechterstereotype Konzeption der Judith-Figur : »Er [Alfred Andersch; Anm. M. S.] reproduziert die Klischeevorstellung von der attraktiven jungen Exotin jüdischer Abkunft sowie Denk- und Handlungsschemata, die in Liebesromanen der Trivialliteratur normalerweise mit positiven Heldinnen verbunden werden. Da der ›Autor‹ die vereinzelt geäußerten negativen oder ambivalenten Urteile über Judith stets zurücknimmt oder zumindest relativiert, erscheint die Jüdin ohne Einschränkung als gutes Menschenwesen. Ihr Eigenschaftskatalog ist, wie bei den Freundinnen der Helden von Trivialromanen üblich, komplementär zu demjenigen des zugehörigen männlichen Beschützers« (Müller 1984: 102).

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markiert werden. […] Zwar erhält man keine genauen Angaben über dieses charakteristische Gesicht, aber schon die Behauptung Gregors, daß er die Merkmale eines jüdischen Gesichts sofort erkennen kann, rückt ihn paradoxerweise in die Nähe jener Ideologie, die er bekämpft.592

4.5

Das Widerstehen des Einzelnen: Literarische Varianten

Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist in den beiden Texten von Andersch und Graetz nicht – oder nicht mehr – Anliegen einer Gemeinschaft, sei sie national oder politisch-sozial begründet. Getragen wird er vielmehr von Figuren, die sich gerade durch ihre Nicht-Zugehörigkeit zu einer Großgruppe auszeichnen. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Narrativ vom Widerstand als ›anderem Deutschland‹ führen die beiden Werke dabei erstens widerständige Figuren in ihrer Isolierung von der nationalen Gemeinschaft vor : Nicht zwischen Widerstand und Deutschem einerseits und Nationalsozialismus andererseits, sondern zwischen Widerstand und Deutschen/m verläuft eine Grenze, deren Überwindung durch Verständigung nicht möglich erscheint. Zweitens richtet sich das Widerstehen nicht nur gegen die nationalsozialistische Herrschaft, sondern gegen ideologisch-totalitäre Vereinnahmungen des Einzelnen generell. In ihrer Gleichsetzung von nationalsozialistischer Bedrohung und jedweder ideologisch begründeter Unterordnung des Einzelnen zugunsten einer Gemeinschaft lassen sich »Sansibar oder der letzte Grund« ebenso wie »Die Verschwörer« als Beiträge zum Totalitarismus-Diskurs deuten, der – so Gerd R. Überschär – westdeutsche Widerstandsdeutungen sogar bereits seit 1947 bis Mitte der 1960er Jahre dominierte und dazu tendierte, »die Widerstandshandlungen generalisierend als antitotalitäres Verhalten zu charakterisieren und undifferenziert mit der Vorstellung von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verknüpfen.«593 Drittens schließlich kommt die entsprechende Auflösung eines gemeinschaftlichen Zusammenhalts im Widerstehen in den beiden Werken zentral auch in ihren Perspektivwechseln bei der Darstellung des Geschehens zum Ausdruck: Weder durch die Figurenkonstellation oder -interaktion entsteht der Eindruck einer monolithischen widerständigen Gemeinschaft, noch kann man jeweils von einer gemeinsamen Sicht der widerständigen Akteure auf ihr Handeln sowie die NS-Herrschaft und -Gesellschaft sprechen. Statt eines Anliegens, in dem sich Gemeinschaft, insbesondere na592 Hinderer 1994: 153f. Auch Heidelberger-Leonard kritisiert die Konzeption der JudithFigur. Sie fokussiert aber in Anlehnung an Kritik von Ruth Klüger-Angress (1985) vor allem die Passivität der Figur, die als »Stereotyp der Ausgestoßenen, als Nur-Opfer« (Heidelberger-Leonard 1986: 102) präsentiert werde. Vgl. dazu auch Drewitz 1966: 671. 593 Ueberschär 1998: 126.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

tionale Gemeinschaft, konstituiert, wird Widerstand zur Sache des selbstbestimmten Individuums, das sich von kollektiven Bindungen emanzipiert. Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Widerstehen eines Einzelnen – davon erzählen nicht nur die beiden Werke von Andersch und Graetz, sondern eine ganze Reihe weiterer Texte, die vor allem zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er erschienen sind. Dazu zählen Günther Weisenborns Roman »Der Verfolger« (1961), Arno Schmidts Erzählung »Kühe in Halbtrauer« (1964) und – deutlich später – Peter-Paul Zahls Drama »Johann Georg Elser« (1982). In »Der Verfolger« begegnet dem Lesenden mit dem Erzähler und Protagonisten Daniel Brendel ein ehemaliger Widerstandskämpfer der Gruppe »Silberne Sechs«, der sich an seine Erfahrungen im ›Dritten Reich‹ erinnert. Als einer von wenigen Überlebenden will er in der Nachkriegsrepublik die Bestrafung des Gestapospitzels Paul Riedel erreichen und sieht sich damit in einer Gesellschaft, die durch Verdrängung und personelle Kontinuitäten geprägt ist, isoliert. In »Kühe in Halbtrauer« unterhalten sich der extradiegetisch-homodiegetische Erzähler Carlos und sein Freund Otje Anfang der 1960er Jahre anlässlich von Gedenkfeiern am 20. Juli unter anderem über die Möglichkeit, sich während des Krieges als Soldat Befehlen zu widersetzen, und Otje erzählt die Geschichte eines Rechentruppführers, der im Krieg einen Schießbefehl gegen die Lazarettstadt Vechta absichtlich falsch ausgeführt und so Menschenleben gerettet habe. PeterPaul Zahls »Johann Georg Elser. Ein deutsches Drama« schließlich handelt, wie der Titel bereits vermuten lässt, von Johann Georg Elser und dessen gescheitertem Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler vom 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller. Ergänzt werden diese Werke seit Mitte der 1950er Jahre durch solche Texte, die Widerstand weniger als ein zielgerichtetes Handeln wider NS-Herrschaft und -ideologie in Szene setzen, wie es ansonsten in den in dieser Arbeit fokussierten Texten im Zentrum steht, sondern individuelle Verweigerungshaltungen bis hin zum Selbstopfer als Form des Protestes in den Mittelpunkt stellen: In Albrecht Goes’ Roman »Das Brandopfer« (1954) will die Metzgerfrau Margarete Walker ein Zeichen gegen die Judenverfolgung setzen, indem sie sich selbst mit aufgenähtem Judenstern einem Bombenangriff aussetzt. Ähnlich zeigt auch Pater Riccardo Fontana, der Protagonist in Rolf Hochhuths Drama »Der Stellvertreter« (1963), das sonst gerade den ausbleibenden aktiven Widerstand der katholischen Kirche zu seinem Thema macht, Solidarität mit seinen als Juden verfolgten Mitmenschen, indem er sich freiwillig in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportieren lässt: »Ich – sühne, ich muß es tun« (DS 216). Beide Texte knüpfen damit erkennbar an die Narrative vom Widerstand als Martyrium und Sühneopfer an, die in dieser Arbeit als zentral für das Erzählen vom Widerstand als Rehabilitierung von nationaler Gemeinschaft herausgestellt werden (vgl. Kap. 3.3). Paul Schallücks Roman »Engelbert Reineke« (1959) und

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Hochhuths Erzählung »Die Berliner Antigone« (1965) inszenieren dagegen Widerstand nicht als Sühneopfer, sondern eher als Selbstbehauptung des Einzelnen: Schallücks titelgebender Protagonist, der Lehrer Engelbert Reineke, sieht sich in den 1950er Jahren mit der NS-Vergangenheit konfrontiert: Sein Vater Leopold »Beileibenicht« Reineke, während des ›Dritten Reichs‹ Lehrer an der Schule, an der jetzt sein Sohn unterrichtet, wurde auf Grund seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus in ein KZ eingeliefert, in dem er ums Leben kam. Sein Sohn erkundet nicht nur die Geschichte seines unangepassten Vaters, sondern sieht sich in der Nachkriegsgesellschaft selbst vor die Entscheidung gestellt, für seine familiären Erinnerungen einzustehen oder der Konfrontation mit den früheren Gegnern seines Vaters, die sich nach wie vor im Lehrerkollegium befinden, durch Berufswechsel zu entfliehen. Hochhuths angeklagte Protagonistin Anne, die »Berliner Antigone«, weigert sich trotz Todesdrohung, die Grabstelle ihres als Hochverräter verurteilten Bruders preiszugeben, und widersetzt sich so den Vereinnahmungen des NSStaates.594 Gemeinsam ist all diesen Texten, dass sie Widerstehen primär als Akt eines Einzelnen inszenieren, der ohne kollektive Unterstützung agiert. Die auffällig häufige Verwendung eines homodiegetischen Erzählers, der in allen genannten epischen Texten außer dem Andersch-Roman als Sprechinstanz fungiert, erscheint so als fast zwangsläufig. Im Vergleich zu den Texten meiner ersten Kategorie (Kap. 3) erweisen sich diese Texte, die ich als Destabilisierungen etablierter Gemeinschaften zusammenfasse, allerdings als variantenreicher. Dies gilt insbesondere für ihre jeweils entworfenen spezifischen Konturen des Einzelnen, wie im Folgenden am »Elser«-Drama Zahls und dem »Verfolger«-Roman Weisenborns exemplarisch gezeigt wird: Der totalen Vereinnahmung des Individuums wird in »Sansibar oder der letzte Grund« – symbolisiert durch die »Klosterschüler«-Skulptur – die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens »ohne Auftrag« entgegengestellt. Auch Zahls erst 1982 uraufgeführtes Drama über Johann Georg Elsers stellt das widerständige Handeln des gescheiterten Hitler-Attentäters als Konstitution eines unabhängigen Subjekts dar, wobei es sich, wie das Graetz-Drama, einer kontrastiven Szenenstruktur bedient. Gerade 594 Rolf Hochhuths Interesse an verschiedenen Formen von Widerstehen und Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigt sich auch in seinen Arbeiten zu Johann Georg Elser : 1987 publizierte er in seiner Sammlung »War hier Europa« ein Gedicht, das den Namen des gescheiterten Attentäters als Titel trägt (Neufassung 2001; vgl. dazu die Gegenüberstellung des Georg-Elser-Arbeitskreises: http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/texts/hochhuth. htm [Zugriff 17. 11. 2014]); 1991 wurde in der Sammlung »Panik im Mai« der Text »Erst mußte er die Baßgeige verkaufen: Johann Georg Elser« veröffentlicht, in dem Hochhuth sich essayistisch mit Elsers Biographie und dessen Marginalisierung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur auseinandersetzt.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

dieser Text lässt sich somit ebenfalls als ›widerstandsliterarische‹ Totalitarismus- und Militarismuskritik deuten. Während Anderschs Subjektentwurf nicht zuletzt durch seine Rezeption insbesondere des französischen Existenzialismus erklärt werden kann und damit ein in der frühen Nachkriegsliteratur dominierendes Deutungsmodell tradiert, schreibt Zahl allerdings weniger ein solches Programm fort; vielmehr zielt sein Drama in dokumentarischer Tradition, mit aufklärerischem Duktus auf eine öffentliche Rehabilitierung des bis dato oft geschmähten Elsers. Auch das »Verschwörer«-Drama von Graetz lässt sich der Dokumentarliteratur, konkreter der Dokumentardramatik der 1960er Jahre, zuordnen. Anders als bei Zahl wird bei Graetz aber primär ein am Eigennutz orientierter Pragmatismus des Individuums als unideologisches Vorbild propagiert. Weisenborns »Verfolger« aus dem gleichnamigen Roman wiederum erscheint dagegen als ungewollter Einzelkämpfer : Hier wird kein sich im Widerstand von jeglichen ideologischen Vereinnahmungen emanzipierendes Subjekt vorgeführt, das sich von kollektiven Bindungen freiwillig befreit; statt dessen dominiert die auch aus den Texten von Andersch und Graetz bekannte Desintegration des Widerständigen aus einem nationalen Kollektiv, die diesen in die resignierende Isolation zwingt. Ähnlich wie zum Beispiel Paul Schallücks »Engelbert Reineke« ist der Roman somit ein Beispiel für sehr explizite literarische Kritik an erinnerungskulturellen Prozessen, die etwas später – in strukturell sehr ähnlicher Form – in der sogenannten ›Väterliteratur‹ intensiviert wird.

4.5.1 Der emanzipierte Einzelkämpfer: Zur Funktion der kontrastparallelen Szenenstruktur in Peter-Paul Zahls Drama »Johann Georg Elser« (1982) Das im Untertitel als »deutsches Drama« bezeichnete Werk von Peter-Paul Zahl besteht aus vier Akten, die in weitere nummerierte Szenen unterteilt sind, welche abwechselnd drei relativ autonome Handlungsstränge vorführen: Ein Teil der Szenen zeigt Georg Elser in der Auseinandersetzung mit seinem persönlichen Umfeld, bei politischen Gesprächen oder der Vorbereitung seines Attentates. In anderen Szenen tritt wiederholt der ›Führer‹ selbst auf die Bühne: Das Drama zeigt Adolf Hitler mehrfach beim gemeinsamen Essen mit Militärs, aber auch bei der Arbeit in der Reichskanzlei und bei der Vorbereitung von Reden.595 Diese beiden Handlungsstränge werden ergänzt um insgesamt jeweils drei Szenen im ersten und dritten Akt, in denen eine sogenannte »Verschwörergruppe« (JGE: 595 Diese ›Führer‹-Szenen sind in der Regel von langen, auffällig in Strophen gegliederten Monologen Adolf Hitlers geprägt, in denen er politische Ansichten, Programme oder militärische Pläne kundtut.

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99) agiert. Diese Gruppe, in deren Zentrum ein »Generaloberst«, ein »Generalstabschef«, ein »Geheimdienstmann 1« sowie ein »Oberbürgermeister« stehen und die erkennbar auf den bürgerlich-militärischen Widerstand um Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler referiert,596 entwickelt immer wieder Pläne für einen Staatsstreich gegen Adolf Hitler, die sie aber auf Grund verschiedener, vor allem außenpolitischer äußerer Umstände wiederholt verwirft oder verschiebt.597 Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Szenen und Handlungssträngen stellt das Drama zum einen über die zeitliche Situierung des jeweiligen Geschehens her. So sind den einzelnen Szenen fast immer mindestens eine Jahreszahl, oftmals auch eine Jahreszeit- oder Monatsangabe (vgl. exemplarisch die Szenen I.5 bis I.9), manchmal auch konkrete Daten (vgl. exemplarisch die Szenen I.10 bis I.12) vorangestellt, wobei mehrere aufeinander folgende Szenen dann zeitlich annähernd paralleles Geschehen präsentieren. Zum anderen weisen die verschiedenen Handlungsstränge thematische Bezüge auf: Neben der Darstellung und Reflexion von möglichem Widerstand gegen Adolf Hitler und die von ihm initiierte Politik ist es vor allem die Diskussion der außenpolitischen Situation in den Jahren 1938 und 1939, und hier Hitlers aggressive Kriegsvorbereitungen, die als ein bestimmendes Thema der Figurenmonologe und -dialoge gelten können. Insbesondere diese auf Kontrastparallelität angelegte Szenenstruktur des Dramas trägt zur Inszenierung Elsers als widerständigem Einzelkämpfer bei. Im ersten Akt konfrontiert sie nicht nur Hitlers Kriegstreiberei (vgl. JGE: 40), sondern auch die entsprechende Argumentation der militärisch-konservativen Widerständigen mit dem Bestreben Elsers, aber auch seiner kommunistischen Freunde, einen Krieg zu verhindern: »Wer Hitler wählt, wählt Krieg, das haben wir immer gesagt.« (JGE: 24) Dieser hier vom Kommunisten Josef artikulierten Haltung Elsers stehen die widerständigen Militärs gegenüber, die »notfalls« die Ausschaltung der »Tschechei in ihrer Versailler Gestalt […] auch durch eine kriegerische Lösung« (JGE: 17) befürworten, »[i]m Interesse der Tiefenrüstung / Und des Totalen Kriegs« »sozialstaatlichen Wildwuchs […] zurückstutzen« (JGE: 18) wollen und sich weniger gegen einen Krieg generell, sondern gegen 596 Verweisen bereits die Staatsstreichplanungen im Vorfeld der in Figurendialogen erwähnten Münchener Konferenz (vgl. JGE: 31–34), Hinweise auf Denkschriften (vgl. JGE: 16f.) sowie auf Kooperationen mit den namentlich genannten »Dr. Leber, Ja Leuschner auch und Maaß« (JGE: 32) darauf, dass sich das Drama mit dieser »Verschwörergruppe« auf den bürgerlichmilitärischen Widerstand um Beck und Goerdeler bezieht, so wird dies im dritten Akt explizit, als diese beiden Figuren erstmals mit ihren konkreten Namen belegt werden (vgl. JGE: 102 und 105). 597 Neben diesen drei zentralen Handlungssträngen finden sich viertens vor allem im letzten Akt solche Szenen (IV. 2, IV.6-IV.8, IV.12), die das persönliche Umfeld Elsers oder dessen Reaktionen auf das gescheiterte Sprengstoffattentat darstellen.

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dessen vermeintlich »amateurhafte[ ] Planung« (JGE: 19) aussprechen. Auch Zahls »Elser«-Drama trägt also die bereits beim »Verschwörer«-Drama von Graetz beschriebene Entmythologisierung des Widerstands vom 20. Juli 1944 mit, die unter anderem durch die historiographischen Arbeiten von Hermann Graml, Hans Mommsen und Ger van Roon seit Mitte der 1960er Jahre initiiert wurde (vgl. Kap. 4.3). Die Szenenfolge des zweiten Akts stellt alternierend Hitlers Aufrüstungsbestrebungen (Szenen II.1, 3, 5, 7, 9) und Elsers Attentatsvorbereitungen (Szenen II.2, 4, 6, 8, 10, 12) nebeneinander. Widerständige Aktivitäten anderer Gruppen werden nicht geschildert; militärisch-konservative ›Verschwörer‹ (vgl. I.8), aber auch die politisch links orientierten Gegner der Nationalsozialisten (vgl. I.14) werden bereits bei ihren jeweils letzten Auftritten des ersten Aktes in ihrer Resignation vorgeführt. ELSER Man muß was tun. Pause. Es gibt Krieg, Josef. Guck dir an, wie sie schaffen. Hör dich um. In der Sonderabteilung schaffen sie die Arbeit schon gar nicht mehr. JOSEF Wir haben schon damals gesagt und geschrieben, auf Plakate gedruckt: Wer Hitler wählt, wählt Krieg. Vor ’33! ELSER Recht haben ist nicht wichtig. Was tun ist wichtig. Nachher sind alle schlauer. (JGE: 49)

So ist ihre Abwesenheit während des zweiten Aktes nicht zuletzt Ausdruck ihres zentralen Unterschieds zu Elser : Er allein handelt und wird damit zum einzig ernstzunehmenden Gegenspieler des ›Führers‹. Der dritte Akt spitzt diese Gegenüberstellung des aktiven Elser mit den zögerlichen militärisch-konservativen Widerständigen zu: Während Elser weiter so konsequent sein Attentat vorbereitet (Szenen III.1, 4c, 6, 8) wie Hitler den Krieg (Szenen III.2, 4a, 5), wird die ›Verschwörer‹-Gruppe als ausschließlich in ihren Diskussionen und Plänen verstrickt vorgeführt (Szenen III.3, 7, 9): »Denkschriften die Menge, hier und da« (JGE: 90), so sieht es selbstkritisch sogar der Generalstabschef. Nichtsdestotrotz beschließen sie angesichts des Kriegsausbruchs nur den »Staatsstreich / Generalstabsmäßig zu planen« (JGE: 104), den sie dann noch wenig später absagen (vgl. JGE: 108).

4.5.2 Der vereinzelte Widerständige: Die nationale Desintegration des Widerständigen in »Der Verfolger« von Günther Weisenborn (1961) Im Unterschied zu Zahls Elser, dessen eigenständiges Handeln als Akt eines emanzipierten Individuums inszeniert wird, wird der »Verfolger« Weisenborns zum unfreiwillig Isolierten stilisiert, der mehr oder weniger verzweifelt nach

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Unterstützung durch eine (hier : nationale) Gemeinschaft sucht. Weisenborns Roman, der sich im Untertitel als »[d]ie Niederschrift des Daniel Brendel« ausgibt, inszeniert – ähnlich wie die Werke von Andersch und Graetz – besonders deutlich einen erkennbaren Bruch zwischen Widerständigen und deutscher Bevölkerung. So dominiert die explizite Charakterisierung der Widerständigen als isolierte Einzelkämpfer, als »Häuflein schlecht gekleideter junger Menschen in einem Keller, mitten in der großen Stadt« (Vf: 131).598 Daniel Brendel bezeichnet sich selbst als »Einzelgänger« (Vf: 90), der gezwungen ist, »in den Gedanken und Ansichten niemals im Leben mit denen der Mehrheit übereinzustimmen, sondern immer allein zu stehen, stets gegen den Strom zu schwimmen« (Vf: 218). Die Widerständigen stehen in seiner Schilderung allein einer Übermacht an Gegnern gegenüber ; auf Unterstützung breiter Bevölkerungskreise können sie nicht hoffen: »Es lag nicht an den Waffen, es lag an den Menschen. Es gab einfach zu wenige, die dazu bereit waren« (Vf: 18). Im Gegenteil: Von der Mehrheitsgesellschaft droht den Widerständigen und Verfolgten des ›Dritten Reichs‹ Gefahr durch »absurde Demütigungen, die im Hirn von Mitbürgern entstanden waren« (Vf: 77), denn »überall lauerte der Haß« (Vf: 78). Lässt sich in Weisenborns erstem ›Widerstandsdrama‹ »Die Illegalen« die Tendenz beobachten, die Nationalsozialisten als besetzende Macht zu inszenieren, derer sich die Deutschen angeführt von den Widerständigen zu erwehren haben, 598 Dieser explizit artikulierten Differenz zwischen Widerständigen und Bevölkerung stehen im Roman allerdings vereinzelt Passagen gegenüber, in denen Brendel implizit eine Gemeinschaft von Widerständigen und Bevölkerung entwirft. So beschreibt er beispielsweise seine Erfahrung des Kriegsendes wie folgt: »Die Mörder flüchteten in alle Welt. […] In der allgemeinen Wirrnis und Verwilderung verschwanden wie mit einem Zauberschlag die Uniformen, die Naziorden, der deutsche Gruß, die Folterer, der SD, die Todesschützen und die Spitzel. / Dagegen öffneten sich die Tore der Lager, Zuchthäuser und Gefängnisse, eine Armee des Elends bevölkerte die Landstraßen Europas. Einer darin war ich. / Meine Suche dauerte jahrelang. […] Die große Suche in Europa hatte begonnen, die große Suche, die mit Kreide-Inschriften an den Mauern der Ruinen angefangen hatte. ›Werner, Elli, wir sind bei Großvater‹ – ›Meldet euch doch endlich, wir wohnen bei Dreyers.‹ Ich suchte mit. Die Zeitungen veröffentlichten die ersten Suchlisten. Ich studierte sie. Die Radiosender nahmen ihre Suchdienste auf. Alle Verbindungen waren zerschlagen, das Netz der Verwandtschaften war gerissen, die Familien waren vernichtet oder zerstreut. Es wurden Väter, Brüder, Mütter, Kinder, Soldaten und Vermißte, Verwundete und Gefangene von uns allen gesucht. / Und es wurden die Schuldigen gesucht. Ich suchte Paul Riedel« (Vf: 163f.). Neben den »Mörder[n]« als den Trägern des Nationalsozialistischen und der »Armee des Elends«, die deutlich als Kollektiv der Verfolgten des NS-Regimes verstanden wird und zu der sich der Ich-Erzähler zählt, steht in diesem Zitat als dritte Gemeinschaft die der Suchenden im Zentrum. Hierbei handelt sich nicht mehr nur um die ehemaligen Insassen der »Lager, Zuchthäuser und Gefängnisse«, sondern um einen Großteil der Bevölkerung, wird doch die Suche zum allgegenwärtigen Phänomen, und das nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Der »Verfolger« Daniel Brendel erscheint als Teil der suchenden Gesamtbevölkerung. Auch an anderer Stelle entsteht der Eindruck, Brendel sähe sich als zur Bevölkerung zugehöriger Teil, wenn er von Berlin als »unserer Stadt« (Vf: 99) spricht.

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so findet sich in dem Roman »Der Verfolger« eine Akzentverschiebung: Mindestens eine Unterstützung des Nationalsozialismus, wenn nicht gar die Täterschaft der Bevölkerung, zum Beispiel in Bezug auf die Verfolgung der als jüdisch stigmatisierten Mitmenschen, wird zum Thema: Aber leider war die Wahrscheinlichkeit groß, daß irgendein Mitbürger den gelben Stern auf der Brust des alten Mannes bemerkt und gerufen hätte […]. (Vf: 77)

Während in dem früheren Drama »Die Illegalen« von Günther Weisenborn die Widerständigen als fürsorgliche Patrioten erscheinen, die durch den Aufruf »Deutschland erwache!« (I: 251) das gemeinsame ›Vaterland‹ – »unser Vaterhaus« (I: 281) – von den Nationalsozialisten befreien wollen, dominiert konträr dazu in den vom »Verfolger« zitierten Flugblättern der »Silbernen Sechs« nun die abgrenzende Anrede »ihr«, mit der die Bevölkerung angesprochen wird. Eine gemeinsame Abwehr gegen »unsere Machthaber« gerät dabei in den Hintergrund: Hört zu! Glaubt ihnen kein Wort. Ihr werdet das alles eines Tages einsehen! Ihr werdet sagen, ihr hättet nichts von alledem gewußt, nichts davon, daß unsere Machthaber Kriminelle waren. Ihr werdet es bereuen. Bereut heute durch die Tat! Helft uns! Handelt! (Vf: 131)

Darüber hinaus erzeugt auch der geringe Stellenwert, den die Flugblätter der »Silbernen Sechs« in dem Roman »Der Verfolger« haben, im Gegensatz zum frühen Drama nicht den Eindruck einer funktionierenden Kommunikationsgemeinschaft zwischen Widerständigen und Bevölkerung. Neben dem oben zitierten Flugblatttext wird lediglich in der Darstellung des Prozesses gegen die »Silberne Sechs« noch eine kurze Passage aus einem Flugblatt der Gruppe abgedruckt, wenn Paul Riedel in seiner Aussage Folgendes zitiert: »An alle friedliebenden Bürger… Je eher der verlorene Krieg ein Ende findet, desto mehr Menschenleben werden gerettet. Dieser Krieg ist ein Verbrechen. Schluß mit dem Wahnsinn…« (Vf: 156)

Nicht nur der geringe Umfang der Flugblatttexte im Verhältnis zum Gesamttext, sondern auch die Tatsache, dass die Flugblätter in beiden Fällen rückblickend zitiert werden und nicht ihre Verteilung, also deren kommunikativer Aufforderungscharakter, zum Thema wird, verweisen, wie auch Daniel Brendels unten stehender resignierter Kommentar, auf die – im Vergleich zum »Illegalen«Drama – pessimistischere Inszenierung des Verhältnisses von Widerständigen und Bevölkerung: Unsere Aufrufe brachten nicht nur Waffen zum Verstummen, sie stimmten auch Köpfe um, so hofften wir. (Vf: 132)

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Brendels distanziertes bis feindseliges Verhältnis zu seinem Anwalt, das er am Ende des Romans wie folgt beschreibt, steht somit metonymisch für die Position der Widerständigen innerhalb der Bevölkerung: Welten lagen auf einmal zwischen uns. Er war einer von den Millionen, die – ständig in Deckung – sich gerissen durch die Wirren der Zeit lavieren. Ich gehörte zu einer deckungslosen Fronde, für die die Welt veränderbar ist. (Vf: 231; vgl. auch Vf: 173)

Die Auseinandersetzungen Brendels mit seinem Anwalt M., der ihn eigentlich im Nachkriegsdeutschland bei der juristischen Verfolgung des Gestapo-Spitzels unterstützen soll, indizieren nicht nur eine Kluft zwischen Widerständen und der Mehrheitsbevölkerung des sogenannten ›Dritten Reichs‹. Die sich wiederholenden, anklagenden Verweise des Ich-Erzählers auf Kontinuitäten zwischen NS- und Nachkriegsjustiz – »Der übliche Werdegang: Referendar, SA, NSKK, Assessor, Amtsrichter, Kriegsgerichtsrat, als Mitläufer eingestuft, in den Justizdienst übernommen, jetzt Landgerichtsrat in M.« (Vf: 175; vgl. auch 119ff., 162f., 173, 184ff., 206f.) – etablieren zudem in Ansätzen eine Gleichsetzung der Bundesrepublik mit dem NS-Regime, wenn sie die Grenzziehungen zwischen NS-Trägern, Widerständigen und Bevölkerung, wie sie für das dargestellte ›Dritte Reich‹ behauptet werden, für den Zeitraum nach 1945 fortführen: Und war hier nicht Front? War hier nicht ein Kessel von der Front übriggeblieben, in dem wir saßen, er und ich, und uns einander anstarrten in der Urlandschaft des Hasses? (Vf: 174)

So konstatiert Marcel Reich-Ranicki zu Recht, Weisenborn gehe es »selbstverständlich nicht so sehr um das ›Dritte Reich‹ als um die Bundesrepublik, also um die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart.«599 Auch in der »heutige[n] Zeit der Spaltung Deutschlands und der Atomrüstung« (Vf: 68) – so suggeriert der Roman – stehen die Widerständigen und hier konkret der vereinzelte Daniel Brendel außerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der »Verfolger«Roman ist somit – ähnlich wie vor allem Paul Schallücks »Engelbert Reineke«600 – ein Beispiel für sehr explizite literarische Kritik an erinnerungskulturellen Prozessen im Nachkriegsdeutschland. Vor allem mittels ihrer analeptischen Struktur des Erzählens, die die bundesrepublikanische Erzählgegenwart mit erinnernden Rückblicken auf die NS-Zeit durchsetzt und verbindet, entwerfen beide Romane ihre Protagonisten als Erzähler von Gegengeschichten, die sich gegen eine national hegemoniale Gedenk- oder hier passender : Vergessenskultur richten. Sie lassen sich somit als früher Teil der unter anderem von Norbert Frei beschriebenen bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung bezeichnen. Als Reaktion auf die Verweigerungshaltung der 1950er Jahre 599 Reich-Ranicki 1963: 295. 600 Vgl. dazu Viebahn 2006.

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Destabilisierung etablierter Gemeinschaften

setzte laut Frei in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur ausgehend von der Vorstellung von einer ›unbewältigten Vergangenheit‹, wie sie von Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) proklamiert wurde, ein »aufklärerische[r] Diskurs«601 ein. Weitere Impulse für eine beginnende Vergangenheitsbewältigung seien auch Skandale um personelle und institutionelle Kontinuitäten, die zunehmend aufgedeckt wurden, sowie die Reihe von Prozessen gegen Beteiligte an der Judenvernichtung gewesen. Ausgehend davon begann vor allem die nachfolgende Generation kritischere Fragen an ihre Eltern zu richten; eine Tendenz, die zum Beispiel die sogenannte ›Väterliteratur‹ prägte,602 und auch eine wichtige Rolle bei dem mit aller Härte ausgetragenen Generationenkonflikt, den wir heute mit der Chiffre »1968« verbinden, spielte.603

601 Frei 2005: 12. 602 Vgl. dazu Arbeiten von Wolfgang Türkis (1990), Ralph Gehrke (1992), Claudia Mauelshagen (1995), Dagmar Spooren (2001) und Ariane Eichenberg (2009). Außerdem sei an dieser Stelle auf meine eigene Examensarbeit »›Abschied von den Kriegsteilnehmern‹. Die Auseinandersetzung mit den Soldatenvätern in der Gegenwartsliteratur« (2006) verwiesen. 603 Vgl. König 2005: 40.

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Selbstreflexionen kollektiver Identitäten – Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

»Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein« (ÄdW1: 7)604 ; so beginnt der namenlos bleibende Erzähler in Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands« (1975–1981) seine Schilderung des Pergamon-Frieses zu Beginn des ersten Bandes und verortet sich beziehungsweise sein erlebendes Pendant damit – nicht zuletzt mittels der Lokaldeixis – ›mitten‹ in der Diegese. Während uns bei Peter Weiss also ein Ich als Erzähler entgegentritt, das als Teil der erzählten Welt konzipiert ist, wird dem Lesenden die Geschichte des Romans »Zündschnüre« von Franz Josef Degenhardt von einer heterodiegetischen Erzählinstanz vermittelt: Sie saßen wieder auf Meurischs Mauer, Fänä Spormann, Viehmann Ronsdorf, Tünnemann Niehus, Zünder Krach und Sugga Trietsch. Ziß Schüßler kam angerannt, laut, mit Eisen unter den Schuhen. Else, die Stute von Bohrs Friedchen wär weg, geklaut. (Z: 7)

Nicht nur zum hier zitierten Beginn des Romans, der mit dem Blick auf die fünf zentralen jugendlichen Protagonisten einsetzt, sondern durchweg tritt die Erzählinstanz bei Degenhardt nicht als Teil der Diegese in Erscheinung. Sie selbst manifestiert sich nicht in einer handelnden Figur, sondern erzählt das Leben anderer fiktiver Figuren. Dieser Unterschied zur »Ästhetik des Widerstands« erweist sich in den fol604 Die hier zitierte Ausgabe orientiert sich an den jeweiligen Suhrkamp-Erstdrucken der drei Bände (1975, 1978, und 1981). Auf die Abweichungen dieser Ausgaben, insbesondere des dritten Bandes, von Peter Weiss’ »Urtext« bzw. »Originaltext« (Zitat von Peter Weiss in einem Brief an Manfred Haiduk vom 6. Januar 1981), die durch Eingriffe des Lektorats des Suhrkamp-Verlags zustande gekommen seien, verweisen Dwars/Strützel/Mieth (Hg.) 1993 sowie die in dem Sammelband veröffentlichten Briefe von Peter Weiss an Manfred Haiduk (vgl. Dwars/Strützel/Mieth [Hg.] 1993: 256–263). Zu den Unterschieden zwischen der Erstausgabe im Suhrkamp-Verlag und der 1983 im Henschelverlag erschienenen Version, die als Ausgabe letzter Hand firmiert, vgl. auch Haiduk 1990. Eine Übersicht über alle bislang erschienenen Ausgaben der Romantrilogie bieten Schutte 2008: 51; und Beise 2008: 241. Bei letzterem findet sich zudem ein Incipit-Register, das die Paginierungen verschiedener Ausgaben miteinander vergleicht (vgl. Beise 2008: 242ff.).

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

genden Analysen allerdings als weniger zentral, als vielleicht zunächst vermutet werden kann. So geht mit dem heterodiegetischen Status der Erzählinstanz im Degenhardt-Roman keinesfalls eine alles überblickende Erzählperspektive einher, die als Null-Fokalisierung beschrieben werden könnte. Stattdessen dominiert im Roman eine Mitsicht, die den Eindruck von einer gewissen Nähe der Erzählinstanz zur erzählten Welt erzeugt: Fänä hängte sich den Koppel mit der dicken Pistolentasche über die Schulter, setzte sich auf eine Kiste, zielte auf Hansi Haas, der Inge Vordamm abgeworfen hatte, und sagte, du Saukopp. Inge Vordamm schrie sofort los, Spione, Scheißer, vergasen undsoweiter. Sie war aufgesprungen. Eine Handvoll Stroh hielt sie sich vor die Pflaume. Da mußten alle lachen, auch Inge, und Hansi zog aus dem Stroh eine Flasche Schabau, trank einen Schluck, warf die Flasche Fänä zu, der trank auch, die Flasche ging durch die Runde bis zu Pino, der sie leertrank. Was wollt ihr haben von dem Gaul, fragte Hansi. Fänä wurde wieder wütend und Tünnemann schrie, daß der Gaul Else gewesen wäre. (Z: 10; Hervorhebung M. S.)

Nicht nur in dem, was die Erzählinstanz an Wissen preisgibt und welches Geschehen sie erzählt, sondern auch in ihren spezifischen Kommentierungen der Handlung sowie ihrer Verwendung umgangssprachlicher Wendungen (siehe Hervorhebungen im Zitat) erweist sich ihre Darstellung weitestgehend an der Wahrnehmung der jugendlichen Hauptfiguren orientiert. Die beiden Erzählinstanzen von Degenhardt und Weiss ähneln sich also insofern, als dass sie eine Verbundenheit mit der dargestellten Welt und Handlung auszeichnet. Ziel dieses Kapitels ist es, herauszuarbeiten, dass sich diese Verbundenheit als eine reflektierte und reflektierende Identifikation der Erzählinstanzen mit einer von ihnen imaginierten antifaschistischen Gemeinschaft deuten lässt. Im Unterschied zu den im vorangehenden Kapitel analysierten Texten, die die Desintegration ihrer Protagonisten aus nationalen und/oder politisch-sozialen Kollektiven betonen, stellen »Zündschnüre« und »Die Ästhetik des Widerstands« Protagonisten ins Zentrum, die sich sehr dezidiert als Teil dieser antifaschistischen Gemeinschaft definieren. Dabei ist das Attribut »antifaschistisch« im Folgenden keinesfalls als analytische Kategorie zu verstehen; seine schillernden politischen Implikationen und Konnotationen wären sonst problematisch. Vielmehr bietet es die Möglichkeit, das changierende Selbstverständnis der dargestellten Akteure, das verschiedene politische oder soziale ›Koalitionen‹ impliziert, passend zu benennen. Auf der einen Seite geraten in den Analysen – zum Beispiel mit der Gestaltung des Handlungsraumes (Kap. 5.2.1), den dominierenden Grenzziehungen (Kap. 5.2.3) oder der intertextuellen Verortung in spezifischen kulturellen Kanones (Kap. 5.3.2) – solche Verfahren und Inhalte der Texte in den Blick, die die Vorstellung eines etablierten, gefestigten antifaschistischen Kollektivs konsti-

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tuieren (Kap. 5.2 und 5.3). Allerdings inszenieren beide Romane antifaschistische Gemeinschaft keinesfalls als monolithische, unveränderliche Erscheinung. Diese spannungsvolle Konstellation beschreibt Jochen Vogt mit Blick auf die »Ästhetik des Widerstands« folgendermaßen: Fluchtpunkt der politischen Analyse ist zweifellos, wie Weiss in einem Gespräch bekräftigt hat, der Gedanke der Einheit, der durchgeht durch das Buch und der… die einzige Möglichkeit gewesen wäre, den Faschismus und auch den Stalinismus zu besiegen[Anm. 385]. Diese »Botschaft« könnte eine eindeutige, Zweifel und Widersprüche abwehrende, letztlich dogmatische Erzählsprache erwarten lassen. Tatsächlich rückt der Roman vor allem die Versäumnisse und Frevel gegenüber diesem Einheitsgebot, die Zerwürfnisse innerhalb der Linken ins Licht, indem er die kontroversen Standpunkte in zahl- und endlos scheinenden Dialogen und Debatten gegeneinander führt, die aber zugleich, in indirekter oder erlebter Rede[Anm. 386] dargeboten, in den Erzählfluß dieses Gespräch-Romans integriert bleiben.605

Zwar wirkt die grundsätzliche Zugehörigkeit zur antifaschistischen Gemeinschaft in beiden Romanen wie eine weitestgehend unhinterfragte und unhinterfragbare Voraussetzung des Erzählens und es kann in diesem Sinne von einer entsprechenden kollektiven Identität der beiden Erzählinstanzen gesprochen werden. Die Fragen, was als antifaschistische Gemeinschaft gilt, wer dazu zählt und wie das Verhältnis des Einzelnen zu ihr zu denken ist, erscheinen in den beiden Romanen allerdings als diskutierbar (vgl. vor allem Kap. 5.4 und 5.5). In diesem Sinne geht es in beiden Texten weniger um die Etablierung oder Bestätigung einer antifaschistischen Gemeinschaft, die sich beispielsweise durch Hinweise auf ungebrochene Kontinuitäten der Bundesrepublik zum NS-Staat konstituieren würde,606 sondern primär um die Reflexion antifaschistischen Selbstverständnisses und damit um eine Modifikation antifaschistischer, speziell auch politisch linker Gemeinschaft. So urteilt Martin Rector über eine mögliche Funktion der »Ästhetik des Widerstands« im zeitgenössischen Diskurs der Neuen Linken der 1970er Jahre: Das Buch machte in Inhalt und Methode vor, wie eine Selbstreflexion und Selbstkritik ohne Tabu bei grundsätzlicher Solidarität geübt werden konnte.607 605 Vogt 1987: 126. Die von Jochen Vogt hier zitierte Aussage von Peter Weiss stammt aus: Jürgen Lodemann: Fernsehgespräch mit Peter Weiss. In: Literatur-Magazin. 3. Programm Südwestfunk, 10. 9. 1981. Unveröffentlichte Nachschrift des Autors, S. 3 (Teilabdruck: Jeder Mensch, der denken kann, kann auch weiterdenken. Jürgen Lodemann im Gespräch mit Peter Weiss. In: Deutsche Volkszeitung, 17. 9. 1981, S. 14) [= Anm. 385]. Mit Anm. 386 verweist Vogt auf die Dissertation von Genia Schulz (1986: 29f.) sowie eigene Vorarbeiten. 606 Eine entsprechend einseitige Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit attestiert beispielsweise Bernd Faulenbach der studentischen Linken, die sich nicht zuletzt durch die Kritik an der vermeintlichen Kontinuität von NS-Herrschaft und BRD formieren würde (vgl. Faulenbach 1997: 10). 607 Rector 2008: 25. Zu einer vergleichenden Perspektive auf die bundesrepublikanische Neue

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5.1

Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

Texte im Fokus: Franz Josef Degenhardts »Zündschnüre« (1973) und Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« (1975–1981)

1973 erschien mit »Zündschnüre« der erste Roman des bis dahin vor allem als Schreiber und Sänger gesellschaftskritischer und politischer Songs bekannten Autors Franz Josef Degenhardt (1931–2011). Degenhardt, der 1971 wegen seiner Sympathiebekundungen für die DKP aus der SPD ausgeschlossen wurde, entwirft in diesem Roman eine Geschichte vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus in einem städtischen Arbeiterviertel. Der Roman, der in 26 etwa gleich lange Kapitel unterteilt ist, spielt im Ruhrgebiet der letzten beiden Kriegsjahre in einer relativ abgeschlossenen Arbeiterwelt, der sogenannten Unterstadt, die eine größere Fabrik umgibt, in der unter anderem Fässer und Kanister hergestellt werden. Die dargestellte Handlung orientiert sich an der Erlebniswelt von fünf befreundeten ca. zehn bis dreizehn Jahre alten Jugendlichen: Fänä Spormann, Viehmann Ronsdorf, Tünnemann Niehus, Zünder Krach und Sugga Trietsch. Ähnlich wie sein Vater Heini Spormann, der im Roman als einer der regional führenden Köpfe der Arbeiter gelten kann, erscheint Fänä Spormann oftmals als Anführer der Jugendlichen, aus dessen Wahrnehmungsperspektive große Teile des Romans erzählt werden. Die zentralen Figuren des Romans, wozu neben den Jugendlichen vor allem die Mütter der Kinder und Berta Niehus, die Großmutter Tünnemanns, sowie die Mitglieder einer geheimen Widerstandsorganisation, allen voran ihr Anführer Stacho, ein sowjetischer Zwangsarbeiter, zählen, verbindet ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu, eine politisch linke Orientierung sowie die gemeinsame Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus. Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird in diesem Roman in mehrfacher Weise zum Thema: Erstens zeugen die zahlreichen erwähnten oder dargestellten Verhaftungen der Männer des Viertels davon, dass sie von den NSRepräsentanten als politische Gegner des Nationalsozialismus bewertet werden (vgl. Z: 15, 18, 37, 79 und 153). Zweitens hat sich in der Fabrik eine geheime Widerstandsorganisation gebildet, die Sabotage betreibt, aber auch für die Tötung von zwei NS-treuen Chefs der Werkwache verantwortlich war, die als Unfälle getarnt wurden (vgl. Z: 24). Drittens sind die Jugendlichen am Widerstand beteiligt, indem sie dabei helfen, Verfolgte zu verstecken, Nahrungsmittel – unter anderem für die Zwangsarbeiter – zu organisieren, geheime Nachrichten zu übermitteln oder auch Flugblätter zu verteilen. Obwohl »Zündschnüre« mit »einer Grossauflage von dreissigtausend Stück Linke und die Ausdifferenzierung der schwedischen Linken in den 1960er Jahren vgl. Etzemüller 2005: 69–93.

»Zündschnüre« und »Die Ästhetik des Widerstands«

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auf den Markt gebracht«608 wurde, im Erscheinungsjahr 1973 mehrere Monate vordere Plätze der Spiegel-Bestseller-Liste behauptete, also ein gewisses Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erzielen konnte, und bereits 1974 vom westdeutschen Fernsehen verfilmt wurde (Regie: Reinhard Hauff)609, ist der Roman in literaturwissenschaftlichen Kontexten kaum bearbeitet worden. In zahlreichen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Literatur des 20. Jahrhunderts wird Degenhardt als Romanautor nicht wahrgenommen.610 Neben der Dissertation von Heidy M. Müller zur »Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa« (1984), in der dem Roman ein zweiseitiges Kurzkapitel gewidmet ist, sind speziell zu »Zündschnüre« lediglich noch zwei Aufsätze zu verzeichnen: 2009 veröffentlicht, beschäftigt sich einmal Martina Schönenborn mit der Darstellung von »Kriegskindheit im Ruhrgebiet«. Zudem befassen sich Joachim Gundelach und Axel Schalk in einem 2012 publizierten kurzen Aufsatz mit den beiden frühen Romanen Degenhardts und betonen die thematische Kohärenz zwischen den Songs Degenhardts und seinem Erstling »Zündschnüre« sowie dem 1975 publizierten Roman »Brandstellen«.611 Ganz anders ist dies bei Peter Weiss’ (1916–1982) monumentalem Buch »Die Ästhetik des Widerstands«, das als eines der in den letzten dreißig Jahren am intensivsten beforschten Werke der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann.612 Ähnlich wie der Degenhardt-Roman stellt diese Romantrilogie613, die erst »Der Widerstand« heißen sollte,614 Figuren

Müller 1984: 170. Von Bormann 2005. Vgl. Gundelach/Schalk 2012: 230. Vgl. Gundelach/Schalk 2012: 227. So verzeichnet die Online-Version der »Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft (BDSL)« 212 Titel, die sich speziell diesem Buch widmen (Stand März 2014). Zum Vergleich: Bezüglich Alfred Anderschs Roman »Sansibar oder der letzte Grund« zeigt die Datenbank 31 Treffer für die Jahre 1985 bis 2013 und Zuckmayers »Des Teufels General« wird laut BDSL in 22 genannten wissenschaftlichen Texten dieses Zeitraums thematisiert. Eine ähnliche Menge an literaturwissenschaftlichen Publikationen wie die »Ästhetik des Widerstands« ruft also bislang kein anderer ›widerstandsliterarischer‹ Text hervor, aber selbst bezüglich des Romans »Die Blechtrommel« von Günter Grass werden ›nur‹ 182 Titel für die Jahre 1985 bis 2013 erfasst. Übertroffen wird der WeissRoman bezüglich seiner wissenschaftlichen Resonanz also vermutlich von sehr wenigen anderen Werken, die zwischen 1945 und 1989 in deutscher Sprache publiziert worden sind. Eine (vielleicht singuläre?) Ausnahme stellt Uwe Johnsons vierbändiger Roman »Jahrestage« (1970–1983) dar, für den die BDSL-Datenbank 293 Treffer verzeichnet. 613 »Weder Roman noch Autobiographie, weder Roman einer Epoche noch Darstellung der individuellen Entwicklung einer Figur« (Butzer 1997: 197) – so skizziert Günter Butzer die wissenschaftliche Diskussion um die generische Einordnung dieses Buches, die ihren Ausgangspunkt nicht zuletzt in Peter Weiss’ eigener Charakterisierung seines dreibändigen Werkes als »Wunschautobiographie« nimmt (so Peter Weiss über seinen Roman in einem Interview mit Rolf Michaelis, das im Oktober 1975 in der Wochenzeitung »Die ZEIT«

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und Handlungen ins Zentrum, die sich als Teil einer politisch linken Bewegung verstehen und größtenteils entweder im Arbeitermilieu sozialisiert wurden und werden oder als Repräsentanten einer politisch links orientierten Intelligenz erscheinen. Während aber in »Zündschnüre« mit den letzten beiden Kriegsjahren nur ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum des Widerstandskampfes gegen die nationalsozialistische Herrschaft dargestellt wird, setzt der Haupthandlungsstrang der »Ästhetik des Widerstands« bereits Mitte der 1930er Jahre vor dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs ein. Im ersten Teil der Trilogie (1975) erzählt der namenlos bleibende homodiegetische Erzähler zunächst von seinem Leben im Berlin in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre (1,I). Er schildert zum einen sein Zusammensein mit den Freunden Heilmann und Coppi, mit denen ihn sowohl die politische Orientierung als auch das Interesse für bildende Kunst und Literatur verbindet (vgl. ÄdW1: 7–88). Zum anderen reflektiert er in imaginierten Diskussionen mit seinen Eltern, vor allem mit seinem Vater, Möglichkeiten zur Bildung einer linken Einheitsfront (vgl. ÄdW1: 88–169); eigene Reflexionen verschiedener literarästhetischer Positionen schließen sich an (vgl. ÄdW1: 169–189). Im zweiten Teil des ersten Bandes (1,II) stehen dann die Erfahrungen des Ich-Erzählers als Teil der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg im Mittelpunkt. Gleich zu Beginn seines Spanienaufenthaltes wird er Sanitäter in einem Feldlazarett (vgl. ÄdW1: 212–220), das von Max Hodann, der bereits vor seiner Emigration 1933 in Berlin zu einem Mentor sowohl für den Ich-Erzähler als auch seine beiden Freunde Coppi und Heilmann wurde (vgl. ÄdW1: 16), geleitet wird. Der Erzähler schildert den aus seiner Sicht zunehmend ungünstigen Kriegsverlauf und vor allem die sich intensivierenden politischen Diskussionen und Differenzen zwischen den verschiedenen am Bürgerkrieg beteiligten linken Fraktionen, die publiziert wurde: http://www.zeit.de/1975/42/es-ist-eine-wunschautobiographie; Zugriff 09. 06. 2014). Zu verschiedenen Positionierungen bezüglich der generischen Einordnung der »Ästhetik des Widerstands«, insbesondere auch zur Auseinandersetzung mit dem Terminus »Wunschautobiographie«, vgl. Prümm 1977: 60; Schulz 1986: 7, 11–15; Vogt 1987: 117; Söllner 1988: 189–192, 225; Cohen 1989b: 111f.; Huber 1990: 44f.; Gerlach 1991: 97; Rector 1992: 112f.; Kessler 1997: 12f.; Köberle 1999: 14f.; Vormweg/Gerlach/Mazenauer 2006; Mandel 2013: 19. Ohne an dieser Stelle an die kontroverse Diskussion um eine passende Gattungsbezeichnung anschließen zu wollen, wird »Die Ästhetik des Widerstands« im Folgenden als »Roman« bezeichnet und gelesen, im Anschluss an den peritextuellen Hinweis des Untertitels. Der von Weiss vorgeschlagene Terminus »Wunschautobiographie« ist insofern für die folgenden Analysen bedeutungsvoll, als er bereits andeutet, dass es sich bei dem Roman um einen Text handelt, der sich mit möglichen Alternativen der Ich-Konstitution auseinandersetzt und in diesem Sinne auf die Reflexion von Identität zielt. Die Frage, welche Identitäten mit welchen Mitteln in der »Ästhetik des Widerstands« verhandelt werden, steht im Mittelpunkt der Analysen dieses Kapitels. 614 Vgl. einen entsprechenden Hinweis in den publizierten Notizbüchern von Peter Weiss (NB1: 163).

»Zündschnüre« und »Die Ästhetik des Widerstands«

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schließlich in verschiedenen Schauprozessen als Teil der stalinistischen ›großen Säuberungen‹ enden (vgl. ÄdW1: 220–267, 282–314). Der zweite Band der »Ästhetik des Widerstands« (1978) erzählt von den Erfahrungen des Erzählers im schwedischen Exil, das er nach einem Zwischenstopp in Paris, bei dem er Willi Münzenberg trifft, erreicht (vgl. ÄdW2: 7– 77). Hier stehen zunächst (2,I) seine zunehmenden Kontakte mit schwedischen Kommunisten, wie vor allem Selin und Rogeby (vgl. ÄdW2: 85–105), sowie zu anderen Exilanten – darunter die zwischenzeitlich internierte Kommunistin Charlotte Bischoff (vgl. ÄdW2: 77–85, 105–119), Rosalinde, die Tochter Carl von Ossietzkys (vgl. ÄdW2: 131–138), und Bertolt Brecht (vgl. ÄdW: 138–152) – im Mittelpunkt. Auch den ebenfalls nach Schweden geflüchteten Hodann trifft der Erzähler hier wieder (vgl. ÄdW2: 124–131). Der zweite Teil des zweiten Bandes (2,II) setzt mit der Nachricht vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ein, die für Diskussionen unter den exilierten Kommunisten sorgt (vgl. exemplarisch ÄdW2: 163–170) und zu einer zunehmenden Bedrohung der Emigranten durch die schwedische Politik, Justiz und Polizei führt (vgl. exemplarisch ÄdW2: 239– 255). Im Zentrum dieses Romanteils stehen die Mitarbeit des Erzählers an der Herausgabe einer kommunistischen Exilzeitschrift durch Jakob Rosner (vgl. ÄdW2: 170–176, 201–211, 222–227) sowie die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht an einem Drama über den schwedischen Freiheitskämpfer Engelbrekt (vgl. ÄdW2: 176–222, 227–239, 248–255). Der Erzähler beginnt, sich verstärkt für schwedische Geschichte, vor allem der Arbeiterbewegung und des Parlamentarismus, zu interessieren. Der zweite Band der Romantrilogie endet schließlich mit einer Beschreibung des Einmarsches deutscher Truppen in Schweden und der überstürzten Auflösung des Brecht’schen Haushaltes (vgl. ÄdW2: 310–326). Den Auftakt des dritten Bandes der »Ästhetik des Widerstands« (1981) bildet das Wiedersehen des Ich-Erzählers mit seinen Eltern, die nun nach einer Flucht durch verschiedene Länder Ostmitteleuropas auch nach Schweden gelangt sind. Die von dieser Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik traumatisierte Mutter wird in den folgenden Monaten regelmäßig von der schwedischen Schriftstellerin Karin Boye besucht. Deren Suizid erschüttert sie stark und trägt möglicherweise ebenso zu ihrem baldigen Tod bei wie ihre Erfahrungen mit dem beginnenden Massenmord an den Juden (vgl. ÄdW3: 7–36, 123–134). Einen zweiten Schwerpunkt dieses ersten Teils des dritten Bandes (3,I) bilden Gespräche über und Kontakte der Emigranten mit dem Widerstand und Widerständigen in Deutschland: Bischoff reist illegal zurück nach Deutschland, um dort verbliebene Widerständige zu treffen (vgl. ÄdW3: 67–93), und auch Herbert Wehner alias Svensson alias Funk plant eine Rückkehr nach Deutschland, wird aber schließlich wegen seiner politischen Tätigkeiten in Schweden verhaftet (vgl. ÄdW3: 48–66, 152–166). Im zweiten Teil

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des dritten Bandes stehen schließlich Bischoffs Kontakte zu Heilmann und Coppi in Berlin und somit zur ›Roten Kapelle‹ im Zentrum (vgl. ÄdW3: 169– 239). Erzählt wird von der Enttarnung der Widerstandsgruppe, der Bischoff entgeht, und schließlich von der Hinrichtung der Beteiligten. Der Band und somit die gesamte Romantrilogie endet mit den Vorbereitungen der Emigranten in Schweden auf das absehbare Kriegsende sowie anschließend mit einer kritischen Reflexion der sich abzeichnenden Blockkonfrontation nach der deutschen Kapitulation durch den Erzähler und einem Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungen der überlebenden Emigranten (vgl. ÄdW3: 239–268). Die umfangreiche Forschung zu »Die Ästhetik des Widerstands« ist bereits mehrfach systematisch beschrieben worden.615 Mit Martin Rector können im Anschluss an die frühe Rezeption des Romans in der Literaturkritik der Jahre 1975 bis 1978 drei Phasen der wissenschaftlichen Rezeption des Romans unterschieden werden. Diese setzt in den 1980er Jahren ein mit der Bildung von solchen »Gruppen des linken politischen literarischen Milieus«616, »die den Roman zwar nicht unkritisch, aber doch prinzipiell identifikatorisch, gelegentlich geradezu emphatisch als ›Kultbuch‹ rezipierten«: Zu nennen sind hier vor allem die lokalen Gruppen um Jochen Vogt in Essen, Klaus Scherpe an der FU Berlin, Klaus Briegleb in Hamburg, Burkhardt Lindner in Frankfurt am Main und Martin Rector in Hannover, aber auch Irene Heidelberger-Leonard in Brüssel und Hans Höller in Salzburg, die sich zum Teil auch zu gemeinsamen Arbeitstagungen trafen und ihre Ergebnisse in Sammelpublikationen veröffentlichten.617

Für die 1990er Jahre konstatiert Rector einen Boom der Forschung, die neben Darstellungen zu Leben und Gesamtwerk des Autors »ganz im Zeichen der Interpretation im weitesten Sinne«618 stand. Vor allem die zahlreichen publizierten Dissertationen hätten dazu beigetragen, dass der unmittelbar politische Stoffgehalt der Ästhetik des Widerstands nun allmählich in den Hintergrund rückte zugunsten von Analysen der Erzählweise, des Verständnisses von Geschichte, der Mythologie und des Utopischen sowie den übergreifenden Fragen des Verständnisses von Widerstand und Ästhetik.619 615 Verwiesen sei hier vor allem auf die 2008 publizierten »Prolegomena zu einem Forschungsbericht« von Martin Rector, aber auch auf einleitende Überlegungen in den Dissertationen von Friedemann J. Weidauer (1994: 184–187) und Matthias Köberle (1999: 35– 40). 616 Rector 2008: 20. 617 Beide Zitate Rector 2008: 21. 618 Rector 2008: 28. 619 Rector 2008: 29. Rector listet insgesamt 41 Monographien auf, die sich entweder ausschließlich oder mit längeren Kapiteln dem Weiss-Roman widmen. Für die folgenden Überlegungen erweisen sich davon vor allem die Dissertationen von Genia Schulz über »Versionen des Indirekten in Peter Weiss’ Roman« (1986), Andreas Hubers »Mythos und Utopie« (1990) und Günter Butzers Analysen zu »Verfahren epischen Erinnerns in der

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In den 2000er Jahren habe die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Romantrilogie dann deutlich nachgelassen; zeitverzögert habe die »gesamte Verwerfung der Perspektiven der Linken […] nun nicht nur die Ästhetik des Widerstands selber, sondern auch deren Interpretation zu einem historischen Gegenstand«620 gemacht. In systematischer Hinsicht beschreibt Rector sieben verschiedene Schwerpunkte respektive Perspektiven, die die wissenschaftliche Rezeption des Textes dominierten: 1) einen positivistischen, auf die Biographie des Autors rekurrierenden Zugang zum Text; 2) eine Lektüre des Romans ausgehend von Fragen nach seinem historiographischen Potenzial; 3) kunstgeschichtliche Analysen und 4) sozial- und individualpsychologische Zugänge. Des Weiteren nennt Rector 5) Arbeiten, die nach der dem Text inhärenten ästhetischen Theorie fragen, und rekurriert 6) auf kulturwissenschaftliche Ansätze, die der Funktion des Mythos in der »Ästhetik des Widerstands« nachgehen, aus erinnerungstheoretischer Perspektive vor allem die Darstellbarkeit der Shoah reflektieren oder Fragestellungen der Gender-Studies an den Roman herantragen. Unter dem Schlagwort »Narratologie« versammelt Rector schließlich 7) verschiedene, wie er betont, genuin literaturwissenschaftliche Arbeiten. Dazu zählt er solche zur Intertextualität des Werkes, bezieht sich aber auch auf eher formalanalytische Zugangsweisen, die er besonders positiv hervorhebt: Das gilt besonders für die Analysen der Erzählfunktion, der Rolle des Ich-Erzählers als erlebendes und erzählendes Ich, der Figurenrede, zumal im Dialog und im Gespräch, die Beschreibungstechniken in Aufzählungen und Katalogen, des räumlichen und zeitlichen settings von Handlung und Reflexion, der Montage von dokumentarischem Material und fiktionaler Erzählung, der filmischen Überblendungstechniken und der an surrealistische Schreibweisen erinnernden Traumpassagen oder auch für die Interpretation der im Konjunktiv Futur geschriebenen Schlusspassage des Werks.621

Eine Analyse eben dieser von Rector genannten narrativen Strukturen des Textes stellt die Grundlage der folgenden Ausführungen dar. Sie ermöglicht es, zum einen die Ambivalenz des erzählerischen Entwurfs antifaschistischer Gemeinschaft zu fassen, die aus dem Changieren des homodiegetischen Erzählers zwischen dem erlebenden Ich der 1930er und 40er Jahre einerseits und seinem später zurückblickenden erzählenden Pendant andererseits resultiert (vgl. dazu insbesondere Kap. 5.2.4).622 Entgegen Forschungsbeiträgen, die auf ein bloßes deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (1997) als relevant sowie auch Achim Kesslers Arbeit über »Die Figurenkonstellation in der Ästhetik des Widerstands« (1997) und Matthias Köberles Buch »Deutscher Habitus bei Peter Weiss« (1999). 620 Rector 2008: 33f. 621 Rector 2008: 47. Zu dieser Aufzählung insgesamt vgl. Rector 2008: 34–47. 622 Eine exakte raum-zeitliche Verortung des rückblickenden Erzählens wird im Roman nicht expliziert. Allerdings verweisen die Reflexionen des Erzählers implizit auf solche Debatten,

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Nacherzählen der im Werk selbst entfalteten Theorien – oft unter deutlicher Einbeziehung der autobiographischen »Notizbücher« – hinauslaufen, geht es dabei zum anderen nicht zuletzt darum, formale Spezifika des Romans zu seinen inhaltlichen Aussagen in Beziehung zu setzen und dabei letztere in Ansätzen auch zu dekonstruieren.623 Gleichwohl zeigt sich dabei auch der hohe Grad an Selbstreflexivität, der den Roman auszeichnet. So wirken Aussagen von Figuren und Erzählinstanz wiederholt – wenn auch nicht immer – wie treffende Kommentare: Nicht nur die der Trilogie inhärente, sich in ihrer Form vermittelnde Poetik wird auf diese Weise beispielsweise in den Reflexionen der eigenen Produktionsbedingungen oder in der Auseinandersetzung mit literarischen oder sonstigen Kunstwerken expliziert. Vielmehr gilt auch für die in der »Ästhetik des Widerstands« entworfene antifaschistische Gemeinschaft sowie das verhandelte Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, dass ihre Darstellung oftmals – mal explizit, mal eher implizit – reflektiert wird.

5.2

»Ich betrachte mich als Angehöriger, auch ohne Mitgliedsbuch« – Politisch-soziale Positionierungen und Perspektivierungen des Erzählens und der Erzählinstanzen

Die Beschreibungen der Diegese konzentrieren sich in beiden Romanen mehr oder weniger ausschließlich auf die Lebenswelt und den Diskursraum der widerständigen Figuren: Fabrikarbeit und Sabotage, Illegalität, internationale Zusammenarbeit, Verhaftung, Verfolgung und Ermordung, Exil – das sind hier jeweils zentrale Ereignisse. Dabei werden die Figuren immer wieder auch in ihren Diskussionen über Ziele und Mittel ihres Widerstands vorgeführt, die oft – vor allem bei Weiss, aber auch bei Degenhardt – um die Frage kreisen, mit wem beziehungsweise mit welchen politisch-sozialen oder auch nationalen Gruppen eine Zusammenarbeit möglich ist, und die somit an Debatten um eine mögliche die in der westeuropäischen Linken in den 1960er und 1970er Jahren geführt worden sind (vgl. dazu Kapitel 5.5.2). 623 So zeigt sich bei mehreren Autor/innen die Tendenz, Peter Weiss mit Peter Weiss zu interpretieren. Köberle (1999) beispielsweise analysiert das Deutschen-Bild in der »Ästhetik des Widerstands« im Zusammenhang mit Weiss’ Aussagen in seinen Notizbüchern, und Huber übernimmt ohne kritische Reflexion Weiss’ Selbstaussagen zu seiner sprachlichen Sozialisation in der Exilerfahrung zur Deutung von dessen Gesamtwerk (vgl. Huber 1990: 18–29). Zur Kritik an Forschungsansätzen, die nur auf eine Explizierung und Kommentierung der dem Werk inhärenten Theorien zielen, vgl. Schulz 1986: 10; und Weidauer 194: 184f. Die Notwendigkeit, den Roman ›gegen den Strich‹ seiner expliziten Aussagen zu lesen, betont – tiefenpsychologisch argumentierend – auch Renate Langer (1995: 94f. und 75). Weidauer reflektiert zudem differenziert die Problematik eines zu starken Bezugs von Analysen auf die »Notizbücher«, der vor allem – oftmals unkritische – autobiographische Deutungen des Textes provoziere (vgl. Weidauer 1994: 187–193).

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Volks- und linke Einheitsfront erinnern. Das Erzählen beider Erzählinstanzen orientiert sich somit in der Regel sowohl am Erfahrungs- als auch am Wahrnehmungshorizont von solchen Figuren, die als Repräsentanten des kommunistischen oder sozialdemokratischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus erscheinen (Kap. 5.2.1). Dieser Fokussierung auf spezifische Lebens- und Diskurswelten entsprechend ist der Blick auf das Außen der sich konstituierenden antifaschistischen Gemeinschaft verhältnismäßig unscharf; die Gegner der Antifaschisten bleiben weitestgehend konturlos (Kap. 5.2.2). So erzeugt nicht nur die Perspektive von Weiss’ Ich-Erzähler »eine Parteilichkeit und einen ›Blick von unten‹, der die Arbeiterklasse ins Zentrum des Romans rückt«, sondern diese Beobachtung Achim Kesslers lässt sich analog auch auf die heterodiegetische Erzählinstanz im Degenhardt-Roman übertragen, in dessen Figurenkonstellation ebenfalls »Figuren, die dem Proletariat zuzurechnen sind«624, dominieren und dessen narrativer Darstellung durchaus eine an den entsprechenden handelnden Figuren orientierte ›proletarische‹ Wahrnehmungsperspektive attestiert werden kann.625 So konstatiert Heidy M. Müller : Weil der Autor die (schnoddrig-burschikose) Sprache der Helden selbst dort verwendet, wo er auktorial erzählt, scheint seine Denkweise mit der ihrigen übereinzustimmen. Dadurch wird das Wertsystem der bestimmenden Figuren gefestigt und dem Leser die Distanzierung von der impliziten Ideologie erschwert.626

Diese ›Ideologie‹ ist in beiden Romanen eine dezidiert marxistisch geprägte, was sich vor allem in den jeweils vorgeführten Abgrenzungen der entworfenen Gemeinschaft artikuliert (Kap. 5.2.3). Die scheinbar unhinterfragte Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft expliziert sich schließlich beim homodiegetischen Erzähler der »Ästhetik des Widerstands« in Formen kollektiven Erzählens, wird aber durch die Ambivalenz von erzählendem und erlebendem Ich relativiert (Kap. 5.2.4).

5.2.1 Räumliche Einsichten: Proletarische Lebenswelten im Fokus Besonders deutlich zeigt sich die Standortgebundenheit des Erzählens und der Erzählinstanzen an der Inszenierung solcher räumlicher Refugien, in denen sich 624 Beide Zitate Kessler 1997: 142. 625 Gundlach und Schalk vermuten in der Verortung des Geschehens im »proletarischen Milieu« einen Grund dafür, dass der Roman »bei Literaturhistorikern Abneigung und/oder Ratlosigkeit hervorgerufen hat« (beide Zitate Gundlach/Schalk 2012: 230), und beurteilen zudem den Roman deswegen als »ein[en] in der Literatur der Bundesrepublik ungewöhnliche[n] Fall« (Gundlach/Schalk 2012: 232). 626 Müller 1984: 170.

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die Widerständigen in ihrem Alltag zusammenfinden. Gerade in diesen erzählerischen Entwürfen von relativ geschlossenen Handlungsräumen manifestiert sich in beiden Texten die Vorstellung von einer vor allem, aber nicht nur durch Angehörige des Proletariats gebildeten antifaschistischen Großgruppe: Die Reihen der ineinandergeschobnen hölzernen Karren im Hof, die knarrenden Dielen der Treppen hinter uns lassend, öffneten wir die Tür mit der Scheibe aus geripptem Glas, den Kratzern und abgesprungnen Stellen in der fettigen, schwärzlich braunen Bemalung, dem Briefkasten aus buckligem schwarzen Blech, dem weißen zersprungnen Email des ovalen Namensschilds, der festgenagelten fleckigen Pappkarte, bedruckt mit dem verschnörkelten Text Leser des Völkischen Beobachters, und traten in die Küche ein. Im rauchigen Licht, das durchs Fenster fiel, waren Herd und Abwaschbecken zu erkennen, und am Tisch, unterm grünen Porzellanschirm der Deckenlampe, aufrecht auf dem Stuhl mit steiler Lehne, Coppis Mutter. Von ihrer halbtägigen Schicht in den Telefunkenwerken am Halleschen Ufer zurückgekehrt […]. (ÄdW1: 25f.)

Quasi gemeinsam mit dem Erzähler und seinen beiden Freunden Coppi und Heilmann betritt die Leserin der »Ästhetik des Widerstands« hier die Wohnung der Familie Coppi im Anschluss an den Besuch des Pergamonmuseums. Nach außen als treuer Abonnent des Völkischen Beobachters getarnt, erscheint das Innere der Arbeiterwohnung als ein verbliebener Ort der Möglichkeit zum Widerstand. Trotz der zunehmenden äußeren Bedrohung sitzt nicht nur Coppis Mutter noch »aufrecht«, sondern es gelingt während gemeinsamer Gespräche immer erneut, »das Gefühl einer überwältigenden Niederlage« (ÄdW1: 26) zu überwinden in einem Zusammenhang, in dem es, trotz der scheinbaren Ausweglosigkeit, bestimmte Haltepunkte und Richtlinien gab. Nach dem Versäumnis des Zusammengehns, nach der Zerschlagung unsrer Organisationen, besaßen wir, in der grünlich umdunkelten Kammer, eine Reihe gemeinsamer Vorstellungen, die unverrückbar waren und zu denen von außen her Anweisungen und Nachrichten übermittelt wurden. War die Dichte innerhalb der Küche, deren Fenster Coppi nun mit einem Verdunklungspapier auslegte, auch fast hermetisch, so gab es doch schon Perspektiven, welche uns mit Aktionen verbanden, die an geographisch bestimmbaren Orten zu heftigen Auseinandersetzungen und Zusammenstößen führten. (ÄdW1: 27)

Die private Wohnung wird zum politischen Ort, an dem sich in Deutschland widerständige Gemeinsamkeit sogar jenseits von Klassenschranken konstituiert. So gab es in Coppis Familie, wie auch früher bei uns zuhause, Anteilnahme an allen Erörterungen über die Fragwürdigkeiten des politischen Lebens. Diese Möglichkeit, auch die eignen Unklarheiten und Trugschlüsse besprechen zu können, war entscheidend für unser Weiterkommen, und Heilmann war hier in Coppis Küche zugehöriger als im Westender Elternhaus. (ÄdW1: 30; vgl. auch ÄdW1: 31)

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Die Wohnung der Coppis steht dabei exemplarisch für den privaten Wohnraum sämtlicher Widerständiger der Arbeiterbewegung: Sie ist nicht nur eingebunden in ein kommunikatives Netz, das sie als Teil eines größeren Plans und Kampfes erscheinen lässt (vgl. ÄdW1: 29), sondern der Erzähler konstatiert, »alles glich der Einrichtung in unsrer Wohnung in der Pflugstraße«. Zudem spricht er von einer außenliegenden »Feindlichkeit, hier und da durchsetzt von ähnlich kleinen verriegelten Räumen« (beide Zitate ÄdW1: 26), und erzeugt damit den Eindruck eines umfassenden Zusammengehörigkeitsgefühls, das die konkrete Gruppe der Personen in Coppis Wohnung übersteigt. Entsprechend findet sich der Erzähler auch im weiteren Romanverlauf immer wieder gemeinsam mit anderen Menschen in Rückzugsräumen, in denen das gemeinsame politische Gespräch geführt und die eigene politische Identität bestätigt oder reflektiert werden kann: zunächst in Spanien im von Max Hodann geleiteten Feldlazarett, dann in Schweden vor allem in Bertolt Brechts Quartier. Eine auch internationale Verbundenheit der Arbeiterschaft wird so wiederholt raumsemantisch in Szene gesetzt: Nicht etwas Fremdartiges hatte der Besuch im Gehöft wachgerufen, vielmehr Bekanntes anklingen lassen. Der Kreis um den Tisch erinnerte mich an den Raum, in dem ich, von Kindheit an, zu Hause war, so hatten auch wir immer gesessen, in der Nähe des Herds, auf hölzernen Stühlen. In der Wohnküche der Bauern hatte sich meine Zusammengehörigkeit mit dem Land mehr gefestigt, als während der Monate im Herrensitz von Cueva, wo ständig das Wirken einer andern Klasse gewärtig war. Diese Feindlichkeit war eingeräuchert gewesen in die Wände, sie knirschte uns aus jeder sich öffnenden Tür, jeder beschrittnen Treppenstufe entgegen. (ÄdW1: 268)

Auch in »Zündschnüre« manifestiert sich antifaschistische Gemeinschaft über das wiederholte Zusammentreffen entsprechender Figuren in geschützten Räumen, wobei hier ebenfalls der Wohnküche respektive dem Wohnraum der Arbeiter als Ort selbstverständlicher Solidarität besondere Bedeutung zukommt: Nach der Verhaftung Heini Spormanns zu Beginn des Romans »kamen die Nachbarn und setzten sich in die Küche« (Z: 14f.). Sein Sohn Fänä sucht reihum Zuspruch bei seinen Besuchen der Freunde, in deren häusliches Leben er immer zwanglos integriert wird: Bei Viehmann guckt er auf das Foto »an der Wand über der Sitzbank« (Z: 15), während sein Freund und dessen Mutter handarbeiten. Bei Tünnemann, der nach einer Ausbombung mit seiner Großmutter und den vier Schwestern in einem Eisenbahnwaggon wohnt, »hockten [sie] in der winzigen Wohnstube um den runden Tisch« und aßen dampfendes Kraut und Wellfleisch, tranken Schabau und sprachen laut und durcheinander, wie immer wenn sie zusammenwaren. (beide Zitate Z: 17)

Während seines anschließenden Besuchs bei Krachs »kriegte er wieder eingeschüttet« (Z: 19) und zum Abschluss bei Sugga und ihrer Mutter, die er ebenfalls

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»auf dem Tisch« (Z: 20) sitzend beim Handarbeiten antrifft, trinken sie auch »noch ein Gläschen Schabau« (Z: 21). Die Gemeinsamkeit der dargestellten Gemeinschaft ist hier nicht zuletzt eine der alltäglichen Lebenswirklichkeit, sie ist schmeck- und riechbar : »und es roch, wie es in allen Küchen so roch, die Fänä kannte« (Z: 153). Dass der private Wohnraum wie bei Weiss ebenfalls bei Degenhardt zu einem wichtigen Symbol politisch-sozialer Gemeinschaft wird, zeigt insbesondere auch das Ende des Romans: Nach dem überstandenen Krieg und der Rückkehr der verhafteten Männer hockten sie wieder zusammen bei Spormanns wie früher, die ganze Fraktion, natürlich auch Tünnemanns Vater, redete wie die Alte, und Fänäs Vater saß oben am Tisch, sagte, Genossen, wir sind doch erst bei Punkt zwei undsoweiter, wie früher, und Anna Spormann saß am Herd, sagte Psst als Fänä reinkam, ist Sitzung, und Fänä verschwand wieder leise, wie früher. (Z: 249)

Gemeinsam ist beiden Texten also, dass sie eine Fortexistenz antifaschistischer Gemeinschaft auch angesichts des NS-Terrors zur Schau stellen, indem sie Räume uneingeschränkter Solidarität vorführen.627 Bei Weiss allerdings kulminiert der fortwährende Rückzug der Widerständigen schließlich in der Zerschlagung auch der letzten räumlichen Refugien von Widerständigkeit im Inland: Heilmanns Warnung vor der Enttarnung erreicht die Mitglieder der ›Roten Kapelle‹ bei ihrem somit letzten Zusammensein in der Wohnung von Adam und Greta Kuckhoff, bei dem sie noch einmal die Vorstellung von einer klassenübergreifenden Einheitsfront beschwören (vgl. ÄdW3: 190–199). Der entsprechende Absatz des Romans schildert parallel dazu zudem die letzten Momente von Ilse Stöbe in Freiheit, die in ihrer Wohnung mit Charlotte Bischoff ihr weiteres Vorgehen bespricht, sowie das häusliche Leben der Familie Hübner, bei der Hössler, ehemaliger Brigadist des Beimler Bataillons und nun sowjetischer Agent, Zuflucht gefunden hat und die in der Hinterstube ihres Fotogeschäfts Ausweispapiere und Lebensmittelkarten herstellt. Das »Schrillen der Telephonglocke« (ÄdW3: 199) beendet die Gespräche, versetzt die Anwesenden in Furcht und der Romanabsatz endet mit folgenden Worten des Erzählers, denen anschließend Heilmanns Abschiedsbrief »an Unbekannt« (ÄdW3: 199) folgt: Aber jetzt gab es überhaupt nichts mehr, was zu Ende geführt werden konnte, keinen Gedanken, kein Werk, kein Leben, alles würde zum voreiligen, sinnlosen Abbruch kommen, und nur noch der Schrecken war da, aus dem es ihnen zurief, auf, raus, weg, weg von hier. (ÄdW3: 199)

Im Unterschied zum Weiss-Roman, wo letztlich auch diese kleinsten Zellen widerständiger Gemeinschaft ›gesprengt‹ werden (»auf, raus, weg, weg von hier«), bleibt in »Zündschnüre« der Einflussbereich der Antifaschisten trotz der 627 Vgl. ähnlich Prümm 1977: 61.

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Bedrohung durch die NS-Repräsentanten auch im Inland nicht nur auf diese häusliche Sphäre beschränkt. Während der Erzähler der »Ästhetik des Widerstands« die zunehmende »Eingeschlossenheit«, »Machtlosigkeit« (beide Zitate ÄdW1: 26) und »Isolation« (ÄdW1: 29) der in Deutschland verbliebenen politisch aktiven Arbeiter oder politisch links orientierten Intellektuellen in ihren Wohnungen betont, entsteht bei Degenhardt eine regelrechte Enklave, in der auch während des Krieges das Kollektiv der Arbeiter als machtvoll und dominant erscheint. Der Roman-Titel »Zündschnüre« deutet es bereits an: Hier zeigt sich ein kämpferisches Kollektiv, das auch über Mittel verfügt, sich zur Wehr zu setzen, wie nicht nur das routinierte Hantieren mit Zündschnüren und Sprengstoff durch Berta Niehus zeigt (vgl. Z: 62ff.). Die Arbeiter des Romans wirken wie die eigentlichen Herrscher sowohl der Fabrik, deren Produktion sie wiederholt durch Sabotageakte stören (vgl. Z: 39 und 79), als auch der »Unterstadt« und ihrer Umgebung, in der vor allem die Jugendlichen sich souverän bewegen und sich gegen Machtansprüche der Nationalsozialisten – im Roman wiederholt als die »Braunen« (vgl. exemplarisch Z: 59f., 83, 124, 140) bezeichnet – behaupten: Sie nutzen die »Erlenhöhle« als Versteck für Verfolgte (vgl. Z: 41– 51, 209–227) und entwenden wiederholt größere Mengen Nahrungsmittel, die für die Wehrmacht gedacht waren (vgl. Z: 53–65, 201–207). Sogar Szenen, die die Verhaftung der Männer durch Vertreter des NS-Staates zeigen, lassen die antifaschistische Gemeinschaft als überlegene erscheinen und verstärken den »Charakter des Hermetischen«; die Polizei muss »wie eine Patrouille in Feindesland eindringen«628 : Das war das Zeichen. Aus allen Häusern klapperte, schepperte, bumste und pfiff es so laut, daß man auch die Lok nicht mehr hörte. Heini Spormann stand am Fenster und lachte beinahe. Wie lange wollt ihr noch mit uns allen fertig werden, rief er dem Kleinen zu und einer von den schweren Bullen haute ihm die Hand ins Gesicht. […] Als sie Heini Spormann in das Auto drückten, wurde der Lärm so laut wie in der Maschinenhalle, Blumentöpfe flogen auf die Straße, alte Pötte auch auf das Auto, das im Rückwärtsgang aus der Straße raste. (Z: 14)

Nicht nur die Verhaftung Spormanns wird von aufbrausendem Protestlärm begleitet, sondern auch die Schilderung des Abtransports des Sozialdemokraten Dautzenberg zeugt von einer – durchaus merkwürdigen – Verkehrung der Machtverhältnisse: Am Mittag, kurz vor Schichtschluß, kamen dann zwanzig Polizisten und einige Zivile mit Mannschaftswagen ins Werk, die Polizisten mit Maschinenpistolen, holten Dautzenberg aus der Meisterbude und umkreisten ihn, zweihundertfünfzig Leute schlugen mit ihren Werkzeugen auf Fässer und Bleche, aus Dreherei und Kanisterbau kamen die Leute auf den Platz, stumm, und aus den Häusern im Viertel hallte das Blechkonzert. 628 Beide Zitate Prümm 1977: 58.

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Die Frauen schrien dazwischen und die Polizisten zielten mit ihren MPs auf die Leute und auf die Fenster in den Häusern. Sie hatten Angst. Dautzenberg, blaß und hochgereckt, schritt wie ein General an seiner Truppe vorbei. Sie schoben ihn in den Mannschaftswagen, sprangen hinterher, als der Wagen schon losfuhr, und dann raste der Wagen mit Sirene und quietschenden Bremsen aus dem Werk. Sie haben Angst, sagte Fänäs Mutter, richtige Angst. Wenn wir doch bloß mehr wären. (Z: 79f.)

Selbst »[d]ie von der Werkwache« sind »vorsichtig« (beide Zitate Z: 54), stören eine gemeinsame Geburtstagsfeier der Arbeiter mit den ausländischen Zwangsarbeitern nicht, und gegen den Werkwachenchef wissen sich die widerständigen Arbeiter ebenfalls zu wehren: Fänä dachte an die beiden Vorgänger von dem neuen Chef der Werkwache. Beide waren schon nach kurzer Zeit gestorben. Der eine unter einer Ladung Fässer, die sich vom Kran gelöst hatte, der andere unter der Lok beim Rangieren. Dieser jetzt war ein ganz Scharfer und man mußte sich da wohl bald Gedanken machen. Und Hugo, der ähnliches gedacht hatte, sagte, der Scheißkerl wird hier nicht alt. (Z: 24)

Trotz der durchaus auch bei Degenhardt erzählten Niederlagen der Arbeiterbewegung – die Nachrichten vom Tod Dautzenbergs (vgl. Z: 80f.) und von der Ermordung Ernst »Teddy« Thälmanns (vgl. Z: 142f.) lösen große Trauer im Viertel aus – entwirft der Roman somit insgesamt die Vorstellung einer ungebrochen starken Arbeiterschaft, eines »kämpferischen Proletariats« (Z: 181). Während in Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands« gerade die Niederlagen der Antifaschisten – von den revolutionären Kämpfen 1918/19 über die beginnende Verfolgung nach 1933, die Niederlagen im Spanischen Bürgerkrieg, die fortwährende Flucht und Gefährdung der Exilierten bis hin zur drastischen Schilderung der Hinrichtungen am Ende des dritten Bandes – zur Schau gestellt werden,629 führt »Zündschnüre« eine Gemeinschaft vor, die die Bedrohung durch die nationalsozialistische Herrschaft mehr oder weniger unbeschadet übersteht. So ist zwar beiden Romanen an ihrem Schluss ein zirkuläres Moment gemeinsam: Der Ich-Erzähler von Weiss richtet seinen Blick am Ende wieder auf das Pergamonfries, Degenhardts Helden sitzen wieder vereint in der Spormann’schen Küche. Während aber in der »Ästhetik des Widerstands« eine hoffnungsvollere Zukunft nur im Konjunktiv antizipiert werden kann – »sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs« (ÄdW3: 268)630 –, wird das Happy End bei Degenhardt im Indikativ Realität (eine Realität allerdings, die aus der Perspektive zeitgenössischer Rezipienten in den 1970er Jahren ver629 Vgl. auch Prümm 1977: 62; und Vogt 1987: 117. 630 Vgl. Huber 1990: 389ff.

Politisch-soziale Positionierungen und Perspektivierungen

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mutlich als ebenso utopisch erscheint wie die angedeutete Möglichkeit einer Utopie bei Weiss).

5.2.2 Außensicht: Zur Vagheit der nationalsozialistischen/faschistischen Anderen Entsprechend gestaltet sich die Konfrontation mit den »Braunen« im Degenhardt-Roman – wie vor allem die beiden oben bereits erwähnten Verhaftungsszenen zeigen – eher als ein punktuelles Eindringen in eine ansonsten intakt bleibende linke Sphäre. Bei Peter Weiss dagegen beschreibt der Ich-Erzähler ein zunehmendes Vordringen der feindlichen Macht, das den eigenen Handlungsspiel- und Lebensraum der antifaschistischen Gemeinschaft stetig verkleinert. Zunächst sind nur die privaten innerdeutschen Zellen »immer schwerer aufzuspüren oder schon nicht mehr zu finden« (ÄdW1: 26), dann zeichnet sich die Niederlage der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg ebenso ab – »[z]usammengeschnürt war unsre kleine spanische Bastion« (ÄdW1: 302) – wie die von den Westmächten nicht gestoppte Expansionspolitik der Nationalsozialisten, die mit dem Anschluss Österreichs ihren ersten deutlichen Ausdruck findet (vgl. ÄdW1: 302–305). Schließlich bietet selbst Schweden als Exilland nicht mehr ausreichend Schutz für Verfolgte: Der Brecht’sche Haushalt muss überstürzt aufgelöst werden (vgl. ÄdW2: 310–319). Unbenommen dieser Unterschiede stehen aber sowohl bei Degenhardt als auch bei Weiss gerade nicht die ein- oder vordringenden nationalsozialistischen Anderen im Zentrum der Wahrnehmung der Erzählinstanzen. Diese fokussieren mehr oder weniger ausschließlich Geschehen und Gespräche innerhalb der entworfenen Gemeinschaft, unabhängig davon, wie einflussreich oder -los sie erscheinen mag: Die eigene Gemeinschaft wird differenziert beschrieben, Repräsentanten der ein- oder vordringenden Macht aber werden nur aus der Außensicht wahrgenommen und bleiben daher wiederholt relativ abstrakt. So wirken NS-Figuren oftmals wie bloße Verkörperungen des faschistischen Feindes. In »Zündschnüre« treten sie erstmals bei der Verhaftung von Heini Spormann zu Beginn des zweiten Kapitels als Verfolger der widerständigen Arbeiter in Erscheinung. Mehr als dass es sich bei den Repräsentanten der Staatsmacht um »vier Männer« handelt, erfährt die Rezipientin kaum: Heini Spormann stand am Fenster und lachte beinahe. Wie lange wollt ihr noch mit uns allen fertigwerden, rief er dem kleinen zu und einer von den schweren Bullen haute ihm die Hand ins Gesicht. Fänä kam vom Fenster, bewegte sich langsam auf die Sitzbank zu, in der die siebenfünfundsechzig Walther lag, und gerade als er die Hand dazwischen hatte, ließ sich sein Bruder auf die Bank fallen. […] Karlheinz legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte,

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Ruhe. Dann stand er auf, aber der andere Bulle hatte eine Nullacht in der Hand und sagte, noch ein Piep und wir nehmen euch alle mit. […] Dann zog er [Heini Spormann; Anm. M. S.] die Jacke an und die Bullen schoben ihn zur Tür raus. Der Kleine blickte nochmal in der Küche herum, zuckte in den Schultern und ging hinterher. (Z: 14)

Die Konzentration der Geschehensdarstellung auf Fänäs von den Polizisten unbemerkten Widerstandsversuch sowie die umgangssprachliche Bezeichnung als »Bullen« verdeutlicht, dass aus der hier dominierenden Wahrnehmungsperspektive die NS-Repräsentanten als Eindringlinge ohne wahrnehmbares individuelles Profil erscheinen (vgl. auch Z: 62, 76 und 157ff.). Generell betreten die »Bullen«, »Braunen« oder »Nazis« (exemplarisch Z: 145 und 237) im Roman von Degenhardt oft in Gruppen und in ihrer Funktion als Gegner der Arbeiter die literarische Bühne, nur vereinzelt als Figuren mit einer individuellen Biographie.631 Dafür, dass die Nationalsozialisten größtenteils wie ein wenig differenzierter alteritärer Gegenpart des erzählerischen Standpunktes wirken, sorgt auch die Verwendung des Indefinitpronomens »man« – »Otto Ronsdorf hatte man vor drei Jahren abgeholt.« (Z: 15; vgl. auch Z: 16) – sowie besonders auffällig die elliptische Darstellung des Sterbens Dautzensbergs: Auf die oben bereits zitierte Schilderung seiner Verhaftung folgt unmittelbar die Feststellung »Drei Tage später war Dautzenberg tot, hätte sich in der Zelle erhängt« (Z: 80). Auch in »Die Ästhetik des Widerstands« zeigt sich diese Tendenz zur undifferenzierten Sicht auf NS-Repräsentanten als Andere: Auf dem Weg zum engen, niedrigen Ausgang an der Seite des Saals leuchteten uns oft aus den kreiselnden Verschiebungen in der Menge der Besucher die roten Armbinden der schwarz und braun Uniformierten entgegen, und immer wenn ich im weißen runden Feld das Emblem auftauchen sah, rotierend und hackend, wurde es zur Giftspinne, schroff behaart, gestrichelt mit Bleistift, Tinte, Tusche, unter Coppis Hand, wie ich es von der Schulklasse des Scharfenberger Instituts her kannte, als Coppi neben mir am Pult gesessen hatte, über kleinen Abbildern, Beilagen aus Zigarettenschachteln, über ausgeschnittenen Zeitungsillustrationen, das Wahrzeichen der neuen Herrscher verunstaltend, die feisten Gesichter, die aus den Uniformkragen herausragten, mit Warzen, Hauern, bösen Falten und rinnendem Blut versehend. (ÄdW1: 11)

Nicht nur bei dem hier beschriebenen Besuch des Pergamon-Museums, sondern auch bei der Schilderung der Annexion Österreichs sowie der Besatzung Schwedens durch die Wehrmacht treten die Akteure und Ausführenden der nationalsozialistischen Politik bei Peter Weiss lediglich als Bestandteile einer Masse in Erscheinung. In Wien wartet eine »Menge auf dem Marktplatz« (ÄdW1: 300) auf die Ankunft Hitlers, die den Zuhörern am Radio in Spanien nur als ungeheure »Macht« erkennbar wird: 631 Zur Figur des Berti Bischoff als einer prägnanten Ausnahme vgl. Kap. 5.5.1.

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Dieses Gelächter, das aus einem Hohlraum auf uns zukam, dieses Höllengelächter, hatte nichts mehr zu tun mit dem selbstzufriedenen, fatalistischen Johlen, das wir von Massenveranstaltungen her kannten, es entsprach einem Rausch, in dem das Verlangen nach Blut, nach Mord lag. In diesem Augenblick erkannten wir die sich auftürmende faschistische Macht, die ungeheure Stärke, die uns gegenüberstand und weiter anwachsen würde, ein noch nicht vorstellbares Ausmaß an Gegenwehr fordernd. (ÄdW1: 301f.)

Die Besatzungssoldaten in Schweden sind ebenfalls »gegenwärtig […] nur als graue, unsäglich trübe, bleiernde Masse« (ÄdW2: 320). Zwar betont der IchErzähler zunächst seine Gemeinsamkeit mit den deutschen Soldaten: »dort angetreten war mein Jahrgang«, sie kennten »dieselben Städte und Zeiten, sprachen und träumten dieselbe Sprache«, zudem hatte ein »unheilvolles Land […] uns [Hervorhebung M. S.] ausgestoßen« (alle Zitate ÄdW2: 319). Aber dieses vom Erzähler erwogene »uns« wird von ihm sofort wieder in ein »ich« und ein vages »sie« aufgespalten: »ich hatte zu lernen gehabt, sie wollen dich auslöschen« (ÄdW2: 320; vgl. auch ÄdW2: 325f.). Außerdem bleiben im Weiss-Roman NS-Repräsentanten weitgehend anonym. Während die eigene antifaschistische Gemeinschaft durch die beinahe exzessive Nennung von Namen als komplexes Gebilde erscheint (vgl. Kap. 5.5.3), werden vor allem die politisch exponierten Repräsentanten des deutschen NSStaates, allen voran Adolf Hitler, nicht zuletzt dadurch zu relativ vagen Erscheinungen, dass eine Nennung ihrer Namen vermieden wird: Hitler wird stattdessen beispielsweise als »der in Braunau Geborene« (ÄdW1: 300), »Feldherr[ ]«, »Schnurrbärtige[r]« (beide Zitate ÄdW1: 302), als »Eroberer Österreichs« oder »der Braunauer« (beide Zitate ÄdW1: 304) bezeichnet (vgl. auch ÄdW1: 110 und ÄdW3: 127, 212), Joseph Goebbels als »der Kleine«, beide zusammen als »die beiden Schamanen« (beide Zitate ÄdW1: 110). Auch die Vorstellung des Reichsführers-SS als »jener namens Himmler« (ÄdW1: 300) erzeugt durch das verwendete Demonstrativpronomen den Eindruck von Distanz. Es wirkt, wie Jörg Drews zu Recht feststellt, »nur wie mit spitzen Fingern angerührt«632. Drews nennt zwei mögliche Gründe für diese Nichtbenennungen: Weiss habe »erstens eine falsche Personalisierung der ganzen Untaten« vermeiden wollen und zweitens wäre mit der »Nennung zugleich ihre so überwältigende negative Aura gegenwärtig« geworden, »was in einem Buch misslich wäre, in dessen Zentrum der Kampf gegen das Böse in Gestalt des Faschismus und die Kritik am ›Prinzip der Diktatur von oben‹ stehen«633. Auch Achim Kessler erklärt die Nicht-Benennung der NS-Oberen unter anderem mit dem Versuch von Weiss, in seinem Roman stärker strukturgeschichtliche als bio632 Drews 1987: 125. Vgl. dazu auch Kessler 1997: 61f. 633 Beide Zitate Drews 1987: 125.

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graphische Erklärungsmuster für Aufstieg und Politik des Nationalsozialismus vorzuführen. Allerdings übersieht er dabei nicht, dass es gerade auch die auffällige Nicht-Benennung der bekannten NS-Repräsentanten ist, die einer Dämonisierung des Nationalsozialismus Vorschub leistet.634 Semantisch zugespitzt wird die dämonisierende Entindiviualisierung und Entkonkretisierung des Nationalsozialismus in dem dreibändigen Werk von Weiss schließlich durch die wiederholte Rede vom »Feind« (vgl. exemplarisch ÄdW1: 303; und ÄdW2: 129, 159): »Dem Feind entgangen und schon auf dem Weg, dem Feind aus eignem Entschluß zu begegnen« (ÄdW3: 70), mit diesen Worten skizziert Bischoff die Situation ihrer illegalen Einreise nach Deutschland. Im »Reich des Feinds verheerenden Angriffen ausgesetzt« (ÄdW3: 91) findet sie sich nach ihrer Ankunft in Bremen im Luftschutzkeller in dem »befremdenden Zustand, mit ihren Feinden im selben Unterstand zu sein« (ÄdW3: 90), wieder. Wer genau dieser Feind ist und vor allem wie oder ob in dieser Benennung Nationalsozialismus und Nation zusammen gedacht werden, bleibt hier zunächst weitestgehend offen. Matthias Köberle hat in seiner Dissertation »Deutscher Habitus bei Peter Weiss« (1999) gerade diese hier zu beobachtende relativ pauschale, undifferenzierte Darstellung des und der Deutschen in der »Ästhetik des Widerstands« (sowie in den entsprechenden Notizbüchern von Weiss) in den Blick genommen. Zwar kann ich Köberles Ausgangsthese, dass in dem Roman »die ›deutsche Problematik‹ zentral angesprochen wird«635, ebenso wenig folgen wie seiner Tendenz, die Protagonisten als »deutsche Antifaschisten«636 zu beschreiben, das Geschehen primär als die »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« oder als ein »dichtes Bild deutscher Exil- und Oppositionsgeschichte der Jahre 1933– 45« zu lesen und »schließlich gesellschafts- wie kulturpolitische Diskussionen der deutschen ›Linken‹ der 20er, 30er und 40er Jahre«637 herauszustellen. Seine Beobachtungen zur Darstellung der Deutschen im Roman aber überzeugen: »Die Deutschen« bleiben im Roman auf eigentümliche Weise unsichtbar, unkenntlich, erscheinen bisweilen als »graue, unpersönliche Kraft« (1, 197). […] Diese repräsentieren aus der Perspektive des (deutschen) Erzählers wie der (deutschen) Protagonisten die andere, die gleichsam »negative« Seite eines Verhältnisses, das simplifizierend durch die Positionen »aktive antifaschistische Opposition« hier, »übrige Deutsche« da, konstituiert wird. Der Rekurs auf »die Deutschen« […] überdeckt

634 Vgl. Kessler 1997: 62f. (in Anlehnung an Aufsätze von Martin Rector [1983] und Ursula Heukenkamp [1987]). 635 Köberle 1999: 13. 636 Köberle 1999: 17. Hervorhebung M. S. 637 Beide Zitate Köberle 1999: 18. Hervorhebung M. S.

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gewissermaßen alle denkbaren sozialen Ebenen, die historisch-wissenschaftliche Analyse differenziert in Blick zu nehmen hätte […].638

So ist zwar die nationale Dimension als Bezugsrahmen des Erzählens im Roman zu Gunsten der politisch-sozialen Bezüge des Textes weniger zentral zu setzen, als dies Köberle tut, aber in der Tat irritiert möglicherweise auf den ersten Blick die Vagheit und der recht pauschale Entwurf des und der Deutschen im WeissRoman, der von der Forschung vor Köberle weitestgehend unbeobachtet blieb: Das Bild, das Peter Weiss in der ÄdWund den Notizbüchern von »den Deutschen« bzw. ihrem vermeintlichen Habitus zeichnet, wurde in der Sekundärliteratur, abgesehen von einzelnen Hinweisen, bisher ausgeblendet. Will man dieses bemerkenswerte Phänomen erklären, so wäre nicht zuletzt auf die Möglichkeit einer vom Weiss’schen Werk ausgehenden Irritation als Ursache einer solchen – vielleicht interessierten? – Nichtthematisierung hinzuweisen. Ließen sich im Weiss’schen Frühwerk, insbesondere in den unmittelbar nach dem Krieg entstandenen Deutschlandreportagen Zurückhaltung, Skepsis, ja Ablehnung im Hinblick auf den Wert von Kollektivbeschreibungen feststellen […], so müssen pauschale Attribuierungen »der Deutschen«, wie sie Weiss im Roman und den Notizbüchern vornimmt, geradezu irritieren und – mit Blick auf das in der Öffentlichkeit bestehende »Bild« des »kritischen« Autors Peter Weiss – auch verunsichern. […] Immerhin wirken Versuche pauschaler »Eigenschafts«-Zuweisungen wie ein Fremdkörper in einem Werk, das […] aufs ganze gesehen der politischen Aufklärung, der »Erziehung« zu politisch-historisch rationaler Analyse verpflichtet ist.639

Im Unterschied zu Köberle wird im Folgenden die Vagheit oder Pauschalität der Deutschen-Darstellung allerdings nicht auf möglichen »›Haß‹, Abneigung oder Antipathie« des Autors Weiss gegenüber den Deutschen zurückgeführt. Stattdessen geraten die »Momente emotional-aufgeladener, schematisierender bzw. pauschal-stereotypisierender Attribuierung«640 – eher analog zu Köberles Überlegungen zum Entwurf des Deutschen als »Kontrastfolie« zum linken »Vernunfthabitus«641 – in ihrer Funktion für den Entwurf einer sich abgrenzend konstituierenden antifaschistischen Gemeinschaft in den Blick.

5.2.3 Tradierung etablierter linker Grenzziehungen So lässt gerade die Konturlosigkeit der meisten nationalsozialistischen oder sonstigen gegnerischen Akteure es in beiden Romanen zu, das jeweils Andere mit solchen Konzepten, Attributen oder Etikettierungen in Verbindung zu bringen, 638 639 640 641

Köberle 1999: 19. Köberle 1999: 36. Beide Zitate Köberle 1999: 214. Vgl. auch Köberle 1999: 15f. Beide Zitate Köberle 1999: 216.

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die es zum konstitutiven Außen einer dezidiert antifaschistischen Gemeinschaft machen. Im Degenhardt-Roman wird hier vor allem die wertende Gegenüberstellung von erstens »Oberstadt« und »Unterstadt«, die eine soziale Grenzziehung zwischen Proletariat und Bürgertum symbolisiert (vgl. exemplarisch Z: 25f., 173 und 240f.),642 zweitens von politisch konservativen »Schwarzen« und »Roten« (vgl. exemplarisch Z: 68f., 95, 210 und 247) sowie drittens von Westalliierten und sowjetischer Armee relevant. Letztere repräsentiert einen Gegensatz von kapitalistisch versus kommunistisch verfassten Gesellschaften, wobei die fiktiven Protagonisten durch die Verwendung des Possessivpronomens »unsere« wiederholt ihre Verbundenheit mit der kommunistischen Sowjetunion und deren Armee artikulieren (vgl. auch Z: 90 und 247): Oder man las Flugblätter. Zentnerweise flogen die aus den Flugzeugen Tag und Nacht hinter den Bomben her auf die Straßen und Dächer. […] Das Ruhrgebiet war nämlich jetzt Todeszone. […] Es sind unsere Alliierten, sagte Berta Niehus, und den totalen Krieg haben die Faschisten gewollt, das sollten wir festhalten. Und trotzdem – das hier atmet den Geist der Feindschaft gegen Arbeiterklasse und Volk. Die Regierenden, die so etwas planen und ausführen lassen, sind niemals unsere Freunde. Herta Ronsdorf sagte, soll mich mal verlangen was das wird, wenn sie erst mal hier sind auf der Erde bei uns. Vielleicht kommen Unsere doch noch, meinte jemand […]. (Z: 209f.; Hervorhebung M. S.; vgl. exemplarisch auch Z: 12 und 84f.)

Ähnliche Gegenüberstellungen, die ein Wir im Roman vom Sie der Anderen abgrenzen, dominieren auch bei Peter Weiss. So wird auch dort wiederholt eine »Kluft zwischen den Klassen« (ÄdW1: 38) konstatiert, deren Existenz bis in die antike Frühgeschichte zurückprojiziert wird: Sie standen auf der Seite des Fortschritts, sie verteilten die Arbeit, sie holten sich heran, den sie brauchten, sie entließen den, der ihnen nicht mehr passte, sie gründeten Werkstätten und Fabriken, sie trieben, nachdem die ägyptischen Behörden die Ausfuhr von Papyros verboten hatten, die Herstellung von Schreibhäuten voran, sie entwickelten die Technik des Färbens von Schafwolle. Weberinnen, Sandalenmacher, Schneider und Schmiede waren für sie am Werk […]. Damals, sagte Coppi, entstand der Vorsprung, den sie uns gegenüber einnehmen und der uns immer wieder vor die Tatsache stellt, daß alles von uns Erzeugte hoch über uns verwertet wird und daß es, wenn überhaupt erreichbar, uns von dort oben zukommt, wie es auch von der Arbeit heißt, daß sie uns gegeben wird. (ÄdW1: 40f.; Hervorhebung M. S.)

642 Ähnlich wurde die »Oberstadt« bereits in dem 1965 veröffentlichten, wohl bekanntesten Lied von Franz Josef Degenhardt »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« auf dem gleichnamigen Album zum Symbol für soziale und habituelle Unterschiede. So lautet der Refrain: »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, / sing nicht ihre Lieder. / Geh doch in die Oberstadt, / machs wie deine Brüder!« (Sch: 88f.) Die »Oberstadt« wird hier dem Umfeld der »Schmuddelkinder« gegenübergestellt.

Politisch-soziale Positionierungen und Perspektivierungen

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Außerdem wird – insbesondere im Zuge der Schilderung des Spanischen Bürgerkrieges im zweiten Teil des ersten Bandes – eine strikte Abgrenzung zu den Westmächten etabliert, die vor allem aus der Perspektive des in den 1930er Jahren agierenden Ichs in ihrem »Drang zum Expandieren, zum Besitzergreifen, zur kolonialen Ausbeutung« (ÄdW1: 303) dem nationalsozialistischen Deutschland glichen (vgl. exemplarisch ÄdW2: 114, 223 und ÄdW3: 136f., 263f.). Das die antifaschistische Gemeinschaft begründende Außen ist hier nicht allein der deutsche Faschismus, sondern sind alle Manifestationen des Kapitalistischen, denen sich das erzählerische Wir gegenüber sieht: Es ging nicht allein um die Bekämpfung des Faschismus, dieser war, wenn sich in ihm die Gewalt auch am deutlichsten abzeichnete, nur Teil eines weltweiten Zerstörungsplans, hinter dem Schaltwerke von Trusts und Kartellen standen. Alle Kontinente waren durchsetzt von Raubtum, Knechtung, Aussaugung, und die Mächte, die uns alle erschrecken und lähmen wollten, waren keine Phantome, sondern alle beim Namen zu nennen. (ÄdW2: 171f.; Hervorhebung M. S.)

Ergänzt werden diese Grenzziehungen in der »Ästhetik des Widerstands« noch durch die kritische Abgrenzung vom Kleinbürgerlichen (vgl. ÄdW1: 139, 148, 172, 208, 233, 236 und ÄdW3: 173ff.) sowie Exklusionen des Deutschen aus der widerständigen Allianz: Würde eine Verständigung überhaupt noch möglich sein, fragten wir uns, würden jene, die dort schrien und das Heil und den Sieg heraufbeschworen, je zum Denken zurückkehren können, würden sie je imstande sein zu erkennen, was mit ihnen geschehn war. Wir begannen in dieser Nacht zu begreifen, auf welche Zeiträume hin der Kampf sich erstrecken würde […]. (ÄdW1: 302; Hervorhebung M. S.)

Nicht nationale Zugehörigkeit, sondern internationale Solidarität wird vom Erzähler wiederholt als gemeinschaftsbegründendes Moment betont (vgl. exemplarisch ÄdW1: 136, 208, 221, 267; und ÄdW2: 154); ähnlich wie dies auch im Degenhardt-Roman in der Zusammenarbeit der deutschen Arbeiter mit den sowjetischen Zwangsarbeitern zum Ausdruck kommt (vgl. exemplarisch Z: 8– 12, 55, 95, 247–249).

5.2.4 Kollektives Erzählen und seine Reflexion in der »Ästhetik des Widerstands« In Figuren- und Erzählerrede beider Romane werden also typische antifaschistische Grenzziehungen, die die Abgrenzung vom Anderen nicht nur als Kampf gegen die nationalsozialistischen Gegner, sondern vor allem als Antikapitalismus erscheinen lassen, scheinbar unreflektiert fortgeschrieben. Expliziert wird eine entsprechende Zugehörigkeit zu einer antifaschistischen Ge-

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meinschaft vor allem beim Weiss’schen Erzähler, aber auch in der Figurenrede in »Zündschnüre« zudem durch Formen kollektiven Erzählens, in denen sich das sprechende Ich durch die Verwendung des Personalpronomens der 1. Person Plural (s. auch Hervorhebungen in den obigen Zitaten) dezidiert als Mitglied einer Gruppe ausweist. So konstatiert Ingeborg Gerlach mit Blick auf den Romananfang bei Peter Weiss: Noch bevor er als Ich in Erscheinung tritt, stellt sich der Erzähler als Angehöriger einer Klasse dar, der Unterdrückten […].643

Achim Kessler beschreibt das kollektive Erzählen mit Blick auf »Die Ästhetik des Widerstands« passend als eine »›synchrone‹ Erweiterung des Ich-Erzählers«644 : Die Zusammensetzung dieses Kollektivs differiert, muß also für jeden Textabschnitt des Romans neu bestimmt werden. Das »Wir« umfaßt neben dem Proletariat in seiner Gesamtheit in unterschiedlichen Zusammenhängen auch Teilmengen aus diesem wie beispielsweise die Mitglieder der Arbeiterparteien oder nur der KPD. Die maximale Ausdehnung erfährt der Personenkreis, der durch die Wir-Form in das Bewußtsein des Ich-Erzählers einbezogen wird, wenn der Ich-Erzähler – oder andere Figuren […] – die Bündniskräfte der Arbeiterklasse, etwa die Intelligenz oder das linke Bürgertum, in die Solidargemeinschaft aufnehmen. Somit läßt sich der Ich-Erzähler neben seiner Funktion als Figur auf Handlungsebene auch als Chiffre des Kollektivbewußtseins des Proletariats beziehungsweise der unterdrückten Klassen und deren Bündniskräfte charakterisieren.645

Ähnlich weist auch Jürgen Link auf den variierenden Grad an Expansion beziehungsweise Kontraktion des Wir im Weiss-Roman hin, das zwischen »zählbaren Kleingruppen (zuweilen von bloß zwei Akteuren, vor allem dem Ich und seinem Vater) und Kollektiven: vor allem den Arbeitern, den Kommunisten, den in der Volksfront bzw. im Widerstand Engagierten«646 changiere. Zudem macht er auf die quantitative Dominanz des Wir-Erzählens in diesem Roman aufmerksam: Von den insgesamt 1196 Seiten herrscht auf 270 Seiten das Wir vor, auf 105 Seiten sind Wir und Ich etwa im Gleichgewicht, und nur auf 168 Seiten herrscht das Ich. Die restlichen 653 Seiten sind entweder traditionell in der 3. Person (Singular oder Plural) erzählt oder bestehen aus den langen Deskriptionen von Kunstwerken.647

Nicht zuletzt dieses Erzählen in der ersten Person Plural, das den Roman über weite Strecken prägt, sowie die Wechsel zwischen erster Person Singular und Plural tragen entscheidend zum Entwurf einer komplexen antifaschistischen 643 644 645 646 647

Gerlach 1991: 34. Kessler 1997: 129. Kessler 1997: 130. Link 2012: 157. Link 2012: 157. Der Seitenzählung Links liegt die 2005 im Suhrkampverlag erschienene einbändige Taschenbuchausgabe zugrunde.

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Gemeinschaft, die als identitätsrelevante Option erscheint, bei. Gerade wenn dieses Wir keine konkrete Figurenkonstellation bezeichnet, zum Beispiel dann, wenn mit ihm – wie vor allem im zweiten Teil des ersten Bandes – auf eine internationale, politisch links orientierte Solidargemeinschaft abgehoben wird, entwirft es als molares Wir tendenziell die Totalität einer Gemeinschaft, die unabhängig von ihren zählbaren Mitgliedern existiert.

Zur Repräsentanzfunktion des Erzählers Auf der einen Seite bleibt das Erzählen im Weiss-Roman also immer ein beteiligtes, im Sinne eines homodiegetischen Erzählens. Das Ich erzählt und reflektiert eigene Geschichte; seine und/oder – markiert durch Aussagen in der ersten Person Plural – die der Gemeinschaft, zu der es sich als zugehörig begreift. Insofern entwirft und verhandelt es im Erzählen seine kollektive Identität.648 Auf der anderen Seite jedoch orientiert sich sein Erzählen nicht in erster Linie an der Perspektive seines erlebenden Pendants. So stellt das Erzählen sich erstens oftmals (insbesondere in den ersten beiden Bänden des Romans) eher als Beschreiben, beinahe Wiedergeben von Handlungs-, vor allem Gesprächssituationen dar ; der Erzähler erscheint dann als Chronist, der die Diskussionen zwischen verschiedenen Figuren, die er miterlebte, dokumentiert (vgl. dazu auch Kap. 5.5.2). In solchen Passagen lässt sich von einer dominierenden externen Fokalisierung der Darstellung oder mit Genia Schulz von einem »Referat«649 des Erzählers sprechen. Zweitens zeigen sich in anderen Passagen durchaus Tendenzen zur internen Fokalisierung, die allerdings nicht ausschließlich, sogar nicht einmal in erster Linie die Figur des einen erlebenden Ichs in den Mittelpunkt stellen, sondern in Form variabler Fokalisierung verschiedene Figurenperspektiven berücksichtigen: Dies gilt vor allem für Passagen des zweiten und dritten Bandes, in denen die Figuren Bischoff (vgl. exemplarisch ÄdW2: 163f.) oder Svensson/Funk/Wehner (vgl. exemplarisch ÄdW3: 48–66) im Zentrum stehen. Dass das homodiegetische Erzähler-Ich der konventionellen Beschränkungen autobiographischen Erzählens enthoben ist, wenn es beispielsweise Einblick in die Wahrnehmung anderer Figuren ermöglicht oder mehr ›referiert‹ als Selbst-Erlebtes zu schildern, trägt zusammen mit der Ver648 Anders als Schulz, die mit Blick auf die Gestaltung der Ich-Erzählsituation konstatiert, dass »immer die Nähe zum auktorialen Erzähler erhalten« (Schulz 1986: 44) bleibe, erscheint mir daher in diesem Zusammenhang die Verwendung des Genette’schen Begriffsinstrumentariums und die damit einhergehende Unterscheidung zwischen Sprechinstanz und Wahrnehmungsperspektive gewinnbringender, ermöglicht sie doch eine noch präzisere Beschreibung der narrativen Strukturen, die in der »Ästhetik des Widerstands« zum Entwurf der narrativen Instanz als Repräsentant eines linken Kollektivs beitragen. 649 Schulz 1986: 43.

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wendung des autonarrativen Wir entscheidend zu seiner Deutung als »Personifikation einer Idee, d. h. eines Konzeptes historischer Subjektivität«650 bei.651 Wie in Literaturkritik und -wissenschaft wiederholt beschrieben wird, ist das Ich der »Ästhetik des Widerstands« kaum als »psychologisch authentisches Individuum«652 erkennbar.653 Andreas Huber schlägt daher vor, vom »Bildungsroman einer Idee«, nicht vom »Bildungsroman einer Person«654 zu sprechen, Genia Schulz verweist ähnlich auf allegorische Qualitäten des Roman-Ichs: Geboren am Tag der russischen Oktoberrevolution, der Geburt eines neuen Zeitalters […], ist das Ich auch Allegorie der revolutionären Arbeiterbewegung. Es besitzt kein individuelles Selbst, ist bloße Inkarnation des »Ich spreche« des Textes, Ausdruck des »Ich höre« […]. Als Zeuge ist es letztlich unbetroffen vom »Geschehen«, kann als kollektives Bewußtsein auftreten (»dachten wir, daß […]«), in dem alle möglichen Meinungen und Behauptungen enthalten sind.655

Der Roman führt das Leben des Ich-Erzählers, dessen Grundzüge durchaus erkennbar werden, also weniger als ein individuelles Schicksal eines sich zum Schriftsteller entwickelnden kommunistischen Arbeitersohnes im Kontext der politischen Wirren der Vorkriegs- und Kriegszeit vor, sondern der Erzähler fungiert vielmehr als Repräsentant einer antifaschistischen Gemeinschaft insgesamt. Entsprechend lassen sich auch die im Folgenden skizzierten Relativierungen der Perspektive seines erlebenden 30er/40er-Jahre-Ichs durch Kommentare aus der späteren erzählerischen Rückschau als Beiträge zu einer Selbstverständnisdiskussion der politischen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg deuten.

Das erzählende Ich als relativierendes Korrektiv […] und wir hielten fest an der Vorstellung, daß in letzter Stunde noch die große einheitliche Front gegen den Faschismus entstehn würde. Daran zu denken, es könnte eine Selbsttäuschung sein, wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Verrat an unsern Grundsätzen. Alles, was wir taten, war auf die Gemeinsamkeit gerichtet, wir sahn vor 650 Huber 1990: 45. 651 Vgl. ähnlich auch Söllner 1988: 192; und Kessler 1997: 51. 652 Söllner 1988: 191. Vgl. zum Beispiel ähnlich auch Schulz 1986: 43f.; Huber 1990: 45; und Kessler 1997: 130. Zur Diskussion dieser Beobachtung in der Literaturkritik und der bis dahin veröffentlichten Forschung vgl. Gerlach 1991: 38ff. 653 Diese Beobachtung teile ich, ohne zwangsläufig einer damit vor allem im Feuilleton oftmals verbundenen Kritik an dieser Gestaltung des Roman-Ichs zu folgen. Vgl. dazu exemplarisch die Kritik von Fritz J. Raddatz »Faschismus als Kreuzworträtsel« in »DIE ZEIT« vom 10. 10. 1975: http://www.zeit.de/1975/42/faschismus-als-kreuzwortraetsel (Zugriff 16. 05. 2014). Zu entsprechenden Schwerpunkten der literaturkritischen Rezeption der »Ästhetik des Widerstands« vgl. auch Lilienthal 1988: 139–152. 654 Beide Zitate Huber 1990: 45. 655 Schulz 1986: 44.

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uns, von Land zu Land, das Aufsteigen des Internationalismus. (ÄdW: 306; Hervorhebung M. S.)

Es ist vor allem die spezifische Gestaltung des homodiegetischen Erzählers, die dominierende Durchdringung des erlebenden Ichs und seiner Perspektive durch die des erzählenden Ichs, die im Roman das ständige Nachdenken und auch Hinterfragen von Zugehörigkeiten ermöglicht.656 Er hatte mich gefragt, warum ich noch nicht um den Beitritt zur Partei ersucht hatte. Erst als ich merkte, daß mir die Antwort Schwierigkeiten bereitete, wurde mir bewußt, wie überlegt und gezielt seine Worte gewesen waren. Die Problematik kam wieder auf mich zu, wie ich mich verhalten würde, wenn die Interessen der Partei eine Absondrung von meinen Freunden verlangten. Gegen die Grundlagen und Zielsetzungen der Partei kannte ich keine Vorbehalte. Die Partei war immer für mich das unmittelbar zugängliche Kampfinstrument gewesen. Es war die Partei meiner Klasse. Ich betrachtete mich als ihr Angehöriger, auch ohne Mitgliedsbuch. […] Unklarheiten waren aufgekommen, die meinem Verlangen nach absoluter Integrität widersprachen. (ÄdW1: 297f.)

So wird das Spannungsverhältnis zwischen Einzelnem und parteilicher Gemeinschaft nicht nur – wie hier oben durch den Ich-Erzähler – wiederholt explizit reflektiert (vgl. auch ÄdW1: 90f.), sondern gerade die Relativierungen von Positionierungen des erlebenden durch das erzählende Ich signalisieren eine Veränderlichkeit kollektiver Zugehörigkeiten im Laufe der Zeit, deren Kontextgebundenheit somit ausgestellt wird.657 Während das erlebende Ich insbe656 Vgl. auch Kessler 1997: 50. 657 Entsprechend unverständlich erscheint die harsch formulierte Kritik von Friedemann J. Weidauer, die er in seiner Dissertation zu »Positionen des Subjekts im Faschismus bei Andersch, Kluge, Enzensberger und Peter Weiss« (1994) sowohl zum Roman selbst als auch über den Großteil der existierenden Sekundärliteratur äußert. Weidauer liest »Die Ästhetik des Widerstands« als eine eindeutige politische Stellungnahme zugunsten kommunistischer Politik und Herrschaft, bei der kritische Aspekte zum Beispiel stalinistischer Politik einfach nur erwähnt und dann übergangen würden: »Der Versuch, den Roman als nach allen Seiten offen darzustellen, drückt dagegen eine Defensivhaltung aus, da mittlerweile Eindeutigkeit mit Plattheit gleichgesetzt wird. Man meint, man müsse den Roman politisch und ästhetisch aufwerten, indem man auf seiner Offenheit beharrt und diese auch an seiner Erzähltechnik nachzuweisen versucht. Die Provokation des Romans besteht aber gerade in seiner politischen Eindeutigkeit und in der erzähltechnischen Anstrengung, mit der er diese herstellen will« (Weidauer 1994: 220). Weidauer kritisiert sehr deutlich einen Großteil der bisherigen Forschung zur »Ästhetik des Widerstands« (vgl. 1994: 184–191), vor allem – und in dem einen Fall zu Recht – deren Umgang mit den Notizbüchern bei der Analyse des Romans. Er unterstellt »viele formale Fehler« (1994: 191), die er auf den Versuch zurückführt, »auf oft merkwürdig verschrobene Weise die ästhetische Leistung des Romans durch erzähltheoretisches oder auch aus anderen Disziplinen geliehenes Instrumentarium (vorzugsweise aus der Filmtheorie) hervorzuheben« (1994: 185). Gerade vor dem Hintergrund dieser doch harschen Kritik an der existierenden Forschung stoßen Weidauers eigene gravierende Einseitigkeiten bei der Analyse der »Ästhetik des Widerstands« besonders auf:

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

sondere zu Beginn der Trilogie zunächst durch unbedingte Loyalität zur sowjetischen Parteiführung geprägt ist, zeugt das Erzählen von Anfang an von einer kritischen Reflexion, auch Relativierung dieser Haltung: In der engen Küche […] konnten wir uns nichts andres denken, als daß die Taten der Angeklagten, denen seit einem Jahr der Prozeß gemacht wurde, in jeder Einzelheit erwiesen waren, hatten doch auch Autoren wie Feuchtwanger, Heinrich Mann, Luk#cs, Rolland und Barbusse, Aragon, Brecht und Shaw den Aufdeckungen Glauben geschenkt […]. Kein Zweifel durfte aufkommen an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens, jetzt, da der Antikominternpakt zwischen Deutschland und Japan abgeschlossen worden war […]. (ÄdW1: 71; Hervorhebung M. S.; vgl. auch ÄdW1: 306; ÄdW2: 128 und 171)

Im Verlauf des Romans erfolgt eine Annährung des erlebenden an das erzählende Ich (vgl. dazu auch Kap. 5.4.2), die sich im Hinweis auf »das Mangelhafte meiner Aussagen« (ÄdW2: 173) ebenso manifestiert wie in der nachfolgend zitierten Gleichsetzung kommunistischer mit faschistischer Herrschaftspraxis durch den Erzähler. Diese verweist auf totalitarismuskritische Überlegungen, die – wie beispielsweise ein 2007 von Mike Schmeitzner herausgegebener Sammelband zeigt – auch unter Linksintellektuellen im 20. Jahrhundert durchaus eine lange, wenn auch sicherlich nicht hegemoniale Diskurstradition konstituierten und nicht zuletzt Diskussionszusammenhänge im Exil beeinflussten: Und ich hörte in mir meine eignen Zweifel, gegen die ich mich wehrte. Waren es nicht Floskeln, wenn die Kommunistische Partei die Schuld an der Kriegsgefahr den britischen Finanzlords, den französischen Bankierfamilien zuschrieb, fragte ich mich, waren Kommunisten und Faschisten nicht einander gleich, indem sie jeden, der ihnen nicht beipflichtete, in Zuchthäuser und Lager sperrten […], wieder beim Krieg angelangt, dem nachhaltigsten Argument ihrer gemeinsamen Sprache. (ÄdW2: 172)658

Seine häufige Kritik, vor allem zum Wir-Erzählen wie zur vermeintlichen Ignoranz und Abwertung abweichender linker oder bürgerlicher Positionen ignoriert ohne überzeugende Argumente den vermittelnden Status des Erzählers, dessen rückblickende, auch kritische Selbst-Reflexionen über sein Verhalten im Spanischen Bürgerkrieg und vor allem die Entwicklung des Ichs (vgl. Weidauer 1994: 200–215). Wenn Weidauer dann anschließend dem Autor die Nicht-Behandlung von Themen vorwirft und dies psychoanalytisch als Verdrängung einordnet (vgl. Weidauer 1997: 212–220), dann läuft dies sogar seinen eigenen theoretischen Prämissen zuwider, die einen ausschließlichen Fokus auf die Strukturen des Werkes und ein Außen-vor-Lassen der Autorenbiographie forderten. 658 Zur Entwicklung und zu Exponenten einer »Totalitarismuskritik von links« vgl. Schmeitzner (Hg.) 2007. In ihrer Einleitung verweist Schmeitzner auf das Verdienst von William David Jones (1999), »in seiner Studie über deutsche sozialistische Intellektuelle und den Totalitarismus erstmals derartige Diskussionszusammenhänge vor allem für die Zeit des Exils (1933–1945) verdeutlicht zu haben« (Schmeitzner 2007: 10).

Widerstand als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfs

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Von einer »Verborgenheit des Erinnerungsprozesses«659, wie sie Günter Butzer in seiner Dissertation (1997) konstatiert, kann also nicht zwangsläufig die Rede sein. Zwar wird der Sprechakt des erzählenden, also rückblickenden Ichs nicht konkret raumzeitlich verortet, in seinen Kommentaren ist es aber gleichwohl erkenn- und auch von seinem erlebenden Pendant unterscheidbar. Das Ich repräsentiert in seinem Sprechen, das verschiedene Perspektiven integriert, also die antifaschistische Gemeinschaft, ohne dabei allerdings einer Homogenisierung des Heterogenen Vorschub zu leisten.

5.3

»Erzähl nochmal, wie ihr bei Remscheid die Reichswehr verhauen habt« – Widerstand als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfs

Die beschriebene, über weite Strecken dominierende Orientierung des Erzählens am Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont von sich als Antifaschisten begreifenden Figuren trägt in beiden Romanen maßgeblich zu dem Entwurf eines etablierten antifaschistischen Kollektivs bei. In diesem Sinne ist das Erzählen beider Geschichten von deutlicher Parteilichkeit gekennzeichnet. Neben dieser Parteilichkeit der Erzählinstanzen etabliert sich die Vorstellung einer politisch links orientierten antifaschistischen Gemeinschaft als gesellschaftlich relevantem Kollektiv in den beiden Romanen vor allem durch die Betonung klassenkämpferischer Kontinuität. Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird dabei zu nur einem historisch-spezifischen Ereignis, das sich einreiht in jahrzehntelange Auseinandersetzungen unterdrückter Klassen mit den Herrschenden. Die Zusammengehörigkeit der Linken konstituiert sich nicht zuletzt in der Tradierung episodischer Widerstandsschilderungen, die innerhalb der Gemeinschaft als quasi kanonisch erscheinen, wie die nachfolgend zitierte Schilderung des sogenannten Ruhrkampfes von 1920: Man erzählte Geschichten von früher. Fänä und die anderen kannten die meisten. Erzähl nochmal, wie ihr bei Remscheid die Reichswehr verhauen habt, sagte Viehmann. Und alle lachten nochmal darüber, wie Dautzenberg einen Hauptmann auf die heiße Ofenplatte gesetzt hatte, und der hatte geschrien, es lebe die Revolution. (Z: 74)

Dabei spielen zum einen die in beiden Romanen relativ zentral vorgeführten familiären Zusammenhänge eine Rolle (Kap. 5.3.1). Zum anderen geraten hier die intertextuellen Verweise in den Blick, die dargestellte Figuren, Rede und Geschehen dezidiert zu linken kulturellen Traditionen in Beziehung setzen und diese wiederum fortschreiben (Kap. 5.3.2). Als drittes schließlich verstärkt auch 659 Butzer 1997: 160.

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die interpretierende Auseinandersetzung mit künstlerischen Objektivationen oder mythischen Überlieferungen durch den Erzähler oder andere Figuren, wie sie in der »Ästhetik des Widerstands« zu beobachten ist, den Eindruck, dass das aktuelle Widerstehen gegen den Nationalsozialismus als Teil übergreifender Zusammenhänge zu verstehen ist (Kap. 5.3.3).

5.3.1 Generationelle Kontinuitäten: Biographische Analepsen als Verflechtungen zwischen Familiengeschichte und linken Großnarrativen Politischer Kampf ist in beiden Romanen nicht zuletzt Angelegenheit ganzer Familien: In »Die Ästhetik des Widerstands« gilt dies für die Familien Coppis und des Ich-Erzählers, aber auch für die nur am Rande vorgeführte Familie Hübner (vgl. ÄdW: 198f.), deren Erfahrungen als Arbeiter als exemplarisch herausgestellt werden: Nicht nur ich selbst, meine Eltern, Coppis Eltern, sondern alle, neben denen ich auf den verschiednen Arbeitsplätzen gestanden hatte, waren ständig dieser Demütigung ausgesetzt gewesen. (ÄdW1: 176)

In »Zündschnüre« sind es die Familien der fünf jugendlichen Protagonisten, deren Väter fast alle Opfer der politischen Verfolgungen der Nationalsozialisten werden oder wurden: Nicht nur Fänäs Vater wird verhaftet, sondern »Otto Ronsdorf hatte man vor drei Jahren abgeholt. Er schrieb jetzt aus einem Lager bei Hamburg.« (Z: 15), »Tünnemanns Vater war im Strafbataillon und man hörte nur selten was von ihm.« (Z: 18) und Suggas Vater ist nach einer Verhaftungswelle ermordet worden (vgl. Z: 37). Besonders deutlich wird die generationenübergreifende widerständige Kontinuität an Hand von Rückblicken auf das Leben ausgewählter Figuren: bei Degenhardt vor allem auf das von Berta Niehus, der Großmutter Tünnemanns, bei Weiss auf das des Vaters des Ich-Erzählers. In narrativen Analepsen wird deren Leben, wie es sich bis zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart entwickelt hat, skizziert, wobei zentralen Daten und Ikonen des Klassenkampfes besondere Aufmerksamkeit zukommt: Das konnte sie, hatte sie gelernt, Tochter von einem Dockarbeiter aus Hamburg. Mit sechzehn war sie nach England geflohen, weil Polizei sie suchte wegen Sabotageakten an Kreuzern auf der Werft. Aber beim Streik der Ruhrbergarbeiter 05 war sie wieder dabei, heiratete Anton Niehus, schaffte am Tage und schrieb nachts für die SPD, – oh SPD, aber auf Seite von Rosa und Karl, und für die Bergische Arbeiterstimme, versuchte im Krieg den Burgfrieden, den verdammten, zu sabotieren mit Flugblättern für die Soldaten, dafür ein Monat Gefängnis, bekam einen Brief von Clara Zetkin. Ihr Mann stand in Frankreich und Tünnemanns Vater war zehn. Dann mit dem Kind nach

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Hamburg. November 18 und keine Minute Schlaf, bei der Roten Fahne und bei Paul Fröhlich, und im Februar 19 wieder zurück an die Ruhr, USPD, auf Zeche Amalie Streifschuß beim Kampf gegen Weiße. Flucht ins Bergische Land. Beim Kapp-Putsch wieder zurück ins Revier und Kampf um Wetter und Hagen. Watter du Schwein, Tag und Nacht an der Schreibmaschine, Noske du Hund. Tbc und ein Jahr lang über dem schwarzen Loch gehangen, gehustet und Mitglied der KPD. […] Und die Jahre bis 33, Straßenkampf, Schreiben, Flugblätter, Tod den Faschisten, und die Jungen im RFB, kriegten zwei Jahre Z, und sie schrieb und schrieb, was zu schreiben war, aber Hitler der Schweinehund kam doch. Und der Terror. Sie wurde 34 verhaftet, zwei Jahre Frauengefängnis in Werl, und als sie zurückkam, sagte sie zu ihrem Sohn, Sporman, Stumpe, Ronsdorf, Krach und zu Trietsch, so meine Zeit ist rum, ihr seid jetzt dran. (Z: 173f.; vgl. auch Z: 62f.)

Dieser biographische Rückblick, der in das Erzählen von den erneuten Hochzeitsplänen von Berta Niehus integriert wird, ähnelt bezogen auf seine zentralen Ereignisse dem Rückblick auf die Erfahrungen des Vaters in der »Ästhetik des Widerstands« im ersten Teil des ersten Bandes (vgl. ÄdW1: 100–122). Auch hier wird die »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit 1918 […] als ›erlebte Geschichte‹ vom sozialdemokratischen Vater des Erzählers rekapituliert«660 : Dieser kämpfte 1919 in Bremen gegen die »weißen Garden« (ÄdW1: 101), wurde dabei angeschossen, unterstützte den Aufruf zum Generalstreik, war als »Angehöriger des linken Flügels der Unabhängigen Partei […] Mitarbeiter an der Zeitung der Bremer Kommunisten« und setzte sich »für das von Luxemburg vertretene Programm […] vor allem in seinen Aufsätzen über die kulturelle Revolution« (beide Zitate ÄdW1: 109) ein. Auch er als linker politischer Aktivist sieht sich in Anbetracht des Aufstiegs des Nationalsozialismus bedroht und muss – ähnlich wie Bertha Niehus (vgl. Z: 174) – schließlich untertauchen (vgl. ÄdW1: 112f.). Zentraler Unterschied zur Biographie der Figur der Berta Niehus in »Zündschnüre«: Der Vater schließt sich der SPD an und wird somit in den Gesprächen mit seinem Sohn zum Gegenpart in den Diskussionen um eine mögliche Einheitsfront (vgl. ÄdW1: 115–169), während Niehus auf Grund ihrer Erfahrungen Anfang der 1920er Jahre schließlich von der SPD zur KPD wechselt. Diese biographisch erzählenden Analepsen tragen in den Romanen dazu bei, den dargestellten Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Teil und Zuspitzung eines kontinuierlichen Klassenkampfes zu deuten: erstens dadurch, dass sie die jüngeren Figuren quasi als Erben der großmütterlichen oder väterlichen Erfahrungen zeigen. Der Ich-Erzähler bei Weiss bemerkt beispielsweise: »ich entsann mich jetzt auch, wie er mein eignes kulturelles Interesse geweckt hatte« (ÄdW1: 109; zur Vorbildfunktion des Vaters vgl. auch ÄdW1: 350f.). In »Zündschnüre« werden nicht nur die »Unterstadt«-Väter Degenhardts 660 Vogt 1987: 121.

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im engen Austausch mit Berta Niehus gezeigt – »Heini Spormann kam oft, besprach sich mit ihr« (Z: 175) –, sondern es wird auch die Rolle der fünf jugendlichen Protagonisten als Nachfolgende der Väter betont: Zunächst waren sie hitlerjugendunwürdig gewesen wie ihre Väter wehrunwürdig, aber dann hatten die Braunen sich das anders überlegt, weil sie immer mehr Soldaten brauchten und im Jungvolk schon damit anfingen. (Z: 104)

Neben solchen Fremdzuschreibungen aus der Perspektive der Gegner akzeptieren auch die Jugendlichen selbst, vor allem die Hauptfigur Fänä Spormann, ihre Rolle als Erben ihrer Väter : Da sagt ihr, euch gefällt das hier nicht, und wollt weg. Raus aus der ganzen Scheiße hier. Genau das wär falsch. […] Sie zersägten den dritten Stamm. Alfons Ronsdorf sähen sie sich immer an. Das wär auch so ein Typ gewesen. Nichts richtig gelernt, nur Weiber und Saufen im Kopf. Gelacht, wenn die anderen Flugblätter verteilten, Versammlungen hatten und Streik. […] In Mexiko ist er hängengeblieben. 1920 haben sie ihn irgendwo gefunden […] Hals durchschnitten, ohne Eier und Schwanz. So, und dann guck seinen Bruder an, Viehmanns Vater, oder Heini Spormann, deinen Papa. Wer gefällt euch denn besser? Beim vierten Stamm sagte Pottmann dann noch, also du wirst Schlosser, bleibst hier wie dein Papa, und ihr macht das weiter, was wir gemacht haben, klar? […] In Bohrs Schuppen erklärte Fänä den anderen dann, was Pottmann gesagt hatte. Langsam, und sagte, daß Pottmann ja wohl auch recht hätte. (Z: 133f.)

Entsprechend wirkt es auch nur folgerichtig, dass Fänä oftmals als Anführer der Jugendlichen erscheint (vgl. exemplarisch Z: 7 und 187f.) und somit in dieser Generation die Position einnimmt, die seinem Vater in der Gruppe der Väter zukommt.661 661 Dieses Ausstellen von Kontinuität setzt sich bei Degenhardt noch aus einer anderen Perspektive fort: So gestaltet sich sein 1975 publizierter zweiter Roman »Brandstellen« in gewisser Weise als Fortsetzung von »Zündschnüre«: Hier steht zwar ein bislang unbekannter Protagonist, Bruno Kappel, im Zentrum und aus seiner Perspektive wird die Geschichte erzählt. Allerdings stammt Kappel aus der gleichen Stadt, die in »Zündschnüre« zentraler Handlungsort ist. In diese, seine Heimatstadt kehrt er nun Ende der 1960er Jahre zurück und kämpft dort schließlich gemeinsam mit den mittlerweile älter gewordenen Protagonisten aus Degenhardts Debütroman gegen die Einrichtung eines Truppenübungsplatzes. Unter anderem zusammen mit Doris Niehus, der Schwester von Tünnemann Niehus, und Maria Ronsdorf, der Tochter von Viehmann Ronsdorf, engagiert sich Kappel, der auch Kontakte zu linksradikalen Splittergruppen hat, schließlich in den lokalen Protesten; die Kontinuität zwischen dem linken Widerstand gegen den Nationalsozialismus und dem der 68er gegen die bundesrepublikanische Politik wird hier deutlich durch die Figurenkonstellation symbolisiert (vgl. dazu auch B: 184). Gleichzeit kommt in der Interaktion der nun älter gewordenen Ernst/Fänä Spormann, Herbert/Viehmann Ronsdorf und Waldemar/Tünnemann Niehus eine Ausdifferenzierung der Linken, die sich bereits in »Zündschnüre« andeutet, noch klarer zum Ausdruck (vgl. exemplarisch B: 103f. und 196ff.): Spormann engagiert sich gewerkschaftlich (vgl. B: 93), Niehus ist mittlerweile

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Zweitens werden die zu großen Teilen fiktiven Familiengeschichten des Widerstands durch die Betonung der Kontakte der Vorfahren zu bekannten Repräsentanten linker Politik – beispielsweise zwischen Niehus und Clara Zetkin oder dem Vater des Weiss’schen Erzählers und Karl Radek (vgl. ÄdW1: 114) oder Herbert Wehner (vgl. ÄdW1: 154f.) – mit etablierten linken, tendenziell mythischen Narrativen und Heldengeschichten verbunden. Der Eindruck gesellschaftlich-historischer Relevanz des dargestellten Geschehens wird so verstärkt und ergänzt zumindest in »Zündschnüre« ein Erzählen, das sonst das alltägliche Widerstehen und seine Folgen fokussiert, wie zum Beispiel die Reaktion Fänäs auf die Verhaftung seines Vaters: »Fänä lief aufs Klo und brach alles aus. Ihm war schwindlig vor Wut« (Z: 14).

5.3.2 Symbolisierende Einschreibungen Die Verknüpfung des dargestellten Widerstandsgeschehens mit etablierten als links geltenden Traditionen erfolgt in beiden Texten signifikant durch symbolisierendes Erzählen, mit dem punktuell auf klassenkämpferische Traditionen und Diskurse verwiesen wird. Zentral sind in diesem Zusammenhang die eben erwähnten wiederholten Erwähnungen linker Symbolfiguren. Die »Unterstadt«Bewohner in »Zündschnüre« bewundern ein Porträt Stalins (vgl. Z: 15) und über Berta Niehus heißt es: Sie kannte Teddy Thälmann gut und behauptete, sie hätte auch Lenin gekannt, damals in London, was aber niemand glaubte. (Z: 18)

Der Tod Ernst Thälmanns – »Unser Teddy Thälmann.« (Z: 142) – schließlich wird einerseits wie der Verlust eines Familienmitglieds betrauert und somit als einschneidendes Erlebnis konkreter Personen in Szene gesetzt: »Sie sagte, Teddy ist tot« (Z: 142). Andererseits wird durch das Zitieren eines bekannten Briefes des historischen Thälmann an einen Mithäftling die individuelle Trauer der handelnden Figuren im fundierenden Modus übersteigert (vgl. Z: 142f.),662 Landtagsabgeordneter der SPD (vgl. B: 67) und Ronsdorf versucht nach wie vor, ihm wichtige Anliegen außerhalb des Gesetzes – notfalls mit Waffengewalt – zu vertreten, ohne dabei allerdings noch dezidiert politische Ziele zu verfolgen (B: 90–93, 216f.). Mit den Protesten gegen militärische Aufrüstung und der skizzierten linken Ausdifferenzierung greift der Roman nun anders als »Zündschnüre« explizit Themen auf, die Thomas Etzemüller als für die Entstehung einer bundesrepublikanischen Neuen Linken zentral beschreibt: Diese habe ihren Ausgangspunkt in der Adaption von vor allem britischen und amerikanischen Friedensprotesten durch die Ostermarschbewegungen genommen und sich dann mit zunehmend grundsätzlicherer gesellschaftskritischer Tendenz ausdifferenziert (vgl. Etzemüller 2005: 70–74). 662 Karlheinz, der Bruder Fänäs, liest folgende »Abschrift von einem Brief« (Z: 142) vor, die im Roman als wörtliches Zitat markiert ist, was auf Grund der ansonsten sehr seltenen Ver-

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wenn der wörtlich zitierte Brief »zukunftssicher« den »endgültigen Sieg« (Z: 143) verheißt und somit an einen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland zentralen linken Gründungsmythos anknüpft. Auch in der »Ästhetik des Widerstands« setzt der Erzähler wiederholt das von ihm beschriebene Geschehen, seine eigene Position und Gedankenwelt zu den ›Großen‹ einer marxistischen Geschichtsschreibung in Beziehung: Einmal hatte es Gesichter gegeben, wie das Gesicht von Bebel, Liebknecht, Luxemburg, Lenin, Trotzki, Antonow, Ovsejenko, Bucharin, Schljapnikow, Tretjakow, doch wie hätten sich heute, fragten wir uns, solche Gesichter noch zeigen können, beim Wühlen und Graben. Kriechend durch den Morast hatten wir froh zu sein, wenn sich irgendwo der Ansatz zu einem Stieg erreichen ließ. Nicht von dem, was uns zugänglich war, konnte verglichen werden mit den Vorsätzen der Meister. Schleimtiere waren wir […]. (ÄdW2: 168)

Dass dabei in beiden Texten durchaus ambivalente Bewertungen der linken Ikonen mindestens implizit erkennbar werden, verweist auf eine nicht bloß affirmative Fortführung von Personenkult: Stalin guckt auf dem genannten Porträt mit »seinen gelben bösen Augen« (Z: 15) in die Ferne und der Erzähler bei Weiss grenzt die historischen Ikonen explizit von den aktuellen »Parteifunktionäre[n]« (ÄdW2: 167) ab, deren »Züge […] eng geworden, die Blicke mißtrauisch, die Münder verbissen« (ÄdW2: 168) waren. Außerdem werden in der oben zitierten namentlichen Auflistung mit Trotzki und Bucharin als prominentesten Vertretern auch solche marxistischen Vorkämpfer integriert, die in der Erzählgegenwart des Romans bereits den stalinistischen ›Säuberungen‹ zum Opfer gefallen waren respektive fielen und auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Weiss-Romans von sowjetischer Seite (noch) nicht rehabilitiert waren. Auch die Darstellung Bertolt Brechts im zweiten Band der »Ästhetik des Widerstands« zeugt von einer reflektierten Auseinandersetzung mit der Bedeutung einer historischen Person, die oft als intellektuell-künstlerisches Vorbild entworfen wird: wendung von Anführungszeichen im Roman als besonders hervorgehoben erscheint: »Lies vor, sagte er, und Karlheinz las: ›Du, ich und alle Mitkämpfer für unsere große Sache müssen alle stark, fest, kämpferisch und zukunftssicher sein. Denn Soldat der Revolution sein heißt: Unverbrüchliche Treue zur Sache halten, eine Treue, die sich im Leben und Sterben bewährt, heißt unbedingte Verläßlichkeit, Zuversicht, Kampfesmut und Tatkraft in allen Situationen zeigen. Die Flamme, die uns umgibt, die unsere Herzen durchglüht, die unseren Geist erfüllt, wird uns wie ein Leuchtfeuer auf den Kampfgefilden unseres Lebens begleiten. Treu und fest, stark im Charakter und siegesbewußt im Handeln, so und nur so werden wir unser Schicksal meistern und unsere revolutionären Pflichten für die große, historische Mission, die uns auferlegt ist, erfüllen und dem wirklichen Sozialismus zum endgültigen Sieg verhelfen können.‹« (Z: 143). Zum Bekanntheitsgrad des Zitats Thälmanns, das »Aus dem Brief an einen Mithäftling, Januar 1944« stammt (vgl. Falke 2002: 161f.), vor allem in der DDR vgl. die Ausführungen von Ren8 Börrnert (2004: 114) zum Thälmann-Kult in der SED und ihrer Pädagogik.

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Unverbindlich, wie meine Tätigkeit bei Brecht begonnen hatte, hörte sie auch auf, nur Steffin umarmte mich, Brecht reichte mir flüchtig die Hand […]. Abschiednahme von einem Freund, der mein Freund nicht, doch mein Lehrer gewesen war. (ÄdW2: 319)

Neben solchen Verweisen auf prominente – zum Teil auch weniger bekannte – historische Persönlichkeiten linker Bewegungen sowie umgekehrt auf typische linke Feindbilder – wie beispielsweise die Kommentierungen zur historischen Person Gustav Noske (vgl. Z: 174 und ÄdW1: 107) – tragen vor allem die in beiden Romanen zahlreichen intertextuellen Bezüge zum fundierenden Entwurf der Arbeiterbewegung als gesellschaftlicher Großgruppe bei: Die persönlichen Erfahrungen der Akteure erscheinen so als in einem größeren historischen Zusammenhang relevant. In »Zündschnüre« fällt diesbezüglich das den handelnden Figuren wiederholt attestierte Singen von solchen Liedern auf, die als Teil eines linken Kanons gelten können.663 Das (An-)Zitieren linken Liedguts erweist sich dabei als weitgehend affirmativ, passen doch die jeweiligen Lieder respektive Liedtexte in der Regel zur konkreten Handlungssituation und werden oftmals von verschiedenen Figuren gemeinsam gesungen: Das ursprünglich als Protestlied von politischen Häftlingen des nordwestdeutschen Konzentrationslagers Börgermoor bekannt gewordene »Die Moorsoldaten« spielt Fänä, begleitet vom Summen Suggas und ihrer Mutter, auf seiner Mundharmonika nach der Verhaftung seines Vaters (vgl. Z: 20), Berta Niehus singt »Auf, auf zum Kampf«, als sie die Vorbereitungen eines Sprengstoffanschlags an ihre Erfahrungen mit dem Ruhrkampf 1919 erinnern (vgl. Z: 62f.), und Fänä intoniert mit seinen Freunden »Dem Morgenrot entgegen«, als sie gemeinsam den Zusammenbruch der NS-Herrschaft bei einer Spritztour im geklauten DKW feiern (vgl. Z: 241). »Wann wir schreiten Seit an Seit« wird von den Gästen auf der Hochzeitsfeier von Berta Niehus und Lorenz Fuchs angestimmt (vgl. Z: 185f.), mit »Brüder zur Sonne zur Freiheit« reagieren die sowjetischen Zwangsarbeiter auf die Nachricht vom Tod Dautzenbergs. Fänäs anschließendes Mundharmonikaspiel von »Der gute Kamerad« (»Ich hatt einen Kameraden«) erscheint gerade wegen der komplexen Rezeption und Tradition dieses Liedes dem Andenken an Dautzenberg und dessen ambivalenter Zugehörigkeit/Unzugehörigkeit zum antifaschistischen Kollektiv angemessen:

663 So zählen beispielsweise alle der im Folgenden genannten, im Roman zitierten Liedtitel – mit Ausnahme von »Der gute Kamerad« – in der 1987 publizierten empirischen Studie »Politisches Lied heute. Zur Soziologie des Singens von Arbeiterliedern« von Karl Adamek zu den bekanntesten Liedern in der Tradition gewerkschaftlicher Jugendbildungsarbeit (vgl. Adamek 1987: 147f. und 159ff.). Adamek verweist hier außerdem auf eine »Wiederentdeckung der Lieder der Arbeiterbewegung« (1987: 64) in den 1970er Jahren, in deren Kontext eben auch die entsprechenden intertextuellen Verweise des Degenhardt-Romans zu verorten sind.

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Einige sangen leise mit. In der Stille trug der Ton bis über den Bahndamm. Ein Sozialdemokrat ist er immer gewesen, sagte Anna Spormann, aber tapfer, ein guter Genosse. (Z: 80)664

Situationsunangemessenes Singen wird dagegen intradiegetisch sanktioniert: Als Viehmanns Großvater als Reaktion auf Heini Spormanns Verhaftung anfängt, betrunken lauthals »Brüder zur Sonne zur Freiheit« zu singen, wird er sowohl von den Jungen als auch von Herta Ronsdorf brüsk gestoppt (vgl. Z: 17).665 In »Die Ästhetik des Widerstands« wird Zusammengehörigkeit unter anderem durch einen gemeinsamen Literaturkanon symbolisiert: Zwar hatten wir nicht eine Fülle von Literatur in den Regalen, wir liehen uns wöchentlich Bücher aus der Stadtbibliothek […] doch die Bände, die uns gehörten, waren sorgfältig ausgewählt, sie waren zum Bestandteil unseres Lebens geworden, vom Vater, von der Mutter erworben. […] Wir besaßen eine Auswahl an Majakowskis Gedichten, ein paar Schriften von Mehring, Kautsky, Luxemburg, Zetkin, Lafargue, einige Romane von Gorki, Arnold Zweig und Heinrich Mann, von Rolland, Barbusse, Bredel und Döblin. Statt einer Spitzendecke, einer Porzellanvase hatten meine Eltern immer diese kleinen Blöcke aus dicht geschichtetem, eng mit Kenntnissen, Vorschlägen, Anleitungen bedrucktem Papier gekauft, und auch als das Geld knapp war, konnte es geschehen, daß mein Vater oder meine Mutter mit einem neuen Buch von Toller oder Tucholsky, von Kisch, Ehrenburg oder Nexö nach Hause kam, und wir saßen abends unter der Küchenlampe, lasen abwechselnd draus vor und besprachen untereinander den Inhalt. (ÄdW1: 35)

Sowohl für seine eigene Familie als auch für die Familie Coppi betont der IchErzähler die besondere Bedeutung von ausgewählter Lektüre und Buchbesitz. Seine Bewahrung wird zum identitätsstiftenden Widerstand gegenüber der Verfolgung durch die NS-Behörden: Von welcher Bedeutung diese Bücher waren und mit welchen Kräften sie uns verbanden, zeigte sich während der Zeit, da immer wieder beim einen oder andern von uns die Polizei einbrach und die Autorennamen als Beweis gegen uns benutzte, und da kam der Besitz von einem Band Lenin Hochverrat gleich. Immer geringer wurde deshalb die Anzahl der Bücher, die wir uns aufbewahrten, unter dem Kleinholz neben Coppis Küchenherd fand nicht mehr Platz als ein Heft mit der Einführung in Das Kapital, ein paar Zeitungsausschnitte mit Reden Dimitroffs und Stalins, die letzten Nummern der Roten Fahne, in den Völkischen Beobachter gesteckt, und das zerfledderte, von Hand 664 Vgl. dazu Kurt Oesterle: Die heimliche deutsche Hymne. URL: http://www.bdzv.de/preis traeger-preisverleihung/preisverleihung-weitere-jahre/preisverleihung-1998/kurt-oe sterle/ (Zugriff 15. 04. 2014). 665 Zur historischen Verortung des deutschen Arbeiterliedes sowie seiner Funktion im Widerstand gegen den Nationalsozialismus vgl. Lammel 1980; zur politischen Instrumentalisierung einzelner Lieder für durchaus auch gegensätzliche Ziele vgl. Dithmar 1988: 110– 113.

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zu Hand gegangne, als Reclamheft getarnte, mit dem Titel Wallensteins Lager versehne Braunbuch über den Reichstagsbrandprozeß. (ÄdW1: 35; Hervorhebung M. S.; vgl. auch ÄdW1: 257)

Dabei sind solche intertextuellen Verflechtungen in der »Ästhetik des Widerstands« nicht nur aus der Perspektive einer interpretatorischen Analyse der Romane als fundierende Verfahren der Konstitution antifaschistischer Gemeinschaft zu deuten. Ihre gemeinschaftsbegründende Funktion wird bei Weiss – wie im obigen Zitat – auch intradiegetisch von den handelnden Figuren mal mehr, mal weniger explizit reflektiert (zum Stellenwert von Literatur für den IchErzähler vgl. auch Kap. 5.4).

5.3.3 Interpretieren von Kunstwerken zwischen Mythenkritik und Transzendieren des Klassenkampfs Neben der Verortung in literarischen Traditionen und deren Reflexion ist auch die Auseinandersetzung mit anderen künstlerischen Objektivationen in der »Ästhetik des Widerstands« wiederholt zu beobachten und dominiert sogar das Erzählen in diesem Roman, vor allem im ersten Band, über weite Strecken. Im Anschluss an die ausführliche Beschreibung und Bewertung des Pergamonfrieses berichtet der Erzähler nicht nur von der Lektüre der »Divina Comedia«, sondern auch vom Kontakt mit weiteren Kunstwerken: Bei Mantegna und Masaccio, Grien, Grünewald und Dürer, bei Bosch, Brueghel und Goya traten die Arbeitenden schon in den Vordergrund. […] Ein Schmied, ein Tischler wurden bei La Tour mit ihrer Arbeit so überragend, daß sie den Bildraum allein, ohne Auftraggeber und Käufer, einnahmen. Vermeer, Chardin behielten Reife, Schönheit nicht den Oberen vor, sondern ließen sie der Näherin, der Wäscherin, der Magd zukommen. (ÄdW1: 86; vgl. auch ÄdW1: 169–180)

Bildbetrachtungen dominieren dann auch das Ende des ersten (ÄdW1: 330–361) sowie noch einzelne Passagen des zweiten Romanbandes (vgl. ÄdW2: 13–21, 119–124), der vor allem im zweiten Teil durch die Bearbeitung des EngelbrektStoffes geprägt ist (vgl. ÄdW2: 176–201, 211–222, 227–255, 306–310). Im dritten Band treten solche ausführlichen Beschreibungen und Interpretationen von literarischen Texten oder Kunstwerken etwas in den Hintergrund. Eine Ausnahme ist die analeptische Schilderung der Besichtigung von Angkor Wat (ÄdW3: 98– 108) durch Stahlmann, die erkennbar der Interpretation des Pergamonfrieses ähnelt. Neben der Funktion, sich mittels intertextueller Verweise in einer spezifischen literarischen Tradition zu positionieren, tragen vor allem diese Bild- und Reliefbeschreibungen wesentlich dazu bei, die Deutung von Geschichte als

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Klassenkampf und somit ein zentrales marxistisches Erklärungsmuster für historische Auseinandersetzungen zu etablieren. Sie dienen, so Alfons Söllner, der »schockhaften Vergegenwärtigung der endlosen Kette von Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen«666. Dies zeigt nicht nur die »programmatisch erscheinende und oft auch gelesene Aneignung des Pergamonfrieses durch drei Antifaschisten als Sinnbild ihres andauernden Klassenkampfes«667. So entsinnt sich der Erzähler beispielsweise auch einer Betrachtung des Gemäldes »Das Eisenwalzwerk« von Adolph von Menzel durch sich und seinen Vater (vgl. ÄdW1: 353–357) und interpretiert dies aus materialistischer Perspektive: Die Schilderung dieses unaufhörlichen, verschwitzten Ineinandergreifens sagte nichts andres aus, als daß hier hart und widerspruchslos gearbeitet wurde. Die Wucht im Hochstemmen und Ausschwingen, geregelt und beherrscht, der Augenblick größter Konzentration beim Griff um die Zangen, die Wachsamkeit des bärtigen Vorarbeiters, beim Entgegennehmen des Walzstücks, das Abschrubben des verrußten Körpers, das Erloschensein in kurzer Pause, wies auf ein einziges Thema hin, auf die Arbeit, auf das Prinzip der Arbeit, und es war ein bestimmtes Prinzip, dessen Art sich erst nach eingehender Beobachtung definieren ließ. Es handelt sich dabei nicht um die Arbeit, so wie mein Vater von ihr sprach, um die Arbeit als Vorgang der Selbstverwirklichung, sondern um Arbeit geleistet zu niedrigstem Preis und zu höchstem Profit des Arbeitskäufers. (ÄdW1: 353f.)

Werke der bildenden Kunst werden vom Erzähler oder anderen Figuren als Manifestationen kontinuierlicher Unterdrückung gedeutet und damit »gegen den Strich« (ÄdW1: 41) gelesen. »Diese Wand sollte den Betrachter von der Überlegenheit und Unbesiegbarkeit der Palastbesitzer überzeugen« (ÄdW3: 105), heißt es mythos- respektive ideologiekritisch über den Teil eines Wandbilds von Angkor Wat, und beim Pergamonfries hätten die »Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen […] das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt« (ÄdW1: 9).668 Einer solchen Kunsttradition, die bestehende Machtverhältnisse manifestiert und durch ihre mythische Form legitimiert, werden im Roman eigene Erzählversuche entgegengestellt: Herakles aber vermißten wir, den einzigen Sterblichen, der sich der Sage nach mit den Göttern im Kampf gegen die Giganten verbündet hatte, und wir suchten zwischen den eingemauerten Körpern, den Resten der Glieder, nach dem Sohn des Zeus und der Alkmene, dem irdischen Helfer, der durch Tapferkeit und ausdauernde Arbeit die Zeit der Bedrohungen beenden würde. […] und Coppi nannte es ein Omen, daß grade er, 666 Söllner 1988: 207. 667 Dwars 1993: 115. Vgl. ähnlich auch Huber 1990: 50–53. 668 Zur ideologiekritischen Dimension der Kunstwerkinterpretationen vgl. auch Söllner 1988: 206–212; sowie in Ansätzen Mandel 2013: 615f.

Widerstand als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfs

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der unsresgleichen war, fehlte, und daß wir uns nun selbst ein Bild dieses Fürsprechers des Handelns zu machen hatten. (ÄdW1: 11)

Nicht nur die im Roman vorgeführten verschiedenen Stufen der Auseinandersetzung mit dem Herakles-Mythos, wie sie Andreas Huber differenziert beschrieben hat,669 sondern auch der Versuch, den Engelbrekt-Mythos dramatisch neu zu erzählen, verdeutlicht dabei die Schwierigkeiten einer solchen Veränderung: Im ersten Teil des Spiels hatten die Herren dominiert. Jetzt sollte von den Niedrigen ausgegangen werden. Doch es drängten sich uns, beim Planen der Szenen, wieder die Gestalten der Herrschenden auf, denn sie nahmen den Hauptteil aller Chroniken ein, überschatteten mit ihren Ränken alles, was sich unten, im Erdigen, Felsigen zutrug und der Erwähnung nur selten für würdig befunden worden war. […] Das Hauptsächliche war, daß wir die Arbeitenden, die Ausgeplünderten in den Vordergrund stellten […]. Wie uns die Wochenschauen und die Fotos in unsern Zeitungen graue Abdrücke vermittelten von den Zusammenkünften der namhaften Lenker, von ihren überlegen lächelnden oder ingrimmigen Gesichtszügen, wie wir deren Ausdrücke nachlasen, so abstrakt, und gleichzeitig gefährlich, weil gegen unsre Existenz gerichtet, hatten sich auch in dem Stück die Hohen darzustellen. (ÄdW2: 218f.)

Auch in dieser parallelen Schilderung des deutschen Überfalls auf Polen und den konzeptionellen Überlegungen zum Engelbrekt-Drama wird Geschichte und ihre Tradierung als Unterdrückung der ›Unteren‹ durch die ›Oberen‹ interpretiert und ihre Neuschreibung intendiert. Die ideologiekritische Auseinandersetzung mit kulturellen Überlieferungen wird dabei in dieser Passage flankiert durch den expliziten Vergleich von historischen mit aktuellen Ereignissen, der eine Kontinuität, das »Fortwirken uralter, archaischer Muster« »in den modernen Herrschaftsformen«670 ausstellt. Insbesondere in diesem verschachtelten (Neu-)Erzählen von mythischen Geschichten und aktuellen Entwicklungen werden die widerständigen Kämpfe der Gegenwart tendenziell transzendiert. Die Differenz der aktuellen Ereignisse zu den sich in den verschiedenen Kunstwerken manifestierenden Mythen wird eingeebnet, wenn beispielsweise die politischen Kämpfe der 1930er im folgenden Zitat unmittelbar mit dem auf dem Pergamon-Relief abgebildeten Schicksal des Giganten Alkyoneus und dessen Mutter Gaia/Ge verbunden werden: Mit Steinen nur, sagte Coppis Mutter, können sie sich wehren gegen die Gepanzerten und Schwerbewaffneten, sie knien, kriechen, sie zerbrechen und fallen ins aufgerissene Straßenpflaster, preisgegeben den Wasserkanonen, Gasgranaten und Maschinengewehren. Sie sah den Kampf in unsrer okkupierten Stadt, unserm besetzten Land, und es half nichts, daß Ge um Erbarmen flehte für ihren Sohn Alkyoneus, er war in Athenas 669 Vgl. Huber 1990: 47–71. 670 Beide Zitate Söllner 1988: 207.

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Gewalt, der tötende Biß der Schlange in dessen Brust genügte ihr nicht, sie wollte seine restlose Zerfleischung. (ÄdW1: 53)

Durch solche Parallelisierungen von Mythos und Gegenwart werden zwar einerseits Unterdrückung und Klassenkampf als wiederkehrende Muster etabliert. Andererseits entsteht aber auch der Eindruck von ihrer Unveränderlichkeit. Söllner hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf eine zentrale Ambivalenz des Romans aufmerksam gemacht: Die archäologische Analyse [im Roman »Ästhetik des Widerstands«; Anm. M. S.] verweist hier, über ihren ideologiekritischen Sinn hinaus, auf ihr zweites Monument: auf die Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte, auf die Wiederaufrichtung des Uralten gegenüber dem historischen Fortschritt. Dieser negative, resignative Zug haftet sämtlichen historischen Exkursen der »Ästhetik des Widerstands« an, er stellt gewissermaßen den Gegenpart dar zu dem Widerstandswillen, der sich im Ausdrucksstreben des Ich-Erzählers kristallisiert. (Söllner 1988: 209)

Einerseits richtet sich die Mythen-Kritik der drei jungen Männer am Pergamonfries gegen die Tendenz, »das schnell Vergehende […] auf eine Ebene des zeitlos Bestehenden [zu] übertragen« (ÄdW1: 9), andererseits verwischen im Roman selbst die Grenzen zwischen mythischem und historischem Erzählen von Widerstand: »Dies war unser Geschlecht« (I/10), erinnert der Erzähler, damit die historisch umfassende Dimension bezeichnend, in der die drei Freunde ihre Identität erfahren, als eine kollektive Identität definieren.671

5.4

»und wieder mal dachte er, daß sie viel zu wenig wußten von allem« – Die Geschichte der Arbeiterbewegung als Bildungsund Entwicklungsgeschichte

Neben der intertextuellen Verortung in und dem Fortschreiben von etablierten antifaschistischen Kanones einerseits und der Etablierung materialistischer Geschichtsdeutung andererseits sind die Bezüge auf Literatur und andere Kunstformen in den beiden Romanen für die hier verfolgte Fragestellung noch aus zwei weiteren Gründen relevant: Auf der einen Seite geht es bei den Bezügen auf Literatur und Kunst in beiden Romanen immer wieder auch um Neu-Justierungen der Außengrenze einer antifaschistischen Gemeinschaft, bei denen die Aneignung vermeintlich gemeinschaftsfremder kultureller Objektivationen und Traditionen eine zentrale Rolle spielt. In diesem Sinne werden – wie in diesem Kapitel (5.4) gezeigt wird – in beiden Romanen die Hauptfiguren als 671 Huber 1990: 51.

Bildungs- und Entwicklungsgeschichte

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Subjekte von Bildungs- und Entwicklungsgeschichten vorgeführt, die durch ihre Aneignung von vor allem bildungsbürgerlichen Kanones und kulturellen Praktiken ihr bisheriges proletarisches Selbstverständnis modifizieren und im Zuge dessen auch ihr Verhältnis zur antifaschistischen Gemeinschaft und deren Grenzziehungen neu reflektieren. Auf der anderen Seite werden vor allem in der »Ästhetik des Widerstands« nicht nur, aber auch in den Reflexionen über Literatur und Kunst und den entsprechenden Dialogen zwischen verschiedenen Figuren Binnengrenzen der antifaschistischen Gemeinschaft vorgeführt und dadurch ihre Differenziertheit herausgestellt (vgl. dazu Kap. 5.5). Gemeinsam ist den beiden folgenden Kapiteln (5.4 und 5.5) somit, dass sie die den Romanen inhärente kritische Selbstreflexion des entworfenen Kollektivs verstärkt in den Blick nehmen: Die »Ästhetik des Widerstands« als Nach-68-Roman lesen meint also: sie als eine durch die Erfahrung mit der 68er-Bewegung ausgelöste implizite Selbstkritik des Autors an seiner eigenen Politisierung lesen.672

Dabei wird deutlich, dass nicht nur Peter Weiss’ Roman, sondern auch Degenhardts »Zündschnüre« als ein ›Nach-68er-Roman‹ gelesen werden kann.

5.4.1 Aneignungen: Bildung als soziale Grenzüberschreitung »Die Kluft zwischen den Klassen war eine Kluft zwischen verschiedenen Bereichen der Einsicht« (ÄdW1: 38). Dies ist in der »Ästhetik des Widerstands« nicht nur die Überzeugung Coppis, der mit diesen Worten für Aufklärung plädiert, sondern sie prägt ebenso die Haltung Hodanns (vgl. ÄdW1: 270) und des Ich-Erzählers (vgl. exemplarisch ÄdW1: 30, 53, 79, 81, 271), der sich gerade darin als Erbe seines Vaters zeigt: Wie mein Vater stets Anspruch erhoben hatte auf den Zugang zu den kulturellen Gütern, so hatte er drauf beharrt, daß ihm gehöre, was ihn an seinem Arbeitsplatz umgab. Kunst und Literatur waren Produktionsmittel, wie es die Werkzeuge und Maschinen waren. Sein Leben war eine einzige Anstrengung, um über die gezogne Trennungslinie hinwegzukommen. (ÄdW1: 350)

Widerstand heißt für Vater und Sohn nicht nur Kampf gegen den Nationalsozialismus, sondern auch Widerstehen gegen die Bildungsdiskriminierung der Arbeiterklasse: »Unser Studieren war von Anfang an Auflehnung.« (ÄdW1: 53) konstatiert letzterer, und wiederholt wird auf die erschwerten Bedingungen der Arbeiter, sich kulturell zu bilden, hingewiesen (vgl. ÄdW1: 58, 81 und 88). So ist 672 Rector 1992: 99.

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

es der Bürgerssohn Heilmann, der auf Grund seines herkunftsbedingten Bildungsvorsprungs den Freunden den Pergamonfries vorführt: Heilmann, der Fünfzehnjährige, der jede Ungewißheit von sich wies, der keine unbelegte Deutung duldete, bisweilen aber auch der poetischen Folgerung auf bewußte Entregelung der Sinne anhing, der Wissenschaftler sein wollte und Seher, er, den wir unsern Rimbaud nannten, erklärte uns, die wir bereits um die zwanzig waren und die Schule seit vier Jahren hinter uns hatten und das Arbeitsleben kannten, und die Arbeitslosigkeit auch, und Coppi das Gefängnis ein Jahr lang, wegen Verbreitung staatsfeindlicher Schriften, den Sinn dieses Reigens, in dem die gesamte, von Zeus geführte Götterschar zum Sieg schritt über ein Geschlecht von Riesen und Fabelwesen. (ÄdW1: 8f.)

Dabei wird die Auseinandersetzung mit dem Wissen und der Perspektive Heilmanns auch zu einem Korrektiv der bis dato der dogmatischen Parteilinie folgenden proletarischen Akteure. Werden beispielsweise aus der Perspektive der widerständigen Arbeiter des Berlins der 1930er Jahre (erlebendes ErzählerIch, Familie Coppi) die Moskauer Prozesse verteidigt, konfrontiert das Erzählen diese Haltung – trotz allem auch artikulierten rückblickenden Verständnis (vgl. ÄdW1: 208 und 241) – mit der kritischen Perspektive Heilmanns: Es ist so, sagte Heilmann, daß wir vor Geschehnisse gestellt werden, die wir schweigend akzeptieren, an die zu rühren verboten ist […]. Grade weil wir dieses Land als beispielhaft der Welt gegenüberstellen, sagte er, muß ich mich fragen, was dort vorgeht, und wenn ich früher drauf verzichtet hätte, nach einem Verständnis der historischen Zusammenhänge zu suchen, so wäre ich auf der andern Seite geblieben. (ÄdW1: 71)

Der Kontakt zum Bildungsbürger Heilmann ermöglicht somit die Reflexion und Modifikation bis dato unhinterfragter Loyalität. Auch im Roman Degenhardts erscheint kulturelle Bildung als Distinktionsmerkmal zwischen den Klassen. So wird hier ebenfalls das Machtgefälle zwischen Herrschenden und Beherrschten als eines der »Einsicht« konzipiert: Die Alte setzte sich in Positur und fing an, die Sprache der Römer, klar und logisch gegliedert, so wie Staat und Verwaltung des Imperiums Rom. Tausend Jahre, noch mehr, wurde sie dann von den Herrschenden unter sich in Europa benutzt. Das Volk blieb ausgeschlossen von Herrschaft und ihrer Sprache undsoweiter, wie Tünnemanns Oma ebenso sprach. (Z: 213)

Dass Bildungsunterschiede zu überwinden sind, führt der Roman »Zündschnüre« zudem sowohl als Postulat von Figuren als auch an Hand der (Bildungs-)Biographie einzelner Figuren als Möglichkeit vor. So wird hier erstens explizit von verschiedenen Figuren auf die Notwendigkeit verbesserter Schulbildung für die Jugendlichen verwiesen: Das Gelaber von dem Lehrersohn, mal was Großes tun, nicht verkümmern zwischen Kneipe, Werk und Bahndamm, das war ihm nahegegangen, hatte ihn unsicher ge-

Bildungs- und Entwicklungsgeschichte

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macht, und wieder mal dachte er, daß sie viel zu wenig wußten von allem. (Z: 128; vgl. auch Z: 23, 39 und 68)

Außerdem wird mit Fänä zweitens eine Figur ins Zentrum gestellt, die sich ohne große Schwierigkeiten kulturelle Bildung aneignet und als entsprechend talentiert erscheint: Nach einer Weile konnte Fänä das Thema Sonate A-Dur und zwei Variationen. Schang wollte natürlich gern weitermachen, aber Fänä hatte genug. (Z: 39f.; vgl. auch Z: 67)673

Drittens ist der zentrale Stellenwert der Figur Berta Niehus, die neben den Jugendlichen und Heini Spormann als eine der Hauptfiguren des Romans gelten kann, in diesem Zusammenhang relevant. Während am Beispiel von Fänä die Möglichkeit von Bildung vorgeführt wird, verkörpert Niehus die bereits gelungene Verbindung von Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit kultureller Bildung. Nicht nur mit ihren Englischkenntnissen ist sie bestens gewappnet für einen »Talk mit einem Offizier der Royal Air Force« (Z: 49), den sie als »Oxfordianer und hinreichend gebildet« (Z: 50) beschreibt, sondern sie spricht auch Französisch, kann maschineschreiben (vgl. Z: 18) und liest mit ihrem Verehrer Lorenz Fuchs Erzählungen von Clemens Brentano (vgl. Z: 164; vgl. auch Z: 59). Zudem lebt sie der widerständigen Gemeinschaft (bildungs-)bürgerliche Traditionen vor : Ein Efeukranz lag um jeden Teller herum und Tischkarten gab es. Darauf hatte Berta Niehus, die Braut, bestanden und Tünnemann hatte sie mit seiner Malschrift beschrieben. Eine Feier im Kreise des kämpferischen Proletariats bei totaler Illegalität stell ich mir eigentlich anders vor, sagte Lorenz Fuchs dazu, meinst du nicht, Liebe, hier werden bürgerliche wenn nicht feudale Bräuche ohne Kritik übernommen? Das war ein Thema für Berta Niehus und sie sprach eine Stunde über Kultur, wozu nicht nur Bilder und Bücher gehörten, nein alles, auch wie man arbeitet, wohnt, ißt, trinkt und liebt, und daß sie, das Volk, tausend Jahre und noch mehr mit nichts anderem beschäftigt als einfach zu überleben, daß sie, endlich in die Geschichte getreten und die Geschichte bestimmend, sich die Kultur der parasitären Klassen aller, ja aller Zeiten in allen Bereichen zu ihrem Zwecke aneignen würden, ja müßten. Tischsitten, Freund, sagte sie, sind dabei von besonderer Wichtigkeit, zeigt sich doch gerade da, wo der Mensch mit anderen ißt und trinkt und sich bespricht, wie er sich Menschsein vorstellt. Das gemeinsame Mahl ist der vorgezogene Traum des Menschen vom möglichen Leben ohne Ausbeutung, Krieg und vermeidbares Leid undsoweiter. (Z: 181f.)

Sowohl »Die Ästhetik des Widerstands« als auch »Zündschnüre« führen somit insgesamt die antifaschistische Gemeinschaft als eine widerständige Allianz vor, in der sich Arbeiterschaft und Intellektuelle vereinen. Zu Recht beschreibt 673 Vgl. ähnlich auch Schönenborn 2009: 182.

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

Achim Kessler daher die im Weiss-Roman dargestellte, sich am historischen Vorbild erkennbar orientierende ›Rote Kapelle‹ als paradigmatisch »für die Verwirklichung des Volksfrontgedankens«674. Insbesondere im DegenhardtRoman erscheint die Verbindung allerdings durchaus fragil und wird auch skeptisch ›beäugt‹: So wirkt die Darstellung der Integrationsfigur Berta Niehus, die sich meistens an der Perspektive der Jugendlichen zu orientieren scheint, zum Teil leicht distanziert: »Undsoweiter, wie Tünnemanns Oma eben redete« (Z: 56; vgl. exemplarisch auch Z: 18, 31, 49). Und auch Fänäs musikalische Ambitionen sind unter den Jugendlichen nicht unumstritten: »Davon, sagte Sugga, von deinem Mozart, da kann man aber genug von kriegen« (Z: 67). Berta Niehus, die nach eigener Angabe »auch Lenin kennengelernt« (Z: 18) habe, steht zudem Viehmann Ronsdorf, für den sich Forderungen nach Bildung im alteritären »ihr« manifestieren, mit seiner Intellektuellenfeindlichkeit gegenüber : Geschichte der Revolution, sagte Viehmann, bißchen Schulung, fehlt uns doch, sagt ihr immer. Berta Niehus mochte Viehmann nicht. Sie blickte ihn an. Wehe uns, sagte sie, wenn Leute von deiner Art in führende Stellungen kommen sollten. Du bist schon so einer wie jener… Sie sprach nicht weiter, aber Fänä konnte sich vorstellen, was die Alte dachte. Sie achtete Stalin, liebte ihn aber nicht. (Z. 126; Hervorhebung M. S.)

Eine Auflösung dieses Spannungsverhältnisses bietet »Zündschnüre« nicht.

5.4.2 Zum Widerstand der Ästhetik: Die Schriftstellergenese als zweifacher Emanzipationsprozess Anders ist dies in der »Ästhetik des Widerstands«. In der vorgeführten Entwicklung des Ich-Erzählers zum Schriftsteller, in deren Zuge die Möglichkeiten des eigenen Schreibens, wie auch grundsätzlich die eigenen ästhetischen Prämissen (vgl. exemplarisch ÄdW1: 339), wiederholt explizit reflektiert werden (vgl. ÄdW1: 135f., 305; ÄdW2: 172f.; 212), vereinigen sich schließlich proletarische Herkunft, politische Aktivität und Bildungsanspruch. Ausgangspunkt für diese Entwicklung, die mit Jochen Vogt als »Identitätssuche, die etwa ein Jahrzehnt lang durch halb Europa«675 führt, beschrieben werden kann, ist die feste Verortung in einer proletarischen Familientradition und das Bekenntnis zur politischen Linken, was der Erzähler am Ende des Romans selbst expliziert: Es stimmte alles, meine proletarische Herkunft, meine politischen Folgerungen und Handlungen hatten mich in die revolutionäre Partei geführt. Und doch war es jetzt, als 674 Kessler 1997: 70. 675 Vogt 1987: 117.

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habe ich mit dem Eintritt in die Partei erst die Richtung angedeutet, die ich einschlagen wollte. Die Richtung, die Richtung derer, die sich befreien wollten, war seit langem angelegt gewesen. (ÄdW3: 262)

Die zentralen Stationen dieser Schriftstellergenese lassen sich wie folgt skizzieren: Zu Beginn der erzählten Handlung steht der bildungshungrige Arbeitersohn, der »mit Gewalt […] die Bildungsteilung nach Klassenprivilegien« (ÄdW1: 30) überwindet. Die anfänglich »hauptsächliche Bildungsstätte« von Coppi und dem Ich-Erzähler, die »städtische Abendschule« (beide Zitate ÄdW1: 15), zielt primär auf die Einführung in marxistische Geschichts- und Gesellschaftstheorie (vgl. ÄdW1: 15f.). Tendenzen zur Emanzipation des individuellen Bildungsgangs von den politischen Vorgaben zeigen sich aber schon früh. Die Bewunderung für »Kunst als eine ständige, überall vorhandne Kraft zur Erneurung« versetzt den Erzähler in eine Gegenposition zu den Ideologen, die »von den künstlerischen Medien die gleiche Disziplinierung verlangten, die für sie, die Politiker, notwendig war« (beide Zitate ÄdW1: 78; vgl. auch ÄdW1: 79). Zunächst erscheinen die Auseinandersetzung mit Politik einerseits und Kunst andererseits noch als unvereinbare Tätigkeiten. Der Fieberwahn, den der Erzähler in Paris erleidet, kann entsprechend als eine Reaktion auf seinen »Konflikt der doppelten Loyalität« (ÄdW2: 71) gedeutet werden, der sich aus seiner Verbundenheit mit den Parteirichtlinien auf der einen und den sich von diesen abgrenzenden liberaleren Positionen Hodanns und Münzenbergs auf der anderen Seite ergibt.676 Dem Erzähler gelingt es nicht, die Widersprüchlichkeit zwischen den unterschiedlichen Anforderungen, die der »Dogmatismus« (ÄdW2: 71) einerseits und die »künstlerische Lebensweise« (ÄdW2: 67) andererseits implizieren, zu überwinden (vgl. ÄdW2: 65–77). Erst das schwedische Exil und das Kennenlernen weiterer, auch disparater Vorbilder führen zumindest vorläufig zu einer möglichen Verbindung zwischen seinen künstlerischen Ambitionen und seinem politischen Selbstverständnis: Wenn ich nun ein Bild erhielt von der politischen Realität, die mich umgab, von Bedingungen, denen ich mein Dasein anzupassen versuchte, so geschah dies gleichsam zwischen zwei Polen, in einem ständigen Wechsel der Blickpunkte. In Brechts Bereich gab es Helligkeit, ungebundne Phantasie, was Rogeby mir vermittelte, war behaftet mit der Schwere, dem Dunst des Arbeitslebens. Das Gegensätzliche griff aufeinander über, vermengte sich miteinander, ein Gewebe entstand, das meinem jetzigen Dasein einen Hintergrund geben könnte. (ÄdW2: 256)

676 Zur Funktion Hodanns, der »als Gegenfigur zu den Parteifunktionären und besonders zu Mewis« (Kessler 1997: 49) und in der Figurenkonstellation als omnipräsent erscheint, vgl. Kessler 1997: 47–49.

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Die Unvereinbarkeit von Arbeiter- und Schriftstellerexistenz überwindet er. Vielmehr : Ihre Verbindung scheint geradezu Bedingung der eigenen schöpferischen Tätigkeit des Erzählers als Schriftsteller zu sein: Ich begann meine neue Tätigkeit als Chronist, der gemeinsames Denken wiedergab. […] Ich blickte hinein in einen Mechanismus, der siebte, filtrierte, scheinbar Unzusammenhängendes zu Gliederungen brachte, der Vernommnes Erfahrnes zu Sätzen ordnete, der ständig nach Formulierungen suchte, Verdeutlichungen anstrebte, vorstieß zu immer neuen Schichten der Anschaulichkeit. […] Die ungeheure Kluft zwischen uns, die wir an die Stempeluhr gebunden waren, und denen, die sich in Unabhängigkeit der Literatur, der Kunst zuwenden konnten, hatte nichts Quälendes mehr, vielmehr war es, als sei mir grade durch den Druck der realen Verhältnisse das nahegebracht worden, was ich ausdrücken wollte. (ÄdW2: 306)

So beschrieben wirkt sein Schreiben hier als ein rationaler Prozess, als ein »Instrument, zugehörig einer Weltwissenschaft« (ÄdW2: 306). In Anbetracht der Erfahrungen der Mutter und der Lektüre des Werks der Schriftstellerin Karin Boye, aber auch als Reaktion auf Gespräche mit Rosalinde von Ossietzky (vgl. ÄdW2: 171–173) vollzieht sich eine weitere Wandlung. Sein »rationales System« (ÄdW3: 38) gerät ins Wanken: Sie hatte sich nicht, wie ich, ausgehend von wirklichkeitsgetreuem Beweismaterial, gemeint hatte, in Labyrinthen verloren, deren Ausdeutung die Zeit nie zulassen würde, sondern sich in ihrem Buch Kallocain hineinversetzt in das letzte nur denkbare Wuchern einer schon zutiefst verunstalteten Realität, und all das, was wir, im Selbsterhaltungstrieb, nicht zu durchschauen wagten, zu etwas unmittelbar Bevorstehenden gemacht. Boye, dieser zarte Mitsoldat, dieses nächtliche Ich von unbestimmten Aussehen und Alter, hatte mit ihrer Darstellung einer unbarmherzigen, in zwei gewaltige Blöcke geteilten Welt, das ganze theoretisch aufgebaute Dasein des jungen Arbeiters, der zum Schriftsteller werden wollte, überrollt. (ÄdW3: 37f.)

Insbesondere in der Konfrontation mit dem Tod der Mutter wird das bisherige Modell seiner Welterklärung und seines Schreibens ungültig: Von der Vernunft, der geistigen Beherrschung der Kunst war nichts mehr vorhanden, höchstens Regungen körperlicher Art waren spürbar, wie sie auch dem Entstehn von Kunst zugrunde liegen mochten. Doch wenn ich, allein mit meiner Mutter, versuchte, mich über das Gebot des Sterbens hinwegzutäuschen, und ihr gewärmte Milch zwischen die halb offenen, verschorften Lippen träufelte, die ihr dann wieder aus dem Mund rann, war mir jegliche Form, mit der sich das, was sich jetzt ereignete, miteilen ließe, undenkbar geworden. (ÄdW3: 131)677 677 Zur Gegenüberstellung von männlicher Vernunft und weiblicher ›Unvernunft‹ sowie zur Patriarchatskritik in »Die Ästhetik des Widerstands« vgl. Schulz 1986: 52f.; Söllner 1988: 213–220; Huber 1990: 271–329; Mieth 1993: 40, 45; und Feusthuber 1994. Zu einer psychoanalytischen Deutung der im Roman explizierten Patriarchatskritik vgl. Langer 1995: 70–75.

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Zum Fluchtpunkt der schriftstellerischen Entwicklung des Erzählers wird schließlich ein Schreiben, in dem – wie von seinem »Mentor«678 Hodann gefordert – »die Grenze zwischen dem sich Verschließen und dem sich Öffnen«, also zwischen der Fähigkeit zum »Versinken im Unbenennbaren« einerseits und der Bereitschaft, »sich an die äußre Welt zu wenden« (alle Zitate ÄdW3: 132) andererseits vorhanden bleibt. Dieses manifestiert sich im vom Erzähler beim Kriegsende angestrebten zukünftigen Schreibprojekt: […] sie, die die Wirklichkeit, in der wir lebten, und damit auch die Gegenwart, aus der heraus ich einmal schreiben würde, verändert und geprägt hatten, waren nicht einmal im Besitz ihrer Namen gewesen. Mit Chiffren, Decknamen hatten sie sich verborgen. Wenn ich beschreiben würde, was mir widerfahren war unter ihnen, würden sie dieses Schattenhafte behalten. […] Mit dem Schreiben würde ich sie zum Sprechen bringen. Ich würde schreiben, was sie mir nie gesagt hatten. Ich würde sie fragen, wonach ich sie nie gefragt hatte. Ich würde ihnen, den Geheimgängern, ihre wahren Namen zurückgeben. Ich würde mich ihnen nähern, mit meinen spätern Erfahrenen, meinem Wissen um ihr späteres Tun, und wenn ich mich dann immer noch täuschte, so stünde dies in Übereinstimmung mit ihrem Wesen, zu dem das Täuschen gehörte. Ich würde ihre geflüsterten, gemurmelten Monologe, ihre bösen Träume erraten, sie selber würden sich darin vielleicht nicht wiedererkennen, mich aber würde ich erkennen, wie ich einst darauf lauerte, ihnen Zeichen ihres Lebens aus den verwischten Gesichtern ablesen zu können. (ÄdW3: 265f.; Hervorhebung M. S.)

Der Anspruch auf eine rein rationale, auch objektive Darstellung der Geschichte tritt hier zu Gunsten eines rückblickenden Entwerfens »mit den Kenntnissen aller folgender Irrtümer und Zerwürfnisse« (ÄdW3: 261) zurück. Das VertrautMachen durch Beschreiben, das als ein zentrales Schreibmotiv erscheint, gelangt an Grenzen, das »Schattenhafte« bleibt erhalten.679 Das schreibende Erinnern zielt daher weniger auf Aussagen über eine historische Realität, sondern auf eine Erkenntnis des eigenen Ichs: [U]nd vielleicht wäre es dann nicht einmal so wichtig, das damalige Ich zu verstehn, sondern dem, der sich besinnt, näher zu sein, denn dies ist ja das Wesen der Zeit, daß wir uns fortwährend entwerfen, aus den Augen verlieren, auf neue Art wieder finden, ein Prozeß, in dem uns die Untersuchung aller Einzelheiten auferlegt ist, und das Schreiben wäre die Tätigkeit, mit der ich dieser Aufgabe nachkommen könnte, und mit der ich mich von den Praktikern unterschiede. (ÄdW3: 261; Hervorhebung M. S.)

Dieses schriftstellerische Selbstverständnis des Erzählers prägt im Prinzip sein ganzes Erzählen und somit auch die Poetik des Romans, wie bereits die vorgängigen Ausführungen zur spezifischen Ambivalenz des homodiegetischen Erzählers angedeutet haben (vgl. Kap. 5.2.4). Andreas Huber, der die »Ästhetik 678 Söllner 1988: 199. 679 Vgl. ähnlich auch Butzer 1997: 209.

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des Widerstands« dezidiert »auf der Folie des Entwicklungsromans«680 liest, beschreibt diese Reflexivität des Textes passend folgendermaßen: Der politische und ästhetische Erfahrungsprozeß des erlebenden Ich hat also einen Fluchtpunkt in der Identität des erzählenden Ich […], das sich als Subjekt der Romankonstruktion in deren künstlerisch-struktureller Eigenart unmittelbar manifestiert. Die ÄdW rekapituliert so einen Bildungsgang, während sie gleichzeitig das Bildungsziel dokumentiert.681

Ganz ähnlich spricht Jochen Vogt von einer »Doppelstrategie«, bei der der dargestellte Entwicklungsprozess einerseits »auf die Ausbildung proletarischen Klassenbewußtseins, auf politische Handlungs- und Widerstandsfähigkeit« ziele und andererseits auf eine »künstlerische Identität« zustrebe, »auf die Definition einer künftigen Aufgabe (nämlich: ein Werk ganz ähnlich wie die Ästhetik des Widerstands zu schreiben)«682. So wird das erzählende Ich als künstlerisches Selbst zu einem Korrektiv des proletarischen Selbst, indem es – nicht nur in der Rückschau – eigene Zugehörigkeit und Loyalitäten auch kritisch reflektiert. Dazu Achim Kessler : Kulminationspunkt der Figurenkonstellation ist der Ich-Erzähler. Mit seiner Gestaltung thematisiert Peter Weiss die Relation zwischen Individuum und Kollektiv und wendet sich unter Rückbesinnung auf die Grundlagen des Marxismus gegen die Überbetonung eines dieser beiden Elemente der menschlichen Gesellschaft. Indem Weiss den Ich-Erzähler auf ein Gleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv ausrichtet, wendet er sich gegen die restlose Unterordnung des Individuums, wie sie sich im Herdencharakter der faschistischen »Volksgemeinschaft« aber auch in der Nivellierung der Individualität in den Gesellschaften des »realexistierenden Sozialismus« manifestierte.683

Statt dabei politische Komplexitätsreduktion und künstlerische Komplexitätssteigerung gegeneinander auszuspielen, wird das eigene Schreiben schließlich insofern selbst als politisches Handeln begriffen, als dass die ästhetische Reflexion des eigenen Handelns der identitären Selbstreflexion des erzählenden Ichs dient. Insbesondere aus dieser Perspektive wird auch die Zweideutigkeit des Titels der Romantrilogie – »Ästhetik des Widerstands« versus »Ästhetik des Widerstands« – bedeutungsvoll: Wie könnte dies alles geschildert werden, dachte ich, nun aus den Vereinfachungen gerissen, mit denen ich mir eine Ausdauer ermöglicht hatte. Wie wäre dies, was wir durchlebten, so darzulegen, fragte ich mich, daß wir uns darin erkennen könnten. Die Form dafür würde monströs sein, würde Schwindel erwecken. Sie würde spüren lassen, 680 681 682 683

Huber 1990: 42. Huber 1990: 42f. Ähnlich argumentiert auch Martin Rector (1992: 112). Alle Zitate Vogt 1987: 117. Vgl. auch Kessler 1997: 133f. Kessler 1997: 142.

Der differenzierte und differenzierende Blick auf die widerständige Gemeinschaft

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wie unzureichend schon die Beschreibung der kürzesten Wegstrecke wäre, indem jede eingeschlagne Richtung ihre Vieldeutigkeit eröffnete. (ÄdW1: 130; Hervorhebung M. S.)

Diese Reflexion des Erzählers über die Möglichkeit, vom antifaschistischen Widerstand zu erzählen, scheint selbstreflexiv auf die Poetik der ganzen Trilogie abzuzielen. So lässt sich deren Form doch treffend in dem Sinne als »monströs« beschreiben, dass tatsächlich »jede eingeschlagne Richtung ihre Vieldeutigkeit eröffnet«. Entsprechend kann die »Ästhetik des Widerstands« mit Bertram Salzmann als ein Beispiel von »Literatur als Widerstand« gedeutet werden: Wie die nachfolgenden Analysen zeigen, zeichnet sich der Roman dadurch aus, dass er »unterschiedliche Sichtweisen miteinander konfrontiert und ins Gespräch bringt, ohne eine von ihnen ins Recht zu setzen«, und so »das Bewußtsein für Grenzen und Widersprüche« schärft und die »Komplexität der Wirklichkeit ebenso ernst wie die Mündigkeit seiner Leser«684 nimmt. Damit unterläuft er nicht zuletzt die strikt binären identitären Grenzziehungen, die für die antifaschistische Identität des erlebenden Ichs während insbesondere seiner Zeit im Berlin der 1930er Jahre zentral sind (vgl. Kap. 5.2.3).

5.5

»So entsteht die paradoxe Situation, daß es zwischen all denen, die Gemeinsames anstreben, schärfste Trennungslinien gibt« – Der differenzierte und differenzierende Blick auf die widerständige Gemeinschaft

Wie auch in Franz Josef Degenhardts Roman »Zündschnüre« trägt in »Die Ästhetik des Widerstands« vor allem die Präsentation einer Vielzahl von Figuren, ihre Konstellation und Rede dazu bei, die antifaschistische Gemeinschaft nicht als einen monolithischen Block, sondern als komplexes, auch veränderbares Gebilde erscheinen zu lassen. Nicht nur scheint ihre konstituierende Außengrenze ›passierbar‹ zu sein (Kap. 5.5.1), sondern auch durch das Herausstellen von Binnendifferenzen wird das Konstrukt einer geschlossenen antifaschistischen Gemeinschaft in Frage gestellt (Kap. 5.5.2 und 5.5.3).

684 Alle Zitate Salzmann 2003: 339.

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5.5.1 Seitenwechsel: Die durchlässige Grenze zwischen Widerstand und Nationalsozialismus In beiden Romanen werden einzelne Figuren gerade in ihrer wechselnden Zugehörigkeit vorgeführt; die Figurenkonstellation ist in diesem Sinne dynamisch. So gilt in »Zündschnüre« sowohl für Lorenz Fuchs, den Mann, den Berta Niehus schließlich heiratet, als auch für Berti Bischoff, einen ehemaligen Schulkameraden der jugendlichen Protagonisten, dass sie zwischenzeitlich zu Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung werden, bevor sie wieder als Teil der anifaschistischen Gemeinschaft erscheinen. Jetzt waren schon drei in der Erlenhöhle und sollten bald noch mehr werden. Der vierte war Berti Bischoff, erst Freund, dann Feind, dann wieder Freund, wie das so ging in diesen Zeiten. Und das ging so. (Z: 103)

Ähnlich wie Berti Bischoff, der zunächst »wie der Bruder von Egon und Viehmann« (Z: 103) war, dann ein HJ-Führer wurde, der in Viehmanns Vater den »bolschewistischen Volksfeind« (Z: 105) sieht, und schließlich als Wehrmachtsdeserteur von den jugendlichen Protagonisten in der Erlenhöhle versteckt wird, wechselt auch Lorenz Fuchs wiederholt die Seiten: Nämlich Berta Niehus war, bevor sie gelähmt wurde, eng befreundet gewesen mit Lorenz Fuchs. […] Lange Spaziergänge hatten sie gemacht, dabei disputiert über Gott und die Welt, wobei sich zeigte, daß Fuchs, wie Berta Niehus es ausdrückte, eine merkwürdige Neigung für die Philosophie des Elitären entwickelte und an die Existenz von Übermenschen glaubte, ja, sich insgeheim sogar dazuzählte. Das war nun nichts Besonderes, obwohl Fuchs Prolet war wie alle hier und Rangiermeister nur, weil alle anderen Soldaten wurden, nur er nicht. Er war nämlich besonders kurz geraten und trug eine Kriegskasse – einen Buckel – mit sich […] und das war auch der Grund für seine Spinnerei, weil er sich natürlich was ausdenken musste, um seine Mickerigkeit wettzumachen. Aber leider blieb es nicht bei der Spinnerei. Anfang 41 ging er zu den Braunen, trat sogar in deren Partei ein und wurde bald danach auch Rangiermeister. (Z: 59)

Bereits die Tatsache, dass beide Figuren trotz zwischenzeitlicher Sympathie für die »Braunen« wieder als Teil der Gemeinschaft akzeptiert werden, macht aus einer strikten Scheidung zwischen Gut und Böse zumindest punktuell eine durchlässige Grenze. Zudem wird die wechselhafte Vorgeschichte der beiden Figuren in zwei Analepsen zusammengefasst, in denen mögliche Gründe ihrer Anfälligkeit für den Nationalsozialismus reflektiert werden, wie zum Beispiel ein gewisser Geltungsdrang: Fuchs wird mit den Anspielungen auf Nietzsches Philosophie des Übermenschen beschrieben als jemand, »der einen Sinn hatte für Höheres« (Z: 59), und auch der »Lehrerssohn« (Z: 103, 113, 128) Bischoff plädiert dafür, »einmal was Großes [zu] wagen« (Z: 119). Statt im Anderen etwas

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grundlegend Böses zu sehen, ermöglicht die Erklärbarkeit des Wandels schließlich auch dessen Umkehrung: Statt Lorenz Fuchs nur als »verwachsenen Faschisten« (Z: 60), wie Berta Niehus ihn zunächst bezeichnet, zu verstehen, führt eine mehrstündige Aussprache schließlich zur erneuten Annäherung (vgl. Z: 61). Mit Blick auf Berti Bischoff erweist sich die Umkehr als komplizierter : Seine offensichtlich traumatische Fronterfahrung hat zwar zur Abkehr vom Nationalsozialismus, aber nicht von seinem Geltungsdrang geführt. Vielmehr stachelt er die Jungen auf, eine Partisanenarmee zu gründen. Während der Deserteur von den Führern des illegalen Widerstands schließlich auf unbekannte Weise aus dem Verkehr gezogen wird – »Der ist da, wo er nicht mehr weglaufen kann, sagte Stumpe« (Z: 131) –, wird sein Hang zum Heldentum Fänä ausgeredet: Er sollte sich mal überlegen, warum schon im ersten Krieg und jetzt in diesem so viele Jungens von ihnen, Arbeiterkinder, freiwillig und begeistert mitgezogen wären. Vaterland Heldentum Größe. Das hätten die anderen ihnen damals vorgemacht. Heute dasselbe, bloß noch paar andere Worte, Herrenrasse undsoweiter dabei. […] Unsere Stärke aber ist Disziplin. Hierbleiben, hier kämpfen, jeden Tag. […] Und nachher, als Fänä schon ging, rief er hinter ihm her, erzähl das den anderen Partisanen auch. Das is’n Auftrag. (Z: 132ff.)

Entsprechend kann mit Blick auf den Degenhardt-Roman keineswegs davon die Rede sein, dass der »skrupellose Fanatismus der positiven Helden und die Idyllisierung von dessen Folgen« als »vom ›Autor‹ gebilligt[ ]«685 erscheint. In »Die Ästhetik des Widerstands« spielen ähnliche ›Seitenwechsel‹ von Figuren keine so zentrale Rolle wie in »Zündschnüre«. Aber auch hier dient der einzige geschilderte Fall – die Erfahrungen der Schriftstellerin Karin Boye – dazu, mögliche Gründe für eine Affinität zum Nationalsozialistischen zu reflektieren: Ich gab Boyes Schilderung wieder, wie sie sich hatte betören lassen von dem Mann mit dem bleichen Hysterikergesicht auf der Tribüne in der überfüllten Sporthalle, und wie sie zu spät erst das Ruchlose seiner Reden begriffen habe. Viele von uns, sagte Hodann, seien immer noch, und oft grade, wenn es um Entscheidendes gehe, wie Kinder, wir ließen uns beherrschen von Hoffnungen, deren Ursprung eingebettet sei in der Erinnrung an das Ertasten der Mutterbrust, im Aufgehn in einer Harmonie, die es für uns nicht mehr gebe. […] Sie habe nicht widerstehn können, habe mit einstimmen müssen in den Jubel, habe eins werden wollen mit der Masse, und dazu habe sie nicht der Wunsch nach Leben getrieben, sondern nach dem Verschwinden im Tod. (ÄdW3: 39f.; Hervorhebung M. S.)

Hodanns entsprechende psychoanalytisch anmutende Erklärungen und die damit einhergehende Verwendung des Personalpronomens »wir« machen 685 Müller 1984: 171.

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deutlich, dass es dabei nicht nur um eine Faschismusanalyse aus der Außenperspektive, sondern auch um eine Selbstreflexion antifaschistischer Identität geht, die kritisch auch auf die eigene Anfälligkeit für Massenbewegungen zielt. Diese episodische Erzählung vom punktuellen ›Seitenwechsel‹ Boyes führt somit dazu, dass auch in der »Ästhetik des Widerstands« – ähnlich wie in »Zündschnüre« – die strikte Grenzziehung zwischen der ›guten‹ Gemeinschaft und dem ihr entgegengestellten faschistischen Anderen gelockert wird; eine Tendenz, die im Weiss-Roman insbesondere in der Verbindung mit der HodannFigur wiederholt als Reminiszenz auf totalitarismustheoretische Diskurse der Nachkriegsjahrzehnte gelesen werden kann (vgl. vor allem auch ÄdW3: 255– 260).

5.5.2 Streitgespräche: Figurale Verhandlungen von Binnengrenzen Während die Außengrenze der antifaschistischen Gemeinschaft durch die in Ansätzen dynamische Figurenkonstellation ›porös‹ wird, werden Binnengrenzen dagegen gerade nicht aufgelöst. So begegnet der Leserin in beiden Romanen eine relative Figurenfülle, durch die verschiedene Fraktionen der Antifaschisten repräsentiert werden; bei Weiss vor allem (männlich dominierte) Parteiführung versus einfache Mitglieder (vgl. exemplarisch ÄdW3: 80f.), Arbeiterschaft versus linksintellektuelles (Groß-)Bürgertum (vgl. exemplarisch ÄdW3: 190– 199), Kommunisten versus Sozialdemokraten (vgl. vor allem ÄdW1: 104–126), sowjetische KPD versus anarchistische Gruppierungen in Spanien (vgl. ÄdW1: 228–244). Eine mögliche Totalität des oben beschriebenen autonarrativen Wir wird nun schon allein dadurch unterlaufen, dass mit dem Personalpronomen ›wir‹ – wie Achim Kesslers und Jürgen Links Beobachtungen deutlich machen (vgl. Kap. 5.2.4) – unterschiedliche Teilmengen einer antifaschistischen Großgruppe bezeichnet, also verschiedene molekulare Wir erzeugt werden, deren Interaktion als konflikthaft inszeniert und deren Integration in eine umfassende Gemeinschaft durchaus in Frage gestellt wird. Außerdem verweist die unterschiedliche Dimensionierung des Wir-Bezugs mindestens implizit auf die Konstrukthaftigkeit gesellschaftlicher Großgruppen: Dadurch dass sich das erzählerische Wir in seinem Bezug nicht eindeutig festlegen lässt, weil es im Roman – zumindest in gewissen Grenzen – wiederholt variabel verwendet wird, wird deutlich, dass es nicht etwa auf ein Kollektiv als eine Art Essenz referiert. In »Zündschnüre« wird die widerständige Gemeinschaft ebenfalls als ein komplexes Gebilde, bestehend aus einer Vielzahl von Figuren vorgeführt, auch wenn der Degenhardt-Roman dabei durchaus nicht die ›monströse‹ Form erreicht, die den Weiss-Roman auszeichnet. Hier verkörpern einzelne Figuren

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exemplarisch verschiedene Standpunkte innerhalb einer antifaschistischen Gemeinschaft: Berta Niehus als Intellektuelle wird dabei Viehmann Ronsdorf als eher brachialem Gegner alles Geistreichen gegenübergestellt (vgl. Z: 126); die Affinität von Liesbeth Krach zum Katholizismus, die insbesondere von ihrem eigenen Sohn Zünder wiederholt kritisiert wird (vgl. Z: 19f.), symbolisiert den Gedanken einer möglichen Volksfront und der Sozialdemokrat Dautzenberg verweist auf die Möglichkeit einer linken Einheitsfront (vgl. Z: 80). Jugendlichem Partisanentum und Heroismus, verkörpert durch die fünf jungen Protagonisten, wird solide, taktierende politische Arbeit, repräsentiert durch die Vaterfiguren, gegenüber gestellt (vgl. Z: 119–134).

Austragen von Kontroversen Im Unterschied zu den literarischen Darstellungen des Widerstands, die dessen integrativen Charakter, vor allem im Sinne einer Überwindung politisch-sozialer Grenzen in einer harmonischen nationalen Interaktion, herausstellen (vgl. Kap. 3), werden in den beiden Romanen von Franz-Josef Degenhardt und Peter Weiss die verschiedenen Positionen nun nicht bruchlos zu einer Einheit synthetisiert, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit markiert und bestehen gelassen. Zentral ist in diesem Zusammenhang das wiederholte Vorführen von Streitgesprächen zwischen verschiedenen Figuren, die Teil der antifaschistischen Gemeinschaft sind. Damit wird an bekannte Kontroversen angeknüpft. So böte die »Ästhetik des Widerstands« laut Jochen Vogt »der westdeutschen Linken einen Fluchtpunkt für ihre – mit der konservativen Rückentwicklung seit den siebziger Jahren dringlich gewordene – Selbstverständnisdiskussionen«686 ; ähnlich konstatiert auch Martin Rector mit Blick auf die spezifische Rezeption der »Ästhetik des Widerstands« in den während der 1980er Jahre gebildeten, auch außeruniversitären Arbeitskreisen: Dass die Ästhetik des Widerstands solche Formen der Rezeption zeitigte, hatte offensichtlich drei Gründe. Zum einen lag es natürlich an ihrem politischen Erzählgegenstand, der über weite Strecken identisch war mit den Gegenständen der Arbeitsgruppen und Schulungszirkel der Neuen Linken, wie sie sich in den siebziger Jahren im Umkreis der Studentenbewegung gebildet hatten und die ein integrales Moment der »Theoriearbeit« der Neuen Linken geworden waren. An diese Schulungs-Lektüren sowohl der marxistischen Klassiker als auch der Geschichte der Arbeiterbewegung und nicht zuletzt der theoretischen Auseinandersetzungen, Kontroversen innerhalb der marxistischen Linken konnte die Lektüre der Ästhetik des Widerstands unmittelbar angeschlossen werden.687 686 Vogt 1987: 131; vgl. ähnlich auch Vogt 1987: 120f.; und Rector 1992: 104. 687 Rector 2008: 24.

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Beispiele für die intensive Verhandlung linksintellektueller Diskurse in dem Roman sind die Debatten um einen sozialistischen Realismus (vgl. exemplarisch ÄdW1: 56–69) oder auch die um die Einheitsfront, die sich in den imaginierten Gesprächen zwischen dem Ich-Erzähler und seinem sozialdemokratischen Vater ebenso manifestieren (vgl. ÄdW1: 95–169) wie in den unterschiedlichen Perspektiven von Ström und Rogeby auf die Geschichte der schwedischen Arbeiterbewegung (vgl. ÄdW2: 255–305). Auch die Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Kritik und Gehorsam, wie sie die Diskussionen zwischen Hodann und Marcauer einerseits und Repräsentanten der Parteiführung andererseits während des Spanischen Bürgerkriegs dominieren (vgl. exemplarisch ÄdW1: 244–251 und 288–297), zählen dazu. Hodanns im Folgenden zitierte Reflexion expliziert die Ambivalenz, die aus dem Anspruch, sich einerseits im Widerstand als Gemeinschaft zu konstituieren, und andererseits aber zugleich Kontroversen auszutragen und ›interne‹ Widersprüche auszuhalten, resultiert: So entsteht die paradoxe Situation, daß es zwischen all denen, die Gemeinsames anstreben, schärfste Trennungslinien gibt, und dies bis zur Selbstzerfleischung. Nur die ausdauerndste und listigste Führung, die im Besitz des größten historischen Überblicks ist, kann aus der Fülle der Tendenzen eine haltbare Synthese herstellen. (ÄdW1: 253)

In »Zündschnüre« lässt sich ebenfalls zumindest eine Tendenz, an bekannte Kontroversen zu erinnern, beobachten. Auf Grund der Orientierung des Erzählens an der Wahrnehmungsperspektive der jugendlichen Protagonisten werden diese aber eher implizit aufgegriffen, wirken weniger theoretisch reflektiert und argumentativ undifferenzierter : Viehmann meinte, diese ganze Musik von denen, Mozart und wie sie alle hießen, wär sowieso Kappes. Die beiden stritten sich herum, Tünnemann sagte, die Musik ist vielleicht gut, bloß verstehen wir das nicht, weil sie uns das ja nie erklären. Eben, sagte Viehmann, und deshalb geht uns das auch nichts an. Das ist denen ihre Sache. Die machen das doch auch alles bloß für sich und damit unsereins das nicht versteht. Blödsinn, sagte Tünnemann, das müssen wir eben auch lernen. Viehmann lachte, du mit ’ner Geige, hoppste herum und strich mit einem Stock über seinen ausgestreckten Arm. Ob er wüßte, daß Lenin, jawoll Lenin, so eine Musik gern gehört hätte, fragte ihn Tünnemann […]. (Z: 31)

Neben den Debatten um den Stellenwert kultureller Bildung im politischen Kampf und das Verhältnis zu bürgerlicher Kunst wird auch die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen und seiner Bedürfnisse zur Parteidogmatik implizit verhandelt und zwar in der Auseinandersetzung um die geplante Hochzeit von Berta Niehus mit dem von den übrigen Linken skeptisch beäugten Lorenz Fuchs:

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Schließlich, wer außer Berta Niehus mochte die Füße dafür ins Feuer halten, daß Fuchs kein Spitzel war […]. Stacho, aber auch die anderen und vor allem Ewald Stumpe hielten das jedenfalls für gefährlich, und man sagte ihr, sie solle sich gedulden bis nach Kriegsschluß. Vorher dürfe Fuchs nicht zu ihr ziehen. Es gab einen lauten Zank in der Wohnung. Stumpe war da und erklärte ihr das […]. Müßte sie doch verstehen, wär ja auch nur noch paar Wochen, dann wären die Amis da. […] Sie sei bei vollem Verstand, hätte aber ein Recht auf Glück wie jeder andere auch, gerade in diesen Zeiten. […] Recht auf Glück, sagte Stumpe, was soll denn so was bedeuten. Das ist doch Gelaber. Hier geht es doch um was anderes. Da wurde Berta Niehus sehr ruhig und sagte, ich werde mich für meinen Schritt nach Ende des Krieges vor dem zuständigen Gremium des Krieges verantworten, verlaß dich darauf. Und nun raus. (Z: 165)

In beiden Romanen werden die unterschiedlichen Standpunkte der Figuren in der Regel nicht aus einer übergeordneten Erzählperspektive oder durch den Entwurf eindeutiger Sympathie- und Antipathiefiguren bewertet und zu Gunsten einer urteilenden Haltung überwunden. Sie bleiben relativ gleichberechtigt nebeneinander stehen.688

Im Modus des Indirekten: Zur Infragestellung von objektiver Wirklichkeitswahrnehmung in »Die Ästhetik des Widerstands« Die Erfahrungen des Holocaust tragen in der (literarischen Post-)Moderne dazu bei, dass nicht mehr eine mimetische Annährung an die Wirklichkeit im Kunstwerk angestrebt wird, sondern dass die Brüche der Wirklichkeit in den Fokus rücken. Diese Konstellation wird in der Ästhetik des Widerstands wirksam und wirft Darstellungsprobleme auf, denen mit verschiedenen Strategien begegnet wird.689

Mit diesen Worten umreißt Tobias Mandel in seiner 2013 publizierten Dissertation, die sich »Formen und Funktionen von Intertextualität in der Ästhetik des Widerstands« widmet, eine zentrale diskursive ›Entstehungsbedingung‹ des Weiss-Romans. Im Unterschied zu Mandel, der ausgehend von dieser Feststellung die »Verwendung intertextueller und intermedialer Verweise«690 als relevant hervorhebt und in den Blick nimmt, halte ich in diesem Zusammenhang die spezifischen Formen der Wiedergabe von Figurenrede sowie deren Zusammenspiel mit der Erzählerrede für besonders zentral. So trägt in der »Ästhetik des Widerstands« – unter anderem neben der variablen Dimensionierung des »Wir«-Bezugs – auch der spezifische Modus des Indirekten, den bereits Gisela 688 Zur Diskussion um eine mögliche Vielstimmigkeit des Romans, um Polyphonie sensu Bachtin, und deren Grenzen vgl. (in kritischer Auseinandersetzung mit Huber 1990) Butzer 1997: 163–166. 689 Mandel 2013: 12. 690 Mandel 2013: 12.

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Schulz in ihrer Dissertation (1986) überzeugend herausgearbeitet hat, entscheidend dazu bei, dass der Roman trotz seiner Tendenz zum Entwurf eines Kollektivsubjekts nicht hinter postmoderne Einsichten in die Konstruiertheit von historischer Realität und gesellschaftlichen Großgruppen zurückfällt. In indirekter Rede werden geschichtliche Ereignisse und politische Positionen, ästhetische Theorie und Erfahrungen im Umgang mit Kunstwerken referiert, so daß alle Aussagen gleichsam hintertrieben werden, wodurch die konjunktivische Daseinsweise der politisch-historischen Realität selbst eine »Aussage« der Ästhetik des Widerstands wird. Nicht »Wirklichkeit«, sondern das Nach-schreiben des Redens über sie, der Meinungen und Gedanken, die den Ereignissen folgen oder sie begleiten – also eine schon doppelte Brechung – konstituiert das Werk und seine Ästhetik.691

Das erzählende Ich als Repräsentant der antifaschistischen Gemeinschaft bündelt zwar die Perspektiven verschiedener handelnder Figuren, aber ohne sie letztgültig zu einer Einheit zu synthetisieren. Es stellt weniger ein »entindividualisiertes Syntheseverfahren«692 dar, in dem Gegensätzliches zu einer Einheit zusammengefügt würde, sondern sein Erzählen fungiert als »Prisma«693, das die verschiedenen Binnenpositionen bricht und in ihrer Gebrochenheit darstellt. Als ein Beispiel für dieses ›prismatische‹ Erzählen sei eine längere Passage aus dem zweiten Teil des ersten Bandes zitiert, in der es um Diskussionen über die politische und militärische Lage in Spanien geht: Die Frage aber wurde gestellt, warum die Arbeiterschaft Frankreichs, Englands, Skandinaviens nicht genügend helfe […]. Wo blieben die Kampfaktionen, wurde gefragt, wo blieb der mächtige Generalstreik […]. Können wir denn von uns behaupten, sagte Grieg, daß wir uns von ihnen unterscheiden, geraten auch wir nicht zuweilen in Stillstand, in Ausweglosigkeit, die wir dann mit fremder Hilfe, manchmal auch kraft eigener Gedanken, überwinden. […] Wir sind Humanisten, hörte ich ihn noch einmal sagen, doch unsre Humanität ist mit Schande bedeckt. [..] Ich verstand seine Selbstanklage nicht. War es denn nicht genug, daß er hier war, fragte ich mich […]. Alles, was wir zu tun vermochten, war Begrenzungen unterworfen, wir kritisierten die Schwächen an uns und an andren, wir unterlagen übereilten Schlußfolgerungen […]. In der Nachrichtenverbreitung, sagte Hodann, wird nun vorgegangen nach den gleichen Mustern, die wir uns, in Enge und Ungeduld, zusammenklauben. Sündenböcke werden gesucht für die Räumung Teruels, den verlustreichen Rückzug. Da wurden zunächst Anarchisten, versprengte Anhänger Nins genannt, obgleich deren Einfluß längst als gebrochen gemeldet worden war. Plötzlich tauchten sie wieder auf und hatten […] die Stadt in die Hände des Feindes fallen lassen, dann richteten die Angriffe sich gegen Prieto, den Verteidigungsminister, und es wurde nach seiner Absetzung gerufen. Auf dem Boden der täglichen Anstrengungen sahn wir den Zwiespalt im Volkskrieg aufs neue hervortreten. Zum Zeitpunkt, da die nationalsozialistischen Armen drohten, […] 691 Schulz 1986: 11. 692 Söllner 1988: 191; Hervorhebung M. S. 693 Schulz 1986: 43.

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die Republik zu zerschneiden, wuchsen die Unstimmigkeiten in der Regierungspolitik zur Krise an, die Parteien richteten sich gegeneinander, während die Truppen ihr Äußerstes gaben, um die Stellungen bei Caspe zu halten. Doch auch dies ließe sich anders beurteilen, sagte Grieg. Wie in den militärischen Reihen kein Nachgeben, keine Unzuverlässigkeit aufkommen durfte, so war in der Regierung niemand zu dulden, der […] zu eigenmächtigen Handlungen neigte. […] Mewis […] führte weitere Gründe an, die Prietos Enthebung notwendig machten. Von Prieto, der dem rechten sozialistischen Flügel angehörte, wußte ich nichts, als daß er rund, dicklich war und der Frosch genannt wurde. Nur von Rivalitäten zwischen ihm und Caballero […] hatte ich gehört. Dann habe er sich, hieß es, als Günstling der Kommunistischen Partei über Caballero erhoben. Bestürzend war diese Belanglosigkeit von Kenntnissen, dieses Angewiesensein auf die totale Scheidung der Befugnisse. […] Zu seiner Unfähigkeit, seinem Pessimismus kam noch der Versuch, sagte Mewis, das Bündnis zwischen der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei aufzureißen. […] Die militärische Front in Spanien war ein Teil der großen politischen Front, die sich quer durch Europa zog. Hier waren gemeinsame Interessen der Arbeiterbewegung bereits bewiesen worden. […] Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei, sagte Mewis, würde zur Entscheidung gedrängt. Braun, Garbarini, Martens und andre sozialdemokratische Angehörige der Brigaden hätten das bewaffnete Zusammengehen bereits eingeleitet. Doch es träten dabei auch alle Schwierigkeiten zutage, sagte Grieg, in denen die Verhandlungen gefangen lägen. (ÄdW1: 283–286; Hervorhebungen M. S.)

Wie in dieser Passage dominiert im Roman auch sonst über weite Strecken der Bericht über Berichtetes, die Kommunikation von Kommuniziertem, während die Schilderung von (anderem) Geschehen eher marginal bleibt. Sie führt bis zur »tendenziellen Ablösung der Figurenreden von der konkreten Gesprächssituation«694. Dabei werden die Aussagen verschiedener Figuren miteinander so kombiniert, dass sie nicht immer sofort eindeutig ihrem jeweiligen Sprecher zuzuordnen oder von der Erzählerrede zu unterscheiden sind: Die entsprechenden inquit-Formeln, die auf den jeweiligen Sprecher verweisen, folgen teilweise erst in der Mitte oder am Ende einer längeren Rede, und anders als in konventionellen Formen erlebter Rede, die sich ebenfalls durch ihre Verwendung des Indikativs sowie desselben Tempus wie in der Erzählerrede auszeichnen, ist der Duktus der Figurenrede nicht von dem des Erzählers zu unterscheiden. Auch zwischen Darstellungen von Figurenrede in indirekter und direkter Rede gibt es fließende Übergänge, wobei das Fehlen von Anführungszeichen die Unterscheidung zwischen direkter Figurenrede und Erzählerrede ebenso erschwert wie die Länge der wiedergegebenen Redebeiträge, die sich in der hier zitierten Passage teilweise über eine halbe Buchseite erstrecken (im Zitat zum Teil durch die Auslassungsklammern markiert).695 Einerseits kommt also »Die Ästhetik des Widerstands« nicht nur in mehreren 694 Butzer 1995: 161. 695 Vgl. dazu auch Butzer 1997: 161.

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»Textblöcke[n]«696 daher, die im Blocksatz gedruckt, mit minimaler Interpunktion (nur Punkte und Kommata) und ohne weitere Binnenabsätze den Eindruck von hermetischer Geschlossenheit vermitteln.697 Vielmehr wirkt sie auch als Ganzes als ein ›Block‹, weil die verschiedenen Redeanteile durch ihren homogenen Duktus als ›in eins gegossen‹ erscheinen. Andererseits aber wird dieser Entwurf eines monolithischen Sprechens konterkariert durch die Vielzahl der Sprecher und Perspektiven, mit deren Reden die Subjektivität von Weltwahrnehmung zum Ausdruck kommt. Der Erzähler der Ästhetik des Widerstands, so ließe sich pointiert formulieren, ist zugleich alles und nichts: Er ist alles, weil das Erzählte ausnahmslos Resultat seiner Erinnerung ist; und er ist nichts, weil er völlig im Erzählten aufgeht – bis auf jene kleine Differenz, die aus der Nicht-Identität von Erzähler- und Figurenstimme resultiert und die auf eine Narrationsinstanz verweist, die der objektivierenden Tendenz des Textes entgegenläuft.698

In diesem Zusammenhang sind vor allem die von Genia Schulz herausgestellten Übergänge zwischen indikativischem und konjunktivischem Modus von Bedeutung: Im stilistischen Umfeld der Ästhetik des Widerstands verliert deshalb sogar der Indikativ oft seine Qualität als Modus, der Faktizität für sich beansprucht. »Das Konjunktivische« färbt in diesem Werk, das vornehmlich aus wiedergegebener Rede, Meinung, Möglichkeiten etc. besteht, das Ganze – also auch die Indikativ-Passagen – so stark ein, daß der Eindruck erweckt wird, alles stünde im Modus des Indirekten.699

Ähnlich wie Hodann im obigen Zitat die Glaubwürdigkeit von »Nachrichtenverbreitung« problematisiert, stellt auch diese komplexe Form des Erzählens im Roman insgesamt die Möglichkeit einer objektiven oder authentischen Darstellung von historischer Erfahrung und eine entsprechend unhinterfragbare politische Positionierung in Frage.700 Dieser Argumentation folgend wird der relativ unvermittelte Wechsel der Perspektivfiguren bei der Schilderung der Hinrichtungsszenen im dritten Band der Trilogie als Zuspitzung erkennbar : Handlungslogisch ist nicht erklärbar, wie der Ich-Erzähler vom konkreten Geschehen um die ›Rote Kapelle‹ bis zu konkreten Details ihrer Vernichtung erfahren haben könnte; von einem Kontakt zwischen ihm, Lotte Bischoff und/oder möglichen Augenzeugen wird nichts berichtet. Dies spielt aber in der eben skizzieren Logik auch keine Rolle, geht es doch weniger um einen authentischen Bericht über historische Ereignisse als um 696 697 698 699 700

Cohen 1989b: 29. Vgl. dazu Cohen 1989b: 27–33. Butzer 1997: 162f. Schulz 1986: 40. Vgl. Schulz 1986: 29–43; und auch Kessler 1997: 145.

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das Aushandeln von Identität, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Erinnerungskonkurrenzen (vgl. Kap. 5.5.3).701

5.5.3 Die antifaschistische Gemeinschaft als Zusammenschluss von Individuen: Komplexitätssteigerungen durch Namensfülle Nicht nur die Möglichkeit wechselnder Zugehörigkeit sowie die vorgeführten Diskussionen zwischen auftretenden Figuren erzeugen eine Vorstellung von der antifaschistischen Gemeinschaft als komplexem, in sich ausdifferenziertem Kollektiv. Darüber hinaus wird die Totalität eines tendenziell expandierenden, unabhängig von Einzelpersonen existierenden molaren ›Wir‹ durch die wiederholt zahlreichen Nennungen von Namen konkreter Akteure, die zur Gemeinschaft zu zählen sind, kontrastiert: Fänä, der neben dem Bierfaß hockte, Tünnemann unterstützte beim Zapfen und nicht zu kurz kam, beguckte sich seine Leute: den kleinen Pottmann am Kopf vom Tisch unterm Vorbau […], Herta Ronsdorf zur Seite, den Kopf gesenkt und mit Olga Pottmann flüsternd […], Malewka ernst […], horchend auf Else Kleff, Lattmanns Paul, dieses alte Kämpferherz, wie er sich selber nannte […], und Liesbeth Krach, selig lächelnd wie die Jungfrau Maria auf dem Bild über ihrem Bett, und daneben Opäken Thiel, zischelnd und krähend […], die alte Datzenberg, halb weinend halb lachend, Pjotr […]. (Z: 187f.)

Homogenisierenden Darstellungen der Gemeinschaft, wie sie in »Zündschnüre« beispielsweise in der Gegenüberstellung von Unter- und Oberstadt zu beobachten sind, wird hier der Blick Fänäs entgegengestellt, der gerade die Spezifika der einzelnen Menschen, ihre Individualität, in den Fokus der Wahrnehmung rückt. Während im Degenhardt-Roman ein dezidiertes Auflisten wie im obigen Zitat singulär bleibt, ist das Aufzählen von Personen, die nicht einmal zwangsläufig als handelnde Figuren in Erscheinung treten müssen, in der »Ästhetik des Widerstands« ein vor allem, aber nicht nur im dritten Band wiederholt zu beobachtendes Phänomen: Andr8 ist hingerichtet worden. Thälmann, trotz des Einspruchs aus aller Welt, ist weiterhin eingekerkert und von Ermordung bedroht. Die Wahl dieser Namen für unsre militärischen Einheiten ist richtungweisend. Mit dem Eintritt in die Bataillone wird eine politische Zugehörigkeit bestätigt. Wie aber soll ich [es spricht hier zunächst Lindbaek; Anm. M. S.] dies verdeutlichen, da sich nicht der Hintergrund des einzelnen Kämpfenden feststellen läßt, da ich nicht die Impulse, die Wege kenne, die den Freiwilligen an die Front von Irffln […] führten. So müssen die meisten in ihrer Anonymität 701 Vgl. dazu Schulz 1986: 51f.

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verbleiben. Nur einzelne Namen lassen sich hervorheben, stellvertretend für die vielen, die mir an den verschiednen Kriegsabschnitten, in den vordersten Linien, begegneten. Gleichzeitig mit Beimler kamen andre Führungskräfte des Bataillon Thälmann um, die Namen Adler, Wille, Schuster sind mir bekannt. Als Geisen beim Angriff auf Santa Quiteria verwundet wurde, fielen auch der Zugführer Preuß und der Fahnenträger der Centuria, er hieß Puklus, und zu ihren Nachfolgern wurden die drei dänischen Brüder Nielsen ernannt. Dies ist es, was mich quält, sagte sie, daß ich nicht weiß, wer sie waren, sie alle, deren hervorragendste Eigenschaft darin bestand, daß sie für Spanien ihr Leben ließen. Und jetzt bemerkte ich, wie ihr kraftvolles Gesicht plötzlich erstarrte und grau wurde. Ich hatte sie nach den Verlusten […] gefragt, und sie hatte zu rechnen begonnen, nannte neunzehn Tote, Gummel, Wagner, Schwindling, Hirsel, Engelmann, Pfordt, Lösch, Mayer, Baumgarten, Heras, Vigier, stockte dann, wußte die Namen der andern nicht zu nennen, sprach dann von zweiundfünfzig Verwundeten. (ÄdW1: 280f.; Hervorhebung M. S.; vgl. auch ÄdW3: 54ff., 58, 113, 142f., 178f., 223–227, 229–233, 238f.)

Mit dieser »interpersonal-interaktionistischen Erzählweise, in der alle Figuren Personen sind und alle Personen identifiziert und abgezählt« werden können, wird – wie Jürgen Link treffend argumentiert – die unbestimmte antifaschistische Gemeinschaft als Kollektivphänomen zu einer sich »aus abzählbaren Personen«702 summierenden Gruppe, deren Relevanz und Legitimität sich entsprechend nur noch am Handeln einzelner Figuren bemessen lässt. Zwar kann und soll an dieser Stelle nicht mit Link diskutiert werden, inwieweit diese Konfrontation des molaren Wir mit gegenläufigen Tendenzen dem »Autor möglicherweise nicht genügend bewusst«703 war. Allerdings wird sie im Roman aus Figuren- und Erzählperspektive sogar explizit reflektiert, wie bereits im obigen Zitat erkennbar ; im zweiten Teil des dritten Bandes – im Zuge der Darstellung der Hinrichtungen – erscheint sie gar als zentrales Thema. Nicht mehr Gruppenzugehörigkeiten stehen dabei im Vordergrund, sondern der Blick des Einzelnen – von Schwarz oder dem Gefängnisgeistlichen Poelchau – auf den je einzelnen Widerständigen. Jeder einzelne Name wird genannt, jede einzelne Köpfung oder Erhängung detailliert geschildert (vgl. ÄdW3: 217–220).704 Hier wird nicht das Ende eines Kollektivs vorgeführt, sondern das Sterben als Prozess eines Menschen. Erst im Tod verlieren die Figuren ihre Namen und Identität: Da hingen sie alle, unter der Schiene, der Hals lang gezerrt, der Kopf abgeknickt, zu erkennen waren sie nicht mehr, nur ihrer Reihenfolge nach hätte Schwarz ihre Namen noch nennen können, doch die verloren sich auch schon in einer Leere. Der letzte, Schumacher, schwankte noch leicht auf und ab, und ein Zittern war in seinen Beinen, und schnell, weil der Geruch nicht zu ertragen war, machte sich Schwarz daran, 702 Beide Zitate Link 2012: 158. 703 Link 2012: 158. 704 Vgl. dazu auch Dwars 1993: 117.

Der differenzierte und differenzierende Blick auf die widerständige Gemeinschaft

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nachdem er die Todesatteste beglaubigt hatte, den Leibern die triefenden Hosen abzustreifen, die er dann in einen Schubkarren legte und hinüber zum Waschraum fuhr. (ÄdW3: 220)

Die nachfolgend zitierte Wiedergabe von Gedanken Bischoffs nur wenige Seiten nach den Schilderungen der Hinrichtungen erscheint entsprechend als direkter Kommentar dieses Perspektivwechsels: Im November und Dezember Zweiundvierzig, als Bischoff noch nicht wußte, wer von den Gefangenen hingerichtet worden war, schien ihr manchmal, als seien sie alle von einem Wahn befallen gewesen, wenn sie geglaubt hatten, sie seien ein Ganzes und könnten sich als ein Ganzes halten. Vorstellungen dieser Art standen hinter allen revolutionären Bewegungen, die nie hätten aufkommen können ohne die Verachtung des individuellen Tods, ohne den Glauben an einen Weg, der von vielen beschritten wird und zu dem eben auch der gemeinsame Tod gehört. (ÄdW3: 228; vgl. ähnlich auch ÄdW3: 227)

So wird insbesondere im dritten Band der Romantrilogie die Hinwendung zu den Einzelnen programmatisch, aus denen sich die Gemeinschaft, von Bischoff verstanden als »Kette« (ÄdW3: 222 und 228), zusammensetzt. Bereits die ausführliche Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit den verschiedenen Tarnnamen, unter anderem von Herbert Wehner, sowie seine Darstellung der Untergrundarbeit in Schweden (vgl. ÄdW3: 136–152) führt zu einer Auflistung zahlreicher Namen von Personen des Widerstands. Besonders markant geschieht dies dann in der Beschreibung des Notizheftes von Bischoff, in dem sie als verbliebene Zeugin Zeugnis vom Leben und Sterben der Widerständigen ablegt. Der Schilderung der Hinrichtungen folgen neunzehn Seiten beziehungsweise zwei Absätze (vgl. ÄdW3: 220–239), in denen aus der Perspektive Bischoffs der Getöteten gedacht wird: Knapp siebzig Namen von Widerständigen – sowohl von solchen, die bereits als handelnde Figuren im Roman in Erscheinung getreten sind, als auch von bloß historiographisch belegten Personen – werden dabei genannt705 und zum Teil auch genauer in ihrer Persönlichkeit und ihrem Handeln beschrieben. Sie wußte, wie schnell das Vergessen immer wieder zusammenschlug über denen, die kämpfend umgekommen waren. […] Der Feind, der sein Weiterleben im kommenden Frieden vorbereitete, war schon dabei, alles, was sich von ihnen überliefern ließe, zu verringern, zu entstellen, zu verhöhnen, als Belanglosigkeit zu erklären im Ringen der großen Mächte. Deshalb hatte sie alles, was sie vom Dasein und Sterben ihrer Gefährten wußte, in ein kleines Heft eingetragen, das sie jedes Mal wieder unter den Himbeer705 Eine in diesem Zusammenhang informative Auflistung aller im Roman benannten Figuren und Personen sowie ein Stellenregister und ggf. biographische Informationen bietet Robert Cohens »Bio-Bibliographisches Handbuch zu Peter Weiss’ ›Ästhetik des Widerstands‹« (1989a).

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sträuchern vergrub. Waren es auch nur dürre Notizen und Daten, die nichts deckten von dem, was sie geleistet hatten, so sicherte es ihr doch etwas von ihrer Unvergänglichkeit. Vielleicht könnte sie es einmal ergänzen, denn die große Grabplatte mit allen eingemeißelten und vergoldeten Namen würde nicht genügen. Sie wußte nicht einmal, was darüber stehn sollte. Gestorben für Deutschland. Das würde auch auf dem Grab des Unbekannten Soldaten stehn. Gestorben für eine bessre Welt. Doch das Pathetische war ihnen fremd. Gestorben für das Notwendige. Auch in Rußland warn Millionen für das Notwendige gestorben. Diese wenigen hier waren ihr bekannt gewesen. Wenn sie an sie dachte, umfaßten ihre Gedanken auch all die andern. Doch was ließ sich aussagen über sie, von denen ein jeder eines ganzen Lebensbuchs würdig wäre. (ÄdW3: 222f.)

Analog zu der von Bischoff imaginierten Gedenktafel zielt auch der Roman selbst auf ein Gedenken des Einzelnen: Er ist ein Tableau, das der Rettung der Namen in der Schrift und der sich dahinter verbergenden Personen vor dem Vergessen dienen soll. Es geht an dieser Stelle […] darum, Unpersonen wieder zu Personen zu machen, und vom ersten bis zum dritten Band werden um der Wahrheit willen und um der Wahrhaftigkeit und der Würde sowohl der Menschen wie der Parteigeschichte willen unzählige Namen beschworen. Im ersten Band sind es vor allem zahlreiche von der Partei als bürgerlich usw. verdammte Schriftsteller […]; im zweiten Band sind es […] vor allem die Namen von schwedischen Adeligen und Aufrührern, von konservativen, liberalen und linken politischen Führern und ihren Opfern, dann aber auch die Autoren und Titel der Bücher, die der Erzähler beim Verpacken von Brechts Habe vor der Abfahrt nach Finnland notiert […]; im dritten Band finden sich vor allem Namen der im Untergrund in Deutschland politisch Tätigen und derer, die mit ihnen vom Ausland her in Verbindung stehen, von Sozialdemokraten bis zu den Kommunisten, und die Namen der deutschen Konzerne und Konzernherren, die der Vater des Erzählers aufzählt.706

Aus dieser Perspektive zielen die Auflistungen von Namen, wie aber auch die Referenz des umfangreichen Figurenensembles auf historiographisch bezeugte Personen, in erster Linie auf eine Rehabilitierung dieser Menschen in den die Entstehung des Werks flankierenden Erinnerungsdiskursen und ein Erinnern an sie als Individuen. Dass aber gerade die extensiven Namensnennungen sowie die Figurenfülle einen intensiveren Blick auf konkrete Menschen versperren und diese dadurch trotz individueller Namen in gewisser Weise als austauschbar erscheinen, ist ein Paradox, das – wieder ein Beispiel für die Selbstreflexivität des Romans – in den Äußerungen Lotte Bischoffs bedacht wird (vgl. auch ÄdW3: 223f.). Dass aber die Auflistung von Namen und Figuren in der »Ästhetik des Widerstands« nicht ausschließlich auf ein bewahrendes oder rehabilitierendes Erinnern zielt, legt eine der »eigenartigsten und in dem Moment, da sie ge706 Drews 1987: 110.

Der differenzierte und differenzierende Blick auf die widerständige Gemeinschaft

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schieht, gleich auch vorausdeutend poetologisch reflektierten Namensnennungen«707 des Romans nahe. Beim Erzählen von seinen Fluchterfahrungen und der Judenverfolgung und -vernichtung sowie angesichts des abzusehenden Todes seiner Frau konfrontiert der Vater des Erzählers plötzlich seine pauschale Kapitalismuskritik mit der Nennung konkreter Namen der »Mächte […], die hinter den Vorgängen standen« (ÄdW3: 124). Der Erzähler gibt diese Rede des Vaters und dessen Auflistung von 19 verschiedenen Unternehmen als Initiatoren und Profiteure deutscher Expansionspolitik, die auf den entsprechenden drei Romanseiten insgesamt 35mal genannt werden, wieder (vgl. ÄdW3: 126ff.) und konstatiert: Waren sie, deren Namen er nannte, auch nur Repräsentanten des Systems, das lange vor ihnen begonnen hatte, und nach ihnen weitergeführt werden würde, so war es für ihn, der hin und her schritt auf den knarrenden Bohlen, jetzt doch an der Zeit, sie direkt anzusprechen. […] Sein Aufzählen von Namen schien zunächst ein Bruch zu sein mit allem, was wir gewöhnt waren. Daß die Namen uns bekannt und verflochten waren mit unsrer Existenz, machte ihre Nennung nicht selbstverständlicher. Vielleicht drängte sich ein stilistisches Prinzip auf. Ich wußte nicht, wie ich das, was mit den Namen verbunden war, wiedergeben sollte. Erst später, im Januar, empfand ich die Notwendigkeit dieser erbitterten Auseinandersetzung, und trotz des Mißverhältnisses zwischen der dürren Nachzeichnung und dem ungeheuerlichen Modell stimmte ich dem hilflosen und zugleich wissenden Angriff meines Vaters zu. Ich sagte mir, daß gerade diese Stunde der tiefsten Nähe, wie sie eintritt beim Sterben eines Menschen, für die Konfrontation, die mein Vater wünschte, geeignet war. (ÄdW3: 125f.; Hervorhebung M. S.; vgl. sehr ähnlich auch ÄdW1: 115f.)

Die bisherigen Ausführungen zur Standortgebundenheit des Erzählens verdeutlichen, dass mit dieser Ausdifferenzierung des Gegnerischen durch die Nennung konkreter Unternehmen wohl kaum auf eine mögliche Ergänzung der »Gedenktafel aus Marmor« um weitere Namen gezielt wird. Vielmehr fungiert das Nennen ›gegnerischer‹ Namen ebenso als Gegenbewegung zum Entwurf gegnerischer Totalität wie das Nennen einzelner Widerständiger nicht zuletzt der Dekonstruktion einer als geschlossenem Ganzem imaginierten antifaschistischen Gemeinschaft dient; in diesem Sinne wird es auch im obigen Zitat vom Erzähler als »Bruch […] mit allem, was wir gewöhnt waren«, bewertet. Neben Problematisierungen von eigener Zugehörigkeit und ihren Grenzen artikulieren sich so in dem dreibändigen Werk von Weiss vor allem im dritten Teil auch explizite Zweifel an den pauschalen Entwürfen des Feindlichen; insbesondere in der Darstellung eines konkreten Kontakts zum Anderen im Sinne einer räumlichen/persönlichen Begegnung werden hier absolute Grenzziehungen in Frage gestellt: 707 Drews 1987: 113.

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

Sie hörte die Stimmen des Feindes, doch es war ihre Sprache. Ihre Kindheit und Jugend, die Jahre bis zur Flucht waren in dieser Sprache enthalten. Auch im Exil, sieben Jahre lang, hatte sie diese Sprache gesprochen. Das Land war ihr genommen worden, die Sprache nicht. Die Sprache besaß sie, das Land würde sich zurückgewinnen lassen. Jetzt waren plattdeutsche Laute zu hören. Arbeiter öffneten die Schleusentore. Vielleicht war einer unter ihnen, der nicht ihr Feind war. Die Stimmen weckten Vertrautheit, Trillerpfeifen und Befehle stellten die Fremdheit gleich wieder her. Sie würde sich einschleichen in dieses Land, sie würde die Sprache des Lands sprechen, würde verleugnen, daß sie von draußen kam, sieben Jahre würden zwischen ihr und dem Land sein, vielleicht aber würde sie einzelne finden, denen sie zugehörig war. (ÄdW3: 78; Hervorhebungen M. S.)

Wer ist der »Feind«? Diese Frage lässt sich aus der Perspektive Lotte Bischoffs hier nicht mehr mit dem Verweis auf solche Kollektive oder Kollektivphänomene – in diesem Zitat ›die Deutschen‹ – beantworten, die sonst – wie oben skizziert (Kap. 5.2.3) – in der »Ästhetik des Widerstands« als Alteritäten entworfen werden. Beinahe folgerichtig wird dann auch das von Matthias Köberle kritisierte »pauschale[ ] ›Deutschen-Bild‹«708 schließlich in den Hinrichtungsszenen des dritten Bandes (vgl. ÄdW3: 210–220) aufgelöst. Hier werden mit dem Gefängnisaufseher, aber auch dem Scharfrichter Röttger nicht nur einzelne konkrete Akteure der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie vorgeführt, sondern es wird auch der »Modus des über-sie-Sprechens«709 aufgehoben.710 Erstmals und singulär wird hier aus der Wahrnehmungsperspektive einer Figur – dem Aufseher Schwarz – erzählt, die nicht als zur antifaschistischen Gemeinschaft zugehörig erscheint.

5.6

Imaginationen antifaschistischer Gemeinschaft im Ringen um nationale Deutungshoheit

Neben der Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft sowie der Destabilisierung etablierter Gemeinschaften zielt literarisches Erzählen vom Widerstand in der westdeutschen Literatur (1945–1989) drittens – wie die Analysen dieses Kapitels gezeigt haben – auf eine selbstreflexive Modifikation von Gemeinschaft, in den Romanen Degenhardts und Weiss’ von antifaschistischer Gemeinschaft. Hier treten Erzähler und Protagonisten in den Vordergrund, die grundsätzlich von ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse geprägt sind und die eigene Zugehörigkeit zu einer marxistisch orientierten Gemeinschaft postulieren. Diesen Eindruck vermitteln beide Texte durch entsprechende Perspektivierungen des Er708 Köberle 1999: 24. 709 Köbele 1999: 22. 710 Vgl. auch Kessler 1997: 63.

Ringen um nationale Deutungshoheit

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zählens sowie durch relativ explizite Positionierungen von Erzählinstanz und Figuren, die eine deutliche politisch-soziale Standortgebundenheit der Darstellung anzeigen (Kap. 5.2). Darüber hinaus bewirkt auch die Inszenierung des Widerstands als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfes (Kap. 5.3), dass antifaschistische Gemeinschaft in den Romanen als zentrale, auch überindividuell relevante Bezugsgröße für die identitäre Selbstverortung von Menschen erscheint. Die Identifikation mit der auf diese Weise entworfenen Gemeinschaft wirkt jedoch keinesfalls nur affirmativ ; vielmehr artikuliert sich in beiden Texten – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – eine selbstreflexive Sicht auf die jeweils imaginierte Gemeinschaft: Zum einen trägt das Erzählen vom Agieren der Protagonisten im Widerstand vor allem bei Weiss, aber in Ansätzen auch bei Degenhardt, Züge von Bildungs- oder Entwicklungsgeschichten. Die Beziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft, wie auch die antifaschistische Gemeinschaft selbst, erscheinen so als dynamisch, auch als notwendig veränderbar (Kap. 5.4). Zum anderen zeugen die figuralen Seitenwechsel, Differenzen zwischen Figuren, die nicht aufgelöst werden, und die Konfrontation des Gemeinsamen mit dem Blick auf den einzelnen, namentlich genannten Akteur von den Schwierigkeiten einer eindeutigen Begrenzung eines antifaschistischen Kollektivs (Kap. 5.5). So wird die antifaschistische Gemeinschaft nicht monolithisch, sondern als ausdifferenziert und veränderbar konzipiert und in Ansätzen wird – zumindest bei Weiss – auch ihre Konstruiertheit ausgestellt. Die beiden Romane lassen sich daher als selbstkritische Reflexionen und Modifikationen kollektiver Identität interpretieren und erscheinen – in ihrer Bejahung der antifaschistischen Gemeinschaft bei gleichzeitiger Problematisierung des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv – beinahe als Synthese der beiden erstgenannten Typen ›widerstandsliterarischer‹ Gemeinschaftsimaginationen. Der Roman »Wird Zeit, daß wir leben« (1976) von Christian Geissler weist auf den ersten Blick zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den beiden Texten von Degenhardt und Weiss auf. Er handelt von gewaltvollen politischen Auseinandersetzungen in Hamburg in den letzten zehn Jahren der Weimarer Republik bis zu ihrem Untergang. Den marxistisch geprägten politischen Aktivisten, den »Roten«, stehen verschiedene Gegner, wie vor allem Repräsentanten des ›Kapitals‹, Nationalsozialisten, Polizeitruppen gegenüber, die im Roman wiederholt als die »Weißen« – wohl eine Anspielung auf den der Russischen Revolution von 1917 folgenden Bürgerkrieg – bezeichnet werden. Erzählt wird – ähnlich wie in »Zündschnüre« – von einem heterodiegetischen Erzähler hauptsächlich aus der Perspektive verschiedener proletarischer Figuren, die dem linken politischen Spektrum zuzuordnen sind. Im Zentrum stehen Leo Kantfisch, ein Arbeitersohn, der Polizist wird, die Knechtetochter Karo, die in Holstein aufwächst und sich früh für den bewaffneten Kampf der Arbeiter für eine gerechtere Gesellschaftsordnung einsetzt, und Schlosser, ein Mann Jahrgang 1894, der als Par-

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Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

teiarbeiter auftritt und die politische Basisarbeit der KPD in Hamburg organisiert. Gegner der »Roten« sind nicht nur die Nationalsozialisten, sondern die »Weißen«, die für die bekannten oben genannten linken Feindbilder stehen. Ähnlich wie die beiden Werke von Degenhardt und Weiss etabliert diese zentrale Grenzziehung aber auch in diesem Roman keinesfalls eine sozial oder politisch homogene Gemeinschaft. So repräsentieren die zentralen Figuren auch hier verschiedene Positionen innerhalb des entworfenen Kollektivs, wodurch die Binnendifferenzen der Gemeinschaft betont werden: »Schlosser« beispielsweise verkörpert den Parteiarbeiter, der den auf Gewaltfreiheit setzenden Direktiven der KPD folgt, während Karo, die seit frühester Jugend Gewalt und Unterdrückung am eigenen Leibe erfährt, den bewaffneten Kampf gegen die politischen Gegner proklamiert. Analog zu »Zündschnüre« und der »Ästhetik des Widerstands« wird mit der Figur Leo Kantfisch zudem eine Figur gezeigt, deren Entwicklung mehrere ›Seitenwechsel‹ durchläuft, sprich eine Durchlässigkeit der Grenze zwischen Widerstand und Nationalsozialismus symbolisiert. Im Unterschied zu den Werken von Degenhardt und Weiss scheint »Wird Zeit, daß wir leben« aber letztendlich bezüglich der dargestellten Kontroversen, vor allem hinsichtlich der Frage nach der Legitimität von Gewalt (vgl. Zl: 62f., 130f., 177, 189ff.), relativ eindeutig Position zu beziehen: Nicht nur endet der Roman mit der bewaffneten Aktion, die den der nationalsozialistischen Staatsmacht ausgelieferten Schlosser erfolgreich befreit, sondern Schlosser selbst stellt sich und seine Gewaltlosigkeit schließlich während seiner Gefangenschaft infrage: Er saß nun leer für sich selbst, aber wer, aber ich, aber nichts in der Hand, aber wir, aber wann, aber jetzt, aber alles entrissen, trocken und taub. Nicht mal mehr endlich noch Blut in deinen hängenden Fäusten. Was haben wir falsch gemacht? (Zl: 11)

Entsprechend stellt sich »Wird Zeit, daß wir leben« nicht so sehr als kritische Selbstreflexion antifaschistischer Identität dar, bei der Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis ergebnisoffen verhandelt würden, sondern zielt stärker auf die Etablierung eines wehrhaften Arbeiterkollektivs, indem Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Positionen legitimiert wird. Vor dem Hintergrund der in den 1970er Jahren – ausgehend von der bewaffneten Befreiung des inhaftierten Andreas Baaders 1970 – eskalierenden Gewalt der RAF wirkt der Roman wie ein recht klares politisches Statement. Karl Prümm hat in seinem Aufsatz »Der antifaschistische Widerstand in der deutschen Literatur nach 1945« (1977) das Erzählen vom Widerstand in »Zündschnüre« und »Die Ästhetik des Widerstands« als »Nachholen einer versäumten Lektion«711 und damit als Korrektiv der »Fixierung auf den 20. Juli

711 Prümm 1977: 58.

Ringen um nationale Deutungshoheit

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1944«712 in der bis dato erschienenen westdeutschen ›Widerstandsliteratur‹ gedeutet. Dem »Sieg der Generalität auf der Bühne« stellt er die beiden Romane als »Impulse[ ] zu einer Korrektur der verzerrten Vorstellungen vom Widerstand«713 entgegen. Und in der Tat: Mit ihren offensiven Bekenntnissen zu einer marxistisch inspirierten Gemeinschaft als identitätsrelevanter Großgruppe eröffnen die beiden Texte – wie auch Geisslers Roman – in den 1970er Jahren eine neue literarische Perspektive auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dass ihr Widerstand – wie Karl Prümm herausstellt – im westlichen Deutschland nach dem Kriegsende um Anerkennung würde ringen müssen, reflektieren vorausschauend auch die in »Zündschnüre« und der »Ästhetik des Widerstands« agierenden Figuren: Nach Kriegsende ging der Kampf weiter, weil die alte Klasse noch da sei, und die würde sich wieder verbrüdern mit der alten Klasse der Westalliierten, und man würde den Leuten wieder allerhand vormachen, von Kollektivschuld des deutschen Volkes würden sie quasseln und der Widerstand sei sinn- weil zwecklos gewesen. Aber sie, die wenigen, die sich jetzt wehrten, würden dann gezeigt haben, daß Widerstand richtig und möglich war und von welchem Standpunkt aus er geleistet werden mußte, und damit hätten sie auch gezeigt, daß nur sie ein neues Deutschland aufbauen könnten. Aber es werden Zeiten kommen, sagte Karl, da werden sie Hitler in einem Atemzug nennen mit Stalin. (Z: 85)

Wie hier der im Untergrund aktive Widerständige Karl in Degenhardts »Zündschnüre« so setzen sich bei Weiss die in Schweden aktiven deutschen Emigranten, wie vor allem die im dritten Teil der »Ästhetik des Widerstands« vorgeführten Diskussionen zeigen, mit ihrer möglichen Rolle in einem Deutschland nach dem Krieg auseinander : So würden zwar »Parteien, vor allem jene, die den Kampf im Untergrund überstanden hatten, […] Ansprüche auf Hegemonie stellen können«, an »die Erreichbarkeit war jedoch nicht zu denken, solange es keine Zeichen von Anteilnahme im Volk gab. Sie waren eine Avantgarde« (ÄdW3: 186; vgl. auch ÄdW3: 161, 259f.). Trotz dieser punktuellen Reflexionen über die Relevanz des eigenen Widerstands für die deutsche Nation bleibt eine Referenz auf die nationale Gemeinschaft in den beiden Romanen allerdings maximal zweitrangig. Darauf deutet auch folgender Kommentar Svenssons (alias Wehner/Funk) hin: Welches Unterfangen, sich der nationalen Frage anzunehmen und diese zu einer den Parteiinteressen genehmen Regelung zu bringen, von einer Nation zu sprechen, die ihm, wie den übrigen Bevollmächtigten, kaum mehr bekannt war, und die in jedem andre Vorstellungen weckte, Vorstellungen, die sich zu keiner Übereinstimmung bringen ließen. (ÄdW: III.51) 712 Prümm 1977: 33. 713 Beide Zitate Prümm 1977: 58.

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Ihr Erzählen vom Widerstand stellt sich als Selbstreflexion antifaschistischer Identität dar und zielt in erster Linie auf die modifizierende Selbstverständigung innerhalb antifaschistischer, nicht innerhalb nationaler Gemeinschaft. Anders ist dies bei dem Drama »Walküre 44« von Günther Weisenborn, das zwar ebenso wie die Texte Degenhardts und Weiss’ deutliche Sympathien gerade für den Widerstand von Sozialdemokraten oder Kommunisten erkennen lässt, das Widerstandsgeschehen aber primär als Teil einer nationalen Geschichte inszeniert und reflektiert. »Walküre 44« wurde am 16. Februar 1966 als Lesedrama in der Westberliner Akademie der Künste uraufgeführt. Zentrales Strukturmerkmal von Weisenborns bis dato drittem fiktionalen Widerstandstext ist seine Unterteilung in zwei diegetische Ebenen: Nach einer Einleitung, die vom Bahnmeister Lange gesprochen wird (vgl. W: 1), unterhält sich dieser in der Rahmenhandlung mit den Streckenarbeitern Bach und Karrasch – aus Anlass einer militärischen Übung – zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg über Möglichkeiten, Formen und Träger des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sowie die Erinnerung daran nach dem Krieg. Dem Bahnmeister Lange, der während des Krieges unter anderem als Fahrer für Stauffenberg gearbeitet hat, kommt dabei der Status einer intradiegetischen Erzählinstanz in dem Sinne zu, als dass er auf Nachfragen seiner beiden Kollegen beginnt, von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen, woran sich die Darstellung der Binnengeschichte unmittelbar anschließt (vgl. W: 1–5). In dieser Binnengeschichte geht es zunächst um die Vorbereitungen des Stauffenberg-Attentates und des »Walküre«Plans (Szenen 2, 4, 6a und 8) und um Plakatieraktionen einer Gruppe Widerständiger um den Ingenieur Schacht, den Arbeiter Kieseler und den Soldaten auf Urlaub Scheib (Szenen 5 und 7); beides Handlungsstränge, die wiederholt von Kommentaren Langes und seiner Zuhörer begleitet werden (Szenen 2a, 4 und 6). Zwei weitere Szenen zeigen einen »SS-Raum«, in dem Gespräche zwischen einem SS-Chef, einem Kriminalrat und einem Standartenführer über die Verfolgung von Widerständigen sowie Verhöre eines Priesters (Szene 3) und des inhaftierten Scheib und dessen Mutter (Szene 9) stattfinden. Die zehnte und vorletzte Szene, die fast ein Drittel des Gesamtumfangs des Dramas ausmacht und durch verschiedene Schauplatzwechsel geprägt ist, stellt das Scheitern von »Walküre« am Tag des erfolglosen Attentats dar. Die letzte Szene des Dramas ist nach einem nicht eindeutig zuzuordnenden Sprecherteil wieder Teil der Rahmenhandlung um Lange und die anderen zwei Bahnarbeiter. Während mit Hans Hellmut Kirsts Drama »Aufstand der Offiziere«, das nur acht Tage nach der Urlesung von »Walküre 44« in der Inszenierung von Piscator uraufgeführt wurde, ein ›Juli-Drama‹ auf die Bühne kam, das auf die Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft zielt (vgl. Kap. 3.5), und »Die Verschwörer« (Wolfgang Graetz), das etwa vier Monate vor dem Weisenborn-Stück in Buch-

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form erschienen war,714 als Versuch einer Destabilisierung von nationaler, aber vor allem politisch-sozialer Gemeinschaft gelesen werden kann (vgl. Kap. 4), stellt sich Erzählen vom Widerstand in Weisenborns Dramatisierung des Stauffenberg-Attentates als ein Grenzfall für die in dieser Arbeit entworfene Typologie dar : Indem es die »nationale Frage« aus einer tendenziell linken Perspektive zu seinem zentralen Thema macht, zielt es einerseits auf die Modifikation nationaler, andererseits auf eine Etablierung antifaschistischer Gemeinschaft. Mit der Konzeption des Bahnmeisters Lange als einer Art Lehrerfigur knüpft das Drama erkennbar an den didaktischen Impetus solcher Texte an, die im dritten Kapitel dieser Arbeit in ihrer Tendenz zur Rehabilitierung der Nation beschrieben werden (vgl. insbesondere Kap. 3.4.3). LANGE: Die Geschichte kann uns mit heroischer Goldmaske erscheinen, aber auch verzerrt mit blutüberströmter Fratze, oder mit dem falschen Lächeln einer Tendenz. Sie kann geschminkt sein, blenden, lügen, Nebel über Generationen werfen. Und sie kann sachlich sein. Aber sie bleibt stets der einzige Verbündete eines Volkes, und kein Volk hat einen schlimmeren Feind als seine Geschichte, wenn es sie vergißt. Aus der Vergangenheit heraus sollte die Gegenwart verstanden werden, um beide für die Zukunft auszuwerten. Wir müssen wissen, wie es damals wirklich war, im Juli 1944. Darum fangen wir heute an: (W: 1; Hervorhebung M. S.)

Lange fungiert nicht nur als Sprecher dieser einleitenden Worte über die Relevanz der Geschichte für Gegenwart und Zukunft, mit denen er – völlig unironisch – das langlebige Topos einer Historia magistra vitae tradiert,715 sondern er wird auch von den beiden Bahnarbeitern Karrasch und Bach in seiner Rolle als aufklärender Erzähler anerkannt: 714 Zur Chronologie der Veröffentlichungen vgl. Wagner 2006: 344f. 715 Zur »Dauerhaftigkeit« dieses rhetorischen Topos und dessen Auflösung seit dem 18. Jahrhundert vgl. Kosseleck 2000: 38–66.

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BACH: Was war denn wirklich los, damals? KARRASCH: ’ne richtige Geschichte war das, wie? LANGE: Heute sieht man die Geschichte anders als damals… BACH: Was war denn anders? (W: 3; vgl. auch W: 64f.)

Auch in den mehrfachen metaleptischen Unterbrechungen der Binnengeschichte kann er sich gegenüber kritischen Nachfragen, vor allem von Karrasch, durchsetzen und behält wiederholt das letzte Wort (W: 13; vgl. ähnlich auch W: 20, 29 und 56).716 Aber Lange profiliert sich gleich zu Beginn des Dramas nicht nur als historiographische Autorität, sondern stellt sich zugleich als Angehöriger eines Volkes vor, so dass sein nachfolgendes ›Erzählen‹ der Binnenhandlung als Beitrag zu einem als national konzipierten Erinnerungsdiskurs erscheint. Indem Lange im Prolog die Relevanz des Folgenden für ein ihn selbst integrierendes »Wir« betont, artikuliert er eigene nationale Identität, um deren Reflexion es ihm mit seinem anschließenden ›Erzählen‹ zu gehen scheint. Auch in der auf den Prolog folgenden ersten Szene der Rahmenhandlung wird Lange als vermeintlich durchschnittlicher Deutscher dargestellt, indem seine autobiographischen Auskünfte Anklänge an etablierte deutsche Opfernarrative evozieren: BACH: Wie war’s denn im letzten Krieg? LANGE: Gemischt. BACH: Habt wohl allerhand mitgemacht? LANGE: Lange her. Zuerst Afrika, dann zwei Jahre Rußland… Krim… Bauchschuß. Meine Tochter hab ich im Pappkarton aus den Trümmern getragen, dann Melder im OKW. ’ne Art Briefträger. Aktenmappen. Später Fahrer von ’nem General. (W: 3)

Der Eindruck, dass es sich bei der dargestellten Geschichte des Dramas um nationale Geschichte handelt, wird zudem dadurch verstärkt, dass hier – ähnlich wie in vielen frühen literarischen Widerstandstexten (vgl. Kap. 3.4.1) – eine politisch-soziale Breite des deutschen Widerstands betont wird, wenn nicht nur die Walküre-Vorbereitungen sowie der Kreis um den Ingenieur Schacht auf die Bühne gestellt werden, sondern der SS-Chef mit Blick auf aktuelle Verurteilungszahlen explizit auch den Kreisauer Kreis (vgl. W: 6), die Weiße Rose, die sogenannte ›Rote Kapelle‹, die Saefkow-Gruppe, »Neubeginnen« und den Pfarrer-Notbund erwähnt (vgl. W: 13f.). Im Unterschied zu den Texten, die auf die Rehabilitierung der deutschen Nation zielen, indem sie eine gleichberechtigte politisch-soziale Breite des Widerstands proklamieren, wird in »Walküre 44« aber eine deutliche Hierarchisierung des Widerstands expliziert. Zum einen wird sowohl durch Diskussionen zwischen den Verschwörern (vgl. insbesondere W: 9f.) als auch durch Kom716 Zur metaleptischen Struktur des Dramas vgl. auch Rüsing 2013: 183f.

Ringen um nationale Deutungshoheit

319

mentare Langes eine Grenze innerhalb der Verschwörergruppe des 20. Juli etabliert, die ähnlich bereits in dem Drama von Wolfgang Graetz zu beobachten ist (vgl. Kap. 4.2): LANGE: Die ältere Gruppe: Goerdeler; die jüngere Gruppe: Stauffenberg; dazu gehörten Leber, Reichwein, Trott und Schulenburg. Die Jüngeren entwickelten sich vom alten deutschen Obrigkeitsdenken zu neuen, radikaleren Ideen. Sie tasteten nach einer anderen Welt. […] Die Front ging durch die Verschwörer. Die Älteren wollten das alte Deutschland und Bündnis mit den Westmächten gegen Rußland, wie es Hitler erhoffte… Die Jüngeren wollten gleichzeitig Frieden mit Ost und West. (W: 28)

Zum anderen zielen Langes Erzählen und Kommentieren auf eine tendenziell kritische Revision der Ereignisse und Personen des 20. Juli 1944, wenn er zum Beispiel im folgenden Gespräch zwischen Stauffenberg und dessen Sekretärin Schumann Partei zu Gunsten letzterer ergreift: SCHUMANN: (ist noch nicht zufrieden, sie schüttelt den Kopf) Muß man die Menschen nicht erst überzeugen? STAUFFENBERG: (macht unruhig ein paar Schritte) Dazu haben wir leider keine Zeit… zu spät. (LANGE, KARRASCH und BACH sind während der Szene sichtbar geworden und folgen dem Gespräch mit sichtbarem Unmut. Jetzt tritt LANGE in den zentralen Kreis, der einen schmalen Außenrand der Bühne freigibt.) LANGE: Entschuldigen Sie… Ich muß Sie darauf hinweisen, daß diese Frage berechtigt ist! STAUFFENBERG: (verändert, in neuem Ton) Natürlich ist sie das, aber jetzt haben wir Juli, ich bin erst seit dem Frühjahr in Berlin… Und wer sind Sie? LANGE: Heute bin ich Bahnmeister… Aber damals war ich in der Bendlerstraße als Melder eingesetzt. Wir Melder erlebten manches, sahen wenig und fragten sehr viel. Aber uns kleinen Leuten beantwortete man nicht unsere Fragen. (W: 19; vgl. auch: W: 28f., 54 und 56)

Mit seiner wiederholten Kritik an der Fehleinschätzung von Hitler-treuen Befehlshabern, vermeintlich schlechter Planung des Attentats und der Nicht-Berücksichtigung der »kleinen Leute« durch die militärisch-konservativen Widerständigen etabliert Lange eine Trennung zwischen dem ›einfachen Volk‹, zu dem er sich selbst zählt, und der Generalität der »Bendlerstraße«: »Je mehr so’n Mann oben stand, desto weniger verstand er vom praktischen Leben« (W: 12). Statt eine gleichberechtigte Integration in einem nationalen Widerstand zu behaupten, präferieren Lange und seine beiden Begleiter deutlich den bürgerlichen und Arbeiterwiderstand, den sie am Beispiel der Gruppe um Schacht bei ihrem ›Gang durch die Geschichte‹ beobachten: LANGE: Und du staunst, daß es auch Gruppen gegeben hat ohne Grafen, hohe Beamte oder Offiziere? KARRASCH: Ja, die besseren Herren.

320

Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft

LANGE: Gewiß, um den 20. Juli hat sich doch eine Legende gebildet, als hätte es keine anderen Widerstandsgruppen gegeben. Es gab sie, Gruppen einfacher deutscher Bürger, unzählige! Es gab wirklich eine große deutsche Widerstandsbewegung. Sie hat den Krieg verkürzt. Hätte der Krieg länger gedauert, so wären die Atombomben auf Deutschland geworfen worden. So war es von den USA beabsichtigt. Aber Deutschland kapitulierte vorher. (W: 27; vgl. auch W: 29)

Diese Präferenz der drei Figuren entspricht der des gesamten Dramas: So bleibt nicht nur jegliche Relativierung der Aussagen Langes aus, sondern auch aus der Perspektive der verfolgenden Behörden wird das Widerstandspotenzial von Gruppen jenseits des Militärs als größte Bedrohung eingeschätzt, wie die folgende Antwort eines »SS-Chefs« auf die Frage seines Kollegen nach dem Widerstandspotenzial von Offizieren verdeutlicht: CHEF: Nein, am gefährlichsten sind die Betriebe und Gewerkschaften… Habe hier die Berichte: […] also bisher 310.000 Verhaftete von Januar bis zu diesem Juli 1944… eine Armee. Wissen Sie, was das meist für Leute waren? Arbeiter! Kommunisten, Gewerkschaftler, Liberale, Jugendliche… Das ist unsere Front! Das ist die SchafottFront…! (W: 14)

Zwar wird die Berechtigung des Stauffenberg-Attentates im Drama grundsätzlich anerkannt, wenn zum Beispiel der »2. Sprecher« in der letzten Szene des Dramas die Anzahl der Toten vor und nach dem 20. Juli 1944 vergleicht und betont, dass »weit über die Hälfte der gesamten deutschen Kriegsschäden […] in den letzten neun Monaten« (W: 64) des Krieges, also nach dem gescheiterten Attentat entstand. Allerdings bringt Langes anschließender Kommentar die eigenen Präferenzen sofort wieder auf den Punkt: LANGE: Ich habe euch die Geschichte erzählt, weil man sie nicht vergessen soll. Die Offiziere versuchten eine Tat und verloren. Hut ab vor den Mutigen unter ihnen, aber dann laßt uns weitergehn und der gesamten Widerstandsbewegung der Deutschen, insbesondere der Arbeiter, gedenken, die bereits 1933 begann. BACH: Hier bei den Schienen kommt es auf die Weichen an. LANGE: Wenn der Zug erst rollt, dann kommt alles zu spät, auch ein Attentat. Die Weichen sind es, die rechtzeitig gestellt werden müssen. (W: 64; Hervorhebung M. S.)

Mit diesen Worten liefern Lange und Bach eine sehr explizite Zusammenfassung dessen, worauf auch das Drama als Ganzes zu zielen scheint: die Modifikation des nationalen Erinnerns an den Widerstand zu Gunsten eines bis dato vernachlässigten Widerstands der Arbeiter.717 In dieser Hinsicht erscheint »Wal717 Hans-Peter Rüsing macht darauf aufmerksam, dass dieser sich im Drama vermittelnde Eindruck mit der Intention seines Autors übereinzustimmen scheint, wenn er mit Blick auf Weisenborns »Anmerkungen« zu »Walküre 44« konstatiert: »So begreift der Autor sein Stück als einen künstlerischen Beitrag dazu, die fehlerhafte Rezeptionsgeschichte des 20. Juli zu korrigieren.« (Rüsing 2013: 68).

Ringen um nationale Deutungshoheit

321

küre 44« als Beitrag zur »›Entdeckung‹ des anderen Widerstands«718, des Widerstands ›von unten‹, seit den 1960er Jahren (vgl. Kap. 1.1). Im Unterschied zu den beiden Romanen von Degenhardt und Weisenborn erscheint allerdings der angestrebte Modifikationsprozess nationaler Erinnerungskultur weniger als selbstreflexiver Akt. Obwohl Lange sich selbst vor allem zu Beginn des Dramas als dezidiert deutscher Erzähler inszeniert, der im Folgenden nationale und somit hier eigentlich eigene Geschichte vermittelt, evoziert der didaktische Duktus der Darstellung doch eher den Eindruck, dass ein sehr selbstgewisser ›Lehrer‹ ausschließlich die adressierte Gruppe, weniger sich selbst hinterfragen oder verändern will. Dies wird gerade auch im Vergleich des dramatischen Prologs mit der Schlussszene des Dramas deutlich: Ist einleitend bei Lange noch die Rede davon, dass »wir« wissen müssen, »wie es damals wirklich war« (W: 1), hat Lange rückblickend nun »euch« die Geschichte erzählt. Belehrung rückt so an die Stelle von Selbstvergewisserung oder -reflexion. Entsprechend verwundert es nicht, dass der abschließende Epilog zwar einerseits Langes einleitende Worte über die Relevanz von Geschichte für ein Volk wörtlich wiederholt, dabei aber andererseits die vier letzten Zeilen und damit auch ausgerechnet das explizite »Wir« auslässt (vgl. W: 65).

718 Holler 1994: 189.

Resümee

6

Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen

Diese Arbeit deutet literarisches Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft und macht so die Zusammenschau von etwa zwanzig zwischen 1945 und 1989 erstmals publizierten Romanen und Dramen, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellen, plausibel. Indem das Erzählen vom Widerstand in diesen Texten zur Imagination und Reflexion nationaler oder politisch-sozialer Gemeinschaften und Identitäten beiträgt, unterbreitet es Leser/innen potenziell Sinnangebote. Ausgehend von dieser zentralen These modelliere ich eine Typologie, die drei verschiedene Typen ›widerstandsliterarischer‹ Gemeinschaftsentwürfe unterscheidet. In einem Teil der erfassten Texte zielt Erzählen vom Widerstand auf eine Rehabilitierung der deutschen Nation (Kap. 3). Wenn hier mittels verschiedener Verfahren mehr oder weniger klare Grenzen zwischen Deutschem und Nationalsozialistischem etabliert werden, erscheint Widerstand als nationaler Befreiungskampf. Daran anschließend werden die Widerständigen zu Märtyrern, die durch ihren Opfertod die Existenz eines ›anderen Deutschlands‹ bezeugen und zudem die ›im Namen des Volkes‹ begangenen Verbrechen sühnen. Die Betonung von politisch-sozialer Breite des Widerstands macht die Texte zu Integrationsangeboten an verschiedene gesellschaftliche Großgruppen, die sich in einer nationalen, aber nicht nationalsozialistischen Gemeinschaft zusammenfinden können, sofern sie Widerstand gegen den Nationalsozialismus als vorbildlich – die Widerständigen mithin als ›Lehrer‹ – akzeptieren. Im Unterschied dazu führt Erzählen vom Widerstand in einer zweiten Gruppe von Texten eher zu einer Destabilisierung von Gemeinschaften (Kap. 4). Statt die Überwindung politischsozialer Unterschiede in einem als national konzipierten Widerstand zu proklamieren, werden hier – insbesondere durch kontrastive Perspektivierungen des Geschehens – gerade die Differenzen zwischen widerständigen Figuren betont. Deren Widerstehen stellt sich weniger als ein gemeinschaftlicher Akt dar, der sich ausschließlich gegen den Nationalsozialismus und seine Repräsentanten als konstitutivem Äußeren richtet. Vielmehr wird jeder Art ideologischer Vereinnahmung des Einzelnen eine Absage erteilt und damit tendenziell eine

326

Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen

grundsätzliche Lösung kollektiver Bindungen betrieben; die Zugehörigkeit zu einem nationalen Kollektiv wird ebenso in Frage gestellt wie Identifikationen mit politisch-sozialen Gemeinschaften. Als Drittes schließlich tritt literarisches Erzählen vom Widerstand als eine Form der Selbstreflexion antifaschistischer Identität in Erscheinung (Kap. 5). Dabei stehen Erzähler und Protagonisten im Mittelpunkt, für die die Identifikation mit einer sich als politisch links begreifenden Gemeinschaft selbstverständlich zu sein scheint. Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird aus dieser Perspektive zur Fortsetzung und Zuspitzung von Klassenkampf. Die antifaschistische als eigene Gemeinschaft erscheint dabei allerdings als veränderbares, komplexes, nicht als monolithisches Kollektiv und auch die eigene Identität der Protagonisten als entsprechend modifizierbar. Die Imagination antifaschistischer Gemeinschaft wird von einer intensiven Reflexion ihrer Binnendifferenzen wie auch von der Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft begleitet. Diese hier skizzierte Typologie stellt nicht nur eine abstrakt-systematische Ordnung westdeutscher ›Widerstandsliteratur‹ dar, sondern birgt auch eine historische Dimension, auf die bereits die chronologische Reihe der sechs ins Zentrum der Analysen gestellten Texte verweist. Erzählen vom Widerstand als Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft, wofür Günther Weisenborns Drama »Die Illegalen« sowie Walter Erich Schäfers »Die Verschwörung« als exemplarisch herausgestellt wurden, dominiert in der ›Widerstandsliteratur‹, die in den ersten zehn Nachkriegsjahren in Westdeutschland publiziert wurde, aber auch in Texten von Hans Hellmut Kirst aus den 1960er Jahren. Es ist in erster Linie in der öffentlichen Schulddebatte, vor allem in der Diskussion um eine mögliche deutsche Kollektivschuld, zu verorten. Erzählen vom Widerstand als Destabilisierung etablierter Gemeinschaften kann dagegen insbesondere im Paradigma der Totalitarismus- und Militarismus- respektive Preußenkritik gedeutet werden. Ältestes Textbeispiel ist hierfür der Andersch-Roman »Sansibar oder der letzte Grund« aus dem Jahr 1957; neben dem Drama »Die Verschwörer« von Wolfgang Graetz lassen sich ähnliche Tendenzen aber auch noch besonders deutlich in Peter Paul Zahls 1982 uraufgeführten Elser-Drama beobachten. Dass die ›widerstandsliterarische‹ Totalitarismuskritik damit keinesfalls an ein Ende gelangt ist, zeigt ein Ausblick auf jüngere literarische Widerstandsdarstellungen wie beispielsweise den Roman »Mein Jahr als Mörder« (2004) von Friedrich Christian Delius (vgl. Kap. 7.3). Literarisches Erzählen vom Widerstand als Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft schließlich, das die beiden Romane von Franz Josef Degenhardt und Peter Weiss kennzeichnet, kann als Beitrag zur Selbstverständnisdiskussion der sogenannten Neuen Linken verstanden werden. Hier werden Fragen nach einem adäquaten Bildungs- und Kunstverständnis, nach antifaschistischen Vorbildern, nach der Rolle von Gewalt im politischen Kampf oder dem Verhältnis des Einzelnen zur Partei und

Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen

327

ihren Doktrinen ebenso verhandelt wie Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Großgruppen oder das Verhältnis von Stalinismus, Kommunismus und Sozialdemokratie. Dabei geht es weniger um ein affirmatives Bekenntnis zu linker Politik, wie sie sich beispielsweise im ›real existierenden Sozialismus‹ Ostmitteleuropas manifestierte, sondern um eine kritische Auseinandersetzung damit wie aber auch mit der etablierten westeuropäischen Sozialdemokratie. Mein typologischer Entwurf geht wie jeder Versuch, literarische Texte systematisch oder historiographisch zu ordnen, zwangsläufig mit der Priorisierung bestimmter Lesarten und der Vernachlässigung anderer Perspektiven auf literarische Werke einher. Deshalb stellt sich die Frage nach den Grenzen dieses Ansatzes. Vor allem zwei Perspektivwechsel beziehungsweise -erweiterungen könnten sich als Ausgangspunkte für eine sinnvolle Ergänzung oder auch Modifikation der von mir in dieser Arbeit entwickelten Kategorien westdeutscher ›Widerstandsliteratur‹ erweisen: ›Widerstandsliteratur‹ im erinnerungskulturellen Deutungskampf – Mit Günther Weisenborns Drama »Walküre 44« ist zuletzt bereits ein Text vorgestellt worden, der sich nicht ohne weiteres in den hier entwickelten dreiteiligen Ordnungsvorschlag einfügen lässt (Kap. 5.6). Erzählen vom Widerstand schwankt darin zwischen der Modifikation nationaler und der Etablierung antifaschistischer Gemeinschaft. Der didaktische Duktus, der sich vor allem in der Inszenierung des Bahnmeisters als intradiegetische Erzählinstanz manifestiert und hier die Anerkennung des Widerstands des ›einfachen Mannes‹ einfordert, erinnert erkennbar an Strukturen, die für die ›widerstandsliterarische‹ Rehabilitierung der deutschen Nation als typisch herausgestellt werden. In diesem Drama zielt die ›Belehrung‹ allerdings weniger auf die grundsätzliche Anerkennung des Widerstands als nationales Vorbild. Vielmehr geht es in »Walküre 44« um eine Korrektur nationalen Erinnerns: Angemahnt wird ein verstärktes Gedenken an den sogenannten linken Widerstand. Einerseits bestätigt auch dieser Text damit die zentrale These meiner Arbeit, dass literarisches Erzählen auf den Entwurf von oder die Auseinandersetzung mit Gemeinschaft/en zielt. Andererseits ist das Weisenborn-Drama ein prägnantes Beispiel dafür, dass literarisches Erzählen vom Widerstand sich darüber hinaus wiederholt relativ explizit als Beitrag zu erinnerungskulturellen Deutungskämpfen oder Reflexionen inszeniert. So ist beispielsweise auch für den Roman »Der Verfolger« (1961) von Weisenborn sowie Arno Schmidts Erzählung »Kühe in Halbtrauer« (1964) die Auseinandersetzung mit der ›zweiten Geschichte‹ des Widerstands, also seinem Stellenwert insbesondere in einer als national konzipierten deutschen Erinnerungskultur, zentral: Der Roman »Der Verfolger« stellt sich, wie in Kapitel 4.5.2 erläutert, nicht zuletzt als Kritik an einer bundesdeutschen ›Vergessenskultur‹ gegenüber dem gesamten Widerstand dar ; Arno Schmidt lässt

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Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen

seine beiden Protagonisten an einem 20. Juli Anfang der 1960er Jahre, ausgelöst von Nachrichten über Gedenkfeierlichkeiten, ihre eigenen Kriegserfahrungen rekapitulieren und die Frage nach der Möglichkeit von Widerstand reflektieren. Subtil werden so ritualisierte erinnerungskulturelle Praktiken zur Lebenswirklichkeit einzelner ›Durchschnittsmenschen‹ in Beziehung gesetzt. Auch in der Erzählung »Das Brandopfer« (1954) von Albrecht Goes und dem Roman »Engelbert Reineke« (1959) von Paul Schallück, die primär individuelle Verweigerungshandlungen, weniger gezielten Widerstand zum Thema machen, steht die Frage im Mittelpunkt, wie seitens der Betroffenen, aber auch in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft an den Widerstand nach Kriegsende erinnert wurde. Ausgehend von diesen Beobachtungen erschiene mir daher ein analytischer Fokus auf ›widerstandsliterarische‹ Inszenierungen von Erinnerungsprozessen und -praktiken als ein Ansatz, der die von mir entwickelte Typologie ergänzen, möglicherweise aber auch Kategorisierungen der Texte vorschlagen könnte, die quer zu den hier etablierten liegen würden. Weitung oder Flexibilisierung des Widerstandsbegriffs – Der Zusammenstellung des Textkorpus liegt in dieser Arbeit ein relativ klar formulierter Widerstandsbegriff zu Grunde. Berücksichtigt werden primär literarische Darstellungen von Handlungen, die auf eine Beendigung oder zumindest Schwächung der nationalsozialistischen Herrschaft zielen (Kap. 1.1). Gerade im Vergleich von Texten, die unterschiedliche Formen und Träger von so definiertem Widerstand auf die literarische ›Bühne‹ stellen, wird ein spezifisches Potenzial des Themas »Widerstand«, mithin das diese Texte Verbindende deutlich: Ihr Erzählen vom Widerstand fungiert als Imagination oder Reflexion nationaler oder politisch-sozialer Gemeinschaft. Dies gilt selbst für solche Texte, die in Kapitel 4 als Destabilisierungen von Gemeinschaft gedeutet wurden: In den dort fokussierten Werken von Andersch, Weisenborn, Graetz und Zahl wird gerade die Verbundenheit von Figuren mit einer nationalen oder politisch-sozialen Gemeinschaft als Problem konzipiert, das schließlich die Emanzipation des Einzelnen von solchen Bindungen als geboten erscheinen lässt. Allerdings ist diese Tendenz, Widerstehen zu einem emanzipativen Akt des Einzelnen zu machen, noch in weiteren Werken zu beobachten, die in dieser Arbeit allenfalls am Rande berücksichtigt werden. Dazu zählen die oben genannten Erzähltexte von Schallück und Goes ebenso wie verschiedene Werke Rolf Hochhuths (»Der Stellvertreter« 1963, »Die Berliner Antigone« 1965) oder auch Grete Weils Roman »Meine Schwester Antigone« (1980). Diese verhandeln vor allem die Möglichkeit einer Selbstbehauptung von Protagonisten gegenüber den Anforderungen nationalsozialistischer Politik und Ideologie, die nicht zwangsläufig in aktivem Handeln wider das System münden muss. Inwieweit auch in diesen Texten zumindest eine kritische Reflexion von Gemeinschaft/en eine Rolle spielt, bleibt in meiner Arbeit entsprechend unbeantwortet. Ich gehe allerdings davon

Eine Typologie literarischer Widerstandsdarstellungen und ihre Grenzen

329

aus, dass eine Berücksichtigung dieser Texte in den Analysen, ausgehend von einem erweiterten Verständnis von Widerstehen/Widerstand, zu einer leichten Modifikation meiner zentralen These führen würde. Erzählen vom Widerstehen/ Widerstand würde dann vermutlich deutlicher in zwei – tendenziell gegensätzlichen – Sinnangeboten erkennbar : der erzählerischen Konstitution von Gemeinschaft einerseits und der erzählerischen Konstitution eines handlungsmächtigen Individuums andererseits.

7

»Denn was man gesät hat, soll man auch ernten« – Ausblicke (ausgehend von Hans Falladas »Jeder stirbt für sich allein«)

Literarisches Erzählen vom aktiven Widerstand trägt zur Imagination und Reflexion nationaler und/oder politisch-sozialer Gemeinschaften bei. Dies gilt – so zeige ich in dieser Arbeit – trotz der zuletzt skizzierten Einschränkungen mindestens für einen Großteil der westdeutschen Literatur, die zwischen 1945 und 1989 publiziert wurde. Wenn man die entsprechenden Texte als Teil kultureller Konstellationen ernst nimmt, also als »part of the principal signifying processes of a culture, interacting with other symbol systems«, so erlauben die hier analysierten »literary stagings of narrative identity«719 auch Rückschlüsse auf Entwürfe von Gemeinschaft und kollektiver Identität, wie sie die Widerstandsdiskurse in Westdeutschland in den ersten gut vierzig Nachkriegsjahren dominierten. Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft ist aber keinesfalls ein exklusives Phänomen westdeutscher Literatur. So ist Hans Falladas zu Beginn dieser Arbeit bereits knapp vorgestellter Roman »Jeder stirbt für sich allein«, der 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag im Anschluss an einen leicht gekürzten, seriellen Vorabdruck in der Neuen Berliner Illustrierten erschien,720 ein Beispiel dafür, dass Erzählen vom Widerstand auch in der ostdeutschen Literatur als Imagination oder Reflexion von Gemeinschaft erkennbar wird. Ausgehend von einer knappen Analyse der Gemeinschaftsentwürfe dieses Romans machen die folgenden Ausführungen als Erstes auf den möglichen Ertrag eines deutsch-deutschen oder internationalen Vergleichs literarischer Widerstandsdarstellungen respektive ›widerstandsliterarischer‹ Gemeinschaftsimaginationen aufmerksam (Kap. 7.1). In einem zweiten Schritt wird – ebenfalls am Beispiel des Fallada-Romans – das Potenzial einer funktionsgeschichtlich orientierten Auseinandersetzung mit ›Widerstandsliteratur‹ erörtert. Da die westdeutschen literarischen Widerstandsdarstellungen in dieser Arbeit erstmals systematisch erfasst und als gemeinschaftsimaginierende Texte in den Blick 719 Beide Zitate Neumann/Nünning 2008: 15. 720 Vgl. Kuhnke 2001: 49.

332

Ausblicke

genommen werden, steht hier die Entwicklung einer Typologie im Vordergrund, die auf Beobachtungen zu den Textstrukturen und der Rekonstruktion literarischer Sinnangebote beruht. Durch den Rekurs auf rezeptions-, ideen- und ideologiegeschichtliche Forschungsergebnisse erhält diese Typologie zudem bereits – wie oben erläutert – eine historische Dimension. Sie macht dadurch die Priorisierung der in dieser Arbeit vorgestellten Deutungen auch für die zeitgenössischen Rezeptionskontexte der analysierten Werke plausibel. Ein funktionsgeschichtlicher Ansatz könnte daran anschließend fundierte Hypothesen zum Funktionspotenzial der unterschiedlichen Gemeinschaftsimaginationen und -reflexionen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten formulieren (Kap. 7.2). Der letzte Ausblick dieses Kapitels, mithin auch der gesamten Arbeit, richtet sich schließlich auf die ›Widerstandsliteratur‹, die in Deutschland seit 1990 und vermehrt seit der Jahrtausendwende erschienen ist. Er wirft die Frage auf, inwieweit auch dort literarisches Erzählen vom Widerstand möglicherweise nach wie vor als Erzählen von Gemeinschaft in Erscheinung tritt.

7.1

›Widerstandsliteratur‹ im grenzüberschreitenden Vergleich

Zunächst möchte ich aber – wie angekündigt – beginnend mit Falladas letztem Roman »Jeder stirbt für sich allein« zeigen, dass ›Widerstandsliteratur‹ auch in Ostdeutschland einen Beitrag zur Imagination und Reflexion von Gemeinschaft/en leistete. Auf den ersten Blick ist der Widerstand des Ehepaars Quangel allerdings ebenso die einsame Tat zweier Menschen, wie auch die Resistenz weiterer Figuren des Romans primär als Selbstbehauptung des Einzelnen erscheint; so zum Beispiel in den folgenden Gedanken der Briefträgerin Eva Kluge: Aber sie beschließt: nein, sie will lieber nichts sagen. Alles, was sie nun tut, tut sie ganz für sich allein. Sie will keinen Menschen dareinziehen. […] Vielleicht wird, wenn sie ganz allein für sich ist, noch etwas aus ihr, jetzt, wo sie endlich Zeit für sich selber hat, das eigene Ich nicht immer über all dem andern vergessen muß. (Jsa: 98; vgl. auch Jsa: 52 und 537)

Vorstellungen vom Widerstand als nationalem Befreiungsakt, als zeichensetzendes Martyrium für ein ›anderes Deutschland‹ oder nationales Sühneopfer, wie sie in der westdeutschen ›Widerstandsliteratur‹ der frühen Nachkriegszeit vorherrschen (vgl. Kap. 3), werden zwar – wie in der Einleitung dieser Arbeit skizziert – auch in diesem Roman, insbesondere in der Darstellung des Gerichtsprozesses gegen das Ehepaar Quangel, aber auch am Beispiel von Ne-

›Widerstandsliteratur‹ im grenzüberschreitenden Vergleich

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benfiguren verhandelt, sind aber hier insgesamt weniger dominant.721 Außerdem spielt die Identifikation mit einem sich politisch definierenden Kollektiv oder gar eine entsprechende Zusammenarbeit mit anderen Widerständigen in dem Roman für seine zentralen widerständigen Protagonisten zunächst über weite Strecken keine Rolle. Der Roman zeigt die Hauptfiguren nicht im Widerstand »im Namen des Volkes« oder einer anders konturierten politischen Gemeinschaft, stattdessen stirbt hier jeder schließlich »für sich allein«. Nicht zuletzt deswegen gilt Fallada den meisten Literaturwissenschaftler/innen und -kritiker/innen als Autor mit besonderer Affinität zum Kleinbürgertum, Otto Quangel als »groß gewordener Pinneberg«722. Sie betonen, sozial gehöre Otto Quangel »zum Mittelstand, der durch die Inflation und die wirtschaftliche Entwicklung der Weimarer Republik ruiniert wurde«723, und klassifizieren ihn – ausgehend von ihren eigenen soziologischen Schemata – als Kleinbürger : Fallada beschreibt Kleinbürger, nicht klassenbewußte Arbeiter ; ihre Opposition gegen den Faschismus gründet sich nicht in politischem Bewußtsein, sondern in moralischem Empfinden.724

Dabei wird meistens übersehen, dass der Roman durchaus als Beitrag zur Imagination einer wehrhaften Arbeiterschaft gelesen werden kann. Erstens ist Otto Quangel beim Einsetzen der Handlung nicht mehr Besitzer einer »kleinen Tischlerwerkstatt« (Jsa: 24), sondern wird im Roman von Beginn an in erster 721 Ähnlich wie in den frühen westdeutschen Dramen Weisenborns und Schäfers inszeniert zum Beispiel die Erzählinstanz bei Fallada die Aussage des Ehepaars Quangel vor Gericht als aufrechten und quasi aktiven Gang in den Tod, der ein Zeichen setzt: »Es war eine kleine Sensation, als beide Angeklagte auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich im Sinne der Anklage schuldig bekennen, mit einem einfachen ›Ja‹ antworteten. Denn mit diesem Ja hatten sie sich selbst das Todesurteil gesprochen und jede weitere Verhandlung unnötig gemacht« (Jsa: 504). Und auch die von Kommissar Escherich überführte Anna Schönlein reagiert ähnlich offensiv, als ihr widerständiges Verhalten entdeckt wird, und lehnt die »Gnade« Escherichs mit einer »gewisse[n] egozentrische[n] Martyriumsfreudigkeit« (Kieser-Reinke 1979: 94) ab: »Plötzlich brach es aus ihr hervor: ›Ich will keine Gnade von euch! Ich hasse euer Mitleid! Mein Fall ist nicht unbeträchtlich! Jawohl, ich habe regelmäßig politisch Verfolgten Unterkunft gewährt! Ich habe ausländische Sender angehört! So, nun wissen Sie es! Nun können Sie mich nicht mehr schonen – trotz meiner Lunge!‹ (Jsa: 299). 722 Zachau 1989: 194. Vgl. ähnlich Schueler 1970: 35; Gessler 1976: 156f.; Kieser-Reinke 1979: 207; Theilig/Töteberg 1980: 84f.; und Heukenkamp 1996: 309. 723 Zachau 1989: 188. Vgl. ähnlich Gessler 1976: 158. 724 Theilig/Töteberg 1980: 82. Vgl. Schueler 1970: 115; Zachau 1989: 194; und Heinrich 2007: 212. Insbesondere in Arbeiten marxistischer Prägung wird dabei der Begriff des »Kleinbürgers« als abwertende Bezeichnung verwendet. Als kleinbürgerlich gelten vor allem Figuren, die sich ohne erkennbares politisches Engagement den gesellschaftlichen Verhältnissen fügen. »Kleinbürger« und »Arbeiter« erscheinen hier weniger als soziologische Kategorien zur Beschreibung eines sozialen Status, sondern eher als politische Schlagworte (vgl. exemplarisch Gessler 1976: 169; und Theilig/Töteberg 1980: 83).

334

Ausblicke

Linie als disziplinierter »Werkmeister in der großen Möbelfabrik« (JSA: 24; vgl. exemplarisch auch Jsa: 15, 18, 23, 34) inszeniert.725 Hier steht nicht der soziale Abstieg eines Kleinbürgers im Vordergrund, sondern der heterodiegetische Erzähler stilisiert Quangel als vorbildlichen Arbeiter. Seine Arbeiteridentität wird als stabiler Kern seines Wesens dargestellt, das bis dato keinen Wandel oder gar Bruch kennt: Aber wer sollte auf einen so trockenen, unausgiebigen Mann wie Otto Quangel groß achten? Er schien zeit seines Lebens nur ein Arbeitstier gewesen zu sein, ohne irgendein anderes Interesse als das für die Arbeit, die er zu verrichten hatte. Er hatte nie einen Freund hier besessen, nie zu jemandem ein freundliches Wort gesprochen. Arbeit, nur Arbeit, ganz gleich, ob Menschen oder Maschinen, wenn sie nur ihre Arbeit taten! (Jsa: 53)

Entsprechend versteht er auch seinen Widerstand als »Arbeit« (Jsa: 330), die es zu erledigen gilt; – eine Vorstellung, die relativ explizit ebenfalls von Figuren in dem »Illegalen«-Drama Günther Weisenborns (vgl. exemplarisch I: 276) oder in dem Roman »Die letzten Tage« von Wolfgang Parth (vgl. DlT: 29, 30, 34) tradiert wird. Zweitens wird Widerstand im Roman ausschließlich zu einer Angelegenheit von vorbildlichen Arbeitern. So sind die Widerständigen um Grigoleit, die eine »Widerstandszelle im Betrieb gebildet« (Jsa: 38) haben, dem Arbeitermilieu zuzuordnen, und »[s]ogar der gefallene Sohn der Quangels wird noch mit hervorragender Arbeitsfähigkeit versehen.«726 In dem Roman gibt es keine Figur, die als guter Arbeiter und gleichzeitig als überzeugter Nationalsozialist oder Unterstützer des Regimes dargestellt wird. Zwar treten hier auch Figuren aus dem Arbeitermilieu als Spitzel des NS-Regimes oder Opportunisten auf, wie vor allem Emil Borkhausen und Enno Kluge, aber diese wirken nicht als produktiver Teil der Arbeitswelt; sie sind scheiternde Arbeiter : »Es schien der einzige Beruf Emil Borkhausens zu sein, immer irgendwo rumzustehen, wo es was zu gaffen oder zu hören gab« (Jsa: 23).727 Auch Dollfuß, Parteimitglied und Spitzel in der Werkstatt der Möbelfabrik, in der Otto Quangel arbeitet, erscheint als nachlässiger, unzuverlässiger Arbeiter : … er [Otto Quangel; Anm. M. S.] weiß vielmehr genau, daß dieser Liederlich, dieser Tischler Dollfuß, schon vor sieben Minuten die Werkstatt verlassen hat und daß die

725 Neben Angelika Kieser-Reinke (vgl. 1979: 104f.; 181) konstatiert einzig Bernhard Heinrich die Differenz zwischen Quangels unpolitischem Einzelgänger-Dasein, das in der Forschung zu seiner Charakterisierung als Kleinbürger führt, und der im Roman häufig zu beobachtenden Beschreibung und Bezeichnung Quangels als Arbeiter (vgl. Heinrich 2007: 174). 726 Kieser-Reinke 1979: 105. 727 Vgl. auch Kieser-Reinke 1979: 105 und 181.

›Widerstandsliteratur‹ im grenzüberschreitenden Vergleich

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Arbeit in seiner Reihe darum stockt, weil er auf dem Abtritt wieder mal eine Zigarette rauchen muß, oder weil er dort Reden schwingt. (Jsa: 55)

Drittens wird Otto Quangels Einzelgängertum im letzten der vier Romanteile, der ihn nach seiner Verhaftung zeigt, auf verschiedenen Ebenen relativiert und reflektiert: Otto Quangel entwickelt im Kontakt mit dem Mithäftling Dr. Reichhardt, der »[k]ommunistischer Umtriebe beschuldigt« (Jsa: 471) wird, erstmals außerhalb seiner Ehe ein aufrichtiges Interesse an einer sozialen Bindung: Sie gewöhnten sich aneinander, sie wurden Freunde, soweit ein harter, trockener Mensch wie Otto Quangel der Freund eines aufgeschlossenen, gütigen Menschen werden konnte. […] Quangel sah dem alten Mann ins Gesicht, diesem feinen Herrn, mit dem er draußen in der Welt nicht ein Wort zu reden gewußt hätte, und manchmal kamen ihm Zweifel, ob er denn sein eigenes Leben wohl auf die richtige Art geführt hatte, getrennt von allen anderen, ein Leben selbstgewollter Vereinzelung. […] Ja, es war kein Zweifel: über die Fünfzig hinaus, gewiß eines nahen Todes, wandelte sich Quangel noch. (Jsa: 479f.)

Außerdem proklamiert Reichhardt im Gespräch mit Quangel explizit die Notwendigkeit einer Organisation des Widerstands, die dessen Vereinzelung überwindet: Sehen Sie, Quangel, es wäre natürlich hundertmal besser gewesen, wir hätten einen Mann gehabt, der uns gesagt hätte: So und so müßt ihr handeln, das und das ist unser Plan. Aber wenn ein solcher Mann in Deutschland gewesen wäre, dann wäre es nie zu 1933 gekommen. So haben wir alle einzeln handeln müssen, und einzeln sind wir gefangen, und jeder wird für sich allein sterben müssen. Aber darum sind wir doch nicht allein, Quangel, darum sterben wir doch nicht umsonst. (Jsa: 482)

Viertens schließlich fungiert vor allem der Handlungsstrang um die Briefträgerin Eva Kluge, die Noch- beziehungsweise Ex-Ehefrau von Enno Kluge, beinahe als Allegorie für die avisierte Abkehr des ›kleinen Mannes‹ oder besser der ›kleinen arbeitenden Frau‹ von nationalsozialistischer Ideologie und Politik und seine respektive ihre Emanzipation. Zu Beginn wird Eva Kluge noch als »politisch gar nicht interessiert[e]« (Jsa: 13), sich durch ihren anstrengenden, fremdbestimmten Alltag quälende Briefträgerin eingeführt. Zunächst distanziert sie sich von ihrem Mann Enno Kluge und dann führt die Nachricht von der Beteiligung ihres Lieblingssohnes Karlemann an Kriegsverbrechen nicht nur dazu, dass sie sich auch von diesem lossagt, sondern auch zu ihrer Abkehr vom Nationalsozialismus (vgl. Jsa: 39–52). Ausgehend von dieser Entscheidung, die den zentralen Wendepunkt in ihrem Leben markiert, treibt sie entgegen aller Widrigkeiten – Suspendierung vom Dienst, KZ-Androhungen – ihren Austritt aus der nationalsozialistischen Partei voran, widersetzt sich auch den Forde-

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rungen der Gestapo in ihrer Wohnung ansprechbar zu bleiben und plant, bei ihrer Schwester auf dem Land unterzutauchen: In dieser Nacht […] lächelte die Briefträgerin Kluge zum erstenmal wieder im Schlaf. Träumend sieht sie sich auf einem riesigen Kartoffelacker stehen, die Hacke in den Händen. So weit sie sieht, nur Kartoffelland, und sie dazwischen allein: Sie muß das Kartoffelland sauberhacken. Sie lächelt […]. (JSA: 98)

Wirkt Eva Kluge als Briefträgerin noch fremdbestimmt, wird im »Zwischenspiel: Ein Idyll auf dem Lande« im dritten Romanteil das Bild einer hart arbeitenden Frau entworfen, die sich mit ihrer Aufgabe vollkommen identifiziert (vgl. Jsa: 379–391). Die anstrengende Landarbeit bei ihrer Schwester führt zu einer körperlichen und geistigen Gesundung der Frau mit den ehemals »brennenden Füßen und einer schmerzenden Öde im Kopf« (Jsa: 39). Statt des »stets versorgten Ausdruck[s]« blickt sie nun »goldigbraun« (beide Zitate Jsa: 379) in eine gemeinsame Zukunft mit dem Lehrer Kienschäper : »[S]ie verzweifelt nicht, sie arbeitet. Sie will […] etwas schaffen« (Jsa: 380). Sie erwirbt in diesem Bild einen klaren Blick für die Identifikation von »Unkraut« und »Ungeziefer« (Jsa: 379), also die Unterscheidung von Gut und Böse: »Sie weiß jetzt genau, wie das alles ist, seit sie aus der Partei ausgetreten ist« (Jsa: 380).728 Der Sonderstatus der Eva Kluge-Figur in dem umfangreichen Figurenensemble des Romans wird vor allem dadurch deutlich, dass ihrer Geschichte neben diesem »Zwischenspiel« sowohl der Romanauftakt als auch das Schlusskapitel gewidmet sind. Letzteres steht im vom Erzähler explizit betonten Kontrast zu dem vorherigen Abschnitt, der den Tod Anna Quangels schildert: 728 In der evozierten Verbindung zwischen selbstbestimmter, landwirtschaftlicher Arbeit und positiver physischer und psychischer Entwicklung zeigt der Roman eine Zivilisationskritik, die Nationalsozialismus mit einer vor allem technischen Modernisierung und Urbanisierung assoziiert. Zum einen lässt sich hier eine Kritik an rationalisierten Arbeitsformen erkennen. Dies zeigt sich exemplarisch auch an einer Beschreibung der veränderten Arbeitsbedingungen Otto Quangels – seine Möbelfabrik produziert nun Särge –, die einen deutlichen Bezug zwischen moderner Massenproduktion und NS-Herrschaft herstellt: »Was Otto Quangel anging, so war es ihm ganz egal, wozu die Kisten dienten; er fand diese neue, geistlose Arbeit seiner unwürdig und verächtlich. Er war ein richtiger Kunsttischler gewesen, den die Maserung des Holzes, die Anfertigung eines schön geschnitzten Schrankes mit einem Gefühl tiefer Befriedigung erfüllen konnte. Er hatte bei solcher Arbeit so viel Glück empfunden, wie ein Mensch seiner kühlen Veranlagung nur empfinden kann. Jetzt war er zu einem bloßen Antreiber und Aufpasser hinabgesunken…« (Jsa: 53). Zum anderen wird der ländlichen Natur eine »educating and healing function« (Schueler 1970: 83) zugesprochen. Schueler attestiert Fallada eine Nähe zur »tradition of the great and genuine German regionalists who always wrote close to nature and the land« (Schueler 1970: 118). Seine abschließende Behauptung, Fallada propagiere nicht einfach eine Rückkehr zur Natur, sondern »was well aware of the fact that the mere reversal to simple agrarian forms of social life cannot effectively meet the evils and challenges of our modern age« (Schueler 1970: 118), bleibt allerdings konkrete Argumente respektive Textbelege schuldig.

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Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch abschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben. Es ist Sommer, es ist der Frühsommer des Jahres 1946. (Jsa: 565)

Handelt der übrige Roman ausschließlich von der oftmals gewalttätigen Realität des ›Dritten Reiches‹, verkörpert hier die Figur Eva Kluge – durch einen Zeitsprung in die unmittelbare Nachkriegszeit von der sonstigen Romanhandlung getrennt – einen gelingenden Wiederaufbau. Dieser ermöglicht ihr eine wirtschaftlich gesicherte und privat erfreuliche Existenz, wie im Folgenden aus der Perspektive ihres Adoptivsohnes deutlich wird: Ja, sie sind schön vorangekommen, der Vater, die Mutter und er. Sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sind selbständige Leute mit Toni, einer Kuh, einem Schwein, zwei Hammeln und sieben Hühnern. (Jsa: 566)

Der optimistische Entwurf des Wiederaufbaus, der beinahe die Errichtung eines ›Bauern- und Arbeiterstaates‹ vorwegzunehmen scheint, kulminiert schließlich in der den Roman abschließenden Auseinandersetzung zwischen Evas Adoptivsohn Kuno-Dieter Kienschäper, ehemals Borkhausen, und seinem leiblichen Vater Emil Borkhausen, in der der Junge sich von seiner verbrecherischen Vergangenheit, dargestellt durch den Vater, endgültig lossagt: Und wenn da Leute kommen von früher und sagen dies und das, dann prügle ich sie so lange, bis sie mich zufrieden lassen! […] Was, Toni, wir lassen uns von so einem nicht noch mal das Leben verpfuschen? Wir haben’s neu angefangen. Wie die Mutter mich in das Wasser gesteckt und mit ihren eigenen Händen allen Dreck von mir abgewaschen hat, da hab ich mir’s geschworen: Von nun an halte ich mich allein sauber! Und das wird gehalten! (Jsa: 568f.)

Der angehende Landwirt Kuno, als Repräsentant der Jugend, erscheint als Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft, wenn der Roman wie folgt endet: … und als die Tage gingen in den reifen Sommer hinein und die Roggenernte anfing, da ging der Junge mit seiner Sense doch hinaus… Denn was man gesät hat, soll man auch ernten, und der Junge hatte gutes Korn gesät. (Jsa: 569)729

729 Insbesondere dieses letzte Kapitel wird in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Roman kontrovers diskutiert: Für Heinz Rein beispielsweise wirkt es »künstlich und aufgesetzt«, »weil dem Buche ein innerer Optimismus sonst völlig abgeht« (Rein 1950: 225). Ähnliche Kritik äußern auch Theilig/Töteberg (1980: 85), und Angelika Kieser-Reinke befürchtet eine »bedauerliche, unangebrachte Relativierung alles Vorangegangenen« durch die optimistische »Darstellung des befriedeten Schicksals der Familie Kienschäper im Schlußkapitel« (Kieser-Reinke 1979: 151). Alfred Gessler lobt dagegen – ähnlich wie Bernhard Heinrich –, dass »[g]egenüber den bisherigen Gepflogenheiten Falladas […] die Darstellung auch nicht in Ausweglosigkeit oder der Idylle [ende], sondern

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Ausblicke

Insbesondere diese Rahmung des Romans durch die Geschichte Eva Kluges, die in der Tradierung von im Roman als richtig anerkannten Werten an eine nachwachsende Jugend kulminiert, ähnelt strukturell erkennbar solchen westdeutschen Widerstandsdarstellungen, die in dieser Arbeit als Rehabilitierungen nationaler Gemeinschaft analysiert worden sind: So zeichnen sich zum Beispiel auch Zuckmayers »Des Teufels General« und Lotars »Das Bild des Menschen« dadurch aus, dass sie das Überleben junger Figuren als Hoffnung für die Zukunft inszenieren, und Löwens »Stauffenberg«-Drama endet ebenfalls mit einem kurzen Nachspiel im Nachkrieg, das die Tochter des getöteten Schulenberg und Patenkind Stauffenbergs ins Zentrum stellt (vgl. Kap. 3.5.3). Auch in weiteren der ostdeutschen Literatur der frühen Nachkriegszeit zuzurechnenden Widerstandsdarstellungen findet sich Entsprechendes, so etwa in dem Roman »… damit du weiterlebst« von Elfriede Brüning, der 1949 publiziert wurde und Widerstandsformen und -träger aus dem Umfeld der ›Roten Kapelle‹ vorführt. Er schildert zum einen das Schicksal Hans und Hilde Coppis, die im Roman als Hans und Hilde Steffen auftreten, einsetzend 1942 mit Beschreibungen ihrer illegalen Tätigkeiten bis zu ihrer Hinrichtung und dem Weiterleben der Mutter von Hans, Frieda Steffen, mit ihrem Enkel Hans Junior. Zum anderen wird das Leben, die illegale Arbeit, Verhaftung und Flucht der Jüdin Lotte Burkhardt erzählt, die das Bindeglied zwischen der jüdischen Widerstandszelle um Herbert Busch, als deren historisches Vorbild die Herbert-Baum-Gruppe anzunehmen ist, und den Steffens darstellt. Ähnlich wie bei Fallada endet das Buch Brünings mit einem zeitlich von der restlichen Handlung abgesetzten Kapitel, das im Herbst 1945 spielt und das produktive Wirken zweier überlebender Widerständiger in einem Internat zeigt; sie helfen, »eine neue Ordnung aufzurichten« (ddw : 245). Wie bei Fallada erscheint hier die ländliche Idylle als Kraftquelle, in der die verfolgte und erschöpfte Lotte Burkhardt regenerieren kann: »Hier muß man ja gesunden, dachte sie…« (ddw : 248). Außerdem kommt es hier zu einer Annäherung zwischen ihr und der ihr durch die Nationalsozialisten entfremdeten Tochter. So resümiert Lotte Burkhardt am Ende schließlich über den Tod von Hans und Hilde Steffen: Hilde hatte ihr damals schon den Weg gezeigt, den sie gehen mußte: den Weg zurück ins Leben, mit ihrem Kind – mit allen heranwachsenden jungen Menschen, die sie kraft ihrer Erfahrungen und Erlebnisse leiten mußte. Und plötzlich erschien es ihr nicht mehr völlig sinnlos, daß Hans und Hilde gestorben waren. Erst die Geschichte ihres Sterbens rundete das Bild ihres Lebens ab, das allen, die nach ihnen kamen, zum Vorbild wurde. (ddw : 252)

in dem Hinweis auf den historischen Optimismus einer sich selbst befreienden Generation« (Gessler 1976: 157; vgl. auch Heinrich 2007: 208).

›Widerstandsliteratur‹ im grenzüberschreitenden Vergleich

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Ein weiteres Beispiel: Ähnlich wie in Wolfgang W. Parths 1946 im Aufbau-Verlag erschienenen Roman »Die letzten Tage« beginnt auch der 1947 erstmals publizierte 700 Seiten starke, sehr thesenhaft wirkende Roman »Finale Berlin« von Heinz Rein, der im Berlin der Monate April, Mai 1945 spielt, mit dem Blick auf einen desertierten jungen Soldaten.730 Joachim Lassehn lernt bei dem Versuch in Berlin unterzutauchen den kommunistischen Kneipenwirt Oskar Klose kennen, der sich seiner annimmt und über den Lassehn Kontakt zu einer Berliner Widerstandszelle um den ehemaligen kommunistischen Reichstagsabgeordneten Friedrich Wiegand und den praktizierenden Arzt Dr. Walter Böttcher, »früher Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und Bezirksverordneter, geistiger Kopf der Widerstandsgruppe ›Berolina‹« (FB: 645), bekommt. Der Roman von Heinz Rein erzählt vor allem die Entwicklungsgeschichte des zunächst unpolitischen jungen Soldaten: Lassehn fühlt und spürt es, ja er weiß, daß er das, was er getan hat, nicht getan hat, um nur das Leben zu erhalten, sich aus dem allgemeinen Chaos des Unterganges herauszuretten, sondern daß da noch etwas anderes ist, was ihn mit unwiderstehlicher Gewalt treibt, eine unbegreifliche Kraft, gespeist aus einer Quelle, die ihm innewohnt, die er aber nicht kennt. Ist da nicht irgendetwas, an dem man sich entzünden kann, dem Herz und Geist entgegenlodern können? Er kennt keine Idee, die sein Leben trägt und einem Ziele entgegendrängt, er kennt nur Ablehnung dessen, was ihm bisher mit Pathos und Brachialgewalt als Idee aufgezwungen werden sollte… (FB: 46)

Am Ende des Romans steht er nach der deutschen Kapitulation schließlich Seite an Seite mit seinen widerständigen Vorbildern und leitet im Auftrag der russischen Besatzer den Wiederaufbau des zerstörten Berlins an (vgl. FB: 701ff.). Als ein Merkmal, das die frühe ost- mit der westdeutschen ›Widerstandsliteratur‹ verbindet, kann also ihr Bemühen gelten, den Bruch und die Niederlage, die das Kriegsende aus deutscher Perspektive größtenteils bedeuten, durch Entwürfe von Kontinuität zu kompensieren. Dabei spielen epilogartige Rahmungen der Handlungen, die mit einer kurzen Szene in der Nachkriegszeit enden, sowie oft die Inszenierung jugendlicher Protagonisten in ihrer Nachfolge der Widerständigen eine zentrale Rolle. Dass mit diesen kontinuitätsstiftenden Strukturen in den Texten allerdings durchaus Konturen unterschiedlich imaginierter Gemeinschaften erkennbar werden, lässt sich bereits der vorangehenden 730 Auf die Thesenhaftigkeit des Textes verweisen bereits Kapitelüberschriften wie »Biographie eines Nationalsozialisten« (FB: 209) oder »Ethnologie einer deutschen Kleinstadt« (FB: 129). Es sind aber vor allem verschiedene dialogische Passagen, deren Gesprächsinhalte politische oder philosophische Fragen in einem Umfang behandeln, der durch die konkrete Handlungssituation nicht motiviert ist (vgl. exemplarisch FB: 381ff., 533–544). Gleiches gilt für Gedanken Lassehns, die oftmals ausführlich erzählt werden und in ihrem theoretischen Gehalt in der konkreten Handlungssituation unrealistisch wirken (vgl. exemplarisch FB: 455f.).

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Analyse von »Jeder stirbt für sich allein« und der Skizze der Romane von Brüning und Rein entnehmen: Im Unterschied zu den westdeutschen Texten zielen sie tendenziell nicht auf eine Rückbesinnung auf oftmals bildungsbürgerlich oder abendländisch konnotierte nationale Traditionen, sondern auf die Begründung eines Wiederaufbaus, für den die Beteiligung der Arbeiterschaft, das Bilden einer linken ›Volksfront‹ oder die Zusammenarbeit mit den russischen Besatzern zentral wird. Gerade die Beobachtung, dass sich die ost- und westdeutschen ›widerstandsliterarischen‹ Texte zumindest der frühen Nachkriegszeit einerseits strukturell in Teilen ähneln, andererseits aber erwartungsgemäß unterschiedliche politisch-ideologische Implikationen erkennen lassen, könnte einen umfassenden deutsch-deutschen Vergleich von ›Widerstandsliteratur‹ lohnenswert machen. Bislang wird in der rezeptionsgeschichtlichen Widerstandsforschung häufig eine westdeutsche Fokussierung auf den militärischen und bürgerlichen Widerstand mit dem ostdeutschen Thälmann- und KPD-Kult kontrastiert. Statt solche tendenziell schematisierenden Beobachtungen zu einer bipolaren, kaltkriegerischen Frontstellung im deutsch-deutschen Kulturvergleich fortzusetzen, wäre die Frage interessant, ob sich auch in den späteren ostdeutschen ›Widerstandstexten‹ ähnliche literarische Verfahren der Imagination und Reflexion von Gemeinschaft entdecken lassen, die in den in dieser Arbeit fokussierten westdeutschen Texten dominieren. Umgekehrt könnte es aufschlussreich sein, solche Texte, die sich – wie vor allem Degenhardts »Zündschnüre« und Weiss’ »Ästhetik des Widerstand« – in der westdeutschen Literatur tendenziell der Verhandlung antifaschistischer Identität widmen, zu Imaginationen antifaschistischer Gemeinschaft in der ostdeutschen Literatur in Beziehung zu setzen. So sind beispielsweise analeptische Strukturen, die in den Romanen von Degenhardt und Weiss ein Verständnis von Widerstand als Fortsetzung kontinuierlichen Klassenkampfes evozieren (vgl. Kap. 5.3.1), auch für den Entwurf antifaschistischer Gemeinschaft in der 1946 publizierten Erzählung »Der Leutnant Yorck von Wartenburg« von Stephan Hermlin – wenn auch mit anderer Bedeutung – relevant. Diese setzt mit der Schilderung der Hinrichtungsvorbereitungen und der Folter des jungen titelgebenden Leutnants ein, der dann die Beschreibung einer unerwarteten Errettung – hier in Form einer Befreiungsaktion durch um sich schießende Freunde – folgt. Bei dieser Beschreibung der Rettungsaktion, der anschließenden Flucht des Leutnants nach Russland, die von einem väterlichen Freund, dem Freiherrn v. H., organisiert wird, und eines Aufstands, der »gleichzeitig in fast allen Teilen des [deutschen; Anm. M. S.] Reiches erfolgt [und mit] Unterstützung der verschiedensten Schichten der Bevölkerung« (LYW: 29), handelt es sich – für den Leser wie auch für den Protagonisten erst am Ende ersichtlich – um eine Ein-

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bildung der gefolterten Hauptfigur.731 Zwei Analepsen dienen hier dazu, das vom Leutnant halluzinierte Befreiungsgeschehen und vor allem die Öffnung des jungen Mannes, der hier den militärischen Widerstand vom 20. Juli 1944 repräsentiert, gegenüber marxistisch geprägter Ideologie und Politik in einem größeren Kontext zu verorten: Einmal erinnert sich der Protagonist nach seiner vermeintlichen Rettung an ein Gespräch, das er auf dem Gut seiner Eltern mit einem Angestellten über die »Roten« (LYW: 18) geführt hat; ein anderes Mal wird in analeptischer Form an die Konvention von Tauroggen erinnert. Dieses 1812 zwischen dem preußischen Generalleutnant von Yorck und dem russischen General Dibitsch vereinbarte Waffenstillstandsabkommen, das sich gegen die Napoleonischen Machtansprüche richtete, wird so zu »einem ersten Schritt zu einem Bündnis aller freiheitliebenden Völker Europas« (LYW: 19), mithin zu einem Vorbild für eine zukünftige deutsch-russische Verständigung in der aktuellen politischen Situation. Der in Texten wie diesem von Hermlin deutlich werdende Anspruch, einen zukünftigen nationalen Wiederaufbau mit seiner jeweils präferierten politischen Kontur zu legitimieren, verleiht dem literarischen Erzählen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus Züge eines Gründungsmythos, der sich im westdeutschen Widerstandsdiskurs vor allem in der Redewendung vom »anderen Deutschland« manifestiert.732 Dies verbindet die deutsch-deutsche Darstellung des Widerstands nach 1945 mit der in anderen Ländern und ›Nationalliteraturen‹: R8sistance, Resistenza und Widerstand sind in zweifacher Hinsicht als Gründungsmythos zu verstehen. Einerseits werden sie als Ursprungserzählung nationaler Identität […] gedeutet, andererseits als völkerverbindendes Phänomen, das den Übergang in ein modernes, demokratisches Europa markiert.733

Diese Beobachtung Jennifer Rogers zum Stellenwert des jeweiligen Widerstands in der französischen, italienischen und deutschen Erinnerungskultur, die mir auf weitere Länder wie die Benelux-Staaten sowie die von den Deutschen besetzten Staaten im nördlichen und östlichen Europa übertragbar zu sein scheint, legt nahe, dass auch in diesen entsprechenden Literaturen Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft erkennbar wird. Eine vergleichende Analyse der hier fokussierten (west-)deutschen Widerstandsdarstellungen mit solchen Texten wäre nicht zuletzt aus einem Grund besonders interessant: Ein zentrales Merkmal, das viele der in dieser Arbeit erfassten Werke ›kategorien731 Hermlins Erzählung legt somit sowohl einen strukturellen als auch einen deutlichen thematischen Bezug zu Ambroce Bierce’ 1890 publizierter Kurzgeschichte »An Occurrance at Owl Creek Bridge« nahe, die Hermlin bekannt war. 732 Vgl. Roger 2014: 320. 733 Roger 2014: 320.

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übergreifend‹ verbindet, ist ihre Tendenz zur Abstraktion der nationalsozialistischen Bedrohung zum bloßen Anderen. Als grundlegend Böses dient das Produkt dieses ›Otherings‹ vor allem in der frühen ›Widerstandsliteratur‹ dazu, eine Grenze zwischen ›Nazis‹ und Deutschen zu etablieren (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.2.3), in Alfred Anderschs »Sansibar«-Roman dagegen ermöglicht es vor allem die Inszenierung einer omnipräsenten, die Emanzipation des Einzelnen bedrohenden Macht (vgl. Kap. 4.3.3) und in »Die Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss bieten die Anderen, hier als ›der Feind‹ etikettiert, eine Fläche, auf die typische linke Feindbilder projiziert werden können (vgl. Kap. 5.2.3). An diese Beobachtung anschließend stellt sich mir die Frage, ob auch in anderssprachigen literarischen Widerstandsdarstellungen ähnliche Tendenzen erkennbar werden, also: Wie konkret oder vage wird das Andere, als das die deutschen Kriegsgegner, Besatzer und Verfolger wohl auch hier entworfen werden, gestaltet? Welche Funktionen kommen dieser Grenzziehung in den Texten zu, sind sie mit denen der westdeutschen Literatur vergleichbar? Ein entsprechend perspektivierter Vergleich würde schließlich Aussagen zu einer nationalen Spezifik oder auch Unspezifik literarischer Gemeinschaftsimaginationen ermöglichen.

7.2

Funktionsgeschichten von ›Widerstandsliteratur‹

Die Rede vom Widerstand als Gründungsmythos in verschiedenen europäischen Staaten nach 1945 legt es bereits nahe: Neben einem vergleichenden Blick auf verschiedene Verfahren und Strukturen widerstandsliterarischer Gemeinschaftsimaginationen steht die Frage nach möglichen textexternen Funktionen von ›Widerstandsliteratur‹ im Raum. Literaturwissenschaftliche Funktionsgeschichtsschreibung kann mit Roy Sommer als Versuch verstanden werden, mit »der Wirkungsabsicht, dem Wirkungspotenzial und den verschiedenen Formen historischer Wirkung und Rezeption« zentrale Aspekte der Funktionen von Literatur zu beschreiben und »im Nachhinein einen Zusammenhang zwischen diesen Aspekten«734 herzustellen, also Funktionshypothesen zu formulieren. Aus der Perspektive dieser Konzeption eines Zusammenhangs von Literatur und ihren gesellschaftlichen Kontexten lassen sich die Analysen dieser Arbeit als Rekonstruktionen eines spezifischen Wirkungspotenzials ›widerstandsliterarischer‹ Texte beschreiben, wenn Sommer »Wirkungspotenzial« definiert als 734 Beide Zitate Sommer 2000: 333. Zur Entwicklung und verschiedenen Richtungen funktionsgeschichtlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft vgl. auch Stratmann 2001: 200f.; sowie den Sammelband »Funktionen von Literatur« von Marion Gymnich und Ansgar Nünning (2005).

Funktionsgeschichten von ›Widerstandsliteratur‹

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»eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind«735. Entsprechend sind Rehabilitierung nationaler Gemeinschaft, Destabilisierung etablierter Gemeinschaften oder Modifikation antifaschistischer Gemeinschaft als mögliche Effekte des literarischen Erzählens vom Widerstand zu verstehen. Wie in den Vorüberlegungen zu den Analysen dieser Arbeit, insbesondere in Kapitel 2.4, und auch von Sommer erörtert, geht eine solche Rekonstruktion zwangsläufig mit der Privilegierung bestimmter Perspektiven einher und lässt sich als Resultat einer (immer standortgebundenen) Textinterpretation verstehen. Um die von mir vorgeschlagenen Lesarten nicht nur als rückblickende Konstrukte einer Literaturwissenschaftlerin erscheinen zu lassen, sondern auch als naheliegende zeitgenössische Deutungen zu plausibilisieren, werden sie in dieser Arbeit wiederholt zu Ergebnissen erinnerungskultur-, ideen- oder ideologiegeschichtlicher Forschungsarbeiten in Beziehung gesetzt. So können in erster Linie zeitgenössisch dominante »Deutungsmuster, Werte und Normen«736 erfasst und mit den Sinnangeboten der literarischen Widerstandsdarstellungen konfrontiert werden. Weniger im Fokus steht dabei die Beschreibung erinnerungskultureller Komplexität, die in einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft auch mit einer Pluralität und Konflikthaftigkeit von Gemeinschaftsentwürfen einhergeht. Gerade in diesem Zusammenhang sehe ich kompensatorisches Potenzial eines funktionsgeschichtlichen Ansatzes, der neben der textbasierten Rekonstruktion des Wirkungspotenzials auch die »Wirkungsabsicht« und die »verschiedenen Formen historischer Wirkung und Rezeption« – stärker als es in dieser Arbeit möglich ist – berücksichtigt. Ausgehend von der hier vorgeschlagenen Kategorisierung textueller Sinnangebote respektive des ›widerstandsliterarischen‹ Wirkungspotenzials könnte dessen Aktualisierung und Funktionalisierung durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen untersucht werden. Dies führte vermutlich nicht zu der einen Funktionsgeschichte von ›Widerstandsliteratur‹, sondern Resultat könnte ein Mosaik von Funktionsgeschichten sein, das die Bedeutung literarischer Widerstandsdarstellungen für verschiedene gesellschaftliche Gruppen erkennbar werden ließe. Dabei wäre allerdings ein sich beschränkendes, exemplarisches Vorgehen – zum Beispiel durch die Konzentration auf Texte aus einer der drei in dieser Arbeit entworfenen Kategorien – unumgänglich, denn die methodischen Herausforderungen und der zu betreibende Rechercheaufwand eines solchen tendenziell diskursanalytischen Anspruches sind immens, wie ein erneuter Blick auf Falladas Werk »Jeder stirbt für sich allein« verdeutlicht. 735 Sommer 2000: 328. 736 Sommer 2000: 331.

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Erstens gestaltet sich bereits die Rekonstruktion der literarischen Gemeinschaftsentwürfe des umfangreichen Werkes, mithin seines Wirkungspotenzials, als schwierig: So wird die im vorangehenden Kapitel herausgestellte Etablierung einer wehrhaften Arbeiterschaft durchgehend begleitet von dem Alleinsein, das für die Protagonisten konstitutiv ist. Die Ambivalenz, die sich in dem eingangs skizzierten Wechsel des Romantitels andeutet, kennzeichnet somit mehr oder weniger auch das Werkganze. Analysen, die dessen Gemeinschaftsimaginationen und -reflexionen fokussieren, stehen daher vor der Herausforderung, Deutungsperspektiven zu eröffnen, ohne die Mehrdeutigkeit des Textes zu marginalisieren. So wirkt zum Beispiel folgende Schilderung von Otto Quangels Gang zum Schafott bezüglich seiner Implikationen für die literarische Gemeinschaftsimagination polyvalent: Plötzlich rief eine Stimme aus einer Zelle sehr laut: »Lebe wohl, Genosse!« Und ganz mechanisch antwortete Otto Quangel laut: »Lebe wohl Genosse!« Erst einen Augenblick später fiel ihm ein, wie widersinnig dieses »Lebewohl« an einen Sterbenden gewesen war. (JSA: 559f.)

Einerseits impliziert die scheinbar unbewusste Wortwahl der »mechanisch[en]« Antwort Quangels eine Identifikation mit den »Genosse[n]«, die sich als politisch verfolgte Linke begreifen. Aus dieser Perspektive wäre sie als Höhepunkt von Quangels Einsicht in die Notwendigkeit einer politischen Fundierung und Organisation des Widerstands zu deuten. Andererseits wird der politische Schlachtruf durch die Konfrontation mit der realen Vereinzelung des Sterbenden ad absurdum geführt. So stellt der Roman den Tod der Protagonisten, insbesondere den Otto Quangels, grausam detailliert dar (vgl. Jsa: 562); eine Szene, über die Heinz Rein urteilt, sie gehöre »wohl zu dem Besten, was Fallada je geschrieben hat.«737 Hier findet keine Überhöhung des Todes statt, sondern die Schilderung endet schlicht mit der Feststellung: »Sie räumten den Kadaver fort. Otto Quangel war nicht mehr« (Jsa: 562; vgl. auch Jsa: 529). Zweitens – zu Wirkungsabsicht und historischer Wirkung: »Jeder stirbt für sich allein« wurde erstmals 1947 kurz nach dem Tod seines Autors veröffentlicht. Seine Entstehung wurde mit Nachdruck von Johannes R. Becher befördert, der dem »moralisch und physisch zerstörte(n) Fallada«738 1945 in Berlin die Gestapo-Akten, auf denen die Romanhandlung beruht, zukommen ließ und die Zusammenarbeit mit dem Aufbau-Verlag anbahnte.739 Wie Michael Kuhnke zeigt, sind zentrale Unterschiede zwischen der Romanhandlung um den Widerstand der Quangels und dem überlieferten Geschehen um das Ehepaar Hampel, das als historisches Vorbild fungierte, vermutlich auf einen einge737 Rein 1950: 225. 738 Heukenkamp 1996: 307. 739 Vgl. Heukenkamp 1996: 305–310.

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schränkten Zugriff Falladas auf das Quellenmaterial zurückzuführen.740 Die Veröffentlichung des Buches setzte Becher schließlich gegen mehrere verlagsinterne ablehnende Gutachten durch.741 Es stieß aber auch nach seiner Publikation im literarischen Feld Ostberlins auf Kritik: Vor allem Heinz Rein, Autor von »Finale Berlin« und im ›Dritten Reich‹ selbst als Widerständiger verfolgt, sprach dem ›inneren Emigranten‹ Fallada Kompetenz und Recht ab, das Thema »Widerstand« angemessen darzustellen.742 Seine Kritik, die er in seinem 1950 740 Während die Kenntnis der Anklageschrift (Band 1) sowie der Aufzeichnungen zum Ermittlungsvorgang und der eigentlichen Prozessakte (Band 2 und 3) als gesichert gelten könne, sei es unwahrscheinlich, dass Fallada Einblick in den vierten Band, der die Gnadenhefte und das Vollstreckungsbuch umfasse, erhalten habe (vgl. Kuhnke 1995: 291f.; und Kunke 2001: 30ff.). Der Roman zeichnet entsprechend das Bild eines Ehepaares, das angesichts der Bedrohung durch Haft und Todesurteil besonders zusammenhält; ein Bild, das auch die Verhörprotokolle in den Akten über Otto und Elise Hampel zeigen. Die historisch nachweisbaren Gnadengesuche, die das Ehepaar Hampel nach dem Aussprechen des Todesurteils formuliert hat und die in dem vierten Band des überlieferten Aktenbestandes enthalten sind, lagen dagegen dem Autor vermutlich nicht vor; sie zeugen von Gegenteiligem: »Otto und Anna Quangel bleiben in ihrem Antifaschismus stark bis zum Schafott, Otto und Elise Hampel dagegen nicht. Das Todesurteil vom 22. 1. 1943 verändert in ihnen alles, sie schreiben Gnadengesuche, mehrseitige flehende Briefe, aber jeder tut es für sich allein, und abgrundtiefer Haß auf den anderen läßt sie ihre Bitten in ungelenker Schrift an die wirklichen Mörder richten. Das Anschwärzen reicht bis in Alltäglichkeiten, bis in erinnerte Wortwechsel« (Kuhnke 1995: 290). 741 Vgl. Kuhnke 2001: 47ff. 742 Hans Fallada hatte im nationalsozialistischen Deutschland weiter publizieren können, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Falladas Zugeständnisse an die nationalsozialistische Literaturpolitik, die neben der Hinwendung zu trivialer Alltagsliteratur (wie dem 1934 publizierten Roman »Wir hatten mal ein Kind«) und verändernden Eingriffen in bereits publizierte Texte (wie seinen Veränderungen des Romans »Kleiner Mann – was nun?«, die er für eine Nachauflage 1934 vornahm) auch in NS-freundlichen Vorworten (zum Beispiel zu seinem 1934 erschienenen Roman »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«) zum Ausdruck kommen, sind in der Forschung mehrfach dokumentiert worden (vgl. exemplarisch Theilig/Töteberg 1980: 74–81; und Zachau 1989: 197–213). Der Roman »Jeder stirbt für sich allein« wird verschiedentlich vor diesem Hintergrund reflektiert: So versteht Reinhard Zachau die Arbeit an dem Buchmanuskript »gleichsam als Katalysator, der seine [Falladas; Anm. M. S.] politische Entwicklung beschleunigte« (Zachau 1989: 186): Fallada habe sich »durch das Entwickeln dieser Gestalt [Otto Quangel; Anm. M. S.] und das Schreiben dieses Buches im Nachhinein zu einem Antifaschisten entwickelt[ ]« (Zachau 1989: 194). Auch Alfred Gessler beurteilt den Roman ähnlich: »Mit seinem letzten Roman hat Falladas Schaffen einen künstlerischen Höhepunkt erreicht. Er zögerte nicht, Partei für den Neuaufbau zu ergreifen und einen Beitrag zur Ausrottung der nazistischen Ideologie zu leisten. […] Seine Gesellschaftskritik leitete in den bewußten Kampf über, damit näherte sich Fallada dem revolutionären Standpunkt der Arbeiterklasse an und wurde ihr Bündnispartner« (Gessler 1976: 168). Konträr argumentieren Heinz Rein (vgl. Rein 1950: 218, 221, 224f.) und Theilig/Töteberg kritisch, dass »Fallada keineswegs ein repräsentatives Bild des deutschen Widerstandes gestaltet« (Theilig/Töteberg 1980: 82), und machen auf Textpassagen aufmerksam, »die den antifaschistischen Kampf als eine sich selbst genügende Angelegenheit zeigen und jeden Gedanken an eine Umgestaltung der politischen Realität aussparen« (Theilig/Töteberg 1980: 84).

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publizierten »Querschnitt« durch die neue deutsche Literatur wiederholte, kann nicht zuletzt als Protest gegen das »von Becher angestrebte ›Bündnis‹ mit Intellektuellen aller politischen Herkunft«743 gedeutet werden: Fallada habe sich mit Quangel, einem »Einzelgänger, ohne jedes politische oder weltanschauliche Feuer«, »ausgerechnet einen ›Widerständler‹ ausgesucht, der nichts, aber auch gar nichts mit der wirklichen Widerstandsbewegung zu tun hatte«744 ; eine Einschätzung, die vor dem Hintergrund des oben skizzierten Quellenstudiums wohl eher symptomatisch für Reins Blick auf die NS-Vergangenheit als ein treffendes Urteil über die Haupthandlung des Romans ist. Die Intensität der zeitgenössischen Resonanz des Romans schließlich wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt: Während Ursula Heukenkamp konstatiert, er sei abgesehen von der Reaktion Reins »fast unbeachtet«745 geblieben, betont Manfred Kuhnke den Erfolg des Buches, das eine Auflage nach der anderen erlebt habe, dreimal verfilmt sowie in viele Sprachen übersetzt worden sei und so »dazu beitragen konnte, das Bild der Deutschen, wie es 1945 in Europa, in der ganzen Welt leider verbreitet war, zu korrigieren und gerechter werden zu lassen.«746 Damit attestiert Kuhnke dem Werk eine beeindruckende Wirkung – ohne allerdings insbesondere seine zuletzt zitierte Schlussfolgerung methodisch plausibel nachzuweisen. Diese knappe Skizze der Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Romans sowie der kurze Blick auf seine zeitgenössische Rezeption und weitere mediale Adaption verdeutlichen ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die für die Konstitution von Wirkungsabsicht und historischer Wirkung in ihren unterschiedlichen Dimensionen relevant sind oder zumindest sein können.747 Sie lässt den Aufwand erahnen, der für deren angemessene Rekonstruktion aus einer diskursanalytischen Perspektive zu betreiben ist, deutet aber auch den möglichen Gewinn an. So kann beispielsweise der Blick auf die hier skizzierten Produktionsbedingungen und Kontroversen, in die der Roman und seine Rezeption eingebunden waren, die spezifische Gestaltung und den Status der Gefängnisszenen um Otto Quangel und den Dirigenten Dr. Reichhardt erhellen: Bernhard Heinrich weist zwar zu Recht darauf hin, dass 743 744 745 746 747

Heukenkamp 1996: 306. Beide Zitate Rein 1950: 218. Heukenkamp 1996: 309. Kuhnke 2001: 50. Mit Sommer können neben intertextuellen und motivgeschichtlichen Studien vor allem drei weitere Dimensionen von Rezeptionsforschung unterschieden werden: eine historische Rezeptionsforschung, die sich auf überlieferte, oft professionelle Leserreaktionen konzentriert, eine hermeneutische Rezeptionsforschung, die sich die Erschließung früherer Rezipientenhaltungen zum Ziel setzt, und ein diskursanalytischer Ansatz, den er als zentral für eine »kulturwissenschaftlich fundierte, funktionsgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung« (Sommer 2000: 332) herausstellt (vgl. Sommer 2000: 331–333).

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Falladas Helden keine mühsam geschnitzten Kunstfiguren [sind], sondern Menschen, die mit ihrem Habitus, ihrem Humor, ihrem Leiden, ihrer Verwurzelung im Milieu, ihrer ›sozialen Stimme‹ und ihrer Art der Rede dem Roman Jeder stirbt für sich allein eine unverwechselbare Prägung verleihen.748

Allerdings ist gerade die Reichhardt-Figur ein besonders prägnantes Beispiel dafür, dass auch Fallada – ähnlich wie dies in vielen anderen ›Widerstandstexten‹ vor allem der ersten gut zehn Nachkriegsjahre zu beobachten ist (vgl. Kap. 3.4.1) – seine Figuren »als soziale Typen agieren läßt, deren Befindlichkeiten und Schicksale als exemplarisch für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe angesehen werden können.«749 Reichhardt erscheint als humanistisch geprägter Bildungsbürger par excellence (vgl. Jsa: 474–478). Als eine der wenigen zentralen Figuren des Romans, deren Gedankenwelt nicht aus der Innensicht dargestellt wird und deren biographisches Schicksal im Roman abseits seiner Beziehung zu Quangel nicht weiter thematisiert wird, wirkt er dabei weniger ›lebensecht‹ als andere. Er scheint nur in seiner Funktion für die Entwicklung Quangels, dessen Öffnung gegenüber ihm fremden (bildungsbürgerlichen) Verhaltensweisen und Werten, relevant. Damit kommt ihm und der Gestaltung der entsprechenden Interaktion mit Quangel vor allem vor dem Hintergrund der frühen Ostberliner Kulturpolitik Bedeutung zu: Das Verhältnis ReichhardtQuangel symbolisiert nicht zuletzt den integrativen Ansatz des von Becher maßgeblich beeinflussten Kulturbundes und erhält in diesem Zusammenhang beinahe legitimierenden Charakter.

7.3

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Die posthume Erstveröffentlichung des Romans »Jeder stirbt für sich allein« erfolgte, ohne dass sein Autor die vom Verlag – auch als Reaktion auf die oben genannten Gutachten – vorgenommenen Änderungen noch autorisiert hätte.750 Anfang 2011 wurde der Roman erstmals ohne diese Eingriffe des Lektorats publiziert. Zusammen mit der Übersetzung des Buchs ins Englische 2009 habe diese Neuausgabe zu der »plötzliche[n] Wiederentdeckung Falladas« geführt, die Sebastian Hammelehle in einer Spiegel-online-Rezension vom März 2011 konstatiert. Dort macht er auch auf den internationalen Erfolg des Romans – in

748 Heinrich 2007: 157. 749 Heinrich 2007: 11. 750 Vgl. Kuhnke 2001: 49.

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Großbritannien seien 300.000, in den USA 200.000 Exemplare verkauft worden – aufmerksam.751 Diese späte Veröffentlichung der – wenn man so will – ursprünglichen Romanfassung macht nicht nur deutlich, dass eine Funktionsgeschichte dieses Romans denkbar viele verschiedene gesellschaftliche Kontexte berücksichtigen könnte, sondern kann zudem als symptomatisch für ein in den letzten zehn Jahren gestiegenes öffentliches Interesse an literarischen Darstellungen des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus gelten. Nachdem es seit Mitte der 1960er Jahre in Westdeutschland etwa 30 Jahre lang eher wenige deutschsprachige Publikationen zu dem Thema gab, ist seit etwa der Jahrtausendwende eine Vielzahl an ›widerstandsliterarischen‹ Neuerscheinungen zu beobachten. Mit Cornelia Blasberg (2014) lassen sich zunächst drei aktuelle Tendenzen beschreiben: Erstens orientierten sich populäre Geschichtsromane wie Wolfgang Brenners »Der Adjutant« (2004) an Spielfilm- und Videospielformaten, die einen »nie vorher dagewesene[n] Realismus der Bilder […] mit dem Bewusstsein ihrer Simuliertheit«752 verbänden. Zweitens fänden sich vermehrt Generationentexte; Blasberg nennt die Studie »Die Enkel des 20. Juli 1944« von Felicitas von Aretin (2004) und Wibke Bruhns Buch »Meines Vaters Land« (2004). Berücksichtigt man nicht nur – wie Blasberg – literarische Auseinandersetzungen mit dem Stauffenberg-Attentat, fällt hier vor allem Friedrich Christian Delius’ ebenfalls 2004 erschienener Roman »Mein Jahr als Mörder« ins Auge, aber auch weitere, öffentlich eher weniger wahrgenommene Generationenromane wie Ellen Widmaiers »Spatzenkirschen« oder Sobo Swobodniks »Fallers Held« (2005) werden so relevant. Drittens schließlich erschienen zwei kontrafaktische Widerstandserzählungen: Den Roman »Der 21. Juli« (2001) von Christian von Ditfurth und Dieter Kühns Erzählband »Ich war Hitlers Schutzengel« (2010) vereine, so Blasberg, dass sie durch das Zur-Schau-Stellen ihrer Fiktionalität verdeutlichen, dass Literatur – in Abgrenzung zum unter anderem noch in den Generationenromanen dominierenden Gedächtnisparadigma – »auf der Suche nach einem neuen Format der Geschichtserzählung ist«753. Über diese drei von Blasberg identifizierten Tendenzen hinaus hat viertens in den letzten Jahren das Schultheater den Widerstand, insbesondere den der Weißen Rose, als – didaktisch? – relevantes Thema entdeckt: Während bis 1989 – soweit mir bekannt – abgesehen von dem zunächst im amerikanischen Exil publizierten Roman »Es waren ihrer sechs« von Alfred Neumann keine fiktio751 Sebastian Hammelehle: Deutscher Weltbestseller : Noch ein Schnaps, bevor die Gestapo kommt. Spiegel Online Kultur am 11. 03. 2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ deutscher-weltbestseller-noch-ein-schnaps-bevor-die-gestapo-kommt-a-750031.html (Abruf 02. 11. 2014). 752 Blasberg 2014: 57. 753 Blasberg 2014: 65.

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nalen literarischen Darstellungen dieser Widerstandsgruppe veröffentlicht wurden, was gerade in Anbetracht ihrer Bekanntheit im bundesrepublikanischen Widerstandsdiskurs der letzten sechzig Jahre erstaunt, sind danach mit Stücken von Jutta Schubert (»Die Weiße Rose. Aus den Archiven des Terrors«), Patric Tavanti (»Die weiße Rose – Die letzte Stunde der Geschwister Scholl«) und Ursula Kohlert (»Sophie & ich«) mindestens drei Jugend- beziehungsweise Schultheaterstücke entstanden, die den Widerstand dieser Gruppe zu ihrem Thema machen. Als fünftes schließlich fällt ein verstärkt biographischer Zugang auf, der ähnlich auch in der rezeptionsgeschichtlichen Forschung zum Widerstand eine Renaissance erlebt:754 Literarische Beispiele sind Paul Barz’ eher unbekannter »Roman eines glaubwürdigen Lebens« »Ich bin Bonhoeffer« (2006) sowie vor allem Hans Magnus Enzensberger Buch »Hammerstein oder Der Eigensinn« (2008), das dokumentarisch die Geschichte Kurt von Hammersteins und seiner Kinder im Widerstand gegen die NS-Herrschaft erzählt. Aber auch die oben genannten Generationenromane zeugen von einem verstärkten biographischen Interesse. Die Frage, inwieweit diese verschiedenen jüngeren Widerstandsdarstellungen wie der Großteil der älteren Texte primär auf eine Imagination und/oder Re754 So betont beispielsweise Peter Steinbach die Notwendigkeit, den Blick auf die individuellen Situationen und Motivationen der Widerstandsträger zu werfen, »denn unbestreitbar ist, daß Regimegegner und Widerstandskämpfer immer wieder ohne Deckung handeln mußten und allein blieben […]. Kann er sich zunächst noch des Rückhaltes in wichtigen Bezugsgruppen, etwa der Kirchen, versichern, so handelt er zunehmend ohne Deckung. […] Und weil der Anspruch der Diktatur weit ausgreifend ist, wird der Rückzug auf die eigene Person, auf das ganz persönliche Gewissen, Kennzeichen eines Widerstands, der geradezu das Gegenbild der diktatorisch atomisierten Gesellschaft wird. Weil der Regimegegner sich auf seine eigene Kraft, auf sein Durchhaltevermögen verläßt, wird er zum Symbol individueller Selbstbehauptung, zum Repräsentanten menschenrechtlicher Deutung der Geschichte« (Steinbach 2001: XX. Vgl. ähnlich Faulenbach 1994: 595). Die Vorstellung, »dass es irgendeine gesellschaftliche Großgruppe gegeben hat, die in ihrer Gesamtheit gegen den Nationalsozialismus gestanden hat« (Tuchel 2005: 18), ist auch für Johannes Tuchel endgültig widerlegt. Entsprechend erscheint ihm die Biographie als eine zentrale Gattung der Widerstandsgeschichtsschreibung oder zumindest die intensive Berücksichtigung biographischer Aspekte als probates Mittel zur Erklärung von Widerstand. So überrascht es nicht, dass von den 646 Publikationen, die Historische Bibliographie online für den Zeitraum 1990–2009 unter dem Schlagwort ›Widerstand‹ auflistet (Stand 26. 06. 2010), etwa ein Viertel der Titel einen biographischen Zugriff implizieren. Diese auch von Antonia Leugers in ihrem Bericht zur jüngeren Widerstandsforschung konstatierte »biographische Wende« (Leugers 2002: 270) wird allerdings auch skeptisch beurteilt, wie zum Beispiel von Ulrich Heinemann. Er stellt »eine Rückwendung zum Mythos in einem Teil der Widerstandsliteratur« fest, in der sich die »alte Kanonisierung der Zeitzeugenberichte und die bekannte Idealisierung der Verschwörer« zeige: »Es schien so, als brauchte das nach 1989 größere Deutschland auch höhere Sockel für seine Widerstandskämpfer« (Heinemann 2005: 203; vgl. auch Leugers 2002: 270).

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flexion von Gemeinschaft zielen, kann in dieser Arbeit nicht mehr geklärt werden und verweist auf ein literaturwissenschaftliches Desiderat. Möglicherweise ist die zumindest teilweise zu beobachtende Konzentration auf biographische Perspektiven ein Hinweis darauf, dass Erzählen vom Widerstand in jüngerer Zeit stärker ein sich im Widerstand emanzipierendes Subjekt entwirft. Dies, wie auch die Beobachtung der »Renaissance einer Totalitarismusdebatte«755 nach 1989, ließe eine Ähnlichkeit aktueller ›Widerstandsliteratur‹ mit solchen Texten vermuten, die in dieser Arbeit als Destabilisierungen etablierter Gemeinschaften beschrieben werden (vgl. Kap. 4).756 Neben Untertiteln wie »Geschichte einer deutschen Familie« (Bruhns 2004) und »Eine deutsche Geschichte« (Enzensberger 2008) deutet aber nicht zuletzt der Titel des im Herbst 2012 erschienenen, über 2.000 Seiten langen Romans »Wer wir sind« von Sabine Friedrich darauf hin, dass die Konstitution eines – wie auch immer gedachten – »Wir« nach wie vor potenziell als ein zentraler Bezugspunkt des literarischen Erzählens vom Widerstand fungiert. Anzunehmen ist auch, dass vor allem für die Familien- und Generationenromane die Auseinandersetzung mit nationalen oder politisch-sozialen Gemeinschaften respektive das Mitschreiben an entsprechenden Identitätsdiskursen nach wie vor zentral sind. Romane wie »Mein Jahr als Mörder«, dessen Hauptfigur mit Recherchen über den Widerstand der Gruppe »Europäische Union« um Robert Havemann und Georg Groscurth beginnt, und »Fallers Held«, dessen Protagonist eine Dissertation über Georg Elser schreibt, erzählen nicht nur vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus, sondern auch davon, wie und in welcher Form dieser in den Jahrzehnten danach erinnert wurde – oder eben auch nicht. Damit reflektieren sie zentral den Stellenwert, den Widerstand von Deutschen gegen den Nationalsozialismus im kommunikativen familiären Erinnern sowie in den kulturellen Gedächtnissen der bundesrepublikanischen Gesellschaft einnahm und -nimmt und problematisieren in diesem Zusammenhang Konstruktionen kollektiver Identitäten.

755 Söllner 1997: 10. Vgl. ähnlich auch Schmeitzner 2007: 17. 756 Vgl. dazu exemplarisch die Überlegungen zum Delius-Roman »Mein Jahr als Mörder« bei Runge 2014.

Literaturverzeichnis

Zitierte Werke (Siglen) Bei den in dieser Arbeit zitierten oder genannten Werken der westdeutschen ›Widerstandsliteratur‹ handelt es sich entweder um die west-/bundesdeutschen beziehungsweise Westberliner Erstausgaben oder um solche Ausgaben, die mit der erstmals in Westdeutschland oder Westberlin publizierten Fassung im Wortlaut übereinstimmen. Zur Begründung der einzigen Ausnahme, Carl Zuckmayers »Des Teufels General«, das hier in einer 1966 überarbeiteten Fassung zitiert wird, vgl. Kapitel 3.5. AdO: Hans Hellmut Kirst (in Zusammenarbeit mit Erwin Piscator): Aufstand der Offiziere. Die Tragödie des 20. Juli 1944. München: Kurt Desch [o. J.] (Bühnenmanuskript). [UA: 1966] AdS: Hans Hellmut Kirst: Aufstand der Soldaten. Roman des 20. Juli 1944. BergischGladbach: Bastei 1969 (= Bastei Bestseller ; Bd. 3). [1966] ÄdW: Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (1988) (= edition suhrkamp; Bd. 1501; NF Bd. 501). [1975–1981] B: Franz Josef Degenhardt: Brandstellen. Roman. Berlin: Kulturmaschinen 2011 (= Werkausgabe in 10 Bänden; Band 2). [1975] BM: Peter Lotar: Das Bild des Menschen. Ein Drama. Bonn: Bundeszentrale für Heimatdienst 1954. [UA 1954] DB: Albrecht Goes: Das Brandopfer. 19. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1974. [1954] ddw : Elfriede Brüning: …damit du weiterlebst. Roman. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1960. [1949] DlT: Wolfgang W. Parth: Die letzten Tage. Berlin: Aufbau 1946. DS: Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Schauspiel. Mit einem Vorwort von Erwin Piscator. Hamburg: Rowohlt 1964 (= Rowohlt Paperback; Bd. 20). [UA 1963] DTG: Carl Zuckmayer: Des Teufels General. Drama in drei Akten. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1990. [UA 1946, Überarbeitung 1966] FB: Heinz Rein: Finale Berlin. Roman. Berlin: Dietz 1948. FH: Sobo Swobodnik: Fallers Held. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.

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Weitere Bände dieser Reihe Band 20: Bianca Weyers

Band 17: Birgitta Krumrey

Autobiographische Narration und das Ende der DDR

Der Autor in seinem Text

Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller 2016. 412 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0572-5

Band 19: Aija Sakova

Ausgraben und Erinnern

Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-) postmodernes Phänomen 2015. 221 Seiten, gebunden € 40,– D ISBN 978-3-8471-0464-3

Band 16: Carsten Gansel/Monika Wolting (Hg.)

Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989

Denkbilder des Erinnerns und der moralischen Zeugenschaft im Werk von Christa Wolf und Ene Mihkelson

2015. 405 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0459-9

2016. 177 Seiten, gebunden € 35,– D ISBN 978-3-8471-0557-2

Band 15: Carsten Gansel/Markus Joch/ Monika Wolting (Hg.)

Band 18: Carolin Führer (Hg.)

Zwischen Erinnerung und Fremdheit

Die andere deutsche Erinnerung Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens

Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989 2015. 460 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-0382-0

2016. 422 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-0502-2

www.v-r.de