Erlebnis, Kunstwerk und Wert: Vorträge zur Ästhetik 1937-1967 9783110961904, 9783484700505


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Erlebnis, Kunstwerk und Wert: Vorträge zur Ästhetik 1937-1967
 9783110961904, 9783484700505

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ROMAN

INGARDEN

ERLEBNIS, KUNSTWERK U N D WERT

ROMAN INGARDEN

ERLEBNIS, KUNSTWERK U N D WERT Vorträge zur Ästhetik 1937-1967

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 1969

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1969 Alle Redite vorbehalten · P r i n t e d in Germany Satz und Druck: Bücherdruck Wenzlaff K G Kempten Einband von H e i n r . Koch Tübingen

INHALT

Erlebnis I. Das ästhetische Erlebnis

3

II. Bemerkungen zum Problem des ästhetischen Werturteils . . . .

9

III. Prinzipien einer erkenntniskritisclien Betrachtung der ästhetischen Erfahrung

19

Werk IV. Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk

31

V. Über die sogenannte „abstrakte" Malerei

51

Wert VI. Zum Problem der „Relativität" der Werte

79

V I I . Was wir über die Werte nicht wissen

97

V I I I . Der ästhetische Wert und das Problem seiner Fundierung im Kunstwerk

143

I X . Künstlerische und ästhetische Werte X . Das Problem des Systems der ästhetisch valenten Qualitäten X I . Betrachtungen zum Problem der Objektivität

153 . .

181 219

Quellen

257

Nachwort

259

ERLEBNIS

I

DAS Ä S T H E T I S C H E E R L E B N I S

ι . Die Auffassung, dasselbe Reale sei Objekt sowohl der Erkenntnis als auch der praktischen Betätigung als auch endlich des ästhetischen Erlebnisses, ist unhaltbar. Das ästhetische Erlebnis führt zur Konstitution eines eigenen - des ästhetischen - Gegenstandes, der nicht zu identifizieren ist mit demjenigen Realen, dessen Wahrnehmung gegebenenfalls den ersten Impuls zur Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses gibt und das manchmal, wenn es ein zu diesem Zweck gebildetes Kunstwerk ist, eine regulative Rolle beim Verlauf des ästhetischen Erlebnisses spielt. 2. Jedes voll entwickelte ästhetische Erlebnis vollzieht sich in einer Mannigfaltigkeit von Phasen, die - im Idealfall nach einem inneren Motivationszusammenhang streng geordnet - aufeinanderfolgen und zur Konstituierung und unmittelbaren Erfassung des ästhetischen Gegenstandes führen. Es enthält in seinem Verlauf mannigfache Teilerlebnisse sowohl erfassender als auch schöpferisch bildender oder nachbildender als auch endlich emotionaler Art, die auf verschiedene Weise miteinander verflochten sind. Es bildet eine Phase sehr aktiven Lebens, in welche nur in manchen Momenten das passive Hinnehmen eingeflochten ist. 3. Das ästhetische Erlebnis fängt an, wenn auf dem Hintergrund eines wahrgenommenen oder phantasiemäßig vorgestellten realen Gegenstandes eine besondere Qualität (gewöhnlich eine Gestaltqualität) zur Erscheinung gelangt, die den Erlebenden nicht „kalt läßt", sondern ihn in einen eigentümlichen Erregungszustand versetzt. Die durch sie hervorgerufene Erregung nennen wir die „ästhetische Ursprungsemotion". Sie hat mit dem sogenannten „Gefallen" nichts zu tun. Reich an verschiedenen Momenten, zeichnet sie sich vor allem aus durch ein aus Erregung und gewisser Verwunderung entspringendes Verlangen nach anschaulichem Haben und Besitzen der erregenden Qualität, die zunächst in ihrem quale nicht erfaßt wird. So führt die Ursprungsemotion vor allem zur Hinwendung auf die erregende Qualität, womit einerseits eine neue Phase des ästhetischen Erlebnisses einsetzt, andererseits aber 3

die erregende Qualität zu einem Kristallisationszentrum des im Werden begriffenen ästhetischen Gegenstandes wird. Zugleich aber zieht sie mehrere Folgeerscheinungen nach sich, die das ästhetische Erlebnis von den früheren Phasen des Erlebens abheben und ihm einen besonderen Charakter verleihen. Und zwar: a) Es kommt zu einer Hemmung im normalen Verlauf der Erlebnisse und der auf Dinge der realen Welt gerichteten Betätigungen des Erlebenden. Damit tritt eine wesentliche Einengung des Bewußtseinsfeldes ein. Ist die Ursprungsemotion schwach, so geht die Hemmung rasch vorbei, und das ästhetische Erlebnis wird unterbrochen. Es kommt dann zum Phänomen der „Rückkehr" zu den Geschehnissen der realen Welt, das audi nach dem Ablauf eines voll entwickelten ästhetischen Erlebnisses auftritt. b) Der in jedem konkreten Jetzt auftretende Nachklang der früheren Erlebnisse und praktischen Interessen wird wesentlich abgeschwächt oder ausgelöscht. Infolgedessen bildet das ästhetische Erlebnis ein von dem natürlichen Verlauf des täglichen Lebens abgehobenes Ganzes, das erst nachträglich in den Gesamtbestand unseres Lebens bewußt eingefügt wird. c) Es tritt eine Änderung der Grundeinstellung des Erlebenden ein: von der natürlichen des praktischen Lebens zu der spezifisch ästhetischen. Durch die Ursprungsemotion wird die in der natürlichen Einstellung enthaltene ursprüngliche Überzeugung von der Existenz der realen Welt gedämpft, und zugleich richtet sich das Interesse des Erlebenden nicht mehr auf reale Dinge und Tatbestände, sondern auf das rein Qualitative als solches. Nicht die reale Tatsache, sondern das Was und Wie, das rein qualitative Gebilde ist es, auf dessen Konstituierung das ästhetische Erlebnis hindrängt und auf welches der Erlebende als auf das Objekt der ästhetischen Erfassung eingestellt ist. Infolge dieser EinstellungsVeränderung wird das Setzungsmoment des Wahrnehmungsaktes, vermöge dessen das mit der erregenden Qualität behaftete Ding gegeben ist, im H u s s e r Ischen Sinne „neutralisiert", ohne daß dadurch das ästhetische Erlebnis selbst „neutralisiert" worden wäre (vgl. Abschnitt 7, S. 7). 4. Die ästhetische Ursprungsemotion bildet auch in den weiteren Phasen die stärker oder schwächer empfundene Grundlage des ästhetischen Erlebnisses. Die unmittelbar an sie anknüpfende Phase ist ein aktives, konzentriertes Erschauen der uns zunächst bloß erregenden Qualität. Diese Qualität rückt jetzt nicht nur in den Vordergrund des Anschauungsfeldes (sie „tritt hervor"), sondern sie beginnt sich zugleich von dem 4

ursprünglichen Gegebenheitsfeld der (jetzt schon neutralisierten) Wahrnehmung abzuheben und abzusondern und fängt an, ein Ganzes zu bilden. Ist sie als Qualität autonom, d. h. bedarf sie keiner qualitativen Ergänzung mehr, so gelangt damit derKonstitutionsprozeß zum Stillstand: wir haben es mit einem relativ einfachen und primitiven ästhetischen Gegenstand zu tun. Erweist sie sich aber als ergänzungsbedürftig, so nimmt das ästhetische Erlebnis im weiteren Verlauf die Gestalt eines unruhevollen, anstrengenden Suchens nach den ergänzungsfähigen Qualitäten an. Die Erschauung der ursprünglich erregenden Qualität stillt zugleich das Drängen nach ihr und verwebt sich mit dem ästhetischen Genießen dieser Qualität. Gewöhnlich ruft dieses Genießen ein neues Begehren nach anschaulichem Haben ästhetisch erregender Qualitäten hervor, die von dem ästhetisch Erlebenden entweder an dem dargebotenen Kunstwerk gesucht oder in einem Phantasie-Schauen entworfen werden und, dem Gegebenen aufgepropft, mit demselben verschmelzen. Findet man in diesem Suchen keine mit der ursprünglichen harmonisch zusammenstimmenden Qualitäten oder aber nur Qualitäten, die mit ihr einen Mißklang bilden, so kommt es zu einer negativen ästhetischen „Wertantwort" (vgl. Abschnitt 6, S. 6). Im entgegengesetzten Fall wird der (evtl. auf der Grundlage der fortschreitenden Betrachtung des Kunstwerks) sich bildende ästhetische Gegenstand immer vollkommener ausgestaltet. 5. In diesem ästhetischen Bildungs- und Erfassungsprozeß vollzieht sich eine zweifache Formung der zur Erscheinung gebrachten Qualitäten: a) in kategoriale Strukturen; b) in die Struktur des qualitativen polyphonen Zusammenklangs. ad a) Die anschaulich erfaßten Qualitäten werden in dem Sinne kategorial geformt als zu ihnen ein durch sie bestimmtes Substrat (insbesondere der „dargestellte Gegenstand") fingiert wird („eingefühlt" wird), das dann in diesen Qualitäten zur Selbstvergegenwärtigung gelangt und den Charakter einer scheinbar eigenständigen „Wirklichkeit" annimmt. Dadurch nehmen die ästhetisch relevanten Qualitäten die kategoriale Form der Bestimmung dieser scheinhaft existierenden Gegenständlichkeiten an, andererseits bereichert sich das Ganze um neue, die fingierten Gegenständlichkeiten ergänzend konstituierende Qualitäten. Das so Gestaltete wird nachher f ü r sich erfaßt und mit verschiedenen Emotionen beantwortet, in welchen es zu einem intimen emotionalen Verkehr des Erlebenden mit den im ästhetischen Gegenstand zur Darstellung gelangenden Gegenständlichkeiten (insbesondere mit den dargestellten Personen in ihren Schicksalen) kommt. 5

ad b) Sobald dem ästhetisch Erlebenden nicht eine einfache, sondern mehrere Qualitäten dargeboten werden, treten sie nicht lose nebeneinander auf, sondern organisieren sich zu einem innerlich zusammenhängenden Ganzen. Dies besagt: i. jede von ihnen wandelt sich qualitativ unter dem Einfluß der übrigen mit ihr auftretenden Qualitäten, 2. formal drückt sich dies in der Struktur der „Zugehörigkeit" der betreffenden Qualität zu dem qualitativen Ganzen aus (die Qualität verliert den Charakter ihrer absoluten Eigenheit und Selbständigkeit), 3. die gegenseitige Wandlung der verflochtenen Qualitäten führt zur Erscheinung einer sich darauf aufbauenden und das Ganze umspannenden neuen Qualität („Gestalt"), 4. unter den fundierenden Qualitäten kann es gegebenenfalls zur Konstituierung besonderer Glieder des Ganzen kommen, die der Einheit dieses Ganzen keinen Abbruch tut. Dann ist das Ganze gegliedert, und die formale Art dieser Gliederung bildet eine eigene Struktur des ästhetischen Gegenstandes, die von dem Verlauf des ästhetischen Formungsprozesses abhängig ist; d.h. bei derselben Mannigfaltigkeit der fundierenden Qualitäten kann sich die Struktur des ästhetischen Gegenstandes je nach dem Verlauf des ästhetischen Formungsprozesses anders gestalten. Diese „Strukturierung" bildet eine Eigenheit des ästhetischen Erlebnisses. Ihr ist die kategoriale Formung des „dargestelltenGegenstandes" untergeordnet. Die Konstituierung des strukturierten, selbstgenügsamen, qualitativen Ganzen bildet das letzte Ziel der schöpferischen Phasen des ästhetischen Erlebnisses. 6. In den bisher besprochenen Phasen des ästhetischen Erlebnisses treten also dreierlei Elemente auf: 1. die emotionalen (die ästhetische Erregung, das Genießen), z. die aktiv-schöpferischen (das Bilden des ästhetischen Gegenstandes als eines qualitativen, strukturierten Ganzen), 3. die passiven, hinnehmenden (anschauliche Erfassung der schon konstituierten qualitativen Gebilde). Infolgedessen zeichnet diese Phasen eine charakteristische Dynamik und Unruhe des Suchens und Findens aus. Im Unterschied dazu tritt in der letzten Phase des ästhetischen Erlebnisses eine Beruhigung ein. In ihr vollzieht sich das kontemplative, emotional durchsetzte intentionale Fühlen des konstituierten ästhetischen Gegenstandes. Dieses intentionale Fühlen bildet die eigentliche, ursprüngliche Erfahrung des ästhetisch Werthaften als solchem, obwohl es in ihr noch nicht zur Objektivierung des ästhetischen Gegenstandes gelangt, welche der auf dem ästhetischen Erlebnis aufgebauten ästhetischen Erkenntnis vorbehalten bleibt. Das ästhetische intentionale Fühlen bildet zugleich die ursprüngliche ästhetische Wertantwort ( D . v . H i l d e n b r a n d ) auf den werthaften ästhetischen Gegenstand, bzw. auf dessen 6

Wert. Ist sie positiv, so hat sie die Gestalt einer emotionalen Anerkennung, die wir dem ästhetischen Gegenstand zollen; ist sie negativ, so besteht sie in einer emotionalen Abweisung des mißratenen, negativwertigen Gegenstandes. Von der ästhetischen Erfahrung des werthaften Gegenstandes ist die Beurteilung seines Wertes zu unterscheiden, die auf Grund dieser Erfahrung in rein erkenntnismäßiger Einstellung vollzogen wird. Von beiden ist die Beurteilung des künstlerischen Wertes des Kunstwerks zu unterscheiden. In manchen Fällen führt das ästhetische Erlebnis zu keiner Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes. Dann fällt die Erfahrung des ästhetisch Werthaften sowie die Wertantwort einfach fort. 7. In dieser letzten Phase des ästhetischen Erlebnisses ist ein besonderes Moment enthalten, vermöge dessen es nicht zu den sog. „neutralen" Erlebnissen gerechnet werden darf. Und zwar tritt da ein den bereits konstituierten ästhetischen Gegenstand betreifendes Setzungsmoment auf: der ästhetische Gegenstand wird als ein in besonderer Weise Existierendes bejaht. Außerdem treten im ästhetischen Erlebnis noch andere „thetische" Momente auf, die sich auf die eventuell im Rahmen des ästhetischen Gegenstandes zur Darstellung gelangenden Gegenständlichkeiten beziehen und sie in der dargestellten quasi-realen Welt setzen. Aber, ebenso wie nicht jeder ästhetische Gegenstand in sich dargestellte Gegenständlichkeiten bergen muß, so sind diese letzteren Setzungsmomente für das ästhetische Erlebnis nicht notwendig, wogegen das den ganzen ästhetischen Gegenstand betreffende Bejahungsmoment für dieses Erlebnis wesentlich ist.

7

II B E M E R K U N G E N ZUM PROBLEM DES Ä S T H E T I S C H E N W E R T U R T E I L S

ι . Ich will hier zwei Fragen erwägen: a) worin besteht das Wesen des ästhetischen Werturteils und b) inwiefern ist der ästhetische subjektive Relativismus berechtigt. Zunächst scheint kein Zusammenhang zwischen diesen beiden Fragen zu bestehen. Indessen, es läßt sich zeigen, daß dieser Relativismus mit einer schiefen oder mindestens einseitigen Auffassung des ästhetischen Werturteils in eins zu gehen pflegt. 2. Wir fällen unzweifelhaft Urteile, in denen gewissen Gegenständen, insbesondere Kunstwerken, Wertprädikate der Art wie „ist schön", „ist häßlich" usw. beigelegt werden. Sind sie wirklich echte Urteile, so unterscheiden sie sich von anderen, rein theoretischen Urteilen nur durch ihren Inhalt und bilden insofern keine besondere A r t der Urteile. Trotzdem sind sie vielleicht unentbehrlich, und zwar sowohl dazu, daß wir vor uns selbst darüber Rechenschaft ablegen, womit wir im ästhetischen Erleben eigentlich verkehren, als auch dazu, daß wir uns mit anderen über das Ergebnis unserer Bewertung des betreffenden Gegenstandes verständigen. Falsch wäre es aber, in einem solchen Urteilen - also in einem A k t eminent intellektueller Art - die echte „Beurteilung" oder besser „Bewertung" eines ästhetischen Gegenstandes zu sehen. Denn dieses Bewerten vollzieht sich nicht im Urteilen, sondern kulminiert nur in ihm, wird in ihm nur begrifflich geprägt und zusammengefaßt. Das Bewerten selbst aber vollzieht sich in einer der Endphasen des ästhetischen Erlebnisses, die sehr mannigfache Momente in sich enthält und gerade dadurch über das bloße Urteilen weit hinausgeht. Sie selbst aber steht in unmittelbarer Beziehung zu den vorangehenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses, in denen sich die eigentliche ästhetische Erfahrung und die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes vollzieht. Die Bewertung ist sozusagen die Konklusion und die eigentliche Reaktion des Erfahrenden auf dasjenige, was sich im ästhetischen Erlebnis gestaltet und uns enthüllt hat. Sie kann von diesem Grunde nicht abgelöst werden, soll sie sich überhaupt im ursprünglichen Ernst vollziehen. 9

Die nähere Bestimmung der ästhetischen Bewertung wird uns nodi später beschäftigen. Momentan muß aber betont werden, daß das Werturteil, im Unterschied zu der ästhetischen Bewertung, von dem ästhetischen Erlebnis und insbesondere von der ästhetischen Erfahrung und deren Ergebnissen abgelöst und als rein intellektueller A k t auch in völlig blinder Weise gefällt werden kann. Dies wird insbesondere von jenen „Kritikern" oft getan, die eine lange Reihe von verschiedenen „ K r i terien" haben, mit deren Hilfe sie sich über den ihnen tatsächlich nicht zugänglichen Wert des Werkes orientieren und dann das klassifizierende Urteil in völliger Kälte fällen, ohne das eigentümliche Antlitz des Werkes auch nur geahnt zu haben. Wer das ästhetische Erfahren und das Sich-Enthüllen konkreter ästhetischer Werte nicht kennt oder mindestens nicht beachtet, wer nicht versteht, was die eigentliche Leistung des ästhetischen Erlebnisses bildet, und sein Augenmerk lediglich auf bloße Urteile über ästhetisch wertvolle Gegenstände richtet, der ist f ü r die Argumente des ästhetischen subjektiven Relativismus viel empfänglicher und fühlt sich ihm gegenüber wehrlos. Denn die von der ästhetischen Erfahrung abgelösten Werturteile entbehren dann der ihnen entsprechenden Begründung. Der Relativierungsgedanke spricht ihnen dann nicht so sehr den Wahrheitswert ab, als daß er den Grund aufzuzeigen sucht, warum sie, obwohl unbegründet und eigentlich falsch, doch irrtümlicherweise für wahr gehalten werden. 3. De gustibus non est disputandum — das ist die Konklusion des ästhetischen Skeptizismus, der sich aus dem ästhetischen Relativismus ergibt. Denn der letztere liefert Argumente dafür, warum über das Recht des Gefallens nicht gestritten werden soll. Es sind im wesentlichen zwei Argumente: a) Dasselbe Werk - dieselbe Kathedrale - erscheint uns einmal als schön und wird so beurteilt, während es ein anderes Mal als nicht schön beurteilt wird. Es spielt dabei keine wesentliche Rolle, ob es demselben oder verschiedenen Subjekten so zu sein scheint, b) So etwas wie eine Kathedrale oder etwa ein Bild k a n n nicht schön oder häßlich sein. Denn es sind ja physische Gegenstände (Dinge) und es gibt unter den physischen Eigenschaften nichts Derartiges wie „Schönheit" oder „Häßlichkeit". 1 Diese Dinge scheinen uns zwar manchmal schön oder häßlich zu sein, dabei kann es sich aber um nichts anderes als um b l o ß e n S c h e i n handeln. Daß es aber zu einem solchen Schein über1

Diese Argumentation trifft natürlich auf das literarische Kunstwerk nicht zu. M a n hält es aber gewöhnlich (irrtümlicherweise) für etwas Psychisches und behauptet dann, es gäbe unter den psychischen Eigenschaften nichts Derartiges wie die „Schönheit".

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haupt kommt, hat ausschließlich in den Eigentümlichkeiten der Erlebnisse und in den Fähigkeiten des Zuschauers seinen Grund. Und da sich der Zuschauer von Fall zu Fall ändert, so fällt auch das ästhetische Urteil jeweils anders aus. 4. Diese Argumentation ist aber nicht stichhaltig und stützt sich auf unhaltbare Voraussetzungen. Und zwar: a d a ) Daraus, daß ein bestimmtes Werk einmal als schön, das andere Mal als nicht schön beurteilt wird oder als solches erscheint, folgt noch nicht, daß es eben n i c h t schön sei. Es folgt nicht, daß wir gerade im ersten und nicht im zweiten Fall im Irrtum sind. Denn es kann gerade das Entgegengesetzte der Fall sein. Es wird bei dieser Argumentation vorausgesetzt, daß es in beiden Fällen g e n a u d a s s e l b e s e i , was nur entgegengesetzt beurteilt wird. Dies ist aber nicht selbstverständlich und müßte in jedem besonderen Fall erst nachgewiesen werden. Es könnte sich ja inzwischen geändert haben oder wenigstens dem Zuschauer in einer anderen Auswahl der Eigenschaften gegeben worden sein, die für das Schönsein des Werkes in verschiedenem Maße relevant sein könnten. Denn so etwas wie die Schönheit scheint eine von anderen Eigenschaften des Gegenstandes abgeleitete Bestimmtheit des Gegenstandes zu sein. Jede Erfassung eines Kunstwerks - sei es ein Werk der Plastik, der Musik oder der Literatur ist immer partiell. Sie zeigt es bloß in einer A u s w a h l seiner Eigenschaften. Dann muß die Verschiedenheit der Beurteilung nicht aus der Verschiedenheit des subjektiven Verhaltens des Betrachters entstehen. Später werden noch andere Gründe der möglichen Verschiedenheit des beurteilten ästhetischen Objekts gegeben werden. ad b) Wären die Kunstwerke wirklich so etwas wie physische Dinge, dann wäre es nur natürlich, daß ihnen von Rechts wegen kein ästhetisches Prädikat beigelegt werden dürfte. Und zwar schon aus rein ontischen Gründen, da jedes Physische nur „physische" Eigenschaften besitzen kann, dann aber auch aus erkenntnistheoretischen Gründen, da für ein physisches Ding nur das gehalten wird, was in völlig w e r t n e u t r a l e n sinnlichen Erfahrungen gegeben wird. Denn es gilt als erkenntnistheoretisches Prinzip, daß nur eine solche wertneutrale, sinnliche Wahrnehmung die rechtmäßige Erfahrungsgrundlage für die Annahme physischer Dinge bildet. Dies wird dann unmerklich auf alle äußeren Gegenständlichkeiten erweitert, was schon nicht so einwandfrei zu sein scheint. In unserem Fall muß sowohl bezweifelt werden, daß Kunstwerke physische oder psychische Dinge sind, als auch, daß sie in wertneutralen sinnlichen Erfahrungsakten gegeben werden können, obwohl es unzweifelhaft ist, daß sie f ü r das erlebende Subjekt eigentümliche XI

äußere Gegenständlichkeiten sind. Und in noch höherem Maße muß dies bezweifelt werden, wenn es sich um ästhetische Gegenstände und ihre Erfassungsweise handelt. In mehreren ausführlichen Untersuchungen, von dem Buch „Das literarische Kunstwerk" 2 (1931) an angefangen, habe ich zu zeigen gesucht, daß Kunstwerke (Bilder, Skulpturen, architektonische Werke, Musikwerke, Dichtungen) eigentümliche intentionale Gebilde sind, die zwar u. a. ein physisches Seinsfundament fordern und es in manchen physischen, diesem Zweck entsprechend angepaßten Dingen finden, aber in ihren wesentlichen Eigenschaften weit über dessen Bestimmtheiten hinausgehen. Sie sind außerdem, wie ich gezeigt zu haben glaube,3 s c h e m a t i s c h e Gebilde, die unter verschiedenen Hinsichten Unbestimmtheitsstellen und auch manche bloß p o t e n t i e l l e n Momente enthalten. Diese Gebilde bilden nur einen Ausgangspunkt des Vollzugs des ästhetischen Erfassungserlebnisses, in welchem sie konkretisiert und aktualisiert werden. Manche ihrer Unbestimmtheitsstellen werden dabei ausgefüllt und beseitigt, und manche ihrer potentiellen Momente unterliegen der Aktualisierung. In diesem oft sehr komplizierten Vorgang kommt es zur Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes, der ebenfalls ein intentionales Gebilde, wenn auch cum fundamento in re, ist und erst das Objekt der ästhetischen Bewertung bildet. Da er weder physisch noch psychisch ist, so steht dem nichts im Wege, daß er außerphysische, bzw. außerpsychische Momente an sich tragen und somit unter anderem „schön" oder „häßlich" sein kann. Zugleich eröffnet sich die Möglichkeit, daß ein und dasselbe Kunstwerk in einzelnen Fällen auf verschiedene Weise konkretisiert wird, indem jeweils eine andere Auswahl seiner Unbestimmtheitsstellen beseitigt und andere potentielle Momente aktualisiert werden. Dies führt in der Folge, in den einzelnen Fällen der Betrachtung eines und desselben Kunstwerks, zur Konstituierung verschiedener ästhetischer Gegenstände, die andere Wertqualitäten4 an sich tragen und somit audi b e r e c h t i g t e r w e i s e anders bewertet werden können. Es ist sogar damit zu rechnen, daß dies 2

R . I n g a r d e n , „ D a s literarische K u n s t w e r k " . 1 . A u f l . H a l l e 1 9 3 1 ; 3. A u f l . T ü b i n gen 1 9 6 5 .

3

Die entsprechenden Ausführungen sind sowohl in dem Buch „ D a s literarische K u n s t w e r k " als auch in einem in polnischer Sprache erschienenen zweibändigen W e r k „Studien zur Ä s t h e t i k " enthalten: „Studia ζ estetyki". W a r s z a w a 1 9 5 7 / 5 8 ; 2. A u f l a g e 1966.

4

Über ästhetische Wertqualitäten und die ästhetisch wertvollen Qualitäten sowie über deren Seinszusammenhang im ästhetischen Gegenstand vgl. R . I n g a r d e n , „ D e r ästhetische W e r t und das Problem seiner Fundierungen im K u n s t w e r k " , S. 1 4 3 - 1 5 1 dieses Bandes.

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der Normalfall sein wird. Es zeigt sich somit aufs neue, daß aus der Verschiedenheit der Bewertung und in der Folge der ästhetischen Werturteile über ein und dasselbe Kunstwerk sich nicht notwendig die Falschheit eines dieser Werturteile ergeben muß. Im Prinzip können sie ebenfalls beide sowohl wahr als falsch sein. Und es ist durch unsere Feststellung für das Wahrsein des ästhetischen Wert-Urteils noch nichts Entscheidendes gewonnen worden. Es wurde aber die Möglichkeit eröffnet, daß trotz der Verschiedenheit der Bewertungen doch ein innerer Z u s a m m e n h a n g zwischen dem W e r t des ästhetischen Gegenstandes und dem S i n n der Bewertung besteht, der die Geltung der Bewertung begründen kann, während es früher schien, als ob es keinen solchen Zusammenhang gäbe, so daß es bei jedem ästhetischen Gegenstand zu einer ganz b e l i e b i g e n Bewertung kommen könnte. Sofern man ein bloßes Werturteil mit dem entsprechenden physischen Gegenstand vergleicht, der das physische Seinsfundament für das betreffende Kunstwerk abgibt, kann natürlich nichts mehr als eine bloß intentionale, signitive Zuordnung des Sinnes des Urteils zu einem Etwas festgestellt werden, in welchem das Urteil keine befriedigende Erfüllung finden kann. Denn es läßt sich zwischen ihnen kein näherer Zusammenhang finden, der das Urteil begründete. Um einen solchen Zusammenhang zu finden, muß zu der entsprechenden ästhetischen Erfahrung und insbesondere zu derjenigen Phase des ästhetischen Erlebnisses gegriffen werden, in der es einerseits zur Enthüllung des ästhetischen wertvollen Gegenstandes kommt, und in der andererseits sich die direkte Bewertung dieses Gegenstandes vollzieht und aus den Gegebenheiten, die da unmittelbar erfaßt werden, ihre konkrete Begründung schöpft. 5. Ich habe bereits 1937 auf dem II. Kongreß für Ästhetik in Paris die Ergebnisse einer Analyse des ästhetischen Erlebnisses gegeben5 und kann sie hier nicht wiederholen. Ich muß mich auf den Hinweis beschränken, daß das ästhetische Erlebnis sich in vielen verschiedenen Phasen abspielt, die mannigfache Elemente in sich enthalten, und zwar sowohl perzeptiver als kreativer Natur, die nicht bloß zum Verstehen des Gegenstandes, sondern auch - und zwar notwendig - zur Entfaltung verschiedener Begehren, ihrer Erfüllung und wesentlich eingewobener emotionaler Akte verschiedener Art führen. In seinem Verlauf konstituiert sich - je nach dem Fall und dem Gelingen des Erlebnisses - ein mit ästhetisch wertvollen Qualitäten ausgestatteter ästhetischer Gegen5

D i e ausführliche A n a l y s e wurde in meinem Buch im gleichen J a h r gegeben. E s bildet jetzt einen Teil meiner „Studia ζ estetyki", Bd. I. D t . Ausgabe: R . I n g a r d e n , „ V o m Erkennen des literarischen K u n s t w e r k s " . Tübingen 1 9 6 8 .

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stand. Sobald seine Konstituierung vollendet ist, tritt die Kulminationsphase des ästhetischen Erlebnisses ein. In ihr vollzieht sich nicht bloß ein Erfühlen dieser Qualitäten, sondern audi eine eigentümliche e m o t i o n a l e Reaktion des Erlebenden auf die zur anschaulichen Selbstgegebenheit gebrachten ästhetisch wertvollen Qualitäten und auf die in ihnen gründenden ästhetischen Wertqualitäten, eine - wie die Phänomenologen sagen - W e r t a n t w o r t , in welcher dem gegebenen wertvollen Gegenstand Anerkennung und Bewunderung gezollt wird. In dieser Wertantwort vollzieht sich eben das, was ästhetische Bewertung genannt zu werden verdient. Ihr bloß äußerer Ausdruck und eine intellektuelle Prägung dessen, worauf sie eben antwortet, ist das intellektuelle ästhetische Werturteil. 6. Man will gewöhnlich - und das tut auch der ästhetische Relativismus - die Beziehung zwischen dem beurteilten Gegenstand und der ästhetischen Beurteilung (der unmittelbaren Bewertung und dem Werturteil) im Sinn einer k a u s a l e n Beziehung deuten. Findet man dann in einem bestimmten Fall, daß die Beurteilung durch den Gegenstand kausal bedingt ist, so glaubt man, darin ein Argument für die sog. „Objektivität" der Beurteilung sehen zu dürfen. Ist aber die Beurteilung vom Gegenstand kausal unabhängig, und folgt sie lediglieli den Gesetzmäßigkeiten des Lebens des beurteilenden Subjekts, so sieht man darin das hinreichende Argument für die sog. „Subjektivität", also eigentlich gesagt, für die Falschheit der Beurteilung. Indessen ist dieser ganze Problemansatz unpassend. Geltungsprobleme lassen sich nicht durch kausale Analyse lösen. Sie fordern eine Sinnanalyse und eine Erforschung der sinnhaften Motivationszusammenhänge. Das ist auch bei der Betrachtung der Geltung der Bewertung eines ästhetischen Gegenstandes der Fall. Es muß da nach wesentlichen Sinnzusammenhängen zwischen dem Sinn der Bewertung (der Wertantwort) und dem Bewerteten, insbesondere aber den an ihm zur Erscheinung gelangenden ästhetischen Wertqualitäten gesucht werden. Eine ausführliche Analyse der sich hier eröffnenden Probleme kann hier nicht gegeben werden. Aber ein Hinweis ist doch notwendig. Jede ästhetische Bewertung enthält in sich verschiedene Komponenten: a) die E r f a s s u n g s m o m e n t e des Schauens und des Verstehens des gegebenen Gegenstandes in seiner Struktur und in seinen Wertqualitäten; diese Momente bilden die zugrunde liegenden Momente der Bewertung, b) die e m o t i o n a l e n Momente des unmittelbaren Verkehrs mit den erschauten Wertqualitäten und c) den sich aus a) und b) ergebenden S i n n der eigentlichen Wertantwort, mit dem der Gegen14

stand auf diese oder jene Weise „bewertet" wird. Im einzelnen Fall sind alle diese Momente sehr verschieden, wenn auch einander angepaßt, und zwar je nach dem Verlauf der vorangehenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses und je nach der Ausstattung des sich im Erlebnis konstituierenden ästhetischen Gegenstandes. Es muß insbesondere auffallen, daß der Sinn der Wertantwort sehr verschieden sein kann. Es tritt da nicht immer einfach Bewunderung und Anerkennung oder Mißachtung und Verwerfung auf, sondern schon die Bewunderung kann sich in sehr verschiedener Gestalt vollziehen. Sie kann zum Beispiel zu Verzückung und Ekstase führen oder sich in ein ruhiges Betrachten und Ausschöpfen der Wertqualitäten verwandeln. Sie kann stürmisch und voll Enthusiasmus sein oder relativ ruhig verlaufen und viel kühler sein. Sie kann mit Staunen über die Größe und Tiefe des Werkes verbunden sein und in eine eigentümliche Demut auslaufen. Aber es kann sich audi nur um ein freudiges Gefallen handeln oder nur um eine bloße Befriedigung und Zufriedenheit mit der Anwesenheit gewisser Qualitäten, die man schauend auskostet. Und analog ist es mit entsprechenden negativen Verhaltensweisen den am Gegenstand haftenden Wertqualitäten gegenüber. Uberall läßt sich dabei eine sinnhafte Zuordnung zwischen der Weise, in welcher dem wertvollen Gegenstand Anerkennung gezollt wird, und der Wertqualität finden, die an ihm zur Gegebenheit gelangt. Auf das im echten Sinn Schöne und in seiner Tiefe Außerordentliche reagieren wir mit Bewunderung und Staunen; auf das Hübsche mit Gefallen, auf das Häßliche mit Abscheu und Ekel, auf das Langweilige mit Widerwillen usw. Uberall gibt es ein sinnvolles Sich-Verhalten demgegenüber, was geschaut und empfunden wird. Und erst auf Grund dieser unmittelbaren Wertantwort wird ein Urteil vollzogen, in dem - dem Sinn der Wertantwort entsprechend - dem Gegenstand diese oder jene Wertqualität zugesprochen wird. Der Sinnzusammenhang zwischen der Wertantwort und der Wertqualität ist so innig und evident, daß es s i n n w i d r i g und v e r k e h r t wäre, im gegebenen Fall - d.h. beim phänomenalen Auftreten einer bestimmten Wertqualität - mit einer nicht dazu gehörigen Wertantwort und Beurteilung zu reagieren. Es könnte sogar bezweifelt werden, ob eine solche sinnwidrige Wertantwort bei wirklicher, echter Gegebenheit einer bestimmten ästhetischen Wertqualität überhaupt zustande kommen kann. Indessen - um hier nicht auf pathologische Fälle einzugehen - ist, trotz Vorhandenseins der angedeuteten Sinnzusammenhänge, nicht jede Gegebenheit der Wertqualitäten im gleichen Sinn originär und adäquat und nicht jede vollzieht sich ohne störende Umstände objektiv weltlicher oder subjektiver 15

Natur. Es muß also im Einzelfall das Problem der Geltung der tatsächlich vollzogenen Wertantwort aufgeworfen werden und es müssen sich Wege finden lassen, die Wertantwort mit den Wertqualitäten zu konfrontieren und ihre Begründung in ihnen zu prüfen, sie also zu bekräftigen oder zu entkräften. 7. Es eröffnen sich aber bei der angedeuteten Sachlage noch andere Geltungsprobleme. So ist es vor allem die Frage, ob sich die Konstituierung eines bestimmten Gegenstandes auf Grund eines bestimmten Kunstwerks auf eine beliebige, vom Kunstwerk unabhängige Weise vollzieht oder ob sie sozusagen unter der Richtschnur der Qualifikation des Kunstwerks durchgeführt wird und werden kann. Dies letztere könnte nur unter der Bedingung geschehen, daß das ästhetische Erlebnis sich unter der ständigen, möglichst adäquaten Erfassung des Kunstwerks vollzieht, obwohl es beständig über das am Kunstwerk Erfaßte hinausgeht und hinausgehen muß, da sich in ihm die bereits erwähnte Konkretisierung des Werkes vollzieht. Und sowohl bei dem Erfassen als bei dem Hinausgehen über das Erfaßte eröffnen sich Probleme der „Richtigkeit" der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes. Wir können diese Probleme hier weder im einzelnen formulieren noch sie zu lösen suchen. N u r für den Fall, daß es sich um das Hinausgehen über das Kunstwerk selbst handelt, möchten wir ein Hauptproblem andeuten. Jedes Kunstwerk, als ein schematisches Gebilde, schreibt bestimmte Möglichkeiten der Ausfüllung und Beseitigung seiner Unbestimmtheitsstellen sowie der Aktualisierung seiner bloß potentiellen Momente vor. Es fragt sich nun, ob sich die Konkretisierung eines vergebenen Kunstwerks so vollzogen hat, daß der konstituierte ästhetische Gegenstand in seinen die Unbestimmtheitsstellen ausfüllenden Momenten und in den aktualisierten Zügen des Ganzen innerhalb der vom Kunstwerk selbst offengelassenen Möglichkeiten bleibt oder nicht. N a türlich liegt hier das Hauptgewicht darauf, ob infolge dieser Konkretisierung die entsprechenden ästhetisch wertvollen Qualitäten sowie die sich auf ihnen aufbauenden ästhetischen Wertqualitäten zur anschaulichen Selbstgegenwart gelangen und in welcher Auswahl dies gegebenenfalls geschieht. Denn davon hängt es ab, ob der letztlich konstituierte Gegenstand dem zum Ausgangspunkt genommenen Kunstwerk in seinen, durch es vorgeschriebenen Wertqualitäten gerecht wird oder ob dabei irgendwelche Abweichungen und Verfälschungen vorgenommen worden sind. Dies hängt von beiden ab: von dem Kunstwerk und von dem es erfassenden Betrachter. Das Wesentliche ist dabei, daß der Betrachter entsprechende Fähigkeiten besitzt, die entsprechenden, zu den

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vom Kunstwerk herrührenden Qualitäten komplementären ästhetisch wertvollen Qualitäten zu erraten und zu erschauen und sie zu aktualisieren, und zwar unter einer solchen Auswahl und Anordnung, daß sich daraus die positiven, sinnvoll zueinander gehörenden ästhetischen Wertqualitäten des Ganzen ergeben. Es ist gewiß damit zu rechnen, daß es damit bei verschiedenen Subjekten verschieden bestellt und daß somit das von ihnen erreichte Ergebnis hinsichtlich vieler und insbesondere wertvoller Qualitäten verschieden sein wird. Aber daraus ergibt sich in keinem Fall, daß der Satz de gustibus non est disputandum richtig ist, sondern nur, daß nicht jeder Betrachter den gustus hat, um einen entsprechend wertvollen ästhetischen Gegenstand zu konstituieren und um auf das Konstituierte mit entsprechender Bewertung zu reagieren. Die Möglichkeit einer Fehlleistung schließt aber die Möglichkeit einer gelungenen Erfassung und Bewertung des ästhetischen Gegenstandes nicht aus. Im Gegenteil, erst dort, wo b e i d e Möglichkeiten offen stehen, liegt die wesensgesetzliche Zuordnung zwischen der ästhetischen Bewertung und dem Bewerteten vor; ganz im gleichen Sinn wie bei der Erkenntnis. Niemand zweifelt zum Beispiel, daß man in mathematischen Betrachtungen Fehler machen kann und tatsächlich macht. Aber niemand zieht daraus die Folgerung, die mathematische Erkenntnis sei überhaupt unmöglich und keinerlei Kontrolle zugänglich. So können uns auch die etwaigen Fehlleistungen auf dem Gebiet des Ästhetischen nicht zu skeptischen Folgerungen verleiten. 8. Das letzte Geltungsproblem eröffnet sich endlich bezüglich des ästhetischen Werturteils im strengen Sinn eines Urteils. Es entsteht nämlich die Frage, ob bei dem Übergang von der unmittelbaren Bewertung zur sprachlich-begrifflichen Fassung des bewerteten Gegenstandes keine Fehlleistung geschieht. Die Hauptschwierigkeit, mit der wir alle zu kämpfen haben, liegt darin, ob es uns gelingt, in den Gebilden der vorhandenen Sprache Begriffe zu finden, welche das unmittelbar Gegebene, rein Qualitative und oft Irrationale adäquat wiedergeben. Und es handelt sich nicht bloß darum, daß die f a k t i s c h vorliegenden Sprachen in dieser Hinsicht sehr unvollkommen sind. Es kommt hier auf das eventuelle durchaus prinzipielle Versagen der Sprache an, die ursprünglichen Gegebenheiten der ästhetischen Erfahrung wiederzugeben. Denn die ästhetischen Wertqualitäten sowie auch die sie unterbauenden ästhetisch wertvollen Qualitäten sind nicht bloß ihrer Natur nach qualitativer Art, sondern zugleich sind sie oft synthetische Gebilde (Gestalten hoher Stufe), die in ihrer letztlich resultierenden Bestimmtheit ganz eigenartig und auch einzigartig sind. Und gerade bei allen wirklich großen Kunst17

werken kommt es zu solchen synthetischen ganzheitlichen Bildungen, die die qualitative Individualität des ästhetischen Gegenstandes statuieren, auf welche sich lediglich hinweisen läßt, die aber in ihrer schlechthinnigen Individualität begrifflich zu beherrschen unmöglich ist. Infolgedessen kann das Werturteil manchmal nicht in der Lage sein, das Eigentümliche des Werkes, b z w . des zugehörigen Gegenstandes zu kennzeichnen, und z w a r gerade dasjenige Moment, das den Gesamtwert des Gegenstandes statuiert. Die Rückkehr zur unmittelbaren Erfassung und Bewertung ist hier unentbehrlich, um überhaupt audi nur den angenäherten Sinn des gefällten Werturteils zu verstehen. Dies heißt aber wiederum, daß das ästhetische Werturteil nur ein abgeleitetes und sekundäres Gebilde ist und eine sekundäre Rolle im Prozeß der Werterfassung des ästhetischen Gegenstandes spielt.

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III

PRINZIPIEN

EINER

ERKENNTNISKRITISCHEN DER ÄSTHETISCHEN

BETRACHTUNG ERFAHRUNG

A . Auf dem II. Kongreß für Ästhetik (1937) 1 gab ich eine Beschreibung des ästhetischen Erlebnisses. Sie stellt unter anderem fest: Bei seiner vollen Entfaltung vollzieht sich dieses Erlebnis in mehreren Phasen und enthält heterogene Momente, die in seinem Ganzen ihre besonderen Funktionen ausüben. Es fängt mit einer spezifischen Ursprungsemotion, die durch eine ästhetisch aktive Qualität am Kunstwerk 2 im betrachtenden Subjekt ausgelöst wird, an und führt zur Konstitution eines ästhetischen Gegenstandes, der dann zur anschaulichen und wertfühlenden Erfassung gebracht wird. Diese Erfassung kulminiert in einer emotionalen Wertantwort und einer Einsicht in die Existenz des betreffenden ästhetischen Wertes, was in ein sprachlich geformtes Werturteil gefaßt werden kann. Es sind verschiedenartige Abwandlungen des ästhetischen Erlebnisses möglich. Und zwar kann unter anderem der ästhetisch Erlebende auf die Erlangung der ästhetischen Befriedigung eingestellt sein, ohne sich darum zu kümmern, ob er dadurch dem Kunstwerk gerecht wird. Er kann aber danach trachten, vor allem dem Kunstwerk und seinem Wert gerecht zu werden, ohne darauf zu verzichten, in der Werterschauung seinen ästhetischen Genuß zu erreichen. Endlich kann das ästhetische Erlebnis ganz frei verlaufen, dem Zufall überlassen. In allen diesen Fällen kann es zwar zu einer ästhetischen Erfahrung kommen, aber nur im zweiten Fall ist der Erlebende auf die Erlangung einer besonderen Erkenntnisart eingestellt und unternimmt besondere Schritte, um dieses Ziel zu erreichen. Die Sachlage in den beiden übrigen Fällen ist zu unübersichtlich, um einer systematischen Betrachtung unterzogen zu werden. So beschränke ich mich hier auf den zweiten Fall. 1 2

Vgl. „Das ästhetische Erlebnis", S. 3-7 dieses Bandes. A u f diesen besonderen Fall will ich mich hier beschränken.

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Β. Es sind vor allem die Elemente der Sachlage, in der es zu einer ästhetischen Erfahrung kommt, zu unterscheiden. Z u Beginn dieser Erfahrung gibt es a) das auf dem Hintergrund eines physischen Fundaments 3 zur Erscheinung gelangende Kunstwerk und b) den Erlebenden. In ihrem unmittelbaren Verkehr kommt es dann zur Konstitution des ästhetischen Gegenstandes (c), unter dessen Aspekt das Kunstwerk zur Erscheinung kommt. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Faktoren ergibt sich die Werterfassung und die Wertantwort (d) sowie eventuell das sie zur begrifflichen Fassung bringende Werturteil (e). ad a) Für die Beteiligung des Kunstwerks an der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes ist es wesentlich, daß es ein schematisches Gebilde ist, das nur unter gewissen Hinsichten eindeutig bestimmt ist, während es zugleich mehrere Unbestimmtheitsstellen enthält. Z u jeder dieser Stellen gehört eine fest umgrenzte Mannigfaltigkeit von möglichen Ausfüllungen, von denen jeweils nur eine zur Aktualisierung gelangt, w o durch der Übergang vom Kunstwerk zum ästhetischen Gegenstand vollzogen wird. Andererseits gibt es im Kunstwerk gewisse bloß potentielle Momente (wie z . B . im literarischen Kunstwerk die paratgehaltenen Ansichten), die v o m erlebenden Subjekt aktualisiert werden können. Es muß endlich am Kunstwerk immer gewisse ästhetisch aktive Qualitäten geben, die v o m erlebenden Subjekt erfaßt, zur Konstitution des ästhetisch wertvollen Gegenstandes führen. ad b) Soll es zu einer leistungsfähigen ästhetischen Erfahrung kommen, so muß den ästhetisch Erlebenden v o r allem eine gewisse Offenheit für die aktuellen Bestimmtheiten des betreffenden Kunstwerks auszeichnen sowie eine besondere Empfindlichkeit für die an ihm auftretenden ästhetisch aktiven Qualitäten. Die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes erfordert aber von dem erlebenden Subjekt weiterhin die Fähigkeit, auf Grund der am Kunstwerk erfaßten Bestimmtheiten die weiteren konkreten Momente zu erraten und zu konstruieren, welche seine Unbestimmtheitsstellen beseitigen und den ästhetischen Gegenstand näher bestimmen. Endlich ist auch die Fähigkeit der Aktualisierung der im Kunstwerk bloß potentiellen Momente sowie die anschauliche Rekonstruierung der das Kunstwerk eindeutig bestimmenden aktuellen Momente im ästhetischen Gegenstand erforderlich. Die mit den letzten drei Fähigkeiten in Zusammenhang stehenden Operationen der erlebenden Subjekte nenne ich die Konkretisierung des ästhetischen 3

A u f die Besprechung der Probleme, die den Übergang vom physischen Fundament zum Kunstwerk betreffen, muß ich hier verzichten.

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Gegenstandes. Von entscheidender Bedeutung ist endlich beim Subjekt die Fähigkeit einer adäquaten emotionalen Wertantwort auf die bereits zur Erschauung gebrachten Wertqualitäten, bzw. Werte. ad c) Der ästhetische Gegenstand ist das konkrete wertbehaftete Angesicht, unter dem das Kunstwerk zur Erscheinung gelangt und das zugleich die Vollendung einer Möglichkeit seiner Vollbestimmung bildet. Als Ergebnis des Zusammentreffens verschiedener Betrachter mit demselben Kunstwerk kann er in verschiedener Gestalt zur Konkretion gebracht werden. So kann es zu e i n e m Kunstwerk viele verschiedene ästhetische Gegenstände geben, in denen es sich zeigt. ad d) Die Wertantwort ist durch die Ausgestaltung des ästhetischen Gegenstandes und durch die Verhaltensweise des Erlebenden bedingt. Vermöge der angedeuteten Beziehungen zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Gegenstand schreibt sie die am ästhetischen Gegenstand haftenden Werte oft dem Kunstwerk selbst zu, besonders, wenn der Erlebende auf die Erlangung der Erkenntnis des Kunstwerks eingestellt ist, ohne dabei aber kritisch genug zu sein. ad e) Das Werturteil kann als Ausdruck und Ergebnis der Wertantwort gestaltet werden, es erlangt aber dabei eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit von ihr. Als sprachlich-begriffliche Fassung des am ästhetischen Gegenstand unmittelbar Erschauten und Gefühlten bringt es besondere Schwierigkeiten mit sich, die eigene Fehlerquellen eröffnen. C. Das Vorhandensein der fünf verschiedenen Faktoren des Zusammentreffens des Erlebenden mit dem Kunstwerk, die in mannigfachen Beziehungen zueinander stehen können, führt zu einer beträchtlichen Komplizierung der erkenntniskritischen Problematik. Aber erst deren Berücksichtigung ermöglicht eine korrekte Fassung der Probleme. Es sind im wesentlichen die folgenden Fragen: ι. Das auf Grund der ästhetischen Erfahrung vollzogene Werturteil kann im Prinzip sowohl auf das Kunstwerk als auch auf den ästhetischen Gegenstand bezogen werden. Indem es aus der ästhetischen Erfahrung erwächst, sollte es sich natürlicherweise auf den letzteren beziehen. Indessen wird es meistens ohne weiteres auf das Kunstwerk bezogen. Der vom Betrachter konstituierte ästhetische Gegenstand wird dabei mit dem Kunstwerk identifiziert. Dies ist die Quelle der meisten Fehlurteile, die das Material für das Werturteil aus der ästhetischen Erfahrung schöpfend unkritisch dieses Material über die von der ästhetischen Erfahrung gesteckten Grenzen hinaus deuten. Es werden dann dem Kunstwerk Eigenschaften und Werte zuerkannt, die ihm selbst gar nicht zukommen. Mannigfache vom Kunstwerk bloß zugelassene oder auch vorgeschrie21

bene Konkretisierungsmöglichkeiten werden gänzlich übersehen oder sogar bewußt ausgeschlossen. Die aktualisierte Möglichkeit wird als eigene Bestimmung des Kunstwerks gedeutet, so daß die bloße Potentialität mancher in ihm vorbestimmten Momente übersehen wird. Das spezifische Wesen des Kunstwerks wird dadurch falsch aufgefaßt. Um dies alles zu vermeiden, müssen die oben angedeuteten Unterscheidungen durchgeführt werden, woraus sich dann folgende Probleme der erkenntniskritischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung ergeben: 2. a) Sind die im Rahmen des ästhetischen Gegenstandes zur Aktualisierung gelangten Momente, welche den eindeutig bestimmten aktuellen Momenten des Kunstwerks entsprechen sollen, wirklich Rekonstruktionen dieser letzteren Momente und stehen sie in denselben Beziehungen untereinander, wie dies im Kunstwerk selbst der Fall ist? b) Werden aus der Mannigfaltigkeit der aktuellen Bestimmtheiten des Kunstwerks, die natürlich nicht alle erfaßt werden können, gerade diejenigen zur Rekonstruktion gebracht, die suggestiv genug sind, um im Erlebenden die Aktualisierung gerade derjenigen Qualitäten anzuregen, welche die Unbestimmtheitsstellen im Kunstwerk ausfüllen sollen? c) Liegen die zur Beseitigung der Unbestimmtheitsstellen aktualisierten Qualitäten gerade in der Variabilitätsgrenze, welche die betreffenden Unbestimmtheitsstellen zulassen? Wird diese Grenze überschritten, dann wird das Kunstwerk in der Konkretisation in dieser Hinsicht verfälscht. Wird sie aber nicht überschritten, so sind die aktualisierten Qualitäten nicht alle gleich brauchbar für die Rekonstruktion des Werkes „in seinem Geiste", da vor allem die einzelnen Unbestimmtheitsstellen untereinander zusammenhängen, zweitens aber, weil die erfüllenden Qualitäten mit dem ganzen Stil des Werkes zusammenstimmen sollen. Die Beseitigung der Unbestimmtheitsstellen des Werkes ist somit nicht der freien Willkür des Betrachters, sondern seinem ästhetischen Taktgefühl überlassen. d) Sind die rekonstruierten oder aktualisierten Momente ästhetisch aktiv genug, um die Ursprungsemotion und somit auch die ästhetische Erfahrung auszulösen und zur Konstituierung ästhetisch relevanter Qualitäten am ästhetischen Gegenstand zu führen? Denn ohne diese Aktivität gewisser Momente könnte es überhaupt zu keiner Konstitution eines ästhetisch werthaften Gebildes kommen. Und je nach dem Maß, in dem dies gelingt, erhält man ein an ästhetischen Wertqualitäten reicheres oder ärmeres Gebilde, wobei auch das Zusammenspiel unter den einzelnen ästhetisch relevanten Qualitäten nicht ohne Bedeutung ist. 22

e) Sind die auf Grund des konstituierten ästhetischen Gegenstandes dem betreffenden Kunstwerk zugedeuteten Werte ihrer Grundkategorie nach dem Wesen des Kunstwerks überhaupt adäquat? Denn in der Praxis kommen da gerade die größten Mißdeutungen vor. Vor allem wird gewöhnlich nicht beachtet, daß es einen wesentlichen Unterschied zwischen den künstlerischen und den ästhetischen Werten gibt. Die „künstlerischen", also dem Kunstwerk selbst möglicherweise zukommenden Werte sind operativer Natur. Das Kunstwerk ist ein Werkzeug, das dem Zweck dient, in der Begegnung mit dem ästhetisch Erfahrenden den ästhetischen Gegenstand und insbesondere audi die in dem letzteren verkörperten ästhetischen Werte zur anschaulichen Selbstgegebenheit zu bringen und sie dem sie Erfassenden zur Auskostung und Anerkennung zu bieten. (Man könnte auch das erlebende Subjekt als ein anderes, diesem Zweck dienendes Werkzeug auffassen.) Es dient nicht bloß dazu, das ästhetische Erleben und die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes in Gang zu bringen, sondern es auch zu regeln. Sein Wert liegt eben in den es zur Ausübung dieser Funktion befähigenden Bestimmtheiten. Wesenhaft ein Funktions-, bzw. Operations-Wert ist der künstlerische Wert relational, nämlich ein Wert auf etwas, auf das Zu-Erreichende bezogen. Ästhetische Werte sind dagegen in dem Sinn „absolut", als sie die Verkörperung der ästhetisch wertvollen Qualitäten selbst sind. In sich selbst ruhend, in dem Wertvollen enthalten, sind sie zwar von jemandem zu erschauen und anzuerkennen, ihre Wertigkeit verdanken sie aber nicht diesem Erschauen oder dem, was ihr Erschauen im Erlebenden hervorruft, sondern ausschließlich dem, was sie in sich selbst sind. Sie sind eben Verkörperungs-, Vollendung-Werte; „ästhetisch" sind sie aber in dem Sinn, daß sie im Angeschautwerden sich selbst zeigen. Daß sie in der Begegnung mit dem Menschen in diesem etwas Wertvolles hervorrufen, ist für sie etwas durchaus Sekundäres und für sie nicht konstitutiv. Es ist klar, daß die Erfassung der künstlerischen Werte völlig anders verlaufen muß als die der ästhetischen Werte. Während nämlich die letzteren in sehr kompliziertem perzeptiv-fühlenden Verhalten des Subjekts zum unmittelbaren Angeschautwerden und Aufleuchten gebracht werden, können die ersteren vorderhand nur in der Funktion der Realisierung des Zweckes des betreffenden Kunstwerks erhascht und dann in ihrer Leistung als Werte erkannt werden. Ihre volle Erfassung kann aber erst durch Vollzug mehrerer ästhetischer Erlebnisse, die auf Gund eines und desselben Kunstwerks zu verschiedenen ästhetischen Gegenständen führen, erlangt werden, da sich erst dann die Leistungsfähigkeit 23

des betreffenden Kunstwerks enthüllt. Sie werden aus der Mannigfaltigkeit und dem Reichtum der ästhetischen Werte, die vermittels des einen Kunstwerks zur Vollendung gelangen, erschlossen und beurteilt und nicht einfach als eine Gegebenheit unmittelbar erfahren. Mit anderen Worten: wenn sie einem Kunstwerk nach e i n e m Vollzug eines ästhetischen Erlebnisses zuerkannt werden, so ist damit zu rechnen, daß dieses Ergebnis schief oder gar falsch ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich radikal von den ästhetischen Werten, die gerade als eine ursprüngliche Gegebenheit entdeckt und im allgemeinen in einem einzigen Erlebnisvollzug in ihrer qualitativen Fülle erfaßt werden. f) Neben den bereits besprochenen ist aber noch eine Wertkategorie zu unterscheiden, die bei der Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes „im Geiste" des betreffenden Kunstwerks realisiert wird, und zwar, inwieweit dieser ästhetische Gegenstand dem Kunstwerk „getreu" ist. Wenn nämlich ein ästhetischer Gegenstand x) die Rekonstruktion der dem Kunstwerk tatsächlich zukommenden eindeutigen und aktuellen Bestimmtheiten in sich enthält, 2) bei der Konstruktion der die Unbestimmtheitsstellen beseitigenden Ausfüllungen in den vom Kunstwerk bestimmten Variabilitätsgrenzen verbleibt, 3) dies insbesondere unter der Beibehaltung der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Unbestimmtheitsstellen und dem allgemeinen Stil des Werkes tut und endlich 4) Aktualisierungen genau derjenigen Momente enthält, die im Kunstwerk im potentiellen Zustand vorhanden sind, wobei alle diese Elemente in denselben Beziehungen und Zusammenhängen wie im Werk selbst stehen - dann ist der ästhetische Gegenstand eine „getreue" Konkretisation des betreffenden Werkes selbst. Ist der Erlebende darauf eingestellt, im ästhetischen Erleben eine Erkenntnis des Werkes zu erlangen, so ist er eben zunächst bestrebt, eine „getreue" Konkretisation desselben zu erlangen, so daß dann der ästhetische Gegenstand nicht bloß unter der Suggestion dieser Tendenzen zur Konstitution gelangt, sondern auch vom Subjekt im Lichte des erlangten oder nicht erlangten Getreuseins betrachtet und beurteilt wird. In diesem Lichte bekommt der ästhetische Gegenstand einen besonderen Wert des Getreuseins oder einen Unwert, wenn er dem Werke eben nicht getreu ist. Dieses „Getreu-" oder „NichtGetreusein" kann sich auf zweierlei Momente des Kunstwerks, bzw. des ästhetischen Gegenstandes beziehen: auf die den künstlerischen,bzw. ästhetischen Wert tragenden Momente, d. h. auf rein konstruktive Qualitäten, oder auf die den Wert bildenden, bzw. ihn näher bestimmenden Qualitäten (auf die ästhetisch relevanten oder auf die Wertqualitäten selbst). Das Getreusein, bzw. Nicht-Getreusein im zweiten Fall ist von

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einer viel größeren Bedeutung, wenn es sich um ästhetische Werte,4 im ersten Fall dagegen, wenn es sich um künstlerische Werte handelt. Werden im zweiten Fall die Grenzen des möglichen Getreuseins überschritten, so muß der sie überschreitende ästhetische Gegenstand als negativwertig beurteilt werden, und zwar als etwas, was nicht im Sinne des operativen Wesens des betreffenden Kunstwerks gebildet wurde und was bei der „Vertretungs-", bzw. „Verkörperungsfunktion" des ästhetischen Gegenstandes dem Kunstwerk gegenüber versagt. Der Wert des „Getreuseins" in der Verkörperung des Kunstwerks gehört zu der Kategorie der Erkenntniswerte und nicht zu der Kategorie der ästhetischen Werte. Diese beiden Wertkategorien sind nicht bloß voneinander verschieden, sondern die unter sie fallenden Werte sind auch voneinander - mindestens in hohem Maße - unabhängig. Eine ungetreue ästhetische Konkretisation eines Kunstwerks kann trotzdem ästhetisch wertvoll sein und manchmal auch einen höheren ästhetischen Wert aufweisen, als wenn sie dem Werk getreu geblieben wäre. g) Die vom Betrachter in der unmittelbaren Wertantwort oder auf Grund derselben vollzogene Bewertung kann somit entweder dem Kunstwerk „funktionale", „künstlerische" Werte zubilligen oder sich auf den ästhetischen Gegenstand richten, wobei die Bewertungskategorie zweifach sein kann: entweder bezüglich des „Getreuseins" dem Kunstwerk gegenüber oder bezüglich der in ihm verkörperten ästhetischen Werte. Jede dieser drei verschiedenen Bewertungen eröffnet eine ganz andere kritische Problematik. Die Nichtbeachtung dieser Verschiedenheit hat es bis jetzt unmöglich gemacht, das Wertproblem und auch das Geltungsproblem der Bewertung selbst zu lösen, ja sogar es nur richtig zu formulieren. D. Sobald aber der ästhetische Gegenstand einmal konstituiert wird und es zu einer Wertantwort kommt, eröffnen sich neue erkenntniskritische Probleme bezüglich der Adäquatheit der Wertantwort auf die im ästhetischen Gegenstand konstituierten und gefühlten Werte. Es fragt sich zum Beispiel, ob man einem bestimmten positiven Wert gegenüber mit einem Anerkennungsakt (einer bestimmten Art von „Liebe") oder mit einem Verwerfungsakt antwortet. Und ganz allgemein, ob da beide Antworten möglich sind oder ob hier eine notwendige Zuordnungsbeziehung zwischen Wert und Antwort besteht. Dies kann aber noch miß4

Die im ästhetischen Gegenstand auftretenden ästhetischen Werte sind natürlich nur dann dem Kunstwerk „getreu", wenn sie im Spielraum dessen liegen, was das Kunstwerk als eine von ihm zugelassene Konkretisation seiner selbst vorbestimmt.

M

verständlich sein. Bei dem gegenwärtigen Stand der Kenntnis von der Mannigfaltigkeit der möglichen Wertantworten einerseits und der möglichen ästhetischen Wertqualitäten andererseits ist es indessen katim möglich, den Sinn der „Adäquatheit" der Wertantwort streng zu bestimmen. Im ersten Zugriff kann man aber fragen: Welche Paare von Wertqualitäten und Wertantworten gehören als sinngemäß „entsprechend" (vernünftig) zueinander? Soll da nach einer ein-deutigen Zuordnung von beiden gefragt werden oder soll sogar eine solche Zuordnung überhaupt postuliert werden? Oder soll lediglich zu einer bestimmten G r u p p e von Wertqualitäten nur e i n e charakteristische Wertantwort gefordert werden? Oder lassen sich da gar keine wesensmäßigen Zuordnungen bestimmen? Bei jeder Beantwortung dieser Fragen sind aber die soeben erwähnten Zuordnungsprobleme von den völlig anderen Problemen zu unterscheiden, die den r e e l l e n Zusammenhang zwischen Wertantwort und Wertqualität betreffen. Im letzteren Fall handelt es sich darum, ob die Wertantwort in ihrem Vollzug durch das erfaßte Auftreten einer bestimmten Wertqualität am ästhetischen Gegenstand eindeutig und hinreichend motiviert, also in ihrem Entstehen auf solche Weise bedingt ist oder ob dies Motiviertsein nicht hinreichend ist, so daß die Wertantwort auch durch das ästhetisch erlebende Subjekt notwendig mitbedingt sein muß. Oder endlich, ob die Wertantwort durch die erfaßte Wertqualität gar nicht bedingt und in diesem Sinne zufällig ist, so daß im allgemeinen gar nicht vorauszusehen ist, wie die Wertantwort bei einem vorgegebenen ästhetischen Gegenstand (und desto mehr bei einem vorgegebenen Kunstwerk) verlaufen wird. Nur dann, wenn die erwähnten Zuordnungsprobleme im positiven Sinne zu lösen wären, ließen sich bestimmte Postulate an die zu vollziehenden Wertantworten aufstellen. Und nur dann wäre es erlaubt, dem ästhetisch Erlebenden eventuelle Fehler im Vollzug der Wertantwort vorzuwerfen. Und auch nur dann, wenn die Wertantwort von dem erfaßten Wert zwar bedingt, aber doch nicht hinreichend bedingt wäre, wäre es vernünftig zu fordern, daß das ästhetisch erfahrende Subjekt sich in seiner Wertantwort an den gegebenen Wert anpaßt. Wäre hingegen die Wertantwort durch die erfaßte Wertqualität hinreichend bedingt, dann ergäbe sie sich sozusagen automatisch und das erlebende Subjekt brauchte sich nicht zu bemühen, eine „richtige", adäquate Wertantwort zu geben. Das ganze Bemühen erschöpfte sich dann in einer „getreuen", bzw. in einer wert-optimalen Konstitution des ästhetischen Gegenstandes, woraus sich dann die „entsprechende" Wertantwort von selbst ergäbe. Wenn dagegen die Wertantwort auch von dem erlebenden 26

Subjekt abhinge, dann könnte von einer Erziehung der Subjekte zu „richtigen", adäquaten Wertantworten gesprochen werden. Wäre endlich die Wertantwort durch die erfaßte Wertqualität überhaupt nicht bedingt, so daß bei einer vorgegebenen Wertqualität realiter jede Wertantwort möglich wäre, dann erst hätten die Skeptiker, die den Standpunkt de gustibus non est disputandum vertreten, recht. Wie es mit alldem steht, läßt sich bei dem gegenwärtigen Stand der Ästhetik nicht sagen. Jede Beantwortung des Werterfassungsproblems, bzw. der Begründung der Wertantwort ist heute ohne genügendes Fundament. E. Es entsteht endlich das Problem der möglichen Beziehungen zwischen dem ästhetischen Werturteil und der es eventuell begründenden Wertantwort. Kann auch da von „Entsprechungen" zwischen ihnen gesprochen werden, die sich rein aus dem Sinn dieser beiden Elemente der ästhetischen Bewertung ergeben? Ist es möglich, bestimmten Wertantworten eindeutig gefaßte Werturteile zuzuordnen? Liegt zwischen ihnen ein Begründungszusammenhang in dem Sinn vor, daß die Wertantwort das betreffende Urteil in seinem Wahrheitswert begründet? Oder liegt da ein bloßes Motivationsverhältnis vor, und gegebenenfalls welcher Art? Vor allem aber ist zu fragen, ob sich ein ästhetisches Werturteil sprachlich, bzw. begrifflich so formulieren läßt, daß es der vorgegebenen Wertantwort streng „entspricht"? Oder ist da mit einer bloß faktischen oder sogar mit einer wesensnotwendigen Nichtadäquatheit eines jeden sprachlich gestalteten ästhetischen Werturteils zu rechnen, so daß sich ein ästhetischer Wert sprachlich nie genau bestimmen und in dem individuellen Fall feststellen ließe? Oder kommen da eventuell fest geregelte Abweidlungen von dem vorgegebenen Wert, bzw. von der Wertantwort vor, die sich dann unschädlich machen ließen? - Auch da sind die bisherigen Kenntnisse bezüglich der möglichen Wertantworten und bezüglich der Leistungsfähigkeit der Sprache, bzw. der Begriffsbildung in einem dermaßen unreifen Zustand, daß alle bisherigen Lösungsversuche dieser Probleme nur grundlose, vorgefaßte Meinungen sind, die kaum ernst zu nehmen sind. Aber audi da liegt ein Feld von grundsätzlich wichtigen Fragen, die notwendig behandelt werden müssen, soll das große Wertproblem sowie die zugehörigen ästhetischen Bewertungsprobleme gelöst werden. Ich hoffe, daß die Berücksichtigung der hier angedeuteten Unterscheidungen den weiter zu führenden Betrachtungen auf diesem Gebiet den Weg ebnen wird.

WERK

IV

DAS F O R M - I N H A L T - P R O B L E M IM L I T E R A R I S C H E N KUNSTWERK

Der Streit zwischen den Formalisten und den Gehaltsästhetikern ist bekanntlich sehr alt und wurde oft mit großer Zähigkeit und großem Aufwand an Argumenten ausgetragen. In der letzten Zeit haben freilich die dahinter liegenden Probleme in der europäischen Ästhetik, bzw. Kunsttheorie sehr an Bedeutung verloren. Es geschah aber bei weitem nicht deswegen, weil man zu bestimmten, nicht mehr bezweifelbaren Lösungen gekommen wäre. Im Gegenteil. Die Geschichte lehrt, 1 daß der lange Streit bisher zu keiner Entscheidung geführt hat und daß die Einbuße an Bedeutung, die die Probleme erlitten, ihren Grund in einer gewissen Ratlosigkeit der Forscher haben. Und dies ist auch kein Wunder. Denn neben der Schwierigkeit der Frage selbst liegt der eigentliche Grund des Mißerfolges darin, daß man die Worte „Form" (audi „Gestalt" - nach W a l z e l ) und „Inhalt" („Materie", „Gehalt") in der Ästhetik in sehr vieldeutiger und unklarer Weise verwendet hat. Im Zusammenhang damit ist man zur Vermengung verschiedener, wenn auch vielleicht verwandter Probleme gelangt. Die in den letzten Jahren, besonders im Rahmen der sog. Literaturwissenschaft, erfolglos unternommenen Versuche weisen andrerseits darauf hin, daß es noch einen anderen wesentlichen Grund des Mißlingens gibt. Man sucht nämlich das Form-InhaltProblem ohne vorherige Erkenntnis der Grundeigenschaften dessen zu lösen, dessen Form und Gehalt unterschieden und auf ästhetische Funktion hin befragt werden soll. Dies scheint aber unmöglich zu sein. Denn wie soll „Form" oder „Inhalt" eines Gegenstandes - ζ. B. eines Kunstwerks - untersucht werden, wenn dessen Eigennatur nicht bloß nicht endgültig aufgeklärt, sondern den Forschern noch in dem Maße verborgen ist, daß es mehrere, durchaus entgegengesetzte Meinungen über sie gibt? So ist die Ordnung der Behandlung der Probleme umzukehren. Man muß z u e r s t die Grundstruktur des Kunstwerks, und insbeson1

V g l . z . B . K a a r l e S. L a u r i l a , „Ästhetische Streitfragen". Helsinki 1 9 3 5 .

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dere des literarischen Werkes aufklären und dann erst an die Untersuchung des Problemkomplexes „Form-Inhalt" herantreten. Idi habe mir dies schon bei der Abfassung des Buches „Das literarische Kunstwerk" klar zum Bewußtsein gebracht.2 Aber die späteren Untersuchungen, die ich im Zusammenhang mit meinem Buch „ O poznawaniu dziela literackiego" 3 durchgeführt habe, haben mich zu der Uberzeugung gebracht, daß hierbei nodi andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, und daß man infolgedessen wenigstens die Richtlinien der Betrachtung des ganzen Fragenkomplexes ganz aufs neue zeichnen muß. Einiges davon möchte ich hier mitteilen.

A.

Fangen wir mit der Scheidung der Probleme an, die gewöhnlich miteinander vermengt werden. Die Formulierung der Fragen, die wir hier geben, ist als durchaus vorläufig und vorbereitend anzusehen und soll nur zu ihrer gegenseitigen Abgrenzung dienen. Erst spätere Untersuchungen könnten zu genaueren Formulierungen führen. ι. Das e s s e n t i a l e 4 (also das sich auf das Wesen der betreffenden Gegenständlichkeit beziehende) Grundproblem lautet in unserem Fall: Was ist das, die „Form", bzw. der „Inhalt" („Gehalt") des literarischen Werkes, bzw. Kunstwerks? 5 Die Frage setzt voraus, daß es überhaupt möglich ist, die Form des literarischen Kunstwerks von dessen Inhalt zu unterscheiden. Genauere Erwägung wird dabei bald zeigen, daß diese Frage in mehrere verschiedene Fragen - je nach den verschiedenen, hierbei in Betracht kommen2

Vgl. S.29/30: „So läßt sich z . B . das viel diskutierte Problem des Unterschiedes zwischen ,Form' und ,Inhalt' ( b z w . , G e s t a l t ' und .Gehalt') des literarischen Kunstwerkes ohne die Berücksichtigung seines vielschichtigen A u f b a u s überhaupt nicht richtig stellen, weil alle nötigen Termini vieldeutig und verschiebbar sind. Insbesondere muß jeder Versuch, das Problem der Form des literarischen Kunstwerks zu lösen, mißlingen, wenn man stets nur eine aus den vielen Schichten ins Auge f a ß t und die übrigen außer Spiel setzt, weil man damit übersieht, daß die Form des Werkes sich erst aus den Formmomenten der einzelnen Schichten und aus ihrer Zusammenwirkung ergibt."

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D t . Fassung: „ V o m Erkennen des literarischen Kunstwerks". Tübingen 1968. Vgl. R. I n g a r d e n , „Essentiale Fragen. Ein Beitrag zum Wesensproblem". In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. B d . 7 , 1925. S. 125 bis 304. In Polen hat sich mit diesem Problem u.a. Julius K l e i n e r in der Abhandlung „Tresc i forma w poezji" („Inhalt und Form in der Dichtung", poln.) befaßt. Er behandelt es aber nicht so sehr am fertigen literarischen Werk, als vor allem am Prozeß der Bildung des Werkes durch den Dichter.

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den Begriffen der „ F o r m " und des „Inhalts" - umgewandelt werden muß. In den Auseinandersetzungen zwischen den Formalisten und ihren Gegnern wird das essentiale Problem gewöhnlich entweder ganz verschwiegen oder, im besten Fall, mit einigen nichtssagenden Phrasen erledigt, während das Hauptinteresse sich auf andere, die Lösung des essentialen Problems voraussetzende und infolgedessen in der gezeichneten Lage nicht genügend geklärte Fragen richtet. Aber audi dort, wo das essentiale Problem berührt wird, geschieht es nur aus dem Grund, weil man es nur für ein Eingangsproblem hält, das nicht um seiner selbst willen, sondern vom Standpunkt anderer, im Grunde späterer Probleme aus behandelt wird. Man erwägt es nämlich von vornherein sub specie der Uberzeugung, daß das Kunstwerk überhaupt und das literarische insbesondere auf eine Weise wertvoll sei, die von dem Wertvollsein sowohl anderer Werke menschlicher schöpferischer Tätigkeit als auch der Naturobjekte grundverschieden ist. Von dieser Uberzeugung aus stellt man ein neues Problem auf, das von dem essentialen streng geschieden werden muß. Es lautet: 2. Welche Rolle spielt die Form im Kunstwerk überhaupt und im literarischen Werk im besonderen und welche der Inhalt des Werkes? Oder anders: Worin ist der Wert des (literarischen) Kunstwerks enthalten, in dessen Form oder in dessen Inhalt oder endlich in ihnen beiden? Oder noch anders: Hängt der Wert des (literarischen) Kunstwerks von dessen Form oder von dessen Inhalt oder endlich von ihnen beiden ab? Die eben angegebenen Fragen können erst dann eindeutig formuliert werden, wenn i . das essentiale Problem der Form (des Inhalts) gelöst wird, 2. wenn angegeben wird, um Werte welcher bestimmten Art es sich dabei handelt. So stehen diese Fragen mit den folgenden Problemen in engem Zusammenhang: 3. Was für Werte können in (literarischen) Kunstwerken überhaupt auftreten? Sind sie nur e i n e r bestimmten oder mehrerer verschiedener Arten? Gibt man zu, daß es verschiedene Grundarten von Werten sind, die da in Betracht kommen, so muß man zuerst anerkennen, daß es überhaupt mehrere Grundtypen von Werten gibt. Dann eröffnet sich ein neues Problem: 4. Bilden die ästhetischen (bzw. die künstlerischen6) Werte einen ganz eigentümlichen, s p e z i f i s c h e n Werttypus, der sich auf keinerlei 6

Gewöhnlich werden diese beiden A r t e n von Worten vermengt. Führt man - entsprechend der A u f f a s s u n g W . D o r η s - den Unterschied zwischen dem Kunstwerk

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andere Werte und Wertarten - wie z.B. die ethischen, die religiösen usw. - zurückführen läßt, oder ist dies nicht der Fall? Diejenigen, welche die Spezifität der ästhetischen (bzw. künstlerischen) Werte behaupten, werden oft, wenn auch ohne zureichenden Grund, f ü r „Formalisten" gehalten. Streng genommen wäre aber nur diejenige Behauptung „formalistisch" zu nennen, nach welcher die spezifisch ästhetischen (bzw. künstlerischen) Werte ausschließlich in der Form des ästhetischen Gegenstandes (bzw. des Kunstwerks) enthalten oder von ihr allein abhängig seien. In Wirklichkeit sind aber diese beiden Fragen - nach der Spezifität der ästhetischen Werte und nach ihrer Beziehung zu der Form des Werkes - nicht so eng miteinander verbunden, daß man notwendig zu einem solchen Ergebnis kommen müßte. N u r eine ungenaue Analyse der Probleme kann zu einer solchen falschen Auffasung führen. 5. Das Problem der Spezifität der ästhetischen Werte wird zugleich oft mit dem Problem ihrer S e l b s t ä n d i g k e i t vermengt. Es handelt sich in diesem Fall um die Frage, ob die ästhetischen (bzw. künstlerischen) Werte unabhängig von der Existenz der Werte einer anderen Art - ζ. B. der ethischen Werte - existieren können. Genauer gesagt: Ist es möglich, daß ein Gegenstand - z . B . ein Kunstwerk - n u r einen ästhetischen (bzw. künstlerischen) Wert besitzt, ohne zugleich einen Wert irgendeiner a n d e r e n Art (ζ. B. der ethischen) zu besitzen? Oder umgekehrt: Können die ästhetischen Werte, trotz ihrer Spezifität, nur unter der Bedingung existieren, daß demselben Gegenstand, welchem sie eigen sind, noch irgendein Wert einer anderen Art zukommt? 6. Von dem eben Angedeuteten muß das Problem der U n a b h ä n g i g k e i t der ästhetischen Werte unterschieden werden. Es lautet: Unterliegt ein ästhetischer Wert dadurch, daß er im Bereich desselben ästhetischen Gegenstandes mit Werten anderer Art - ζ. B. des Wahren oder des Guten - auftritt, einer Veränderung, wächst er dadurch oder fällt er ab, oder ist er solchen Wandlungen gegenüber vollkommen unempfindlich? Und umgekehrt: Wird der ästhetische Wert durch das Nichtauftreten eines anderen außerästhetischen Wertes in demselben ästhetischen Gegenstand selbst verkleinert oder etwa vergrößert oder hat dies keinen Einfluß auf ihn? 7. Eine wesentliche Rolle in dem gesamten Fragenkomplex spielt endlich das Problem der H i e r a r c h i e unter den Werten v e r s c h i e und dem ästhetischen Gegenstand konsequent durch, so muß man audi die entsprechenden A r t e n von Werten voneinander unterscheiden. V g l . dazu mein Buch „ V o m Erkennen des literarischen K u n s t w e r k s " .

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d e n e r Art. Im allgemeinen wird anerkannt, daß man unter den Werten sowohl einer und derselben Art als auch verschiedener Arten Unterschiede hinsichtlich ihrer „Höhe" annehmen muß. Man kann freilich oft nicht sagen, welcher von zwei vorgegebenen Werten „höher", bzw. „niedriger" ist; man weiß audi nicht, im Hinblick worauf einem Wert im Vergleich zu einem anderen das Höhersein zuerkannt wird und werden soll; trotzdem aber fällt es uns schwer, darauf zu verzichten, Werte auf ihre „Höhe" und ihr Höhersein zu befragen. Infolgedessen ist man auch bereit, die Höhenunterschiede audi unter Werten verschiedener Art anzuerkennen. Insbesondere ist man auf der einen Seite überzeugt, daß die ästhetischen Werte g e n e r a l i t e r niedriger als die ethischen Werte seien, auf der anderen aber, daß dies durchaus nicht der Fall sei, daß also mindestens m a n c h e ästhetischen Werte höher seien als manche ethischen. Endlich wird auch behauptet, daß überhaupt k e i n e Höhenunterschiede unter Werten verschiedener Grundart angenommen werden dürften. Wie es sich damit in Wirklichkeit verhält und insbesondere, ob es recht ist, so grundverschiedene Werte, wie es die ethischen und die ästhetischen sind, miteinander zu vergleichen - das ist das Problem der Hierarchie unter den Werten. Fühlen wir uns in die wesentlichen, wenn auch oft verdeckten Motive ein, die in dem Streit zwischen den Formalisten und den Gehaltsästhetikern die Triebkraft der Argumentation bilden, so bekommen wir den Eindruck, daß die Behauptung über die Spezifität der ästhetischen Werte und ihre Verschiedenheit von den ethischen Werten von den Gehaltsästhetikern gerade aus dem Grund oft verworfen wird, weil man die Behauptung von der größten Höhe der ethischen Werte aufrechterhalten will und zugleich glaubt, daß dies nur dann möglich sei, wenn nur solche Werte angenommen werden, die untereinander hinsichtlich ihrer Höhe vergleichbar sind. Dies letztere scheint aber manchen Gehaltsästhetikern nur dann möglich zu sein, wenn man die Homogenität a l l e r Werte überhaupt behauptet und somit a l l e Werte zu ethischen Werten macht. Zugleich bringt man sich aber diese verschiedenen Fragen nicht klar zu Bewußtsein und vermengt sie miteinander. Dann aber ist man geneigt, sogar die Behauptung über die Spezifität der ästhetischen Werte oder ζ. B. über den Unterschied zwischen der Form und dem Gehalt des Kunstwerks oder über das Nichtvorhandensein dieses Unterschieds für Behauptungen zu halten, welche die Grundlagen der Ethik untergraben und das Heil der Menschheit gefährden. Tatsächlich aber erlaubt die Vermengung so vieler und so verschiedener Probleme, weder die einzelnen Probleme zu lösen, nodi auf berechtigte Weise 35

vorauszusehen, welche Abhängigkeiten und Beziehungen unter ihren Lösungen bestehen. Der erste Schritt also, der in dieser Lage zu tun ist, liegt darin, daß man sich aller weitgehenden Folgerungen und Voraussagen enthält, daß man die in Betracht kommenden Probleme sorgfältig voneinander scheidet und sie möglichst genau formuliert, und daß man zu Anfang nur diejenigen von ihnen zu lösen sucht, die von den Lösungen der übrigen Probleme verhältnismäßig am unabhängigsten zu sein scheinen. Einen solchen Problemkomplex scheinen diejenigen Fragen zu bilden, die ich hier die „ essentialen" Probleme der Form und des Inhalts im Kunstwerk genannt habe. Alles andere also beiseite lassend, will ich ihnen einige Vorbemerkungen widmen. B. Die Schwierigkeit der Klärung der Form-Inhalt-Probleme beim literarischen Kunstwerk liegt, wie schon bemerkt, vor allem darin, daß man verschiedene, auf mehreren Gebieten wissenschaftlicher Forschung gebildete Begriffe der „Form" und des „Inhalts" miteinander vermengt. Diese Begriffe wollen wir hier voneinander scheiden und zusammenstellen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, alle'Begriffe dieser Art berücksichtigt zu haben, die in der Geschichte der Philosophie aufgetreten sind. ι. Das Begriffspaar „Idee-Einzelgegenstand" bei PI a t o n hat A r i s t o t e l e s durch das Begriffspaar „Form-Materie" ersetzt, freilich unter gleichzeitiger Änderung ihrer gegenseitigen Beziehung. In diesem Zusammenhang ist „Form" das qualifizierende Moment von etwas, was die der Qualifizierung, Bestimmung unterliegende „Materie" (Inhalt, Gehalt) ist.7 Als Spezialfall davon ergibt sich daraus die Raumbegrenzung eines materiellen Dinges, dessen Gestalt seine „Form" bildet. Dasjenige dagegen, was sich innerhalb dieser Begrenzung vorfindet, ist die „Materie" (In-halt), aber nur in Beziehung zu d i e s e r Raumform. Der allgemeine Begriff der Form - in dem erwogenen Sinne - enthält aber kein Raummoment als solches in sich. Im allgemeinen Sinne ist „Materie" ein Etwas, das freilich immer durch eine Form b e s t i m m t (qualifiziert) wird, das aber zugleich in sich selbst k e i n e Bestimmungen, Qualifizierungen enthält und das infolgedessen nicht unter dem Aspekt der sie qualifizierenden Form, sozusagen nicht m i t ihr zusammen genommen werden darf. Die reine Ma7

Ich sehe hier davon ab, ob man bei A r i s t o t e l e s nicht noch andere Begriffe der Form und der Materie finden kann.

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terie - rein in sich genommen - existiert nicht ohne die sie qualifizierende Form oder in der Isolierung von derselben. Aber in dem Gesamtbestand dessen, was existiert, kann jedes von diesen Momenten - wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck auf „Materie" und „Form" anzuwenden - gedanklich von dem anderen unterschieden werden und in seiner Funktion dem anderen gegenüber als ein unselbständiges Moment erfaßt werden. Mit Rücksicht eben auf diese Unselbständigkeit läßt sich nicht sagen, daß das Ganze des Gegenstandes (des Seienden) sich aus Form und Materie „zusammensetzt" - wie dies A r i s t o t e l e s selbst oft tut - , weil die Rede vom Zusammensetzen nur dort statthaft ist, wo das sich Zusammensetzende ein abgetrennter oder abtrennbarer Teil (ein „Stück" im H u s s er Ischen Sinne) ist. Trotz solcher und anderer Abweichungen von der Aristotelischen Begriffsbildung wollen wir das jetzt bestimmte Begriffspaar „Form" und „Materie" Aristotelisch nennen. 2. Eine in gewisser Hinsicht gerade entgegengesetzte Fassung des erwogenen Begriffspaares scheint diejenige Verwendung der Begriffe „Form" und „Materie" zu sein, die in der heutigen formalen Ontologie im H u s ser Ischen Sinne auftritt. Hier wird gerade das, was das bestimmende, qualifizierende Moment ist, als „Materie" („Inhalt") gefaßt. Jedes von diesen Momenten wird aber auf eigene Weise „geformt". Zum Beispiel die Farbqualitäten, die ein konkretes Ding bestimmen, bilden ein „materiales" Moment von ihm.8 Dagegen bildet das Moment des Umschreibens, des Bestimmens selbst, die Struktur des Zukommens, des Eigenschaftsseins ein Moment der „Form" dieses Dinges. Es scheint auf den ersten Blick, daß wir da nicht von der Form des Dinges, sondern von der Form der E i g e n s c h a f t zu sprechen hätten. Indessen zeigen tiefer gehende Untersuchungen, die ich andernorts 9 durchgeführt habe, daß es keine selbständige Form der Eigenschaft gibt, sondern, daß sie nur ein Moment in der Gesamtform des Gegenstandes ist. Solche „formalen" Momente sind übrigens sehr mannigfach und führen zu streng notwendigen, gesetzlichen Zusammenhängen untereinander. Unter ihnen befinden sich auch die „kategorialen" Formen oder - wie H u s s e r l sagt - die „analytisch-formalen" Strukturen. 10 Zu denselben gehört auch 8

Idi benutze dieses Beispiel, statt eine Bestimmung der „ F o r m " zu geben, weil sie (in dem jetzt erwogenen Sinne genommen) in strenger Allgemeinheit sehr schwer zu fassen ist und weil man zu ihrer befriedigenden Klärung viele vorbereitende Analysen braucht, die hier nicht durchgeführt werden können.

9

R . I n g a r d e n , „ D e r Streit um die Existenz der W e l t " . Bd. II. Tübingen 1 9 6 4 . V g l . E d m u n d H u s s e r l , „Logische Untersuchungen". B d . I I . j . A u f l . Tübingen 1 9 6 8 . Untersuchung I I I .

10

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die in unserem Beispiel angegebene formale Struktur: das „Eigenschaftsein". Die Gesamtheit der den Gegenstand bestimmenden Qualifikationen bildet dessen volle „Materie", ihre formalen Momente dagegen bilden in ihrem einheitlichen Zusammenhang die „ F o r m " des Gegenstandes. Der Aristotelische Begriff der (ersten) „Materie" als dessen, was in sich qualitätslos und unbestimmt ist, entfällt hier ganz, seine Stelle wird aber durch andere Begriffe, wie der des Gegenstandes im Sinne des bloßen Subjekts von Eigenschaften, eingenommen. Der Begriff der „analytischen" Form ist s e i n e m U m f a n g n a c h dem K a n t i s c h e n Begriff der Kategorie nahe verwandt und steht auch in gewisser Beziehung zu dem Begriff der apriorischen Anschauungsformen, soweit man dieselben rein im Sinne gewisser Ordnungsprinzipien faßt. E r ließe sich auch bei A r i s t o t e l e s finden, wenn man nur manche seiner Aussprüche an Hand der von ihm verwendeten Beispiele sachgemäß deutete. Natürlich müssen aber bei dem Hinweis auf die Κ a n ti sehe Begriffsbildung zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse wesentliche Vorbehalte gemacht werden. Das, w a s K a n t bei seiner Rede von den Kategorien im Auge hat, bildet die „analytische" Form des Gegenstandes im formal-ontologischen Sinne der Gegenwart. Dagegen kommt die W e i s e , auf welche K a n t die Kategorien als reine Verstandesbegriffe bestimmt, sowie seine Theorie ihrer Funktion in der menschlichen Erkenntnis usw. bei dem heutigen formal-ontologischen Sinne der „Form" nicht in Betracht. Infolgedessen deckt sich der I n h a l t 1 1 des Κ a n tischen Begriffes der Form mit demjenigen in der formalen Ontologie verwendeten in keiner Weise. 3. Eine andere Auffassung der „ F o r m " und des „Inhalts" steht in enger Beziehung zu der von mir so genannten „Klassenauffassung" des Gegenstandes, 12 die seit der Zeit Η o b b e s ' für jedweden Sensualismus, sensualistischen Empirismus und Positivismus charakteristisch ist. Man faßt nämlich in diesem Fall den Gegenstand als eine Mannigfaltigkeit (Klasse) von Elementen-Teilen auf. Dann bilden diese Teile den „Inhalt" („Materie"), dagegen bilden die Beziehungen unter den Teilen die „Form" des so aufgefaßten Gegenstandes. 13 Selbstverständlich können Teile (Elemente), die in diesen oder anderen Beziehungen zueinander 11

In dem in der L o g i k verwendeten Sinne. Idi komme nodi darauf zurück.

12

V g l . meine Abhandlung „ V o m formalen A u f b a u des individuellen Gegenstandes".

13

V o n neueren Autoren vertritt K . T w a r d o w s k i

In: Studia Philosophica. B d . I, Leopoli 1 9 3 5 . S. 2 9 - 1 0 6 . in seiner Abhandlung

Lehre v o m Gegenstand und Inhalt der Vorstellungen" „ F o r m " und „ M a t e r i e " (S. 48 ff.).

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„Zur

diese A u f f a s s u n g der

stehen und von deren Wahl unter anderem auch die „Form" des aus ihnen gebauten übergeordneten Ganzen abhängt, selbst in dem hier erwogenen Sinne „geformt" sein, wenn sie selbst aus weiteren so oder anders geordneten Teilen bestehen. Die Form ist hier also zum Teil eines Ganzen, oder anders gesagt, zum entsprechenden „Inhalt" relativ. Wenn dasselbe Ganze einmal auf die eine, das andre Mal auf eine andere Weise in verschiedene Mannigfaltigkeiten von Teilen geteilt wird, so erhält man jedes Mal eine andere Form, aber auch einen anderen Inhalt dieses Ganzen. Es existiert hier ferner eine Hierarchie von Formen und Inhalten je nachdem, von welcher Ordnung die Teile und von welcher Ordnung das Ganze in Betracht gezogen werden. Ob diese Hierarchie sozusagen von unten begrenzt ist, dies hängt davon ab, ob man zugibt, daß es schlechthin einfache Teile (letzte Elemente) gibt, oder nicht. Im ersteren Fall müßte zugleich zugegeben werden, daß es Teile gibt, die in sich selbst und einzeln für sich betrachtet in dem jetzt erwogenen Sinne nicht mehr geformt wären. Übrigens wären diese Elemente - an und für sich erwogen - auch kein „Inhalt". Denn einen „Inhalt" bilden „Teile" nur insofern, als sie auf ein übergeordnetes Ganzes bezogen werden, unabhängig davon, ob sie letzte oder höhere Teile sind. Aber sogar die eventuell anzunehmenden, letzten, nicht mehr zusammengesetzten Teile würden sowohl einen „Inhalt" („Materie") als auch eine „Form" im Sinne der formalen Ontologie und im Aristotelischen Sinne aufweisen. Die ganze hier durchgeführte Unterscheidung der Form und des Inhalts ist aber insofern mangelhaft, als sie sich des Begriffes des „Teiles" eines Ganzen bedient, welcher bis jetzt nicht genügend geklärt ist, so wichtige und grundlegende Untersuchungen man ihm in den letzten Jahrzehnten auch gewidmet hat.14 Andererseits werden bei dieser Unterscheidung oft verschiedene Auffassungen des Gegenstandes miteinander vermengt, insbesondere aber die „Klassenauffassung" mit derjenigen, nach welcher der Gegenstand nichts anderes als ein Subjekt von Eigenschaften, mit diesen selbst zusammengenommen, ist.15 Infolgedessen wird der Teil des Ganzen mit der Eigenschaft des Gegenstandes vermengt und eben damit der hier erwogene Gegensatz Form-Inhalt von 14

Grundlegend in dieser Hinsidit w a r besonders die I I I . Untersuchung im II. Bd. der „Logisdien Untersuchungen" E d m u n d H u s s e r l s ( i . A u f l . 1 9 0 1 ) . Seit dieser Zeit ist eine Reihe von Büchern und Abhandlungen über dieses Thema erschienen; das Problem des Teiles und dessen Beziehung zum Ganzen erfordert aber noch immer weitere Erwägungen, deren Ergebnisse der eben besprochenen Unterscheidung zugrunde gelegt werden müßten.

15

Näheres über diese Auffassungen in der schon erwähnten A b h a n d l u n g formalen A u f b a u des individuellen Gegenstandes".

„Vom

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der Aristotelischen und von der formal-ontologischen Gegenüberstellung nicht unterschieden. Um diese verschiedenen Gegenüberstellungen auch terminologisch auseinanderzuhalten, wäre es besser, in dem jetzt erwogenen Fall nicht die Termini „Form" und „Inhalt" zu verwenden, sondern einerseits von der „Anordnung" der Teile in einem Ganzen, anderseits aber von der „Auswahl" (oder dem Bestand) dieser Teile in einem Ganzen zu sprechen. 4. Ein ganz anderes Paar von Begriffen „Form" und „Inhalt" ist mit der Unterscheidung zwischen dem „ W a s " (z.B. existiert) und dem „ W i e " (z.B. etwas gegeben wird) verbunden. Dabei soll das „Was" der Inhalt und das „Wie" die Form sein. D a aber die Unterscheidung zwischen dem „Was" und dem „Wie" unklar und vieldeutig ist, so zeichnet sich auch die darauf gebaute Gegenüberstellung der Form und des Inhalts durch dieselben Mängel aus. Insbesondere ist es nicht klar, was unter jenem „Was" zu verstehen sei. Aus verschiedenen Erwägungen derjenigen Forscher, die auf diesem Wege die Begriffe „ F o r m " und „Inhalt" gegenüberzustellen suchten, ersieht man, daß f ü r sie das „Was" entweder 1. irgendein Ding (allgemeiner: ein Gegenstand) oder 2. die Natur eines Dinges, bzw. eines Gegenstandes 16 (das τί είναι im Aristotelischen Sinne) oder endlich 3. das qualitative Moment einer konstitutiven E i g e n s c h a f t eines Gegenstandes ist. Gewöhnlich wird aber all dies unterschiedslos in eins genommen. Eine analoge Vieldeutigkeit weist auch der Begriff des „Wie" auf, wobei aber dessen Vieldeutigkeit ζ. T. von der Vieldeutigkeit des „Was" unabhängig ist. Man kann nämlich wiederum auf Grund der Betrachtungen verschiedener Autoren vermuten, daß es sich bei dem „Wie" entweder 1. um die Existenzweise eines Gegenstandes (etwa die reale, phänomenale, ideale Seinsweise) handelt oder 2. um die Weise, wie ein „Was" uns erkenntnismäßig g e g e b e n ist (ζ. B. wahrnehmungsmäßig, phantasiemäßig u. dgl. m.) oder endlich 3.um die Weise, wie ein Etwas d a r g e s t e l l t wird. Im letzteren Fall kann ζ. B. ein Gegenstand in einem System von Erscheinungen oder Ansichten oder mittels eines Systems von Zeichen oder endlich - wie es ζ. B. im literarischen Kunstwerk der Fall ist - durch eine Auswahl von Sachverhalten auf verschiedene Weisen zur Darstellung gebracht werden. Selbstverständlich können — trotz der Unabhängigkeit der Vieldeutigkeiten der Termini „Was" und „Wie" und damit auch der zugehörigen Begriffe „Form" und „Inhalt" - nur entsprechend gewählte Begriffe des

16

Über den Begriff der „ N a t u r " eines Gegenstandes ibid. §§ 1 2 - 1 5 . Ebenso R . I n g a r d e n , „Essentiale F r a g e n " .

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„ W i e " (der „Form") einem so oder anders gedeuteten „ W a s " zugeordnet werden. Näher kann hier nicht darauf eingegangen werden. Es muß aber betont werden, daß bei der hier betrachteten Gegenüberstellung „ F o r m - I n h a l t " gewöhnlich stillschweigend vorausgesetzt wird, daß einem und demselben „ W a s " („Inhalt") verschiedene „ W i e " („Formen") in entsprechender Auswahl zugeordnet werden oder mindestens zugeordnet werden können. Dabei soll das „ W a s " , trotz der Änderung des „ W i e " (der „Form"), selbst keiner Veränderung unterliegen. Die beiden Glieder sind aber zugleich so gedacht, daß jedes „ W a s " mit irgendeinem möglichen „ W i e " und jedes „ W i e " mit irgendeinem möglichen „ W a s " in der Einheit eines Ganzen existieren muß. 5. In engem Zusammenhang mit der Idee der Zuordnung, b z w . der Zugehörigkeit v i e l e r verschiedener Elemente oder Momente zu e i η e m und demselben Etwas steht eine neue A b w a n d l u n g der Gegenüberstellung „ F o r m - I n h a l t " . „ F o r m " ist nämlich das, was k o n s t a n t (in weiterer Folge gemeinsam, art- oder gattungsmäßig) ist, „Inhalt" dagegen dasjenige, was veränderlich (und in weiterer Folge eigentümlich, individuell) ist. Übrigens ist diese neue Gegenüberstellung - vermöge bestimmter Begriff sverschiebungen, die bei A r i s t o t e 1 e s stattgefunden haben - der Aristotelischen Gegenüberstellung der Form und der Materie in gewissem Grade verwandt. 6. Mit dem unter 4. besprochenen Begriffspaar steht eine neue Gegenüberstellung der Begriffe „ F o r m " und „Inhalt" in einem gewissen Zusammenhang; man findet sie besonders oft bei den Ästhetikern. Sie wird im Hinblick auf zwei verschiedene „ W i e " der Erkenntnisweise oder der Darstellungsweise durchgeführt. Man sagt nämlich: das, was sinnlich wahrgenommen wird, das ist „Form", was dagegen auf Grund dessen, was wahrgenommen wird, vermeint wird, bildet den „Inhalt". Diese Gegenüberstellung spielt z . B . in dem Streit zwischen den H e g e l i a n e r n und den H e r b a r t i a n e r n eine wesentliche Rolle. L a u r i l a hält sie für die allein berechtigte und schlägt vor, sie im Gebiet der Kunst, bzw. der ästhetischen Gegenstände anzunehmen. Aber auch sie ist nicht eindeutig. A u f verschiedene Weise wird v o r allem der Ausdruck „sinnlich wahrgenommen" verstanden. Dies hängt damit zusammen, daß die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung bis jetzt zu keinen letzten Ergebnissen geführt hat. Infolgedessen gibt es verschiedene Auffassungen der sinnlichen Wahrnehmung, von der radikal sensualistischen an, nach welcher „sinnlich wahrnehmen" so viel bedeuten soll wie gewisse „sinnliche Empfidungen haben", bis zur entgegengesetzten phänomenologischen 41

Auffassung, die behauptet, daß in der sinnlichen Wahrnehmung Dinge in ihrer vollen, allseitigen, sinnlich zugänglichen Qualifizierung leibhaftig selbstgegeben sind. J e nach der zugrundegelegten Auffassung nehmen auch die Begriffe „ F o r m " und „Inhalt" einen anderen Sinn an. Bei der sensualistischen Auffassung der Wahrnehmung wäre „Form" nur die vom Wahrnehmenden erlebte Empfindungsmannigfaltigkeit, „Inhalt" dagegen bildete schon das wahrgenommene, obwohl nach dieser Theorie nicht gegebene Ding. Vom phänomenologischen Standpunkt aus dagegen müßte man die wahrgenommenen Dinge für „Form" halten, während „Inhalt" etwas ganz anderes sein müßte; was es aber wäre, das hinge von besonderen Umständen ab. In einem Fall würde man ζ . B . den in einem Werk der Malerei d a r g e s t e l l t e n Gegenstand f ü r „Inhalt" halten müssen, die „Form" bildete dann die mit Farben bedeckte Leinwand des Bildes - oder allgemein gesprochen: der darstellende Gegenstand. Aber auch bei dieser Bestimmung des „Inhalts" haben wir mit einer Vieldeutigkeit zu kämpfen. Denn vieldeutig ist der Ausdruck „dargestellter Gegenstand", wenn man darunter unbestimmt dasjenige versteht, was auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung des „Bildes" (d.h. hier nur der mit Farben bedeckten Leinwand) gemeint wird. Man kann nämlich hierbei entweder ζ. B. die dargestellten Dinge und Menschen oder den psychischen Zustand der dargestellten Menschen oder die Situation, in welcher sich diese Menschen befinden, oder endlich - wie oft gesagt wurde - eine bestimmte „Idee" verstehen, welche durch die im Bild dargestellte Sachlage zum Ausdruck gebracht wird. So können hier der e i n e n „ F o r m " verschiedene „Inhalte" gegenübergestellt werden. 7. Eine Umkehrung der eben besprochenen Auffassung von Form und Inhalt bildet eine andere Auffassung, deren sich z . B . J . Κ 1 e i η e r in der oben erwähnten Abhandlung bedient und die neokantischen Ursprungs ist. Unter „Inhalt" wird nämlich oft das verstanden, was g e g e b e n , was v o r g e f u n d e n wird. Unter „Form" versteht man dann aber das, was „aufgegeben" ist, was wir also so oder anders erst bilden, erreichen sollen. Sobald aber dieses aufgegebene Etwas bereits erreicht wird, sobald es schon „fertig" vorliegt, wird es selbst zum „Inhalt" und zum Ausgangspunkt neuer „Aufgaben", neuer Formungen oder „Formen". Wir haben es also hier wiederum mit einer relativen Auffassung zu tun. „ F o r m " und „Inhalt" ist hier durchaus zu einer bestimmten Phase des Formungsprozesses relativ, wobei dieser Prozeß nach den Vertretern des Marburger Neukantianismus im Prinzip unabschließbar sein soll. Alles kann also in einer bestimmten Phase „Form" und zugleich 42

auch alles - wenn auch von einem anderen Standpunkt aus - „Inhalt" sein. 8. Einen Spezialfall des vorherigen Falles, aber zugleich auch eine Abwandlung von ihm, bildet diejenige Auffassung der „Form" und des „Inhalts", nach welcher das sog. „Material" (der Rohstoff) - also dasjenige, was erst durch eine besondere „Bearbeitung" zu einem bestimmten Ding werden soll - den „Inhalt" bildet. Der aus diesem Rohstoff gebildete Gegenstand soll die „Form" sein. Insbesondere also ist „Form" in diesem Fall das durch den Künstler mittels der Bearbeitung des Rohstoffes gebildete Kunstwerk. Genauer gesprochen wäre aber nicht das Kunstwerk selbst, sondern nur die Gesamtheit der durch den Künstler im Rohstoff hervorgebrachten neuen Eigenschaften, die der Rohstoff früher nicht besaß und die das fertige Kunstwerk von dem noch „ungeformten" Material unterscheiden, für „Form" zu halten. 9. Endlich gilt es nodi eines Begriffes von „Inhalt" und korrelativ von „ F o r m " zu gedenken, der mit den schon besprochenen zunächst in gar keinem Zusammenhang zu stehen scheint. Es handelt sich nämlich um denjenigen Begriff von „Inhalt", der in der l o g i s c h e n Sphäre oder audi im Gebiet der sprachlichen Gebilde seine Stätte hat. E r ist bei Betrachtung des literarischen Werkes von besonderem Interesse. Genauer besehen, sind es übrigens mehrere verschiedene Begriffe von „Form" und „Inhalt", von denen einzelne ihre Verwandtschaft mit den schon besprochenen Begriffen aufweisen. In der traditionellen Logik sprach man vom „Inhalt" und vom „Umf a n g " des Begriffs, wobei man unter „Begriff" nur die sog. „gegenständlichen Begriffe" im Sinne A . P f ä n d e r s oder - bei anderen Logikern die Namen verstanden hat. Den „Inhalt" des Begriffs definierte man dabei traditionell als die Gesamtheit der sog. gemeinsamen Eigenschaften der unter den Begriff fallenden Gegenstände, unter „ U m f a n g " dagegen hat man die Gesamtheit dieser Gegenstände selbst verstanden. Den „ U m f a n g " können wir hier beiseitelassen. Was aber den „Inhalt" des Begriffs betrifft, so wäre es besser, statt die im Begriff gemeinten „gemeinsamen" Eigenschaften seines Gegenstandes, die Gesamtheit der sie meinenden (bezeichnenden, bestimmenden), im Begriff selbst enthaltenen Intentionen f ü r den „Inhalt" des Begriffs zu halten. Genauere Analysen, die ich andernorts durchgeführt habe, 17 zeigen, daß man in den Bedeutungen der Namen, die mindestens für das sprachliche Gegenstück der Begriffe im logischen Sinne gelten können, den ma17

Vgl. R. I n g a r d e n ,

„ D a s literarische K u n s t w e r k " , § 1 5 .

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terialen und den formalen Inhalt unterscheiden muß, 18 wobei neben diesen beiden Inhalten noch andere Elemente der Namensbedeutung zu berücksichtigen sind, und zwar der von mir so genannte intentionale Richtungsfaktor und die die existentialen Momente bestimmenden Intentionen. Für unsere Zwecke wäre es zulässig, die Gesamtheit der in der v o l l e n Bedeutung eines Namens enthaltenen Intentionsmomente für den „Inhalt" des Namens, dagegen die Weise, wie dieselben in der Bedeutung angeordnet sind, für seine „Form" zu halten. Ähnliches ließe sich auch in bezug auf die Bedeutung des Verbum finitum sagen. Sobald aber ein Name oder ein Verbum finitum als Glied eines Satzes auftritt, bildet seine volle (d. h. geformte) Bedeutung neben den Bedeutungen der im Satz auftretenden funktionierenden 19 und insbesondere der syntaktisch funktionierenden Wörter die i n h a l t l i c h e n Bestandteile des Satzsinnes. Diese inhaltlichen Bestandteile sind aber im Satz nicht bloß auf bestimmte, für den Satzsinn charakteristische Weise angeordnet, sondern sie üben - vermöge der syntaktisch funktionierenden Wörter - zugleich im Ganzen des Satzsinnes besondere intentionale Funktionen aus. Die Anordnung der inhaltlichen Bestandteile des Satzsinnes fügt sich übrigens im allgemeinen den syntaktischen Funktionen, so daß diese sozusagen das regierende Element im Aufbau des Satzsinnes sind. Die Gesamtheit dieser Funktionen und die Anordnung der inhaltlichen Bestandteile des Satzsinnes bildet die „ F o r m " des Satzes. 20 Und zwar kann dabei einerseits die a l l g e m e i n e Form des Satzes überhaupt, andrerseits die b e s o n d e r e Form, die einem ganz bestimmten Satz eigen ist, unterschieden werden. Geht man von einzelnen Sätzen zu einem Satzzusammenhang über, 21 weldier sich in einer Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Sätzen konstituiert, so bilden wiederum die v o l l e n (schon geformten) Sinne der einzelnen Sätze die i n h a l t l i c h e n Bestandteile des Satzzusammenhanges, so daß dann 18

D e r materiale Inhalt eines Namens besteht aus denjenigen Intentionsmomenten der vollen Bedeutung eines Namens, welche die Materie des intentionalen Gegenstandes des betreffenden N a m e n s bestimmen, wogegen der formale Inhalt die Form desselben Gegenstandes (im formal-ontologischen Sinne) bestimmt.

19

Über funktionierende Begriffe vgl. A . P f ä n d e r , „ L o g i k " . In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 4, 1 9 2 1 . S . 299 ff. (3. unveränderte A u f l . Tübingen 1 9 6 3 . S. 1 5 6 f f . )

20

Gewöhnlich w i r d unter Form des Satzes ein Schema verstanden, in welchem die Inhalte der „ T e r m i n i " durch Veränderliche ersetzt und die funktionierenden Wörter und die den Termini eigenen syntaktischen Funktionen als Konstante erhalten werden. Im G r u n d e ist dies nidits anderes als die „ F o r m " in dem oben bestimmten Sinne.

21

Ü b e r den Satzzusammenhang vgl. R . I n g a r d e n , „ D a s literarisdie K u n s t w e r k " , §23.

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die Gesamtheit dieser Sinne den „Inhalt" des betreffenden Satz Z u s a m m e n h a n g e s bildet. Dieser Inhalt ist aber seinerseits entsprechend geformt. Und zwar ergibt sich seine Form sowohl aus der Anordnung der betreffenden Satzsinne als auch aus den sozusagen syntaktischen Funktionen höheren Grades, welche die einzelnen Sätze im Ganzen des Satzzusammenhanges ausüben. So hat man es hier mit einer Reihe von immer neuen „Inhalten" und „Formen" zu tun, die alle im Gebiet des Sinnes, bzw. der Bedeutung ihre Stätte haben und die - formal gesprochen - alle demjenigen Gegensatz „Form-Inhalt" verwandt sind, welcher oben unter 3. besprochen wurde. Betrachtet man das G a n z e des literarischen Werkes und stimmt man der von mir vorgeschlagenen Auffassung dieses Werkes als eines m e h r s c h i c h t i g e n Gebildes zu, so kann man den v o l l e n (also geformten) Sinn des die ganze Bedeutungsschicht des Werkes bildenden Satzzusammenhanges in der Gegenüberstellung zu den übrigen Schichten des literarischen Werkes in einem ganz besonderen Sinne den „Inhalt" dieses Werkes nennen. Und zwar deswegen in einem ganz besonderen Sinne, weil d i e s e r Begriff des „Inhalts" gar kein Analogon zu den schon besprochenen Auffassungen des „Inhalts" hat und nur auf dem Gebiet des literarischen Werkes - im w e i t e n Sinne des Wortes seine Stätte hat. Die eben durchgeführte Aufzählung der verschiedenen Paare der Begriffe „Form" und „Inhalt" (der „Materie", des „Gehalts") - so lückenhaft sie auch ist - zeugt genügend deutlich davon, in einem wie hohen Grade verschiedenartige Angelegenheiten mit diesen beiden Worten benannt werden. Es ist zugleich klar, daß je nach dem Sinn, in welchem diese Worte verwendet werden, andere Behauptungen über die Beziehungen zwischen „Form" und „Inhalt" wahr sind. Infolgedessen hat auch die Leugnung des Unterschiedes zwischen „Form" und „Inhalt", die bei manchen Forschern auftritt, so lange keinen wissenschaftlichen Wert, als man die verschiedenen Begriffe der „Form" und des „Inhalts" nicht auseinanderhält und auch nicht deutlich sagt, in welchem Sinne von „Form" und „Inhalt" dabei gesprochen wird. C. Wenn wir nach diesen Vorbereitungen und unter Zugrundelegung der Ergebnisse, zu welchen die Erforschung des Wesens des literarischen Werkes geführt hat, sagen wollten, was in ihm „Form" und was „Inhalt" ist, so müßten wir zuerst der Reihe nach untersuchen, ob und in45

wiefern die oben zusammengestellten Begriffe der „Form" und des „Inhalts" auf das literarische Werk angewendet werden können.22 Es würde sich vielleicht dabei zeigen, daß der Inhalt eines jeden der unterschiedenen Begriffe der Sachlage, welche im literarischen Werk vorliegt, entsprechend angepaßt werden muß. Es ist auch wahrscheinlich, daß die Analyse des literarischen Werkes uns zwingen wird, ganz neue Begriffe von „Form" und „Inhalt" einzuführen. A l l dies stellt uns vor Aufgaben, die im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht erledigt werden können. Sie müssen aber erschöpfend und mit großer Genauigkeit gelöst werden, wenn die Auseinandersetzungen zwischen den Formalisten und den Gehaltsästhetikern die Sphäre primitiver und verworrener Phrasen verlassen und auf wissenschaftliche Weise behandelt werden sollen. Man muß dabei seine Aufmerksamkeit noch auf folgende Angelegenheiten lenken, die ihrerseits auf die Kompliziertheit der ganzen Problemsituation hinweisen: ι. Man muß zwei verschiedene Fragen auseinanderhalten: a) Was „Form" und was „Inhalt" - in einem der unterschiedenen Sinne - im literarischen Werk ü b e r h a u p t ist (wenn es sich also lediglich um die a l l g e m e i n e Struktur des literarischen Werkes überhaupt handelt), b) was „Form" und „Inhalt" in einem ganz b e s t i m m t e n literarischen Individuum - z.B. in den „Polnischen Bauern" R e y m o n t s oder im „Faust" G o e t h e s - ist. In allgemeinen philosophischen Erwägungen kann natürlich nur die erste Frage beantwortet werden, die zweite dagegen kann nur im Rahmen der beschreibenden Analysen der positiven Literaturwissenschaft behandelt werden, selbstverständlich aber unter Zugrundelegung der Ergebnisse, welche die allgemeine Betrachtung liefert. 2. Das literarische Werk ist - wie ich andernorts zu zeigen suchte23 einerseits ein mehrschichtiges Gebilde, andrerseits aber ein Gebilde, das eine „Spannweite" (eine Ausbreitung) vom Anfang bis ans Ende hat. Dies erlaubt uns im Ganzen des Werkes zweierlei Teile zu unterscheiden: a) die einzelnen Schichten, b) die einzelnen Phasen des Werkes, die sich in seinem Ganzen deutlich voneinander abheben (wie ζ. B. die einzelnen Kapitel eines Romans, Akte eines Dramas u.dgl.m.). Wenn wir auf diese Teile v e r s c h i e d e n e r Art die früher sub 3. besprochenen Begriffe „Form" und Inhalt" anwenden wollten, so müßten wir bei dem 22

23

Es ließe sidi übrigens zeigen, daß alle von mir unterschiedenen Begriffspaare sowohl in einzelnen Analysen als audi in allgemeinen Betrachtungen durch verschiedene Forscher auf das literarische Werk angewendet wurden. Vgl. „ D a s literarische K u n s t w e r k " , K a p . 11.

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Versuch der Bestimmung, was in diesem Fall „ F o r m " und was „Inhalt" sei, verschiedene W e i s e n d e r B e t r a c h t u n g der ganzen Angelegenheit berücksichtigen. Und zwar: a) die rein „anatomische" Betrachtungsweise bei alleiniger Berücksichtigung des Werkes selbst, b) die deskriptiv-phänomenologische Betrachtungsweise der Konkretisation des literarischen Werkes, c) die funktional-ästhetische Betrachtungsweise. Erklären wir uns näher: Wenn wir die einzelnen Schichten des Werkes, die sich freilich voneinander nicht ablösen lassen, aber vermöge der Andersheit ihrer Grundelemente (hier der Wortlaute und der sprachlautlichen Gebilde höherer Ordnung, dort der Bedeutungseinheiten usw.) voneinander wesensverschieden sind, für Teile des Werkes halten wollen, so können wir die Schichten f ü r den „Inhalt" (oder im Sinne der von mir vorgeschlagenen Terminologie für die Auswahl von Teilen) des Werkes halten. Es fragt sich aber, was in diesem Fall die Form des Werkes wäre? Im Sinne dessen, was wir im vorigen Kapitel sub 3. gesagt haben, wäre „Form" des Werkes in diesem Fall die Anordnung der Teile oder, anders gesagt, die Gesamtheit der Beziehungen, die unter den Schichten des Werkes bestehen.24 Gerade aber bei dem Versuch der näheren Aufklärung dieser Beziehungen spielen die oben unterschiedenen Gesichtspunkte der Betrachtung eine wesentliche Rolle. Wenn es sich nämlich um die rein „anatomische" Betrachtungsweise handelt, so ist die Gesamtheit der Beziehungen (der Anordnung der Teile) ausschließlich durch die allgemeinen Eigenschaften der einzelnen Schichten bestimmt. Zu der „ F o r m " des literarischen Werkes im allgemeinen wird in diesem Sinne unter anderem die k o n s t i t u t i v e Rolle der Bedeutungsschicht f ü r die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, sowie andererseits die Abhängigkeit und Abgeleitetheit der letzteren von der ersteren usw. gehören. Wenn wir dagegen den deskriptiv-phänomenologischen Standpunkt einnehmen und die Beziehungen zwischen den Schichten des Werkes so deskriptiv zu fassen suchen, wie sie sich uns bei unmittelbarer anschaulicher Erfassung des konkretisierten Werkes zeigen, so tritt die Bedeutungsschicht in den Hintergrund, sie wird fast unmerkbar, als 24

Ich behaupte natürlich nicht, daß es gerade dieser Begriff der F o r m und des I n halts des literarischen Werkes gewesen sei, den man in den bisherigen E r w ä g u n gen v o r allem im A u g e gehabt und den man in den Auseinandersetzungen z w i schen den Formalisten und den Gehaltsästhetikern gesucht habe. Es ist aber ein Begriff, der bei genauerer A n a l y s e interessante und wichtige Perspektiven eröffnen kann.

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ob sie durchsichtig wäre. Die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten tritt dagegen in den Vordergrund und verdeckt in gewissem Sinne die Bedeutungsschicht. Wenn diese sich trotzdem im Ganzen des konkretisierten Werkes fühlbar macht, so geschieht es nur wegen des eigentümlichen Moments der Rationalität, das sie in das Werk einführt. Sonst zeigt sie sich dem Leser nur insofern, als es in ihr besondere Eigenheiten der Sinneinheiten gibt, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich lenken und infolgedessen selbst zur abgehobenen Erscheinung gelangen - ζ. B. wenn der Sinn der Sätze sehr verwickelt ist und dem Werk den Charakter der „Schwere" oder der „Undurchsichtigkeit" verleiht. Audi die Beziehung zwischen der gegenständlichen Schicht und der Schicht der Ansichten ändert sich sichtlich bei Änderung der Betrachtungsweise. Rein „anatomisch" sind diese beiden Schichten voneinander verschieden und unterscheiden sich audi hinsichtlich ihrer Konstitutionsgrundlage: während die gegenständliche Schicht durch Satzsinne entworfen wird, schöpft die Schicht der Ansichten ihre Existenz teils aus den schon konstituierten dargestellten Gegenständlichkeiten, teils aus manchen Elementen der Bedeutungsschicht, und teils gründet sie in manchen Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen Schicht. „Anatomisch" ist sie also etwas, was zu der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten hinzukommt. Dagegen zeigen sich im konkretisierten Werk diese beiden Schichten phänomenal als so eng miteinander verwachsen, daß es bei der Analyse einer besonderen Mühe bedarf, die Ansichten und die durch sie zur Erscheinung gebrachten Gegenstände zur Abhebung zu bringen. Die Schicht der sprachlichen Lautgebilde, die „anatomisch" den Bedeutungen gegenüber die Trägerfunktion ausübt, sinkt bei phänomenaler Erfassung des konkretisierten Werkes zur Rolle eines bloßen Akkompagnements, zu einer Art Begleiterscheinung ab, die zwar auf die Eigenschaften und Elemente der beiden letzten Schichten nicht ohne Einfluß bleibt, die aber zugleich zu ihnen in deutlicher Distanz steht. Natürlich muß dann auch die Gesamtheit der Beziehungen unter den Schichten des Werkes („Form" sub 3.) eine ganz andere sein, als sie sich vom „anatomischen" Standpunkt aus darstellt. Diese beiden „Formen" des literarischen Werkes - die „anatomische" und die deskriptiv-phänomenologische - stehen übrigens in enger Beziehung zueinander und die zweite ist von der ersten abhängig. Keine von ihnen ist somit bloß scheinhaft. N u r die besondere Beziehung, in welcher das konkretisierte Werk zum Leser steht, sowie die Erfordernisse der anschaulichen Erfassung des Werkes bewirken es, daß es zu diesen Verschiebungen in der „Form" des Werkes kommt. 48

Wenn wir endlich bei dem Versuch der Bestimmung der „Form" des literarischen Werkes (im erwogenen Sinne) nach jener Auswahl der Beziehungen unter den Schichten des Werkes fragen, die für die Bildung des literarisch-ästhetischen Gegenstandes konstitutiv sind, so gestaltet sich die Form des Werkes wiederum auf eine andere Weise. Denn nicht alle Beziehungen unter den Schichten des Werkes spielen dabei überhaupt eine Rolle und wenn sie sie spielen, ist sie nicht in jedem Fall dieselbe. Näher kann hier darauf nicht eingegangen werden. Ähnlich stellt sich die Sachlage dar, wenn wir die Beziehungen unter den Teilen des literarischen Werkes im Sinne der einzelnen aufeinanderfolgenden P h a s e n betrachten. Bereits die bloße Feststellung, w e l c h e Teile (Phasen) des Werkes wir für diejenigen Teile nehmen, im Hinblick auf welche dessen „Form" (Anordnung der Teile) untersucht werden soll, ist in hohem Maße von der Betrachtungsweise abhängig. Vom rein „anatomischen" Standpunkt aus gesehen, werden die relativ ursprünglichen, sich voneinander strukturell scheidenden Teil-Phasen diejenigen sein, welche (bei Berücksichtigung aller vier Schichten des Werkes) durch die einzelnen satzmäßigen B e d e u t u n g s e i n h e i t e n bestimmt sind. Deskriptiv-phänomenologisch gesehen, wird es im n o r m a l e n Fall ganz anders sein: die sich phänomenal gegenseitig scheidenden Teile (Phasen) des Werkes werden nämlich durch Prozesse oder Ereignisse in der Schicht der dargestellten G e g e n s t ä n d l i c h k e i t e n bestimmt. Die auf diese Weise von der Art der Betrachtungsweise abhängige Verschiedenheit der Bestimmung der Teil-Phasen zieht natürlich auch eine Verschiedenheit der Beziehungen unter den so oder anders bestimmten Teilen (also der „Form") nach sich. Aber die Verschiedenheit der Betrachtungsweise führt auch unmittelbar zu Abwandlungen der „Form" des Werkes. In dem rein „anatomisch" und ohne Bezugnahme auf dieBedingungen der anschaulichen Erfassung betrachteten literarischen Werk bildet die „Aufeinanderfolge" der Phasen eine absolut eigentümliche Beziehung, die in sich kein zeitliches Moment enthält. 25 Wenn wir dagegen das literarische Werk genau so nehmen, wie es sich uns während der Lektüre in einer Konkretisation präsentiert, dann erhält diese Beziehung einen ausgesprochen zeitlichen Charakter. Dabei unterliegt noch eine Reihe von Beziehungen zwischen den Phasen-Teilen infolge der Wirkung der Zeitperspektive einer deutlichen Verwandlung usw.26 25

V g l . R . I n g a r d e n , „ D a s literarische K u n s t w e r k " , § 5 5 .

2β V g l . R . I n g a r d e n ,

„ V o m Erkennen des literarischen K u n s t w e r k s " ,

Kap.II;

z . T . bereits in dem Buch „ D a s literarische K u n s t w e r k " , § 36.

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Ähnliche Unterschiede, die sich aus der Verschiedenheit des Gesichtspunktes ergeben, von welchem aus wir das Problem der sog. „Form" und des „Gehalts" des literarischen Werkes betrachten, muß man auch bei der Erwägung der „Form" in den a n d e r e n , früher unterschiedenen Bedeutungen dieses Wortes berücksichtigen. Wir können hier nicht näher darauf eingehen. 3. In meinem Buch „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks" habe ich den wichtigen Unterschied zwischen dem literarischen Kunstwerk selbst und dem literarisch-ästhetischen Gegenstand (d. h. derjenigen Konkretisation des literarischen Werkes, die im ästhetischen Erlebnis zur Konstitution gelangt) zu zeigen versucht. Dieser Unterschied bewirkt, daß die Analyse der „Form" und des „Inhalts" - in den verschiedenen behandelten Bedeutungen - gesondert f ü r das literarische Kunstwerk und gesondert f ü r den literarischen ästhetischen Gegenstand durchgeführt werden muß. Bei der letzteren erwartet uns auch manche Überraschung, die man heute im allgemeinen nicht einmal genau voraussehen kann, weil die Theorie des ästhetischen Gegenstandes sich bis jetzt nodi im Entwicklungszustand befindet. Erst die Ergebnisse, die man bei der Analyse der „Form" und des „Inhalts" des ästhetischen Gegenstandes wird erreichen können, werden uns auch erlauben, von den rein essentialen zu den anderen, früher angedeuteten Problemen überzugehen. Augenblicklich ist dies noch nicht möglich. Wie man sieht, ist der ganze Problemkomplex „Form-Inhalt" des literarischen Werkes gar nicht so einfach, wie dies manchmal auch bedeutenden Forschern zu sein scheint. Wer ihn aber für einfach und leicht hält und glaubt, daß man ihn auf einigen Seiten erledigen könnte, der hat die eigentlichen Probleme, die da vorliegen, nicht einmal geahnt. 27

27

Idi habe diesen im J a h r e 1 9 3 7 niedergeschriebenen Artikel nach dem Kriege w e i ter ausgearbeitet und im II. Band meiner „Studien zur Ästhetik" auf polnisdi im J a h r e 1 9 5 7 veröffentlicht. E r u m f a ß t aber jetzt ungefähr 1 4 0 Seiten und müßte aufs neue in deutscher Sprache v e r f a ß t werden, weil die polnische Fassung viele Beispiele aus der polnischen Literatur verwendet, die durch Beispiele aus der deutschen Literatur ersetzt werden müßten. Dies w ü r d e mir aber viel Zeit rauben.

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ν ÜBER DIE S O G E N A N N T E „ABSTRAKTE" MALEREI A. Ich versuche hier den Sinn der sogenannten „abstrakten" Malerei zu verstehen, und zwar mit Hilfe einer strukturalen Analyse. Ich werde mich dabei aller generellen Bewertung dieser Art Malerei enthalten, da, wie ich glaube, solche generellen Bewertungen keinen rechten Sinn haben, obwohl sie oft ausgesprochen werden. In jeder künstlerischen Richtung gibt es gute und schlechte Kunstwerke. Man sollte also nur die einzelnen Werke bewerten. Der Grundtypus der Kunstwerke innerhalb einer Kunst, ζ. B. in der Malerei, setzt freilich gewisse Schranken für die Möglichkeit, was sich in ihr realisieren läßt, insbesondere bestimmt er auch den Grundtypus der Werte, die sich in den Werken dieser Richtung zur Erscheinung bringen lassen. Gerade deswegen aber ist es nötig, den Versuch des Verstehens zu unternehmen, was die Werke einer bestimmten künstlerischen Richtung zu leisten vermögen. Denn das erlaubt es, diesen Werken keine solchen Aufgaben zu stellen, die außerhalb ihrer künstlerischen Leistungsfähigkeit liegen. Und dies erlaubt es auch zu vermeiden, daß ihnen deswegen Vorwürfe gemacht werden, weil sie Werte nicht realisieren, die sie überhaupt nicht realisieren wollen. Trotz aller sich widersprechenden Ansichten über die abstrakte Malerei, die in den Kreisen der Betrachter herrschten und bis heute hie und da auftreten, darf man feststellen, daß die Art der Malerei heute, mehrere Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten „abstrakten" Bilder (übrigens noch sehr verschiedener Typen) bewiesen hat, daß es in ihr Werke mit hohen künstlerischen Werten geben kann. Dem widerspricht nicht die Tatsache, daß es daneben verschiedene wertlose Werke gibt. Das ist in jeder Kunst normal. Was indessen in bezug auf die abstrakte Malerei unzweifelhaft fehlt, ist das richtige Verständnis vieler einzelner Werke dieses Typus. In „abstrakter" Malerei ist es außerordentlich schwierig, wertvolle Werke zu schaffen und es ist ebenso schwierig, in den einzelnen Fällen den wesentlichen Sinn des Werkes zu verstehen und seine künstlerische Funk51

tion zu erfassen. Der Betrachter steht oft, auch wenn er schon geübt ist, solche Bilder zu erfassen, vor einem „abstrakten" Bild wie vor einem Rätsel, und der Titel macht ihn oft stutzig. Er vermag weder die Frage zu beantworten, warum gerade diese Farben in soldier Gestalt und in einer bestimmten Anordnung in dem Bild auftreten, noch welche Rolle in seinem Ganzen die einzelnen Elemente spielen, noch endlich, welche künstlerische Funktion das Ganze des Bildes ausüben soll. Dies geschieht zum Teil deswegen, weil eine der wesentlichen Funktionen der „alten" Malerei, daß nämlich das Bild etwas „darstellen" soll, hier in diesem strengen Sinne programmgemäß fehlt. Was aber nach dem Wegfall dieser Funktion das im Bild Gegebene leisten und auf welche Weise es auf den Betrachter wirken soll, das ist oft unklar. So wird auch das Bedürfnis der Klärung des künstlerischen Sinnes der einzelnen abstrakten Bilder ziemlich allgemein empfunden. Man schaut sich nach einer Hilfe um, weil das Bild selbst zu wenig gibt. Und zwar gilt dies nicht bloß für das sogenannte „breite Publikum", sondern oft audi unter den Betrachtern, die schon eine gewisse Übung im Verstehen der Kunst sehr mannigfacher Art besitzen. Bedeutsam in dieser Richtung war die Rede des Herrn Professor Angelo S p a s i o , des Präsidenten der „Fondazione Zini", während der Eröffnungssitzung des I I I . Internationalen Kongresses für Ästhetik in Venedig im Jahre 195 6. Er wandte sich an die Mitglieder des Kongresses mit dem Appell, sich zu bemühen, die Frage zu beantworten, was eigentlich der wesentliche Sinn der Kunst der Gegenwart - und zwar sowohl in der Malerei, in der Skulptur als auch in der Musik sei. Das Problem ist sehr umfangreich und greift bis in die Tiefen des menschlichen Geistes unserer Epoche. Man darf auch die Umstände des heutigen Lebens nicht außer acht lassen. Ich kann mich hier nicht in das Dickicht dieser Probleme vertiefen. Ich weise darauf nur deswegen hin, um anzudeuten, daß ich diese Fragen nicht aus dem Auge verliere. Idi behandle sie aber hier nicht näher, weil sie zu kompliziert sind und mannigfache Vorbereitungen erfordern, darunter auch die Klärung gewisser Ausgangsprobleme. Idi will mich hier nur mit einigen Einzelheiten beschäftigen, um das immer wieder aufkommende MißVerständnis zwischen den Künstlern und den Betrachtern der nichtdarstellenden Kunst zu vermindern. Dieses Mißverständnis entsteht zum Teil daraus, daß der heutige Betrachter noch in einer sehr großen Mehrheit der Fälle auf das Perzipieren und Verstehen des Bildes im traditionellen Sinne eingestellt ist. Er sucht das, was das Bild darstellt, zu erfassen und das Thema mit dem, was er aus irgendeiner Literatur kennt, in Beziehung 52

zu setzen. Bei einem abstrakten Bild weiß er oft nicht, wie er sich verhalten soll, sobald er in ihm nicht das gefunden hat, was er sonst zu suchen und zu finden gewohnt ist. In dieser Hinsicht ist das Wesen eines abstrakten Bildes von dem darstellenden Bild verschieden. Während in der darstellenden Malerei - schon abgesehen von den sich in den einzelnen Stilen und künstlerischen Richtungen wiederholenden Themen gewisse konstante, vielen Bildern gemeinsame Züge auftreten, wie ζ. B. die Weise, wie das Bild gemalt wird oder wie es komponiert ist, wird in der abstrakten Malerei jedes, sagen wir vorsichtig, jedes gute Bild aus einem bestimmten, nur einmal sich stellenden künstlerischen Problem geboren und bildet seine Lösung, die, wenn sie wirklich richtig ist, die einzig mögliche ist. Beides sollte der Betrachter an dem Bild selbst ablesen, wenn er es verstehen will. Er verfügt aber über keine zu diesem Zweck führenden, fertigen Vorbilder, und im Grunde kann er sie audi nicht haben, da er selbst die spezifischen malerischen Probleme nicht kennt, welche die wirklich schöpferischen Künstler bedrängen. In der darstellenden Malerei gibt die Auswahl der dargestellten Dinge und Menschen, die Lage, in welcher sie dargestellt werden, und oft auch das im Titel angedeutete literarische Thema dem Betrachter einen Schlüssel in die Hand, wie die Prinzipien der Komposition des betreffenden Bildes zu verstehen seien. Notabene geben sie ihm diesen Schlüssel oft nur scheinbar. Vor allem ist das Thema eines alten, vor Jahrhunderten gemalten Bildes für uns - ohne eine ergänzende Information - oft völlig unverständlich. Und auch wenn es verstanden wird, ist es uns oft ganz fremd und irrelevant, wie ζ. B. die vielen Themen aus der griechischen Mythologie. Zweitens aber wird das eigentliche künstlerisch-malerische Problem von dem Thema aus nicht erfaßt und auch, wenn es im Bild eine interessante Lösung findet, von dem Betrachter sowohl in seinem Sinn als auch in seiner Rolle für das betreffende Kunstwerk nicht oder jedenfalls nicht recht verstanden, obwohl es im günstigen Fall mitgefühlt wird. Der Durchschnittsbetrachter, der auf solche Bilder hin erzogen wurde, ist mit dem Verstehen des Bildes in seinem literarischen Thema völlig befriedigt und bringt sich nicht zu Bewußtsein, daß es da nodi etwas anderes zu erfassen und zu verstehen gibt. Auf seine malerischen Werte reagiert er eher auf eine rein emotionale Weise, eventuell mit einer gewissen ästhetischen Befriedigung, deren Natur und deren Grundlagen im Bild er sich nicht zu Bewußtsein bringt. Nachdem er die im Bild dargestellte „Szene" verstanden hat und auf sie emotional reagierte und eventuell noch die „Treue" der „Wiedergabe" im Bild gewisser realer Gegenständlichkeiten, die er aus seinem außerkünstleri53

sdien Leben zu kennen glaubt, bewunderte, ist er zufrieden und sucht in dem Bild nichts mehr. Bei einem abstrakten Bild, auf dem er — wie man sagt - „nichts sieht" und bei dem er auch nicht weiß, was man „zu sehen hat" und was es „sein soll", vermag er eine solche Befriedigung nicht zu erlangen. Er fühlt sich dann ratlos und in seiner Ratlosigkeit und Unbeholfenheit verwirft er oft mit einer gewissen Entrüstung dasjenige, was ihm das Bild zu sehen bietet. Dazu trägt audi der Umstand bei, daß die abstrakten Bilder heute oft in naher Nachbarschaft und gewissermaßen auf dem Hintergrund der darstellenden Malerei auftreten. Der Betrachter wird dadurch immer wieder in die bei den darstellenden Bildern gemäße Einstellung zurückversetzt und vermag nicht zu der ganz anderen Einstellung, die bei der Erfassung der abstrakten Bilder nötig ist, überzugehen. Den desorientierenden Faktor bildet audi die Tatsache, daß es ja viele abstrakte oder abstrakt sein wollende Bilder gibt, welche den Betrachter selbst dazu bewegen, ihnen gegenüber die bei den darstellenden Bildern passende Einstellung einzunehmen. Denn sie selbst sind nicht genügend „abstrakt", weil sie verschiedene, nur in ihrem Aufbau etwas vereinfachte oder so oder anders deformiert dargestellte Gegenstände zur Schau stellen. Es ist dann schwer zu entscheiden, ob man es mit einem expressionistischen oder mit einem echt abstrakten Bild zu tun hat. So ist auch nicht klar, wie man es erfassen soll. Die Anfänge der Malerei der Gegenwart entwickelten sich hauptsächlich auf zwei verschiedenen Wegen: durch eine V e r e i n f a c h u n g der „natürlichen" Formen (insbesondere räumlicher Gestalten und auch der Farben) der dargestellten Dinge und durch die sogenannte „ D e f o r m a t i o n " . Beides führte man unter der Devise der Anpassung der Farbflecke, welche diese Dinge zur Darstellung bringen, an ein einheitliches koloristisches Kompositionsprinzip des betreffenden Bildes durch. Man erhielt auf diesem Wege Bilder, die gewisse, sich freilich von den in der „Wirklichkeit" gegebenen Dingen unterscheidende „Dinge" zur Darstellung brachten, wie ζ. B. gewisse Ungeheuer oder Maskarone, aber diese Dinge gehören trotz allem dem allgemeinen Typus realer und materieller Dinge an. Man erzielte zwar dadurch oft die Befreiung von literarischen Themen (oder änderte sie bloß in gewisse, unheimlich fremde oder schreckliche Themen um). Vermöge der expressiven Faktoren des Bildes kam es indessen zum Vorherrschen der ausgedrückten und aufgedrängten Stimmung, welche den Betrachter noch mehr auf die gegenständliche Interpretation des Bildes einstellte. Indessen muß man sich von dieser Einstellung völlig befreien, wenn das wirklich abstrakte Bild sich dem Betrachter in seiner 54

eigenen und eigentümlichen Gestalt zeigen soll. Was ist also jenes merkwürdige Gebilde, das wir heute das „abstrakte" Bild nennen?

B.

Der Name „abstrakte Malerei" ist aus vielen Gründen unbefriedigend. Es existiert nämlich eine Vielheit der Typen dieser Malerei, die in verschiedenem Grade, aber auch in verschiedenem Sinn „abstrakt" sind. Ich werde mich hier mit einem speziellen und an der Grenze dieser Kunst stehenden Typus der „abstrakten" Bilder beschäftigen, den ich einem Grenztypus der darstellenden Bilder gegenüberstellen werde, um einen deutlichen und scharfen Gegensatz zu erzielen. Ich gehe dagegen an vielen mittleren Typen vorbei, ohne zu leugnen, daß sie bestehen. Es kommt auf eine Vereinfachung und Begrenzung des Betrachtungsthemas an. Ich werde mich dabei der Begriffe „Schicht" und „Darstellung" bedienen, die ich anderenorts zur Analyse der Kunstwerke, und insbesondere auch des Bildes verwendet habe. 1 Zu diesem Zweck fangen wir mit den „historischen" Bildern an. Sie enthalten mehrere Schichten in sich: i . D a s historische Thema, das eine A r t Abbildung eines historischen Ereignisses ist, z.B. die „Schlacht bei Grundwald" (Tannenberg), der „KönigBatory beiPsków", die „Predigt des Paters Skarga", 2 die „Hochzeitsfeier der Katharina Medici" usw. 2. Es wird mit malerischen Mitteln eine Lebenssituation zur Schau gestellt, welche zwischen den Dingen und Menschen, die auf dem Bild gezeigt werden, besteht. Es ist das literarische Thema, das mindestens in einer gewissen Annäherung aus dem Bild abzulesen ist (was man auf ihm „sieht"): ein dunkel gekleideter Mann sitzt mit einer stolzen Miene auf einem nur zum Teil sichtbaren Sessel und hält ein Schwert auf seinen Knien; es nähert sich ihm eine Gruppe älterer Männer in einer anderen Tracht, die ihn untertänig grüßen, usw. Der Titel: „König Batory bei Psków", 3 informiert uns, um was es sich handelt. Der Betrachter errät jetzt: es ist eine Delegation aus der Festung gekommen, um sie dem König zu übergeben. Dieser Akt, mit H i l f e des Titels auf dem Bild zur Darstellung gebracht, das ist das histo1 2 3

V g l . „Untersuchungen zur Ontologie der K u n s t " , Tübingen 1 9 6 2 . S. 1 3 9 - 2 5 3 . D a s sind Bilder von J a n M a t e j k o aus der zweiten Hälfte des 1 9 . Jhs. Stephan B a t o r y w a r polnischer K ö n i g in den Jahren 1 5 7 5 - 1 5 8 6 und hat mehrere Kriege gegen Rußland geführt, in welchen er u. a. die Festung P s k ó w erobert hat. D a s Bild stellt eben den E m p f a n g einer Delegation der Stadtältesten dar, die dem K ö n i g die Deklaration der Übergabe der S t a d t überbringt. D a s Bild befindet sich gegenwärtig im Nationalmuseum in K r a k a u .

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rische Thema; es wird aber auf ihm nur eine Lebenssituation gezeigt, daß sich nämlich eine Gruppe von Männern vor einem anderen, auf einem Sessel sitzenden Menschen verbeugt. Es nehmen an ihr Dinge und Menschen teil, die im Bild gezeigt werden, und zwar in einer solchen Bewegung und einem Ausdruck, daß es zur Erscheinung ihrer gewissen psychischen Zuständlichkeiten kommt, obwohl da wiederum vieles nur zu erraten, bzw. zu vermuten ist. In ihren Mienen werden aber ihre psychischen Zuständlichkeiten so ausgedrückt, daß sie wie sichtbar vor uns stehen. Diese Menschen und Dinge sind dem Betrachter fast wie gegenwärtig da und sie werden so anschaulich imaginiert, daß es uns, den Betrachtern, so scheint, als ob wir sie wie lebendig sähen (sie sind eben „wie lebendig" da, sagt die populäre Redeweise). Wir sagen, es komme zu einer m a l e r i s c h e n Darstellung dieser Gegenständlichkeiten. Sie übersteigt die literarische Darstellung darin, daß in ihr die Gegenstände in ihren anschaulichen Eigenschaften sichtbar gemacht werden und daß sie wie gegenwärtig erscheinen. In einem literarischen Kunstwerk dagegen sind diese Gegenstände nur g e d a n k l i c h bestimmt und werden lediglich in manchen Fällen in wach gemachten Ansichten zur Anschauung gebracht. Es kommt aber trotzdem nicht zu einem Schein ihrer Selbstgegenwart für den Leser. 3. Zu diesem Schein kommt es dagegen im Bild, weil ihre Darstellung da vermöge einer im Bild rekonstruierten visuellen Ansicht der dargestellten Dinge und Menschen erreicht wird. Ihr ist zu verdanken, daß man ζ. B. die Menschen im Bild von einer Seite, unter einer bestimmten Beleuchtung und mit einem Bestand von visuellen (obwohl nicht nur rein visuellen) Eigenschaften sieht. Die Rekonstruktion dieser Ansichten geschieht auf die eine oder andere Weise, je nach der künstlerischen Richtung der Malerei und der ihr eigenen Technik, ζ. B. auf die Weise, wie sie f ü r den Impressionismus charakteristisch ist. Innerhalb des Impressionismus treten bekanntlich noch viele verschiedene Weisen der Rekonstruktion der Ansichten, der malerischen Technik usw. auf; sie ist anders bei D e g a s , anders bei C é z a n n e und wieder anders bei S i g n a c usw. 4. Jede dieser Techniken bedient sich einer Mannigfaltigkeit auf der Bildfläche entsprechend verteilter und gestalteter Farbflecke, welche die rein visuelle sinnliche Unterlage der Ansichten bilden und dem Betrachter eine mehr oder weniger kontinuierliche Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten liefern. Während er auf das Bild blickt, erlebt er sie und im Erleben der Ansichten „sieht" er die im Bild dargestellten Dinge und Menschen, wie wenn er sie visuell wahrnähme. Diese sinnliche Unterlage der Ansichten ist - wenn man so sagen darf - die unterste Schicht eines 56

Bildes mit historischem Thema, auf welcher sich die höheren Schichten aufbauen: die der Ansichten, die der dargestellten Dinge, die des literarischen Themas und endlich die des historischen Themas. Soweit in aller Kürze. 4 Nicht jedes Bild indessen hat und muß ein historisches Thema haben. Dieses Thema kann fortfallen und dann haben wir es mit einem nur ein literarisches Thema besitzenden Bild zu tun. Seine richtige Erfassung wird dabei oft erst durch den Titel des Bildes ermöglicht oder wenigstens erleichtert. Audi das literarische Thema braucht ja nicht in jedem Bild vorhanden zu sein. Dann bleiben im Bild nur drei „Schichten": a) die der sinnlichen Unterlage, b) die der rekonstruierten Ansichten und c) die der dargestellten Gegenstände. Solche Bilder können doppelter Art sein. Im ersten Fall sind die dargestellten Dinge, und insbesondere die Menschen, gewissen bestimmten individuellen realen Gegenständen mehr oder weniger sichtbar ähnlich. Sie sind dann ihre „Nachahmungen" und üben ihnen gegenüber die Funktion der „ A b b i l d u n g " aus (wobei es sozusagen sichtbar ist, daß sie diese Funktion ausüben sollen). Solche Bilder - wenn sie Personen darstellen - nennt man gewöhnlich „Porträts". Es kann aber Porträts von individuellen Dingen, ζ. B. von einem bestimmten Berg (Mont Blanc, Matterhorn) geben. Im zweiten Fall ist die Funktion des anschaulichen „Abbildens" oder „Nachbildens" gewisser außerhalb des Bildes verbleibender, realer „Modelle" nicht vorhanden. Dann ist es ein „reines" Bild. Seine Funktion besteht dann lediglich in der Zur-Schau-Stellung gewisser Gegenständlichkeiten (Dinge, Vorgänge), die gar nicht den Anspruch erheben, irgendeinen realen (außerkünstlerischen) Gegenstand abzubilden. Die in einem solchen Bild auftretenden Gegenstände (Dinge, Menschen) tun bloß so, als seien sie mehr oder weniger real oder auch „surreal". Vermöge der im Bild rekonstruierten Ansichten gelangen sie zu einer deutlichen Erscheinung und täuschen dem Betrachter ihre Selbstgegenwart vor; der Betrachter ist aber nicht gezwungen, über das Bild hinauszugehen und sein „Vorbild" in irgendeinem realen Gegenstand zu suchen, er bleibt im Bild selbst und findet in ihm selbst den zur konkreten Darstellung gelangenden sichtbar gemachten Gegenstand. Oft kommt es dabei gar wenig darauf an, was mit dem im Bild erscheinenden Gegenstand geschieht. In jeder der hier unterschiedenen Schichten des darstellenden Bildes kann man a) k o n s t r u k t i v e Elemente unterscheiden, von deren Auf4

V g l . dazu mein Buch „Untersuchungen zur Ontologie der K u n s t " , insbesondere „ D a s B i l d " , S. 1 3 9 fr.

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treten im Bild das Vorkommen gewisser sichtbarer anderer Elemente in ihm abhängt, so daß ζ. B. jede Ansicht in ihrer Beziehung zu dem in ihr erscheinenden Ding (Menschen) „konstruktiv" ist - b) die ästhetisch aktiven und wertvollen Qualitäten, die im Bild in der einen oder anderen Zusammenstellung erscheinen. Diese Gegenüberstellung ist aber nicht absolut. Es kann vorkommen, daß ein und dasselbe Element des Bildes zugleich konstruktiv sein und in sich eine ästhetisch wertvolle Qualität enthalten kann oder auch eine solche Qualität selbst ist, und umgekehrt. So können ζ. B. Ansichten in bezug auf die durch sie erscheinenden Gegenstände konstruktive Elemente des Bildes sein, zugleich aber ästhetisch wertvolle Qualitäten in sich enthalten. Und manchmal können sie gerade im Hinblick auf diese Qualitäten in das Bild eingeführt sein, während die durch sie erscheinenden Dinge in der Komposition des Bildes eine sekundäre Rolle spielen oder gar ästhetisch irrelevant sind. Ebensowohl können gewisse elementare ästhetisch wertvolle Qualitäten eine konstruktive Rolle spielen, indem ζ. B. in einer bestimmten Mannigfaltigkeit solcher Qualitäten ein synthetischer ästhetischer Wert zur Konstitution gelangt und im Bild deutlich erscheint. Es liegt dabei dem Maler daran, auf den Betrachter mit dieser sichtbaren Wertqualität zu wirken. Die im Bild erscheinenden ästhetisch wertvollen Qualitäten führen in einer entsprechenden Mannigfaltigkeit zu verschiedenen Zusammenklängen oder Disharmonien, die in den einzelnen Schichten des Bildes oder auch sozusagen zwischen den Schichten auftreten. Diese Zusammenklänge oder Disharmonien prägen sich in übergeordneten ganzheitlichen „Gestalten" aus. In den letzteren bestehen die ästhetischen Werte des Bildes und werden in ihrer Materie durch eine entsprechende Mannigfaltigkeit einfacher ästhetisch wertvoller Qualitäten eindeutig bestimmt. In den Bildern mit historischem oder literarischem Thema treten gewöhnlich Zusammenklänge verschiedenartiger Qualitäten auf, die einerseits ästhetisch wertvolle, in visuellen Momenten fundierte Qualitäten zu ihrer Grundlage haben, andererseits aber auch in außervisuellen, mit dem literarischen Thema in Zusammenhang stehenden und sichtbar gewordenen Qualitäten ihre Fundierung finden. Obwohl diese letzteren Qualitäten zum Teil nur vom Betrachter zu erraten sind, wirken sie trotzdem auf ihn oft sehr suggestiv. Die ersteren könnte man rein malerische ästhetisch wertvolle Qualitäten nennen. In ästhetisch guten, wertvollen Bildern können sie nicht fehlen, und wenn sie da sind, sollen sie in der Polyphonie der im Bild erscheinenden ästhetisch wertvollen Qualitäten überwiegen, und in wirklich guten Bildern tun sie es auch. 58

In den Bildern können Elemente auftreten, die gar keine konstruktive Rolle spielen und auch in sich ästhetisch nicht positiv wertvoll sind. Sie sind dann im Aufbau des Bildes entbehrlich und ihr Erscheinen in ihm bildet im Grunde ein negativ-wertiges Element. Mindestens zerschlägt es dann die Einheitlichkeit des künstlerischen Aufbaus des Werkes und zieht schon dadurch ein ästhetisch negativ-wertiges Moment nach sich. Es bildet bei aufmerksamer Betrachtung des Bildes einen störenden Faktor in dessen ganzheitlicher Erfassung. Man empfindet es besonders dann unangenehm, wenn die konstruktiven Elemente des Bildes der rein malerischen, ästhetisch wertvollen Qualitäten beraubt sind und nur dazu dienen, in das Bild literarische oder historische Motive einzuführen. All das bezieht sich auf die Bilder selbst. Zum Fundament ihres Seins haben sie einerseits ein reales Ding (ζ. B. ein Stück Leinwand oder Papier, das mit Farbpigmenten so oder anders bedeckt ist). Ich nenne das ein „Gemälde". Andererseits gehören zu diesem Seinsfundament die schöpferischen Bewußtseinsakte des Malers, die bei der Schaffung des Gemäldes leitend waren, und die Erfassungsakte des Betrachters, der an dem Gemälde sozusagen das Bild „ablesen" muß, um zu dem eigentlichen Objekt der ästhetischen Erfassung zu gelangen: zu dem ästhetischen Gegenstand. Wenn es zwischen den Betrachtern auf Grund der unmittelbaren Erfassung zum gegenseitigen Verständnis bezüglich des Bildes kommt (in direktem Gespräch oder vermittels der sog. „Kritik" oder einer wissenschaftlichen Untersuchung), dann vollzieht sich die Konstitution des Bildes als eines intersubjektiven Objekts, das zu seinem Seinsfundament dasselbe Gemälde und eine bestimmte Mannigfaltigkeit von sich verstehenden Betrachtern hat. Der Umkreis der Betrachter kann über eine historische Epoche hinausgehen. Dann wird die Konstituierung des intersubjektiv zugänglichen Bildes zu einem besonderen historischen Vorgang, der in andere kulturbildende Vorgänge verwickelt ist. Hieraus eröffnet sich ein besonderer geschichtlicher Vorgang, den man das L e b e n des B i l d e s in der Geschichte nennen kann. Auf dieses Leben und die Gestalt, welche das Bild in diesem Vorgang annimmt, können auch die physischen Wandlungen des Gemäldes einen Einfluß ausüben (seine Farben ζ. B. verblassen oder werden in ihrem Ton durch Schmutz verändert). Das Gemälde kann im Laufe der Zeit so verändert werden, daß die Identität des Bildes gefährdet wird.

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c. Was ist das aber sensu stricto das „abstrakte" Bild? Kurz gesagt: es ist ein Bild, das der durch Ansichten dargestellten Gegenstände beraubt ist. Wenn es aber in ihm keine derartigen Gegenstände gibt, so kann es nur deswegen sein, weil in ihm auch keine visuellen Ansichten vorhanden sind. Wenn sie vorhanden wären, dann müßten sich aus ihnen die in ihnen erscheinenden dargestellten Gegenstände ergeben. Was bleibt also in einem „abstrakten" Bild noch übrig? Wie es scheint, lediglich ein Bestand bestimmt gestalteter und audi auf eine bestimmte Weise in dem Bild räumlich geordneter Farbflecke, Lichter und Schatten, die dem Betrachter eine Mannigfaltigkeit der sog. visuellen Empfindungsdaten liefern. Indessen sind es - anders als in einem darstellenden Bild - keine Empfindungsdaten, die vom Betrachter bloß erlebt würden und ihm die Konstitution der Ansichten und damit auch das Erscheinen der dargestellten Gegenstände ermöglichten. Sie werden jetzt zu O b j e k t e n , die beim Zusammenauftreten zu Aufbaufaktoren des Bildes als eines einheitlichen übergeordneten G e g e n s t a n d e s der ästhetischen Erfassung werden. In einem „abstrakten" Bild werden gewisse Zusammenstellungen von Farben, Lichtern und Schatten und die in ihnen (oder vielleicht besser gesagt: aus ihnen) sich bildenden farbigen Ganzheiten d i r e k t g e z e i g t . Sie werden vom Betrachter n i c h t bloß e r l e b t ; sein Erfassungsakt bezöge sich dann auf etwas anderes, richtete sich eben auf einen dargestellten Gegenstand und erfaßte ihn gegenständlich. Sie werden s e l b s t als Elemente des ganzen Bildes, bzw. als dieses buntfarbige Bild selbst wahrgenommen und der Blick des Betrachters verweilt bei ihnen, bzw. bei den Eigenheiten des sich aus ihnen aufbauenden Ganzen. Sie geben ihm keinen Anlaß dazu, über sie selbst hinaus zu einer kleinen Welt dargestellter, erscheinender, aber doch fiktiver Dinge und Menschen überzugehen. Sie zwingen den Betrachter im Gegenteil, bei ihnen selbst zu bleiben und sie selbst als besondere Objekte für sich zu erfassen. Man sollte infolgedessen von „zeigenden" und nicht von „abstrakten" Bildern oder noch besser - wie dies ζ. B. von Hans A r p mit Recht gefordert wurde - von „konkreten" Bildern sprechen. „Abstrakt" können solche Bilder vielleicht nur in dem Sinne genannt werden, daß in ihnen gar keine dargestellten Gegenstände auftreten, die ein gewisses Analogon zu den in der außerkünstlerischen Wirklichkeit in der Wahrnehmung gegebenen Dingen bildeten, daß in solchen Bildern gewissermaßen von ihnen „abstrahiert" wird. Streng gesprochen aber besteht in ihnen kein Bedürfnis, von diesen Gegenständen zu abstrahieren, da ein 60

streng „abstraktiv" gebautes Bild gar nicht zur Konstituierung der dargestellten Gegenstände führt. Man könnte aber auch sagen, daß die Farben selbst etwas in sich „Abstraktes", also ein seinsunselbständiges Moment einer farbigen Sache (Dinges) sind. Damit man sie allein für sich in der Gegebenheit besitzt, sei es notwendig, von diesen Sachen zu „abstrahieren". Erst dann hätten wir es mit reinen Farbqualitäten und den in ihnen sich konstituierenden synthetischen Ganzheiten zu tun. Nun, ob es wirklich so ist oder ob es möglich ist, sich der Kontemplation der reinen Farben und ihrer Zusammenstellungen hinzugeben - das ist ein prinzipielles Problem der Möglichkeit einer „abstrakten" Malerei. Wenn aber ein „abstraktes" Bild nichts anderes ist, als eine räumlich geordnete Mannigfaltigkeit entsprechend gewählter und gestalteter Farbflecke auf einer realen Unterlage, dann scheint es im ersten Augenblick, daß dieses Bild einfach mit dem Gemälde identisch ist. Die Gegenüberstellung dieser Gegenständlichkeiten - der des Bildes und der des Gemäldes - wäre also nur im Fall der darstellenden Bilder richtig und falls man den abstrakten Bildern das Kunstwerksein zuerkennen müßte, dann müßte auch die allgemeine Auffassung, daß Kunstwerke rein intentionale Gegenstände seien, die in gewissen physischen Gegenständen nur ihr Seinsfundament finden, fallen gelassen werden. Es liegt da der Gedanke nahe - den ich in der ersten Fassung der Abhandlung „Der Aufbau des Bildes" im Jahre 1928 und auch in der polnischen im Jahre 1946 in Krakau publizierten Redaktion ausgesprochen habe - , daß das abstrakte Bild nichts anderes als ein d e k o r a t i v e s Gebilde besonderer A r t sei, das sich in das Werk der Architektur, in dessen Rahmen es erscheint, als Element einfügt. Folglich müßte ein abstraktes Bild - wenn es seine künstlerische Funktion im architektonischen Ganzen erfüllen soll - an die Struktur und die anderen dekorativen Momente dieses letzten Werkes angepaßt werden. Es müßte demselben in seinem künstlerischen Sinne untergeordnet werden und wäre auch infolgedessen in seinem künstlerischen Sinne unselbständig. Diese Auffassung ist aber bei unseren Malern, insbesondere bei dem Maler und Professor an der Kunstakademie in K r a k o w W. T a r a n c z e w s k i auf Widerstand gestoßen. Die entgegengesetzte Auffassung lautet somit: Ein abstraktes Bild sei nicht und brauche audi nicht ein dekoratives Gebilde zu sein, da es in sich ein selbständiges künstlerisches Ganzes bildet, sofern es natürlich ein „gutes" abstraktes Bild ist. Ich versuchte diese Idee in der neuen Redaktion der Abhandlung „Der A u f bau des Bildes" im II. Band meiner in polnischer Sprache im Jahre 1 9 5 7 erschienenen „Studien zur Ästhetik" und später auch in den „Untersu61

chungen zur Ontologie der Kunst" ( 1 9 6 1 ) zu realisieren und näher zu begründen. Hier will ich dieses Problem von einem anderen Standpunkt aus aufs neue erwägen. Um nämlich zu erweisen, daß ein „zeigendes" und nicht darstellendes „konkretes" Bild ein in sich geschlossenes künstlerisches Ganzes sein kann, muß man sich vor allem eine Reihe der Postulate, die an ein solches Gebilde gestellt werden, zu Bewußtsein bringen. Und zwar: ι . Die einzelnen Farbflecke, die an der Oberfläche des Gemäldes verteilt werden, müssen in ihrer Qualität, ihrer räumlichen Gestalt und ihrer gegenseitigen Anordnung a n d e r s sein als diejenigen, die normalerweise die Funktion der sinnlichen empfindungsmäßigen Unterlage einer Ansicht eines realen materiellen Dinges und auch z. B. insbesondere eines menschlichen Leibes bilden. Im entgegengesetzten Fall müßte allein ihre Anwesenheit an der Oberfläche eines Holzstückes oder einer Leinwand die Funktion der „Empfindungsdaten" beim Wahrnehmen dieses Holzes oder der Leinwand übernehmen und eben damit zur Konstituierung einer bestimmten Ansicht (oder auch einer Mannigfaltigkeit solcher Ansichten) führen, welche uns ermöglichte, dieses Stück Holz oder die Leinwand schlicht wahrzunehmen. Diese Funktion soll aber gerade durch das „abstrakte" Bild n i c h t erfüllt werden, dieses Bild soll nicht als bemaltes Holz gegeben werden. 2. Obwohl die Farbflecke auf der Oberfläche eines realen Gemäldes auftreten und auf ihr verteilt werden, müssen sie so konstruiert und angeordnet werden, daß sie dem Betrachter nicht als E i g e n s c h a f t e n d i e s e s Gemäldes (nicht als seine Eigenfarbe) gegeben werden, sondern als etwas, was in seiner Mannigfaltigkeit und Anordnung für sich selbst ein Ganzes für sich und als das eigentliche Objekt der Perzeption gegeben wird, daß es also dem Betrachter als ein abstraktes Bild und nicht als so etwas Ähnliches wie mehrfarbige Tarnanzüge erscheint, wie sie im letzten Krieg die deutschen Soldaten getragen haben, damit sie sich von der Ferne aus vor dem Hintergrund eines bepflanzten Feldes nicht abhoben. Die Bedingung dessen, was da von den Farbflecken als den Elementen eines abstrakten Bildes gefordert wird, ist es, daß die Oberfläche des Gemäldes aus dem Blickfeld des Betrachters verschwindet und der eventuell zur Sicht gelangende Untergrund sich in das Ganze des Bildes einfügt. 5 5

Diesen Gedanken spricht Charles Pierre B r u in seinem Buch „Esthétique de l'abstraction", Paris 1 9 5 4 , aus. E r unterscheidet aber trotzdem nicht das Bild von dem Gemälde und hat eben damit Schwierigkeiten bei der Formulierung seiner im Prinzip richtigen Behauptung. Denn er muß folglich sagen, daß in einem „ a b -

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3· Im Zusammenhang damit müssen die Farbflecke und ihre Anordnung so in dem abstrakten Bild komponiert werden, daß sie die A u f merksamkeit des Betrachters auf sich selbst als auf ein Objekt der ästhetischen Perzeption lenken und nicht bloß als Empfindungsdaten erlebt werden, wie sie dies in einem darstellenden Bild tun, w o sie nur zu dem sinnlichen Untergrundsmaterial einer Ansicht herabgesetzt werden. 4. Die Mannigfaltigkeit der Farbflecke eines abstrakten Bildes muß sich irgendwie - von selbst oder mit Hilfe irgendwelcher anderer Mittel (ζ. B. des Rahmens) — von der architektonischen Umgebung, in welcher sich das Bild notwendigerweise befindet, a b h e b e n . Alle im Bild vorhandenen Farbflecke müssen e i n in s i c h g e s c h l o s s e n e s , i n nerlich zusammenhängendes, keinem äußeren K o m p o s i t i o n s p r i n z i p u n t e r l i e g e n d e s G a n z e s bilden. Die auf diese Weise entstehende künstlerische Einheit ist von ihrer Umgebung unabhängig, darf aber mit ihr keinen künstlerischen Widerstreit bilden, denn auch dies würde das Bild in einen gewissen Zusammenhang mit der Umgebung hineinziehen und mit der Vernichtung seiner Selbständigkeit drohen. Daraus ergibt sich das Postulat: 4. a) Die architektonische Umgebung eines abstrakten Bildes soll in ihrer künstlerischen Gestaltung möglichst n e u t r a l sein. In der Folge gestaltete man die einheitlich grauen Wände der heutigen Ausstellungssäle und ließ eine verhältnismäßig gelockerte Aufhängung der einzelnen Bilder nebeneinander bestehen, damit sie sich in ihrer künstlerischen Funktion nicht gegenseitig störten. Auch der Rahmen dient dazu, die möglichen künstlerischen Konflikte zwischen dem Bild und der Umgebung zu beseitigen.® 5. Die Anordnung der Farbflecke im abstrakten Bild soll so gestaltet werden, daß bei der Erfassung durch den Betrachter sowohl das Ganze als auch dessen eventuelle Elemente gewissermaßen in der Bekleidung strakten" Bild die Oberfläche des Bildes (du tableau) verschwindet. Ohne über den Begriff des Gemäldes (in unserem Sinne) zu verfügen, spricht er manchmal v o m „ s u p p o r t " ; diese ganze Frage ist aber bei ihm nicht bearbeitet. Auch J . P. S a r t r e führt in seinem Buch „ L ' i m a g i n a i r e " die Unterscheidung zwischen dem „ G e m ä l d e " und dem „ B i l d " nicht ein und ist infolgedessen gezwungen, von dem Bild als einem „ D i n g " zu sprechen. Nicht anders ist es bei M . H e i d e g g e r und E . G i l s ο η. A l l e diese Verfasser operieren also mit einem widerspruchsvollen Begriff des Bildes und des Kunstwerks überhaupt. E s erübrigt sich, hier eine Diskussion mit ihnen zu führen. β

Dieses Postulat gilt natürlich auch bezüglich der darstellenden Bilder, sie sind aber gegenüber diesen möglichen Störungen nicht so empfindlich w i e die abstrakten Bilder.

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mit ästhetisch aktiven und wertvollen Qualitäten gegeben werden, wobei die Auswahl dieser Qualitäten gemeinsam zur Konstituierung eines einheitlichen ästhetischen Wertes führen soll. Diese Qualitäten sollen vor allem rein visueller, „malerischer" Natur sein. Genauer gesagt: sie sollen an visuellen Qualitäten in entsprechender Auswahl und Anordnung zur Erscheinung kommen, außerdem aber solche Qualitäten sein, die zu anderen Gruppen gehören, aber in sinnlichem Material gegründet sind, Qualitäten wesentlich emotionaler Art, audi Ausdrucksphänomene wie ζ. B. des Unbehagens, der Ruhe, der Freude und der geistigen Glückseligkeit oder im Gegenteil der Trauer, des Tragischen usw. Es besteht dabei eine merkwürdige Tatsache: Wenn diese Ausdrucksphänomene in realen Situationen des täglichen Lebens auftreten, dann können sie in sich selbst gar keinen Charakter des ästhetischen Wertvollseins aufweisen, sie können ihn aber annehmen, sobald sie ζ. B. auf der Grundlage eines besonderen Zusammenklanges der Färb- und Gestalt-Qualitäten auftreten. Das zentrale, materiale und nicht formale Kompositionsproblem des abstrakten Bildes besteht infolgedessen darin, welche Auswahl und welche Anordnung der Farbgestalten zur Konstituierung der ästhetisch wertvollen Qualitäten und insbesondere zur Erscheinung gewisser ästhetisch wertvoller Ausdrucksqualitäten unentbehrlich, bzw. auch hinreichend sind. Denn erst die Anwesenheit solcher Qualitäten im Bild kann es mit sich bringen, daß ein rein visuelles Gebilde ein Kunstwerk wird, das eine für sich abgesonderte Ganzheit bildet und nicht in eine Vielheit ästhetisch neutraler Farbflecke zerfällt. Erwägen wir jetzt die Möglichkeiten der Realisierung der angegebenen Postulate: ad ι . Die einzelnen im Bild auftretenden Farbflecke können im Prinzip in ihrer Qualität, Helligkeit und Sättigung von den Farben der Dinge in der realen Welt, bzw. von der sinnlichen Unterlage der Ansichten dieser Dinge nicht radikal verschieden sein. Sie können sich von ihnen lediglich a) hinsichtlich der räumlichen G e s t a l t des einzelnen Farb-Fleckes, 7 b) hinsichtlich der A u s w a h l der im Bild auftretenden Farbflecke und insbesondere ihrer Qualitäten, 8 c) hinsichtlich der V e r 7

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Daraus hat sich bei den ersten Versuchen, abstrakte Bilder zu sdiaffen, die Tendenz ergeben, „Deformationen" in das Bild einzuführen, um sich von den im täglichen Leben wahrgenommenen dinglichen Vorbildern zu befreien. Eine Operation, die bekanntlich nicht zu einem abstrakten Bild sensu stricto führen konnte. Daraus entstehen die Versuche, das abstrakte Bild mit Hilfe ganz anderer F a r benskalen oder „Tonationen" als derer, welche in der natürlichen Welt vorhanden sind, zu gestalten. Daraus ergeben sich auch die Versuche, diese verschiedenen Skalen und Tonationen in einzelnen Bildern zu verwenden, die in ihrem stark

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t e i l u n g der Farbflecke nebeneinander im Rahmen des Bildes unterscheiden. Von diesen drei Momenten oder mindestens von einigen von ihnen hängt es also ab, daß die Mannigfaltigkeit der Farbflecke in einem abstrakten Bild keine A n s i c h t eines Dinges, und zwar weder die eines dargestellten Dinges noch die des Gemäldes selbst, konstituiert. Dies scheint im Prinzip gar nicht ausgeschlossen zu sein und es gibt tatsächlich Bilder, welche dieses Postulat erfüllen. In der Mehrzahl der Bilder, die deutliche Tendenzen aufweisen, abstrakt zu sein, führen die in ihnen vorhandenen Farbflecke dazu, daß der Betrachter unter ihrem Einfluß unwillkürlich gewisse außergewöhnliche Dinge (fantastische „Blumen", „Pflanzen", „Steine" u. dgl. m.) zu sehen glaubt. Die Farbflecke üben dann, trotz allem, die Funktion der sinnlich-qualitativen Unterlage gewisser Ansichten aus, welche ihrerseits dem Betrachter gewisse Dinge oder dingähnliche Gebilde zur Erscheinung bringen, so sehr sie sich auch von den gewöhnlich in der realen Welt anzutreffenden Dingen unterscheiden mögen. Es sind dann sozusagen halbabstrakte Bilder. Sie können zwar gewisse ästhetisch wertvolle Aspekte an sich tragen und somit Kunstwerke sein, sie bilden aber dodi nicht den reinen Fall eines abstrakten Bildes. Wenn es in allen Bildern zu der Konstituierung soldier Ansichtengestaltungen käme, die dem Betrachter bloß außergewöhnliche und in der Natur nicht vorhandene Dinge erscheinen lassen, so bedeutete dies, daß sich das Postulat einer absoluten Abstraktheit des Bildes praktisch nicht realisieren ließe. Angesichts der bereits angegebenen Tatsachen scheint es nicht so zu sein, sofern bei der Realisierung des Postulats nicht andere Schwierigkeiten auftauchen. ad 2. Die Schwierigkeit der Realisierung dieses Postulats - die Glasmalerei in den Fenstern ausgenommen — liegt darin, daß die die Oberfläche des Gemäldes bedeckenden Farben immer nur sogenannte Oberflächenfarben sind.9 Wir finden sie im täglichen Leben an den undurchsichtigen materiellen Dingen vor, und sie sind an ihrer Oberfläche deutlich lokalisiert und machen sie zugleich sichtbar. Sie unterscheiden sich von den Raumfarben (z. B. des „Weißweins" im Glas) und von den Flächenfarben z. B. des reinen Himmels. Wenn wir auf die Oberfläche des Gemäldes gewisse Farbpigmente legen, so entsteht eine Oberflächen-

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vereinfachten Thema einander mehr oder weniger verwandt sind. Als Beispiel können hier die Bilderserien von W. T a r a n c z e w s k i dienen. Vgl. dazu die Arbeiten von Heinrich H o f m a n n „Uber den Empfindungsbegrifî". In: Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. 26, 1 9 1 3 . S. 1 - 1 3 6 ; und von David K a t z „Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung". In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Erg.Bd. 7, 1 9 1 1 .

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Farbe, deren natürliche Funktion darin liegt, daß sie die O b e r f l ä c h e des G e m ä l d e s deutlich zur Erscheinung bringt. Man braucht erst verschiedene besondere Vorkehrungen und Kunstgriffe, um diese Funktion der Farbe irgendwie zu neutralisieren oder sie sozusagen auf ein anderes Ding zu lenken, wenn man z.B. auf einem Bild den reinen „blauen" Himmel malen will. Lediglich in der Glasmalerei läßt sich dieser Charakter der Oberflächenfarben - wenn wir auf ein von außen beleuchtetes Fenster blicken - ein wenig dämpfen, obwohl er nie völlig beseitigt wird, denn hier kann auch die Raumfarbe des Glases selbst durchscheinen. Die Kunstgriffe, die man in einem darstellenden Bild anwenden kann, um den Eindruck einer Flächenfarbe hervorzurufen, lassen sich aber nicht in einem abstrakten Bild anwenden. Im darstellenden Bild ist es auch möglich, durch die Bedeckung der Oberfläche des Gemäldes mit Farbpigmenten die Oberflächen der dargestellten Dinge — der Häuser, Geräte und Menschen - zu zeigen und die Oberfläche des Gemäldes fast zum Verschwinden zu bringen. Fallen aber die dargestellten Dinge fort, so taucht wiederum die bemalte farbige Oberfläche des Gemäldes auf. Es ist dann außerordentlich schwierig, nur mit Hilfe einer Mannigfaltigkeit von nebeneinander gelegten Farbflecken den Charakter der Oberflächenfarbe zu überwinden und die Oberfläche des Gemäldes aus dem Gesichtsfeld zu beseitigen, und damit das Auftreten r e i n e r F a r b e r s c h e i n u n g e n oder, anders gesagt, des a b s t r a k t e n B i l d e s zu ermöglichen. Es scheint trotzdem, daß es solche Bilder gibt, in welchen dies mindestens bis zu einem gewissen Grade erreicht wurde. 10 Dann tritt aber oft das Phänomen eines quasidreidimensionalen Raumes auf, der sich zwar nicht deutlich abzeichnet, aber doch vorhanden ist. Der Anschein einer reinen Flächenfarbe entsteht zwar, aber die Funktion, etwas anderes als die Farbe selbst zur Erscheinung zu bringen, wird nicht völlig beseitigt. Wir befinden uns da also wiederum an der Grenze zwischen einem abstrakten und einem halbabstrakten Bild. Wenn dabei die Qualität, die Gestalt und die räumliche Verteilung der Farben im Bild der Konstituierung der Ansichten nicht entgegenwirkt, dann erhält man sofort statt eines halbabstrakten Bildes ein darstellendes Bild. Bei der überwältigenden Mehrzahl der Bilder, die für „abstrakt" gelten, hat man es tatsächlich mit gewissen mit Farben bunt befleckten Oberflächen eines Gemäldes zu tun; meistens gibt es dann einen Hintergrund, auf dem mehr oder weniger regelmäßige geometrische Figuren, 10

Dies sind z . B . die frühen Bilder von K a n d i n s k y .

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ζ. Β. kleine Quadrate, Kreise, Dreiecke usw. gemalt sind. Es werden da zwar keine fiktiven Gegenstände in Ansichten dargestellt, dafür aber werden im Bild gewisse konkret gestaltete, zweidimensionale Figuren g e z e i g t . Oft ist es übrigens nicht verständlich, warum sie eigentlich zusammen auftreten und gerade so und nicht anders auf der Bildoberfläche angeordnet sind. Wenn die Farbflecke, die die Oberfläche des Gemäldes bededien, weniger reguläre räumliche Gestalten haben und zugleich verschwommener sind, verschwindet die Oberfläche des Gemäldes gewöhnlich gleichfalls nicht, weil sie Oberflächenfarben bedecken, wobei noch die Farbflecke manchmal mit ihrer Gestalt an gewisse Gegenstände, die im Bild nicht dargestellt werden, erinnern. Der Betrachter geht infolgedessen von dem Gemälde nicht zu einem abstrakten Bild über. Man hat es dann eher mit einer eigenartigen Dekoration als mit einem abstrakten Bild zu tun, d. h. mit einer selbständigen Farb-Komposition, welche über das Gemälde selbst hinausragt und es zu vergessen erlaubt. Mit anderen Worten: Da in der abstrakten Malerei notwendigerweise Oberflächenfarben verwendet werden, die die Oberfläche des Gemäldes bedecken, sind viele „abstrakte" Bilder tatsächlich nicht „abstrakt" sensu stricto. Und dann sind lediglich gewisse dekorative Werte fähig, das betreffende Werk als künstlerisches Gebilde von einem bemalten Stück Holz oder Leinwand zu unterscheiden. Auch dann aber hängt alles noch davon ab, ob die Farbflecke die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich selbst zu lenken fähig sind - und dadurch zum Objekt des ästhetischen Erlebens werden können oder ob sie vom Betrachter nur so erlebt werden, wie es die sinnliche Unterlage einer visuellen Ansicht ist. Dies führt uns zur Erwägung des nächsten Postulats: ad 3. Die einzelnen Farbflecke vermögen lediglich durch eine gewisse Ungewöhnlichkeit ihrer räumlichen Gestalt und durch ihre Verteilung auf der Gemälde-Oberfläche die Aufmerksamkeit des Betrachters direkt auf sich zu lenken, wodurch sie selbst zu Objekten der ästhetischen Erfassung werden und aufhören, lediglich die sinnliche Unterlage einer Ansicht zu sein. Diese Ungewöhnlichkeit der Gestalt und der Verteilung im Feld des Bildes ist in vielen Bildern der letzten Jahrzehnte (ζ. B. in den „tachistischen" Bildern) aufgetreten. Entstehen aber dadurch im Bild nicht n e u e G e g e n s t ä n d e ? Freilich nicht in Ansichten dargestellte, sondern konkret und direkt im Bild (oder vielleicht am Gemälde) g e z e i g t e Gegenstände, aber es sind doch G e g e n s t ä n d e und nicht reine Z u s a m m e n k l ä n g e d e r F a r b q u a l i t ä t e n , wie dies in einem „abstrakten" Bild postuliert werden sollte. 67

Tatsächlich ist dies vielleicht der am gewöhnlichsten vorkommende Fall unter den Bildern, die „abstrakt" zu sein versuchen, aber doch die volle Abstraktion in dem oben angegebenen Sinne nicht erreichen. Und ob von da aus nicht Wege zu einer neuen Weise des Darstellens dessen führen, was - streng gesagt - nicht „dargestellt" werden soll, sondern per analogiam, durch suggerierte, aber nicht voll realisierte Ähnlichkeit der im Bild (auf dem Gemälde?) gezeigten „Figuren" mit gewissen realen Dingen, ihren Teilen oder Seiten, den Betrachter zum Vorstellen dieser Dinge bringen - das ist eine Frage, die noch genauer erwogen werden soll. (Vgl. manche Bilder von P i c a s s o . ) Sicher ist jedoch, daß der Betrachter, der nicht genau weiß, wie er sich dem sog. „abstrakten" Bild gegenüber zu verhalten und was er in ihm zu suchen hat, oft auf das Suchen nach neuerlichen Gegenständen verfällt, die sich ihm lediglich vermöge gewisser farbiger Figuren auf dem Bild aufdrängen, die aber doch, streng gesprochen, im Bild gar nicht dargestellt werden, sondern bestenfalls als das wahrscheinlich zu Erratende vorgestellt werden. ad 4. Die künstlerische und ästhetische Abgrenzung eines abstrakten Bildes kann lediglich durch die Entwerfung eines selbstgenügsamen Zusammenklanges entsprechend qualifizierter Farbflecke erreicht werden, so daß der Betrachter nicht genötigt wird, gedanklich oder mit imaginativen Vorstellungen über das betreffende Bild hinauszugehen. Die Verwendung der H i l f e eines Rahmens zur Abgrenzung des Bildes ist eher ein Kunstgriff als ein echt künstlerisches Mittel und reicht übrigens gewöhnlich gar nicht aus. Wenn dasjenige, was innerhalb des Rahmens sich befindet, keine innerlich zusammenhängende Kompositionseinheit eines visuellen Ganzen liefert, wenn alles, was in ihr auftritt, nicht auf solche Weise ihr zugehört, daß jede Änderung einen inneren Zerfall des Bildes in disjecta membra gewisser Art nach zieht, wenn über dieser Einheit sich nicht eine einheitliche Atmosphäre ästhetischen Charmes befindet, welche mit ihrer eigentümlichen Färbung alles und nur das umfaßt, was „im" Bild zur Erscheinung gelangt - dann kann kein Rahmen etwas helfen. Wir haben es mit einer Mannigfaltigkeit von Einzelheiten zu tun, die zwar nebeneinander auftreten, sich aber weder gegenseitig fordern noch aufeinander modifizierend wirken und sich darin eben ergänzen, und die - wie man sagt - „man weiß nicht, warum" sich in dem Bereich einer mit dem Rahmen abgegrenzten Oberfläche des Gemäldes gefunden haben. In dieser Hinsicht versagen sehr oft die tatsächlichen Gebilde der sog. „abstrakten" Malerei. Entweder zerfällt das Bild in mehrere Zentren des Zusammenklanges oder es tritt eine Vielheit von Farbflecken, von 68

Qualitäten oder von räumlichen Gestalten (Figuren) auf, so daß man jenen vom Betrachter erwarteten qualitativen Zusammenklang, die letzte einheitliche, wertvolle Eigenausprägung der künstlerischen Individualität am Kunstwerk nicht erfassen kann. Es erhebt sich natürlich die Frage, ob es ein allgemeines, nicht rein formales Kompositionsprinzip des Aufbaus der abstrakten Bilder gibt, nach welchen innerlich geschlossene und von der Umgebung unabhängige Einheiten des wertvollen qualitativen Zusammenklanges gebildet werden können, und zweitens, was das gegebenenfalls für ein Prinzip ist. Bei dem gegenwärtigen Stand der Sachen, d. h. im Hinblick auf den bis jetzt vorhandenen Bestand an abstrakten Bildern und zugleich bei dem jetzigen Stand des theoretischen Wissens über die „abstrakte" Kunst, kann man auf diese Frage keine befriedigende Antwort geben. Es ist wohl möglich, daß es kein solches allgemeines Prinzip gibt. Bei jedem neuen Bild wäre dann ein neues Kompositionsprinzip zu suchen. Vielleicht bestimmt ein Farbfleck auf der Leinwand bereits eindeutig den ganzen Rest des Farbzusammenhanges, der ihn ergänzt, vielleicht läßt er aber auch mehrere derartige Farbzusammenhänge zu, die ihn auf verschiedene Weise ergänzten. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die ganze bisherige abstrakte Malerei für ein großes Experiment halten, in welchem man nach einem Prinzip (oder nach verschiedenen Prinzipien) der Kohärenz und Einheitsbildung vieler miteinander auftretender Farbqualitäten und Gestalten zu einem innerlich verbundenen Ganzen sucht. Zugleich erhält man auch den Eindruck, daß viele von diesen Experimenten mißlungen sind, daß man also die richtige Lösung nicht gefunden hat, und daß somit eine überwiegende Anzahl der vorhandenen abstrakten Bilder nur disjecta membra, sich im Zerfall befindende Gebilde sind, die im ästhetischen Erlebnis zu keinem wertvollen Gegenstand führen. Aber auch diese sich im Zerfallszustand befindenden, unausgereiften Bilder der abstrakten Kunst können ein wertvolles Material zur Untersuchung der grundlegenden Weisen der künstlerischen Gestaltung bilden. Man kann sich von diesem Material belehren lassen, warum manche Zusammenstellungen von Farben und Gestalten kein einheitliches ästhetisch wertvolles Ganzes bilden, und warum andere Zusammenstellungen es eben tun. Da sieht man auch deutlich, daß die abstrakte Malerei eine viel schwierigere Kunst als die darstellende Malerei ist und daß sie in dieser Hinsicht der Musik nahe steht. ad j . Kann und soll man das Postulat 5 überhaupt mit Hilfe der Mittel, über die die abstrakte Malerei verfügt, realisieren? und wenn ja, wie? - das ist die schwierigste von den Fragen, die sich einem Kunst69

theoretiker aufdrängen. Welches sind die a l l g e m e i n e n Bedingungen des Erscheinens der ästhetisch wertvollen Qualitäten auf der Grundlage rein visueller Momente (der Farben, Lichter, Schatten und der räumlichen Gestalten)? - das ist eine Frage, die bis jetzt theoretisch gar nicht gelöst wurde. Die Unterscheidung der ästhetisch wertvollen Qualitäten und der Wertqualitäten selbst wurde erst seit einiger Zeit durchgeführt. Soweit mir bekannt ist, kann man eine solche Scheidung bei Johannes V o l k e l t in der 2. Auflage seines „Systems der Ästhetik" (Bd. 1) vermuten, aber sie ist bei ihm nicht effektiv begrifflich durchgeführt. Die Entdeckung der allgemeinen Beziehungen und Zusammenhangsgesetze zwischen den Qualitäten dieser drei Typen gehört aber noch der Zukunft an. Man kann indessen sagen, daß die abstrakte Malerei mit jedem gelungenen Bild ein schöpferisches Experiment im Rahmen des reinen Sehens ist, das zur Entdeckung der notwendigen Zusammenhänge zwischen den Qualitäten dieser drei Kategorien führt; leider liefert es oft negative Ergebnisse. Wenn aber auch ein solches Experiment positiv verlaufen ist, d. h. wenn der Betrachter in der unmittelbaren Erfassung eines abstrakten Bildes zu der Uberzeugung kommt, daß eine ästhetische Wertqualität in dem betreffenden Bild in reiner Sichtbarkeit gegründet ist und daß ihre farbige Unterlage sich aus den Beziehungen zwischen ihren Elementen ergibt und f ü r die Wertqualität notwendig ist, so bietet doch die Aufgabe, von der unmittelbaren Erfassung eines solchen Zusammenhanges zu einer b e g r i f f l i c h e n F a s s u n g des Gesetzes, dessen individueller Fall in dem betreffenden Bild realisiert wurde, überzugehen, eine neue theoretische Schwierigkeit, die nur in sehr wenigen Fällen überwunden wurde. Gustav Theodor F e c h n e r w a r vielleicht der erste Theoretiker, der die Existenz solcher Gesetze vermutete und sie auch gesucht hat, obwohl die von ihm zur Entdeckung solcher Gesetze verwendete Methode nicht richtig war. Die Behandlung solcher Gesetzmäßigkeiten als gewisser p s y c h i s c h e r Regelmäßigkeiten der Empfindungsverläufe und des Gefallens, die beim Menschen im Verkehr mit gewissen künstlerisch gestalteten Gegenständlichkeiten vorkommen, bildete eine μετάβασις εις αλλο γένος. Seine Behauptung aber, daß visuell gegebene geometrische Gebilde, deren Seiten in dem Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen, ästhetisch positiv wertvoll seien, scheint doch richtig zu sein. 11 Diese Schwierigkeiten bringen uns aufs neue zu Bewußtsein, daß die abstrakte Kunst, und insbesondere die abstrakte Malerei, sehr schwierig 11

F e c h n e r hat übrigens nur gefunden, daß solche Gebilde g e f a l l e n .



ist. Der Künstler muß in einer besonderen intuitiven Phantasie die ästhetisch wertvollen Qualitäten und ihren besonderen Zusammenklang, der eine Wertqualität fundiert, im voraus sehen, bevor er dazu kommt zu entdecken, welche Grundlage rein visueller Qualitäten (der Farben, des Lichts und der räumlichen Gestalten) zur Konstituierung einer beabsichtigten Wertqualität führt. Natürlich kann man viel erzielen, wenn man den einfachen Versuch macht, Farben und Farbflecke nebeneinander zu legen. Viele von diesen Versuchen werden aber zu einem Mißerfolg führen. Und dies wird so lange dauern, bis man die allgemeine Antwort auf die Frage findet, wie man einen notwendigen Zusammenhang zwischen visuellen Qualitäten hervorrufen soll, der zur Erscheinung bestimmter ästhetisch wertvoller Qualitäten und zu einer darauf anschaulich auftretenden Wertqualität führt. Die Antwort auf diese Frage wird durch die Umstände erschwert, auf die ich schon hingewiesen habe. Dazu treten noch die folgenden auf: ι. Jede Farbe erfordert von sich aus i r g e n d e i n e räumliche Gestalt des Farbfleckes, in dem sie konkretisiert wird, sie erzwingt aber gar keine b e s t i m m t e räumliche Gestalt. Jede bestimmte Gestalt, welche sich nicht aus der Gestalt einer farbigen Sache ergibt, wird einem Farbfleck auf Grund einer freien Entscheidung des Künstlers verliehen und ist somit etwas vollkommen Willkürliches. Ein gewisser Zusammenhang zwischen der Farbqualität und der Gestalt des Farbfleckes kann erst aus der R o l l e entstehen, welche dieser Fleck in einer Anordnung mehrerer Farbflecke spielen soll. Um aber diesen Zusammenhang zu treffen und ihn zu realisieren, muß man diese noch nicht realisierte Anordnung gewissermaßen im vorhinein in fictione kennen. 2. Die Farbe allein (d. h. die Qualität + ihre Helligkeit + ihr Sättigrungsgrad) modifiziert im gleichzeitigen Kontrast die Bestimmung ihrer unmittelbaren Umgebung und unterliegt selbst einer korrektiven Modifizierung, die von ihrer Umgebung herrührt. Dies bildet gewissermaßen den Anfang des Einflusses der Farben - und in der Folge der konkreten nebeneinander gelagerten Farbflecke - aufeinander und liefert damit die Grundlage dessen, was zur Bildung eines rein farbqualitativen Zusammenklanges notwendig ist. Die anderen sehr komplizierten und sehr verschiedenartigen Fälle sind noch zu entdecken. 3. Eine viel bedeutendere Erscheinung, die begrifflich zu fassen sehr schwierig ist, ist der sogenannte „Farbakkord", der zwischen zwei und mehr Farbflecken innerhalb einer beschränkten Fläche besteht. Die Aufgabe der Erfindung oder Entdeckung eines erwarteten Akkords und zugleich der begrifflichen Bestimmung seiner Glieder sowie der abgeleiteten 71

Qualität des ganzen Akkords wird durch den Umstand erschwert, daß es - wie es scheint - verschiedene mögliche Akkorde zwischen den Farben gibt und die Feststellung der Gesetze des Zusammenhanges oder der Auswahl der Farben, welche diese Akkorde hervorrufen, befindet sich bis jetzt - wie man weiß - noch in einem Anfangszustand. Die konkrete Malerei sowie gewisse theoretische Nachforschungen von W. T a r a n c z e w s k i scheinen ein Suchen nach verschiedenen Akkorden zwischen Farben bei relativ ähnlicher Anordnung und Auswahl der Farbgestalten zu sein. Man soll aber nicht nur von Akkorden selbst, sondern auch von den synthetischen Qualitäten dieser Akkorde (ähnlich wie in der Musik) sprechen. Eine gegebene Farbe zeichnet - wie es scheint - eine bestimmte Mannigfaltigkeit der möglichen Akkorde aus, die sie mit anderen Farben und Farbflecken eingehen kann, und die synthetische Qualität des Akkords bestimmt die noch nicht realisierten Qualitäten der Farben vor, welche die anderen Glieder der Akkorde bilden können. Wie man aber von dieser Ahnung zu einer effektiven Entdeckung dieser verschiedenen zur realisierenden Möglichkeiten kommt, das ist eben etwas, was wir allgemein bis jetzt nicht wissen und was der schöpferischen Entdeckungskraft des Künstlers überlassen ist und vielleicht auch überlassen werden muß. Die ursprüngliche Intuition des Künstlers scheint da bis jetzt das letzte Wort zu sein. 4. Man darf aber nicht vergessen, daß bei der Bestimmung eines Farbakkords auch die Gestalt und die gegenseitige räumliche Lage der Farbflecke eine Rolle spielen. Bei derselben Farbqualität (weit verstanden, mit dem Sättigungsgrad und der Helligkeit der Farbe genommen) können bei verschiedenen Gestalten und räumlichen Anordnungen noch sehr verschiedene Akkorde entstehen. In Anbetracht der vielen Momente, die hier in Frage kommen, sind die Abhängigkeiten zwischen ihnen und den in ihnen fundierten Akkorden vorläufig noch nicht allgemein aufgedeckt, und sogar ihre Möglichkeiten zeichnen sich auf eine wenig durchsichtige Weise an. Gerade aber die Tatsache, daß die bereits existierenden „abstrakten" Bilder eine Anzahl gelungener Lösungen der Schaffung ästhetisch wertvoller Farbakkorde geliefert, andererseits aber auch eine viel größere Anzahl mißlungener Versuche gezeigt haben, können wir vermuten, daß derartige Abhängigkeiten trotz aller möglichen empiristischen Zweifel doch bestehen, daß sie aber sehr verschiedenartig und zahlreich sind, was ihre allgemeine Erfahrung wesentlich erschwert. Man soll somit auf eine genaue Analyse der Beziehungen zwischen den Elementen in den vorhandenen Bildern nicht verzichten und auch nicht auf die Versuche, zu allgemeinen Einsichten auf diesem

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Gebiet zu gelangen. Die Theoretiker können und sollen sich hier auch die Errungenschaften der schöpferischen Künstler, die hier eine Pionierleistung realisieren, zunutze machen. Insbesondere scheint es möglich zu sein, in einer „intuitiven Phantasie" die eigentümlichen Qualitäten der einzelnen Farbakkorde zu erfassen, bevor die Farbqualitäten, die den betreffenden Akkord fundieren, bzw. fundieren können, in einem Bild realisiert werden. Diese Intuition kann gewissermaßen erlauben, sowohl die Farbqualitäten als auch die nähere Bestimmung der Farbflecke und die gegenseitige räumliche Anordnung zu erahnen. Die auf dieser Basis unternommenen Versuche, das Erahnte im Bild zu realisieren, können diese Vorausahnung bestätigen oder sie als falsch, bzw. als unrealisierbar erweisen. Natürlich spielen da auch die rein technischen Schwierigkeiten eine wichtige Rolle und sind nicht immer zu überwinden. Dies kann auch zu einer Revision der Vorahnungen führen oder auch zu einer Korrektur des im Bild bereits Realisierten und zur Schaffung eines Bildes, das eine adäquatere Konkretisierung eines notwendigen Zusammenhanges zwischen Farbqualitäten ist. Indessen sind hier, ebenso wie ζ. B. in der Musik, „abstrakte" Bilder möglich, welche nicht bloß einen einzigen, sondern mehrere verschiedene Farbakkorde (Zusammenklänge) aufweisen. Dabei können diese vielen Akkorde - anders als in der Musik - in e i n e m Bild z u g l e i c h auftreten und sie werden auch im allgemeinen im ästhetischen Erleben fast zugleich erfaßt. Jedenfalls soll es in der Erfassung des Bildes zu einem Augenblick kommen, wo sie alle zusammen zur Erfassung gelangen. Das so oft ausgesprochene Postulat der inneren Einheitlichkeit der Komposition des Bildes betrifft insbesondere die zu erzielende Tatsache, daß die Qualitäten der Farbakkorde, welche in einem Bild auftreten, miteinander zusammenstimmen, eventuell auch zu einem nodi höheren synthetischen, letzten harmonischen (gestaltmäßigen) Ausklang führen. Dann erst wird s i c h t b a r , daß das Bild auf Grund eines einheitlichen Kompositionsprinzips aufgebaut ist. Es kommt dann zu dem, was man die „Organisierung des Raumes" mit Hilfe der reinen Farbgebilde nennen darf. Und erst dann wird audi sichtbar, daß man an einem solchen Bild nichts wegnehmen, nichts ändern und auch nichts hinzufügen kann, ohne daß damit die höchste synthetische Qualität des Zusammenklanges tangiert und damit auch das Bild zertrümmert wird. 5. Die Verwendung der deutlichen linienhaflen Abgrenzungen der einzelnen Farbflecke voneinander, und insbesondere die Verwendung der geraden Linien zu diesem Zweck bringt immer die Gefahr mit sich, 73

daß der betreffende so abgegrenzte Fleck auf eine vereinfachte Weise - wenn audi nur in einer Silhouette - ein Ding darzustellen anfängt. Das würde das Erscheinen mindestens zweidimensionaler, flacher (gewöhnlich „geometrischer", d. h. sich durch eine Regularität auszeichnender) Figuren nach sich ziehen. Solche Figuren funktionieren im Bild genau so wie Gegenstände und vernichten eben damit die reine Abstraktheit des Bildes. Aber sogar die „nichtgeometrische", nicht regelmäßige, aber scharfe Abgrenzung der einzelnen Farbflecke bringt eine analoge Gefahr mit sich. Daher stammt die Tendenz, sich unregelmäßiger, nicht scharf abgegrenzter, sondern eher „verschwimmender" Farbflecke zu bedienen (wie es etwa der frühe K a n d i n s k y getan hat), was aber nicht immer f ü r die Erreichung eines genügend ausgeprägten Farbenakkords günstig ist. Derartige Schwierigkeiten bei der Gestaltung der abstrakten Bilder gibt es noch mehr. Informationen über sie könnten uns am besten die Maler selbst geben, wenn ihre theoretische Vorbereitung und auch eine genügende Fähigkeit der begrifflichen Fassung ihrer unmittelbaren Erfahrungen in theoretischer Sprache eine Zusammenarbeit der Künstler mit den Theoretikern, welche sich um das Verstehen der Absichten und die Schöpfungen der Künstler bemühen, ermöglichte. So wie es bis jetzt zu sein scheint, verfügen die Künstler über zahlreiche und verschiedenartige Erfahrungen, besitzen aber keine Fähigkeit, sie anderen zu übermitteln; die Theoretiker dagegen besitzen eine gewisse formal-sprachliche Ausbildung und auch gewisse Einsichten in die bereits geschaffenen Bilder, aber ihre unmittelbare Erfahrung und die Einsicht in den Weg, der von der ersten Kompositionsahnung zum konkreten Bild führt, ist noch immer viel zu wenig befriedigend, um eine wirklich erfolgreiche Zusammenarbeit zu ermöglichen. Zum Schluß möchte ich noch eine Reihe verschiedener, gewöhnlich nicht scharf geschiedener Begriffe der „Abstraktheit" des Bildes zusammenstellen. ι . Ein Bild ist „abstrakt", wenn sich in seinem Gehalt gar keine dargestellten Gegenständlichkeiten (Menschen, Dinge), und zwar keine in Ansichten zur Darstellung gelangenden Gegenstände befinden. „Abstrakt" bedeutet hier so viel wie „nicht-darstellend". 2. Ein solches Bild ist in dem Sinne „abstrakt", daß man, um es getreu zu erfassen, bei dem Erschauen der Farbflecke von den von denselben gewöhnlich ausgeübten Funktionen der Konstituierung der Ansichten und mittelbar des Zur-Erscheinung-Bringens der dargestellten Dinge „abstrahieren" (davon „absehen") soll. Man muß auch zugleich 74

noch von einer normalen Funktion dieser Farbflecke „abstrahieren", d. h. davon, daß sie eine Bestimmtheit der Oberfläche des realen Gemäldes sind. 3. Ein solches Bild ist weiterhin in dem Sinne „abstrakt", daß es von seiner ganzen visuellen Umgebung als ein eigenartiger farbqualitativer Zusammenklang isoliert ist, bzw. isoliert werden soll, so daß man eben von ihr „absehen", „abstrahieren" muß. 4. Ein solches Bild (falls es wirklich „gelungen" ist) ist „abstrakt", da es als ein Zusammenklang r e i n e r Q u a l i t ä t e n ein auf der Grundlage eines realen Dinges sich vollziehendes V o r z e i g e n eines i d e a l e n , n o t w e n d i g e n Z u s a m m e n k l a n g e s r e i n e r Q u a l i t ä t e n (quasi einer P l a t o n i s c h e n Idee) bildet. Man soll also von der Individualität der Farbflecke „abstrahieren" - in H u s s e r l scher Sprache: einen A k t der „Ideation" vollziehen - , wenn man diesen idealen Zusammenklang erfassen will; aber das „abstrakte" Bild erleichtert dem Betrachter den Vollzug dieses Aktes. j . In einem völlig anderen Sinne ist ein Bild „abstrakt", wenn es zwar dargestellte Gegenständlichkeiten in seinem Gehalt enthält, diese aber in ihren verschiedenen Einzelheiten „ v e r e i n f a c h t " sind (im Vergleich damit, wie derartige reale Dinge ausgestattet sind, wenn sie in visueller Wahrnehmung gegeben werden). Statt vieler verschiedener Abschattungen kleiner Farbflecke treten im Bild relativ große Flecke derselben Farbenabschattung oder statt vieler Einzelheiten des Umrisses der Gestalt des Dinges tritt im Bild eine mit großen Linien gezeichnete räumliche Gestalt eines analogen dargestellten Dinges auf. 6. In einem wieder anderen Sinne spricht man von einem „abstrakten" Bild, wenn in ihm bedeutende D e f o r m a t i o n e n der Gestalt und auch der Farbe der dargestellten Gegenstände auftreten, „Deformationen" - im Vergleich mit analogen wirklichen Dingen: dabei muß es auch deutlich sein, daß eine solche Deformation kein Ergebnis einer technischen Unfähigkeit ist, die betreffenden realen Dinge im Bild „abzubilden", sondern das Ergebnis einer bewußten Absicht des Künstlers, und daß sie eine besondere künstlerische Funktion auszuüben hat. Bei richtiger Erfassung vollzieht sich im Bild, bzw. beim Betrachter eine „Abstraktion" von den Gestalten oder Farben gewisser realer Dinge, die als das Ausgangsmodell zur Schaffung des Bildes dienen. Welche künstlerische Funktion eine solche „Deformation" im Bild auszuüben hat, das kann, je nach dem Bild, wieder sehr verschieden sein. 7. Man kann endlich bei j e d e m darstellenden Bild darüber sprechen, daß es ein gewisses „abstraktes" Bild in sich enthält, das all dies 75

umfaßt, was in dem betreffenden Bild zur reinen Sichtbarkeit gehört, ein „abstraktes" Bild nämlich in dem Sinne, daß es den Betrachter - um rein erfaßt zu werden - von dem historischen als auch von dem literarischen Thema als endlich audi von den dargestellten Gegenständen und ihrer physischen und eventuell auch psychischen Bestimmtheit „abstrahieren" läßt. Bei der so verstandenen „Abstraktion" wird all das im Bild außer acht gelassen, was nicht rein „malerisch" ist. Als Ergebnis eines solchen Abstrahierens bleibt von dem konkreten Bild nur ein Bestand rein visuell-qualitativer Momente übrig, der die Grundlage besonderer malerischer, ästhetisch valenter Qualitäten und des in ihnen fundierten ästhetischen Wertes bildet. Maler, welche die „abstrakte" Malerei geschaffen haben, sind der Ansicht, daß echte Maler immer in diesem Sinne „abstrakte" Bilder schaffen wollen, bloß daß das betrachtende Publikum es nie verstanden hat, ihre Bilder richtig und adäquat zu sehen. Und erst die reinen abstrakten Bilder haben uns gelehrt, auch die ganze darstellende Malerei im richtigen Licht zu erfassen.

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WERT

VI ZUM PROBLEM DER „RELATIVITÄT" D E R WERTE

Das alte Problem der sogenannten Relativität der Werte sowie seine verschiedenen gegebenen Lösungen hängen von vielen Einstellungen, theoretischen Entscheidungen und praktischen Rücksichten ab, welche sich gewöhnlich hinter der Oberfläche der Betrachtungen verbergen. Um in die Behandlung dieser Probleme etwas mehr Ordnung zu bringen und die Aussichten auf ihre Lösung zu verbessern, muß man zunächst die sich hinter den oft vorgeschlagenen Lösungen verbergenden Unklarheiten und Vieldeutigkeiten enthüllen und die sich daraus ergebenden Problemvermengungen beseitigen. Unkontrollierte Scheinlösungen werden infolge dieser Unklarheiten für angeblich selbstverständliche Wahrheiten gehalten, die oft jede Diskussion ausschließen. Es sind hauptsächlich drei Probleme, die mit der Frage nach der sog. Relativität und - was man damit oft für eines hält - der Nichtobjektivität der Werte im Zusammenhang stehen und für diese letztere Frage von Bedeutung sind. Erstens ist es der Sinn dieser „Relativität" überhaupt, zweitens das Problem, worin die Unterschiede zwischen den Werten verschiedener Art, bzw. Geltung bestehen, falls es von ihnen eine Vielheit von Arten überhaupt gibt, und drittens die Frage, ob man das Problem der „Relativität" der Werte ganz allgemein für alle Werte überhaupt auf einmal behandeln oder ob man zunächst die Werte jeder einzelnen Art für sich betrachten und sie hinsichtlich ihrer eventuellen Relativität untersuchen soll, und zwar schon bei der Formulierung der Probleme selbst. A. Über die Relativität von irgend etwas und insbesondere über die Relativität der Werte spricht man in verschiedenen, gewöhnlich nicht scharf voneinander abgegrenzten Bedeutungen. Die mehrmals unternommenen Versuche, diese Bedeutungen zu unterscheiden, haben nodi nicht zu einer scharfen und eindeutigen Gegenüberstellung und präzisen Formulierung 79

der einzelnen Relativitätsbegrifie geführt. Diese Scheidung durchzuführen oder wenigstens vorzubereiten, bildet die erste A u f g a b e unserer Erwägungen. ι . Die erste Bedeutung der sog. Relativität der Werte hat eine deutlich erkenntnistheoretische Färbung, obwohl sie letzten Endes einen ontischen Ausklang besitzt. Man sagt z.B., daß ein gewisser Wert (z.B. die Vortrefflichkeit eines Bildes oder die Schönheit eines Mädchens) „relativ" ist, weil man die Überzeugung hegt, daß man ein vortreffliches Bild oder ein schönes Mädchen wahrnimmt, in Wahrheit aber im Irrtum ist, wenn man ihm einen Wert, also ζ. B. Schönheit, zuschreibt. Es liegt hier eine eigentümliche Illusion vor, die uns irreführt, wenn uns z . B . ein Bild vortrefflich oder ein Mädchen „schön" zu sein scheint oder wenn v o n uns eine Speise für „schmackhaft" befunden wird. In Wahrheit - sucht man uns gewöhnlich zu überzeugen - gibt es solche Eigenschaften der Dinge wie „schön", „vortrefflich", „gut", „schmackhaft", die wir ihnen zuschreiben oder die w i r in ihrem Aspekt wahrzunehmen glauben, gar nicht. U n d sie kommen ihnen auch gar nicht zu. U n d es handelt sich dabei - merkwürdigerweise - nicht um einen zufälligen Irrtum und um eine solche Täuschung, wie w i r ihr nur manchmal unterliegen, wenn w i r einen Gegenstand als so oder anders wertvoll beurteilen. Sie tritt in jedem Fall der Bewertung eines Gegenstandes oder der Wahrnehmung eines Dinges unter dem Aspekt eines bestimmten Wertes ein. Es bildet sich nämlich, laut dieser Auffassung, in jedem solchen Fall ein besonderes täuschendes Phänomen aus, das uns dazu verleitet, den betreffenden Gegenstand für wirklich so oder anders wertvoll zu halten, aber es ist in Wahrheit nur eine Illusion. Es hat audi keine größere Bedeutung, ob es ein Irrtum ist, der in einer rein intellektuellen Beurteilung begangen wird, oder eine konkrete phänomenale Täuschung, die sich in einer mehr oder weniger sinnlich unterbauten oder auch voll sinnlichen Erfassung vollzieht. W i r sind jedenfalls von dem effektiven Vorhandensein des Wertes in einem Gegenstand desto stärker überzeugt, je anschaulicher und konkreter jenes Phänomen ist. Ohne größere Bedeutung sind auch die verschiedenen möglichen Grade des Irrtums oder der Täuschung, die in den einzelnen Fällen vorliegen. Es ist endlich im Grunde auch ohne Bedeutung, ob wir uns in einem vollkommenen Irrtum befinden, indem w i r einem Gegenstand einen ihm völlig fremden Wert zuschreiben oder ob es in diesem Gegenstand doch eine bis zu einem gewissen Grade objektive Grundlage dafür gibt, ihm gerade diesen Wert zuzuerkennen. Dies spielt für den S i n n der „Relativität" des Wertes, die da - angeblich - entsteht, keine Rolle. D a man 80

aber zugleich glaubt, daß die Quelle dieser Relativität in dem Subjekt liegt, das die Bewertung durchführt, so spricht man oft audi von der „Subjektivität" der Werte. 2. In einem völlig anderen Sinne spricht man von der Relativität der Werte (z.B. der Vollkommenheit eines Bildes oder dem Adel eines Menschen), wenn man eigentlich die Tatsache im Sinne hat, daß ein und dasselbe Ding, ein und derselbe Mensch „seinen" Wert je nach den sich wandelnden Umständen ä n d e r t , ohne daß diese Gegenstände in ihren wirklichen Eigenschaften durch diese Umstände sonst geändert würden und ohne daß sie sich selbst von sich aus geändert hätten. Zum Beispiel besitzt ein bestimmtes Porträt von R a f f a e l schon dann den hohen Wert der besonderen Einzigartigkeit (unicité) nicht mehr, sobald ein anderes Bild gemalt wird, das dieselbe künstlerische Funktion ausübt, trotzdem aber in einer anderen Hinsicht verschieden ist, z.B. ein Porträt von R e m b r a n d t . Oder ein anderes Beispiel: Das Automobil, als ein außerordentlich schnelles und bequemes Fahrzeug, hat seinen Wert in dieser Hinsicht verloren oder sein Wert hat sich wesentlich vermindert, seitdem es viel schnellere moderne Flugzeuge gibt, die auch ebenso bequem wie das Automobil sind. Mittlerweile hat sich aber das Automobil tatsächlich nicht verschlechtert, sondern es wurde im Gegenteil noch weiter vervollkommnet und ist gegenwärtig viel schneller und bequemer und weniger gefährlich geworden, als es ehedem war, als es noch gar keine Flugzeuge gab. Und trotzdem hat das Automobil jetzt nicht den Wert der höchsten Schnelligkeit mehr. Und zwar ausschließlich deswegen, weil technisch hochentwickelte Flugzeuge gebaut wurden, weil - a l l g e m e i n gesagt - während der Existenz gewisser wertvoller Gegenstände zugleich und unabhängig von ihnen andere Gegenstände entstanden sind, die in den ersteren gar keine realen Veränderungen hervorriefen und doch ihren Wert wesentlich modifizierten. Diese Veränderung des Wertes eines Gegenstandes, die ohne jede reale Veränderung in den Eigenschaften dieses Gegenstandes vor sich geht, und sogar die bloße Möglichkeit einer solchen Veränderung des Wertes, ist - sagt man - ein f ü r das Reich der Werte besonders bezeichnendes Phänomen. Der Wert eines Gegenstandes — sagt man - existiert oder er kann wenigstens „objektiv", in Wirklichkeit existieren und hängt auch von unserer Anerkennung oder unserem Verhalten (das in den gegenübergestellten Fällen ganz dasselbe bleiben kann, während der Wert trotzdem einer Wandlung unterliegt) nicht ab, er hängt aber von den ganz besonderen Umständen ab, in welchen sich der zunächst wertvolle Gegenstand befindet, und zwar ist er von dem Erscheinen 81

eines a n d e r e n Wertes eines anderen, aber in irgendeiner Hinsicht vergleichbaren Gegenstandes abhängig. In dieser W a n d l u n g des Wertes eines Gegenstandes infolge des Auftretens a n d e r e r analoger W e r t e und mit Rücksicht auf sie liegt jetzt dasjenige Moment, welches man im Sinn hat, wenn man von der „Relativität" der Werte spricht. Nicht darum handelt es sich, als ob hier der Wert in einem gewissen Bessersein des einen Gegenstandes im Vergleich mit einem anderen wertvollen Gegenstand bestünde, noch als ob er daraus entspränge, daß man die in Frage kommenden Gegenstände miteinander v e r g l e i c h t , sondern ausschließlich darum, daß der Wert gewissermaßen für das bloße Auftreten eines anderen Wertes in der Welt auf eine besondere Weise e m p f i n d l i c h ist, daß er dadurch höher oder niedriger w i r d , ohne daß es zu einem r e a l e n W i r k e n des neu aufkommenden Gegenstandes auf den bereits wertvollen Gegenstand kommt; darin besteht jene merkwürdige „Relativität" des Wertes. Dieser neue Sinn der „Relativität" ist übrigens nicht ohne jeden Zusammenhang mit dem unter i. angedeuteten, ist aber von ihm sichtlich verschieden. Es wird hier die „objektive" Existenz der beiden in Betracht kommenden Werte vorausgesetzt und trotzdem wird der Seinscharakter des der Wandlung unterliegenden Wertes sowie seine existentiale Beziehung zu seinem Träger auf eine wesentliche Weise modifiziert. Diese Beziehung wird in einer eigentümlichen Weise gelockert und im Vergleich mit dem Seinscharakter des Gegenstandes selbst und der ihm zukommenden echten Eigenschaften merkwürdig herabgesetzt und geschwächt. Der Wert scheint hier nicht in der Weise in dem Gegenstand gegründet zu sein, wie es seine echten Eigenschaften sind. Man kommt da also nicht zu der „Relativität" in dem unter i. behandelten Sinne zurück, aber es wird da dem Wert in dieser neuen „Relativität" der eigentümliche Seinscharakter einer gewissen S e i n s a b h ä n g i g k e i t von etwas, was a u ß e r h a l b des Wertträgers liegt, verliehen. Solange in der Umwelt des wertvollen Gegenstandes keine Wandlung einer ganz besonderen Art eintritt, bleibt der Wert in seiner Art und in seiner Höhe konstant, und es enthüllt sich nicht, daß er nur auf eine so lockere Weise an seinem Träger haftet. 3. Mit einem wiederum anderen Sinne der „Relativität" des Wertes haben wir es zu tun, wo ein Ding, ein Vorgang oder ein Ereignis oder endlich auch ein Mensch seinen Wert f ü r etwas anderes oder f ü r jemand anderen als für den wertvollen Gegenstand selbst hat. Eine Pflanze z.B. ist für Tiere einer bestimmten Gattung „nahrhaft", dagegen für Tiere einer anderen Gattung „schädlich", z.B. „giftig". Der Wert der „Nahrhaftigkeit" ist hier in s i c h s e l b s t , in seinem Wesen oder 82

- wenn man will - in seiner M a t e r i e „relativ". Diese Materie zeichnet sich - wie Nikolai H a r t m a n n sagen würde - durch eine „Relationalität" aus. Allgemein gesagt: Jeder Wert besitzt neben seinem Wertcharakter (neben seiner „Wertigkeit") und auch abgesehen von seiner Form, nämlich daß er einem Gegenstand „zukommt", nodi eine „Materie", seine Wertqualität, welche in verschiedenen Werten verschieden ist oder verschieden sein kann und über die Zugehörigkeit des Wertes zu einer bestimmten Wertart oder -gattung entscheidet. In dieser Wertmaterie-sagt man - liegt eben die erwähnte „Relationalität" des Wertes. Im Sinne des „Nahrhaftseins", des „Nützlichseins", des „Schädlichseins", des „Giftigseins" ist eine ein-eindeutige oder eine ein-vieldeutige Bezüglichkeit auf etwas anderes, von dem Nahrhaften, Nützlichen usw. Verschiedenes, w o f ü r der betreffende Gegenstand „nützlich" usw. ist, enthalten. Ohne dieses „Sich-Beziehen a u f " gibt es - sagt man - so etwas wie das Nahrhaftsein oder Giftigsein überhaupt nicht. 4. Durch diese Relationalität wird der Wert (wo sie auftritt) noch nicht im ersten oder im zweiten Sinne „relativ". E r wird dadurch nicht zu einer Illusion, sondern bleibt „objektiv" und bestimmt den betreffenden Gegenstand effektiv. Der Gegenstand besitzt ihn aber nur als Glied einer bestimmten Relation zwischen ihm und einem anderen, besonders gewählten Gegenstand, f ü r den er eben „wertvoll" und insbesondere „nahrhaft", „nützlich" usw. ist. Als ein bloß für sich und in sich selbst seiender und von allen anderen Gegenständen isolierter und beziehungsloser Gegenstand besitzt er jenen Wert nicht. Diese Beziehung muß man von der Relationalität der Wertmaterie selbst unterscheiden. Der Wert ist also in dem jetzt erwogenen Sinne nicht deswegen „relativ", weil es zu seiner Konstituierung infolge des Bestehens einer bestimmten Relation zwischen zwei Gegenständen kommt, sondern weil seine Materie „relational" ist. D a es aber zu seiner effektiven Konstituierung und infolgedessen zu seinem einem bestimmten Gegenstand Zukommen deswegen kommt, weil zwischen diesem Gegenstand und einem anderen Gegenstand eine reale Beziehung einer besonderen Art besteht (nämlich ein Tier frißt eine Pflanze und sie tut ihm wohl), so erlangt der Wert dadurch auch eine Relativität in einem neuen (bereits v i e r t e n ) Sinne. Wir werden da sagen, daß Werte (soldier Art) in „Relationen" g r ü n d e n , also in ihnen einen relationalen Grund oder ein Seinsfundament haben. Das ist derjenige Sinn, in dem man am häufigsten von der „Relativität" der Werte spricht. Ein in d i e s e m Sinne „relativer" Wert kann aber auch nicht „relational" sein. Dagegen ist jeder „relational" relative Wert audi „relativ" in dem zuletzt genannten vierten Sinne.

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Es ist zu betonen, daß die die relationalen Werte konstituierenden Beziehungen zwischen zwei Gegenständen noch zu zwei verschiedenen Arten gehören können. Einmal gibt es lediglich Beziehungen, die wir auf Grund eines V e r g l e i c h s zweier Gegenstände miteinander feststellen und bei welchen zwischen ihren Gliedern und infolge ihres Bestehens gar keine r e a l e n Vorgänge und Seinszusammenhänge bestehen. Wir vergleichen z.B. zwei Kunstwerke miteinander hinsichtlich ihrer „Tiefe" (eine Kategorie, die oft auf Kunstwerke angewendet wird!). D a besteht also eine Relation zwischen ihnen, und auf Grund dieses Vergleichs schreiben wir dem einen der Kunstwerke zu, es sei „tiefer" als das andere, und darin besteht sein höherer ästhetischer Wert. In dem früher angenommenen Beispiel aber ist eine Pflanze f ü r ein Tier „nahrhaft", weil es zwischen dem Tier und der Pflanze reale Vorgänge gibt, die dem Tier zugute kommen, es eben gut ernähren. Dieses Wohlergehen des Tieres ist auch ein Wert für es, und konsekutiv erhält die Pflanze einen relationalen Wert der „Nützlichkeit" f ü r das Tier. Es sind somit zwei verschiedene Abwandlungen der infolge einer Relation bestehenden Werte zu unterscheiden: a) solche, deren Konstitutionsgrund in einer Vergleichsrelation (die sich in keinen realen Vorgängen zwischen ihren Gliedern vollzieht), und b) solche, die dann und nur dann bestehen, wenn zwischen dem wertvollen (dem „nahrhaften", „nützlichen") Gegenstand und demjenigen, für welchen der erste eben wertvoll ist, eine ganz bestimmte reale Beziehung besteht, die sich in einem realen Vorgang konstituiert. Die Werte dieser Art, wie z.B. „nahrhaft", „nützlich", „bequem" u.dgl.m. unterscheiden sich in ihrer Relativität von solcher „Relativität", wie sie in den sogenannten „relativen" Merkmalen, wie z.B. „größer-kleiner", „besser-schlechter", „linksseitig-rechtsseitig" usw. 1 zur Ausprägung kommt. Abgesehen natürlich davon, ob sich Werte überhaupt als Merkmale oder Eigenschaften von etwas behandeln lassen. 5. Man spricht von der „Relativität" der Werte oft in dem Sinne, daß dadurch auf eine b e s o n d e r e S e i n s w e i s e des Wertes hingewiesen werden soll. Z w a r ist es nicht leicht zu sagen, worin diese Seinsweise bestehen soll. Es scheint, daß man dabei auf eine gewisse Seinsabgeleitetheit des Wertes und zugleich auf eine M o d i f i k a t i o n d e r S e i n s a u t o n o m i e und A k t u a l i t ä t hinweisen will, die den Wert von der Seinsweise des Gegenstandes unterscheidet, dem er zukommt. Man meint 1

Über die Unterscheidung der verschiedenen formalen T y p e n der sogenannten „relativen M e r k m a l e " vgl. mein Buch „ D e r Streit um die Existenz der W e l t " , B d . I I / i . Tübingen 1 9 6 5 . S. 3 5 4 f f .

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dabei - wie es scheint - , daß der Wert nicht in sich selbst und durch sich selbst so existiert wie der Gegenstand, der ihn trägt und ihn in seiner Materie bestimmt. Man präzisiert aber diese besondere Seinsweise nicht genauer, sondern stellt sie nur der „Realität" des ihn besitzenden Gegenstandes gegenüber, der in seinem Sein eben nicht „relativ" sein soll. Jedenfalls glaubt man aber - ohne es selbst klar erfaßt zu haben - daß der Wert in seinem Sein von der Existenz des ihn bestimmenden Gegenstandes (oder auch der Gegenstände) nicht unabhängig ist. Unter den Gegenständen, von denen der Wert seinsabhängig sein soll, hat man vor allem den Menschen und insbesondere das Bewußtsein des Menschen im Auge, in welchem er sich auf einen Gegenstand bezieht oder so oder anders verhält. Man ist fast allgemein davon überzeugt, daß Menschen in besonderen Bewußtseinsakten Werte „schaffen", und dieses Schaffen soll dabei irgendwie so kraftlos sein, daß das Geschaffene - eben der Wert selbst - nicht real, sondern irgendwie in seinem Sein geschwächt, seinsabhängig von diesen Bewußtseinsakten (unter anderem von den sog. Wertungen) ist. Rein sachlich muß man hier zwei Fälle unterscheiden: i. das Sein des Wertes wird ausschließlich durch gewisse Gegenstände hervorgebracht und näher bestimmt, und zwar durch denjenigen Gegenstand, der den Wert selbst besitzt, und durch andere Gegenstände, die zu der Umwelt des ersten Gegenstandes gehören; z. der Wert wird in seinem Sein und Wesen durch ein m e n s c h l i c h e s B e w u ß t s e i n s s u b j e k t (und manchmal auch durch eine menschliche Gemeinschaft) hervorgebracht und bestimmt. Besonders diese zweite Weise des Hervorbringens des Wertes drückt sich in der oben angedeuteten speziellen Seinsweise des Wertes aus. Dabei scheint es, daß man da eine merkwürdige Ausnahme zu machen geneigt ist. Die Existenz des Wertes soll zwar die Folge ζ. B. bestimmter Gefühle des Menschen sein, des Hasses und der Liebe, der Bewunderung, des Begehrens oder der Furcht, die man vor gewissen Gegenständen hat. Die Existenz des Wertes scheint aber keine Folge davon zu sein, daß der Mensch den Gegenstand, der den betreffenden Wert besitzt, e r k e n n t . Von der (tatsächlich vollzogenen) Erkenntnis soll der Wert auch dann seinsunabhängig sein, wenn in ihr zugleich entdeckt wird (bzw. werden soll), daß er durch einen Akt der Liebe oder der Bewunderung oder der Furcht „geschaffen" wurde. Die den Wert „erschaffenden" Akte - sofern überhaupt so etwas vorhanden ist müßten dabei völlig anderer Art als die Erkenntnisakte sein. Die Tatsache der Erschaffung von Werten oder des Verleihens eines Wertes an einen Gegenstand, darf aber in diesem Fall nicht für die Hervorbrin-

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gung eines Irrtums oder einer Täuschung gehalten werden, sondern sie wird selbst durch die Erkenntnis des wertvollen Gegenstandes und auch des Wertes selbst in seiner materialen Bestimmung und seiner eigentümlichen Seinsweise bestätigt. 6. Man muß aber noch eine Abwandlung der „Relativität" des Wertes unterscheiden, die mit der unter i . auf gewiesenen Relativität sowie mit der Relationalität des Wertes oft vermengt wird. Es handelt sich dabei um Werte, die n u r m a n c h e n menschlichen Subjekten, welche auf eine besondere Weise dazu qualifiziert sind, z u g ä n g l i c h sind. Daß es eben n i c h t a l l e Menschen sind, für die sie sich durch diese Zugänglichkeit auszeichnen, bestimmt hier den Sinn dieser „Relativität" der Werte. Das menschliche Subjekt, das die unmittelbare Erfassung eines Wertes (bestimmter Art oder eines Wertes überhaupt) erlangen soll und das audi infolgedessen mit ihm verkehren kann, muß gewisse ganz bestimmte Bedingungen erfüllen, die im Prinzip nicht durch alle erfüllt werden können. Es handelt sich da um eine bestimmte Empfindlichkeit des Subjekts, um eine bestimmte Art und Stufe seiner geistigen und emotionalen Kultur, um die Fähigkeiten seines Erfassungstypus usw. Infolge gewisser Gesichtspunkte, die anzunehmen man sich in der Erkenntnistheorie angewöhnt hat, hält man solche Werte für „relativ" oder sogar „relational", da sie in der Folge praktisch nur für einige Subjekte existieren, bzw. ihnen gegeben werden. Weil man oft annimmt, daß das und nur das, was allen in der Erkenntnis gleicherweise gegeben ist, als etwas „Unbedingtes" (Absolutes) existiert, so glaubt man, daß die Werte, die nur manchen Menschen zugänglich sind, eben „relativ" sind - eine Art eigentümlicher, beunruhigender Illusion. Sie werden durch gewisse Abwandlungen unserer Erlebnisse, in welchen wir mit den Gegenständen unserer Umwelt verkehren, hervorgerufen, und ohne diese Erlebnisse bestehen sie überhaupt nicht.2 Aus der Tatsache aber, daß ein Wert (ganz allgemein oder nur ein bestimmter qualifizierter Wert insbesondere) nur bestimmt qualifizierten Menschen g e g e b e n wird, bzw. gegeben werden kann, folgt 2

In Wirklichkeit gehen diejenigen Philosophen der Gegenwart, die alle Probleme und alle Gegenständlichkeiten nur von den Funktionen der „Sprache" aus behandeln und in bezug auf diese „Sprache" alles relativieren, was nidit einfach etwas Physisches ist, viel weiter in der „Relativierung" der Werte. Da die Menschen und nur die Menschen sich der Sprache bedienen und die Sprache eben wert-schöpferisch sein soll, so behauptet man, daß Werte für Menschen und nur für Menschen existieren und damit nicht in der realen Welt wirklich vorhanden sind.

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nodi gar nicht, daß er selbst in sich, als eine besondere Bestimmtheit des Gegenstandes, dem er zukommt, n i c h t existiert oder daß er in seiner Materie in bezug auf gewisse Menschen relational ist. Zum Beispiel ist die Schönheit eines Musikwerkes (etwa von R a v e l ) nur für einen solchen Hörer erfaßbar, der weiß, wie es zu hören und zu verstehen ist, und der audi fähig ist, auf eine entsprechende Weise emotional darauf zu reagieren. Nur ein soldier Hörer vermag mit einer entsprechenden Wertantwort auf die Musik R a v e l s zu reagieren. Die in dieser Wertantwort enthaltene Emotion eröffnet ihm den Ausblick auf die Schönheit des Kunstwerks in allen seinen Farben und Subtilitäten und auf die diese Schönheit begründenden ästhetisch wertvollen Qualitäten. Die Schönheit, der Zauber des ästhetisch Geheimnisvollen, der spezifische Zusammenklang der ästhetisch wertvollen Qualitäten - das sind alles Momente, die in sich voll bestimmt sind, die vollkommen das sind, was sie in sich selbst sind, und sie sind in den meisten Fällen in k e i n e m Sinne „relational", und zwar weder in bezug auf den Zuhörer noch in bezug auf sonst etwas. Man könnte sagen, daß gerade deswegen, weil sie in sich vollkommen sind und sich auch auf nichts anderes beziehen, weil sie in sich geschlossen und selbstgenügsam sind, sie auch nicht allen Menschen unmittelbar zugänglich sein können, aber das sagt nicht, daß sie infolgedessen auf irgendeine sozusagen „schlechtere", weniger autonome Weise existieren. Vielleicht sind sie audi in sich nichts derartig Reales, wie es die physischen Dinge sind, aber aus diesem Grund allein müssen sie noch nicht so etwas wie ein täuschender Schein von etwas anderem sein. Sie geben sich auch nicht für etwas anderes, als sie selbst sind, aus. Wer weiß, wie man an sie herankommen soll, wer die Fähigkeit, sie zu erschauen, hat, bzw. in sich entwickelt hat, der wird sie auch f i n d e n , wo sie zu finden sind. Wer dagegen unempfindlich oder gar blind ist, der wird an ihnen vorbeigehen. Für ihn verschwinden sie auch aus dem Gesichtsfeld und in diesem Sinne - bloß als das im Gesichtskreis nicht Vorhandene existieren sie für ihn nicht, sind sie vor ihm „verborgen". Weil das Sein der Werte nicht ein „Sein für" jemanden ist, 3 so tangiert ihr Niditerfaßtsein von manchen menschlichen Subjekten weder ihr Sein nodi ihre Objektivität noch endlich ihre Nichtrelationalität. Dieser Punkt ist für die Entscheidung bezüglich der Existenz und der 3

J. P . S a r t r e spricht bekanntlich von einem „être en soi" und „être pour" als von zwei verschiedenen Seinsweisen. Wir wollen hier nicht erwägen, ob dies richtig ist. Es kommt hier lediglich darauf an, daß das Sein der Werte, auch derjenigen, welche in ihrer Materie und ihrem Wertsein nicht allen Menschensubjekten zugänglich sind, mit einem derartigen „Sein für" nicht zu identifizieren ist.

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Objektivität der Werte von einer besonderen Wichtigkeit, weil gerade die höchsten Werte - sowohl auf dem Gebiet des Ästhetischen als auch dem des Sittlichen - meistens nur für besonders hoch qualifizierte Menschensubjekte zugänglich sind. B. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es noch weitere Bedeutungen der „Relativität" der Werte gibt. Für unsere Zwecke genügt aber das schon Gesagte. Es erlaubt uns zu verstehen, warum im praktischen Leben, aber audi oft in der Wissenschaft, die Wörter „Relativität" und „relativ" unterschiedslos in den hier gegenübergestellten Bedeutungen verwendet werden. Gewisse Verwandtschaften und Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen „Relativitäten" führen leicht zu ihrer Vermengung. Zudem ist es nicht ausgeschlossen, daß verschiedene „Relativitäten" bei den Werten eines und desselben Typus oder audi bei einem und demselben Wert auftreten. Jede dieser „Relativitäten" hat selbstverständlich ihren Gegensatz, und diese Gegensätze unterscheiden sich untereinander mindestens in demselben Maße wie die „Relativitäten" selbst und können ebenfalls in einem und demselben Fall zusammen auftreten. Dieses Zusammen-Auftreten ist aber nicht - weder in dem einen noch in dem anderen Fall - notwendig. Man muß also auch mit der entgegengesetzten Möglichkeit rechnen, nämlich daß diese „Relativitäten" entweder bei einzelnen Werten oder gar bei den Werten einer bestimmten Art separat auftreten. Es wäre aber verfrüht, hier schon zu entscheiden, welche Möglichkeiten da überhaupt vorliegen. Aber auch dann, wenn man diese verschiedenen Gegensätze auf eine nur vorbereitende Weise berücksichtigt, muß das Problem der sog. „Relativität" der Werte mindestens auf s e c h s verschiedene Weisen gefaßt werden: ι . Ist der Wert von etwas nur eine Illusion, die sich aus unserer falschen Erkenntnisweise des Wertes, bzw. des wertvollen Gegenstandes ergibt, oder ist er im Gegenteil eine eigentümliche und „wahre" Qualität oder Wesenheit, die sich effektiv an verschiedenen Gegenständen der uns umgebenden Welt vorfindet? 2. Ist der Wert eine besondere Bestimmtheit des ihn besitzenden Gegenstandes, welche je nach den Umständen, in denen der wertvolle Gegenstand sich der Reihe nach befindet und die gar keine Änderungen sonst in diesem Gegenstand hervorrufen, verschiedenen Wandlungen unterliegt? Oder ist der Wert im Gegenteil eine k o n s t a n t e Bestimmtheit des wertvollen Gegenstandes, welche gegenüber den Wandlungen 88

der Umstände, in denen der betreffende Gegenstand sich befindet, und insbesondere gegenüber den in der Umgebung des Gegenstandes auftretenden Werten unempfindlich ist und nur von den Eigenschaften seine Trägers abhängt? 3. Ist der uns im unmittelbaren Verkehr mit einem Gegenstand gegebene Wert in seiner Materie durch eine „relationale" Qualität bestimmt, aus welcher ersichtlich ist, daß er ein Wert für einen anderen Gegenstand ist, oder ist seine Materie „absolut" (nicht-relational) und weist gar keinen Bezug auf einen anderen Gegenstand auf? 4. Ist der Wert eines Gegenstandes ein Etwas, das an demselben deswegen und nur deswegen auftritt, weil zwischen diesem und einem anderen Gegenstand eine bestimmte Beziehung besteht, die die Materie dieses Wertes bestimmt, oder ist er nur durch die Beschaffenheiten seines Trägers eindeutig bestimmt und nur von ihnen in seinem Sein seinsabhängig? j . Auf welche Weise existieren die Werte? Ist ihre Seinsweise in irgendwelchem Sinne „relativ", und gegebenenfalls in welchem? Ist ζ. B. der Wert von einem anderen Gegenstand als demjenigen, an dem er „haftet", seinsabgeleitet? Ist er insbesondere von der Existenz und der Verhaltensweise des Menschen seinsabgeleitet, der mit seinem Träger igrendwie verkehrt? Oder existiert der Wert auf eine seinsheteronome Weise, so wie z . B . rein intentionale Gegenständlichkeiten existieren, und zwar auch dann, wenn der Gegenstand, an dem er auftritt, seinsautonom (real) ist? Und wenn ja, so ist er bloß in den Beschaffenheiten seines Trägers oder auch in den Beschaffenheiten irgendeines anderen Gegenstandes oder endlich nur in den letzteren fundiert? Oder ist er ebenso real wie sein Träger? Oder existiert er immer nur in derselben Weise wie sein Träger? Wie wir sehen, kann es hier mehrere verschiedene Fragen und Antworten geben. 6. Ist endlich der Wert eines Gegenstandes seinem Wesen nach a l l e n möglichen menschlichen Subjekten zugänglich und insbesondere erkennbar oder ist er im Gegenteil nur demjenigen Subjekt zugänglich, welches bestimmte, ganz besondere Bedingungen erfüllt? Alle diese Fragen sind hier so verstanden, daß sie irnmer Werte als individuelle konkrete Bestimmtheiten individueller Gegenständlichkeiten und nicht Werte als gewisse i d e a l e Gegenständlichkeiten (Ideen) betreffen (wie das z. B. Max S c h e 1 e r getan hat). Ob man sich im Verlauf der Betrachtung auf solche idealen Gegenständlichkeiten irgendwie beziehen muß oder nicht, das soll hier nicht entschieden werden. Wichtig f ü r uns ist es lediglich, daß die oben aufgestellten Fragen sich nur auf 89

Individuelles beziehen, denn erst so verstanden gewinnen sie für uns theoretisch und praktisch ihre Bedeutsamkeit. Der nächste Schritt, der nach der Formulierung dieser Fragen zu machen wäre (den wir aber hier schon nicht mehr tun können), ist die Erwägung, ob und auf welche Weise die hier unterschiedenen „Relativitäten" von einander unabhängig sind, so daß ζ. B. ein Wert, wenn er in einem Sinne „relativ" ist, nicht zugleich in allen anderen Sinnen relativ sein muß, sondern eben in den einzelnen hier unterschiedenen Bedeutungen gar nicht „relativ" zu sein braucht. Es scheint uns auf den ersten Blick so zu sein, daß eben das zweite zutrifft und daß es da noch sehr verschiedene Möglichkeiten der Abhängigkeiten, bzw. Unabhängigkeiten zwischen den „Relativitäten" gibt. Das muß sehr genau erwogen werden, aber die Durchführung einer solchen Betrachtung erfordert noch die Erfüllung weiterer Bedingungen, auf die wir hier noch kurz eingehen müssen. C. Die Zusammenstellung der angegebenen Probleme bringt uns sogleich zum Bewußtsein, daß sie völlig unlösbar sind, wenn sie sich ganz allgemein auf alle beliebigen Werte beziehen sollten, und wenn man forderte, daß man auch sofort eine für alle möglichen Werte geltende Lösung erhalten soll. Denn auch eine ganz vorläufige Beschäftigung mit den Werten macht uns darauf aufmerksam, daß es tiefgreifende Unterschiede zwischen ihnen gibt, die nicht ohne wesentliche Folgen für ihre so oder anders verstandene „Relativität" bleiben können. Es scheint völlig verkehrt zu sein (wie man das gewöhnlich tut), alle Werte überhaupt auf einmal hinsichtlich ihrer eventuellen „Relativität" zu behandeln und dabei sofort zu einer allgemeinen Entscheidung, daß z.B. alle Werte „relativ" seien, zu kommen. Und vielleicht liegt gerade darin, daß man es üblicherweise tut, der Grund des Mißlingens der unternommenen Versuche, die angebliche „Relativität" der Werte überhaupt zu erweisen. Es ist somit vor allem nötig, darauf zu antworten, ob man es in jedem Fall mit einem Wert in demselben Sinne zu tun hat oder ob es im Gegenteil notwendig ist, viele verschiedene Grundarten von Werten zu unterscheiden. Sollte das letzte der Fall sein - wie es auch tatsächlich zu sein scheint - , so ist es mindestens ratsam, das Problem der eventuellen „Relativität" in den verschiedenen unterschiedenen Sinnen bezüglich der Werte der einzelnen Grundarten zu stellen und es der Reihe nach zu lösen. Ohne eine solche Beschränkung des Themas der Untersuchung scheint das Problem nicht scharf genug gestellt zu sein. Man muß auch damit 90

rechnen, daß die aus den Werten einer bestimmten Art gewonnene Lösung gar nicht für die Werte einer anderen Art gelten müsse. Im Gegenteil ist zu erwarten, daß es damit bei verschiedenen Wertgattungen ganz verschieden sein wird. 4 Im Zusammenhang damit wird das Problem der Einteilung aller Werte in gewisse Grundarten brennend. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung ist dies aber eine sehr schwierige Aufgabe, weil man sich bis jetzt noch nicht entschlossen hat, was zum Grundprinzip der Einteilung gewählt werden soll, bzw. notwendig genommen werden muß. Was gegenwärtig zu machen ist, das ist eine mehr oder weniger lose Aufzählung einer Reihe von Wertgruppen, die auf das Vorhandensein entsprechender Wertgattungen (bzw. Arten) hinzuweisen scheinen. Wir wollen es auf eine ganz vorbereitende Weise tun, nur um den Sinn der Probleme, die sich da eröffnen, kurz skizzieren zu können. a) Es gibt, wie es scheint, ζ. B. eine Gruppe von Werten, die man (z.B. Max S c h e l e r ) „vitale" Werte genannt hat. „Vital" ist z . B . der Wert einer Nahrung für ein Tier einer bestimmten Art oder sind die Werte, welche gewisse Organe (Auge, Ohr, sexuelle Organe usw.) für ein Tier der betreffenden Gattung besitzen oder endlich die Werte verschiedener anorganischer Werkzeuge, die zu verschiedenen Zwecken dienen und in Erreichung dieser Zwecke für Menschen und Tiere „nützlich" sind. Hierher gehören weiterhin Werte gewisser Vorgänge oder Verhaltensweisen der Menschen und Tiere, die für ihr Wohlergehen und Leben oft sehr wertvoll sind. Auch die sog. „ökonomischen" Werte besitzen, wie es scheint, wenigstens in manchen Fällen eine vitale Bedeutsamkeit für die Menschen. Eine solche Aufzählung ist natürlich sehr unscharf und eben damit auch für unsere Zwecke unbefriedigend. Aber zur ersten Orientierung des Problems wird sie vielleicht doch genügen. Sind die „vitalen" Werte oder ihre besonderen Abwandlungen in einem der hier unterschiedenen Sinne „relativ" oder „absolut"? Obwohl es nicht möglich ist, darauf auf eine begründete Weise zu antworten, wird es vielleicht doch nützlich sein, manche wahrscheinlichen Vermutungen auszusprechen. Es scheint zunächst, daß alle „vitalen" Werte „relational" sind, eben weil sie an Gegenständlichkeiten aufzutreten scheinen, zu deren Wesen es gehört, daß sie die Mittel zur Realisierung gewisser (natürlicher oder 4

Es ist wahrscheinlich, daß audi bei dieser Einengung des Problems nodi keine L ö sung erreicht werden wird. Aber darüber später.

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künstlicher) Zwecke sind. So dient ζ. B. das Auge dem Tier dazu, über distanzhafte Gegenstände und Vorgänge gewisse Informationen zu liefern, die entweder manche Gefahren zu vermeiden oder Vorteile auszunutzen gestatten. Werden sie durch das Auge rasch genug vermittelt und sind sie genügend differenziert, um die Unterschiede zwischen den gesehenen Dingen richtig, präzis und scharf wiederzugeben, dann funktioniert das Auge gut und ist für die Lebensfunktionen des Menschen nützlich. Darin liegt sein Wert, der deutlich relational in bezug auf den Menschen und seine Lebensbedürfnisse ist. Aber er ist zugleich nicht „relativ" im Sinne einer „Illusion" oder einer Täuschung und ist reell gegründet in der wirklichen Beschaffenheit des Auges; wenn das Auge ζ. B. „kurzsichtig" ist und verschwommene Ansichten von Gegenständen liefert, welche es dem Menschen nicht erlauben die entsprechenden Gegenstände wiederzuerkennen, dann verliert es seinen Wert des „Nützlichseins". Aber er ist audi in dem Sinne „relativ", daß er in der Relation zwischen den von ihm gelieferten Informationen und den realen Lebensbedürfnissen des Menschen gründet. Der Wert des Auges wächst mit der Rolle, welche die visuellen Informationen im Gesamtbestand der dem Menschen zum Leben notwendigen Informationen über seine reale Umgebung spielen. Zum Beispiel für einen Musiker fällt dieser Wert ab, für einen Maler oder auch für einen Autofahrer wächst er erheblich, eben deswegen, weil das Auge kein für sich isoliertes Ding, sondern ein Glied eines organischen Systems von besonderer Art ist. Diese Wandelbarkeit des Wertes macht ihn in gar keiner Weise illusionär und ist auch kein Beweis dafür, daß sein Seinszusammenhang mit dem Auge, an dem er „haftet", irgendwie „gelockert" ist. Er ist gewiß seinsabgeleitet, aber von dem ganzen System des Organismus, in dem das Auge ein u n s e l b s t ä n d i g e s Glied ist, und in diesem System ergibt sich der vitale Wert des Auges auf eine eindeutige und notwendige Weise. Beim Ubergang von einem Musiker zu einem Maler oder Autofahrer wandelt sich das System von einem betreffenden Menschen zu einem anderen, und zwar wandelt es sich auf eine durchaus reale Weise, und diese Wandlung zieht auch die Wandlung im Wert des Auges nach sich. Es entsteht nur der Schein einer lockeren Seinsbeziehung zwischen dem Wert und dem Auge, weil man fehlerhaft das Seinsfundament des Wertes im Auge allein sucht statt im ganzen System des auf eine bestimmte Weise funktionierenden menschlichen Organismus. Der Schein verschwindet, sobald der wirkliche Seinsgrund des Wertes gefunden worden ist. Diese Bemerkungen sollen nur als Illustration dazu dienen, wie die eventuelle „Relativität" eines bestimmten Wertes erwogen werden soll, 92

und auch als ein Beispiel dafür, daß die Relativität des Wertes in dem e i n e n Sinne des Wortes nicht anders bestimmte Relativitäten nach sich ziehen muß. Dies müßte natürlich noch weiter untersucht werden. Aus der Tatsache, daß v i t a l e Werte „relational" sind, folgt gar nicht, daß alle Werte überhaupt „relational" sind, falls man nur zugibt, daß es auch Werte gibt, die gar nicht vital sind. Ob die vitalen Werte allen möglichen Gegenständen (und insbesondere Bewußtseinssubjekten) zugänglich und für sie auch erkennbar sind oder nur für einen ganz bestimmten Bereich von besonders qualifizierten Gegenständen, das ist wiederum eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann, da dies ein sehr spezielles Problem ist, das zu seiner Lösung viele Vorkenntnisse erfordert. Dasjenige aber, was wir aus der Biologie über die ökologischen Bedingungen des Lebens der Tiere besonderer Arten wissen, was sich z.B. aus den Betrachtungen Ü x k ü l l s und auch B e r t a l a n f f y s über die sogenannte „Umwelt" der einzelnen Tiergattungen als sehr wahrscheinlich ergibt, was wir endlich auch aus unseren menschlichen Erfahrungen über reale Wandlungen im Menschentypus bei der Versetzung des Menschen aus einer sozialen Umgebung in eine völlig andere wissen - dies alles scheint dafür zu sprechen, daß die einzelnen vitalen Werte und Werttypen nur entsprechend qualifizierten Subjekten zugänglich und für diese überhaupt vorhanden sind. Fehlen diese Qualifikationen, so beweist das nicht, daß jene Werte illusionär sind, sondern nur, daß sie in dem von uns genau bestimmten Sinn „relativ" sind und in dieser ihrer Relativität ihre volle Wertigkeit und - wenn man so sagen darf - Realität behalten. Das Fehlen dieser Qualifikation negiert auch diese Wertigkeit in dem Sinne nicht, daß dieses Fehlen eben oft in einer Katastrophe endet: das Nichterreichen dieser Werte durch die Nichtqualifizierten führt zu realen Schädigungen, zum Unglück oder wenigstens zum Mißerfolg der betreffenden Menschen und beweist ihnen gewissermaßen experimentell die Existenz der Werte, die sie in ihrem Erfahrungsfeld zunächst nicht vorfinden. b) Es gibt, wie es scheint, eine besondere Gruppe der „Kulturwerte". Dazu gehören ζ. B. die ästhetischen Werte: Schönheit oder Häßlichkeit und auch die Werte der Wahrheit und des Irrtums (um hier sowohl die sog. positiven als auch negativen Werte [Unwerte] zu nennen). Alle ästhetisch positiven Grundwerte scheinen „nichtrelational" zu sein, was dagegen von künstlerischen Werten nicht gesagt werden kann. In der Wertmaterie der Schönheit oder der Anmut oder der Vollkommenheit scheint es gar keinen intentionalen Bezug auf etwas außerhalb des schönen Gegenstandes zu geben. Erst wenn ζ. B. zwei Kunstwerke 93

sich bei einem Vergleich in ihrer Schönheit als verschieden hochwertig erweisen, erlangen die entsprechenden nichtrelationalen Wertmaterien dieser Schönheiten einen sekundären Vergleichsindex auf den anderen Vergleichsfall, und dieser Index, der die Grundmaterie des Wertes nicht tangiert, ist natürlich relational und auch in dem Sinne „relativ", daß er in dem betreffenden Fall allein nicht hinreichend fundiert ist und sich je nach dem Wechsel des Vergleichsgliedes selbst wandelt. Das Sein der ästhetischen Werte ist aber nicht ein „Sein für", wie es ζ. B. für alle Nutzwerte charakteristisch ist, sondern sie existieren als Eigenbestimmtheiten besonderer Art gut komponierter und innerlich harmonisierter Gegenständlichkeiten, aus deren eigener Beschaffenheit sie sich notwendig ergeben und von denen sie somit seinsabgeleitet sind.5 In diesem Sinne scheinen sie nicht „wandelbar" zu sein und hängen auch nicht von der Beschaffenheit anderer Gegenstände ab. Aber sie können natürlich von dem Betrachter nicht empfunden und auch nicht erkannt und infolgedessen auf verschiedene Weise g e s c h ä t z t werden; die positiven Werte können dann mißfallen, die negativen aber gerade gefallen, aber das ändert nichts an ihrer eigenen Wertmaterie und infolgedessen auch nichts an der nichtrelativen Höhe dieser Werte. Die Möglichkeit der verschiedenen Wertschätzungen eines bestimmten ästhetischen Wertes sowie des „Unerkanntseins" in einem individuellen Fall zeigt nur, daß ästhetische Werte einem bestimmten Umkreis der „Wertgenießer" zugeordnet sind, die bestimmte Bedingungen erfüllen müssen, damit sie den erlebnismäßigen Zugang zu ihnen gewinnen und damit sie sie auch in ihrer wahren Materie und eigenen Werthöhe erkennen können. Max S c h e 1 e r gebrauchte einmal das Wort, daß Werte nicht in einem stumpfen Begaffen erfaßbar seien; man muß zu ihnen den Weg finden, d. h. vor allem, man muß die entsprechenden Qualifikationen erwerben, damit sie einem in ihrer eigenen Gestalt erscheinen und auch gerecht gewürdigt werden. Dies untergräbt aber auf keine Weise ihre im Objekt fundierte Existenz und macht sie nicht zu Illusionen oder merkwürdigen Wahntäuschungen; was aber nicht bedeutet, daß sie so existieren wie etwa die realen physischen Dinge, welche Seinsfundamente für Kunstwerke sind. Uber ihre Seinsweise positiv hier zu entscheiden, wäre noch verfrüht, aber nicht zu vergessen ist es, daß sie an konkretisierten Kunstwerken erscheinen, die nur seinsheteronom sind. Und die ästhetischen Werte bilden nur den eigentümlichen Uberbau dieser seinsheteronomen Gegenständlichkeiten. 5

Dies kann in einzelnen Fällen g a n z verschieden sein. D a s ist noch ein P u n k t , auf den hinzuweisen und zu dem nodi zurückzukehren ist.

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Damit sie zur Erscheinung gebracht und im richtigen Licht getreu erfaßt werden, müssen nicht bloß von den ästhetisch Erlebenden bestimmte Bedingungen erfüllt, sondern auch gewisse objektive, in der betreffenden Kulturwelt enthaltene Bedingungen realisiert werden. c) Ziehen wir noch ein Beispiel aus dem Reich der sittlichen Werte in Betracht. Muß man - wie oft behauptet wird - zugeben, daß sie sämtlich „relativ" sind? Es ist nicht leicht, darauf zu antworten. Trotz so vieler Untersuchungen ist es noch nicht ausgemacht, ob sie eine völlig gesonderte Gruppe von Werten bilden, die sich von anderen Wertgruppen spezifisch und scharf unterscheidet und auch im Innern einheitlich ist, oder ob man sie anderen Gruppen von Werten zurechnen (zuteilen) muß, z. B. - wie immer wieder behauptet wird — den Nützlichkeitswerten oder, noch allgemeiner, den vitalen Werten. Wenn wir aber hier nur sozusagen zur Probe die Uberzeugung aussprechen, daß sie doch eine sich von allen anderen Werten spezifisch unterscheidende und innerlich einheitliche Gruppe von Werten bilden, so ist es notwendig, in bezug auf sie die Frage nach ihrer eventuellen „Relativität" in den verschiedenen Bedeutungen ganz unabhängig von den anderen analogen Fragen zu stellen. Von allen jetzt zu behandelnden Fragen - die hier natürlich nicht durchdiskutiert werden können - ist die wichtigste vielleicht die, ob jeder sittliche Wert nur eine eigentümliche, beunruhigende Illusion ist, die durch unsere Weise des Erlebens und Erkennens, durch die wechselnden Lebensbedingungen, durch verschiedene sich wandelnde soziale Faktoren usw. hervorgerufen wird oder ob er im Gegenteil eine r e a l e Q u a l i f i k a t i o n gewisser menschlicher Taten und Verhaltensweisen des Menschen oder etwa - wie andere sagen - des menschlichen Willens in gegebenen Sachlagen oder endlich der menschlichen Person ist, die ein bewußt verantwortliches Subjekt für die von ihr begangenen Taten ist. Das so oft angegebene Argument für die so genannte „Relativität" der sittlichen Werte, daß in verschiedenen historischen Zeiten und Kulturen die gleichen menschlichen Taten einmal für „gut" und „edel" und das andere Mal für „schlecht" und „frevelhaft" gehalten werden, zeugt - trotz allem Anschein - nicht für ihre „Relativität" im Sinne ihrer IIlusionshafligkeit in j e d e m einzelnen Fall, in welchem sie in der Erfahrung konkret aufzutreten scheinen. Es zeugt vor allem dafür, daß nicht alle von den vollzogenen, miteinander streitenden B e w e r t u n g e n der vollbrachten Taten zugleich wahr, gültig sein können, daß da irgendein Irrtum vorliegt. Um zu beweisen, daß eine ganz bestimmte menschliche Tat unter den gegebenen Umständen weder „gut" noch „schlecht", sondern sittlich ganz irrelevant ist und nach der hier erwogenen Theorie 95

auch ganz irrelevant sein muß, genügt es nicht, auf einander widerstreitende Bewertungen hinzuweisen, obwohl ein soldier Hinweis, bzw. die Tatsache des Widerstreits eine solche sittliche Irrelevanz zuläßt. Dazu ist ein besonderer Beweis notwendig, der bis jetzt nicht geliefert wurde. So wie auch der Beweis der Möglichkeit und auch der effektiven Existenz der sittlichen Werte nicht geliefert wurde. Im Vergleich mit diesem Problem sind alle übrigen Fragen, die man bezüglich der sittlichen Werte auf Grund der hier durchgeführten Unterscheidungen aufstellen kann, nicht in dem Maße bedeutsam, wie das soeben angegebene Grundproblem. Es ist aber mit dem Problem der Seinsweise dieser Werte sowie auch mit der Frage nach ihrer Relationalität identisch. Die Beantwortung dieser Fragen hängt unter anderem von der Lösung des Problems ab, ob es zwischen den sittlichen und den vitalen Werten und insbesondere den Nützlichkeitswerten einen Wesensunterschied gibt oder nicht. Gelänge dies, dann hätte man einen wichtigen Schritt in der Werttheorie vollzogen. Er könnte aber nur durch die Klärung der beiderseits in Betracht kommenden Wertmaterien selbst erreicht werden, nicht aber auf dem hier oft vorgeschlagenen Weg einer Sprachanalyse, die von vornherein voraussetzt, daß Werte durch besondere Sprachfunktionen fingiert werden. All dies geht schon über die vorbereitenden Bemerkungen hinaus, deren Funktion es war, auf gewisse Probleme hinzuweisen, die mit der Frage nach der sog. „Relativität der Werte" in Zusammenhang stehen.

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VII

WAS WIR Ü B E R D I E W E R T E N I C H T W I S S E N

In den Nachkriegsjahren ist das Interesse für verschiedene Wertprobleme sichtlich gewachsen. Es scheint audi, daß man in dieser Richtung manche Fortschritte erzielt hat. Es ist trotzdem nicht gelungen, auf eine Reihe wichtiger Fragen befriedigende Antworten zu finden und die Schwierigkeiten zu überwinden, auf welche die Werttheorie stößt. Man ist bestrebt, verschiedene besondere Probleme - hauptsächlich in den einzelnen Wertgebieten - zu behandeln, während die allgemeinen Grundprobleme unbearbeitet brachliegen. Es droht die Gefahr, daß das Bewußtsein ihrer Wichtigkeit für speziellere Untersuchungen verloren geht. Die letzteren können dadurch in ihrer Entwicklung aufgehalten oder wenigstens einer tieferen Begründung beraubt werden. Vielleicht wird es also nützlich sein, unsere Aufmerksamkeit auf einige Grundfragen der allgemeinen Werttheorie zu lenken, uns zum Bewußtsein zu bringen, daß dieselben noch immer ungelöst sind, und uns zu fragen, warum es eigentlich so ist. Indem ich hier auf mehrere Schwierigkeiten hinweise und mir die Lücken in unserem Wissen von den Werten zu Bewußtsein zu bringen suche, muß ich sogleich betonen, daß ich gar nicht bestrebt bin, die Existenz der Werte zu leugnen. Ich bin von dem skeptischen Hochmut, mit dem man oft die Werte behandelt, weit entfernt. Fremd sind mir auch die oft auftretenden Tendenzen, die Werte auf irgendwelche subjektive Verhaltensweisen des Menschen oder auch ganzer menschlicher Gemeinschaften „zurückzuführen", so als ob es die Werte selbst nicht gäbe und lediglich gewisse Täuschungen oder Illusionen bestünden, die sich aus gewissen individuellen oder in manchen Gemeinschaften eingebürgerten Einstellungen und Bedürfnissen ergeben. Im Gegenteil! Ich will mir gewisse Schwierigkeiten, auf welche die Werttheorie stößt, zum Bewußtsein bringen, um Wege und Weisen ihrer Überwindung zu suchen und echte und aufweisbare Gründe für die A n e r k e n n u n g der Existenz der Werte als gewisser gegenständlicher und in diesen Gegenständen fundierter Bestimmtheiten besonderer Art zu finden. Wenn sie 97

auch in manchen Fällen in ihrem Sein (Bestehen?) von dem Menschen, der mit einem wertvollen Gegenstand unmittelbar verkehrt, mitbedingt sein sollten, so haben sie auch dann - wie ich glaube - in dem Gegenstand, den sie auszeichnen, ihr wesenhaftes Seinsfundament und den Grund ihrer qualitativen Beschaffenheit. Ich möchte hier folgende Probleme behandeln: r. Worauf stützt sich die Unterscheidung der Grundarten der Werte und damit auch der verschiedenen Wertgebiete? 2. Welcher A r t ist die Form des Wertes und sein Verhältnis zu demjenigen Gegenstand, welcher den Wert „besitzt" (zu seinem „Träger")? 3. Auf welche Weise existieren die Werte, sofern sie überhaupt existieren? 1 Wobei nicht gesagt werden soll, daß a l l e Werte auf dieselbe Weise existieren. 4. Worin gründet der Höhenunterschied zwischen den Werten, und ist es überhaupt möglich, eine allgemeine Hierarchie zwischen Werten zu statuieren (festzusetzen)? 5. Gibt es „autonome" Werte? 6. Wie steht es mit der sog. „Objektivität" der Werte? 2 ad ι . Es scheint gegenwärtig nicht mehr zweifelhaft zu sein, daß man mehrere verschiedene Wertgebiete unterscheiden muß und daß es somit nicht möglich ist, alle Werte auf eine und dieselbe Kategorie zurückzuführen. Diese Einsicht scheint einen wertvollen Fortschritt der modernen Werttheorie zu bilden, weil sie geholfen hat, Fehler zu beseitigen, die sich daraus ergaben, daß man verschiedene Probleme für a l l e möglichen Werte auf einmal lösen wollte, ohne ihre wesentliche Verschiedenheit untereinander zu berücksichtigen. Ist aber an dieser Unterscheidung schon alles geklärt und in Ordnung? Verfolgen wir die Tendenzen, die in den phänomenologischen, die Werte behandelnden Schriften zur Sprache gekommen sind, 3 so können wir folgende Gebiete der Werte unterscheiden: a) vitale Werte, mit denen auch die Nützlichkeitswerte und die Annehmlichkeitswerte nahe 1

Das W o r t „existieren" w i r d hier im traditionellen Sinne verwendet, in dem es mit dem W o r t „sein" gleichwertig ist, und η i c h t in dem Sinne, den ihm erst H e i d e g g e r aufgezwungen hat. Statt v o m „ S e i n " des Wertes könnte man audi von seinem „Bestehen" sprechen. Es sind dies alles nur vorbereitende Ausdrücke, deren Sinn eben die E r w ä g u n g der angegebenen Frage erst zu klären und genauer zu bestimmen hat.

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Z u dem Problem der sogenannten „ R e l a t i v i t ä t " der Werte s. o. R . I η g a r d e η , „ D a s Problem der Relativität der W e r t e " , S. 7 9 ff. dieses Bandes. Es kommen hier v o r allem die Schriften M a x S c h e 1 e r s , aber auch M o r i t z G e i g e r s , Dietrich v . H i l d e b r a n d s und N i c o l a i H a r t m a n n s in Betracht.

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verwandt sind, b) Kulturwerte, insbesondere: i) Erkenntniswerte, 2) ästhetische Werte und 3) Werte der sozialen Sitten, und dann noch 4) sittliche Werte im engeren präzisen (ethischen) Sinne des Wortes. Innerhalb der einzelnen Wertgebiete unterscheidet man noch viele Arten und Abarten der Werte und endlich auch die einzelnen Werte, die in individuellen Fällen auftreten, und stellt sie einander gegenüber. Bei der Durchführung aller dieser Unterscheidungen hat man mindestens das Gefühl, daß man keinen Fehler macht, wenn man ζ. B. einen sittlichen Wert einem ästhetischen Wert gegenüberstellt. Es kommen aber trotzdem Fälle vor, in welchen wir bei der Zusammenstellung zweier verschiedener Werte nicht so leicht zur Entscheidung kommen, was für ein Unterschied zwischen ihnen besteht und ob man in dem gegebenen Fall wirklich den einen Wert für einen sittlichen und den anderen für einen ästhetischen Wert halten soll. Wir sind auch manches Mal im Zweifel, ob wir einen vorgegebenen Wert für einen sittlichen oder einen ästhetischen Wert halten sollen. Nehmen wir ζ. B. die Kühnheit und das Heldentum. Sind sie beide sittliche Werte? Oder ist etwa die Kühnheit eher ein ästhetischer (oder vielleicht auch ein sozialer) Wert, das erste in einem Drama, das zweite ζ. B. in einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft? Oder ist die Kühnheit zugleich ein sittlicher und ein ästhetischer Wert oder endlich ein sozialer? Heldentum scheint ein ausgesprochen sittlicher Wert zu sein; hat es aber nicht audi den Charakter eines ästhetischen Wertes an sich, besonders in Fällen, wo es schon an die Grenze der Unvernünftigkeit reicht, noch heldenhaft zu sein, und wo somit ein Zweifel entsteht, ob es dann nodi ein sittlicher Wert ist? Während demgegenüber Treue immer ein sittlicher Wert zu sein scheint, und zwar auch dann, wenn es unklug ist, dem Freund die Treue zu halten. Und sie zu brechen, ist immer schmählich, auch dann, wenn es klüger wäre, es zu tun. Schmach ist aber immer ein sittlicher Unwert, da etwas Häßliches an ihr haftet. Wie ist es damit eigentlich? Wir fragen uns dann, was darüber entscheidet, daß wir uns für das eine oder für das andere aussprechen. Was bildet eigentlich den Grund der Unterscheidung der Werte der einen Grundart von den Werten einer anderen Grundart? Zum Beispiel der sittlichen von den ästhetischen Werten. Auf diese Frage erhalten wir aber entweder gar keine Antwort oder aber eine Antwort, die weder klar genug noch genügend begründet ist. Wir verfügen nämlich über keine befriedigenden allgemeinen Bestimmungen der einzelnen Wertarten, und wir verfügen nicht über sie, weil wir bis jetzt kein klares und eindeutig bestimmtes principium divisionis der Wertarten besitzen. Die Herausstellung eines solchen Prin99

zips wird durch die allgemeine und - wie es scheint - richtige Überzeugung erschwert, daß das Moment, das über die Verschiedenheit der Werte untereinander und das die Werte der einen Grundart von den Werten einer anderen Grundart unterscheidet, nichts anderes ist als die q u a l i t a t i v e Bestimmtheit der einzelnen Werte oder der ganzen Wertarten. 4 Im Hinblick auf diese qualitative Bestimmung müßten also die Werte in Grundarten und Unterarten eingeteilt werden. Hier liegt eben die Quelle der Schwierigkeit. Wenn wir verschiedene Qualitäten, bzw. die Gegenstände, die durch sie konstituiert sind, in unmittelbarer Anschauung zusammenstellen, dann gelingt es uns zwar, sie ihrer qualitativen Verwandtschaft nach anzuordnen (die nahe verwandten zusammen und die unverwandten oder heterogenen in verschiedene Gruppen). Sobald wir aber dieses Ergebnis begrifflich fassen wollen und zu sagen haben, was die in einer Gruppe gesammelten Qualitäten „Gemeinsames" haben (d. h. eben das, worin sie verwandt sind), was über ihre Verwandtschaft entscheidet, befinden wir uns in einer großen Verlegenheit. Denn es ist bekanntlich nicht möglich, Qualitäten zu definieren, sie begrifflich zu bestimmen, und insbesondere jenes unselbständige, über die Verwandtschaft mehrerer Qualitäten entscheidende und an ihnen irgendwie auftretende Moment eindeutig anzugeben. Dieses unselbständige qualitative Moment sollte man an den verschiedenen qualitativen Bestimmungen der Werte zu erschauen und es zudem wenigstens eindeutig zu nennen wissen, wenn es schon nicht möglich ist, es begrifflich zu bestimmen.5 Wie sollte man aber das Einteilungsprinzip der Werte angeben, wenn man sogar dieses an der qualitativen Bestimmung verwandter Werte teilhabende unselbständige Moment nicht zu erschauen vermag? Diese Schwierigkeit wächst noch dadurch, daß auch die Werte, welche zu den einzelnen - nur vorläufig abgegrenzten - Gruppen gehören, sich wiederum voneinander in ihrer qualitativen Bestimmung oft ziemlich stark unterscheiden. In der Gruppe der „ästhetischen" Werte tritt z.B. nicht überall und nicht allein die „Schönheit" auf, sondern auch andere 4

Einige Forscher sagen direkt, daß Werte Qualitäten sind. V g l . z . B . Herbert W u t z , „ Z u r Theorie der literarischen W e r t u n g " . Tübingen 1 9 5 7 . Dies ist aber eine unrichtige Vereinfachung des Tatbestandes.

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A u f anderen Gebieten der Qualitäten überwindet man oft diese Schwierigkeit, indem man eine Zuordnung zwischen den Qualitäten und gewissen Quantitäten statuiert, wie man z . B . den verschiedenen Lichtfarben die Z a h l der Wellen des physikalischen Lichtprozesses pro Einheit der Zeit zuordnet. Im G r u n d e ist dies aber keine Überwindung, sondern nur eine Umgehung der oben angedeuteten Schwierigkeit. Wie soll man aber verfahren, w o eine solche Zuordnung (oder wie die Physiker wollen: „ R ü c k f ü h r u n g " ) der Qualitäten auf Zahlen - w i e im Fall der Werte - nicht möglich ist?

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Grundwerte, wie z.B. die „Anmut" {la grâce), „Vollkommenheit", „Größe" usw. Aber auch das „Schön-Sein" ist nicht überall dasselbe, ebenso wie das ihm verwandte und doch wesentlich von ihm verschiedene „Hübsch-Sein". Wenn wir ζ. B. die Schönheit eines altgriechischen korinthischen Tempels neben die Schönheit einer romanischen Basilika oder eines altfranzösischen gotischen Domes stellen, so sind alle diese großen Werke der Architektur unzweifelhaft im echten Sinne „schön". Ihre Schönheit ist aber zugleich doch stark verschieden, so stark, daß wenn man alle diese „Schönheiten" in e i n e m Werk zusammenfassen wollte, daraus nur eine böse Kakophonie entstehen müßte. Nicht anders ist es in der Domäne der sittlichen Werte. Bei ihnen ist man oft geneigt, überall von „Gut" (Güte) (bonum) zu sprechen. Das Wort „Gut" hat aber eine viel weitere, über das Gebiet des Sittlichen hinausreichende Bedeutung, so daß man ebensowohl von „guten" Speisen, von „guten" Wegen, von „guten" Kunstwerken als auch von einer „guten" Tat, ζ. B. der Rettung eines Menschen aus einer Gefahr, spricht. Es gibt aber verschiedene andere sittliche Werte, bei denen man kaum von „Gut" sprechen dürfte, so ζ. B. die Verantwortlichkeit, die Gerechtigkeit, die Opferwilligkeit, die Tapferkeit, der Edelsinn usw. Dabei stoßen wir in jedem Wertgebiet auf Gegensätze. Neben der Schönheit gibt es die Häßlichkeit, neben der Tapferkeit die Feigheit (besonders im zivilen Leben), neben dem positiven Wert des Verzeihens den negativen der Radie, bzw. der Rachsüchtigkeit, neben dem Guten das Böse usw. Es ist dabei gar nicht so, als ob die negativen Werte (Unwerte) einfach das Fehlen eines positiven Wertes wären, wie man es oft zu deuten suchte. Im Gegenteil, alle Werte sind effektiv auf eigene, manchmal einzigartige Weise qualitativ bestimmt. Das Böse, das Häßliche, die Feigheit - das ist alles etwas, was in seiner qualitativen Eigenartigkeit ins Auge fällt und somit in sich faßbar ist, ohne daß es nötig wäre, sich auf das Gute, auf das Schöne oder auf die Tapferkeit zu beziehen und einfach das Fehlen dieser letzteren Werte festzustellen. Wie soll man angesichts der so krassen Gegensätzlichkeit der qualitativen Bestimmung der positiven und der zugehörigen negativen „Werte" noch das gemeinsame Moment finden, das alle diese Werte dodi zu e i n e r Gattung der sittlichen Werte zuzuteilen gestattet? Es ist gewiß möglich - wenigstens in einigen Fällen - eine Reihe von Bedingungen anzugeben, bei deren Bestehen in konkreten Situationen diese oder jene Werte, z. B. sittliche Werte, auftreten, Bedingungen, die nicht bestehen müssen oder auch nur nicht bestehen, wo Werte anderer Grundgattung, z. B. die ästhetischen Werte, erscheinen. Man hat nicht ιοί

einmal versucht, diese Bedingungen anzugeben, und zwar Bedingungen, die von dem Gegenstand erfüllt werden müssen, der einen bestimmten Wert trägt.® Man behauptete ζ. B., daß die Bedingung des Auftretens der sittlichen Werte - und zwar sowohl der positiven als der negativen die Freiheit des Menschen sei, der sie realisieren soll. Sie ist übrigens die unentbehrliche, aber nicht hinreichende Bedingung. Die Taten eines Menschen, der der Freiheit (des Entschlusses) beraubt ist, können nützlich sein, sie können anderen Menschen Wohl bringen oder im Gegenteil ihnen wesentlich schaden, sie sind aber vom Standpunkt der Moral aus in beiden Fällen neutral. Eine andere ebenfalls nur unentbehrliche Bedingung des sittlichen Wertes der menschlichen Taten ist die psychische Gesundheit des Täters, welche es ihm erlaubt, für seine Taten verantwortlich zu sein. Der psychisch Kranke - und zwar in dem Maße krank, daß er völlig unverantwortlich ist - kann keine moralisch wertvolle oder sündhafte Tat vollbringen, auch dann, wenn er mit den ethischen Gesetzen im Einklang handelt. Die psychische Gesundheit reicht aber nicht hin, sittlich wertvolle Taten zu vollbringen. Das ist natürlich richtig, so groß auch die Schwierigkeiten bei der Aufsuchung dieser Bedingungen sein mögen, die in Grenzfällen entstehen. Aber wenn es uns auch gelingen sollte - wenigstens für einen bestimmten Wert oder für eine bestimmte Wertgattung - , den v o l l e n Bestand an solchen unentbehrlichen und eventuell auch hinreichenden Bedingungen der Realisierung solcher Werte anzugeben, was - so viel ich weiß - noch auf keinem Wertgebiet zu vollbringen gelungen ist - , so würden wir auf diesem Wege doch keine klare Erfassung und auch kein einsichtiges Verständnis der einzigartigen Natur (des Wesens) der Werte einer bestimmten Gattung oder auch nur eines bestimmten Wertes gewinnen. Die Kenntnis der Bedingungen der Realisierung eines Wertes kann uns die Erschauung seiner spezifischen qualitativen Bestimmung nicht ersetzen. Wir könnten auf diesem Wege höchstens die Umgrenzung des Bereiches der Werte einer bestimmten Art erzielen. Das wäre natürlich ein wertvolles Ergebnis in der Erforschung der Werte. Wenn man aber versucht, die spezifische Eigenart gewisser Werte auf einen Bestand solcher Bedingungen zurückzuführen, wie dies tatsächlich nicht einmal getan wurde, so ist dies nicht nur unbefriedigend, sondern es bedeutet auch einen wesentlichen Fehler. Denn die Gesamtheit soldier Bedingungen bildet nicht die qualitative Bestimmung des betreffenden Wertes (oder der Wertgattung) selbst, sondern sagt uns nur, w a n n ein 6

Vgl ζ. B. Nicolai H a r t m a n n , „Ethik". Berlin und Leipzig 1926.

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bestimmt qualifizierter Wert erscheinen oder - besser - wirklich auftreten kann. Man wird auch nur scheinbar durch die Entdeckung der Realisationsbedingungen gewisser Werte der Aufgabe entledigt, sie selbst in ihrer qualitativen Eigenart zu erfassen. Denn die erfolgreiche Auffindung dieser Bedingungen läßt sich eben nur dann durchführen, wenn man dabei durch die intuitive Erfassung der spezifischen qualitativen Bestimmung der Werte der betreffenden Gattung geleitet wird. Fehlt diese Erfassung, dann ist auch die deutliche Abgrenzung des Bereiches der Fälle, in welcher Werte dieser Gattung auftreten, nicht möglich; dann muß audi das Suchen nach den Bedingungen erfolglos sein. Und um so hoffnungsloser ist es dann, durch mangelhafte Kenntnis der Bedingungen das Erschauen der qualitativen Bestimmung des Bedingten zu erreichen. Nichts kann uns also von der auf uns lastenden wissenschaftlichen Pflicht der intuitiven Erschauung der Spezifität der Werte sowie von dem damit verbundenen geistigen Kraftaufwand befreien. Natürlich, es gibt verschiedene Modi und Vollkommenheiten der intuitiven, das eigentümliche Wesen der Werte zur Gegebenheit bringenden Erschauung; und nicht auf einmal oder durch einen glücklichen Einfall gelangt man da zu einer wirklichen und echten Klarheit. Es kostet oft viel Mühe und die Überwindung verschiedener täuschender Hindernisse. Aber auch dann, wenn diese Erschauung schon völlig klar ist, ist dasjenige, was da gegeben ist, eben damit nicht immer schon in seiner qualitativen Eigenart wirklich thematisch erfaßt und von anderen qualitativen Bestimmtheiten so unterschieden, daß es dann unfehlbar identifiziert werden könnte. So lange dies aber nicht erreicht wurde, ist es nicht sicher, ob der intuitive Umgang mit der betreffenden Gegenständlichkeit (ζ. B. mit der betreffenden Qualität oder qualitativen Bestimmtheit von etwas) eine echte Intuition ist, die uns auf unfehlbare Weise darüber belehrt, was in ihr gegeben ist. Aber auch wenn es uns gelänge, eine solche Intuition zu erreichen, so reicht die Tatsache, daß uns ζ. B. eine Wesenheit oder das Wesen von etwas g e g e b e n ist, noch nicht dazu aus, daß wir in der Lage wären, klar und eindeutig zu s a g e n , w a s es eigentlich ist, was uns so klar als eigentümlich in sich qualifiziert gegeben ist. Man wird uns sagen: Gewiß, die Qualität, welche einen Wert oder eine Wertgattung bestimmt, ist ein abstraktes Moment, welches ihn auszeichnet oder seine Natur bildet oder endlich zu seiner Natur als gattungsgemäßes Moment gehört. Dies ist natürlich wahr, aber daß eine Qualität ein abstraktes Moment ist, welches in einer Gegenständlichkeit die Funktion ihrer Natur ausübt, darüber klärt uns diese Qualität in 103

ihrer Spezifität nicht auf und sagt uns eben damit auch nicht, w a s die konstitutive Bestimmtheit eines Wertes oder einer Wertgattung ist. Das aber zu wissen, scheint die unentbehrliche Bedingung dessen zu sein, daß man die Grundgattungen (oder Arten) der Werte auf befriedigende Weise unterscheidet. Man hat mehrmals versucht, die einzelnen Wertgattungen durch die Berufung auf die Einstellung des Empfängers, bzw. des Schöpfers der Werte besonderer Gattungen zu bestimmen. Man sagt z.B., daß diejenigen Werte ästhetische Werte sind, die der Betrachter in ästhetischer Einstellung zur Enthüllung bringt. Man versucht, sie audi durch Berufung darauf zu bestimmen, daß sie das ästhetische Erlebnis hervorrufen. 7 Man charakterisiert ζ. B. die ästhetischen Werte durch das sogenannte „interessenlose Gefallen", welches sie von den Nützlichkeitswerten, bei welchen eine Art Engagement auftritt, unterscheiden soll. Dabei ist man oft geneigt, die sittlichen Werte auf die Nützlichkeitswerte „zurückzuführen". Die Berufung auf Einstellungen oder Verhaltensweisen der Empfänger gewisser Werte kann uns bei der Bestimmung des Bereiches der Fälle, in welchen Werte gewisser Art auftreten, behilflich sein, sie kann uns aber das unmittelbare Erkennen und die begriffliche Bestimmung (Erfassung) dieser Werte selbst nicht ersetzen. Aber noch mehr: die Auffindung jener charakteristischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Empfänger gewisser Werte kann nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn es uns gelungen ist, mindestens die intuitive Erfassung der qualitativen Bestimmung jener Werte zu erreichen. Denn man muß aus vielen verschiedenen Einstellungen und psychischen Verhaltensweisen des Menschen gerade diejenigen auswählen, welche bei dem Empfang und Umgang mit den Werten einer bestimmten Art überhaupt in Frage kommen. Fehlt uns die Kenntnis dieser Werte selbst, so fehlt auch der Leitfaden zur Wahl der betreffenden Einstellungen und Verhaltensweisen. Also mißlingt auch diese so oft vorgeschlagene „Zurückführung" der Werte und der Versuch, ihre direkte intuitive Erkenntnis irgendwie zu meiden. 7

Wenn man unter der „ästhetischen Einstellung" diejenige Einstellung versteht, in welcher Erkenntnisakte einer ganz besonderen Art vollzogen werden können, die es uns erlauben, die ästhetischen Werte unmittelbar zu erfassen, so ist das wenigstens nicht falsch, nur sagt es uns gar wenig, weil man jetzt der Reihe nach sagen müßte, was für Akte es eben sind, die das zu leisten vermögen. Schlimmer ist es aber, wenn man ζ. B. sagt, ästhetische Werte seien eben Werte, die uns „gefallen" oder in uns den Zustand der Befriedigung oder der Lust hervorrufen. Der Rauch einer guten Zigarette gefällt vielen, braucht aber mit einem ästhetischen Wert nichts zu tun zu haben.

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Es kommt aber noch immer vor, daß man den Wert und seine qualitative Bestimmung (seine Natur) mit der Einstellung oder mit den Erlebnissen, in welchen wir ihn entdecken, oder nodi schlimmer, mit Erlebnissen, die sie - angeblich - in uns hervorrufen, mit dem sogenannten „Gefallen" einfach i d e n t i f i z i e r t . Man sagt dann noch krasser: nur dieses „Gefallen" oder nur das „Beurteilen" besteht in Wirklichkeit, Werte als solche gibt es nicht. Es ist aber das Eigentümliche dieser subjektiven Verhaltensweisen, daß sie eine besondere Illusion — eben jene angeblich existierenden „Werte" - schaffen. Die Annahme einer solchen Auffassung soll der Ausdruck einer besonderen wissenschaftlichen Verantwortlichkeit ihrer Vertreter sein, welche keine „Metaphysik", keine „Hypostasierung" der Werte als besonderer Entitäten zulassen. 8 So sehr diese Auffassung audi in gewissen Kreisen bis heute in Mode ist, halte ich sie doch für veraltet und möchte sie hier nicht aufs neue ausführlich kritisieren. Es genügt vielleicht, hier daran zu erinnern, daß das sog. „Gefallen", b z w . die sog. „Lusterlebnisse" oder die „Beurteilung" nichts anderes als ein vorübergehendes subjektives Verhalten eines Menschen sind, der mit einem Kunstwerk (oder mit irgendeinem anderen wertvollen Gegenstand) unmittelbar verkehrt. Dieses Verhalten vollzieht sich mehrmals und in jedem Fall auf eine etwas andere Weise, während das Kunstwerk mit seinem ihm zukommenden Wert ein und dasselbe ist und sich währenddem in seinen Bestimmtheiten und auch in seinem Wert gar nicht verändert. Es kümmert sich sozusagen um das menschliche Verhalten gar nicht. U n d wenn viele Betrachter da sind, dann sind ebenso viele Gefallenszustände und Lustgefühle oder Beurteilungen vorhanden, während demgegenüber das Kunstwerk mit s e i n e m Wert nur e i n individuelles Gebilde ist, das sich während dieser verschiedenen Verhaltensweisen der Betrachter nicht vervielfältigt. Es ist das eine und dasselbe Bild von V e r m e e r , das in Den H a a g im Städtischen Museum aufgestellt ist, und sofern das physische Fundament dieses Bildes, d. h. das Material, auf das es „gemalt" wurde, nicht infolge der Zeit und der äußeren Einflüsse irgendwelchen Veränderungen unterliegt, bleibt es als ein und dasselbe mit seiner delikaten, milden und doch auffallenden Schönheit, mit seiner edlen Süße und ausgeglichenen Ruhe weiter bestehen, unabhängig davon, was w i r sonst dabei erleben, wenn 8

P e t r a z y c k i und seine Anhänger, aber audi viele „nüchterne", auf ihre wissenschaftliche Vorsichtigkeit äußerst stolze Positivisten sind dieser Meinung. Im Grunde sind auch die Vertreter der Theorie, daß Werte Illusionen einer sozialen Anerkennung seien, nidit näher an der Sache, nur daß sie das „erlebende" und „beurteilende" Individuum durch eine menschliche Gemeinschaft ersetzen.

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wir es in solcher oder in einer anderen Stimmung betrachten.9 Ganz unabhängig davon, wie schwierig es audi sein mag, sich von der Spezifität dieser einzigartigen Schönheit Rechenschaft zu geben und sie auf gerechte Weise zu beurteilen, ist sie jedenfalls etwas völlig anderes als alle Einstellungen und Verhaltensweisen der Betrachter, und zwar sowohl derjenigen, die diese Schönheit zu erfassen vermögen, als der anderen, die nur blind vor dem Bild stehen und sich ihren „Lustgefühlen" hingeben. Es wird von manchen die Ansicht vertreten, daß sich prinzipiell kein Wert begrifflich bestimmen und insbesondere definieren läßt. 10 Dies wäre aber nur dann wahr, wenn jeder Wert in seiner Materie durch eine e i n f a c h e ursprüngliche Qualität bestimmt wäre. Dies gilt vielleicht in bezug auf einige Werte oder bezüglich des Gattungsmoments einer Wertgattung, es läßt sich aber nicht von allien Werten und Geltungsmomenten überhaupt behaupten. Denn wenn es wirklich der Fall wäre, so wäre es auch nicht möglich, Gruppen oder - richtiger gesagt - Gattungen von Werten zu unterscheiden, was doch, zunächst als eine bloße Tatsache, nicht zu leugnen ist.11 Auch könnte man keine Werte miteinander hinsichtlich ihrer Grundgattung oder hinsichtlich ihrer Höhe vergleichen. Daß dies indessen möglich ist, weist darauf hin, daß in der qualitativen Bestimmung (in der Materie) der Werte wenigstens in einigen Fällen einfachere qualitative Momente vorhanden sind und sich abstraktiv unterscheiden lassen. Man kann sich auch davon Rechenschaft geben, daß manche von diesen Momenten die Rolle der Art, bzw. Gattungsmomente spielen, während es andere Differenzierungsmomente gibt, welche die niedrigeren Wertarten sowie gewisse streng individuelle Werte12 näher bestimmen. Es ist aber nicht mit allen Werten so. Wo dies aber stattfindet, da haben wir es sicher nicht mit einer bloßen qualitativen Zusam9

Dem scheint meine Unterscheidung des Kunstwerks und seiner Konkretisationen zu widersprechen. A b e r einerseits läßt sich die Identität der Kunstwerke in der Mannigfaltigkeit seiner Konkretisationen erweisen, andererseits ist auch im Fall einer bestimmten Konkretisation eines Kunstwerks sie selbst und ihr ästhetischer W e r t von den subjektiven Verhaltensweisen und dem „ G e f a l l e n " des Betrachters zu unterscheiden. N u r die Gründe dieser Unterscheidung sind in diesem Fall verschieden.

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V g l . z . B . M a x S c h e l e r , „Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik". In: Jahrbuch f ü r Philosophie und phänomenologische Forschung. B d . I, 1 9 1 3 . S. 4 1 2 ff.

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Wonach aber dabei zu fragen ist, ist lediglich erstens, w i e es möglich ist, dies auf rechtmäßige Weise zu tun, und zweitens, in welcher Weise sich die gewöhnlich durchgeführten Unterscheidungen begründen lassen.

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Bei dem Ausdruck „individueller W e r t " ist Vorsicht geboten, damit hier nichts unerwogen präjudiziert w i r d . Es handelt sich dabei erstens um eine niederste Differenz von Werten, die doch in vielen einzelnen Fällen an den einen solchen

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mensetzung zu tun, in welcher die einzelnen sich abhebenden Qualitäten nur als Teile eines Ganzen, welche sich abtrennen lassen, nebeneinander liegen. Im Gegenteil, alle wirklich an konkretes Material der Werte unmittelbar anknüpfenden Untersuchungen haben gezeigt, daß dem nicht so ist. Jene qualitativen Momente, die sich in der Materie der Werte zur Abhebung, bzw. zur Unterscheidung bringen lassen, sind in den meisten Fällen nur „abstrakte", unabtrennbare und in die Gesamtmaterie eingetauchte, seinsunselbständige Momente. Wo sie e i n s e i t i g seinsunselbständige Momente sind, da können zwei verschiedene Fälle eintreten: Entweder ist ein Moment A auf eine eindeutige Weise oder aber auf eine mehrdeutige Weise gegenüber etwas anderem einseitig unselbständig. Im ersten Fall muß A immer mit einem in seiner Materie eindeutig bestimmten Moment Β (also gerade mit Β und nur mit B) in einem qualitativen Ganzen auftreten. Im zweiten Fall dagegen kann A mit irgendeinem Bn aus einer Mannigfaltigkeit der einander verwandten B-Momente auftreten, immer aber muß A mit einem Bn zusammen auftreten. In dem ersten Fall ist das Β das ergänzende Moment des A und bildet mit ihm ein Ganzes. Im zweiten Fall ist das jeweilige B n ein die Materie des Ganzen ergänzendes Moment. In diesem Ganzen ist A das Artmoment mehrerer einander verwandter Ganzer, wenn es gegenüber Β mehrdeutig seinsunselbständig, alle Bn dagegen gegenüber A eindeutig unselbständig sind. Die einzelnen B n bilden dann die differenzierenden Momente für die Individuen der Art A. Solche differenzierenden Momente dürfen also nur dort gesucht werden, wo die Wertmaterie nicht schlechthin einfach und ursprünglich ist. Die abstrakten Artmomente der Wertmaterie können als Prinzipien der Bildung der einzelnen Arten der Werte verwendet werden. Es bleibt aber dabei immer eine offene Frage, nämlich was als Prinzip zur Einteilung a l l e r Werte und Grundarten der Werte dienen kann. Es wird uns vielleicht noch gelingen, darauf zurückzukommen. Es darf nicht vergessen werden, daß es schlechthin „individuelle" Werte - in dem schon angedeuteten Sinne - geben kann, deren Materie so einzigartig ursprünglich und unwiederholbar ist, daß sie sich in gar keine Art der Werte einteilen lassen. Wert tragenden Gegenständen auftreten und d a m i t in ihrer Seinsweise individuiert w e r d e n ; zweitens aber handelt es sich um einen Wert, der in sich q u a l i t a t i v so einzigartig und unwiederholbar ist, d a ß er nur an e i n e m G e g e n s t a n d auftreten kann. V o n solchen Werten ist m a n oft geneigt, z . B . bei großen K u n s t w e r k e n zu sprechen. Sie k ä m e n audi bei personalen Werten großer Persönlichkeiten in Betracht. Ihre q u a l i t a t i v e Bestimmung bildete d a n n so etwas, wie die „ H a e c c e i t a s " v o n D u n s S e o t u s . O b es aber solche Werte wirklich gibt und geben kann, d a s muß meiner Ansicht nach noch dahingestellt bleiben.

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ad2. D i e F o r m d e s W e r t e s . Sobald aber das Problem der Einteilung der Werte in Grundarten sich so darzustellen beginnt, müssen wir uns zu Bewußtsein bringen, daß wir dadurch in einen neuen Problembereich eintreten. Es taucht nämlich das Problem der F o r m des Wertes auf. Es gibt da viele Probleme, die nicht geklärt und auch als Probleme nicht rein voneinander geschieden und in sich nicht streng gefaßt wurden. Daß dem wirklich so ist, zeigt am besten die Tatsache, daß es viele widerstreitende Auffassungen der Wertform gibt. Im täglichen Umgang mit Werten und auch in wissenschaftlichen Aussagen über die Werte bedient man sich verschiedener Wendungen, die über ihre Form dies oder jenes implicite voraussetzen. Wir fällen verschiedene Urteile über die Werte, in welchen ihnen verschiedene Merkmale oder Eigenschaften zuerkannt werden oder ihre bestimmte Natur festgelegt wird, so als ob Werte bestimmt geartete G e g e n s t ä n d e wären. Gewiß, niemand wird sagen, daß z . B . die Schönheit oder das sittliche Gut ein Ding oder eine Sache ist, wie ζ. B. ein Baum oder ein Felsen.18 Man behandelt aber doch die Werte so, als ob sie in der Zeit dauernde Subjekte von Eigenschaften wären. Niemand dagegen wäre wahrscheinlich geneigt, Werte für Vorgänge zu halten, und zwar auch dort nicht, wo einem vorgangsmäßigen Ganzen - wie es ζ. B. jedes Musikwerk oder die Ausführung einer Arbeit bildet — ein konkreter Wert zukommt. Auch in der allgemeinen Werttheorie hat man sich oft so ausgedrückt, als wenn der Wert ein Gegenstand wäre, da man ihm ja diese oder jene Merkmale, bzw. Eigenschaften zuerkennt. Indessen scheint dies der Tatsache zu widersprechen, daß Werte nie etwas für sich Bestehendes, sondern immer nur Werte v o n e t w a s sind. Ganz unabhängig davon, welcher Art ein Wert ist, ob er ein Nützlichkeitswert, wie ζ. B. die Leistungsfähigkeit eines Motors, oder ein sittlicher Wert eines Menschen oder einer menschlichen Verhaltensweise oder ein künstlerischer Wert eines Kunstwerks ist, immer existiert ein Etwas, und im besonderen Fall ein Ding, welches s e i n e n Wert besitzt und dem dieser Wert zukommt. Und es gibt überhaupt gar keinen Wert, der ohne dasjenige Etwas, d e s s e n Wert er ist, existierte. Wenn eine Maschine völlig zerschlagen wird, dann hört auch ihr Nützlichkeitswert

M Aus diesem Grunde müßte der sogenannte „Reismus" v o n T . K o t a r b i á s k i , in welchem nur D i n g e angenommen werden, die Existenz a l l e r Werte leugnen und somit auch keinen „Traktat über gute A r b e i t " zulassen (wie ihn K o t a r b i n s k i geschrieben hat).

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auf zu bestehen.14 Eben dadurch ist jeder Wert seinsunselbständig im Verhältnis zu dem Gegenstand, dem er - wie man sagt - „zukommt", wenn er ihm überhaupt zukommt. Er ist somit nie ein selbständig existierender Gegenstand und als solcher kann er auch - streng gesprochen - nie ein Subjekt von Eigenschaften und in diesem Sinne ein Gegenstand sein.15 Es scheint demnach, daß ein Wert nichts anderes als ein M e r k m a l oder e i n e E i g e n s c h a f t von etwas ist. Und dies scheint damit zusammenzustimmen, daß wir oft von gewissen Gegenständen sagen, sie „besäßen" einen Wert. Zum Beispiel besitzt ein Kunstwerk den Wert der Schönheit, ein Mensch den Wert des sittlich Guten usw. Kürzer sagt man dann, das betreffende Kunstwerk sei „schön", der Mensch sei sittlich „gut" usw. Indessen ist diese Auffassung nicht frei von allen Gefahren. 16 Wenn Werte Eigenschaften wertvoller Gegenstände wären, müßte man vor allem vielen Gegenständen die Möglichkeit, einen Wert zu besitzen, absprechen. So können ζ. B. die physischen Dinge und Vorgänge nur physische Eigenschaften, z . B . diese oder jene räumliche Gestalt, Dichte, Wärme oder elektrische Leitfähigkeit besitzen. Aber so etwas, wie ζ. B. daß eine bestimmte Pflanze „nahrhaft" oder „schön" ist oder daß die Gestalt eines Gefäßes, ζ. B. einer Porzellantasse, „vornehm" oder „elegant" ist - das kann sich unter den physischen Eigenschaften dieser physischen Dinge nicht finden. Infolgedessen wird von einigen Forschern vorgeschlagen, daß man die „sachlichen Eigenschaften des Gegenstandes" von den Werten als einer gewissen ganz besonderen Determination der Dinge unterscheide.17 Es ist aber fraglich, ob man diesem Vorschlag zustimmen soll. Vielleicht sollte man eher überhaupt darauf verzichten, Werte für besondere Eigenschaften eines wertvollen Gegenstandes zu halten. Die erste Eventualität könnte man auf zwei verschiedenen Wegen zu präzisieren suchen. Man könnte dann sagen, der Wert sei zwar eine 14

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Natürlich ist hier immer die Rede von einem Wert in concreto und in individuo und nicht von einem etwaigen idealen Gegenstand oder einer Idee - wie dies einst Ρ 1 a t ο η und im 20. Jh. Max S c h e 1 e r getan haben. Ich komme nodi darauf zurück. Daß jeder individuelle Gegenstand - formal betrachtet - ein Subjekt von Eigenschaften ist, versuchte idi in meinem Buch „Der Streit um die Existenz der Welt", Bd. W i , Tübingen 1965, zu zeigen. Darauf hat George Edward M o o r e , „Principia Ethica". Cambridge 1903, hingewiesen, indem er diese Auffassung für den Fehler des „Naturalismus" in der Werttheorie hielt. So ζ. B. Herbert W u t ζ , „Zur Theorie der literarischen Wertung".

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Eigenschaft der wertvollen Sache, aber eine sekundäre, von ihren anderen Eigenschaften abgeleitete Eigenschaft, die in ihnen ihre unentbehrliche, aber manchmal nicht hinreichende Bedingung findet. So ist ζ. B. eine Pflanze für gewisse Tiere „nahrhaft", weil sie einen Gehalt an gewissen chemischen Substanzen und damit auch einen Bestand an chemischen Eigenschaften hat. Ein Ding - sagt man - ist z. B. „schön", weil es eine bestimmte Gestalt hat und auf eine bestimmte Weise fertig ist. Diesen Weg wählen ζ. B. die Formalisten in der Ästhetik, wenn sie sagen, daß lediglich die sog. „Form" im Kunstwerk wertvoll sei.18 Die zweite Behandlungsweise dieses Problems besteht in der Behauptung, daß der Wert eine solche Eigenschaft eines Dinges ist, vermöge welcher es auf den Menschen, der mit ihm irgendwie verkehrt, auf eine bestimmte Weise einwirkt, indem es in ihm gewisse Gefühle hervorruft oder seine Bedürfnisse oder Sehnsüchte stillt. So soll es insbesondere mit den ästhetischen Werten sein. In anderen Fällen sagt man, daß ein Ding dem menschlichen Wohlergehen und der Gesundheit dient, oder umgekehrt, daß es den Menschen vergiftet und ihm schadet. Im ersteren Fall ist es „nützlich" und damit wertvoll, im zweiten dagegen schädlich und damit „schlecht". Es ist sicherlich richtig, dasjenige im Gegenstand, wovon sein Wert abhängt (was seine unentbehrliche und eventuell hinreichende Bedingung bildet) von dem Wert selbst zu unterscheiden. Ist aber wirklich dasjenige, was von gewissen Eigenschaften eines Gegenstandes abhängt, eben damit schon ein Wert? Und auch wenn es so wäre, müßte man zunächst unter den vielen abgeleiteten Eigenschaften eines Gegenstandes diejenigen, welche den Wert bilden sollen, von denjenigen unterscheiden, die selbst wertneutral sind. So hängt ζ. B. von der Differenz des elektrischen Potentials an zwei Stellen einer gewissen elektrischen Einrichtung und von sonstigen Eigenschaften dieser Einrichtung ab, daß im Leiter der elektrische Strom fließt, der den Faden in der elektrischen Birne erhitzt und ihn zum „Leuchten" bringt. Dieser Strom, diese erhöhte Temperatur und endlich auch das Leuchten des Fadens — das sind alles immer weitere Prozesse oder Zustände der elektrischen Einrichtung, die sich aus ihren verschiedenen Eigenschaften ergeben. Erst aber dieses „Leuchten", bzw. das Licht der elektrischen Lampe wird unter bestimmten Umständen für den Menschen nützlich, und diese Nützlichkeit bildet 18

Es ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig, was sie unter „ F o r m " verstehen. Dies ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Wesentlich dabei ist nur, daß sie diese „ F o r m " als eine Eigenschaft des Kunstwerks, das sie gewöhnlich für ein reales Ding halten, betrachten. 110

den Wert der Lampe für den Menschen; sie ist aber nicht deswegen ein Wert, weil sie ein aus anderen Eigenschaften der Lampe sich ergebender Vorgang oder eine Eigenschaft ist. Muß sich zu dieser Tatsache, daß sie eventuell eine Eigenschaft der Lampe ist, nicht noch etwas durchaus Neues gesellen, vermöge dessen sie erst den Charakter der Wertigkeit erwirbt? Einige werden gewiß antworten, daß es tatsächlich so sei, daß man nämlich noch den Menschen und seine besonderen Bedürfnisse in Betracht ziehen müsse, ζ. B. die Erleichterung oder die Ermöglichung einer Arbeit, die sich in der Dunkelheit nicht durführen läßt, damit das elektrische Licht der Lampe nützlich und deswegen auch wertvoll sein könne. Wenn man so argumentiert, so geht man zu der zweiten Art der Begründung der These, daß Werte gewisse abgeleitete Eigenschaften seien, über, nämlich zu der Auffassung, daß die Nützlichkeit, als ein besonderer Wert eines Dinges, mit einer bestimmten Wirkungsweise eines Dinges auf den Empfänger oder Betrachter verbunden sei. Aber eben dadurch untergräbt man die Behauptung, daß der Wert eine Eigenschaft des wertvollen Dinges sei; denn im Sinne dieser Auffassung erscheint der Wert erst beim Zusammentreffen eines bestimmten Bedürfnisses des Menschen mit einer Einrichtung, weichte diese Bedürfnisse stillt. Aus dieser Stillung der menschlichen Bedürfnisse ergibt sich erst - wie man sagt - der Wert der Nützlichkeit. Man dürfte also nicht sagen, er sei eine Eigenschaft des betreffenden Dinges oder des Menschen oder gar eine Eigenschaft der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Ding, falls so etwas wie eine Beziehung überhaupt Eigenschaften haben kann. Wenn man die Nützlichkeit eines Dinges für seinen Wert hält, so setzt man dabei voraus, daß das Stillen der menschlichen Bedürfnisse selbst irgendwie wertvoll ist. Die Nützlichkeit als Wert ist dann selbst etwas von einem anderen Wert Abgeleitetes, ist aber wiederum keine Eigenschaft dieses anderen Wertes. Bei dieser Sachlage liegt es nahe, eine völlig andere Auffassung der Form des Wertes vorzuschlagen, wie es denn auch von verschiedenen Seiten getan wurde. Man sagt nämlich, der Wert sei keine Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern eine „Relation" (Beziehung) zwischen dem wertvollen Ding und einem anderen Ding, für welches das erste gewisse Dienste leistet. Diese Auffassung erlangt dann die größte Popularität, wenn man für das zweite Glied dieser Relation den Menschen oder die menschliche Gemeinschaft nimmt. Man spricht dann oft von der „sozialen Sanktion" (Anerkennung), welche überhaupt erst einem an sich wertlosen Gegenstand einen Wert „verleihen" soll. Von da aus ist schon einer relativistischen Werttheorie der Weg geebnet, welche im Grenzfall die III

Objektivität des Wertes überhaupt leugnet und seine Subjektivität behauptet, entweder in bezug auf den einzelnen Menschen oder in bezug auf eine größere oder kleinere menschliche Gemeinschaft. Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß es Werte gibt, b z w . geben kann, welche eine gewisse Beziehung zwischen entsprechend gewählten Gegenständen zum Grund haben. U n d es ist ebenfalls nicht zu leugnen, daß Werte möglich sind, deren Materie „relational" ist. Jedoch kann man nicht zugeben, daß dies für a l l e Werte gelten solle. Denn v o r allem haben nicht alle Werte eine relationale Materie. Dies darf man z . B . nicht von den sittlichen Werten behaupten. Auch von den meisten ästhetischen Werten gilt dies nicht, wenn es auch u. a. „relative" ästhetische Werte gibt. A b e r sogar dort, w o einem Wert eine Beziehung zugrunde liegt, ist es nicht möglich, diesen Wert selbst mit dieser Beziehung zu identifizieren. Die Beziehung (das Verhältnis) hat - wie ich anderenorts zu erweisen suchte19 - eine besondere Form, die keinem Wert, auch demjenigen nicht, der eine relationale Materie hat, zugeschrieben werden darf. Z u m Beispiel so etwas wie „ A n m u t " , „Vollkommenheit", „ R e i f e " u.dgl. ist keine Beziehung von etwas zu etwas. U n d z w a r auch dann nicht, wenn es sich sogar zeigen ließe, daß alle diese Werte aus diesen oder jenen Beziehungen zwischen zwei Gegenständen entspringen. Sehr unklar ist übrigens auch jenes angebliche Entspringen, b z w . Hervorgehen der Werte aus diesen Beziehungen. Denn es scheint weder ein logisches Sich-Ergeben noch etwa ein ursächliches Hervorgehen zu sein. Welcher A r t es sein soll - das sagen diejenigen nicht, welche diesen Standpunkt vertreten. So scheinen alle Hypothesen (Vermutungen) darüber, welche Form eigentlich dem Wert eignet, auf starke Zweifel zu stoßen. U n d man kann nicht sagen, daß w i r darüber wirklich etwas Positives wüßten. In allen diesen Vorschlägen berücksichtigt man gerade alles das nicht, was für jeden Wert charakteristisch und wesenhaft zu sein scheint, d. h. seine W e r t h a f t i g k e i t oder „Wertigkeit" selbst, und im Zusammenhang damit auch nicht den für jeden Wert charakteristischen Zug, daß er immer eine bestimmte Höhe hat, so daß sich Werte nicht nur hinsichtlich ihrer reinen Materie, sondern auch hinsichtlich ihrer Höhe voneinander unterscheiden. Mit anderen Worten: Man kann über Werte nicht sinnvoll sprechen, wenn man nicht zugibt, daß es zu ihrem Wesen gehört, eine Höhe zu haben, woraus sich übrigens ergibt, daß manche Werte „höher" als andere und „niedriger" als andere Werte sind. Infolgedessen 19

Vgl. R. I n g a r d e n , „Der Streit um die Existenz der Welt". Bd.II/i. K a p . X I I I .

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sind manche von ihnen würdiger als andere, realisiert zu werden. Ihre Realisierung muß also - wie S c h w a r z und S c h e l e r sagten - der Realisierung anderer Werte „vorgezogen" werden. Die Realisierung eines bestimmten Wertes muß mit anderen Worten in einer bestimmten Situation zugunsten der Realisierung eines anderen, „höheren" Wertes geopfert werden. Zum Wesen des Wertes gehört es, daß es etwas in oder an ihm gibt, was uns zur Wahl zwischen den realisierbaren Werten bewegt und zu seiner Realisierung auffordert, wenn ζ. B. die gleichzeitige Realisierung zweier verschiedener Werte in einer gegenständlichen Sachlage nicht möglich ist. Dies und eine Reihe anderer Umstände, von denen alsbald die Rede sein wird, legt manchen Autoren den Gedanken nahe, daß der Wert von etwas zwar kein selbständiger Gegenstand und insbesondere kein Ding ist, daß er aber eine gewisse Gegenständlichkeit von einer g a n z b e s o n d e r e n f o r m a l e n S t r u k t u r ist, die man von allen hier bis jetzt in Betracht gezogenen Formen unterscheiden muß, und insbesondere von der Form des Gegenstandes, der einen Wert „ b e s i t z t " , aber selbst kein Wert i s t . Die formale Struktur des Wertes unterscheidet sich dadurch von der Form des Gegenstandes, der selbst kein Wert ist, daß im Wert solche formalen Momente auftreten, wie sie in Gegenständen, die selbst keine Werte sind, nicht vorhanden sein können. In den Werten, wie überhaupt in allem, was irgendwie existiert, läßt sich eine gewisse (kategoriale) „Form" und eine „Materie" 2 0 und endlich eine Seinsweise unterscheiden. Die „Werthaftigkeit" ist aber schon etwas, was für jeden Wert unentbehrlich, aber weder Form noch Materie des Wertes ist. Dieses Moment zieht eben die besondere Form des Wertes nach sich. Auch die besondere Modifikation der Seinsweise des Wertes steht mit dem Moment seiner Werthaftigkeit in engem Zusammenhang.21 Mit der Werthaftigkeit des Wertes ist einerseits das Moment der Höhe des Wertes eng verbunden, andererseits gehört ihr auch dasjenige notwendig zu, was man unter der Positivität einerseits und unter der Nega20

Von der „Form" und „Materie" spreche ich hier in einem ganz prägnanten Sinn, den ich im VII. Kapitel meines Buches „Der Streit um die Existenz der Welt", Bd. I I / i , zu bestimmen suchte und dort als „Materie I " und „Form I " bezeichnet habe. Der Sinn deckt sich mit dem, was H u s s e r l „analytische F o r m " nannte, obwohl er die vielen Bedeutungen des Gegensatzes Form-Materie nicht unterschieden hat.

21

Uber diese Seinsweise wurde zunächst gesagt, daß der Wert seinsabhängig von dem ist, was ihn trägt, und des weiteren, daß er von gewissen Eigenschaften oder allgemeinen Bestimmtheiten des den Wert tragenden Gegenstandes seinsabgeleitet ist. Dies erschöpft aber diese Seinsweise noch nicht. Ich komme noch darauf zurück.

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tivität andererseits versteht. Natürlich hängt die Werthöhe von der Wertmaterie ab: sie bestimmt sie, und zwar sozusagen auf einmal mit ihren sekundären Momenten der Positivität, bzw. der Negativität zusammen. Die Werthaftigkeit mit ihrer Höhe und Positivität (bzw. Negativität) zusammen bildet sozusagen die Q u i n t e s s e n z der Materie des betreffenden Wertes. Manche Forscher unterscheiden noch die sog. „Kraft" des Wertes, die in Werten verschiedener Art audi verschieden sein soll. Zum Beispiel soll diese „Wertkraft" bei den sittlichen Werten größer als bei den ästhetischen Werten sein.22 Verschiedene Forscher versuchen diese verschiedenen Momente in der Struktur des Wertes etwas genauer zu klären. Man kann aber nicht sagen, daß diese Analysen wirklich weit genug geführt worden wären, was übrigens mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der Probleme verständlich ist. So hat ζ. B. Hermann L o t z e behauptet, daß Werte nicht existieren, sondern „gelten"; und dieses Moment der „Geltung" sollte, wie es scheint, eben dasjenige am Wert treffen, was hier die „Werthaftigkeit" genannt wird. 23 Die Vertreter der sog. „süddeutschen" Schule (H. R i c k e r t , W. W i n d e l b a n d u. a.) 24 und später auch Max S c h e ie r und N . H a r t m a n n 2 5 behaupteten, daß jeder Wert ein Postulat seiner Realisierung in sich trägt, was auf eine besondere Weise sein Sein modifiziert. Man sprach auch darüber, daß für die Werte ein besonderer Charakter des Sollens charakteristisch ist, und man bildete zu diesem Zweck den Begriff des Seinsollens, der bei den Werten den Begriff des Seins ersetzen sollte. Dabei sollte dieses Seinsollen bei Werten verschiedener Art nodi verschieden sein. Bei den sittlichen Werten ist dieses Sollen „absolut", die Folge davon ist, daß die Nichtrealisierung eines sittlichen Wertes selbst, wenn die Möglichkeit seiner Realisierung besteht, die Realisierung eines n e g a t i v e n sittlichen Wertes (des Bösen) ist. Dagegen scheint es, daß ein derartiges „absolutes" Sollen bei den ästhetischen Werten nicht mehr besteht. Ihre Nichtrealisierung, wenn die Möglichkeit der Realisierung des betreffenden Wertes besteht, bildet - wie es scheint - in sich noch keinen negativen, insbesondere auch keinen negativen sittlichen Wert.26 Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß auch 22

23 24 25

28

Vgl. Nicolai H a r t m a n n , „Ethik". S . 2 j i . Idi muß bekennen, daß ich diesen Begriff mit keiner intuitiven Gegebenheit verbinden kann und deswegen nicht recht verstehe, was H a r t m a n n damit im Sinn hatte. L o t z e , „Grundzüge der Ästhetik", Leipzig 1884. R i c k e r t , „Vom System der Werte". Logos, Bd. j . S c h e l e r , „Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik", a . a . O . , Bd. I. S . 4 8 3 . H a r t m a n n , „Ethik", S . 2 3 7 f f . Max S c h e l e r („Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik", a.a.O.,

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bei den ästhetischen Werten ein gewisses Postulat ihrer Realisierung (genauer gesagt: ihrer Konkretisierung) aufzutreten scheint, sie erbeten sich sozusagen realisiert zu werden. Sie beschweren uns aber nicht mit einer „Sünde", wenn wir ihre Forderung nicht erfüllen. Wir sagen auch, nicht ohne Grund, daß wenn etwas zur Nahrung dienen soll, so s o l l es auch nahrhaft und nicht giftig sein. Und wenn etwas als Werkzeug zu etwas dienen soll, so s o l l es zur Erfüllung seiner Funktion leistungsfähig sein. Und wenn der Zweck, zu dessen Realisierung das Werkzeug dient, selbst positiv-wertvoll ist, so s o l l dieses Werkzeug audi g e b a u t werden. Wenn dagegen dieser Zweck negativ-wertig ist, so s o l l die Herstellung des Werkzeugs v e r m i e d e n werden. Bei solchen Nützlichkeitswerten ist sowohl der Wert selbst als auch das Postulat seiner Realisierung von dem Bestehen anderer Werte abhängig. Seine Werthaftigkeit selbst ist von dieser seinsabhängigen Art, und dies weist sich in der Wertmaterie selbst aus. Man soll diesen Charakter der bedingten Werthaftigkeit nicht mit der „Relativität" des Wertes in den verschiedenen möglichen Bedeutungen identifizieren. Aber auch diese in verschiedenen Bedeutungen mögliche Relativität eines Wertes ist ebenfalls etwas, was nur bei Werten als solchen auftreten kann, obwohl sie nicht bei allen Werten überhaupt möglich ist. Wie wir sehen, ist der Wert ein sehr kompliziertes Gebilde, wenn die Unterscheidung der soeben aufgezählten als zu seinem Wesen gehörigen Momente richtig ist. Dies zieht eine ganz besondere Gestaltung seiner Struktur nach sich, die sich weder in der Grundform des selbständigen individuellen Gegenstandes noch in der Form einer Eigenschaft noch endlich in der Form der Relation auffinden läßt. In der Struktur des Wertes spielt der Umstand eine besondere Rolle, daß er immer ein gewisser Uberbau auf der Grundlage dessen ist, wessen Wert er ist, ein Überbau aber, der - wenn der Wert echt ist — kein Parasit am Gegenstand ist, der also n i c h t von außen her dem Gegenstand aufgepfropft oder aufgezwungen oder verliehen wird, sondern aus dem eigenen Wesen des Gegenstandes erwächst. Wenn er so von außen her aufgezwungen oder verliehen wäre, dann wäre es überhaupt kein echter „wirklicher" Wert. Weil er nur so aus dem Wesen des Gegenstandes erwachsen S . 4 8 3 ) spricht für a l l e Werte eine Reihe, wie er meint, apriorischer Gesetze der A r t aus wie: „Die Realisierung [die Existenz - R. I.] eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert" oder „Die Niditrealisierung eines positiven Wertes ist selbst ein negativer Wert" usw. Eine solche allgemeine Formulierung dieser Gesetze führt aber, wie es scheint, zu einem regressus in infinitum. Andererseits lassen sich diese Gesetze gerade deswegen nicht auf alle Werte überhaupt anwenden, weil das Seinsollen nicht bei allen Werten von demselben Typus sein kann.

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kann, ist er in seiner Form und auch in seiner Seinsweise unselbständig und abgeleitet. Wir sagen oft, daß der Wert dem Gegenstand, der ihn „hat", z u k o m m t . Sofern man aber unter dem „Zukommen" dasjenige formale Moment im Sinn hat, das für jede E i g e n s c h a f t charakteristisch ist, ist das „Zukommen" des Wertes von einer a n d e r e n Art, obwohl es sehr schwer zu sagen ist, worin sich diese für den Wert charakteristische Weise des „Zukommens" von dem „Zukommen" der Eigenschaft unterscheidet. Im Zusammenhang damit spielt auch der Wert in dem Gegenstand, dessen Wert er ist, eine ganz andere Rolle als diejenige, welche für die Eigenschaften oder auch für die Merkmale oder für die Natur eines Gegenstandes spezifisch ist. Eine Eigenschaft determiniert (bestimmt, bereichert und vollendet eventuell auch) mit ihrer Materie vermöge ihrer Form den Gegenstand, dem sie zukommt. Und sie „tut" es auch dann, wenn sie zum Wesen des Gegenstandes gehört und somit mit seiner Natur in einer ganz ausgezeichneten Weise verbunden ist.27 Der Wert dagegen ist selbst in seiner Materie und in der Weise seiner Werthaftigkeit durch die Natur und manche Eigenschaften seines Trägers determiniert und erst dann, wenn er schon auf diese Weise in sich als der positive Wert des betreffenden Gegenstandes bestimmt ist, verleiht er ihm eine eigenartige dignitas, einen völlig neuen Aspekt seiner Existenz, welchen der Gegenstand ohne diesen Wert nicht erreichen könnte. Er erlangt ihn aber nicht vermöge einer ihm sozusagen von außen her verliehenen Würde, sondern weil in ihm sein e i g e n e s w e r t v o l l es Wesen zum Ausdruck kommt. Man könnte vielleicht sagen, daß der Wert selbst - besonders in seiner Wertqualität (in seiner Materie) nichts anderes als eben eine Ausprägung seines Wesens ist und nicht eine von seinen besonderen Eigenschaften, die ihn in einer Hinsicht bestimmte. Der Wert oder, besser gesagt, der Gegenstand in seinem Wertvollsein e r h e b t sich über alle wertneutralen Gegenständlichkeiten, die nur existieren und gar nichts „bedeuten", während er durch seinen Wert eine Bedeutsamkeit im Seienden gewinnt. Oder besser: an seinem Wert gelangt seine besondere Bedeutsamkeit zur Erscheinung.28 An dieser Stelle wird vielleicht am besten sichtbar, warum ich dagegen protestiere, daß man den Wert einfach für eine sekundäre Eigenschaft des wertvollen Gegenstandes zu halten habe. 27 28

V g l . dazu „ D e r Streit um die Existenz der W e l t " . B d . IL/i, § 40. In dem W o r t „Bedeutsamkeit" kommt dieser Sinn des „Bedeutens" zum A u s druck, den es im Unterschied etwa zum „Bedeuten" eines bestimmten Wortes in einer Sprache gewinnt, wenn es sidi eben um ein Wertvollsein von etwas handelt. Diese „Bedeutsamkeit" haben wohl z . B . die französischen Existenzialisten im Sinne, wenn sie von der „signification" sprechen, die ein Seiendes auszeichnet.

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Wir beginnen auf diese Weise eine gewisse Einsicht in die eigentümliche Struktur des Wertes zu gewinnen, zugleich müssen wir uns aber zu Bewußtsein bringen, daß man sich mit dieser Aufzählung der verschiedenen strukturellen Momente des Wertes nicht begnügen darf. Jedes von ihnen bildet die Quelle neuer Probleme und erfordert eine sorgfältige Analyse zur Aufklärung dessen, was es eigentlich in sich ist. Erst die Ergebnisse einer solchen Analyse könnten uns über den genauen Aufbau des Wertes und seiner möglichen Abwandlungen belehren. Sie könnten uns zugleich erlauben, weitere Probleme zu formulieren, welche die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Momenten des Wertes betreffen. Bereits am Anfang dieser Betrachtung scheint es wahrscheinlich, daß diese Momente nicht eine lose Mannigfaltigkeit von voneinander geschiedenen und auch unabhängigen Momenten bilden, sondern in verschiedenen innigen Zusammenhängen miteinander bestehen, in denen manche von ihnen eine führende Rolle zu spielen scheinen, andere dagegen von jenen abhängig sind und sich je nach den Umständen wandeln, woraus verschiedene Arten und Grundgattungen der Werte erwachsen. Es beginnt sich da ein ganzes kompliziertes Netz von Problemen anzudeuten, die wir in unserem Zustand des Nichtwissens nicht einmal genau zu bestimmen vermögen. Es scheint aber, daß im Ganzen des Wertes eben seine Materie (insbesondere dasjenige, was ich einst Wertqualität genannt habe) 29 die grundlegende und führende Rolle spielt und dasjenige ist, was die Werthöhe, ihre Positivität, bzw. Negativität, die Seinsweise des Wertes und seinen Charakter der Aufforderung zum Sein bestimmt. Diese Wertqualität enthüllt zugleich, auf welche Weise sie durch den Gegenstand, der sie trägt, bedingt ist, woraus sie sich aus manchen seiner Eigenschaften ergibt. Einige damit verbundene Probleme werde ich noch zu skizzieren suchen. ad3. D i e S e i n s w e i s e d e r W e r t e . Bevor ich zu dem Problem der Seinsweise der Werte übergehe, muß ich noch eine Angelegenheit in Ordnung bringen. Ρ la t o n hat die Werte für sog. „Ideen", also für gewisse außerzeitliche, unveränderliche „ideale" Entitäten - wie man heute audi sagt - gehalten.30 Im XX. Jahrhundert hat Max S c h e 1 e r behauptet, daß die Werte eben „Ideen" seien und daß man von ihnen ein „apriorisches" Wissen eines zur mathematischen Erkenntnis analogen 29

Vgl. R. I n g a r d e n , S. J 4 und passim.

80

W i r kennen heute die Gründe, die uns zu vermuten erlauben, daß sich hinter dem P l a t o n i s d i e n Begriff der „ I d e e " (sofern er bei ihm überhaupt zu einem klaren Begriff ausgereift ist) noch verschiedenes verbirgt, das auseinanderzuhalten

„ D a s literarische K u n s t w e r k " .

3 . A u f l . Tübingen

1965.

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Typus erlangen könne. Neben den Werten sprach er auch von „Gütern", d. h. von gewissen individuellen und insbesondere realen Gegenständen (nicht notwendig Dingen!), denen Werte irgendwie zukommen sollen. S c h e l e r hat aber nicht geklärt, auf welche Weise gewisse ideale Gegenständlichkeiten als Bestimmtheiten besonderer Art mancher individuellen, realen Gegenstände auftreten könnten. Ich kann hier die S c h e l e r s c h e Auffassung nicht ausführlich darstellen, noch sie einer Kritik unterziehen. Ich beschränke mich hier nur auf die folgenden Bemerkungen: Es ist wohl dem zuzustimmen, daß es eine allgemeine Idee des Wertes überhaupt sowie verschiedene, weniger allgemeine Ideen der einzelnen Grundarten der Werte sowie endlich auch verschiedene besondere Ideen bestimmter Werte gibt. Wir können den Gehalt dieser Ideen analysieren - wie wir das eben in diesen einleitenden Erwägungen auch tun - und auf diesem Wege zu gewissen allgemeinen Behauptungen über die Werte gelangen. Aber in diesem Vortrag ist nicht von den I d e e n der Werte, sondern von den W e r t e n s e l b s t die Rede, so viel wir audi von ihnen auf Grund der Einsichten in die Ideen der Werte aussagen können. Und bei dieser Rede kommt es mir immer auf etwas an, was an i n d i v i d u e l l e n Gegenständen nicht bloß zur Erscheinung gelangt, sondern in ihnen auf charakteristische Weise verankert und infolgedessen ihnen gegenüber auch seinsunselbständig und im gleichen Sinne individuell ist, wie die Gegenstände, an denen es auftritt. An die S c h e l e r sehe Redeweise anknüpfend können wir sagen, daß der „Wert" in dem in diesem Vortrag verwendeten Sinn ein Bestand von Momenten ist, die, sobald sie in einem Gegenstand auftreten, es nach sich ziehen, daß dieser Wert nicht einfach ein Ding oder ein Vorgang ist, sondern zu den „Gütern" im Sinne S c h e l e r s gehört. Diese Momente sind individuiert und haben eventuell in den Ideen oder idealen Qualitäten ihre idealen Korrelate, sie sind aber als individuelle Entitäten von ihnen im gleichen Sinne seinsmäßig verschieden, wie eine an einem individuellen Ding auftretende Gestalt eines Quadrats von der Idee des Quadrats oder von der idealen Qualität der „Quadratheit" verschieden ist, unabhängig davon, welche Relationen des Entsprechens zwischen ihnen bestehen. Ich sage aber nicht, daß die ein Ding zu einem „Gut" machenden Momente immer real sind oder auch sein müssen, und auch nicht, daß sie sich immer an realen Gegenist, und zwar: ideale Qualitäten, allgemeine und besondere „Ideen" im engeren Sinne, wie ζ. B. die unendliche Mannigfaltigkeit kongruenter Dreiecke. Aber damit können wir uns hier nicht näher beschäftigen, obwohl diese Unterscheidungen nicht ohne Bedeutung für die Grundprobleme der Werttheorie sind.

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ständen befinden müssen. Es können ja unter anderem ästhetische Werte sein, die an ästhetischen Gegenständen zutagetreten, die gar nicht real, sondern nur rein intentionale Gebilde bestimmt gearteter Bewußtseinsakte sind. Aber sogar dort, wo sie als Wert eines realen Gegenstandes, eines Menschen oder einer Sache oder einer menschlichen Tat vorkommen, brauchen sie aus diesem Grund gar nicht selbst real zu sein. Darauf beruht eben das Problem der Seinsweise der Werte, daß hier nicht im vorhinein entschieden wird, ob ein Wert von etwas Realem eben damit auch selbst real sein muß oder ob ein Wert eines rein intentionalen Gegenstandes selbst rein intentional sein muß. Wesentlich in diesem Augenblick ist nur, daß idi bei der Aufstellung dieser Frage gar keine idealen Gegenständlichkeiten noch Ideen im Sinne habe, sondern nur etwas, was, sobald es effektiv an einem individuellen Gegenstand als dessen eigenartige Bestimmtheit auftritt, selbst individuell ist und vermöge seiner besonderen Verbundenheit mit diesem Gegenstand ihn zu einem „Gut" macht. Man kann den Vorwurf erheben, daß die Frage nach der Seinsweise des Wertes zu allgemein gefaßt sei, da sie vorauszusetzen scheint, daß a l l e Werte auf dieselbe Weise existieren. Es ist indessen sehr wahrscheinlich, daß z. B. die sittlichen Werte gewisser Taten oder gewisser Menschen ganz anders existieren oder existieren können als die künstlerischen oder ästhetischen Werte und wieder anders als die Nützlichkeitswerte. Diese Vermutung drängt sich auf, weil die sittlichen Werte realen menschlichen Personen oder ihren Taten zukommen, während die ästhetischen Werte an den intentionalen ästhetischen Gegenständen auftreten. Es fragt sich mit Recht, was das für eine Sittlichkeit wäre, wenn die sittlichen Werte z. B. den menschlichen Taten nicht effektiv zukämen und selbst nicht irgendwie real wären. Und selbst ein gut konstruiertes und seinem Zweck gut dienendes Werkzeug ist wirklich nützlich, und diese seine Nützlichkeit bildet seinen Wert, der ihm wirklich zukommt und seine Realität in seiner effektiven Verwendung ausweist. Wenn seine Nützlichkeit nur ein intentionales Gebilde wäre, so hätte man allen Grund, daran zu zweifeln, daß es wirklich ein zweckmäßiges Werkzeug ist. Und dieses Werkzeug, mit dem man reale Veränderungen in der wirklichen und insbesondere auch materiellen Welt hervorbringt, scheint audi real zu sein, obwohl es etwas mehr als ein bloßes physisches Ding ist. Es scheint also, daß ein soldier Wert auf dieselbe Weise existiert wie die sittlichen Werte. Indessen scheint der Nützlichkeitswert eines Werkzeugs sowie auch der ästhetische Wert eines ästhetischen Gegenstandes auf eine andere Weise in seinem Dem-Wertträger-Zukommen beII9

dingt zu sein, als es ein sittlicher Wert ist. Die Werte dieser beiden Arten haben nämlich zum Fundament ihres Bestehens außer den Bestimmtheiten ihres Trägers noch einen anderen Gegenstand, und zwar im ersten Fall dasjenige Ding, auf welches das Werkzeug angewendet wird, im zweiten das in ästhetischer Einstellung ein Kunstwerk perzipierende menschliche Subjekt. Infolgedessen scheinen solche Werte in ihren Trägern nicht auf so schmaler Grundlage zu ruhen, wie in dem Fall, in welchem der Wert ausschließlich in demjenigen Gegenstand seine Seinsstütze hat, dem er zukommt. Ihre Existenzweise scheint somit von der Seinsweise sittlicher Werte verschieden zu sein. Wie man sieht, werden da zwei verschiedene Rücksichten in Betracht gezogen, wenn wir uns die Seinsweise der Werte klarmachen wollen. Die erste Rücksicht, das ist die Seinsweise des Wertträgers, die zweite dagegen, das ist die Weise, in welcher der Wert in dem Gegenstand, der ihn hat, fundiert ist. Im ersten Fall spielt dabei die Vermutung eine Rolle, daß der betreffende Wert auf dieselbe Weise wie sein Träger existiert, im zweiten dagegen wird vermutet, daß, wenn der Wert nicht ausschließlich in seinem Träger, sondern auch in einem anderen Gegenstand fundiert, bzw. in seinem Zukommen durch diesen letzteren bedingt ist, er in einer sozusagen freieren Beziehung zu dem Träger steht und daß dies auf seine Seinsweise einen abschwächenden Einfluß hat. Eine solche Vermutung scheint sich hinter dem bereits früher erwähnten Argument gegen die Existenz derjenigen Werte zu verbergen, die sida in irgendeinem Sinn als „relativ" erwiesen haben, also in ihrem Sein durch irgendeinen von ihrem Träger verschiedenen Gegenstand bedingt sind. Sind aber diese beiden Behauptungen wirklich wahr? Und führt ihre Anwendung auf die Erwägung der Seinsweise der Werte nicht zu Schwierigkeiten und zu Widersprüchen? Aus der ersten Behauptung scheint zu folgen, daß z. B. einem realen Gegenstand nur reale Werte zukommen können und daß, wenn sie ihm effektiv zukommen, für ihre Seinsweise alles das gilt, was für die Seinsweise ihrer realen Träger und überhaupt aller realen Gegenstände gilt. Auf den ersten Blick scheint es z. B., daß derselbe Mensch ein schöner Mann sein, also einen ästhetischen Wert besitzen kann, daß er zugleich ein ehrlicher und sittlich hochstehender Mensch und endlich, daß er ein sog. „guter Vater" sein, d. h. daß er seine Kinder auf zweckmäßige Weise erziehen, also daß er als Vater für das Wohlergehen seiner Familie wirklich nützlich sein kann. Stimmten wir der Behauptung zu, daß alle ästhetischen Werte als solche, die den intentionalen ästhetischen Gegenständen zukommen, nicht real existieren können, so müß120

ten wir jenem Menschen den „Schönheitswert" entweder absprechen oder mit der Behauptung, daß Werte in derselben Seinsweise exstieren, die für ihre Träger charakteristisch ist, in Widerspruch geraten. Und nicht anders müßte man über den Wert seiner Nützlichkeit für seine Familie urteilen. Denn dieser Wert ist in seinem Bestehen von diesem Menschen und auch von den Mitgliedern seiner Familie bedingt und müßte - nach der zweiten hier in Betracht gezogenen allgemeinen Behauptung - irgendwie anders real sein als die Werte, die ihm - wie ζ. B. sein sittlicher Wert - unbedingt zukommen, oder man müßte sein Bestehen überhaupt leugnen. Es ergeben sich aber noch andere Schwierigkeiten aus der Annahme der oben angegebenen Behauptungen. Alle realen Gegenstände existieren in der Zeit. Sie sind entweder in der Zeit verharrende Gegenstände (wie ζ. B. Dinge oder Menschen) oder Ereignisse oder endlich Vorgänge. Kann man von irgendeinem, einem realen Gegenstand zukommenden Wert sagen, daß er eine in der Zeit verharrende Entität oder ein Ereignis oder endlich ein Vorgang ist? Gewiß, man kann zustimmen, daß Werte anfangen können, einem Gegenstand zuzukommen. Es gibt also ein Ereignis des Entstehens eines Wertes oder des Anfangs seines einem Gegenstand Zukommens. Wir werden auch dem zustimmen müssen, daß ζ. B. ein Mensch im Lauf seines Lebens gewisse Werte erwirbt, ζ. B. dadurch, daß er gewisse Fertigkeiten erlernt, daß er sich an den Widerständen, die ihm im Leben entgegentreten, ausbildet und innerlich reif wird, daß sich sein sittlicher Charakter entwickelt und daß er damit auch verschiedene Werte erwirbt. Wir könnten auch sagen, daß es einen Vorgang der Realisierung gewisser Werte geben kann. Man könnte aber dem nicht zustimmen, daß dasjenige, daß jemand „ehrlich", „gerecht", „tapfer" bis an die Grenze des Heldentums ist usw., ein Ereignis oder ein in der realen Welt oder in jenem Menschen sich entfaltender Vorgang ist. Dürfte man auch sagen, daß die sittlichen Werte seines Charakters in der Zeit verharrende Gegenständlichkeiten sind und sich somit, wie der Mensch selbst, in der Zeit verändern, daß sie in der Gegenwart eine besondere Aktualität erwerben, um dann in die Vergangenheit zu versinken und nie mehr wiederzukehren? Dies läßt sich wohl von dem Menschen, der jene Werte besitzt, ohne weiteres sagen, gilt es aber audi von den ihm zukommenden Werten? Wir haben früher gesagt, daß Werte in Beziehung zu ihren Trägern seinsunselbständig sind, und daß sie zugleich von ihren Eigenschaften oder von dem Bestand der Bestimmtheiten mehrerer Gegenstände (ζ. B. eines Werkzeugs und der Sache, auf die es angewendet werden kann, 121

der Nahrung und des Tieres, das sich ernährt usw.) seinsabgeleitet sind. Mindestens in der ersten Hinsicht sind sie von den in der Zeit verharrenden Gegenständen, von den Menschen und den materiellen Dingen, verschieden. Diese Verschiedenheiten haben aber nicht zur Folge, daß die Seinsweise der Werte sich von der Seinsweise ihrer Träger unterscheidet, daß sie also deswegen z.B. nicht real sein können. Denn audi die materiellen Dinge sind von anderen Dingen, aus denen sie hervorgegangen sind, seinsabgeleitet. Und es gibt in realen Dingen viele unselbständige Momente, ζ. B. jede von den ihnen zukommenden Eigenschaften, denen wir aber im Hinblick auf diese Seinsunselbständigkeit — natürlich bei Erhaltung ihres Seinszusammenhanges mit dem Gegenstand, dessen Eigenschaften sie sind - nicht die reale Existenz absprechen dürfen. Auch den Werten also können wir aus d i e s e m Grund das Realsein nicht absprechen, sofern wir überhaupt wenigstens manchen Werten dieses Realsein zuerkennen müßten. Lassen wir aber die ästhetischen Werte zunächst beiseite, um deren Realsein wir nicht alle zu kämpfen geneigt wären, da hier der Umstand, daß sie doch an gewissen unrealen Gegenständlichkeiten auftreten, eine gewisse Rolle zu spielen scheint. Man möchte wenigstens dies feststellen, daß der Wert eines Gegenstandes nicht auf eine sozusagen „stärkere" Weise existieren kann als der Gegenstand, dem er zukommt. Zugleich scheint aber das Problem der eventuellen Nichtrealität der ästhetischen Werte nicht etwas zu sein, worauf man sich im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit und ihre Rolle im Leben des Menschen nur mit Mühe einigen könnte. Dagegen scheint die Seinsweise der sittlichen Werte und auch mindestens mancher Nützlichkeitswerte viel bedeutsamer zu sein, und es wäre aus verschiedenen Gründen schwieriger, ihnen dieselbe Seinsweise, die den ästhetischen Werten zugeschrieben wäre, zuzuerkennen. Man möchte die Existenz der sittlichen Werte und auch mancher Nützlichkeitswerte jener Wirklichkeit näher bringen, in welcher der Mensch seine Taten vollbringt, verschiedene Gegenständlichkeiten für sich und andere Wesen nützlich macht und sie auch zu verschiedenen Zwecken verwendet. Es wäre unmöglich, die sittlichen Werte für etwas halten zu wollen, was sich außerhalb der Zeit befindet, wie es betreffs der idealen Gegenständlichkeiten zu gelten scheint. Ein bestimmter sittlicher Wert (ζ. B. der Wert, gewissen Gütern zugunsten anderer Menschen zu entsagen, der Wert des Aufopferns des eigenen Lebens bei der Verteidigung des Lebens eines anderen Menschen oder bei der Verteidigung eines hohen kulturellen Ideals) e n t s t e h t ganz zweifellos in dem Augenblick des Vollzugs der betreffenden individuellen Tat. Auch der 122

Mensch, der eine Tat vollbracht hat, erwirbt erst in diesem Augenblick ein Verdienst, sofern diese Tat nicht einfach ein rein mechanischer Reflex seines Leibes war. Man kann aber auch nicht leugnen, daß Werte verschiedener Art, welche ein Mensch vermöge seines sittlichen Charakters, seiner Talente und Fertigkeiten, seines Wissens und seiner Erfahrung, die er erworben hat und besitzt, „repräsentiert", mit dem Moment seines Todes oder seines inneren Zusammenbruchs (denn auch starke und edle Menschen werden manmal unter gewissen Bedingungen innerlich gebrochen!) v e r n i c h t e t werden, obwohl sie ihm auch nach dem Tode „zugerechnet" werden und noch immer ein Gewicht haben. Es ist auch unmöglich, die Nützlichkeitswerte verschiedener Art und Bedeutsamkeit aus der Zeit wegzuschaffen. Alle sogenannten Errungenschaften der Technik, die auf der Konstruktion immer neuer Werkzeuge und Apparate sowie immer neuer Fertigkeiten beruhen, die sie mit sich bringen, rufen die „Realisierung" neuer Nutzwerte hervor. Diese Nutzwerte können übrigens manchmal sehr „zweideutig" sein, indem sie sowohl Nutzen als audi Schaden mit sich bringen. Über all diesen Nutzen und Schaden muß gesagt werden, daß er im Moment der Konstruktion gewisser Werkzeuge und ihrer Wirksamkeit entsteht und durch die Vernichtung dieser Werkzeuge oder die Ausschaltung ihrer Wirksamkeit selbst zunichte gemacht wird. Wenn das betreffende Werkzeug beschädigt wird, so vermindert sich sein Wert oder er wird überhaupt vernichtet; wenn dagegen sein Aufbau verbessert wird, indem es ζ. B. aus einem dauerhafteren Stoff verfertigt wird oder eine größere Produktivität gewinnt, dann erwächst ceteris paribus sein Nutzwert oder es wird - genauer gesagt - ein a n d e r e r Wert realisiert. Das sind Tatsachen, die schwer geleugnet werden können. Die Schwierigkeit aber liegt in der Frage, welches Verhältnis zur Zeit und zu dem Gegenstand, in dem der Wert fundiert ist, dem sittlichen, bzw. dem Nützlichkeitswert in der Zeitphase zuerkannt werden soll, die zwischen seiner „Entstehung" und seiner „Vernichtung" liegt. Soll einem solchen Wert die Veränderlichkeit und auch die Vergänglichkeit mit der Zeit zuerkannt werden, wie allen realen Gegenständlichkeiten, oder muß zugegeben werden, daß er in seinem Sein über diese notwendige Veränderlichkeit in der Zeit erhaben ist? Vergeht der Wert einer Tat auf dieselbe Weise wie diese Tat selbst und existiert er nach ihrem Vorübergegangensein ebenfalls nicht mehr? Oder dauert er irgendwie auch nachdem die Tat bereits vergangen ist? Dürfte man den Täter nach dem Vollzug einer sittlich „schlechten" Tat zur Verantwortung ziehen, wenn der Wert der Tat nicht mehr existierte? „Zählt" er auch dann noch, wenn er nicht 123

mehr besteht? Ist es nicht überhaupt eine Zumutung, daß man auf die Werte ganz dieselben Kriterien anwendet, welche bei realen, in der Zeit verharrenden Gegenständen, Dingen und Menschen durchaus am Platz sind? Die Werte und insbesondere die sittlichen Werte scheinen trotz ihres Entstehens und Vergehens doch nicht sensu stricto „zeitlich" zu sein. Sie sind wie der Zeit überhoben und scheinen auch nach Vernichtung ihrer Träger irgendwie überzeitlich zu gelten, obwohl sie diese Existenz, die ihnen während des Bestehens ihres Trägers eigen war, bereits verloren haben. Diese Frage ist nicht bloß von einem rein theoretischen Standpunkt aus wichtig. O b sie so oder anders beantwortet wird, zieht verschiedene Handlungsweisen und Entscheidungen des Menschen nach sich. Sie steht im Zusammenhang mit dem Problem der Verantwortung und der Verantwortlichkeit des Menschen für die von ihm begangenen Taten in dem Moment, in dem dieselben bereits vollzogen wurden und eben damit vorbei sind. Sind sie auch mit ihrem positiven oder negativen Wert vergangen und bestehen dann nicht mehr? Wie kann man aber f ü r etwas, was nicht mehr besteht, bestraft oder belohnt werden? Man wird aber vielleicht sagen: die Taten und ihre Werte gibt es nicht mehr, aber die vollzogene, oder wie man auch sagt, die schlechte und gute „begangene" Tat läßt an dem Menschen, der sie begangen hat, eine Spur des Frevels oder des Verdienstes weiter bestehen. Der Mensch b l e i b t ein Verbrecher oder ein Held, obwohl sein Verbrechen nicht mehr existiert (zur Vergangenheit gehört). N u r dann hat das Strafen oder das Belohnen einen vernünftigen Sinn! N u r dann, wenn der jetzt noch lebende Mensch mit demjenigen Menschen, der die betreffende T a t vollbracht hat, identisch ist und wenn er noch im gegenwärtigen Moment den Wert seines Verbrechens oder seiner Tugend an sich trägt, darf er bestraft oder belohnt werden, d. h. er trägt auch jetzt die Verantwortlichkeit für seine Tat. Im entgegengesetzten Fall darf er sagen: ich bin ja doch nicht derselbe Mensch, der jene Tat beging. Oder: ich bin jetzt von meiner Schuld frei, ich trage das Böse jener Tat aus der damaligen Zeit heute nicht mehr in mir, dieser Unwert existiert schon lange nicht mehr. Es gibt bekanntlich die Idee der „Beichte", deren Wesen nicht darauf beruht, daß man seine „Sünden" einfach bekennt, sondern darin liegen soll, daß dieses Bekenntnis eine Weise ist, sich sozusagen von der Schmach der begangenen Unwerte zu „waschen", sie zunichte zu machen. Im Sinne der Idee der „Beichte" liegt es gewissermaßen enthalten, daß jene Unwerte (oder Werte) nodi irgendwie bestehen und auf dem Täter „lasten", wenn die Notwendigkeit besteht, sie durch den Akt der „Beich124

te", des „Bekennens" und auch der „Sühne" „abzuwaschen". Durch die neue Tat des Bekennens wird da irgendwie die Situation geändert. Die in begangenen Taten realisierten Unwerte „lasten" nicht mehr auf dem Täter, sie werden ihm nicht mehr „angerechnet", er wird aufs neue „rein", „unbefleckt", und deswegen können sie ihm „verziehen" werden: anderenfalls sind die Unwerte immer noch vorhanden und deswegen kann der Täter zur „Verantwortung gezogen" werden. Unter diesem Aspekt müßte man den sittlichen Werten nicht bloß die Fähigkeit des „Uberdauerns" der Zeitwandlungen zuerkennen, sondern auch die Fähigkeit zuschreiben, daß sie in diesem Zeitwandel gar keinen Veränderungen hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Höhe ausgesetzt sind. Es scheint, daß keine Gestalt und keine Abwandlung der Gestalt der Seinsweise, die wir kennen - also weder das ideale Sein nodi das Realsein noch das reine Intentional-Sein (die Seinsheteronomie) - sich dazu eignet, den Werten zuerkannt zu werden und daß dies besonders bei den sittlichen Werten von großer Bedeutsamkeit ist. Auf welche Weise existieren also diese Werte, sobald die Bedingungen ihrer „Realisierung" bestehen? Es wird jemand sagen: das ist doch klar und ganz natürlich. Man hat es ja auch längst gesagt. Entweder so, wie es Hermann L o t ζ e tat, daß die Werte nicht existieren (sind), sondern „gelten", ein „Gewicht" besitzen. Oder so, wie es Heinrich R i c k e r t tat, daß sie nicht einfach „sind", sondern daß ihre Seinsweise in einem eigentümlichen „SeinSollen" besteht. Beides scheint indessen keine befriedigende Lösung des Problems zu sein. Denn „gelten", „eine Geltung haben" kann nur etwas, das bereits irgendwie existiert oder besteht. Das Nichtbestehen, „Nichtexistieren" macht jenes „Gelten" überhaupt unmöglich. Man könnte natürlich sagen: Werte, und insbesondere die sittlichen Werte, existieren nicht nur, sie gelten auch, sie haben auch ein „Gewicht", eine Bedeutsamkeit. Ist aber jene „Geltung" eine nähere Bestimmtheit ihrer S ein s weise oder ist sie etwas, was mit ihrer „Werthaftigkeit" aufs engste verbunden ist? Und wird durch die Berücksichtigung der „Geltung" der Werte der Sinn des Seins, der Seinsweise irgendwie selbst geklärt? Viel komplizierter ist das Problem jenes „Sein-Sollens". Darüber, daß gewisse Werte sein „sollen", kann vernünftig in zwei verschiedenen Situationen gesprochen werden: a) wenn dieses Sollen der Existenz aus dem Gehalt der Idee des betreffenden Wertes (ζ. B. der „Gerechtigkeit", der „Zivilcourage" usw.) in dem Moment abgelesen wird, in welchem der betreffende Wert noch n i c h t realisiert ist, und b) wenn seine „Rea125

lisierung" sich bereits vollzogen hat, zur Tatsache geworden ist. Bei einer eventuellen Konkretisierung („Realisierung") des Wertes muß es freilich bei gegebenen Bedingungen nicht dazu kommen, auf der anderen Seite aber f o r d e r t die Materie (die Wertqualität) des Wertes, daß er von jenen, in deren Macht es liegt, ihn zu realisieren, eben realisiert werde. Jenes „Sein-Sollen" hat hier zur Voraussetzung, daß der Wert „noch nicht" ist, und das bedeutet, daß erst dann, wenn es zu seiner Realisierung in der gegebenen Situation kommt, alles „in Ordnung" sein wird. Dieses „Sein-Sollen" bedeutet in diesem Fall etwas mehr, als bloß daß wir das Sein des Wertes erwarten oder vermuten. Bei der Vorbereitung eines physikalischen Experiments, bei der Festlegung, welche Bedingungen des Eintretens eines Ereignisses oder des Vollzugs eines Vorganges herrschen sollen und bei den Versuchen, diese Bedingungen zu realisieren, sagen wir oft: der Vorgang oder das Ereignis X „soll" unter diesen Bedingungen stattfinden. Das heißt hier nur so viel, daß wir das Eintreten dieses Ereignisses voraussehen und daß wir auch erwarten, daß es wirklich dazu kommt, sobald die von uns bestimmten Bedingungen realisiert werden. Aber im Fall eines ζ. B. sittlichen Wertes, der in einer bestimmten Situation realisiert werden „soll", erwarten wir nicht bloß, daß die Tat vollbracht werden wird, von welcher die Realisierung jenes Wertes abhängig ist, sondern unter dem „soll" soll etwas mehr oder auch etwas anderes verstanden werden. Wir meinen nämlich, daß dann und nur dann, wenn es zu dieser Realisierung kommt, alles „in Ordnung" sein wird, und insbesondere, daß jener Mensch, der vor der Ausführung jener Tat steht, dann „in Ordnung" sein wird, daß er die ihn bindende Pflicht erfüllen wird, obwohl es zugleich so ist, daß er zur Ausführung jener Tat gar n i c h t g e z w u n g e n ist. Und gerade nur dann, wenn dieses „Gezwungen-Sein" n i c h t besteht, „soll" er jene Tat vollbringen. Dieses „Sein-Sollen" zieht erst die Pflicht, jene Tat zu realisieren, nach sich. Es besteht aber nicht mehr, sobald diese Pflicht erfüllt wird, sobald also die Forderung ihrer Erfüllung befriedigt wurde. Müßte man also nicht sagen, daß sobald ein ζ. B. sittlicher Wert realisiert wurde, sobald er also existiert, seine Existenz nicht mehr den Charakter des Sein-Sollens an sich trägt und sich in dieser Hinsicht nicht von anderen, keinen Wert besitzenden Gegenständen unterscheidet. Es scheint indessen, daß es in der Seinsweise eines sittlichen Wertes selbst doch eine Verschiedenheit im Vergleich mit den wertneutralen Gegenständlichkeiten gibt. Diese Verschiedenheit kann man darin sehen, daß die Tatsache, daß ein sittlicher Wert in einer bestimmten Sachlage realisiert wurde, in sich selbst positiv bewertet, anerkannt wird als etwas, 12 6

was „in Ordnung", was „gerecht" ist. Dagegen ruft das schlichte Sein wertneutraler Gegenstände eine solche Bewertung gar nicht hervor. Dies wäre aber eine Verschiebung des Problems. Zu einer solchen Bewertung, bzw. Anerkennung kann es, muß es aber durchaus nicht kommen. Nicht in dieser Bewertung, wo sie tatsächlich vorliegt, besteht jene Spezifität des Seins, die wir da suchen. Dies wird klar, wenn wir uns zu Bewußtsein bringen, daß jene Bewertung oder Anerkennung „richtig" oder auch durchaus unrichtig sein kann. Ihre Richtigkeit kann sie nur daraus schöpfen, daß das effektive Sein eines Wertes, der sein, bzw. realisiert werden soll, bereits als E r f ü l l u n g dieses S o l l e n s in sich positivwertig ist. Das hatte einst wahrscheinlich Max S c h e i er im Sinne, als er behauptete, daß die Existenz eines positiven Wertes in sich selbst ein positiver Wert sei. Es scheint aber, daß eine solche Formulierung dieser Angelegenheit doch zu weit geht. Nicht ein neuer Wert entsteht in dieser Lage, sondern die Wertigkeit eines realisierten Wertes umfaßt gewissermaßen seine Existenz. Oder besser gesagt: in dieser Existenz hat sie ebenfalls ein Fundament, sie entsteht sowohl aus der Materie des Wertes (aus seiner Wertqualität) als auch aus seiner effektiven Realisierung. Nicht das Sollen also charakterisiert in diesem Fall das Sein des Wertes dieser Art, sondern erst die Erfüllung oder Befriedigung dieses Sollens. Es wird vielleicht leichter sein, jenes eigentümliche Moment der Seinsweise sittlicher Werte zu Bewußtsein zu bringen, wenn wir sie mit den ästhetischen Werten vergleichen. Diese letzteren können jene Effektivität des Seins, wie sie für die realisierten sittlichen Werte charakteristisch ist, nicht erlangen. Die ästhetischen Werte bestehen immer doch nur in der Sphäre des rein intentionalen Seins. Bestünde aber der Irrtum in der Auffassung der Seinsweise der ästhetischen Werte nur darin, daß wir ihnen die gleiche Effektivität des Seins zuerkennen würden, wie sie den sittlichen Werten eignet und die für die ästhetischen Werte unerreichbar ist? Der Irrtum ginge, wie es scheint, viel weiter. Sie würden mit den sittlichen Werten hinsichtlich ihrer Dignität, die ihnen gar nicht zukommt, gleichgestellt werden. Die dignitas der sittlichen Werte würde sich einer solchen Gleichstellung sowohl mit ihnen als auch mit den Nützlichkeitswerten widersetzen. Man würde auch nicht zustimmen, wenn man den Wahrheitswerten dieselbe Seinsweise wie den sittlichen oder den ästhetischen Werten zuschreiben wollte. Im ersten Fall wäre dies gewissermaßen die (unberechtigte) Erhöhung ihrer Wertigkeit, im zweiten dagegen eine Erniedrigung derselben. Es liegt da die Vermutung nahe, daß die Seinsweise des Wertes sich irgendwie mit seinen verschiedenen Momenten verbindet, und zwar sowohl mit seiner 12 7

Materie als auch mit dem Typus seiner Wertigkeit als endlich audi mit der Seinsweise derjenigen Gegenstände, an denen er auftreten kann. Wir können diese Fragen weder befriedigend klären noch die entsprechenden Behauptungen genügend begründen. In den verschiedenen Weisen des Seins, auf die wir im Gebiet der Werte stoßen, scheinen wir es mit völlig neuen Seinsweisen zu tun zu haben, und zwar mit anderen als es zunächst in der allgemeinen existentialen Ontologie vorauszusehen war. 31 Ich habe hier lediglich die Frage erwogen, auf welche Weise gewisse Werte eines bestimmten Typus existieren k ö n n e n , eine Weise die ihrem Typus zugeordnet ist. Idi habe aber nicht untersucht, ob ein in individuo in der Erfahrung gegebener Wert von einem bestimmten Typus w i r k l i c h existiert, ob er in dem Gegenstand, der sein Träger zu sein scheint, hinreichend fundiert ist oder ob nur ein Schein seines Zukommens in dem betreffenden Gegenstand vorhanden ist. Nicht immer, wenn eine Tat eines Menschen als „uninteressant" oder als „gerecht" oder wenn ein Kunstwerk als „vollkommen" und „reizend" gegeben ist, sind sie es in Wirklichkeit. Infolgedessen ist es notwendig, ganz neue Untersuchungen vorzunehmen, die der Weise gewidmet wären, wie der betreffende Wert in dem Gegenstand, an dem er erscheint, fundiert ist oder von den Umständen, in denen sich dieser Gegenstand gerade befindet, abhängt oder endlich der Schein seines Auftretens in den Bedingungen gründet, unter welchen sich die Erfassung des Wertes vollzieht. Dies ist eine völlig neue Sphäre der Probleme und der Nachforschung nach der Weise der Existenz der individuellen Werte -ein Problemgebiet, für welches die oben angedeuteten Bemerkungen bezüglich der allgemeinen Zuordnung der Seinsweise und der besonderen Art von Werten lediglich eine vorbereitende Bedeutung haben können. Um Probleme solcher Art geht der Streit, wenn z.B. Kunstkritiker ein „Kriterium" der Werte fordern oder dort, wo man in einer Gerichtsverhandlung die wirkliche Schuld des Angeklagten in einem konkreten Fall zu entdecken trachtet und wo es sich darum handelt, ob die vorhandenen belastenden Tatbestände ausreichen, um den Angeklagten zu verurteilen. ad 4. Keine kleineren Schwierigkeiten bietet die Frage nach der sogenannten „Höhe" des Wertes. Sie ist für die Werte gleich fundamental, wie die bis jetzt besprochenen. Die „Höhe" ist mit dem Wesen a l l e r Werte so augenscheinlich und eng verbunden, daß man nicht umhin kann, die damit verbundenen Probleme und Unklarheiten zu behan31

Vgl. R. I n g a r d e n ,

1964. §33· 128

„Der Streit um die Existenz der Welt". Bd.I. Tübingen

dein, obwohl sie vielen unserer Leser so evident und natürlich scheinen wird, daß sie kein Bedürfnis empfinden, sich mit ihr noch zu beschäftigen. Evident scheint vor allem, daß jeder Wert eine in seiner Wertigkeit eindeutig bestimmte „Höhe" besitzt. Viel weniger evident und - offen gesagt - sehr unklar scheint es, daß, wenn es zwei verschiedene Werte gibt, sie entweder gleich hoch oder verschieden hoch sind, so daß dann der eine Wert „höher" (man möchte audi sagen: größer) als der andere ist, der eben der „niedrigere" ist. Einige Forscher sind nämlich der Meinung, daß dies nur dort stattfinden kann, wo die verglichenen Werte von derselben Grundart sind.32 Wo diese Bedingung nicht erfüllt ist - sagt man - , soll sogar die Frage selbst, welcher von zwei Werten höher und welcher niedriger ist, ohne jeden vernünftigen Sinn sein. Da der Begriff der „Art" der Werte auf verschiedene Weise verstanden werden kann, so besteht die Gefahr, daß selbst zwei Werte, deren Materie etwas verschieden ist, für verschiedenartig gehalten werden, so daß es dann nicht möglich wäre, irgendwelche Werte, deren Materien (Wertqualitäten) einen Unterschied aufweisen, miteinander hinsichtlich ihrer Höhe zu vergleichen. Aber auch wenn wir vorsichtiger wären und uns nur auf einige Grundarten von Werten beschränkten - wie wir dies hier bis jetzt taten - , muß doch festgestellt werden, daß im allgemeinen die lebhafte Tendenz herrscht, auch Werte prinzipiell verschiedener qualitativer Bestimmtheit miteinander hinsichtlich ihrer Höhe zu vergleichen. Ja, gerade dann ist die Klärung der Frage nach den Grenzen der Vergleichbarkeit der Werte besonders wichtig, da von ihr oft die Entscheidung abhängt, wie man zu handeln hat. Wir versuchen auch, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie, innerhalb e i n e r Art der Werte ganze Serien der Werte hinsichtlich ihrer Höhe aufzustellen. Wenn wir es aber ζ. B. mit einem hohen ästhetischen und einem sittlichen Wert zu tun haben, schrecken wir dann nicht davor zurück zu fragen, welcher von ihnen höher sei? Manchmal kommt es ja vor, daß die Realisierung eines dieser Werte die gleichzeitige Realisierung des andern ausschließt oder mindestens erschwert. Dann müssen wir wählen, welchen von ihnen wir realisieren sollen. Und zu diesem Zweck müssen wir audi wissen, welcher von ihnen „höher" ist, da man im allgemeinen überzeugt ist, daß es recht sei, einen vergleichsweise höheren Wert zu realisieren. Im allgemeinen glaubt man ζ. B., daß die sittlichen höher als die ästhetischen Werte sind. Die Bevorzugung also eines ästhetischen Wertes zuungunsten der Reali32 Diese Auffassung vertritt z.B. Monroe C. B e a r d s l e y in seinem Buch „Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism". N e w Y o r k 19J 8.

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sierung eines sittlichen Wertes oder gar unter Vernichtung eines solchen Wertes gilt als „schlechte" Handlung, der also ein negativer Wert (Unwert) zukommt. Es ist aber nicht klar, wie die Behauptung von der größeren Höhe der Werte der einen Art im Vergleich mit derjenigen der anderen Art zu verstehen ist. Soll das so verstanden werden, daß j e d e r - auch ein relativ nicht hoher Wert - der einen Art beständig „höher" als ein beliebiger, sogar sehr hoher Wert der anderen Art ist? Oder soll diese Behauptung nur diejenigen Werte betreffen, die sich in den beiden Serien der verglichenen Werte sozusagen an derselben Stelle befinden? Ob sie also auf zwei ganz beliebige Werte verschiedener Materie anzuwenden ist oder nur auf besonders ausgewählte aus einer und aus der anderen Wertart? Im ersten Fall scheint dieses Postulat mindestens sehr fraglich zu sein, im zweiten dagegen würde die Möglichkeit seiner Anwendung zuerst die Klärung der Ordnung der Werte voraussetzen, und zwar hinsichtlich ihrer Höhe innerhalb e i n e r Wertart und auch bezüglich derjenigen Stelle in den beiden verschiedenen Wertserien, die sozusagen gleich weit vom Anfang (ζ. B. dem niedrigsten Wert) innerhalb jeder der Serien steht. Indessen ist es, bis heute wenigstens, kaum möglich, auch nur auf eine solche der Höhe nach geordnete Wertserie hinzuweisen, obwohl man ζ. B. in verschiedenen Kodices des Strafrechts höhere und niedrigere Strafen für einzelne Verschuldungen bestimmt. Es scheint zwar nicht, daß zur Bemessung der Strafe ausschließlich die Höhe des Unwertes der Verschuldung in Betracht gezogen wird, sie kann aber doch nicht völlig außer acht gelassen werden. In vielen Fällen, in welchen zwei Werte (auch derselben Grundart) uns vorgegeben werden, sind wir nicht in der Lage zu entscheiden, welcher von ihnen höher als der andere ist, obwohl wir da oft ein gewisses Gefühl dafür besitzen. Und die Schwierigkeit wächst bedeutend, wenn es Werte zweier verschiedener Grundarten sind. Die Mängel, die wir da empfinden, kommen daher, daß wir nicht auf eine genügend klare und präzise Art wissen, was eigentlich jene „Höhe" des Wertes ist, die auf eine so unlösbare Weise mit ihm verbunden ist. Wir wissen auch nicht, was diese Höhe bestimmt. Ist es die Wertqualität oder seine Seinsweise oder seine „Kraft" oder endlich die Art seines Sein-Sollens? Oder vielleicht kommt dabei all dies irgendwie in Betracht? Es ist möglich, daß ζ. B. die Weise, in welcher ein Wert sein „soll", von seiner Höhe funktionell abhängig ist, und wiederum, daß diese Höhe von der Wertqualität funktionell abhängig ist. Was bezeugt uns aber, daß es wirklich so ist? Es ist eine ziemlich weit verbreitete Ansicht, daß die Höhe des Wertes gar nicht von 130

seiner „Materie" (Wertqualität) noch von irgend etwas, was in ihm selbst sich unterscheiden läßt und ihn immanent charakterisiert, sondern von verschiedenen, ihm gegenüber äußerlichen Umständen abhängt, u. a. - wie man es so oft behauptet hat - von der Anerkennung des Menschen, der sich des wertvollen Gegenstandes zu irgendeinem Zweck bedienen will, oder von der sogenannten öffentlichen Meinung, die in dem betreffenden Kulturkreis zu gegebener Zeit herrscht. Auch die Anzahl der Gegenstände (der Ware auf dem Markt), welche einen bestimmten Wert besitzen können, sowie die Höhe der Nachfrage nach ihnen in einer bestimmten Zeit soll die Höhe des Wertes beeinflussen. In diesen verschiedenen Auffassungen kommt der Gegensatz zwischen den absolutistischen und relativistischen Werttheorien, oder genauer: eine Gestalt dieses Gegensatzes, zum Ausdruck. Nach der Auffassung der „Absolutisten" soll vor allem die Werthöhe und der Wert selbst von dem „Preis", den man einem bestimmten wertvollen Gegenstand unter bestimmten Umständen verleiht, unterschieden werden. Eben dieser „Preis" und nicht die Höhe des Wertes eines Gegenstandes ist von den soeben genannten Faktoren abhängig und ändert sich bei ihrer Wandlung. Die Höhe des Wertes dagegen ist eindeutig und unveränderbar durch seine M a t e r i e bestimmt, und nur durch dieselbe, und bleibt bei der Änderung der Preise unabhängig. Der Preis entspricht in vielen Fällen dem Wert, etwas ist, wie man sagt, „preiswert". Wenn er im Verhältnis zu der Höhe des Wertes unverhältnismäßig hoch ist, sagen wir, daß der Gegenstand „teuer" (oder auch „zu teuer") ist oder überschätzt wird, im entgegengesetzten Fall sagen wir, daß der Gegenstand billig ist, bzw. unterschätzt wird. Zweitens ist die „absolute" Höhe des Wertes von seiner „relativen" Höhe zu unterscheiden. Die erste ist nur durch seine Materie bestimmt, die zweite ergibt sich aus dem Vergleich der entsprechenden wertvollen Gegenstände miteinander. Diese bezieht sich vor allem auf Nutzwerte verschiedener technischer Gebilde, wo infolge des Erscheinens einer Ware höherer Qualität auf dem Markt sich eine andere Ware, die diese Qualität nodi nicht besitzt, im Vergleich zu der neuen Ware als „schlechter" erweist. Seine relative Werthöhe erniedrigt sich dann im Vergleich mit seiner absoluten Werthöhe. Vom Standpunkt seiner Nutzbarmachung aus erweist sich die Ware weiterhin als ebenso wertvoll wie früher, weil sie dieselben Bedürfnisse stillt wie früher; sie ist jetzt aber „schlechter", weil sie n e u a u f g e t a u c h t e Bedürfnisse, die höhere Anforderungen stellen, nicht befriedigt. Die relative Höhe des Wertes eines Gegenstandes ist veränderlich je nachdem, ob andere Gegenstände dersel131

ben Art verfertigt wurden, sie kommt aber vor allem bei den Nützlichkeitswerten in Betracht und es ist zum mindesten zweifelhaft, ob sie sich bei anderen, z. B. bei den sittlichen Werten, zeigen kann. Endlich - würden die Absolutisten sagen - setzt sowohl die relative Höhe, die Vergleichshöhe des Wertes als audi der „Preis" des wertvollen Gegenstandes die absolute Werthöhe voraus, die durch die Materie des Wertes bestimmt ist. Diese Werthöhe ist sowohl von der Anerkennung, von der Mode als auch von der Höhe der Nachfrage und seiner Beziehung zur Anzahl der vorhandenen Gegenstände, welche diesen Wert besitzen, völlig unabhängig. Die Relativisten aber - in der hier besprochenen Abart - werden sagen, daß es nichts dergleichen wie die absolute Höhe des Wertes gibt, daß die Unterschiede zwischen den Werten hinsichtlich ihrer Werthöhe ausschließlich die relative Höhe des Wertes betreffen oder sich auf die Unterschiede des „Preises" reduzieren, den ausschließlich die bereits angegebenen Faktoren bestimmen. Dieser Streit ist nicht leicht zu entscheiden, und zwar gerade deswegen, weil es nicht genug geklärt ist, was jene „Höhe" des Wertes ist, die - auf den ersten Blick - auf eine so evidente Weise bloß eine nähere und dabei eine notwendige Determination der Werthaftigkeit des Wertes ist. Notwendig ist sie aber in dem Sinn, daß ohne sie keine - wenn man so sagen darf - „allgemeine" Werthaftigkeit des Wertes möglich wäre. „Allgemein", denn in jedem Wert, welcher Grundart auch immer, muß sie auftreten und erfordert in den einzelnen Arten, durch die „Höhe" ergänzt zu werden; und zwar in jeder einzelnen Art und sogar in jedem seiner Materie nach anderen Wert muß sie durch eine andere, entsprechende „Höhe" ergänzt werden. Die „allgemeine" Werthaftigkeit bildet hier sozusagen das Gattungsmoment, das sich in den einzelnen Arten und letzten Endes in einzelnen Werten zu einer entsprechenden Höhe differenziert. Manche Forscher versuchen dieses Problem durch die Aufstellung von „ K r i t e r i e n " der Werthöhe zu lösen.33 Aber schon das Suchen nach solchen Kriterien weist darauf hin, daß die Werthöhe intuitiv oder in irgendeiner anderen „Erfahrung" nicht genügend geklärt ist. Deswegen sucht man nach anderen, außerhalb der Werthöhe liegenden Merkmalen, die es erlaubten, sie eindeutig zu erkennen. Es ist dabei charakteristisch, 33

Das tut z . B . M a x S c h e l e r in seinem Beitrag „Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik", a . a . O . , S . 4 8 8 . M a n darf dabei nicht vergessen, daß M a x S c h e l e r , wenigstens in bezug auf die s i t t l i c h e n Werte, zu den „ A b s o l u tisten" gehört.

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daß sich ζ. Β. S c h e 1 e r in den von ihm angegeben Kriterien gar nicht auf die Materie der Werte beruft, deren Höhe er mittels der Kriterien bestimmen will, sondern auf völlig andere Angelegenheiten, wie ζ. B. die Dauerhaftigkeit des Wertes und die Beziehung der Fundierung des einen Wertes in einem anderen Wert, wobei die niedrigeren Werte in höheren fundiert werden sollen, und sogar auf etwas Derartiges wie die Tiefe der Befriedigung, welche die Realisierung eines Wertes begleitet. Es ist auch nicht klar, ob diese Kriterien ein Mittel zum Erkennen der Höhe des Wertes oder der Faktoren sind, von welchen diese Höhe funktionell abhängig ist. Dies letztere würde ja den Weg zu einer Relativierung der Werthöhe eröffnen. Wie man aber diese Kriterien zu verstehen hat, sind sie jedenfalls etwas anderes als die Werthöhe selbst, die wir da klären möchten. So kann die Berufung auf sie uns bei dem uns hier beschäftigenden Problem nicht helfen. ad 5. Das nächste Problem, das ich hier berühren möchte, ist die sogenannte „Autonomie" der Werte. Sie wird sich bei einzelnen Wertarten verschieden darstellen. Alle Werte sind, wie bereits gesagt wurde, im Verhältnis zu dem Gegenstand, dessen Wert sie sind, seinsunselbständig. Jetzt kommt es aber auf eine andere Selbständigkeit oder Unselbständigkeit gewisser Werte an, und zwar der Werte einer besonderen Art im Verhältnis zu den Werten einer anderen Art. Es fragt sich, ob es Werte gibt, die in einem Gegenstand auftreten, ohne daß ihm gleichzeitig und notwendig gewisse Werte derselben oder einer anderen Art zukommen. Einen solchen Wert, falls es ihn überhaupt gibt, nenne ich „autonom", dagegen will ich einen Wert, welcher dann und nur dann in einem Gegenstand auftritt, wenn in demselben ein anderer Wert derselben oder einer anderen bestimmten Art vorkommt, „nicht-autonom" nennen.34 Über die „Autonomie" oder „Nicht-Autonomie" eines Wertes in dieser Bedeutung entscheidet dabei ausschließlich die Wertmaterie. Sie ist es, die das Zusammen-Auftreten eines anderen in seiner Materie oder in seiner materialen Art hinsichtlich seiner Höhe eindeutig bestimmten Wertes in demselben Gegenstand erfordert. Es kann aber auch andere Gründe dafür geben, daß zwei Werte in einem Gegenstand zusammen auftreten müssen, ohne daß sich dies aus ihrer Materie ergeben würde. Es kann sein, daß die Bedingungen der 34

In meiner existential-ontologisdien Terminologie haben diese Termini einen völlig anderen Sinn. Ich verwende sie aber hier in der eben angegebenen Bedeutung, weil sie in der Werttheorie - aber auch in der Theorie der Kunst - in einer solchen Bedeutung verwendet werden, ohne daß übrigens ihr Sinn genau geklärt worden wäre.

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Realisierung eines Wertes W t in dem Gegenstand G t der Art sind, daß es zu ihr dann und nur dann kommen kann, wenn noch andere Umstände eintreten, deren Folge das Auftreten des Wertes W2 ist. Ich möchte sagen, daß Wi und W2 abgeleiteterweise nicht-autonom sind. Wozu aber dient eine solche Unterscheidung? Man hat in der Geschichte der Theorie der Kunst, bzw. in der europäischen Ästhetik unter der Adresse gewisser Werte die Frage aufgeworfen, ob sie „autonom" oder „nicht-autonom" sind. P i a t o n behauptete ζ. B., daß es eine höchste Idee gibt, die zugleich audi der höchste Wert und das Gute und Schöne zugleich - die Kalokagathia - ist. Aber audi viel später, in Zeiten, wo völlig andere kulturelle Bedingungen und auch andere philosophische Strömungen herrschten, hat man ähnliche Behauptungen ausgesprochen. Meistens taten das die Kunstkritiker, insbesondere die Literaturkritiker, welche lange darüber stritten, ob in einem Kunstwerk „Schönheit" auftreten kann, wenn neben ihr nicht Werte einer völlig anderen Art auftreten. Dabei wandelte sich weitgehend die Art dieser anderen Werte des Kunstwerks je nach den Umständen. Meistens hat man gefordert, daß das Kunstwerk irgendwelche sittlichen Werte zur Schau trage, ζ. B. in der in ihm dargestellten Welt, und in verschiedenen zwischenmenschlichen Konflikten Menschen zeige, denen hohe sittliche Werte zukommen. Es gab im Gegenteil auch Kritiker, die glaubten, daß ein literarisches Kunstwerk erst dann „schön" sein könnte, wenn es in der dargestellten Welt gerade die negativen Werte, bzw. negativ-wertige Taten, wie ζ. B. Mord, Unbarmherzigkeit usw. zeige. Man nannte das betreifende Werk „realistisch" oder „naturalistisch" und schätzte diesen „Realismus" vom künstlerischen Standpunkt aus am höchsten, indem man darin zugleich die Wahrhaftigkeit des Kunstwerks sah. Diese „Wahrheit" des Werkes sollte augenscheinlich ebenfalls ein Wert, und zwar ein Wert im Sinne der Ästhetik sein. In anderen Fällen behauptete man, daß das Werk erst dann im ästhetischen Sinne „wertvoll" sei, wenn es in der dargestellten Welt gewisse „Ideale" darstelle, ζ. B. sozialer oder politischer Natur, wenn der Patriotismus der Helden zur Darstellung komme usw. Der Vorwurf des sog. „Formalismus", der noch verschiedene Motive hinter sich birgt, beruht eben darauf, daß man den ästhetischen Werten sensu stricto keine Autonomie zuerkennen will. Dagegen hat die Devise „l'art pour l'art" - die wiederum auf verschiedene Weise verstanden wird und aus verschiedenen Motiven entsteht - zu ihrem Grund die nicht deutlich zum Bewußtsein gebrachte Überzeugung, daß die ästhetischen Werte überhaupt autonom sind und daß die Nichtanerkennung ihrer Autonomie in der künstlerischen Pra134

xis dazu führt, daß man völlig andere Werte, die mit der Kunst nichts gemeinsam haben, für einzig wichtig im Kunstwerk hält, und daß es nur dann seine Funktion ausübt, wenn es diesen anderen Werten dient. Diese Überzeugung bekämpfte die Devise „l'art pour l'art" am schärfsten. Besonders die sog. „Wahrheit", die historische Wahrheit, die sog. Lebenswahrheit usw. galt bei den Gegnern der Devise „l'art pour l'art" nicht nur als der unentbehrliche, sondern auch als der eigentliche Wert des Kunstwerks. Es kam also nicht bloß zur Verwerfung der Devise „l'art pour l'art" und zur Leugnung der Autonomie der ästhetischen Werte, sondern - was schlimmer ist - zur fälschlichen Einsetzung der völlig anderen Werte an Stelle der ästhetischen und somit auch zu einer Verfälschung des ästhetischen Bewußtseins überhaupt. So war das Wesen der Kunst und ihre eigentliche Funktion völlig verkannt, und man mußte das ästhetische Erlebnis aufs neue entdecken und aufs neue wekken. Bestenfalls mußte der Kampf schon nicht mehr um die Autonomie der ästhetischen Werte, sondern um die Anerkennung dessen geführt werden, was den wahren, eigentlichen ästhetischen Wert bildet, den ein Kunstwerk zu „realisieren" sucht. Den Grund solcher Streitigkeiten, die man in der Geschichte so oft führte und die sich dadurch auszeichneten, daß keine von den sich bekämpfenden Seiten sich von der anderen überzeugen ließ, bildet vor allem die ungenügende Klärung des spezifischen Charakters der artmäßigen Materie der Werte, insbesondere einerseits der ästhetischen, andererseits der sittlichen Werte. Der Mangel einer intuitiven Erfassung der Wertqualitäten sowie auch der Mangel einer begrifflichen Bestimmung dieser Qualität ist die Quelle dessen, daß man sich in den geführten Auseinandersetzungen der Worte bedient, die keine präzisierte und festgelegte Bedeutung haben und daß man infolgedessen nicht weiß, worum eigentlich der Streit geht. Aber auch die bloß intuitive Erfassung der spezifischen Wertqualitäten reicht noch nicht. Unentbehrlich ist auch die Erfassung der Unselbständigkeit (bzw. der Nicht-Autonomie) gewisser Wertqualitäten sowie das Verstehen, daß gewisse Werte notwendig miteinander in der Einheit eines Ganzen zusammen auftreten müssen, also die Einsicht, daß es apriorische, wesensmäßige Seinszusammenhänge zwischen entsprechenden Qualitäten gibt. Erst systematisch durchgeführte - auf einem reichen konkreten Material fußende - Untersuchungen über verschiedenartige Wertqualitäten können hier zur Klärung der Sachlage führen. Und noch ein Umstand kann die Quelle dessen bilden, daß in den Auseinandersetzungen manchmal so schwer zu einer Einigung zu kom135

men ist. In der täglichen Praxis des Umgangs mit Kunstwerken sowie mit Werten verschiedener Art, in den Kämpfen um ihre Realisierung oder um die Beseitigung der Unwerte verschiedener Art aus dem menschlichen Leben, kommt es nicht selten zu einer Verfälschung der Erfahrung der Werte selbst. Oft haben wir nicht nur falsche Ansichten über diese oder andere Werte, wir bedienen uns nicht nur unklarer und vieldeutiger Begriffe, sondern - was natürlich viel schlimmer ist - wir fühlen auch die Werte auf eine verfälschte Weise, und audi unsere emotionalen Reaktionen sind völlig inadäquat. Wir reagieren z.B. mit einer ästhetischen Emotion dort, wo es sich um sittliche Werte handelt, und umgekehrt, wir reagieren da mit Empörung (die bei der Vorgegebenheit eines sittlichen Wertes in einem literarischen Kunstwerk am Platz wäre), wo eben nur eine ästhetische Reaktion gemäß wäre, wobei die betreffenden ästhetischen Werte in ihrem eigentlichen Charakter gar nicht zur Sicht kommen. Wo es dazu kommt, ist es sehr schwierig, mit einem gläubigen Vertreter einer anderen Auffassung zum gegenseitigen Verständnis zu kommen, denn es fehlt dann der gemeinsame Boden der echten Erfahrung. Es muß zunächst irgendwie die eigentliche Erfahrung der Werte restituiert, es müssen die Täuschungen, die durch eine verfälschte Empfindsamkeit entstehen, beseitigt und unschädlich gemacht werden. Das ist aber gar nicht leicht zu erreichen. Von dem Gegensatz der Autonomie und Nicht-Autonomie der Werte muß man die mit ihm oft vermengte Frage nach der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Werte von anderen Werten unterscheiden, die sich an einem und demselben Gegenstand zeigen, manchmal aber nur in demselben Erfahrungsfeld oder in einer zeitlichen Nachbarschaft auftreten. Es kommt hier darauf an, daß in manchen Fällen die Wertqualität des Wertes A, dadurch daß er in dem Gegenstand mit einem Wert Β zusammen auftritt, gewissen eigentümlichen materialen Modifikationen unterliegt. Wir sagen dann, daß die Wertqualität des Wertes A von dem Wert Β abhängig sei. Es tritt da etwas Ähnliches wie das Phänomen des gleichzeitigen oder nachfolgenden Kontrastes auf dem Gebiet der Farben auf. Diese Modifikation der Wertmaterie kann beiderseitig sein, d. h. die beiden Wertqualitäten unterliegen zugleich einer Modifikation, sie kann aber auch einseitig sein. Dabei handelt es sich aber um eine sozusagen „leichte" Modifikation, welche die Spezifität der Wertqualität nicht vernichtet. Es kann aber auch sein, daß die Wertqualität eines Wertes A erst dann mit völliger Deutlichkeit und Klarheit zur Ausprägung kommt, wenn zugleich ein anderer Wert im Erscheinungsfeld auftritt. So kann ζ. B. in einem Werk der Architektur die Symmetrie der 136

Massenverteilung einen Wert bilden, der aber erst dann mit Deutlichkeit hervortritt, wenn zugleich eine gewisse Asymmetrie in diesem Werk zur Erscheinung gelangt. Es kann auch sein, daß nicht die Wertqualität, sondern seine Werthafligkeit oder seine Höhe einer gewissen Modifikation unterliegt, weil in demselben Werk ein anderer, mit dem ersten irgendwie harmonisierender oder eventuell gerade nicht harmonisierender Wert zutage tritt. Man könnte dieses Phänomen auch so deuten, daß hier nicht die Höhe des Wertes einer gewissen Modifikation unterliegt, sondern daß die Werthafligkeit etwas von ihrer Kraft einbüßt, so daß sich der Wert in seiner qualitativen Bestimmung dem Betrachter nicht mit der nötigen Intensität aufdrängt, um ihn mit der ihr eigenen Deutlichkeit anzusprechen. Es erscheint ζ. B. nach einer sehr tragischen Situation in einem Werk ein Moment sanfter lyrischer Stimmung, und diese Stimmung kann nicht zur genügenden Expression gelangen, weil die Wucht des tragischen Schicksals und dessen Nachklang sie dämpft und ihr nicht zur eigentlichen Ausprägung zu kommen erlaubt. Es kann natürlich auch sein, daß das lyrisch Delikate des stillen Glücks gerade deswegen viel expressiver wirkt, weil es nach einer tragischen, aber zugleich doch irgendwie klärenden Entscheidung erscheint. Es bedürfte da besonderer, umfangreicher Studien, um zu zeigen, auf welche Weise sowohl das eine als auch das andere möglich ist, natürlich oft nur durch gewisse kleine Wandlungen einiger Einzelheiten, die für sich kaum merkbar sind, und deren Folge doch sehr bedeutend sein kann. Die Modifikationen, denen die Werte infolge des mit anderen Werten Zusammen-Auftretens unterliegen, können nicht nur voneinander gegenseitig abhängig sein, sondern auch in einer deutlichen funktionellen Abhängigkeit stehen, bzw. verlaufen. Es eröffnen sich da verschiedene Möglichkeiten der Verwandlungen innerhalb der Struktur des Wertes selbst. Diese Möglichkeiten müßten genauer untersucht werden, damit sie in ihrer Mannigfaltigkeit und ihren Grenzen zur deutlichen Erfassung kommen könnten. Es handelt sich dabei um die Abhängigkeiten, die zwischen den verschiedenen Momenten der Struktur eines und desselben Wertes bestehen. Wer ζ. B. glaubt, daß der Grundfaktor im Aufbau des Wertes ihre Materie ist, der wird wahrscheinlich erwarten, daß eine gewisse Modifizierung seiner Materie gewisse Modifikationen in der Werthafligkeit des Wertes, in seiner Höhe, in dem Charakter seines Sein-Sollens usw. nach sich ziehen muß. Dies können aber nur vorschnelle Erwartungen oder auch zu schematisch oder auch viel zu allgemein gefaßte Meinungen sein. Denn es kann ja sein, daß diese Angelegenheiten in verschiedenen Grundarten der Werte sich durchaus ver137

schieden gestalten und daß in einer Grundart eine viel größere Unabhängigkeit verschiedener Momente der Struktur des Wertes als in einer anderen Grundart besteht, so daß nicht jede Modifizierung der Wertmaterie eine, wenn auch vielleicht unbedeutende Wandlung in den übrigen Momenten des Wertes nach sich zieht. Es können da verschiedene Überraschungen eintreten und lediglich ein sozusagen versuchsweise durchgeführtes Experiment mit verschiedenen Beständen der in einem Werk auftretenden Werte - ein Experiment, das tatsächlich von verschiedenen Künstlern unternommen und mit mehr oder weniger großem Glück auch durchgeführt wird - kann uns um einen Schritt in diesen wichtigen klärenden Untersuchungen der auf allen Gebieten der Werte sich ankündigenden Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten zwischen den Werten weiter bringen. Im gegenwärtigen Moment stehen alle diese sich nur in ersten Umrissen anzeigenden Tatbestände als ebenso viele A u f g a b e n der Forschung vor uns, für deren Lösung das heutige Wissen nicht ausreicht. Die Autonomie und die Unabhängigkeit der Werte könnte in manchen Fällen so weit gehen, daß ein bestimmter Wert vermöge seiner Materie nicht bloß als einziger Wert eines Gegenstandes auftreten könnte, sondern daß er auch keinen anderen Wert in demselben Gegenstand oder einer Zusammenstellung von Gegenständen zuließe. Es bestünde dann das Verhältnis eines absoluten Ausschlusses des Wertes A gegenüber einem Wert Β oder auch gegenüber allen anderen Werten. Dies wäre dann ein Fall besonderer I n t o l e r a n z des betreffenden autonomen Wertes allen anderen Werten gegenüber. Diese Intoleranz könnte auch gemäßigt sein, wenn der Wert A zwar das Auftreten des Wertes Β in demselben Gegenstand zuließe, aber zugleich das Erscheinen einer gewissen Dissonanz nach sich zöge. Man sagt in der Musik dann, es klinge etwas „falsch", es trete dann ein negativer Wert auf. Auch diese Intoleranz und ihre verschiedenen Abwandlungen und Folgeerscheinungen müßten einem genauen Studium unterworfen werden. Besonders für die Analyse des ästhetischen Gegenstandes hätte dies eine große Bedeutung. ad 6. Es bleibt uns noch, zum Schluß das Problem der Beziehung zwischen dem Wert und dem Gegenstand, dem er zukommt, insbesondere aber das Problem seiner „Fundierung" im Gegenstand zu besprechen. Dies ist vielleicht die wichtigste, zugleich aber auch die schwierigste von den Fragen, die sich uns auf diesem Gebiet aufdrängen. Eine genauere Besprechung dieses Problems würde aber eine besondere Abhandlung für sich erfordern. Idi beschränke mich hier also auf einige X

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Bemerkungen und die Erwägungen, die ich in meinen anderen Vorträgen durchgeführt habe, werden eine gewisse Ergänzung dessen bilden, was ich hier sage. Dieses Problem, das oft das Problem der „Objektivität" des Wertes genannt wird, stellt sich bei verschiedenen Grundarten der Werte in seinen Einzelheiten sicherlich sehr verschieden dar und soll auch nicht sofort ganz allgemein für alle Grundarten der Werte behandelt werden. In derartigen, völlig allgemeinen Betrachtungen kann es sich lediglich um gewisse m ö g l i c h e Weisen handeln, in welchen ein Wert einer bestimmten Grundart in dem Gegenstand, dem er zukommen soll oder zuzukommen scheint, fundiert und gegründet werden kann. Dagegen kann sich die Erforschung der Frage, ob ein Wert in einem individuellen Fall wirklich so oder anders in einem bestimmten Gegenstand, dem er zuzukommen scheint, fundiert ist, auf die Ergebnisse jener ganz allgemeinen Erwägungen nicht beschränken, sondern sie ist genötigt, auf die tatsächlichen Eigenschaften und Bestimmtheiten anderer Art einzugehen und alle Umstände zu berücksichtigen, in welchen sich in dem konkreten Fall der Wert offenbart. Ich habe früher gesagt, daß jeder Wert dem Gegenstand gegenüber, dessen Wert er bildet, seinsunselbständig und von seinen Bestimmtheiten seinsabgeleitet ist. So ist es natürlich, wenn dieser Wert tatsächlich effektiv e x i s t i e r t . Sein Erscheinen auf dem Grund des betreffenden Gegenstandes kann aber des fundamentum in re beraubt sein, es kann nur ein täuschender Schein sein, daß er ihm wirklich zukommt. Der Wert in seiner allgemeinen Struktur ist seinsunselbständig, d. h. er erfordert ein Fundament seines Seins. Er existiert individuell, wenn sich ein Gegenstand findet, der seiner Seinsunselbständigkeit abzuhelfen vermag, indem er ihm einen Bestand solcher Eigenschaften zur Verfügung stellt, die für die Konkretisierung einer bestimmten Wertqualität hinreichend sind. Er liefert ihm zugleich die unentbehrliche Bedingung seines konkreten Entstehens mit einer ganz bestimmten Materie. Um also zu versuchen, ob ein Wert bestimmter Art (z. B. eine bestimmte Anmut) im gegebenen Gegenstand die hinreichende und zugleich unentbehrliche Bedeutung besitzt, muß man in dem Gegenstand solche Momente finden, die, sobald sie im Gegenstand effektiv auftreten, das Erscheinen einer bestimmten Wertmaterie in concreto notwendig nach sich ziehen. Diese Angelegenheit besitzt sozusagen zwei verschiedene Aspekte oder, wenn man will, zwei Phasen der Betrachtung. In der ersten, prinzipiellen und allgemeinen, handelt es sich um die Frage, was für Eigenschaften in einem Gegenstand, der sich überhaupt dazu eignete, Träger eines Wertes einer bestimmten Wertmaterie zu sein, realisiert werden müssen, damit 139

sie als das hinreichende Fundament für das Erscheinen (effektive Vorhandensein) dieses Wertes - also ζ. B. im Gebiet der ästhetischen Werte asl Fundament des Wertes der „Anmut" (la grâce) oder des Hübschseins oder der Schönheit einer bestimmten Abwandlung - dienen könnten. Man muß mit anderen Worten nach der Zuordnung einer Mannigfaltigkeit der Eigenschaften des möglichen Trägers zu einer bestimmten Wertqualität suchen. Wer nicht glaubt, daß derartige notwendige Zuordnungen zwischen den Qualitäten oder ihren ganzen Mannigfaltigkeiten überhaupt bestehen und daß sie sich auf eine genügend sichere Weise aufdecken lassen, der entscheidet von vornherein, daß die Wertqualitäten sich an Gegenständen auf eine völlig zufällige Weise zeigen, daß es also überhaupt keine Fundierung der Werte (einer ganz bestimmten Materie) in einem Gegenstand geben kann. Von vornherein einer solchen Überzeugung zuzustimmen, wäre eine ebenso dogmatische und unbegründete Lösung des Problems, wie die dogmatische Einnahme des entgegengesetzten Standpunktes, nämlich daß es in jedem Fall derartige notwendige Zusammenhänge zwischen der Wertmaterie und den Bestimmtheiten eines Gegenstandes gibt. Nur eine eingehende Auseinanderlegung der übrigens noch sehr mannigfachen Fälle, in welchen eine bestimmte Wertmaterie an einem Gegenstand auftritt, bezüglich der Frage, ob und gegebenenfalls welche Eigenschaften dieses Gegenstandes diese Wertmaterie in concreto notwendig n a c h sich z i e h e n , kann eine Lösung der hier obwaltenden Probleme liefern. Die Erforschung der Frage, ob und eventuell in welchem Maße die Änderungen an dem Bestand dieser Mannigfaltigkeit in der Folge die Materie des auftretenden Wertes modifizieren oder ihn überhaupt zunichte machen, kann hier sehr behilflich sein. Derartige Betrachtungen sind gewiß sehr schwierig. Sie müssen an vielen und verschiedenartigen Beispielen durchgeführt werden und führen lediglich mit der Zeit zu sicheren positiven Ergebnissen. Aber ohne sie sind alle positiven oder negativen Entscheidungen bezüglich der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Fundierung der Werte in den Gegenständen Dogmen der Skeptiker oder Dogmen der Dogmatiker oder Optimisten. Wenn man mir aber die Frage stellte, wer hier recht hat, so würde idi antworten: das ist eben eine von diesen Angelegenheiten, in welchen wir heute noch nichts Entscheidendes wissen. In den einzelnen Wertgebieten (in der Ethik, in der Ästhetik, in der Theorie der ökonomischen Werte u. dgl.) gibt es aber doch manche Anfänge der entsprechenden Forschungen, auf die man als auf ein Ausgangsmaterial hinweisen kann. 140

Diese Frage ist natürlich grundlegend und sie ist auch die wichtigste von allen Fragen, die in bezug auf die Werte zu stellen ist. Ihre Lösung erledigt aber nicht alles, wonach hier zu fragen ist. Wenn uns jemand die Frage stellte, welcher Wert oder auch welche Werte sich uns bei der Betrachtung z.B. eines bestimmten Selbstporträts von R e m b r a n d t zeigen (ζ. B. desjenigen, das sich in der Frick-Gallery in New York befindet) oder ζ. B. beim Anhören der h-Moll-Sonate von C h o p i n , und ob die sich an diesen Kunstwerken offenbarenden Werte effektiv in diesen Kunstwerken fundiert sind - dann können zwar jene allgemeinen Erwägungen uns sehr behilflich sein, sie können uns aber nicht von einer ganz besonderen und genauen Untersuchung befreien, wie sich die Sachen mit dem betreffenden Kunstwerk und den auf seiner Grundlage sich konstituierenden Konkretisationen verhalten. Das ist aber erst die Frage, an welcher die sog. Kunstkritiker oder die Kunsthistoriker interessiert sind. Sie sind im allgemeinen nicht darauf vorbereitet, solche Fragen zu beantworten und ihre eventuelle Beantwortung auf befriedigende Weise zu begründen. Sie verfügen zwar oft über eine besondere Empfindlichkeit für die sich im oder am Werk zeigenden Wertqualitäten und vermögen somit auf eine viel reifere und subtilere Weise auf ästhetische Werte hinzuweisen, als dies bei dem Durchschnittsbetrachter der Fall ist. Sie sind aber im allgemeinen nicht imstande zu untersuchen, ob die Werte ein fundamentum in re besitzen oder in ihrem Erscheinen nur durch die subjektiven Verhaltensweisen des Betrachters bedingt sind, obwohl sie sich unzweifelhaft „im Angesicht" des betreffenden Kunstwerks zeigen. Hier liegt die Sphäre der Möglichkeit, die Beurteilung des künstlerischen Wertes des betreffenden Kunstwerks zu begründen. Hier verlassen wir aber auch das Gebiet allgemeiner Betrachtungen, die zu der Werttheorie überhaupt oder zu der Theorie der Werte einer besonderen Grundart gehören, und gehen zu der besonderen Wissenschaft von der Kunst oder von der Sittlichkeit einer bestimmten Gemeinschaft u. dgl. über. In diese Fragen will ich mich nicht einmischen. Meine Absicht war nur, auf die theoretischen Grundlagen dieser Art positiver Kunstwissenschaft (oder Moralwissenschaft) hinzuweisen. Und zugleich wollte ich auch uns wenigstens im ersten Zugriff zu Bewußtsein bringen, welche Mängel und Lücken diese grundlegende Theorie heute noch besitzt. Sie zu beseitigen, ist die Aufgabe einer langsamen und geduldigen Forschung.

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Vili DER Ä S T H E T I S C H E WERT U N D DAS P R O B L E M S E I N E R F U N D I E R U N G IM K U N S T W E R K

A. Man hat sich bis jetzt mit der Subjektivität und Relativität der ästhetischen Werte vorwiegend in psychologischen oder erkenntnistheoretischen Betrachtungen beschäftigt und suchte sie allgemein zu erweisen. Man hat sich dabei darauf berufen, daß verschiedene, manchmal sogar ein und derselbe Betrachter unter verschiedenen Umständen demselben Werk einen verschiedenen Wert zuschreiben oder sogar ihm jeglichen Wert absprechen. Eine solche Argumentation scheint indessen unbefriedigend zu sein. Das Problem erfordert also eine genauere Analyse des ästhetischen Gegenstandes sowie der Struktur und des Wesens seines Wertes. B. ι . Wir müssen unser Problem auf ästhetische Gegenstände beschränken, die sich auf Grund eines Kunstwerks konstituieren. Es sind dann drei verschiedene Arten der Qualitäten zu unterscheiden, die uns als ihre anschaulichen Bestimmtheiten in unmittelbarem ästhetischem Umgang mit den Kunstwerken gegeben sind. Und zwar: a) Qualitäten, die in sich ästhetisch wertneutral sind, z.B. die Dreidimensionalität einer Statue oder die Härte der Bronze, aus der sie gebildet ist - b) ästhetisch relevante Qualitäten, wie z. B. symmetrisch, klar, subtil, originell, komisch, weich, beruhigend, traurig, natürlich, echt, realistisch usw. - sowie diesen entgegengesetzte Qualitäten wie z. B. asymmetrisch, dunkel, grob, banal, ernst, hart, erregend, freudig, künstlich, falsch, illusorisch usw. - c) positive Wertqualitäten wie schön, vollkommen, anmutig, reif, einheitlich usw. - sowie entsprechende negative Wertqualitäten wie z. B. häßlich, unvollkommen, reizlos, unreif u. dgl. m. 2. Ästhetisch relevant ist eine Qualität, die entweder in sich und durch sich selbst oder als ein Element einer bestimmten Mannigfaltigkeit 143

von Qualitäten auf ihre Weise ästhetisch wertvoll ist und dadurch die Qualität eines bestimmten Wertes bestimmt oder nur mitbestimmt. Sie befähigt den Betrachter, sie zu erfassen und regt ihn an, bestimmte Phasen des ästhetischen Erlebnisses zu vollziehen, insbesondere aber die Phase der emotionalen Reaktion, die ihm ermöglicht, den ästhetischen Wert des erfaßten ästhetischen Gegenstandes zu entdecken und anzuerkennen. Die ästhetischen Wertqualitäten sind qualitative und intuitiv erfaßbare Bestimmtheiten des ästhetischen Wertes; sie konstituieren diesen Wert, der das Ganze des ästhetischen Gegenstandes umfaßt und prägt. Dieser Wert besteht entweder bloß aus einer Mannigfaltigkeit ästhetischer Wertqualitäten oder er wird durch eine synthetische Qualität höherer Ordnung konstituiert, welche in einer Mannigfaltigkeit ästhetisch valenter Qualitäten gründet. E r bildet das Korrelat einer Bewertung des ästhetischen Gegenstandes, welche sich in der letzten Phase des ästhetischen Erlebnisses vollzieht. 1 3. Die erwähnten, ästhetisch relevanten Qualitäten können im Prinzip an beliebigen Kunstwerken erscheinen. Sie sind teils in einem weiten Sinn „allgemein" und nicht an eine bestimmte Art der materialen Bestimmung des Gegenstandes (insbesondere des Kunstwerks) gebunden, teils aber sind sie - im Gegenteil - einer besonderen Art der Materie des Kunstwerks streng zugeordnet und können nur an Werken dieser A r t zur Erscheinung gebracht werden. Zum Beispiel können die Farben (z.B. auf einem Bild oder an einem architektonischen Werk) delikat (pastell-artig, gebrochen) oder im Gegenteil gesättigt oder grell sein, die Töne in einem Musikwerk können klangvoll, scharf oder weich sein usw. Diese Unterschiede, die auf dem Gebiet der Tongebilde auftreten, lassen sich nicht auf die Farben übertragen und vice versa. Ähnliche Unterschiede zwischen den sekundären, ästhetisch relevanten Bestimmtheiten lassen sich z.B. im Gebiet der Architektur finden. Sie sind wiederum nicht auf Werke der Literatur zu übertragen. 4. Im ästhetischen Gegenstand erscheint nie eine einzige ästhetisch relevante Qualität, sondern immer eine Mannigfaltigkeit solcher Qualitäten. Sie gehören zu verschiedenen Grundarten und treten in mannigfachen Verbindungen miteinander auf. Infolgedessen sind auch die ästhetischen Werte selbst immer auf mannigfache Weise qualitativ bestimmt. Sowohl die ersten als auch die zweiten führen gewöhnlich zu synthetischen qualitativen Bildungen höherer Ordnung. 1

S. o. „ D a s ästhetische Erlebnis", S. 3.

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j . Man muß unterscheiden: a) ästhetisch relevante Qualitäten, welche in gewisser Weise autonom und absolut sind, d. h. Qualitäten, deren Wertvollsein in ihnen allein gründet und durch sie selbst eindeutig bestimmt ist. Ihr Wertvollsein kann nie zunichte gemacht werden und ändert sich audi nicht, wenn eine solche Qualität in einer Mannigfaltigkeit anderer ästhetisch relevanter Qualitäten in einem ästhetischen Gegenstand auftritt. Insbesondere kann sich ihr positives Wertvollsein nie in ein negatives Wertvollsein verwandeln, b) Qualitäten, deren Wertvollsein nur teilweise in ihnen selbst fundiert ist. Denn ihr Wertvollsein ist auf eine wesentliche Weise von der Art abhängig, wie andere mit ihnen in einem Gegenstand auftretenden Qualitäten ästhetisch wertvoll sind. Ihr positives Wertvollsein kann im Grenzfall infolge der Anordnung der umgebenden Qualitäten in ein negatives Wertvollsein verwandelt werden. Derartige Qualitäten nenne ich „unselbständig" und „relativ ästhetisch wertvoll". Es ist nicht ausgeschlossen, daß es Qualitäten des e r s t e n Typus in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. 6. Es entsteht die Frage, ob es zwischen den ästhetisch wertvollen Qualitäten gewisse notwendige Zusammenhänge im Zusammensein und in der Aufeinanderfolge gibt und insbesondere, welche Qualitäten mit welchen anderen Qualitäten in einem und demselben Ganzen auftreten m ü s s e n , welche dagegen mit anderen, streng bestimmten Qualitäten nur zusammen auftreten k ö n n e n , aber dazu nicht durchaus gezwungen sind, und endlich welche Qualitäten einander ausschließen, das heißt nicht in einem und demselben Werk zusammen auftreten dürfen. Gibt es derartige Ausschlußbeziehungen nur zwischen entgegengesetzten positiv- und negativ-wertigen) Qualitäten oder besteht sie ebenfalls zwischen positiv-wertigen Qualitäten, die zu verschiedenen Kategorien der Qualitäten gehören? 7. Sind die M a n n i g f a l t i g k e i t e n zusammen auftretender ästhetisch relevanter Qualitäten in sich selbst - als Ganzes genommen - immer ästhetisch relevant, insbesondere wertvoll oder können sie es nur sein je nachdem, welche Qualitäten zu ihrem Bestand gehören, oder sind sie endlich in sich ästhetisch immer wertneutral, und nur die einzelnen zu ihrem Bestand gehörigen Qualitäten sind wertvoll? Führt das Zusammen-Auftreten mehrerer ästhetisch relevanter Qualitäten in e i n e m ästhetischen Gegenstand zur Erscheinung n e u e r , synthetischer, abgeleiteter ästhetisch relevanter Qualitäten, die das G a n z e einer solchen Mannigfaltigkeit charakterisieren, oder ist diese Charakterisierung derselben Art wie es die primitiven Qualitäten sind? Kann die wertqualitative Charakterisierung der ganzen Mannigfaltigkeit in gewissen Fällen

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negativ-wertig sein, obwohl die in die Mannigfaltigkeit eingehenden Qualitäten sämtlich positiv-wertig sind? Es scheint, daß diese Fragen auf verschiedene Weise beantwortet werden können, je nach der Zusammensetzung der betreifenden Mannigfaltigkeit ästhetisch relevanter Qualitäten. Ganz generell kann also darüber nichts entschieden werden, sondern bestenfalls für besondere Typen solcher Mannigfaltigkeiten oder vielleicht für jede besondere Mannigfaltigkeit einzeln für sich. C. ι . Kunstwerke, die das objektive Fundament der Konstitution eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes bilden, haben immer etwas Physisches zu ihrem Seinsfundament, sind aber immer selbst seinsheteronom und gehen je nach ihrer Grundart weit über die Bestimmtheiten hinaus, die ihnen das physische Fundament verleiht. A m weitesten geht ihre Bestimmung auf Eigenheiten des physischen Fundaments in der Architektur zurück, relativ am wenigsten in der Literatur. Immer aber bildet das Kunstwerk für den Betrachter einen Gegenstand, der ihm, beim Vollzug entsprechender Erfassungsakte, gegeben ist und dessen Bestimmtheiten von ihm nur entdeckt und nicht frei erdichtet werden. Unter diesen Bestimmtheiten gibt es solche, welche in sich selbst - in ihrer eigenen Materie - ästhetisch wertneutral sind und andererseits auch solche, deren Materie durch gewisse ästhetisch relevante Qualitäten konstituiert wird, ζ. B. eine bestimmte räumliche Gestalt eines Gebäudes. Es steht außer Zweifel, daß gar keine ästhetisch relevante Qualität eine Eigenschaft des physischen Fundaments eines Kunstwerks unmittelbar bildet. Unter diesen Qualitäten gibt es im Gegenteil bestimmte Qualitäten, welche - wenn sie überhaupt einem Kunstwerk zukommen (dies wird gerade durch die subjektivistische Theorie der ästhetischen Werte in Frage gestellt) - es durch die Vermittlung entsprechender ästhetisch wertneutraler Eigenschaften des Werkes tun. 2. In dieser Situation eröffnet sich in bezug auf die Objektivität der ästhetischen Werte die folgende Frage: Was für eine Beziehung besteht zwischen den ästhetisch relevanten Qualitäten, die an einem Werk zur Erscheinung gelangen, und den ästhetisch wertneutralen Qualitäten dieses Werkes? Ergeben sie sich aus den letzteren auf eine hinreichende Weise und bilden sie ihre eindeutige nähere Bestimmung oder werden sie von dem letzteren gar nicht abgeleitet oder werden sie endlich bei ihrer Konstituierung durch die letzteren bloß mitbestimmt, ohne in ihnen ihr hinreichendes Seinsfundament zu haben? Im ersten Fall wären 146

die betreffenden ästhetisch relevanten Qualitäten im gleichen Sinne wie die wertneutralen Qualitäten eigene Bestimmtheiten des Kunstwerks und führten - wie das Werk selbst - eine vom Betrachter gleich unabhängige Existenz. Sie wären also im doppelten Sinne „objektiv": indem sie die Bestimmtheiten des Gegenstandes und nicht die des betrachtenden Subjekts bildeten und indem sie vom Betrachter und seinem Zustand in ihrer Existenz und Materie unabhängig wären. Im zweiten Fall dagegen wären sie als am Gegenstand e r s c h e i n e n d e Bestimmtheiten zwar „objektiv", zugleich aber auch „subjektiv", weil sie ihr Seinsfundament nicht im Gegenstand (im Kunstwerk), sondern a u s s c h l i e ß l i c h im Betrachter oder in einem Sachverhalt hätten, welcher zwischen dem Betrachter und dem betrachteten Objekt besteht. In dem dritten Fall endlich wären sie in ihrer Existenz doppelseitig bedingt durch den betrachteten Gegenstand (das Kunstwerk) und durch den Betrachter. Dies ist ein Fall, der noch von keiner Theorie der ästhetischen Werte vorausgesehen wurde (in keiner von ihnen übrigens war von ästhetisch relevanten Qualitäten die Rede). Man muß aber mit der Möglichkeit rechnen, daß sich hier sehr verschiedene Sachlagen vorfinden, je nachdem, um welche ästhetisch relevanten Qualitäten es sich handelt. Man muß also versuchen, das Problem für jede einzelne Art dieser Qualitäten für sich zu lösen. Sobald die Analyse zur Erfassung des objektiven Bestandes an Qualitäten in einem Werk geführt hat, ist es natürlich nötig, zuerst die ästhetisch wertneutralen Qualitäten, bzw. ihre Mannigfaltigkeit zu enthüllen, von welchen eine gegebene ästhetisch relevante Qualität ontisch abhängt. Ich habe hier weder die Absicht noch die Möglichkeit die Frage zu erwägen, welche der aufgezählten Möglichkeiten an den vorhandenen Kunstwerken wirklich bestehen, bzw. realisiert werden. Eine solche Analyse bildet aber die Hauptaufgabe einer Theorie der Kunst, welche am Problem des Wertes nicht achtlos vorübergehen will. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Aufgabe - nicht ohne Erfolg - durch die Werke großer Künstler praktisch gelöst worden, indem es ihnen gelungen ist, in ihren Werken eine Vielheit ästhetisch wertneutraler Eigenschaften zu realisieren, denen es die Werke verdanken, dem Betrachter eine Mannigfaltigkeit oder einen bestimmten Zusammenhang von ästhetisch relevanten und sogar ästhetisch wertvollen Qualitäten vorzeigen zu können. Der Erfolg solcher Werke beweist zugleich, daß diese Aufgabe, wenigstens in manchen Fällen, realisierbar ist und daß die objektivistische Auffassung der ästhetisch relevanten Qualitäten einer rechtmäßigen Begründung nicht entbehrt. 147

3· Der Zusammenhang zwischen den ästhetisch relevanten (insbesondere wertvollen) Qualitäten und den ästhetischen Wertqualitäten eröffnet ein analoges Problem. Die ästhetischen Werte wären „objektiv", wenn: i . die Wertqualitäten, die einen bestimmten ästhetischen Wert konstituieren, einen hinreichenden Grund in streng bestimmten ästhetisch relevanten Qualitäten hätten; 2. wenn diese ästhetisch relevanten Qualitäten die in Frage kommenden ästhetischen Wertqualitäten auf eine eindeutige Weise bestimmten und 3. wenn sie ihrerseits den ontischen Grund in bestimmten ästhetisch wertneutralen Qualitäten des betreffenden Werkes hätten. Diese A r t „Objektivität" wäre sowohl der „Subjektivität" wie der „Relativität" der ästhetischen Werte entgegengesetzt und würde sie beide ausschließen. Gibt es aber eine derartige „Objektivität" der ästhetischen Werte? Dies hängt davon ab, ob es notwendige Zusammenhänge zwischen bestimmten ästhetisch wertvollen Qualitäten (oder einer bestimmten Mannigfaltigkeit von ihnen) und einer bestimmten ästhetischen Wertqualität gibt. Vermöge eines solchen Zusammenhanges müßte eine ästhetisch valente Qualität (die selbst im Werk ontisch begründet wäre) - bzw. eine bestimmte Mannigfaltigkeit von ihnen2 - eine bestimmte ästhetische Wertqualität nach sich ziehen, ohne welche sie überhaupt im Werk nicht vorhanden sein könnte. Dies scheint unmittelbar evident, wenn es sich um autonome und absolut wertvolle ästhetische Qualitäten handelt. Denn diese Qualitäten sind nur ästhetisch wertvoll, weil sie auf eine eindeutige Weise einen Wert besitzen, und diese Weise ist dann nichts anderes als die Qualität des ästhetischen Wertes selbst. Sie ist eben die besondere eindeutige Bestimmung der Weise, in welcher eine ästhetisch relevante Qualität einen Wert besitzt. Und vice versa: wenn eine Qualität eine qualitative Bestimmung eines ästhetischen Wertes ist, so bedeutet dies, daß sie die eindeutige Bestimmung der Weise ist, wie eine ästhetisch relevante Qualität einen Wert besitzt. Eine ästhetische Wertqualität ist also immer unmittelbar an eine bestimmte ästhetisch relevante Qualität gebunden. Der Objektivitätscharakter der ästhetischen Wertqualität steht also in diesem ersten Fall außer jedem Zweifel. Es kann also nur in den beiden 2

D e r Ausdruck „ M a n n i g f a l t i g k e i t " ist hier nicht sehr am Platz, weil er gewöhnlich die Diskretheit ihrer Elemente vorauszusetzen scheint. Bei den ästhetisch relevanten Qualitäten, welche miteinander in einem W e r k auftreten, kommt es indessen oft vor, daß sie miteinander verschmelzen und ein Ganzes bilden, in dem sie nicht separat nebeneinander auftreten. W i r finden aber kein besseres W o r t : denn z . B . das W o r t „Vielheit" zeichnet sich durch einen analogen Mangel aus. Es muß also bei der A n w e n d u n g soldier Worte auf die ästhetisch relevanten Qualitäten auf die besonders innige Weise ihres Zusammenseins hingewiesen werden.

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übrigen Fällen bezweifelt werden, ob die ästhetisch relevanten Qualitäten mit gewissen ästhetischen Wertqualitäten notwendig verbunden sind. Diese beiden Fälle betreffen a) ästhetisch relevante Qualitäten, die nur relativ und heteronom wertvoll sind (aber ihre Seinsgrundlage im Kunstwerk selbst haben), b) eine ganze Mannigfaltigkeit von ästhetisch relevanten Qualitäten. Der Fall a) kann aber auf den Fall b) zurückgeführt werden. Denn wenn eine Qualität nur relativ oder heteronom ästhetisch wertvoll ist, so bedeutet dies nichts anderes, als daß sie den Charakter eines bestimmten Wertvollseins infolge des Zusammenseins mit anderen ästhetisch relevanten Qualitäten in dem Ganzen eines Werkes erwirbt. Das heißt, daß eine solche Qualität niemals allein, sondern immer mit mindestens einer anderen ästhetisch wertvollen Qualität die ontische Grundlage für eine bestimmte Wertqualität bilden kann. Man kann sich also auf das Studium ganzer Mannigfaltigkeiten relevanter Qualitäten und ihrer Rolle für die Erscheinung bestimmter ästhetischer Wertqualitäten im ästhetischen Gegenstand beschränken. Auch hier muß man mit drei verschiedenen Möglichkeiten rechnen: r. eine solche Mannigfaltigkeit sei selbst ästhetisch wertvoll und bilde ein hinreichendes Fundament für eine ästhetische Wertqualität oder eine Mehrheit solcher Qualitäten; 2. eine solche Mannigfaltigkeit bilde nur ein nicht hinreichendes Fundament für eine Wertqualität; oder 3. sie bilde g a r kein Fundament für eine solche Wertqualität. Wenn dabei die betreffenden ästhetisch relevanten Qualitäten in einem bestimmten Fall ihr Seinsfundament in den ästhetisch wertneutralen Qualitäten (Eigenschaften) des Kunstwerks haben, so bekommt man im ersten Fall eine „objektivistische" Lösung des Wertproblems, im zweiten Fall erhält man eine besondere Lösung, die sozusagen zwischen den beiden anderen Lösungen liegt, im dritten endlich eine „subjektivistische" Lösung. Man kann aber zu einer richtigen Lösung nur durch eine genaue Analyse jeder einzelnen Mannigfaltigkeit von ästhetisch relevanten Qualitäten gelangen. Allgemeine Erwägungen führen hier nicht zum Ziel. 4. Verschiedene ästhetisch relevante Qualitäten, die autonom und absolut sind und zugleich bestimmte sich gegenseitig ausschließende ästhetische Wertqualitäten nach sich ziehen, oder mindestens Wertqualitäten, welche einander entgegengesetzt sind und zur Disharmonie führen, können in einem und demselben Gegenstand auftreten. In diesem Fall kann es zwischen diesen Qualitäten zu einer Dissonanz kommen, welche zur Konstitution einer negativen Wertqualität (bzw. eines negativen Wertes) führt, die den ganzen ästhetischen Gegenstand charakteri149

siert. Diese Dissonanz kann auch die Konstitution jedes ästhetischen Wertes unmöglich machen, so daß der ästhetische Gegenstand dann wertneutral oder mit anderen Worten wertlos ist. Wenn sich dann dieser Gegenstand dem Betrachter im unmittelbaren Verkehr doch unter dem Aspekt eines ästhetischen Wertes zeigte, so hätte dieser Wert in den Eigenschaften des Gegenstandes keinen Seinsgrund. Man müßte die Erscheinung dieses Wertes f ü r „subjektiv bedingt" halten. Wenn dagegen eine negative Wertqualität an dem ästhetischen Gegenstand zur Erscheinung käme, an dem disharmonisierende ästhetisch relevante Qualitäten auftreten, so wäre die Erfassung dieser Wertqualität im Gegenstand und seinen Bestimmtheiten gut begründet. 5. Die Lösung des erwogenen Problems setzt voraus, daß man als Ergebnis der Analyse 1. die Gesetze der Zusammenstimmung der ästhetisch valen ten Qualitäten - 2. die Gesetze ihres notwendigen Seinszusammenhanges (im Zugleichsein und in der unmittelbaren Aufeinanderfolge) - 3. die Gesetze des Widerstreites und - 4. die Ausschlußgesetze der ästhetisch relevanten Qualitäten gefunden hat. Diese zusammenstimmenden Qualitäten können zur Erscheinung synthetischer positiver ästhetischer Werte höherer Ordnung führen, während widerstreitende Qualitäten zur Erscheinung synthetischer negativer ästhetischer Werte führen. Gar kein solches Ergebnis liegt natürlich im Fall sich gegenseitig ausschließender ästhetisch relevanter Qualitäten vor. 6. Muß eine bestimmte ästhetische Wertqualität oder eine Mannigfaltigkeit von ihnen immer nur e i n e und dieselbe ästhetisch relevante Qualität, bzw. immer dieselbe Mannigfaltigkeit solcher Qualitäten zur ontischen Grundlage haben, oder ist sie ein Gegenstand, der in vielen Konkretisationen durch verschiedene, aber besonders gewählte ästhetisch relevante Qualitäten oder - was wichtiger ist - durch verschiedene Mannigfaltigkeiten solcher Qualitäten on tisch begründet ist? Das Phänomen der verschiedenen „Stile" in der Kunst, welche zu Werken gleicher „Schönheit" führen oder wenigstens führen können, scheint darauf hinzuweisen, daß man sich f ü r die zweite Eventualität aussprechen sollte. Man muß aber auch mit der Möglichkeit rechnen, daß dieselbe ästhetische Wertqualität (z. B. die sog. „Schönheit"), die durch verschiedene Assortimente der ästhetisch relevanten Qualitäten fundiert ist, gewissen qualitativen Modifikationen unterliegt, die zwar ihre Grundart nicht aufhebt, aber doch zu erfaßbaren Verschiedenheiten zwischen ihnen führt.

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D. Die hier gezeichnete Auffassung des Problems des ästhetischen Wertes und dessen objektiver Fundierung erfordert nicht bloß eine neue und genauere Fassung des Problems der Objektivität, bzw. Subjektivität dieser Werte, sondern enthüllt zugleich mehrere Fragen, welche die Struktur des Kunstwerks und des ästhetischen Gegenstandes sowie die seines Wertes betreffen. Diese Fragen wurden aber bis jetzt nur zum Teil behandelt und gelöst.

IX KÜNSTLERISCHE UND ÄSTHETISCHE

WERTE

Idi werde mich hier hauptsächlich mit der Unterscheidung der ästhetischen Werte von den künstlerischen Werten beschäftigen. Es ist im allgemeinen nicht üblich, diese Unterscheidung durchzuführen. Idi werde mich bemühen zu zeigen, daß es für diese Unterscheidung gewichtige Gründe gibt. Zu diesem Zweck benötige ich andere Unterscheidungen, vor allem diejenige zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Gegenstand sowie diejenige zwischen den wertvollen Qualitäten und dem Wert selbst und dessen qualitativen Bestimmtheiten (wie ich anderenorts sagte: Wertqualitäten). 1 Zur Vereinfachung werde ich hier das Problem, ob ein Kunstwerk auf dieselbe Weise existiert wie ein reales Ding oder auf irgendeine andere Weise, nicht näher besprechen. Auch nur ganz kurz streife idi hier die Frage, ob das Kunstwerk ein besonders gestaltetes physisches Ding ist oder ob es sich nur auf der Grundlage eines physischen Dinges als ein durchaus neuartiger Gegenstand aufbaut, 2 der durch die schöpferische Tätigkeit des Künstlers gebildet wird. Den Kern dieser Tätigkeit bilden ganz spezifische Bewußtseinsakte des Künstlers, sie vollziehen sich aber immer unter Teilnahme gewisser physischer und insbesondere leiblicher Tätigkeiten, die durch den künstlerischen Willen des Autors geleitet werden und die ein entsprechend gewähltes Ding bilden oder nur umbilden - das sog. „Material" - , indem sie ihm diejenige Gestalt aufzwingen, in 1

Diese Unterscheidungen habe idi in meinen Schriften zur Ästhetik, v o r allem in „ D a s literarische K u n s t w e r k " , 1 9 3 1 3. Aufl. 1 9 6 5 , und in „ V o m Erkennen des literarischen K u n s t w e r k s " , 1 9 3 7 , deutsch 1 9 6 8 , durchgeführt und zu begründen versucht. H i e r beschränke ich mich nur auf eine zusammenfassende Darstellung dieser Unterscheidungen.

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S o w o h l Etienne G i 1 s ο η als auch Martin H e i d e g g e r - die sich übrigens mit solchen Problemen erst 20 J a h r e nach dem Erscheinen meines „Literarischen K u n s t w e r k s " beschäftigt haben - neigen zu einer Identifikation des Kunstwerks überhaupt (was z . B . bei einem Musikwerk schon ganz unhaltbar ist) mit einem physischen Ding und sprechen v o n einer sozusagen doppelten Existenz desselben. Dies führt zu einem widerspruchsvollen Gegenstand. Ich werde mich hier mit ihren Auffassungen nicht auseinandersetzen.

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welcher dieses Ding das physische Fundament des Kunstwerks - also ζ. B. eines literarischen Kunstwerks oder eines Musikwerkes, eines Bildes oder eines Werkes der Architektur usw. - bildet, dem Kunstwerk eine relativ dauerhafte Existenz verleiht, es mehreren Betrachtern zugänglich macht und es auch in ästhetischer Einstellung zu erfassen erlaubt. Das Kunstwerk - so verschieden es damit auch in verschiedenen Künsten stehen mag - geht immer, und wesenhaft, mit seiner Struktur und seinen Beschaffenheiten über dasjenige, was sein physisches Seinsfundament bildet, hinaus, obwohl manche Eigenschaften dieses Fundaments für die Beschaffenheiten des sich in ihm gründenden Kunstwerks nicht nur nicht irrelevant, sondern sogar bestimmend sind. Die schöpferischen Akte des Künstlers richten sich vor allem auf die Gestaltung des Kunstwerks, während die Gestaltung des physischen Fundaments der Bildung des Kunstwerks untergeordnet ist und ihrer Realisierung dient. Sie ist auch in ihrem Verlauf den Eigenschaften des zu bildenden Kunstwerks angepaßt. Jedes Kunstwerk, welcher Art auch immer, zeichnet sich dadurch aus, daß es ein schematisches Gebilde ist: In vielen Hinsichten durch kleinste Abwandlungen der Qualitäten bestimmt, enthält es in seiner Bestimmung charakteristische Leer- oder „Unbestimmtheitsstellen". Zudem sind nicht alle seine Momente oder Elemente im Zustand der Aktualität. Manche von ihnen - je nachdem, um was für eine Kunst, und innerhalb einer und derselben Kunst, um was für ein Kunstwerk es sich handelt befinden sich in einer charakteristischen Potentialität. Das Kunstwerk erfordert von sich aus das Vorhandensein eines außerhalb seines existierenden neuen Faktors, und zwar eines Betrachters, welcher das Werk - wie ich mich ausdrücke - „konkretisiert". Das bedeutet vor allem, daß der Betrachter vermöge seiner mitschöpferischen Handlung in der Erfassung des Werkes es vor allem - wie man es oft sagt - zunächst am physischen Fundament „abzulesen" trachtet oder, besser gesagt, es zuerst in seinen effektiven Eigenschaften zu rekonstruieren sucht. Indem er es tut, ergänzt er, vollendet er seine schematische Struktur. Er beseitigt wenigstens zum Teil die Lücken in seiner Bestimmung und aktualisiert zugleich diejenigen Momente, die im Werk selbst nur potentiell sind. Es entsteht auf diesem Wege eine „Konkretisation" des betreffenden Kunstwerks. Dasjenige, was das intentionale Gebilde der Akte des Autors selbst ist, ist das betreffende Kunstwerk. Dasjenige dagegen, was vermöge der Rezeption des Werkes durch den Betrachter nicht bloß die Rekonstruktion des Werkes in dem ist, was in ihm effektiv enthalten ist, sondern auch seine Ergänzung und Aktualisierung seiner potentiellen 154

Elemente und Momente bildet und infolgedessen gewissermaßen das gemeinsame Gebilde des Autors und des Betrachters (des „Empfängers") ist, das ist die „Konkretisation" des Kunstwerks. Obwohl dieselbe ihrem Wesen nach über die streng schematische Gestalt des Werkes selbst auf verschiedene Weise hinausgeht, ist sie oder kann sie wenigstens dasjenige sein, zu dessen Entstehung das Kunstwerk dient oder, besser gesagt, dasjenige, worin das Werk sein volles oder mindestens volleres Gesicht, seine „Erfüllung" findet, die im Werk selbst zu verkörpern nicht möglich ist. Praktisch zeigt sich das Werk dem Empfänger immer in einer Konkretisation. Das schließt aber nicht aus, daß der Betrachter das Kunstwerk in dessen eigener schematischer Gestalt unter der Bewahrung seiner Unbestimmtheitsstellen und mit allen seinen für es charakteristischen Potentialitäten erfaßt. Eine solche Erfassungsweise eines Kunstwerks erfordert aber vom Betrachter eine besondere Einstellung und das Bemühen, sich einer unwillkürlichen Vollendung der qualitativen Bestimmung des Kunstwerks zu enthalten und sich zugleich zu Bewußtsein zu bringen, worin die potentiellen Momente des Kunstwerks bestehen. Eine solche Erfassung eines bestimmten Kunstwerks kommt eher selten vor und vollzieht sich nicht in der gewöhnlichen sozusagen kontemplativen Einstellung des Betrachters. Als ein gemeinsames Gebilde des Autors und des Betrachters unterscheidet sich jede Konkretisation eines Kunstwerks von ihm selbst und auch von den anderen Konkretisationen desselben Werkes. Die Art und Grenzen dieser Verschiedenheit sind sowohl von den besonderen Eigenschaften des Kunstwerks, von den allgemeinen Eigenheiten der Kunst, zu der es gehört, von den Fähigkeiten des Betrachters, Kunstwerke zu erfassen, sowie endlich von dem Verlauf der Erfassung selbst und den wechselnden Bedingungen, unter welchen sie verläuft, abhängig. Es sind prinzipiell zwei grundverschiedene Erfassungsweisen des Kunstwerks möglich. Entweder vollzieht sich die Erfassung in der ästhetischen Einstellung in der Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses oder - wie es besonders bei literarischen Kunstwerken oft geschieht — in irgendeiner außerästhetischen Einstellung, ζ. B. mit der Tendenz, das Werk wissenschaftlich zu erforschen, oder in der Einstellung eines gewöhnlichen Konsumenten, der bei der Erfassung des Kunstwerks bloß angenehme Gefühle erleben möchte oder endlich bei der Lektüre eines literarischen Werkes etwas über die Schicksale der in dem Werk dargestellten Personen oder über irgendeine, zwar in dem Werk dargestellte, aber im Grunde außerliterarische Wirklichkeit erfahren will. So lesen manchmal die Philologen die Werke der Klassiker, z.B. H o m e r s , wenn sie auf 155

Grund der Lektüre der Odyssee dies oder jenes über das Leben und über die Gebräuche der alten Griechen, über ihre Wohnungen und Kleider u. dgl. m. erfahren wollen. In jeder dieser Einstellungen kann eine von den zwei verschiedenen Tendenzen herrschend sein. Entweder wird der Betrachter im Umgang mit dem Werk bestrebt sein, eine Konkretisation zu gewinnen, welche dem Werk möglichst getreu ist, oder es wird ihm gar nichts daran liegen. Er wird dann eventuell seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu bewahren suchen, um das Kunstwerk im Einklang mit seinen Gewohnheiten und dem, was ihm gerade gefällt und was er gerne hat, zu konkretisieren, ohne darauf zu achten, ob das betreffende Werk in seinen eigenen Zügen richtig erfaßt wird. So tun es oft ζ. B. die Theaterregisseure in der Uberzeugung, daß sie, ihr Talent und ihre Originalität wichtiger als die Kunst des Autors selbst sind. Wenn eine Konkretisation eines Kunstwerks in der ästhetischen Einstellung erlangt wird, dann entsteht dasjenige, was ich den ästhetischen Gegenstand nenne. Er wird dem, was dem Autor beim Schaffen des Kunstwerks vorgeschwebt hat, nahe liegen oder mindestens mit ihm verwandt sein, wenn das Konkretisieren des Werkes in der Tendenz durchgeführt wird, die Konkretisation möglichst genau an die effektiven Eigenschaften des Werkes und an seine in gewissen Grenzen vorbestimmten Ergänzungen anzupassen.3 Oft aber, sogar bei der Bestrebung des Betrachters, dem Kunstwerk getreu zu bleiben, weicht der tatsächlich von ihm geschaffene ästhetische Gegenstand in vielen Einzelheiten, welche die Ergänzung des Werkes selbst bilden, von dem ab, was das Werk zuläßt oder - wenn man so sagen darf fordert. Infolgedessen verändert sich der Grundcharakter des Ganzen oder mindestens stimmen gewisse in ihm auftretende Einzelheiten nicht mit den effektiv rekonstruierten Eigenheiten des Werkes selbst zusam3

Nicht immer erlangen wir bei der Anpassung der Konkretisation an das betreffende Kunstwerk eine Annäherung an das, was dem Autor als Ideal vorgeschwebt hat. Denn es kommt vor, daß im Werk etwas anderes geschaffen wird, als der Verfasser zu realisieren bestrebt war. Und manchmal kommt es auch vor, daß der Autor nidit genau weiß, was er eigentlich geschaffen hat und inwiefern es ihm gelungen ist, eben dasjenige zu schaffen, was ihm vorgeschwebt hat. So kann eine dem Werk selbst sehr getreue Konkretisation (z.B. im Theater) vom Autor verworfen werden als etwas, was das Wesen seines Werkes gar nicht wiedergibt. Das besagt aber, daß es nicht richtig ist, für das Kunstwerk dasjenige zu halten, was dem Autor „vorgeschwebt" hat, wie er sich sein Werk „vogestellt" hat, sondern dasjenige, was wirklich sich auf Grund des riditig gedeuteten physischen Seinsfundaments als das Werk selbst konstituiert, während das Werk effektiv gestaltet wurde. Es kommt eben auf die Kunst an, dieses effektiv geschaffene Werk in seinen eigenen Zügen riditig zu erfassen und in dieser Erfassung eine ihm getreue Konkretisation zu bilden.

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men, so daß es zu Dissonanzen kommt. Zu einem jeden Kunstwerk gehört eine bestimmte Mannigfaltigkeit möglicher ästhetischer Gegenstände. Sie sind in verschiedenem Sinne „möglich". Vor allem in dem weiten Sinne, bei welchem es sich um Konkretisationen handelt, die zwar vom Betrachter in ästhetischer Einstellung erworben werden, aber ohne ein größeres Gewicht darauf zu legen, ob die dabei durchgeführte Rekonstruktion dem Werk selbst getreu ist und ob dessen Ergänzung und die Aktualisierung der im Werk nur potentiellen Momente (Elemente) mit den eigenen Besonderheiten des Werkes zusammenstimmt oder mit ihnen mehr oder weniger im Widerstreit steht. Dieses „Möglich"-Sein kann aber, zweitens, im e n g e r e n Sinne genommen werden. Es handelt sich dann lediglich um solche Konkretisationen, die nicht bloß eine getreue Rekonstruktion des Kunstwerks in seinen effektiven Einzelheiten in sich enthalten, sondern in denen auch die Ergänzung des Werkes und die Aktualisierung seiner potentiellen Elemente in den durch die effektiven Einzelheiten des Kunstwerks bestimmten Grenzen liegt. Auch in diesem Fall können die Konkretisationen des Kunstwerks unter verschiedenen Hinsichten voneinander abweichen. Das Kunstwerk selbst läßt nämlich immer verschiedene Ausfüllung seiner Unbestimmtheitsstellen zu, wobei manche von ihnen besser, andere aber minder gut mit den bestimmten Momenten des Werkes sowie mit den übrigen Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen zusammenstimmen und zusammenspielen können. Das effektive Entstehen der in den beiden Bedeutungen „möglichen" Konkretisationen eines Kunstwerks ist natürlich nicht nur durch das Kunstwerk selbst, sondern auch durch das Auftreten der entsprechenden Betrachter und durch die von ihnen angewendeten Weisen der Erfassung des Werkes bedingt. Dies ist aber mit verschiedenartigen historischen Bedingungen verbunden. Das Kunstwerk erlebt infolgedessen verschiedene Epochen seiner Erfolge, erlangt viele und sinngemäße ästhetische Konkretisationen. Daneben kommen auch Perioden einer Abschwächung seines Einflusses oder gar des Nichtvorhandenseins von Konkretisationen. Das Kunstwerk hört für die Empfänger auf, lesbar zu sein, oder es trifft auf Betrachter, die eine völlig andere Weise des emotionalen Reagierens haben und gegenüber seinen gewissen Werten unempfindlich sind oder gar sich ihnen gegenüber feindlich verhalten. Eben damit sind sie nicht fähig, eine solche ästhetische Konkretisation zu bilden, in welcher diese Werte zur Enthüllung gelangen und auf den Empfänger einwirken. Das Kunstwerk wird infolgedessen nicht bloß „unlesbar", sondern auch gewissermaßen stumm. 157

Eben diese möglichen Perioden der wandelbaren Herrlichkeit und Erfolge und der Abschwächung der Einflüsse, die es auf die Betrachter ausübt, sowie zugleich der Wandel des Umkreises der möglichen Betrachter begründen die Tatsache, daß dasselbe Kunstwerk sich in der einen Phase in auf eine bestimmte Weise gestalteten Konkretisationen und in der anderen Phase in Konkretisationen, die sich von jenen mandlmal sehr unterscheiden, zeigt und dadurch sein Antlitz und die Weise des Einwirkens auf die Empfänger und damit auch die Fähigkeit seiner Werte ändert. Alle diese Tatsachen haben zur Folge, daß die Auffassung der sogenannten „Relativität" und „Subjektivität" der Werte oft so in Mode ist und auch so leicht zu vertreten und zu verteidigen zu sein scheint. Der Sinn dieser „Subjektivität", bzw. „Relativität" schillert in vielen Bedeutungen je nach der philosophischen Richtung, in welcher jene „Subjektivität" behauptet wird. Ich kann mich hier damit nicht näher beschäftigen.4 Gerade aber im Zusammenhang mit der Frage, ob und in welchem Sinne die Auffassung von der Relativität der Werte des Kunstwerks sich aufrechterhalten läßt, will ich hier gewisse vorbereitende Erwägungen durchführen. Den ersten Schritt bildet eben die bereits vollzogene Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und seinen ästhetischen Konkretisationen, d. h. dem ästhetischen Gegenstand. Ohne diese Unterscheidung ist es nicht möglich, in der Frage nach der sog. „Relativität", bzw. „Subjektivität" der ästhetischen und der künstlerischen Werte eine Einigung zu erzielen. Es gibt aber eine solche - gewöhnlich nicht deutlich präzisierte - Deutung der „Subjektivität" der ästhetischen, bzw. künstlerischen Werte, bei welcher die Theorie dieser „Subjektivität" - wie ich glaube - a limine zu verwerfen ist, obwohl sie in der Geschichte der Philosophie oft aufgetreten und besonders bei den Laien sehr populär ist. Infolge ihrer Popularität - bei ihrer weitgehenden Vieldeutigkeit - ist sie zu einem wahren Hindernis auf dem Wege zum richtigen Verstehen dessen, was die ästhetischen sowie auch die künstlerischen Werte eigentlich sind, geworden. Deswegen müssen wir uns hier den Sinn dieser „Subjektivität" deutlich zu Bewußtsein bringen. Nach dieser Auffassung ist der Wert des Kunstwerks (bzw. des ästhetischen Gegenstandes, was gewöhnlich nicht auseinandergehalten wird) nichts anderes als die vom Betrachter erlebte „Lust" oder - im Fall eines Unwertes (negativen Wertes) - „Unlust", die für einen bestimmten psy4

S. o. „Das Problem der Relativität der Werte". S. 79 ff. 158

chischen „Zustand" oder ein Erlebnis gehalten wird. Diese „Lust" soll vom Betrachter beim Umgang mit einem bestimmten Kunstwerk erlebt werden. J e größer diese „Lust", desto höheren Wert schreibt der Betrachter nicht seiner Lust selbst, sondern dem betreffenden Werk zu. In Wahrheit aber - sagt diese Theorie 5 - besitzt das Kunstwerk s e l b s t g a r k e i n e n Wert. Es ist lediglich der Betrachter, dem dabei irgendwie „angenehm" wird und der sich dafür ausspricht, das Kunstwerk deswegen zu „schätzen"; in Wirklichkeit schätzt er aber nur seine Lust, sein ihn befriedigendes „Gefühl". 6 Dasselbe Kunstwerk ruft aber bei verschiedenen Betrachtern verschiedene oder überhaupt gar keine Lustgefühle hervor. Und sogar bei einem und demselben Betrachter ruft es einmal dieses, das andere Mal ein völlig anderes oder überhaupt gar kein Gefühl hervor. Infolgedessen - sagt man - sei der Wert des Kunstwerks nicht bloß „subjektiv", sondern auch „relativ", und zwar „relativ" in bezug auf den jeweiligen Betrachter und seinen Zustand. Die so verstandene „Relativität" des Wertes des Kunstwerks ist die einfache Konsequenz der eben angeführten Deutung der „Subjektivität" dieses Wertes. Nun, wer die eben angeführte Theorie anerkennt, kann sich selbstverständlich auf die Tatsache berufen, daß gewisse Kunstwerke in uns angenehme „Gefühle" hervorrufen und dabei unter gewissen Umständen eine solche oder in anderen eine andere „Lust" wecken, andere Kunstwerke dagegen in uns gar keine angenehmen oder unangenehmen Zustände hervorrufen. Diese banale Tatsache unterliegt gar keinem Zweifel. Tatsache ist auch, daß man im allgemeinen angenehme Lustgefühle schätzt, unangenehme dagegen verurteilt und meidet. Indem man aber diese Tatsache feststellt, kann man nur bedauern, daß sich eigentlich niemand dafür interessiert hat, w e l c h e r Art diese „Lustgefühle" sind, die uns von den Kunstwerken gegeben werden, und wel5

Diese Theorie ist sehr alt und w i r d mit desto größerem Nachdruck und Anschein der Wahrheit vorgetragen, je weniger künstlerisch gebildet und je ästhetisch primitiver ihre Vertreter sind.Will man aber eine sehr moderne und in weiten K r e i sen heute angesehene Theorie als Beispiel dieser A u f f a s s u n g angeben, so kann man hier auf die Theorie von Charles L . S t e v e n s o n

hinweisen, die er in seinem

Buch „Ethics and L a n g u a g e " . N e w H a v e n i960, zuerst dargestellt hat. 8

D a m i t w i r d aber die Subjektivitäts-Theorie der Werte überhaupt nicht konsequent eingehalten, denn mindestens der W e r t der Lust darf dabei nicht für „subjektiv" gehalten werden, sonst w ü r d e der „emotionale" G r u n d für die (fälschliche) Zuerkennung des Wertes dem Kunstwerk vorangestellt. D a n n würde S t e v e n s o n sagen: S o etwas wie „ L u s t " , als ein subjektiver Tatbestand, kann wertvoll sein, aber nicht im Kunstwerk, das doch ein physisches D i n g ist. Diese Argumentation zeigt aber nur, daß S t e v e n s o n zwischen dem physischen F u n dament und einem Kunstwerk nicht zu unterscheiden weiß.

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che Abwandlungen dieser Gefühle mit verschiedenen und verschieden wertvollen Kunstwerken verbunden sind. Bereits aber die Klärung dessen, daß jene „Lustgefühle" etwas Spezifisches an sich haben und sich auf eine wesentliche Weise von den Lustgefühlen unterscheiden, die uns ζ. B. gute Speisen oder frische Luft oder ein gutes Bad liefern, brächte das Problem der Lösung um ein Stück näher. Es trüge aber zu der Klärung der Frage, ob und welche Werte den Kunstwerken selbst zukommen, nichts bei. Jene Zustände der „Lust" sind sicher nicht etwas, was im Kunstwerk selbst enthalten oder mit ihm irgendwie verbunden wäre. Und wenn sie den e i n z i g e n Wert bilden sollten, der im Umgang mit Kunstwerken in Betracht käme, so könnte man ihn jedenfalls nicht den Kunstwerken zuschreiben. Denn diese „Lust" oder was es auch sonst beim näheren Zusehen sein mag, bleibt vollkommen a u ß e r h a l b des Seinsbereiches des Kunstwerks, bzw. des ästhetischen Gegenstandes. Das Kunstwerk selbst bildet ein Etwas, das die Sphäre unserer Erlebnisse und ihrer Inhalte vollkommen überschreitet, das ihnen gegenüber streng transzendent ist. Und dies gilt im gleichen Sinne bezüglich der ästhetischen Gegenstände, die auf der Unterlage eines Kunstwerks konstituiert werden. Eben in dieser a u ß e r h a l b der Sphäre der Erlebnisse, ihrer Inhalte und auch überhaupt außerhalb der Sphäre des Psychischen liegenden Sphäre des Kunstwerks selbst, bzw. seiner ästhetischen Konkretisationen, müssen wir nachsuchen, um in ihr das zu finden, was man als den Wert, bzw. als das für das Kunstwerk und den ästhetischen Gegenstand spezifisch und wesenhaft Wertvolle auf begründete Weise anerkennen könnte. 7 Der Wert oder das Wertvollsein läßt sich im Kunstwerk selbst oder im ästhetischen Gegenstand auch dann nicht finden, wenn man darunter den anschaulichen S c h e i n versteht, daß ein Wert einem Kunstwerk infolge der vom Betrachter erlebten Lustgefühle dieser oder jener Art z u k o m m t . Ein solcher Schein kann besonders dann entstehen, wenn man das Kunstwerk für ein Werkzeug zur Hervorrufung dieser oder 7

Diese hedonistische Zurückführung der Werte auf Lustgefühle wird oft nicht im besonderen auf die ästhetischen Werte bezogen, sondern dient gewöhnlich als eine ganz allgemeine Zurückführung beliebiger Werte auf subjektive Z u s t ä n d i g k e i ten. Man müßte sie also audi auf den Wert des Lustgefühls selbst beziehen. Und dann müßte man etwa sagen, daß es angenehm sei, Lustgefühle zu erleben, so daß nicht diese Lust selbst, sondern das angenehme Erleben dieser Lustgefühle eben wertvoll sei. Und so ad. infinitum. So hebt sich diese Theorie von selbst auf. Wenn man sich auf diese Argumentation lediglich bei der Anwendung auf einen ästhetischen Wert bezieht, dann sieht man ihre Absurdität nicht. Und für faule Theoretiker ist sie bequem vorzubringen. Man braucht sich dann nicht weiter mit dem Problem abzuquälen.

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jener Lusterlebnisse betrachtet. Besonders bei naiven, keine künstlerische Kultur besitzenden, aber empfindlichen Betrachtern von Kunstwerken kommt es nicht einmal zu einem solchen Schein. Unerfahrene Betrachter entzücken sich oft an Kunstwerken, die in Wirklichkeit überhaupt gar keinen oder nur einen sehr niedrigen Wert besitzen. Das Bestehen eines solch trügerischen Scheins von Wertvollsein gewisser künstlerischer Gebilde ist aber weder mit dem echten Bestehen eines künstlerischen oder ästhetischen Wertes identisch, noch kann er als Argument dafür dienen, daß der Wert nur auf einem solchen Schein beruhe und somit - wie man oft behauptet - etwas „Subjektives" und „Relatives" sei. Nicht in einem solchen oder anderen S c h e i n , sondern in dem, was das Kunstwerk (bzw. den ästhetischen Gegenstand) s e l b s t a u s z e i c h n e t , muß man dessen Wert suchen, sofern sich natürlich so etwas finden läßt. Man darf audi dem Kunstwerk, als einem Werkzeug zur Hervorbringung solcher oder anderer angenehmer Erlebnisse im Betrachter, einen gewissen Wert nicht absprechen. Es ist aber nur ein a b g e l e i t e t e r und dem Kunstwerk r e i n g e d a n k l i c h zugeschriebener Wert, und zwar nur deswegen, weil diese Erlebnisse der Lust etwas für den Betrachter Wertvolles sind, nicht aber deswegen, weil das Kunstwerk in s i c h s e l b s t mit gewissen wertvollen Bestimmtheiten ausgestattet ist und ganz ohne jede Rücksicht auf diese Bestimmtheiten. Ein solcher abgeleiteter Wert wird den Werkzeugen gewöhnlich bei fast völliger Unkenntnis ihrer Struktur und ihrer Eigenschaften und bloß in bezug auf die Leistungen, die mit dem betreffenden Werkzeug zu erzielen sind, zugeschrieben. Man kann, mit anderen Worten, kein Verständnis für Kunst besitzen und auch kaum eine Ahnung davon haben, mit was für einem Kunstwerk man es eigentlich zu tun hat, und es doch hoch schätzen. Man ist dann auch gewöhnlich an den eigenen Bestimmtheiten des Kunstwerks wenig interessiert. Es genügt einem solchen Betrachter (falls er wirklich noch ein Betrachter ist), um jenen abgeleiteten Wert dem Kunstwerk zuschreiben zu können, daß er dem Einfluß des Werkes auf eine emotionell angenehme Weise ausgesetzt ist und daß er ihm deswegen sozusagen dankbar ist. Dieser Wert eines Werkzeugs ist natürlich „relativ". Das bedeutet aber hier, daß er „relational" ist und in seiner eigenen materialen Bestimmung, als eines Wertes einer besonderen Art, einen Bezug hat, einerseits auf denjenigen Gegenstand, der Werkzeug ist, andererseits auf dasjenige, wofür es dient. Den Wertcharakter erwirbt es nur mit Rücksicht auf einen nichtrelationalen Wert der Entzückung oder der Lust selbst, einen Wert, der völlig anderer Art ist. Dieser Wert des Werkzeugs ist auch in einem ganz anderen Sinne „relativ". Er ist nämlich in 161

seinem Auftreten a b h ä n g i g und in seiner qualitativen Bestimmung v e r ä n d e r l i c h je nachdem, welcher A r t dasjenige ist, das durch dieses Werkzeug hervorgebracht wird, und was für einen Wert es selbst besitzt. In unserem Fall ist dieser relationale Wert letzten Endes von dem Betrachter und von dem Zustand, in welchem er sich unter dem Einfluß des Kunstwerks befindet, abhängig. Sobald der Betrachter mit angenehmen Gefühlen zu reagieren aufhört, sobald er für sie nicht mehr empfänglich ist, schätzt er das Werkzeug, d. h. in diesem Fall das betreffende Kunstwerk, nicht mehr positiv. Das Kunstwerk wird dann für ihn etwas völlig Gleichgültiges. Indessen ändert sich das Kunstwerk selbst in seinen Eigenschaften während dieser wandelnden Schicksale, in welche es im Verkehr mit verschiedenen Betrachtern und in verschiedenen Erfassungsweisen gerät, gar nicht. Es selbst ist weiterhin in sich selbst etwas Fertiges, für sich ein Ganzes Bildendes und bei allen besprochenen Weisen des Umgangs mit ihm bleibt es außerhalb dessen, was dem Betrachter bekannt wird und bekannt geworden ist. Indessen können sich diejenigen Werte, b z w . wertvollen Qualitäten, die ich hier suche, dem Betrachter erst dann enthüllen, wenn er eine gewisse, vielleicht nur noch zum Teil gelingende und deswegen unvollkommene Erkenntnis des Werkes selbst erzielt, wenn also sein Umgang mit dem Werk zur anschaulichen Selbstgegenwart seiner eigenen Züge führt, und dabei oft solcher Züge, die sich von selbst dem Betrachter gar nicht aufdrängen (ins A u g e springen). Erst das wirkliche V e r s t e h e n des A u f b a u s und der Eigenheiten eines Kunstwerks erlaubt dem Betrachter, seine wesenhaften und ihm eigenen Werte, die es als Kunstwerk bezeugen und das Künstlerische an ihm bilden, zu erfassen. Diese Erkenntnis und dieses Verständnis des Kunstwerks muß sich der Betrachter natürlich erarbeiten. Er muß sich das leisten können. Wenn seine Fähigkeit des Erfassens und auch des entsprechenden Reagierens auf das Kunstwerk versagt, dann zeigen sich ihm weder die Eigenheiten noch die Werte des betreffenden Werkes. Das besagt aber nicht, daß dieses Kunstwerk dann des Wertes beraubt wird oder ist, sondern nur, daß der Betrachter irgendwie leistungsunfähig ist, den Wert zu erfassen, und z w a r entweder deswegen, weil ihm überhaupt die künstlerische Kultur mangelt oder weil er gerade schlecht gestimmt und zum sachgemäßen Umgang mit dem betreffenden Kunstwerk ungeeignet ist. Mit anderen Worten: Wenn w i r hier etwas suchen, was man den künstlerischen Wert des Kunstwerks nennen darf, so ist es etwas, was: ι. k e i n B e s t a n d t e i l

oder M o m e n t irgendeines unserer

Erleb-

n i s s e oder psychischen Zustände ist, die sich in uns beim unmittelbaren 162

Verkehren mit dem Kunstwerk vollziehen, etwas was also nicht zur Kategorie der „Lust", der angenehmen oder unangenehmen Gefühle gehört, 2. was dem Werk nicht als einem Werkzeug zur Hervorbringung von Lust- oder Unlustgefiihlen oder sonstigen „Gefallen" und mit Rücksicht auf diese seine Leistung zugeschrieben wird, sondern 3. was sich im Kunstwerk selbst als dessen eigene besondere Bestimmtheit, die nicht zur Kategorie eines „Lusterregers" gehört, unmittelbar zeigt, 4. was dann und nur dann existiert, wenn es den Grund seines Bestehens in den Eigenheiten des Kunstwerks selbst hat, und endlich j . was durch seine Gegenwart im Kunstwerk bewirkt, daß das Werk zu Seinsgebilden gehört, die ganz einzigartig sind und sich allen anderen Kulturgebilden entgegensetzen. Anders gesagt: das völlige Fehlen oder die Abwesenheit dessen, was ich hier den künstlerischen Wert nennen will, hat zur Folge, daß das betreffende Gebilde überhaupt ein Kunstwerk zu sein aufhört. Und wenn es in ihm in seiner nicht positiven, sondern negativen Abwandlung erscheint, d. h. wenn es nicht einen Wert, sondern einen U n w e r t (seinen Mangel) bildet, dann ist das betreffende Werk eine Mißgeburt, aber zugleich dann und nur dann doch noch ein Kunstwerk, wenn neben den Unwerten auch noch gewisse Werte in ihm auftreten. Man müßte jetzt wenigstens auf manche künstlerischen Werte hinweisen. Zunächst aber nodi eine Bemerkung, die uns die kommende Bestimmung erleichtern wird: Es ist zwischen Q u a l i t ä t e n , Bestimmtheiten, die in irgendeinem Sinne (z. B. im künstlerischen, ästhetischen, sittlichen Sinne) „ w e r t v o l l " sind, und dem W e r t s e l b s t zu unterscheiden, der in dem betreffenden Gegenstand als notwendige Folge dessen auftritt, daß in ihm eine bestimmte A u s w a h l u n d A n o r d n u n g gewisser in dem entsprechenden Sinne w e r t v o l l e r Q u a l i t ä t e n vorhanden ist. Anders gesagt: Der Wert baut sich im Gegenstand auf Grund einer bestimmten Auswahl wertvoller Qualitäten auf und ist von dieser Auswahl sowohl in seiner Art, in seiner manchmal ganz einzigen Gestalt als endlich auch in seiner Wertigkeit (Werthöhe) abhängig. Aber auch die Werte selbst unterscheiden sich untereinander, d. h. sie haben ihre eigenen Determinationen, d. h. die sie bestimmenden Qualitäten, die ich „Wertqualitäten" nenne. Die einen von ihnen entscheiden über den allgemeinen Typus des Wertes, z. B. darüber, ob er ein ästhetischer, sittlicher oder ökonomischer Wert u. dgl. m. ist. Die anderen dagegen entscheiden über die Abwandlung des Wertes i n n e r h a l b eines Typus. Zum Beispiel gibt es im Bereich der ästhetischen Werte solche Abwandlungen, wie die „Schönheit", das „Hübschsein", die „Häßlichkeit" u. a. Mit diesen Abwandlungen innerhalb eines Typus (einer Kate163

gorie?) hängt das zusammen, was man gewöhnlich den Grad oder die Höhe des Wertes nennt. Wie man sieht, gibt es da viele verschiedene Unterscheidungen, deren genauere Klärung in der allgemeinen Werttheorie wesentliche Fortschritte bringen könnte. Die später gegebenen Beispiele werden es meinen Zuhörern ermöglichen, sich zu orientieren, was ich unter den wertvollen Qualitäten in Gegenüberstellung zu den Werten und ihren Bestimmtheiten verstehe. Setzen wir aber zunächst fest: ein k ü n s t l e r i s c h e r Wert - sofern wir ihn überhaupt für etwas Vorhandenes (Bestehendes) anerkennen sollen - ist etwas, was im Kunstwerk selbst auftritt und in ihm seine Seinsfundierung besitzt. Ein ä s t h e t i s c h e r Wert dagegen tritt in concreto erst im ästhetischen Gegenstand auf, und zwar als ein besonderes anschauliches Moment, welches das Ganze dieses Gegenstandes bestimmt. Zu seinem Grund hat er eine Auswahl (eine Zusammenstellung) ästhetisch wertvoller Qualitäten, die ihrerseits in einer Auswahl von Eigenschaften des ästhetischen Gegenstandes gründen, welche ihr Erscheinen in ihm ermöglichen. Beides gilt unter der Voraussetzung, daß es ein f e r t i g e s Kunstwerk, bzw. einen fertigen ästhetischen Gegenstand gibt. Es ist dabei für uns hier nicht wichtig, auf welche Weise es zur Konstituierung dieser Gegenständlichkeiten gekommen ist. Denn es ist für uns unzweifelhaft, daß bei der Konstituierung eines individuellen ä s t h e t i s c h e n Gegenstandes das mitschöpferische Verhalten des Betrachters unentbehrlich ist; seine Beteiligung am Konstituierungsvorgang prägt sich an der konkreten Gestalt des ästhetischen Gegenstandes aus. Infolgedessen unterscheiden sich zwei ästhetische Gegenstände, die auf der Grundlage eines und desselben Kunstwerks entstanden sind, oft auf eine tiefgreifende Weise voneinander, und zwar auch hinsichtlich des in ihnen zur Erscheinung gelangenden ästhetischen Wertes. Diese Tatsache kann aber nicht als Argument für die sog. „Subjektivität" oder „Relativität" dieses Wertes dienen. Dieser genetische Aspekt des ästhetischen Gegenstandes soll zwar weder geleugnet noch in seiner Bedeutsamkeit herabgesetzt werden; nicht er aber entscheidet über den Seinscharakter der ästhetischen Werte. Dies kann aber hier nicht näher begründet werden. Unabhängig aber von dieser oder jener Art der Genese des ästhetischen Gegenstandes und von der Beteiligung des Betrachters an seinem Entstehen ist dieser Gegenstand in dem Augenblick, in welchem seine Konstituierung vollendet ist, ein Etwas, womit der Betrachter (der Perzeptor) anschaulich verkehrt, es so oder anders erkennt und darauf so oder anders reagiert. Und in all dem ist er dem Betrachter und den sich dabei in ihm vollziehenden Erlebnissen und psychischen Geschehnissen 164

gegenüber im gleichen Maße transzendent wie das Kunstwerk selbst oder irgendein seinsautonomer Gegenstand, ζ. B. ein reales Ding. Diese Transzendenz betrifft aber nicht nur das Kunstwerk selbst und den ästhetischen Gegenstand in allen seinen wertneutralen Eigenschaften, sondern auch hinsichtlich der an ihm erscheinenden wertvollen Qualitäten und sich in ihnen konstituierenden Werte. Nach diesen Vorbereitungen kehren wir jetzt zum Kunstwerk zurück. Es wird genügen, wenn wir am Beispiel eines literarischen Werkes oder eines Bildes uns zum Bewußtsein bringen, daß zweierlei Momente in einem Kunstwerk auftreten: i . Momente, die a x i o l o g i s c h n e u t r a l , und 2. Momente, die a x i o l o g i s c h v a l e n t sind, um mit diesem letzten Ausdruck sowohl wertvolle Qualitäten als audi Werte und ihre näheren qualitativen Bestimmtheiten zu umfassen. Z u den Momenten der ersten Art gehören vor allem diejenigen Bestimmtheiten des Kunstwerks, die über die Grundart des Kunstwerks entscheiden: ob es also ein literarisches Kunstwerk oder ein Werk der Malerei oder ein Musikwerk u. dgl. mehr ist. So ist ζ. B. jedes literarische Kunstwerk ein m e h r s c h i c h t i g e s Gebilde, in welchem vor allem die sprachlautliche Schicht, die Schicht der Bedeutungseinheiten, die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten sowie diejenige der schematischen Ansichten auftritt. Zugleich enthält ein solches Werk mehrere aufeinanderfolgende Teile (Kapitel, Akte usw.) und zeichnet sich somit durch eine quasi-zeitliche Struktur aus, welche die Darstellung der in ihm zeitlich aufeinanderfolgenden Vorgänge und Ereignisse in der in ihm dargestellten Welt ermöglicht. Ein Werk der Malerei ist in diesem Sinne nicht quasi-zeitlich, d. h. es enthält in sich keine aufeinanderfolgenden Teile, und kann somit, sofern es überhaupt zu der sog. darstellenden Kunst gehört und nicht ein sog. „abstraktes" Bild ist, nur ein in e i n e m Moment bestehendes Ereignis und nicht ganze sich in der Zeit entfaltende Vorgänge zur effektiven Darstellung bringen. Es zeichnet sich dafür durch eine zwei- oder sogar auch drei-dimensionale Räumlichkeit aus, derer das literarische Werk - wenn man von der d a r g e s t e l l t e n Räumlichkeit absieht - entbehrt. Den Grundbestandteil des literarischen Werkes bildet die Doppelschicht der Sprache, in welcher einerseits die sprachlautlichen Gebilde (Wortlaute) und Erscheinungen (z.B. Satzmelodie, Rhythmus, Reim usw.), andererseits die Wortbedeutungen und Sinneinheiten der Sätze und ganzer Satzzusammenhänge zu unterscheiden sind. Als eine Folgeerscheinung der Sprachgebilde treten im literarischen Kunstwerk als seine weiteren Bestandteile die dargestellten Dinge, Menschen und Geschehnisse sowie mannigfache Ansichten, in denen 165

diese Gegenständlichkeiten zur Erscheinung gelangen, hervor. Einem Bild dagegen - wenn wir von dem Titel absehen, der nicht notwendig vorhanden sein muß und bei abstrakten Bildern überhaupt oft ganz unsinnig ist - fehlt die Doppelschicht der Sprachgebilde. Das Darstellungsmittel (in den darstellenden Bildern) bildet eine mit technischen Mitteln der Malerei rekonstruierte Ansicht des im Bild zur Erscheinung gebrachten Gegenstandes (eines Dinges, eines Menschen, bzw. einer Mehrheit von ihnen), von dessen Auftreten im Bild eventuell weitere Bestandteile des Bildes, wie ζ. B. eine gegenständliche Situation, ein literarisches, bzw. historisches Thema usw. abhängig sind. All das, was im darstellenden Bild zu der dargestellten Gegenständlichkeit gehört, fällt in einem „abstrakten" Bild fort. In einem Musikwerk oder in einem Werk der Architektur tritt eine andere Mannigfaltigkeit außeraxiologischer Momente auf. Neben diesen für die Grundgattung des Kunstwerks entscheidenden und zugleich an sich außeraxiologischen (wertneutralen) Eigenschaften treten in jedem Kunstwerk dieser oder jener Grundgattung weitere Bestimmtheiten auf, die gleichfalls axiologisch neutral sind und die mit jenen vereint sich alle zusammen zum Aufbau eines bestimmten künstlerischen Individuums in seiner einmaligen Besonderheit zusammenfügen. In einem literarischen Kunstwerk ζ. B. treten in festgelegter Aufeinanderfolge ganz bestimmte Sätze auf, welche nicht bloß einen eindeutig determinierten und syntaktisch strukturierten Sinn besitzen, sondern audi aus Wörtern bestehen, die einen für die betreffende Sprache charakteristischen Wortlaut besitzen und so aus dem Wortschatz der betreffenden Sprache ausgewählt und geordnet sind, daß sich aus ihrer geordneten Mannigfaltigkeit eine individuelle Gestalt der Sprache des betreffenden Verfassers, ja, im günstigen Fall des betreffenden Werkes bildet. An einem ausgewählten Beispiel (z.B. dem „Hamlet" von S h a k e s p e a r e ) könnte man relativ leicht viele andere Eigenheiten des Werkes aufzählen (ζ. B. aus der in ihm dargestellten Welt), welche alle zusammen axiologisch neutral wären und die mit den allgemeinen, gattungsmäßigen Bestimmtheiten des Werkes dasjenige bilden, was ich das a x i o l o g i s c h n e u t r a l e S k e l e t t des Kunstwerks nenne. Ohne dieses Skelett existierte es überhaupt nicht und wäre auch nicht dieses einzige Kunstwerk. Es bildet aber natürlich nicht das G a n z e des Kunstwerks oder irgendeiner seiner Konkretisationen. Trotz ihrer axiologischen Neutralität sind die Elemente des Skeletts (seine Bestandteile, Eigenschaften, Mannigfaltigkeiten von ihnen) n i c h t o h n e j e d e Bed e u t u n g für den ganzen Bereich der in einem bestimmten Kunstwerk 166

auftretenden axiologisch valenten Momente. Sofern nur dieses Skelett entsprechend gestaltet ist, ziehen sie nämlich das Auftreten ganz neuartiger Momente nach sich, die im gleich strengen Maße zu dem Kunstwerk gehören, sich aber darin von den bisher besprochenen wesentlich unterscheiden, daß sie axiologisch valent, vor allem k ü n s t l e r i s c h wertvolle Momente sind, die in solchen oder anderen Zusammenstellungen in dem betreffenden Kunstwerk auftreten und dessen künstlerische Werte konstituieren. Sie sind prinzipiell doppelter Art: sie drücken die Vollkommenheit oder gerade umgekehrt, die Unvollkommenheit, die Mängel der künstlerischen Fertigkeit, der T e c h n i k des A u t o r s (des Künstlers) aus und sie bilden zweitens eine bestimmte Auswahl der F ä h i g k e i t e n , welche das K u n s t w e r k b e s i t z t , weil es gerade solche und nicht andere Eigenschaften besitzt, und zwar Fähigkeiten zur Hervorrufung von etwas, was schon nicht mehr im Bereich des Kunstwerks selbst und des Kunstwerks allein liegt. Führen wir aber zunächst ein paar Beispiele an. In einem bestimmten literarischen Kunstwerk - z . B . in den „Buddenbrooks" von Thomas M a n n - t r e t e n vorwiegend Sätze mit relativ e i n f a c h e r s y n t a k t i s c h e r Struktur auf. In anderen Romanen dagegen - ζ. B. im „Zauberberg" oder im „Doktor Faustus" (auch ζ. B. in der „Lotte in Weimar") kommen - und zwar in großer Anzahl - Sätze vor, die nicht nur sehr lang sind, sondern auch einen ziemlich komplizierten syntaktischen Aufbau haben. Die Gliederung der Sätze kann dabei die sog. „parataktische" oder die „hypotaktische" Struktur haben, wobei diese letztere noch sehr verschiedenartig sein kann (z.B. eine solche, die man oft in der „Kritik der reinen Vernunft" K a n t s , oder eine solche, wie man sie in den genannten Spätwerken von Thomas M a n n findet).8 Diese Eigenheiten 8

Die „Kritik der reinen Vernunft" ist gewiß kein Kunstwerk und sie sollte es auch nicht sein. Aber das tut nichts zur Sadie. Es handelt sich um Eigenheiten der Struktur ihrer Sätze, die eben axiologisch neutral ist, was aber nicht besagt, daß sie ganz belanglos ist und gar keine Rolle in den Funktionen des Werkes spielt. Auch die Werke von S c h o p e n h a u e r (z.B. „Die Welt als Wille und Vorstellung") sind keine Kunstwerke und üben ganz bestimmte Erkenntnisfunktionen aus. Sie sind auch nicht schlicht und einfach, und trotzdem unterscheiden sie sich in wesentlicher Weise von den Sätzen der „Kritik der reinen Vernunft". Diese ihre strukturelle Andersheit ist zunächst ebenfalls axiologisch neutral, trotzdem aber nidit ohne Bedeutung, und zwar bereits für die Erkenntnisfunktionen des Werkes. Das müßte natürlich im einzelnen gezeigt werden. In der „Kritik der reinen Vernunft" zieht diese Eigenheit der Satzstruktur verschiedene Hemmnisse im Verstehen des Werkes nach sich, weil sie oft nicht bloß kompliziert, sondern auch undurchsichtig ist. Bei S c h o p e n h a u e r dagegen erleichtert sie das Verständnis und bringt darüber hinaus verschiedene sprachliche Effekte mit sich, die dem S c h o p e n h a u e r sehen Stil einen besonderen Charme verleihen.

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der Satzstruktur sind an sich zunächst axiologisch neutral. Wenn wir derartige strukturelle Eigenheiten der Sätze ζ. B. in der Grammatik der deutschen Sprache oder an den Sprachgebilden eines bestimmten Kunstwerks untersuchen, so kommt es niemandem von uns in den Sinn, in diesen Eigenheiten etwas zu suchen, was in sich irgendwie wertvoll sein sollte. Und analog: Wenn wir z . B . in den Sprachgebilden eines Kunstwerks die überwiegende Mehrzahl der Hauptwörter im Vergleich mit den Wörtern anderer grammatikalischer Kategorien feststellen, in einem anderen Werk dagegen das Auftreten einer überwiegenden Mehrzahl der Zeitwörter oder anderer funktionierender Wörter vorfinden, so glauben wir auf etwas zu stoßen, was an sich wertneutral ist, bzw. zu sein scheint. Und so ist es audi, wenn in einem Werk allgemeine, abstrakte Namen vorkommen, in einem anderen dagegen die Sätze so konstruiert sind, daß die Namen, oft sehr zusammengesetzt, auch wenn sie keine Eigennamen im strengen Sinne sind, zu Einzelnamen individueller Gegenstände werden. Wenn wir dagegen sagen, daß der Aufbau eines bestimmten Satzes - besonders, wenn es sich um einen zusammengesetzten Satz handelt — der Art ist, daß der Satz in seiner Struktur „übersichtlich", daß er „klar", „leicht verständlich" ist, ein anderer Satz dagegen „kompliziert", „verwickelt" und dann „unklar", „unverständlich" oder „schwerverständlich" - dann weisen wir auf gewisse für den betreffenden Satz charakteristische Momente hin, die künstlerisch schon nicht mehr belanglos, neutral sind. Sie sind oder sie können „wert-voll" oder „unwert-voll" sein, besonders wenn sie nicht nur ausnahmsweise, sondern öfters auftreten, oder wenn ihr bloß sporadisches Erscheinen in dem betreffenden Werk durch die Verwendungsweise des betreffenden Satzes, bzw. seine besondere Funktion begründet ist. Wenn ζ. B. die verwickelt gebauten Sätze in einem Werk eine Massenerscheinung bilden und diese ihre Häufigkeit des Auftretens sich weder durch die Notwendigkeit der Verwendung eines besonderen Satztypus zu bestimmten Darstellungsfunktionen erklären läßt, noch audi zur Hervorbringung besonderer - wie man oft sagt künstlerischer Effekte 9 dient, dann stellen wir ein für gewisse Teile des Werkes oder für das Werk als Ganzes k ü n s t l e r i s c h b e d e u t s a m e s c h a r a k t e r i s t i s c h e s M o m e n t f e s t , das p o s i t i v o d e r n e g a t i v w e r t v o l l ist. Es kann natürlich verschiedene Quellen der Unklarheit eines Satzes oder eines Satzzusammenhanges geben. Abgesehen 9

Mit diesem Ausdrude wird eben auf etwas hingewiesen, was axiologisch nidit neutral ist.

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von einem Fall, auf den wir sogleich eingehen werden, stellt die Unklarheit, Undurchsichtigkeit, Un Verständlichkeit usw. immer einen M a n g e l , ein G e b r e c h e n des Satzes oder des ganzen Werkes dar; demgegenüber bildet die Klarheit, Durchsichtigkeit (Übersichtlichkeit), Präzision der Formulierung des Satzes oder die Übersichtlichkeit der Anordnun der Sätze einen V o r z u g des betreffenden Werkes. Mit anderen Worten: die genannten Eigenheiten der Sprachgebilde sind w e r t v o l l e Q u a l i t ä t e n besonderer Art, welche den Text eines literarischen Werkes selbst (und eines Kunstwerks insbesondere) auszeichnen. Man kann natürlich fragen, ob dies bereits ein künstlerisches Wertvollsein oder ein Wertvollsein einer allgemeineren Art ist, da es sowohl in literarischen Kunstwerken, als auch ζ. B. in wissenschaftlichen Werken auftreten kann. Das wäre noch zu erwägen. Momentan kommt es aber nur darauf an, daß dieses Wertvollsein schon eine axiologische, nichtneutrale Bestimmung ist, was unter anderem daran zu erkennen ist, daß es ein Positiv-Wertvollsein und ein Negativ-Wertvollsein gibt, daß sich ζ. B. das „klar" dem „unklar" gerade im Hinblick auf das Wertvollsein entgegensetzt. Und daß dieses „klar" oder „unklar" eine Bestimmtheit des S a t z e s selbst, bzw. des Werkes selbst ist. Im Ganzen eines literarischen Kunstwerks kann aber die Klarheit oder eine sporadisch auftretende Unklarheit, besonders wenn sie mit anderen künstlerisch wertvollen Momenten auftritt, noch eine besondere Rolle im organischen Aufbau des Kunstwerks erlangen, indem sie mit ihnen zusammenklingt (harmoniert oder disharmoniert) oder indem sie neue wertvolle Momente im Werk selbst oder in seinen ästhetischen Konkretisationen nach sich zieht. Die verschiedenen künstlerisch bedeutsamen Momente der Sätze oder ganzer Satzzusammenhänge bringen gewisse Eigentümlichkeiten der im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten mit sich. Wenn der Text eines Werkes ζ. B. unklar, doppeldeutig, unübersichtlich u. dgl. m. ist, dann zeichnen sich die in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten durch eine charakteristische Unpräzision der Bestimmung aus; es treten dann eigentümliche Erscheinungen der „Verschwommenheit", der „Ungenauigkeit", der „Unschärfe", des „Schillerns" in verschiedenen Bestimmtheiten der einzelnen Gegenständlichkeiten oder auch der Beziehungen zwischen ihnen hervor. Die Konstitution dieser Gegenstände scheint dann wie unabgeschlossen oder zwiespältig zu sein, ohne sie zu einer scharf umrissenen Gestalt zu bringen. 10 10 Dies tritt natürlich nur dann zutage, wenn diese Gegenstände genau in der Ge169

Unklarheit, Unübersichtlichkeit, teilweise oder volle Unverständlidikeit im literarischen Kunstwerk, das sind nicht nur gewisse Gebrechen oder Mängel, die das Werk kennzeichnen und damit auch sozusagen ihre Funktion erschöpfen. Sie bilden - wenigstens im allgemeinen — den Ausdruck einer schlechten Arbeit, den Mangel oder Fehler der schriftstellerischen Technik, der Nichtbeherrschung der Sprache oder einfach einer Unbeholfenheit des Verfassers. Diese Mängel der schöpferischen Tätigkeit des Autors ziehen das Auftreten der Mängel oder der Gebrechen des Werkes als eines Gebildes, einer Frucht des schöpferischen Verfahrens nach sich und sind als solche etwas im Werk in sich negativ Wertvolles. Die hier erwähnten negativ-wertigen Bestimmtheiten der Sätze oder ganzer Satzzusammenhänge können natürlich in einem literarischen Kunstwerk von seinem Verfasser a b s i c h t l i c h eingeführt werden. Die Absichtlichkeit muß aber im Werk selbst sichtbar sein, wenn diese Bestimmtheiten entsprechend beurteilt werden sollen. Eine gewisse Unklarheit des Sinnes eines Satzes kann zwecks Hervorbringung eines besonderen künstlerischen Effekts absichtlich eingeführt werden. Sie verliert ihr negatives Wertvollsein nicht, aber das durch sie Hervorgebrachte, das dann in sich irgendwie positiv wertvoll sein muß, modifiziert dieses Negativ-wertig-Sein auf merkwürdige Weise, so daß es selbst zwar nicht annulliert wird, aber doch im Ganzen des Werkes eben durch den spezifischen Charakter seiner Wertigkeit eine positive Rolle spielt. Einen anderen Fall bildet eine absichtlich in das Werk eingeführte Unklarheit eines Satzes dann, wenn er nicht zum Grundtext des Werkes, sondern als ein dargestellter Satz zu der dargestellten Welt gehört, wenn er also von einer dargestellten Person ausgesprochen oder aufgeschrieben wird. Diese Person soll ζ. B. ein beginnender Schriftsteller sein, dessen Ungeschicklichkeit oder Mangel an Talent ad oculos gezeigt werden soll. Dann ist die Unklarheit des Satzes nicht etwas, was das W e r k selbst charakterisiert, sondern sie bildet eine besondere Erscheinung in der dargestellten Welt und übt in ihr selbst eine Darstellungsfunktion aus. Sie dient als ein Mittel der Charakterisierung einer dargestellten Person, ist dann aber kein Ausdruck der Mängel der schriftstellerischen Fähigkeiten des A u t o r s des Werkes, sondern sie kann - im Gegenteil — seine Geschicklichkeit in der Beherrschung verschiedener sprachlicher Gestaltungen bezeugen. Endlich kann die Unklarheit des Satzgefüges in einen stalt genommen werden, welche sie von der intentionalen Bestimmung durch die Satzsinne erhalten, und wenn sie vom Leser sozusagen weder irgendwie ergänzt noch zur Eindeutigkeit und Schärfe gebracht werden.

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Teil des Werkes eingeführt werden, um sie als F a k t o r d e s K o n t r a s t e s zu anderen Teilen des Werkes fungieren zu lassen, die dann in ihrer Klarheit, Übersichtlichkeit u. dgl. m. um so deutlicher hervortreten. Die Mangelhaftigkeit dient hier als Mittel zur Kräftigung gewisser Vorzüge, die ohne die Kontrastwirkung nicht so deutlich aufträten. Auch in diesem Fall drückt die absichtlich eingeführte Unklarheit (oder andere Mängel der Textgestaltung) nicht die Fehler der schriftstellerischen Fähigkeiten des Verfassers aus und ist auch selbst kein technisches Gebrechen des Werkes selbst, sondern spricht im Gegenteil für die gekonnte Beherrschung der Technik durch den Verfasser und trägt zum Aspekt einer vorzüglichen technischen Gestaltung des Werkes selbst bei, ist also im künstlerischen Sinne positiv wertvoll. Analog in anderen Fällen: Gewisse Züge der Komposition des Ganzen eines literarischen Kunstwerks oder eines Bildes oder eines Musikwerkes sind rein für sich selbst axiologisch neutrale Einzelheiten der Struktur des Werkes selbst, die eine rein gegenständlich gerichtete Analyse aufzeigen kann. Zum Beispiel diese oder jene Verlagerung der Teile des Werkes nebeneinander oder nacheinander, eine solche oder eine andere Gruppierung ζ. B. der dekorativen Einzelheiten in einem Teil des Werkes, damit sie mit einer freieren, loseren, sozusagen zerstreuteren Mannigfaltigkeit analoger Einzelheiten in einem anderen Teil desselben Werkes kontrastiert, ist an sich selbst axiologisch neutral. Sie tritt einfach im Kunstwerk auf, und man kann dies rein objektiv feststellen, ohne dadurch zur Anerkennung von etwas Wertvollem oder Mangelhaftem im Werk gezwungen zu sein. Diese neutralen Eigenheiten der Komposition können aber wiederum gewisse andere Einzelheiten des Werkes nach sich ziehen, die schon sichtlich einen positiven oder negativen Charakter des Wertvollseins besitzen. In einer allzu harmonischen Verteilung der Einzelheiten oder der Teile des Kunstwerks kann ζ. B. eine zu große Pedanterie, eine zu große Sorge um die Hervorbringung von „Ordnung" zur Erscheinung kommen, die in ihrer Eintönigkeit gewissermaßen belästigend wirkt. Es kommt zu einer Überbetonung der Bedeutsamkeit ausschließlich der kompositorischen Eigenheiten des Werkes, so als ob die Regelmäßigkeit der Komposition allein über den finalen Wert des Kunstwerks entscheiden würde oder könnte. Die Vollkommenheit der Komposition eines bestimmten Typus neben einem empfindlichen Mangel an anderen - wie man gewöhnlich sagt „inhaltlichen" Vorzügen des Werkes hört schon auf, Vollkommenheit zu sein, und wird zu einem Faktor der Monotonie und Langeweile. Eine gewisse Unordnung in der Komposition des Werkes, welche gar keine fühlbare beabI

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sichtigte künstlerische Funktion im Werk ausübt, bildet ein deutliches Gebrechen des Werkes, welches das Gleichgewicht der im Werk spielenden Kräfte stört. Sie kann dabei ein Zeugnis einer gewissen Unfertigkeit des Autors sein, ein technischer Mangel, welcher als solcher negativwertig ist, ganz unabhängig davon, welche negativ-wertige Qualitäten er nach sich zieht. Es kann aber wiederum vorkommen, daß eine gewisse Unvollkommenheit der Komposition sich auf Grund der Eigenheiten des Werkes als beabsichtigt enthüllen und eine bestimmte künstlerische Funktion im Ganzen des Werkes ausüben kann. Es hört damit nicht auf, eine Unvollkommenheit, eine Unordnung zu sein, aber ihre Funktion im Werk kann trotzdem zu einem gewissen positiv wertvollen Moment, also zu einem künstlerischen Vorzug führen, ζ. B. zu einer leichten belebenden Unruhe, zum Hervortreten gewisser besonders bedeutsamer dargestellter Ereignisse u. dgl. m. Das kann natürlich nur sein, es muß aber nicht sein. Die Tatsache nämlich, daß eine gewisse Unvollkommenheit in der Komposition absichtlich in den Aufbau des Werkes eingeführt wird, entscheidet von selbst nicht darüber, ob das Ergebnis wirklich so vorteilhaft und gelungen ist, daß daraus endgültig etwas wirklich positiv Wertvolles zur Ausprägung gelangt. So kann z.B. die Weise, in welcher die Schicksale der in einem Roman dargestellten Menschen entwickelt werden, nicht mit ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zusammenstimmen, was unzweifelhaft eine gewisse Unruhe in die Komposition und insbesondere in den Rhythmus des sich entwickelnden Werkes einführt. Dies ist indessen eine bekannte und öfters angewandte Erzähltechnik, welche die Hervorbringung besonderer ästhetischer Effekte der im Werk dargestellten Zeit zum Ziel hat. In der polnischen Literatur kann hier der Roman „Eifersucht und Medizin" von C h o r o m a n s k i oder „Die Grenze" von Frau N a l k o w s k a als Beispiel genannt werden. In den Romanen „Der Blinde aus Ghasa" und „Die Zeit muß stehen bleiben" verwendet A . H u x l e y diese Technik auf ziemlich primitive Weise, indem einfach die Blätter eines Tagebuchs gemischt werden, so daß man zunächst über spätere und nachher über frühere Ereignisse liest usw. Es ist zu bezweifeln, ob diese Art der zeitlichen Unordnung wirklich zu künstlerischen und ästhetischen Effekten führt. Es ist aber klar, daß der Zweck dieser Darstellungsweise eben zur Hervorbringung derartiger Effekte dient, daß sie also zwar an sich wertneutral ist, aber im Hinblick auf die Funktion, die sie zu leisten hat, den Aspekt von etwas künstlerisch Wertvollem gewinnen soll. Wichtig ist dabei, daß es zur Enthüllung des künstlerischen Wertvollseins eines bestimmten Moments des Kunstwerks nicht hinreicht, dieses 172

Moment allein f ü r sich selbst zu betrachten. Es ist nötig, das ganze Kunstwerk kennenzulernen und erst auf diesem Hintergrund die Rolle des erwogenen Moments zu verstehen. Die Momente, welche eine künstlerische Funktion im Werk ausüben und eben damit eine künstlerische Bedeutsamkeit und eventuell auch ein Wertvollsein erlangen - und es gibt ihrer im Kunstwerk gewöhnlich eine ganze Mannigfaltigkeit, und sie treten in ihm in verschiedenen Gestaltungen und Funktionen auf können sich in ihrem Wertvollsein gegenseitig modifizieren. Infolgedessen enthüllen sie erst in ihrer ganzen im Kunstwerk vorhandenen Mannigfaltigkeit ihre letzte Gestalt und die Art ihres Wertvollseins. Dies stimmt mit der bereits ausgesprochenen Behauptung zusammen, daß die künstlerisch wertvollen Momente sich in ihrer eigentlichen Funktion und Rolle erst auf Grund der Erkenntnis und insbesondere des Verständnisses des inneren Zusammenhangs des Kunstwerks erfassen lassen. Dies wäre jedoch nicht möglich, wenn der Betrachter sich einfach seinen ihm vom Kunstwerk gelieferten Lustgefühlen hingäbe, wie das nach den psychologischen Theorien der ästhetischen Werte der Fall sein müßte. Um aber auf noch einen Fall einer künstlerisch wertvollen Qualität hinzuweisen, beschäftigen wir uns noch einen Moment mit einem Zug der in Marmor gestalteten Werke R o d i η s. Es fällt bei ihnen die außergewöhnliche Präzision und zugleich Weichheit der Bearbeitung der Oberfläche des Marmors ins Auge, welche die Weichheit des dargestellten weiblichen Leibes zur Ausprägung bringt. Diese Weise der Bearbeitung des Marmors spielt eine wesentliche Rolle bei der Darstellung des Gegenstandes - eben des weiblichen Leibes - , der ja von dem „Material", aus dem das Werk gebildet ist, verschieden ist. Ihr verdankt es der Betrachter, daß er fast direkt den weiblichen Leib und gewissermaßen auch das Weib selbst in seinem seelischen Zustand erfaßt und dabei zu vergessen scheint, daß er es doch nur mit einem Steinblock zu tun hat. Diese besondere Darstellungsfunktion der Bearbeitung und der Gestaltung der Marmoroberfläche ist künstlerischer N a t u r und den Vorzug ihrer Realisation bildet die Vollkommenheit der Selbstpräsentation eines Gegenstandes, der prinzipiell von dem darstellenden Gegenstand (dem Marmor) verschieden ist, so daß von dem ursprünglichen Material nur die Farbe bleibt und alles andere einer tiefen Verwandlung unterworfen wird. Aber auch diese Farbe bringt sich der Betrachter kaum zu Bewußtsein. Würde sie f ü r sich als Farbe des Marmors erfaßt, so wirkte dies störend bei der Erfassung der Skulptur. Die Selbstpräsentation des weiblichen Leibes ist so suggestiv, daß der Betrachter fast vergißt, daß er es bloß mit einem Marmorblock zu tun hat. 173

Abgesehen aber von allem anderen, was sonst in der Skulptur R o d i η s zur Ausprägung gelangt und was - wie wir wissen - in der Geschichte der Rezeption der Kunst R o d i η s verschiedenen Beurteilungen unterlag, bildet jene Vollkommenheit der in der Selbstpräsentation kulminierenden Darstellungsfunktion einen Vorzug der betreffenden Skulptur, sie ist eben eine k ü n s t l e r i s c h wertvolle Qualität des betreffenden Kunstwerks selbst. Aber nicht nur sie ist hier etwas künstlerisch Wertvolles. Bereits die Vollkommenheit der Technik der Bearbeitung der Marmoroberfläche, die hohe Meisterschaft in dieser Technik ist ebenfalls etwas künstlerisch positiv Wertvolles an dem betreffenden Kunstwerk selbst. Dies ist zugleich etwas, was in ihm selbst zu entdecken ist und was nicht irgendein Erlebnis des Betrachters ist. Es ist kein Zustand der Bewunderung oder irgendeines vorübergehenden Gefühls, der sich im Betrachter entfaltet, während er in die Erfassung dieser Meisterschaft vertieft ist, sondern es ist etwas, was am Kunstwerk selbst erfaßt wird. Diese Bewunderung kann natürlich auch naiv und grundlos sein, wie bei den ungebildeten Snobs, denen nur daran liegt, die Originale eines großen Meisters gesehen zu haben; sie ist dann aber keine e c h t e Bewunderung, welche nur auf Grund einer richtigen, verständnisvollen Erfassung des betreffenden Kunstwerks zustande kommen kann. Ist sie aber echt, dann setzt sie eben die einsichts- und verständnisvolle Erfassung voraus, in welcher die besonderen künstlerischen Vorzüge — Werte nicht bloß zur Erscheinung gelangen, sondern sich auch als etwas präsentieren, was im Werk selbst seinen Sitz und seine Erscheinungsstelle hat. Alle Umdeutung dieser künstlerischen Werte in subjektive Erlebnisse, Gefühle usw. erweist sich dann von selbst als widersinnig. 11 Man kann natürlich die Beispiele der künstlerisch wertvollen Qualitäten und der künstlerischen Mängel noch weiter vermehren. Man kann ζ. B. von einer nicht angemessenen Wahl des Materials des Kunstwerks sprechen - wie z.B. bei den neugotischen Gebäuden der Chicago University, die aus Beton gebaut sind - man kann den „edlen" Barock von dem „billigen", mit entbehrlichen Dekorationseinzelheiten überladenen Barock unterscheiden usw. Es scheint mir aber, daß die hier angedeuteten Beispiele genügen, damit sich meine Zuhörer darüber orientieren können, was ich im Sinne habe, wenn ich von den künstlerisch wertvollen Qualitäten des Kunstwerks spreche, obwohl es vielleicht nicht so leicht 11

Es heißt, d a ß diese letzte technische Bearbeitung des M a t e r i a l s die Leistung eines Technikers (Steinhauers) und nicht R o d i η s selbst sei. A b e r dies tut nichts zur Sache und ändert weder an dem Sinn der künstlerisch wertvollen Q u a l i t ä t nodi an ihrer Erscheinungsstelle etwas.

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ist, einen sachgemäßen und genügend strengen Begriff der künstlerisch wertvollen Qualitäten zu geben, bzw. den sich auf ihnen aufbauenden künstlerischen Wert adäquat begrifflich zu bestimmen. Das aber, was idi unter einer künstlerisch wertvollen (allgemeiner: valen ten) Qualität verstehe, wird sich vielleicht noch deutlicher abzeichnen, wenn ich jetzt diesen Qualitäten Beispiele der ästhetisch valenten (wertvollen und unwertigen) Qualitäten gegenüberstelle, um dann noch einige Hinweise auf die ästhetischen Werte selbst und ihre möglichen Abwandlungen zu geben. In den konstituierten ästhetischen Gegenständen erscheinen sehr viele und sehr verschiedenartige ästhetisch valente Qualitäten. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, daß sie etwas im ästhetischen Erlebnis a n s c h a u l i c h G e g e b e n e s sind, oder audi anders, daß sie unmittelbar e r s c h e i n e n d e P h ä n o m e n e sind, nicht aber etwas, was man erst aus anderen Gegebenheiten e r s c h l i e ß e n oder was man auf Grund des Verständnisses des ganzen Werkes in ihm v e r m u t e n kann, ohne daß seine Qualität selbst gegeben wäre. Damit sie sich als sichtbare Momente konstituieren, ist der Vollzug eines „ästhetischen", in seinem Kern e r f a h r e n d e n Erlebnisses notwendig, das erst den Z u g a n g zu solchen Qualitäten eröffnet. Die Schwierigkeit, sie von den künstlerisch valenten Qualitäten abzugrenzen, kann unter anderem darauf beruhen, daß es nicht ausgeschlossen zu sein scheint, daß manche von den Qualitäten, die wir oben als künstlerisch wertvoll behandelt haben, auch in dem Bereich eines ästhetischen Gegenstandes als wertvolle Qualitäten anschaulich auftreten können. Es entsteht dann die Frage, ob sie dann noch künstlerisch valent bleiben oder infolge der Veranschaulichung zu ästhetisch valenten Qualitäten werden. Ohne aber zunächst die Situation dadurch zu komplizieren, gehen wir jetzt zur Besprechung einiger Beispiele für ästhetisch wertvolle Qualitäten über. Es kommen da vor allem gewisse - wie man gewöhnlich sagt - „emotionale" Qualitäten in Betracht, die mit solchen Wendungen benannt werden, wie z.B. „traurig", „schrecklich", „freudig", „frohen Sinnes", „feierlich", „erhaben", „ästhetisch", „voll dramatischer Dynamik", „tragisch" usw. Aber auch solche Qualitäten, die man im Gegensatz zu den eben aufgezählten „intellektuelle" Qualitäten nennen könnte, wie z. B. „witzig", „geistreich", „eindringlich", „interessant", „tief", „oberflächlich", „langweilig", „scharfsinnig", „stumpf", „banal" usw. Nicht in letzter Linie sind da solche Qualitäten (die man aber audi „formale" Momente nennen könnte), wie: „einheitlich", „uneinheitlich", „harmonisch", „niditzusammenstimmend", „innerlich verbunden" u.dgl.m. 175

Unter solchen Qualitäten lassen sich zwei verschiedene Typen gegenüberstellen. Erstens solche Qualitäten, die sowohl dann, wenn sie allein in einem Gegenstand auftreten, als audi dann, wenn sie in einem Gegenstand mit verschiedenen anderen zusammen auftreten, ästhetisch wertvoll sind, und zwar positiv oder negativ wertvoll. Die anderen Qualitäten dagegen sind der Art, daß sie allein f ü r sich genommen ästhetisch neutral sein können und erst, wenn sie mit einer Auswahl anderer ästhetisch valenter Qualitäten zusammen auftreten, gewissermaßen ein bestimmtes ästhetisches Wertvollsein gewinnen. Von den ersten sagen wir, daß sie u n b e d i n g t wertvoll sind, von den anderen dagegen, daß sie b e d i n g t wertvoll sind. Zu den letzteren gehören ζ. B. manche emotionalen Qualitäten. Wenn ζ. B. jemand infolge eines Verlustes im Leben traurig ist, so ist dieser Charakter der Traurigkeit, der sich sozusagen auf sein Leben und auf ihn selbst legt, ästhetisch neutral. Das in der Musik C h o p i n s auftretende Moment der Traurigkeit indessen, das notabene mit musikalisch technischen Mitteln hervorgebracht und dadurch auch wesentlich umgewandelt wird, ist in dem betreffenden Werk, allerdings erst in seiner Konkretisation und in einer besonderen Ausführung, ein ästhetisch valentes Moment und gehört zu der Fülle der Bestimmungen des Werkes, z. B. in der Etüde Op. 2 5 N r . 7. Die dramatische Spannung eines menschlichen Konflikts im täglichen Leben kann ästhetisch völlig neutral sein, in der sog. „Revolutionsetüde" (Op. 10 N r . 12) C h o p i n s ist sie dagegen unzweifelhaft ästhetisch valent. Es scheint dagegen, daß solche Qualitäten, die wir mit den Worten „feierlich", „tief", „langweilig" oder „banal" bezeichnen, zu der Kategorie der ästhetisch unbedingt wertvollen Qualitäten gehören. Warum ist es so, daß (näherungsweise) dieselbe emotionale Qualität einmal ästhetisch valent ist, das andere Mal dagegen nicht? Das bildet ein umfangreiches Thema f ü r sich, das einerseits mit der eigentümlichen Funktion des ästhetischen Erlebnisses, das zur Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes führt, andererseits mit der eigenartigen Modifikation des existentialen Moments verbunden ist, das die Seinsweise des ästhetischen Gegenstandes charakterisiert. 12 Das Problem, welche ästhetisch wertvollen Qualitäten in einem und demselben ästhetischen Gegenstand auftreten und zusammenstimmen können und welche dagegen sich entweder völlig ausschließen oder zum 12

S.o. „Das ästhetische Erlebnis", S. 3 ff. Ebenso vgl. R . I n g a r d e n , „Aesthetic Experience and Aesthetic Object". In: Philosophy and Phenomenological Research. B d . 2 1 , i960. S . 2 8 9 - 3 1 3 . Ferner R. I n g a r d e n , „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks". Tübingen 1968, § 25.

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Widerstreit führen, bildet das Thema sehr umfangreicher, aber im Grunde nicht einmal wirklich angefangener analytischer Untersuchungen, deren erste Züge idi anderenorts skizzieren werde. 13 Es muß jedoch betont werden, daß das Problem der möglichen und oft notwendigen Zusammenhänge zwischen entsprechend gewählten ästhetisch wertvollen Qualitäten seit langem das Thema der Studien über die künstlerische Praxis in der Kunst ist. Jeder wirklich schöpferische Künstler, Dichter, Musiker oder Maler führt beim Schaffen seines Werkes ein Experiment auf diesem Gebiet durch.14 Der Künstler sieht bei der Komposition seines Werkes die möglichen Zusammenstimmungen der ästhetisch valenten Qualität voraus, die in seinem Werk, bzw. in dessen Konkretisation zur Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Wertes führen sollen. Er sucht entsprechende technische Mittel zur Realisierung der von ihm gewünschten qualitativen Zusammenstimmung. E r wählt also solche ästhetisch neutralen Qualitäten, Farben, Klänge, Gestalten, welche das Skelett eines Werkes bilden und in ihm eine gewisse Mannigfaltigkeit künstlerisch wertvoller Qualitäten verkörpern werden, deren Funktion darauf beruht, bei Erfüllung entsprechender subjektiver Bedingungen (d. h. bei einem befähigten Betrachter und beim Vollzug eines entsprechend verlaufenden ästhetischen Erlebnisses) in der Konkretisation des Werkes, auf Grund seines Skeletts, eine Mannigfaltigkeit ästhetisch wertvoller Qualitäten zur Erscheinung zu bringen und damit audi die Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Wertes zu ermöglichen. Wie man auf Grund des Gesagten ersieht, ist der ästhetische Wert, der auf der Grundlage eines zur Konkretisation gebrachten Kunstwerks zur Erscheinung gebracht wird, in seiner Materie durch die ihn unterbauenden ästhetisch valenten Qualitäten eindeutig synthetisch bestimmt. Die ästhetischen Werte unterscheiden sich untereinander durch diese synthetische Wertqualität, wie etwa Schönheit, Charme (grâce) u. dgl. m., und stellen sich vermöge ihrer gattungsmäßigen Grundbestimmtheit anderen Grundgattungen der Werte, wie z. B. den sittlichen Werten, den Erkenntniswerten, den Lebenswerten usw. entgegen. Die ganze Rolle (Bedeutsamkeit) ihrer Existenz und ihrer materialen Beschaffenheit er13

S . u . „ D a s Problem des Systems der ästhetisch valenten Qualitäten", S. 1 8 1 ff.

14

In unserer Zeit bildet die sogenannte abstrakte Malerei -

sofern sie wirklich

schöpferisch ist - ein großes Experiment auf dem Gebiet der Zusammenstellungen von Farben, ihrer Gestalten und ihrer Verteilung im Ganzen des Bildes. Dasselbe betrifft die moderne Architektur, soweit sie edite Kunst ist. Die Arbeiten von N e u t r a können hier als Beispiel dienen.

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schöpft sich darin, daß sie als Phänomene besonderer Gattung ausschließlich z u m E r s c h a u e n und zum G e n i e ß e n auf eine ganz besondere Weise15 bestimmt sind. Sonst haben sie gar keine praktische Bedeutung und dienen zur Realisierung gar keines anderen der sittlichen Werte oder der Lebens-Werte. Dies soll aber nicht so verstanden werden, als ob die ästhetischen Werte ihrerseits als besondere Werkzeuge zur Hervorbringung besonderer Erlebnisse, eben des Genusses, der Entzückung, der Befriedigung usw. im Betrachter dienten, wie dies gewöhnlich behauptet wird. Dies „zum Schauen", „zum Genießen" bedeutet hier nur, daß sie eben k e i n e W e r k z e u g e zu irgendwelchen p r a k t i s c h e n Zwecken sind, sondern daß i h r s p e z i f i s c h e s W e s e n s i c h im P h ä n o m e n - S e i n , im E r s c h e i n u n g s - S e i n erschöpft, und zwar in einer Erscheinung, die ihrem materialen Wertgehalt nach ein Erschauen und Anerkennen in einem Akt der Bewunderung oder Verwerfung, in einem Akt des Verurteilens oder des Ekels16 e r f o r d e r n . Man könnte den Spieß umdrehen und sagen, daß der Mensch ein Werkzeug ist, einerseits als Künstler zur „Erschauung" und zur „Realisierung" (Verkörperung) bestimmter Werte im ästhetischen Gegenstand, andererseits als Betrachter zu dienen, um diese Werte zur konkreten Erscheinung zu bringen und ihnen seine Bewunderung und Anerkennung zu zollen. Im Zusammenhang damit ist es für die ästhetischen Werte ganz gleichgültig, ob sie an realen oder an bloß fiktiven Gegenständen zur Erscheinung gelangen und ob ihnen selbst irgendein außer- oder über-erscheinungsmäßiges Sein zukommt, das sie sozusagen um ein effektiveres Sein bereichern würde als das bloße Phänomen-Sein. Sie sind weder real nodi ideal, so gut sie eine Konkretisierung notwendiger Seinszusammenhänge zwischen rein idealen Qualitäten bilden können. Sie braudien nur - und das ist hinreichend für sie einen (realen oder bloß intentionalen) Gegenstand, der vermöge seiner Bestimmtheit ihnen das „Scheinen", das Phänomen-Sein ermöglicht, das einem Betrachten und Genießen zugänglich ist. Rein in sich selbst sind sie qualitativ voll und selbstgenügsam. Sie sind nichts Relatives, was sich auf etwas anderes beziehen und zu etwas anderem dienen müßte, und sind lediglieli seinsmäßig von dem Kunstwerk und von seinen künstlerischen Werten abgeleitet. 15

V g l . z . B . M o r i t z G e i g e r , „Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen G e nusses". I n : Jahrbuch f ü r Philosophie und phänomenologische Forsdiung. B d . i , 1 9 1 3 . S. 5 6 6 - 6 8 3 .

16

„ W e r t a n t w o r t " im Sinne Dietrich von H i l d e b r a n d s . V g l . „ D i e Idee der sittlichen H a n d l u n g " . In: Jahrbuch f ü r Philosophie und phänomenologische F o r schung. B d . 3, 1 9 1 6 . S. 1 2 6 - 2 5 1 .

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Dagegen sind die künstlerischen Werte deutlich dienend, und zwar dienstbar auf eine besondere Art den ästhetischen Werten gegenüber. Sie sind so gestaltet, daß ihre Anwesenheit im Kunstwerk die Konstituierung bestimmter ästhetisch wertvoller Qualitäten am konkretisierten Werk, am ästhetischen Gegenstand, nach sich zieht. Sie sind also „ f ü r e t w a s " und sind in diesem Sinne ausgesprochen „relativ". Ihr richtiges Funktionieren erlaubt es auch dem Betrachter, der nicht bloß ihre Leistungsfähigkeiten verwendet, sondern auch gleichsam den Mechanismus ihres Funktionierens versteht, zu beurteilen, welchen Wert sie für die Konkretisierung und für das Enthüllen der ästhetischen Werte haben. Sie erlauben uns zugleich, die Meisterschaft der Technik des Künstlers zu beurteilen, der zuerst versteht, diejenigen ästhetisch wertvollen Momente zu entdecken und nachher im Werk zu verkörpern, welche die künstlerischen Fertigkeiten des Kunstwerks in Gang zu setzen imstande sind. Die hier durchgeführte Unterscheidung der künstlerischen und der ästhetischen Werte erlaubt uns, die Orientierung zu erlangen, wo man eigentlich die künstlerischen und wo die ästhetischen Werte zu suchen hat. Sie läßt uns auch vermuten, daß man die ersteren in völlig anderen Akten zu enthüllen und in ihrer Funktion zu verstehen hat, als diejenigen, in welchen man den Zugang zu ästhetischen Werten im strengen Sinne gewinnt. Die durchgeführten vorbereitenden Analysen werden uns noch zu verstehen helfen, ob und in welchem Sinne man von der „Relativität" der Werte der beiden hier unterschiedenen Typen der Werte sprechen darf. Dies sind aber schon Probleme, auf die wir hier nicht mehr eingehen können.

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χ DAS P R O B L E M D E S S Y S T E M S DER ÄSTHETISCH VALENTEN QUALITÄTEN

Die Hauptprobleme dieses Vortrags beziehen sich auf den inneren Aufbau des Kunstwerks, bzw. des ästhetischen Gegenstandes, der auf Grund eines Kunstwerks durch einen kompetenten Betrachter zur Konstituierung gebracht wird. Sie stehen auch mit der Frage nach der sog. „Objektivität" des ästhetischen Wertes im Zusammenhang. Bei der Analyse des inneren Aufbaus des Kunstwerks (des ästhetischen Gegenstandes) darf man nicht vergessen, daß er in verschiedenen Künsten und auch in verschiedenen einzelnen Kunstwerken eine verschiedene Geschlossenheit aufweisen kann. Man muß sich also vor voreiligen allgemeinen Entscheidungen hüten, besonders wenn man geneigt ist, die Geschlossenheit des Aufbaus des Kunstwerks mit seinem künstlerischen und infolgedessen audi ästhetischen Wert in Zusammenhang zu bringen. Man muß damit rechnen, daß man in dieser Frage bei einer vorsichtigen Analyse zu sehr verschiedenen Ergebnissen gelangen kann. Trotzdem ist es notwendig, zur ersten Orientierung die Hauptrichtungen der allgemeinen Problematik und ihrer möglichen Lösung zu skizzieren. Man muß zunächst das wertneutrale Skelett des Kunstwerks von seinen künstlerisch und ästhetisch wertvollen Momenten unterscheiden. In einem editen Kunstwerk gibt es freilich keinerlei Momente, die für das Auftreten der ästhetisch valenten (und insbesondere wertvollen) Qualitäten jeder Bedeutsamkeit entbehrten. 1 Das Besitzen einer solchen Bedeutsamkeit ist aber nicht dasselbe, wie das ästhetische Wertvollsein eines Moments des Kunstwerks (bzw. des ästhetischen Gegenstandes). In der Bedeutung, bzw. in der Rolle, welche die einzelnen Momente des Kunstwerks f ü r die Konstituierung der ästhetisch valenten (relevanten) Qualitäten spielen, sind verschiedene Stufen möglich, je nach der Leistungs1

Wenn sie in einem Kunstwerk wirklich auftreten, so sind sie ihm entbehrlich und - was mehr ist - sie können im Kunstwerk einen störenden Einfluß ausüben. Dann sind sie aber für den Wert des Kunstwerks dodi nicht völlig irrelevant. 181

fähigkeit der einzelnen Momente. Trotz der Unterschiede, welche die einzelnen Kunstwerke in dieser Hinsicht aufweisen, ist es möglich, drei Typen ihrer Bestimmtheiten zu unterscheiden: ι . materiale und formale, in sich selbst ästhetisch neutrale Momente, unter welchen aber Momente zu unterscheiden sind, die eine Bedeutung f ü r die Konstituierung der ästhetisch valenten Qualitäten haben, die also k ü n s t l e r i s c h wertvoll sind, z. Momente, und insbesondere Qualitäten, die sich auf den ersten aufbauen und ästhetisch valent sind und 3. den ästhetischen Wert selbst, der in sich ebenfalls qualitativ bestimmt ist. Dies habe ich anderenorts ausführlicher auseinandergelegt. Die Gesamtheit der Bestimmtheiten der ersten Gruppe bildet das ästhetisch neutrale Skelett des Kunstwerks. Es ist in verschiedenen Künsten durch verschiedene, entsprechend gewählte Mannigfaltigkeiten von Momenten bestimmt. Zu den ästhetisch neutralen Eigenheiten des Kunstwerks gehört in den sog. darstellenden Künsten (Literatur, Malerei, Skulptur) der mehrschichtige Aufbau des Werkes, der in einem Musikwerk oder in einem abstrakten Bild fehlt. Es gehören hierher weiterhin verschiedene Momente der quasi-zeitlichen Struktur des Werkes, die in den literarischen Werken und in der Musik vorhanden sind, aber in Werken der Malerei nicht vorkommen. Ästhetisch neutral sind endlich die kategorialen Strukturen der im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten, obwohl es künstlerisch nicht irrelevant sein kann, ob in einem literarischen Kunstwerk die überwiegende Mehrheit der dargestellten Gegenständlichkeiten eine statische Struktur der Dinge besitzt oder ob die mit dynamischen Momenten ausgestatteten Vorgänge das Ubergewicht haben. Manche Eigenheiten des Skeletts können — wie das soeben angedeutet wurde - eine mehr oder weniger wichtige Rolle in der Konstituierung der ästhetisch valenten Qualitäten in dem konkretisierten Werk (in dem ästhetischen Gegenstand) spielen. So eröffnen sich in dieser Hinsicht in den Musikwerken im Zusammenhang mit ihrer quasizeitlichen Struktur ganz andere Möglichkeiten für das Auftreten verschiedener dynamischer Strukturen, als es bei den Werken der Fall ist, die keine quasi-zeitliche Struktur aufweisen. Es wäre aber ganz verfehlt, wenn man glaubte, daß z. B. die Werke der Architektur wesentlicher dynamischer Momente, die eine große Rolle bei der Konstituierung ästhetisch wertvoller Qualitäten spielen können, beraubt seien. Auf der Grundlage des ästhetisch neutralen Skeletts des Werkes bauen sich - wie gesagt - verschiedene ästhetisch valente Qualitäten auf; 182

wenn sie in entsprechend gewählten und angeordneten Mannigfaltigkeiten in einem und demselben ästhetischen Gegenstand auftreten, konstituieren sie den qualitativ bestimmten ästhetischen Wert. Bei dieser Sachlage eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten der typischen Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten, zwischen den ästhetisch neutralen, den künstlerisch bedeutsamen sowie endlich den ästhetisch valenten, insbesondere wertvollen Determinationen eines konkretisierten Kunstwerks und dessen ästhetischen Werten, die sich in diesen ästhetisch wertvollen Bestimmtheiten des Werkes konstituieren. Diese sehr mannigfaltigen Zusammenhänge sollen einer eindringlichen analytischen Untersuchung unterworfen werden, denn erst ihre Klärung könnte uns über den wesensmäßigen Aufbau verschiedenartiger Werke belehren. Dadurch würden die ersten Schritte zu einem richtigen Verständnis sowohl der einzelnen Künste als audi der einzelnen Kunstwerke getan und die Wege zu einer Theorie der ästhetischen Werte und ihrer Fundierung in den Kunstwerken geebnet. Natürlich sind wir davon noch sehr weit entfernt, und es handelt sich zunächst nur darum, sich in der Mannigfaltigkeit möglicher ästhetisch valenter Qualitäten zu orientieren und einen vorläufigen Uberblick über Abwandlungen oder Arten zu gewinnen. Zu diesem Zweck geben wir hier eine durchaus vorläufige Zusammenstellung der ästhetisch valenten Momente, die auf ebenso vorläufige Weise in einige Gruppen eingeordnet wurden. Bereits die Weise, wie man auf diese Momente hinweisen kann, bildet ein schwieriges methodologisches Problem, das wir hier nicht näher erörtern können. Wir begnügen uns damit, hier eine Anzahl von Eigenschaftsworten anzugeben, die in den einzelnen Sprachen zu ihrer Benennung benutzt werden. 2 2

Die hier gegebene Zusammenstellung wurde in vier verschiedenen Sprachen bereitgestellt: in polnischer, deutscher, englischer und französischer Sprache. Die vorbereiteten Listen decken sich zum Teil nicht. Das ist aber natürlich, weil die einzelnen Sprachen sich durch verschiedene Fähigkeit der Bezeichnung der in der Erfahrung gegebenen Qualitäten auszeichnen. Es ist wahrscheinlich, daß auch die Empfindlichkeit für die gegebenen Qualitäten nicht bei allen Völkern und auch nicht bei allen einzelnen Individuen dieselbe ist. Die in den Listen angegebenen Wörter sind keine terminologischen Termini, sondern sind aus der lebendigen Sprache genommen. Sie haben den Vorteil, daß sie in der Wachrufung von Intuitionen leistungsfähiger als die künstlich gebildeten wissenschaftlichen Termini sind; andererseits ist sozusagen ihr Kontakt mit der lebendigen Erfahrung viel enger als bei den wissenschaftlichen Ausdrücken. Sie sind dafür oft sehr vieldeutig. Infolgedessen wiederholen sich in verschiedenen Gruppen dieselben Wörter, eben in einer anderen Bedeutung genommen. Die Liste ist einerseits ergänzungsbedürftig, andererseits audi zu korrigieren und zu verfeinern; sie ist eben „vorläufig", ist aber aus diesem Grunde nicht Λ limine zu verwerfen; sie ist eine Arbeitshypothese. 183

Α. Ä s t h e t i s c h r e l e v a n t e M o m e n t e

I. Materiale Momente a) emotionale Momente: wehmütig, traurig, düster, trübe, verzweifelt; lyrisch, dramatisch, tragisch, 3 schrecklich, gräßlich, entsetzlich, grausig; freudig, heiter, lustig, glücklich (voll Glück); angenehm, lieblich, unangenehm, peinlich, wonniglich (voll Wonne), reizend, genußvoll, lustvoll, leidvoll, schmerzvoll, schmerzlich; ernst, feierlich, erhaben, hehr, pathetisch, w ü r d e v o l l . . . b) intellektuelle Momente: witzig, geistreich (ingeniös), scharfsinnig, eindringlich, mit feinem Verständnis, interessant; langweilig, tief, oberflächlich, banal, schwer, leicht, stumpfsinnig, dumm, weise, vernünftig... c) stoffliche Bestimmtheiten: manche von den „sinnlichen" Qualitäten, ζ. B. manche Farbqualitäten oder Tonbestimmtheiten, ζ. B. die Fülle des Tones einer guten Geige, Klangfarben, z.B. die einer silbernen Glocke oder einer edlen Glassorte; „edles Holz", die Farben und das Leuchten von Edelsteinen, des reinen Goldes, das Weiß des Marmors, die „Weichheit" des Marmors, die Härte und Biegsamkeit einer Stahlklinge u. dgl. m. II. Formale Momente a) rein gegenständliche: symmetrisch, asymmetrisch, unsymmetrisch (auf verschiedene mögliche Weisen); geschlossen, zusammenhängend, kompakt, „fest", locker, lose, ungeschlossen, zerfallend; bündig, knapp, weitschweifig, schleppend, umständlich, breit; einheitlich, uneinheitlich, homogen, heterogen, monoton, verschiedenartig, mannigfaltig; reich, arm, dürftig, ärmlich; winzig, unscheinbar, schwächlich, kümmerlich, geringfügig; schlank, schmächtig, plump; nett, fesch, geschickt, flink;

3

Ihr vorläufiger Charakter zeigt sich auch in der Bildung der einzelnen Gruppen, die ebenfalls in weiterer Bearbeitung geändert werden können. Bereits in meinem V o r t r a g im Jahre 1 9 5 6 in Venedig (s.o. „ D e r ästhetische W e r t und das Problem seiner Fundierung im K u n s t w e r k " , S. 1 4 3 fi.) begann ich die erste Sammlung der ästhetisch valenten Qualitäten. Die jetzt vorgelegte Liste bildet einen weiteren Schritt. In dieser Liste befinden sich u. a. N a m e n , die in doppeltem Sinne gebraucht werden können: in dem einen bezeichnen sie künstlerisch valente, in dem anderen ästhetisch valente Qualitäten. Ich wollte aber meine Zuhörer mit dieser in diesem V o r t r a g nicht auseinandergelegten Unterscheidung nicht zusätzlich belasten. Diese drei Ausdrücke sollen im Sinne besonderer Qualitäten, die sich an gewissen menschlichen Situationen und Vorgängen zeigen, und nicht im Sinne besonderer literarischer Strukturen genommen werden.

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schwerfällig (in der Gestalt), hoch, emporragend, gedrungen; gut gebaut, ungestalt, dick, beleibt; schlicht, einfach, kompliziert, regelmäßig, unregelmäßig, geordnet, chaotisch; harmonisch, unharmonisch, nicht harmonisch . . . b) abgeleitet, mit Rücksicht auf den Betrachter: durchsichtig, undurchsichtig, verwickelt, verschlungen, klar, unklar, dunkel, verschwommen, trübe, wirr, deutlich, undeutlich, scharf, ausdrucksvoll, ausgeprägt, nichtssagend, voll Gleichgewicht, ruhig, ausgewogen, gleichmäßig, ungleichmäßig, dynamisch, statisch... III. Abwandlungen der (hohen oder niedrigen) Qualität edel, vornehm, fein, vortrefflich, erlesen, elegant, roh, billig, ordinär, schlecht, kitschig, gemein, schundhaft, dickhäutig, unelegant, raffiniert, ausgesucht, subtil, einfach, schlicht, ohne Subtilität, delikat, fein, zart, taktvoll, taktlos, feinfühlig, feinsinnig, unfein, rein, unrein, schmutzig, (ζ. B. in der Farbe, aber audi im moralischen Sinn), prachtvoll, prächtig, glänzend, herrlich, großartig, maßvoll, anspruchsvoll, bescheiden, vollendet, unvollendet... IV. Modi des Auftretens der Qualitäten sanft, scharf, hart, schreiend, bunt, weich, saftig, blaß, matt, schwach, aufdringlich, auffallend, auffällig, diskret, unauffällig... V. Abwandlungen der Neuheit neu, alt, frisch, originell, modisch, modern, altmodisch, veraltet... VI. Abwandlungen der „Natürlichkeit" natürlich (naturhaft), einfach, schlicht, künstlich, gezwungen, übertrieben, überschwenglich, überspannt, exaltiert, übersteigert, affektiert, pathetisch... VII. Abwandlungen der „Wahrhaftigkeit" wahr, echt, authentisch, lauter, gefälscht, nachgemacht, unecht, unredlich . . . VIII. Modi der „Wirklichkeit" wirklich, real, unwirklich, scheinbar, illusionär... 185

IX. Weisen des „Wirkens" auf den Betrachter erregend, reizend, beunruhigend, besänftigend, rührend, mildernd, erschütternd, erschöpfend, schwächend, erhebend, Furcht erregend, durchdringend, ergreifend, eindrucksvoll, gleichgültig, wirksam, wirkungslos, neutral, indifferent, ekelhaft, abscheulich... B. B e s t i m m u n g e n d e r ä s t h e t i s c h e n W e r t e (Wertqualitäten) a) b) c) d) e) f)

lieblich, hübsch, schön; häßlich, scheußlich, widerwärtig, reizlos; anmutig, bezaubernd, reizend, reizlos; groß, mächtig, kraftvoll, kraftlos; reif, unreif, „roh"; vortrefflich, vollkommen, glänzend, ausgezeichnet, vorzüglich, herrlich, gut und die entsprechenden Negative: unvollkommen, schlecht, unbedeutend usw. Wie man sieht, wurden in diesen Zusammenstellungen sowohl positiv wertvolle als auch negativ valente Momente angegeben, immer aber solche, die ästhetisch nicht neutral sind, obwohl hier audi Momente angegeben wurden, welche erst im Zusammen-Auftreten mit anderen, entsprechend gewählten Momenten ihre ästhetische Valenz gewinnen. Ihre Namen werden audi oft in Sätzen verwendet, welche Beurteilungen, bzw. Bewertungen ästhetischer Gegenstände sind, die sich auf Grund von Kunstwerken konstituieren. Sie bezeichnen immer etwas, was unmittelbar gegeben oder erfühlt wird oder was uns in der Erfahrung irgendwie berührt und dadurch den Anlaß zu einer Bewertung gibt. Diese Namen (Eigenschaftswörter) sind im allgemeinen sehr vieldeutig und beziehen sich auf einen ziemlich weiten Bereich von verwandten Phänomenen. Der erste Schritt, welcher bei der Verwendung der bereitgestellten Listen zu machen ist, beruht darauf, daß man die Vieldeutigkeit der einzelnen Namen klärt und die einzelnen unter sie fallenden Phänomene (Qualitäten) möglichst rein erfaßt und zu anschaulicher Verdeutlichung bringt. Dies läßt sich im allgemeinen nicht mit der Angabe sprachlicher Definitionen erreichen, weil die meisten da in Frage kommenden Momente eigentümliche Qualitäten sind, die sich nicht sprachlich definieren lassen. Aber die Heranziehung verschiedener verwandter und kontrastierender Beispiele kann hier als Hilfsmittel verwendet werden und zur intuitiven Erfassung entsprechender Qualitäten führen. Dies wird es zugleich er18 6

möglichen, die qualitative Umgebung der betreffenden Qualitäten in den analysierten Kunstwerken sowie die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen der analysierten Qualität und anderen ästhetisch wertvollen Qualitäten zu erfassen. Die Verwendung verschiedener Beispiele wird uns zugleich zeigen, daß eine und dieselbe Qualität infolge einer anderen qualitativen Umgebung doch merklichen Modifizierungen unterliegt, und zwar sowohl in ihrer reinen Qualität selbst als audi in ihrer Rolle und eben damit in ihrem Wertvollsein im Rahmen eines bestimmten Qualitätszusammenhanges. Auch diese Zusammenhänge selbst erweisen sich dann oft als ästhetisch (positiv oder negativ) wertvoll, was in unserer Liste nicht berücksichtigt werden kann. Wenn die oben angegebene Liste wenigstens im Prinzip gut konstruiert ist, dann müßte sich in entsprechenden analytischen Untersuchungen zeigen, daß die vorgefundenen, relativ einfachen Qualitäten zu einer der angegebenen Gruppen gehören und daß auch die eventuell entdeckten synthetischen, sozusagen Gesamtqualitäten höherer Stufe, d. h. die resultierenden Qualitäten der ganzen Qualitätszusammenhänge sich ebenfalls in einer der unterschiedenen Gruppen werden finden lassen. In solchen analytischen Untersuchungen, die immer an konkretem Material, d. h. an einzelnen Kunstwerken durchzuführen sind, wird es möglich sein, einen wirklichen Fortschritt in der Ästhetik zu erreichen. Sie werden die konkrete Grundlage für alle weiteren Betrachtungen in der Ästhetik schaffen, welche ohne sie in bloßen Allgemeinheiten werden Stedten bleiben müssen. Deswegen scheint mir die Herstellung, die Vervollkommnung und Ausarbeitung der Liste der ästhetisch relevanten Qualitäten so wichtig zu sein. In den einzelnen Kunstwerken (bzw. in den ästhetischen Gegenständen) können verschiedene ästhetisch relevante Qualitäten, aber auch verschiedene ästhetische Werte gleichzeitig auftreten. Es ist eigentlich nie so, daß sich in einem Kunstwerk nur e i n e solche Qualität zeigte. Eben diese Tatsache bildet den Ausgangspunkt der ganzen komplizierten Problematik, von der ich einige Züge hier skizzieren möchte. Andererseits ist es klar, daß nicht alle hier aufgezählten qualitativen Momente in einem und demselben Kunstwerk auftreten können. Erstens deswegen nicht, weil die Mannigfaltigkeit der ästhetisch valenten Momente viel zu reich ist, als daß sie ein Kunstwerk in sich enthalten könnte; zweitens aber, weil manche von diesen Momenten sich gegenseitig ausschließen, also nicht in e i n e m Ganzen zusammen auftreten können. Daneben gibt es auch solche Qualitäten, die zwar in einem Ganzen erscheinen können, aber miteinander nicht zusammenstimmen, sondern zu besonderen 187

Widerstreitsphänomenen führen. Die letzteren scheinen aber nie ästhetisch rein neutral zu sein, sondern sind meistens ästhetisch negativ wertvoll, obwohl sie auch in besonders günstigen Fällen positiv wertvoll sein können. Das Tragische z.B. scheint hinter sich solche positiv wertvollen Widerstreitsphänomene zwischen wertvollen Qualitäten zu bergen. Diese angedeuteten merkwürdigen Tatsachen führen zu der weiteren sehr wichtigen Frage, welche die möglichen Zusammenhänge zwischen den ästhetisch wertvollen Momenten betrifft; bestehen zwischen ihnen n o t w e n d i g e Zusammenhänge und Abhängigkeiten, oder ist es nur eine z u f ä l l i g e Tatsache, daß in einem Kunstwerk gerade diese und nicht andere ästhetisch wertvolle Qualitäten auftreten? Oder ist es endlich so, daß manchmal der erste Fall, manchmal aber auch der zweite vorliegt? Bevor wir diese Frage genauer fassen und sie zu beantworten suchen, erwägen wir zunächst die möglichen Folgen ihrer Beantwortung. Wenn nämlich gewisse notwendige Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den ästhetisch relevanten Qualitäten bestünden, dann bildete das sie in einer Auswahl in sich verkörpernde Kunstwerk, bzw. der zugehörige ästhetische Gegenstand, ein innerlich geschlossenes Ganzes. Er zeichnete sich dann, wie man oft gesagt hat, durch einen „organischen" Aufbau aus. Es wären dann auch verschiedene Abwandlungen dieser inneren Geschlossenheit möglich und jede von ihnen würde einen besonderen, letztlich resultierenden ästhetischen Wert konstituieren. Wenn es dagegen solche Zusammenhänge nicht gäbe, dann bildete jeder ästhetische Gegenstand {respective das zugehörige Kunstwerk) nur eine zufällige Zusammenwürfelung von Qualitäten und es ließe sich im Rahmen eines Gegenstandes nicht das Prinzip ihrer gegenseitigen Zusammengehörigkeit entdecken. Um dann das Vorhandensein dieser Qualitäten in einem bestimmten ästhetischen Gegenstand zu erklären, müßte man sich auf den zufällig verlaufenden schöpferischen Vorgang oder auf die Bedingungen, unter welchen eine bestimmte ästhetische Erfassung des Kunstwerks verläuft, berufen. Für die zweite der angedeuteten Lösungen werden sich vermutlich die skeptisch eingestellten Empiristen aussprechen, für welche nur die sinnliche Erfahrung zu glaubwürdigen Ergebnissen führt und die zugleich überzeugt sind, daß in dieser Erfahrung nur die traditionellen „Bündel von Ideen" gegeben sind, d. h. Mannigfaltigkeiten unzusammenhängender Qualitäten, welche zudem noch für sogenannte „Empfindungen" gehalten werden. Sie werden auch vermutlich der Ansicht sein, daß all die hier genannten ästhetisch wertvollen Qualitäten und die ästhetischen 188

Werte selbst - audi wenn man schon zugeben würde, daß es beim Umgang mit Kunstwerken so etwas als Phänomen gibt - doch nichts anderes sind als gewisse durch die Phantasie des Betrachters hervorgerufene Illusionen, die durch seine Neigungen und Geschmacksgewohnheiten näher bestimmt werden. Die Gegner des zwar primitiven, aber bis jetzt noch weit verbreiteten „Empirismus", werden dagegen geneigt sein, nach gewissen, wesensmäßigen, entsprechend gewählten und geordneten ästhetisch wertvollen Qualitäten zu suchen. Sie werden auch den „organischen" A u f b a u in den Kunstwerken und in den ästhetischen Gegenständen vorzufinden glauben. Sie werden auch geneigt sein, einen prinzipiellen, in den Qualitäten selbst begründeten Unterschied zwischen den ästhetisch neutralen und den ästhetisch relevanten, und insbesondere wertvollen Qualitäten anzuerkennen. Sie werden endlich nicht imstande sein zuzugeben, daß die Wertigkeit solcher Momente und damit auch der ästhetische Wert eine „subjektive" Illusion ist. Es ist - wie idi glaube - noch zu früh, sich auf eine endgültige Weise für die eine oder f ü r die andere Lösung dieses Problemkomplexes auszusprechen, obwohl ich mich persönlich, nach meinen eigenen Erfahrungen, eher für die zweite der genannten Lösungen aussprechen möchte. Um aber eine begründete Lösung zu finden, muß man zuerst die Gründe für eine richtige Präzisierung der sich da aufdrängenden Probleme suchen. Sie müssen uns durch die unmittelbaren Gegebenheiten geliefert werden, die wir in direktem ästhetischem Verkehr mit Kunstwerken, bzw. mit den im ästhetischen Erlebnis konstituierten ästhetischen Gegenständen gewinnen. Man muß dabei, bei der Einstellung auf das Wesenhafte, viele verschiedene und miteinander kontrastierende Fälle durchforschen, um über genügendes Material für die sich andeutenden mannigfachen Möglichkeiten zu verfügen und damit die immer drohende Gefahr einer voreiligen und einseitigen Entscheidung zu vermeiden. Zweierlei Untersuchungen müssen dabei auseinander gehalten werden: erstens diejenigen, welche die Klärung des inneren Aufbaus der Kunstwerke (und der ästhetischen Gegenstände) und insbesondere dessen Geschlossenheit zum Ziel haben, und zweitens diejenigen, die das Problem der sog. „Objektivität", bzw. „Subjektivität" der künstlerischen und der ästhetischen Werte zu klären haben. Diese beiden Untersuchungsrichtungen stehen aber in einem innigen, wenn auch nur selten beachteten Zusammenhang untereinander. Zwischen welchen Momenten oder Elementen des Kunstwerks (bzw. des ästhetischen Gegenstandes) soll man aber nach Zusammenhängen 189

suchen, und welcher Art sollen diese Zusammenhänge, bzw. Abhängigkeiten sein? Von den vier hier unterschiedenen Typen der Momente des Kunstwerks (bzw. des ästhetischen Gegenstandes) (den axiologisch völlig neutralen, den künstlerisch wertvollen, den ästhetisch wertvollen Momenten und endlich den Werten selbst mit ihrer qualitativen Determination) müssen in dem gesamten Bestand des ästhetischen Gegenstandes diejenigen Momente als grundlegend anerkannt werden, welche das ästhetisch neutrale Skelett des Kunstwerks bilden. Das Bestehen dieses Skeletts würden die beiden sich gegenüberstehenden Auffassungen anerkennen. Die skeptisch eingestellten Empiristen würden aber zugleich behaupten, daß es im Kunstwerk selbst nichts anderes als jenes Skelett gibt. Vielleicht würden sie noch zugeben, daß es eine Auswahl künstlerisch wertvoller Momente gibt, sie wären aber zugleich bestrebt zu zeigen, daß ihr Wertvollsein nur scheinbar und eine bloße Folge dessen ist, daß der Betrachter sie nur mit Rücksicht auf die Erlangung gewisser „Lustgefühle" mit ihrer Hilfe schätzt. Sie würden aber das Bestehen aller notwendigen Zusammenhänge zwischen den ästhetisch neutralen Bestimmtheiten des Skeletts des Kunstwerks leugnen und höchstens zugeben, daß eine gewisse, empirisch festgestellte statistische Wiederholbarkeit gewisser Mannigfaltigkeiten der Eigenschaften der einzelnen Kunstwerke vorhanden ist. Nun, es steht jetzt schon außer Zweifel, daß man sich in der zuletzt erwähnten Angelegenheit der empiristischen skeptischen Auffassung widersetzen muß. Es ist ein Hauptergebnis meiner Untersuchungen, die in den Büchern „Das literarische Kunstwerk" und „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst" durchgeführt wurden, daß es in den einzelnen Künsten einen charakteristischen Aufbau des Werkes gibt, dessen Glieder mit ihren Bestimmtheiten in einem notwendigen Seinszusammenhang miteinander und in bestimmten qualitativen Abhängigkeiten voneinander stehen. So ist z.B. das literarische Kunstwerk nicht anders möglich als als ein mehrschichtiges Gebilde, das zugleich eine quasi-zeitliche Struktur in der Aufeinanderfolge seiner Teile aufweist. Jede Schicht besitzt auch gewisse, für sie wesenhafte Eigenheiten, vermöge welcher - als ihre unvermeidbare Folge - andere entsprechend gestaltete Schichten des Werkes existieren. Es gibt auch kein literarisches Werk, das nicht aus einer Anzahl sinnvoller Sätze oder anderer satzähnlicher Gebilde bestünde, welche einerseits einen Sinn haben, andererseits aber in irgendwelchen sprachlautlichen Gebilden, in die sie „gekleidet" sind, auftreten. Und wenn es Werke gibt, die nur scheinbare lautliche Sprachgebilde ent190

halten, welche aber ohne jeden Sinn sind, dann sind diese Werke jedenfalls keine literarischen Werke mehr. Ähnliche notwendige Strukturen und Zusammenhänge ihrer Bestimmungen treten ζ. B. in den darstellenden Bildern oder in den Musikwerken auf, wie anderenorts gezeigt wurde. Diese Zusammenhänge sind aber noch nicht diejenigen, um die es sich bei der sozusagen qualitativen Einheitlichkeit ästhetisch werthafter Gebilde handelt. Die Gesamtheit der für die betreffende Kunst wesentlichen und notwendig miteinander verbundenen Glieder sowie ihrer Bestimmtheiten bildet nur das allgemeine Schema des Kunstwerks eines bestimmten künstlerischen Typus, das für sich allein nicht existieren könnte, und muß - um ein individuelles Kunstwerk zu bilden - durch weitere Bestimmtheiten ergänzt werden, obwohl es nie voll bestimmt sein kann. Vermöge dieser weiteren Bestimmtheiten entstehen gewisse besondere Gebilde, welche mit dem allgemeinen Schema zusammen erst ein künstlerisches Individuum bilden, wie z.B. der „Faust" von G o e t h e oder die „Buddenbrooks" von Thomas M a n n . Die große Mannigfaltigkeit sehr verschiedener Werke innerhalb e i n e r Kunst weist darauf hin, daß diese Ergänzung des bloßen allgemeinen Schemas zum individuellen Kunstwerk auf sehr verschiedene Weise vollzogen werden kann. Sie ist also nicht mit Notwendigkeit durch das allgemeine Schema des Werkes eindeutig bestimmt. Wenn sie sich in einem bestimmten Kunstwerk tatsächlich befindet, so müßte sie in seinen Bereich durch einen für das Werkschema fremden Faktor von außen her, d. h. durch den Autor eingeführt worden sein. Die Wahl dieser individualisierenden Beschaffenheiten (oder auch Elemente) kann entweder durch einen Zufall geschehen oder durch die beabsichtigte und auf die Hervorbringung besonderer künstlerischer Effekte berechnete schöpferische Tätigkeit des Künstlers vollzogen werden. Ohne uns hier auf die Informationen über den Verlauf des schöpferischen Vorganges berufen zu können (was nicht zu unserem Thema gehört), können wir wenigstens in einigen Fällen an dem fertigen Kunstwerk ablesen, ob es eine zufällig entstandene Anhäufung loser Momente oder ein „organisches" Ganzes ist. Die Analyse des fertigen Kunstwerks und seiner verschiedenen möglichen Konkretisationen erlaubt uns dann zu verstehen - und dies ist es, was ein „gutes", gut organisiertes Werk von einer zufälligen Mißgeburt unterscheidet - , daß das betreffende Werk ein zweckmäßig und richtig komponiertes Gebilde ist. Dies bedeutet vor allem, daß die Auswahl der Bestimmtheiten, die das allgemeine Schema des Werkes zu der endgültigen Gestalt des neutralen Skeletts eines Kunstwerks individualisierend ergänzen, durch das Auf191

treten von Funktionen bestimmt wird, welche die einzelnen Eigenheiten des Werkes bei der Realisierung der künstlerisch wertvollen Momente des Werkes ausüben. Der Vollzug dieser Funktionen ist von den Eigenheiten des Werkes und von dem Bestehen besonderer Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den entsprechenden Bestimmtheiten des Werkes abhängig. Aber auch dieses so entstandene und bestimmte individuelle Werk ist noch immer nur ein schematisches Gebilde, welches erst in seinen einzelnen Konkretisationen weiter bestimmt wird. Diese neue Vervollständigung des Werkes - die jetzt durch den Betrachter erzielt wird - ist wiederum nicht auf eine eindeutige und hinreichende Weise durch das Werk selbst entscheidend bestimmt, obwohl es eine Anzahl eindeutig umgrenzter Hinweise dafür liefert, wie die betreifende Konkretisation gestaltet werden soll, damit die künstlerischen Funktionen der einzelnen Elemente und Momente des Werkes bei der Konstituierung der ästhetisch wertvollen Qualitäten in der betreffenden Konkretisation effektiv vollzogen werden. Das Werk liefert hier nur die unentbehrliche Grundlage, 4 der Betrachter dagegen vervollkommnet das Werk und ermöglicht dadurch dem Werk, seine künstlerische Leistungsfähigkeit effektiv in Gang zu bringen. Es wird also hier zum zweiten Mal die Teilnahme eines aktiven schöpferischen Faktors, der aus der Umgebung des Werkes hinzukommt, unentbehrlich, damit es effektiv zur Entstehung der Konkretisation und insbesondere eines ästhetischen Gegenstandes kommt. Sobald wir es aber mit einem fertigen, bereits voll konstituierten ästhetischen Gegenstand zu tun haben, welcher eine getreue Rekonstruktion des Werkes in sich enthält und sich in den von ihm zugelassenen Grenzen der Variabilität der möglichen Ergänzungsfaktoren befindet, besonders sobald es uns gelingt, das betreffende Kunstwerk in ästhetischer Einstellung auf mehrere verschiedene, aber zulässige Weisen zu konkretisieren, 5 eröffnet sich die Möglichkeit, die funktionelle Rolle zu 4

Diese Unentbehrlichkeit bezieht sich im allgemeinen auf die ganze Grundlage, nicht aber notwendig auf die einzelnen Momente oder Elemente des Werkes. Wenn z . B . in der Ergänzung des Werkes in der Konkretisierung das Moment „Röte" auftritt, so bedeutet dies nicht, daß in dem Werk selbst notwendig eine ganz bestimmte Sache auftreten muß. Denn es kann ein beliebiges Ding sein, das mit dieser Farbe ausgezeichnet ist. Irgendein physisches Ding muß es aber notwendig sein, damit sich in der Konkretisation eine solche Ergänzung vollziehen kann.

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Die Konkretisationen eines und desselben Kunstwerks können, müssen sich aber nidit voneinander auf eine ziemlich radikale Weise unterscheiden. Es ist zugleich immer möglidi, aus allen möglichen Konkretisationen diejenigen zu wählen, welche in den vom Werk zugelassenen Grenzen der Variabilität liegen.

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verstehen, welche die besonderen Eigenheiten des Skeletts des Kunstwerks sowie seine künstlerischen Leistungsfähigkeiten bei der Erscheinung bestimmter ästhetisch wertvoller Qualitäten spielen und welche Rolle dagegen bei dieser Erscheinung und beim Zusammenstimmen aller dieser Qualitäten die Ergänzungen des Kunstwerks spielen, die durch den Betrachter in die Konkretisation jeweils eingeführt werden. Man muß also das Problem der inneren Geschlossenheit des Aufbaus des fertigen Gebildes auf zwei verschiedenen Niveaus behandeln: auf dem des Kunstwerks selbst und auf dem der Konkretisation. Erst dann soll die Frage erwogen werden, wie sich der Ubergang vom Werk selbst zu seiner Konkretisation vollzieht. Dies ist aber ein besonderes Problem für sich, mit dem ich mich hier nicht beschäftigen kann. Es darf dagegen nicht vergessen werden, daß bei der Betrachtung einer Konkretisation das Werk und seine Beschaffenheiten nicht aus dem Blickfeld verschwinden, sondern in jeder (getreuen) Konkretisation - als ihr Skelett - eingebaut sind, und daß audi seine Zusammenhänge mit den sich auf ihm aufbauenden ergänzenden Momenten der Konkretisation sichtbar werden. Gerade der Vergleich von verschiedenen Konkretisationen desselben Werkes verhilft zur Erfassung des neutralen Skeletts des Werkes und seiner Funktion bei der Konstituierung der ästhetisch valenten Qualitäten und der ästhetischen Werte selbst. Verschiedene Konkretisationen enthalten im allgemeinen eine zum Teil verschiedene Zusammenstellung der ästhetisch valenten Qualitäten und zeigen uns gewissermaßen experimentell die verschiedenen Abwandlungen der möglichen Seinszusammenhänge zwischen diesen Qualitäten (wie sich ζ. B. die einen von ihnen infolge der Wandlung oder der Erscheinung der anderen wandeln u. dgl. mehr) sowie die verschiedenen möglichen Weisen ihrer Fundierung in dem ästhetisch neutralen Skelett des Werkes vermöge der in ihm auftretenden künstlerisch wertvollen Momente. So bestärkt uns die analytisch durchgeführte Untersuchung des inneren Aufbaus des betreffenden Werkes und seiner mannigfachen Konkretisationen in der Uberzeugung oder mindestens in der Vermutung, daß man es hier überall mit Ganzheiten zu tun hat, die mehr oder weniger innig und geschlossen aufgebaut sind, und in denen sich sichtlich mannigfache Wesenszusammenhänge zwischen verschiedenartigen Bestimmtheiten des Kunstwerks selbst und den sich auf seiner Grundlage aufbauenden ästhetischen Gegenständen und ihren ästhetischen Werten selbst zeigen. Hier kann auch der letzte Grund zur Entscheidung des Streites zwischen den zwei, hier einander gegenübergestellten Auffassungen des 193

inneren Aufbaus des Kunstwerks und des ästhetischen Gegenstandes gefunden werden. Auf dem weiten und reichhaltigen Gebiet der Kunst besteht aber eine weitgehende Verschiedenheit in der Vollkommenheit und in der Geschlossenheit des Aufbaus der Kunstwerke. Es existieren, bzw. es sind Kunstwerke (und in der Folge auch in ihnen fundierte ästhetische Gegenstände) möglich, in denen die Geschlossenheit und Innigkeit des Aufbaus gewissermaßen bis zu einem möglichen Optimum gebracht wird. Es existieren aber auch einzelne Kunstwerke und auch ganze künstlerische Richtungen und Stile, in denen ein freierer und loserer Aufbau des Kunstwerks auftritt. Es darf aber nicht gesagt werden, daß sich schon dadurch allein ihr künstlerischer oder ästhetischer Wert erniedrige, da der freiere innere Aufbau selbst nicht allein über den künstlerischen, bzw. ästhetischen Wert entscheidet und da auch er selbst auf seine Weise positiv wertvoll sein kann. Daneben gibt es auch Werke, in welchen der losere Aufbau des Werkes eine sichtliche Unvollkommenheit oder gar ein Fehler ist und eben damit den Wert desselben herabsetzt, obwohl auch nicht gesagt werden darf, daß Kunstwerke dadurch allein aufhörten, Kunstwerke zu sein. Wenn aber der Aufbau in dem Maße ungesdilossen und lose wird, daß er die Einheit und die Ganzheit des Werkes vernichtet - dann kann man mit Grund die Frage stellen, ob man sich da nicht schon an der Grenze zwischen Kunst und Unkunst befindet.® Diese verschiedenen Möglichkeiten muß man in der funktionalen Analyse der Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Bestimmtheiten des Kunstwerks sowie des ästhetischen Gegenstandes im Gedächtnis behalten. Aus der Tatsache nämlich, daß wir in einem bestimmten Fall nicht auf derartige Zusammenhänge und Abhängigkeiten stoßen, darf nicht geschlossen werden, daß sie überhaupt nicht bestehen oder gar unmöglich sind. Bei der Nachforschung nach solchen Zusammenhängen müssen zwei verschiedene Fälle auseinandergehalten werden: Im ersten Fall suchen wir nach besonders gewählten einzelnen Qualitäten, z . B . zwischen einer Farbqualität und einer ganz bestimmten Gestalt des 6

Die Vertreter der neuesten Kunstrichtungen, sowohl in der Musik als auch in der Malerei, bzw. Bildnerei, die auf die Einheitlichkeit und nodi mehr auf die Geschlossenheit des Aufbaus des Kunstwerks verzichten, werden da wahrscheinlich protestieren. Da ich aber hier keine befriedigend begründete Diskussion mit ihnen durchführen kann, will ich mich lieber mit meinen Behauptungen auf die ältere Kunst beschränken, in welcher deutlich das Bemühen auftritt, die Einheitlichkeit und die Geschlossenheit des Aufbaus des Kunstwerks zu erhalten, und in welcher es lediglich Sache der künstlerischen Meisterschaft ist, in welchem Maße es gelungen ist, dieses Postulat in dem betreffenden Werk zu realisieren.

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Farbfleckes oder, allgemeiner, zwischen der Farbe und ihrer Ausbreitung überhaupt. Im zweiten Fall dagegen bemühen wir uns, Zusammenhänge zu entdecken, die zwischen einer bestimmten Mannigfaltigkeit von Qualitäten und einer in demselben Gegenstand erscheinenden Qualität besonderer Art (oft einer Gestaltqualität) oder endlich zwischen zwei verschiedenen Mannigfaltigkeiten von Qualitäten bestehen und die trotz ihrer Verschiedenheit dodi zueinander gehören und ebenfalls ihrerseits zur Erscheinung einer sie umspannenden Gestaltqualität führen. Gerade wenn man diese beiden verschiedenen Fälle nicht genügend oder überhaupt nicht unterscheidet, ist man in gewissen Fällen geneigt, das Bestehen eines Seinszusammenhanges zwischen Qualitäten zu leugnen, weil man nur zwei einzelne Qualitäten ins Auge faßt, während es notwendig ist, eine ganze Mannigfaltigkeit von Qualitäten zu berücksichtigen, auf deren Hintergrund erst eine bestimmte Qualität auftreten kann, die zudem erst dann ihr Wertvollsein erwirbt. Eine gewisse Qualität kann durch eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten ausgeschlossen werden oder mit ihr in einen charakteristischen, anschaulich faßbaren Widerstreit geraten. Als dessen Folge tritt dann im Kunstwerk, oder besser in einem ästhetischen Gegenstand, eine Disharmonie zur Erscheinung, welche in der gesamten Zusammenstimmung der qualitativen Momente eine positiv wertvolle Rolle spielt. Sie tut es entweder so, daß sie selbst ästhetisch positiv wertvoll ist oder aber zur Konstituierung eines positiven ästhetischen Wertes des Ganzen beiträgt, oder aber so, daß sie einen Mißton in das gesamte Zusammenspiel der wertvollen Qualitäten hineinbringt und zur Minderung des Finalwertes des Gegenstandes führt. Es kann auch vorkommen, daß die betreifende Qualität (die in sich wertvoll ist) im Werk (im ästhetischen Gegenstand) auf eine von seinen übrigen Momenten völlig unabhängige Weise zur Erscheinung gelangt. Dann läßt sich ihr Auftreten nicht aus dem Gehalt des Werkes, bzw. des entsprechenden ästhetischen Gegenstandes herleiten, und man muß ihren Grund außerhalb des Werkes suchen, und zwar entweder im Willen des Künstlers oder in einer unkoordinierten Tätigkeit (in einem Mißverstehen oder einem besonderen Gefallen) des Betrachters. Die Unabhängigkeit der Qualität allein braucht aber nicht das Phänomen einer Disharmonie nach sich zu ziehen und kann zu einer Bereicherung der wertqualitativen Fülle des Gegenstandes um noch einen Ton führen. Wie es damit ist, dies hängt von der Wahl und den Zusammenhängen der übrigen ästhetisch valenten Momente des Gegenstandes ab. In verschiedenen Künsten sind große Unterschiede in der Geschlossenheit und Einheitlichkeit des inneren Aufbaus des Kunstwerks mög195

lieh. Anders ist es in dieser Hinsicht in den darstellenden Künsten, ζ. B. in der Literatur und in der darstellenden Malerei, wieder anders in der reinen Musik oder in der Architektur. Es scheint, daß die innere Geschlossenheit und qualitative Einheitlichkeit des konkretisierten Kunstwerks in den nichtdarstellenden Künsten in einem viel höheren M a ß e möglich ist als in den darstellenden Künsten, in welchen die Einheit des Kunstwerks vor allem in den Darstellungsfaktoren gründet, die eine Zugehörigkeit des Dargestellten zu dem Darstellenden herbeiführen. Andererseits muß eine prinzipielle qualitative Heterogenität zwischen den Darstellungsfaktoren (ζ. B. der Doppelschicht der Sprache) und der dargestellten Welt erst durch besondere künstlerisch leistungsfähige Mittel sowie durch eine entsprechende W a h l und Anordnung der ästhetisch valenten Qualitäten überwunden werden. In den nichtdarstellenden Künsten gründet dagegen die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Kunstwerks, b z w . des ästhetischen Gegenstandes v o r allem oder ausschließlich in dem Zusammen-Auftreten der ästhetisch valenten Qualitäten, die in ihrer qualitativen Verschiedenheit doch in sich das Prinzip ihrer einheitlichen Koordination und Zusammenfügung zu e i n e r Gestaltqualität finden müssen. Gelingt dies, dann ist der ästhetische Gegenstand gerade in seinem ästhetisch wertvollen Antlitz e i n Ganzes, das wohl vernichtet werden, aber nicht in lose Elemente oder Momente zerfallen kann. Der ästhetische Gegenstand ist dann entweder in dieser seiner letzten qualitativen Einheit mit einem Schlag zu fassen oder er wird überhaupt verfehlt. Diese Einheitlichkeit ist in diesem Fall die Folge davon, daß a l l e s ästhetisch Wertvolle im ästhetischen Gegenstand das Ergebnis der n o t w e n d i g e n

wesensmäßigen Zusammen-

hänge der im Untergrund vorhandenen verschiedenen und doch ihre qualitative Verschiedenheit und Individualität gewissermaßen verlierenden ursprünglichen Qualitäten ist. D a n n ist das erreicht, was H e g e l wahrscheinlich im Sinne hatte, als er von der „in der Erscheinung durchleuchtenden Idee" sprach. Dies müßte aber noch im Einzelnen analysiert werden. W o dagegen diese letzte qualitative Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Werkes, bzw. der Konkretisation nicht erreicht wird und der A u f b a u freier und lockerer ist, da gibt es im Gehalt des Kunstwerks, b z w . des ästhetischen Gegenstandes Stellen der Nichtnotwendigkeit des Zusammen-Auftretens der entsprechenden Momente und insbesondere der ästhetisch valenten Qualitäten. Rechnet man mit den oben angedeuteten verschiedenen Möglichkeiten, dann sind folgende wichtigen Probleme zu unterscheiden: ι . Es besteht vor allem die Frage, ob es unter den von mir unterschie196

denen neun Gruppen der ästhetisch valenten Qualitäten eine solche Gruppe gibt, deren Elemente im Aufbau des in ästhetischer Einstellung konkretisierten Kunstwerks eine grundlegende Rolle im Verhältnis zu den Momenten, die in allen übrigen Gruppen auftreten, spielen. Diese Rolle bestünde darin, daß die entsprechenden Momente sozusagen zuerst im Kunstwerk verkörpert werden müßten, damit die anderen Momente in ihm als ihre Folge auftreten könnten. Sie bildeten also die unentbehrliche Bedingung aller übrigen Momente, obwohl sie nicht alle auch die hinreichende Bedingung ihres Auftretens bilden müßten. Entgegen den ziemlich verbreiteten, wenn auch nie klar und präzis ausgesprochenen, theoretischen Tendenzen bin idi geneigt zu behaupten, daß es tatsächlich eine solche Gruppe oder, besser gesagt, z w e i solche Gruppen von zueinander gehörenden Momenten gibt, und zwar die Gruppe der m a t e r i a l e n Qualitäten sowie die Gruppe der f o r m a l e n Momente. Die Elemente dieser Gruppen müssen entsprechend gewählt und zusammengestellt werden und in dieser Zugeordnetheit miteinander zusammenstimmen. In ihrer Gesamtheit bilden sie in einem konkretisierten Kunstwerk dasjenige, was ich den ästhetisch wertvollen „ K e r n " des ästhetischen Gegenstandes nenne; von ihm sind alle übrigen, in diesem Gegenstand erscheinenden ästhetisch valenten Momente abgeleitet und hängen deswegen auch wesenhaft von ihm ab. Diese Behauptung wird aber wahrscheinlich sowohl von den „Formalisten" als auch von den Gehaltsästhetikern bestritten werden. Indessen scheint sowohl der Standpunkt der ersteren als auch der der letzteren unhaltbar zu sein. Denn es ist vor allem nicht wahr, daß a l l e und n u r die formalen Momente ästhetisch valent und insbesondere wertvoll sind. Dies gilt ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um letzte, ursprüngliche, einfache formale Momente oder um die aus ihnen resultierenden synthetischen formalen Einheiten („Strukturen") handelt. Es ist ebenfalls nicht wahr, daß alle und nur materialen Momente, ob sie ursprüngliche Qualitäten oder in „harmonischer" Einheit fundierte „Gestalten" sind, ästhetisch wertrelevant sind. Es kann hier natürlich nicht ausführlich gezeigt werden, daß sich die Sachen ganz anders verhalten. So müssen wir uns mit der bloßen Feststellung begnügen, daß es sowohl unter den materialen als auch unter den formalen Momenten ästhetisch und auch künstlerisch völlig neutrale Momente gibt, daneben auch solche, die ästhetisch positiv und auch solche, die ästhetisch negativ wertvoll sind. Es können Momente sein, die diesen Charakter rein in sich und ganz unabhängig davon besitzen, in welcher qualitativen Umgebung sie auftreten; andere können die Wertrelevanz erst dann gewinnen, wenn 197

sie in entsprechender Umgebung anderer wertvoller Qualitäten auftreten. Welche formalen, bzw. materialen Momente neutral und welche wertrelevant sind, das kann nur eine auf Grund des ästhetischen Erlebnisses durchgeführte, vorsichtige und subtile Analyse der in Frage kommenden Momente, wie sie in diesen oder jenen Zusammenstellungen und Anordnungen in den Gehalten ästhetischer Gegenstände auftreten, aufweisen. Im wertvollen Kern bestehen verschiedenartige Zusammenhänge zwischen seinen Elementen. Vor allem können gar keine materialen Bestimmtheiten ohne das formale Moment, in dem sie stehen, auftreten. Und umgekehrt: keine leere Form ist ohne die sie erfüllende Materie möglich. Diese Materie kann sowohl eine ursprüngliche, einfache Qualität sein als auch eine viele einfache Momente in sich bergende synthetische Qualität höherer Ordnung, insbesondere eine „Gestalt". Das Problem reicht aber weiter. Denn in der oben gegebenen Zusammenstellung ästhetisch valenter Momente kommt es nicht auf beliebige Materien und Formen an, sondern auf solche, die ästhetisch relevant, insbesondere wertvoll sind. So muß gefragt werden: Wenn in einem bestimmten wertvollen Kern eines ästhetischen Gegenstandes eine gewisse Auswahl ästhetisch wertvoller materialer Momente auftritt, ist dann auch die Form, in welcher sie stehen, selbst ästhetisch wertvoll? Kann sie dann oder muß sie eventuell auch immer ästhetisch wertvoll sein? Ist sie bei einer gegebenen wertvollen Materie beliebig oder muß sie entsprechend gestaltet sein? Diese Fragen können nicht ganz allgemein beantwortet werden. Sie müssen in ganz konkreten Fällen analytisch untersucht werden. Sicher ist aber nur, daß es - wie unsere Liste zeigt - unter den formalen Momenten ästhetisch relevante gibt und daß nicht alle Formen in diesem Sinne relevant sind. Man möchte behaupten, daß die Geschlossenheit des inneren Aufbaus des Kunstwerks (bzw. des ästhetischen Gegenstandes), soweit sie phänomenal im Ganzen des Gegenstandes zur Sicht kommt, ein ästhetisch positiv wertvolles Moment darstellt, daß sie zu der Konstitution des ästhetischen Wertes immer nur beiträgt, niemals aber allein einen solchen Wert konstituieren kann. Und dabei kommt es nicht so sehr auf die mitkonstituierende Funktion anderer formaler Momente an als auf die Rolle, welche bei der Konstituierung des ästhetischen Wertes die materialen ästhetisch wertvollen Qualitäten spielen. Die verschiedenen besonderen Fälle sind hier nicht zu untersuchen. Aber allgemein läßt sich sagen, daß es für die Konstituierung eines ästhetischen Wertes von Bedeutung ist, daß die rein formalen Momente nicht den Bestand an materialen wertvollen Momenten überwiegen. Kommt es dazu, dann kann es auch leicht sein, daß dadurch der gesamte ästhetische 198

Wert gemindert wird. Dies sind aber alles nur erste Andeutungen von Problemen, auf die man bei der Betrachtung der Frage stößt, wie der wertvolle Kern eines ästhetischen Gegenstandes aufgebaut sein kann. 2. Das nächstfolgende Grundproblem bildet die Frage nach dem S y s t e m der ästhetisch relevanten Momente im ästhetischen Gegenstand. Stimmen wir einmal dem zu, daß es im ästhetischen Gegenstand einen ästhetisch wertvollen Kern gibt, dann fragt es sich, ob er zur Konstituierung des ästhetischen Wertes bereits hinreichend ist oder ob in dem betreffenden Gegenstand noch weitere ästhetisch relevante Momente auftreten müssen. Ist das letztere der Fall, dann fragt es sich, ob die letzteren Momente aus beliebigen übrigen Gruppen, und zwar in jedem einzelnem Fall aus einer anderen Gruppe stammen, oder ob es notwendig ist, daß irgendein Moment aus j e d e r der oben unterschiedenen Gruppen als Ergänzung des Kernes auftreten muß. Ist diese Ergänzung in ihrem ganzen Bestand durch den Gehalt des wertvollen Kern bereits eindeutig vorbestimmt? Oder ist es so, daß zwar eine Ergänzung als solche immer notwendig, aber zugleich in ihrem Gehalt vom Kern unabhängig und beliebig ist? Diese ästhetisch relevante Ergänzung des wertvollen Kerns besteht gewöhnlich selbst aus vielen verschiedenen Momenten. So können wir da auch mit verschiedenen Möglichkeiten rechnen. Entweder sind diese einzelnen Momente zwar durch den Kern vorbestimmt, aber voneinander schon relativ unabhängig, oder es gibt auch zwischen ihnen notwendige Zusammenhänge, und zwar im Grenzfall derartige, daß diese ganze Ergänzung e i n e n innerlich geschlossenen Zusammenhang der ästhetisch relevanten Momente bildet. Jeder von diesen sich da zunächst nur als sog. „leere" Möglichkeit anzeigenden Fällen steht jetzt in einer Beziehung zu dem sich letztlich konstituierenden Gesamtwert des ästhetischen Gegenstandes. Welcher Art diese Beziehung ist, das stellt zunächst wiederum nur ein Problem dar, das auf sehr mannigfache Weise beantwortet werden kann. Sagen wir aber vor allem: Von einem System der ästhetisch relevanten Momente sprechen wir dann, wenn es sich zeigen läßt, daß in der Ergänzung des wertvollen Kerns des ästhetischen Gegenstandes i r g e n d w e l c h e Momente aus j e d e r der oben aufgezählten Gruppen der ästhetisch relevanten Momente auftreten müssen. Ich bin tatsächlich der Meinung, daß ein solches System besteht und daß sich sogar seine Notwendigkeit erweisen läßt. Die Qualitäten, bzw. die Bestimmungsmomente in den Gruppen I I I bis I X sind alle sekundäre Qualitäten, d. h. sie sind nähere Determina199

tionen der Qualitäten oder ganzer Qualitätszusammenhänge, welche zum wertvollen Kern des ästhetischen Gegenstandes gehören. Sie können also in ihm nicht ohne die ihnen zugehörigen materialen oder formalen Momente des Kerns erscheinen. Wenn wir z. B. die ästhetisch wertvolle Bestimmtheit „edel" oder „vornehm", „stabil" usw. in einem Gegenstand vorfinden, so muß es in ihm auch dasjenige geben, was eben „edel" oder „vornehm" ist. Wenn das Moment „weich" oder „scharf" in einem Gegenstand auftritt, so muß in ihm ebenfalls etwas enthalten sein, was eben „weich" oder „scharf" ist. Und dasselbe gilt z. B. für die Momente „neu", „originell", „natürlich", „einfach" (schlicht) usw. Die Beziehungen aber, welche zwischen den Momenten des wertvollen Kerns und den zu den weiteren Gruppen gehörenden Momenten bestehen, sollen viel enger sein. Erstens ist es zwar wohl möglich, daß dasjenige, was z. B. „weich" ist (also die sekundäre Bestimmtheit des „Weich-Seins" an sich trägt) in sich gar nicht ästhetisch wertvoll ist, und es ist audi nicht ausgeschlossen, daß das Weichsein in einem ästhetischen Gegenstand nicht an ein Moment gebunden ist, das zu seinem wertvollen Kern gehört. Es handelt sich aber in den oben angegebenen Fragen um den Zusammenhang zwischen einem w e r t v o l l e n Moment des Kernes und einem Ergänzungsmoment des ästhetischen Gegenstandes, welches in sich selbst ästhetisch relevant und insbesondere ästhetisch wertvoll ist. Die Behauptung aber, die wir beweisen möchten, würde lauten: Jedes ästhetisch valente Moment des Kerns muß als seine näheren sekundären Determinationsmomente ä s t h e t i s c h valente Qualitäten haben, die zwar i r g e n d w e l c h e von denen in den einzelnen Gruppen sein können, die aber notwendig aus j e d e r Gruppe der unterschiedenen ästhetisch valenten Momente stammen. Auf den ersten Blick scheint es, daß es wirklich so sein muß. Denn wenn wir z. B. irgendeine ästhetisch valente emotionale Qualität in einem ästhetischen Gegenstand vorfinden, z.B. „gräßlich", „furchtbar" oder „glückselig", „freudig", „feierlich" usw., so muß er in seiner (guten oder schlechten) „Qualität", z. B. entweder „subtil", „delikat", „vornehm" oder eben im Gegenteil etwa „plump", „roh", „ordinär", „gemein" sein. Müssen aber seine Qualitäten nicht zugleich „weich" oder „scharf", „schreiend" oder im Gegenteil „diskret" sein? Muß der Kern nicht zugleich so gestaltet werden, daß sich in ihm ganze Zusammenhänge von Qualitäten befinden, die „neu" oder „frisch" oder „originell" oder im Gegenteil „veraltet", „altmodisch", „unoriginell" usw. sind? Und ebenso, daß sie „natürlich" oder „schlicht" oder im Gegenteil „gekünstelt" oder „affektiert" usw. sind? Oder daß die Bestimmtheiten, die im Kern auf treten, „echt" oder „unecht", „wahr 200

oder „verfälscht" sind oder endlich den Charakter des Wirklichseins an sich tragen oder im Gegenteil „scheinhaft", „täuschend" und dergleichen mehr sind? Was die Bestimmtheit der letzten Gruppe betrifft, so sind sie als Weisen der Wirkung auf den Betrachter zugleich auf ihn bezogen und je nachdem, welchen Typus er selbst darstellt, veränderlich. So kann dieselbe im Kern des ästhetischen Gegenstandes auftretende wertvolle Qualität einmal „erregend", „beunruhigend" und „stärkend", das andere Mal „beruhigend", „angenehm" usw. sein. So scheint es ζ. B., daß die verschiedenen Charaktere der „Neuheit" nie ganz fehlen können. Je nach der Wahl der grundlegenden Qualitäten und ihrer Anordnung im Gegenstand kann dieser Charakter entweder „auffallend" sein und sich im Gesamtbestand der wertvollen Qualitäten, in der ganzen Zusammenstimmung derselben in den Vordergrund schieben oder im Gegenteil nur diskret mitklingen oder endlich für sich selbst unbemerkbar sein, so daß ihn erst eine ästhetische Analyse des Gegenstandes als vorhanden aufzeigt. Je nach den weiteren Umständen kann jeder dieser Fälle positiv oder negativ wertvoll sein, nie aber etwas ästhetisch völlig Neutrales. Dieser Charakter der „Neuheit" oder „Originalität" ist freilich nicht nur durch die eigenen Bestimmtheiten des ästhetischen Gegenstandes bedingt, sondern auch von den in der kulturellen Umwelt des Werkes bereits vorhandenen anderen Werken ähnlicher Art abhängig, trotzdem aber unterliegt nicht so sehr der Charakter selbst, sondern nur seine nähere Bestimmung infolge der eben genannten Umstände einer Modifikation, in denen das betreffende Werk existiert und erfaßt wird. Alle diese Charaktere aber, in welcher Modifikation sie auch im einzelnen Fall und unter einzelnen Umständen zur Erscheinung gelangen mögen, sind aber immer ästhetisch relevant und können im ästhetischen Gegenstand nie überhaupt fehlen. Bei der letzten, neunten Gruppe der ästhetisch relevanten Momente, die wir da bereits kurz angedeutet haben, liegt eine besondere Situation vor. Man kann sich bei der Analyse dieser Momente nie auf das Werk, bzw. auf den jeweiligen ästhetischen Gegenstand allein beschränken, sondern muß immer auch den Betrachter und seine Fähigkeiten der Erfassung der ästhetischen Gegenstände berücksichtigen. Und zwar nicht bloß der ästhetischen Gegenstände überhaupt, sondern auch der Gegenstände eines - gegebenenfalls - ganz besonderen Typus, z.B. eines künstlerischen Stils, einer besonderen Kombination von ästhetisch relevanten Qualitäten. Denn man muß immer mit einer Art ästhetischer Taubheit oder im Gegenteil mit einer außerordentlich großen Empfindlichkeit, Erfassungsfähigkeit und Subtilität des Betrachters rechnen. Die 201

Weise, in welcher das betreffende Kunstwerk, bzw. irgendeine von seinen möglichen ästhetischen Konkretisationen auf den Betrachter wirkt, ist nicht bloß von ihm allein, sondern audi von den erwähnten Bestimmtheiten des Betrachters sowie seinem momentanen Zustand, in welchem die Erfassung des ästhetischen Gegenstandes verläuft, abhängig. Indessen ist auch hier die tatsächliche Wirkungsweise des Werkes auf einen bestimmten Betrachter (Empfänger) von der - wenn man so sagen darf - im Werk selbst fundierten Wirkungsfähigkeit auf einen genügend befähigten Betrachter zu unterscheiden. Diese Wirkungsfähigkeit bestimmt von sich aus e i n e n U m k r e i s von m ö g l i c h e n Wirkungsweisen auf einen (wie H. O s b o r n e sagt) „kompetenten" Betrachter. Sie schreibt dem Werk eine bestimmte ästhetische potentielle Relevanz zu und charakterisiert es als Ganzes positiv oder negativ, nie aber völlig neutral. Denn auch dann, wenn sich das betreffende Werk (bzw. seine mögliche Konkretisation) als ästhetisch ganz „wirkungslos" erweist, bildet dies einen negativ-wertigen Charakter der Wirkungsweise des Werkes auf den Betrachter, da es zum Wesen der Kunst, bzw. der ästhetischen Gegenstände gehört, eine Wirkungsfähigkeit zu besitzen. Die völlige Wirkungslosigkeit eines Kunstwerks (bzw. seiner ästhetischen Konkretisationen) scheint völlig ausgeschlossen zu sein, wenn der Kern des ästhetischen Gegenstandes mit seiner ästhetisch relevanten Ergänzung im letzten Ausklang ästhetisch positiv wertvoll ist. Wenn dann das betreffende Werk in einem Fall völlig wirkungslos ist, so liegt die Verantwortung dafür ausschließlich bei dem Betrachter, der dann auch nicht fähig ist, das betreffende Werk zur echten ästhetischen Konkretisation zu bringen. Es gibt dann eigentlich keinen ästhetischen Gegenstand mehr; so ist es auch ganz verständlich, daß es auch ästhetisch völlig unwirksam ist. Wenn es dagegen bei einem (angeblichen) „Kunstwerk" zu gar keiner Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes kommt, weil das Werk selbst dafür verantwortlich ist, dann scheidet dieses Werk aus dem Bereich der Kunstwerke überhaupt aus. Es ist bei der Behandlung des Problems des Systems der ästhetisch relevanten Momente natürlich Vorsicht geboten, und die letzte Entscheidung muß den besonderen Analysen von einzelnen konkretisierten Kunstwerken vorbehalten werden. Wie dieses Problem aber letzten Endes auch entschieden werden mag, klar ist jedenfalls, daß es das Grundproblem der Betrachtung des inneren Aufbaus der ästhetischen Gegenstände ist. 202

3· Wenn aber dieses Problem sich positiv lösen ließe, so wäre damit ein anderes sehr wichtiges Problem noch nicht gelöst, nämlich die Frage, w e l c h e ästhetisch relevanten Momente aus jeder der unterschiedenen Gruppen in einem ästhetischen Gegenstand zusammen auftreten k ö n n e n , bzw. auftreten m ü s s e n . In der gegenwärtigen Lage scheint es schon weniger wahrscheinlich, daß im Aufbau des ästhetischen Gegenstandes in dieser Hinsicht völlige Zufälligkeit oder Willkürlichkeit herrschen sollte. Bereits der wertvolle Kern eines jeden ästhetischen Gegenstandes ist das Ergebnis einer bestimmten (in einem anderen ästhetischen Gegenstand jeweils einer anderen) Koordination entsprechend gewählter und zueinander passender ästhetisch wertvoller (oder allgemeiner relevanter) Qualitäten. Und ihre Wahl ist immer durch die ästhetisch neutralen Eigenheiten des Skeletts des Kunstwerks, und insbesondere durch die in ihm enthaltenen oder mindestens durch es bedingten, künstlerisch wertvollen Qualitäten vorbestimmt. Die Zahl der voneinander verschiedenen Zusammenstellungen der ästhetisch valenten Momente, die in den einzelnen ästhetischen Gegenständen auftreten können, ist so außerordentlich groß, daß wir bei dem gegenwärtigen Stand des Wissens auf diesem Gebiet nicht sagen können, ob es möglich ist, gewisse ganz allgemeine 7 Regelmäßigkeiten in der Bildung, bzw. in der Komposition solcher Zusammenstellungen zu finden. Erst die Erforschung einer großen Anzahl einzelner Kunstwerke und ihrer möglichen ästhetischen Konkretisationen hinsichtlich der in ihnen auftretenden Mannigfaltigkeiten ästhetisch valenter Momente und der Weisen ihrer Zusammenstimmungen könnte uns im Verständnis der möglichen Abwandlungen der Struktur der ästhetischen Gegenstände weiter führen. Diese Forschung, die sowohl von den Kunsthistorikern als auch von den Ästhetikern durchzuführen wäre, ist gegenwärtig kaum angefangen, so daß die echten Grundlagen der allgemeinen Kunstwissenschaft in ihren verschiedenen Gebieten im Grunde nicht existieren. N u r sehr wenige Kunsthistoriker wie z . B . H . W ö l f f l i n in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" 8 oder etwa W. W o r r i n g e r 9 haben diese Aufgabe 7

„ G a n z allgemeine", denn es scheint, daß sich z . B . innerhalb einzelner Kunststile dodi allgemeine Kompositionsregeln bestimmen lassen. O b es aber eine übersehbare endliche Mannigfaltigkeit der Stile im Bereich e i n e r Kunst gibt und ob sich übergeordnete Kompositionsprinzipien für a l l e möglichen Kunststile a u f stellen lassen - das ist das Problem.

8

Heinrich W ö l f f l i n , „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. D a s Problem der Stilentwicklung in der neueren K u n s t " . München 1 9 1 5 ( 1 3 . A u f l . 1 9 6 3 ) . Wilhelm W o r r i n g e r , „Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie". München 1908. Ders.: „Formprobleme der G o t i k " . München 1 9 1 1 .

9

203

gesehen und wirkliche Fortschritte gemacht. Seit jenen Tagen ist nicht viel mehr geleistet worden. Auch die „Allgemeine Kunstwissenschaft" 10 von Emil U t i t z ist im Grunde ein Programm geblieben und auch die „Wechselseitige Erhellung der K ü n s t e " 1 1 . O. W a t z e l s w a r kaum ein Fortschritt. Auch in der Ästhetik ist diese Forschungsarbeit nur in den ersten Anfängen vorhanden. Manches läßt sich bei Johannes V o l k e l t 1 2 bezüglich der ästhetisch relevanten Qualitäten finden (wenn auch mit vielen psychologistischen Mißdeutungen). Das Problem des inneren Aufbaus des Kunstwerks und insbesondere der mannigfachen notwendigen Zusammenhänge zwischen ästhetisch valenten Qualitäten bildet aber noch immer eine Zukunftsaufgabe. 4. Ein neues Problem, das ebenfalls zu der Aufgabe der Klärung des inneren Aufbaus des Kunstwerks und des ästhetischen Gegenstandes sowie dessen eventueller Geschlossenheit gehört, betrifft die Art der Beziehung, welche zwischen den in einem ästhetischen Gegenstand vorhandenen ästhetisch relevanten Momenten und dem ästhetischen Wert (bzw. den Werten) dieses Gegenstandes und insbesondere ihrer qualitativen Bestimmtheit besteht. Dieses Problem muß nach zwei entgegengesetzten Richtungen formuliert werden. Erstens, ob zu dem in dem Gegenstand bestehenden Bestand an ästhetisch relevanten Qualitäten sowie ihrer bestimmten Anordnung ein Wert mit einer bestimmten Wertqualität (bzw. eine bestimmte Mannigfaltigkeit solcher Qualitäten) eindeutig und notwendig gehört oder ob sich in dieser Hinsicht gar keine konstante Zugehörigkeit entdecken läßt? Im letzteren Fall wäre das Auftreten oder Nichtauftreten eines so bestimmten Wertes vom Standpunkt des Gehalts des betreffenden ästhetischen Gegenstandes aus ein reiner Zufall. Zweitens: Weist ein bestimmter ästhetischer Wert dem betreffenden Gegenstand eindeutig einen einzigen Bestand und eine Anordnung der ästhetisch relevanten Momente zu (eventuell fordert er einen solchen Bestand) oder läßt er eine bestimmte M a n n i g f a l t i g k e i t der möglichen Zusammenstellungen und Anordnungen - entsprechend in verschiedenen Gegenständen - ästhetisch valenter Momente zu, so daß in jedem dieser Fälle der betreffende Wert auftreten wird? Oder kann bei dem gegebenen Wert in dem betreffenden Gegenstand ein ganz beliebiger Bestand an ästhetisch valenten Momenten in beliebiger Anordnung auf10

11 12

Emil U t i t z ,

„Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft". Stuttgart 1 9 1 4

bis 1 9 2 0 . Oskar W a 1 ζ e 1 , „Wechselseitige Erhellung der Künste". Berlin 1 9 1 7 . Johannes V o l k e l t , „System der Ästhetik". B d . I ; 2., stark veränderte A u f l . München 1 9 2 7 .

204

treten oder ist es endlich möglich, daß ein ästhetischer Wert in einem Gegenstand, in welchem es überhaupt gar keine ästhetisch valenten Momente gibt, auftritt? Dies ist das wichtigste Problem der Theorie der ästhetischen Werte. Und zwar nicht bloß als ein Problem der G e s c h l o s s e n h e i t des Aufbaus des Kunstwerks, bzw. des ästhetischen Gegenstandes überhaupt, sondern audi als ein Problem der F u n d i e r u n g des ästhetischen Wertes in dem Gegenstand, an dem er auftritt. Man formuliert dieses Problem oft als die Frage nach der „Objektivität", bzw. „Subjektivität" des ästhetischen Wertes überhaupt. 13 Wenn es gar keine strenge Zuordnung, bzw. Abhängigkeit zwischen dem an einem Gegenstand auftretenden ästhetischen Wert und den in demselben Gegenstand enthaltenen oder im Gegenteil überhaupt fehlenden ästhetisch relevanten Momenten gäbe, läge auch der Grund seines Auftretens in diesem Gegenstand nicht in ihm selbst. Man müßte dann diesen Grund außerhalb des betreffenden Gegenstandes suchen, also — wie man oft voreilig sagt - in dem erfassenden Subjekt, wobei man vergißt, daß dieser Grund auch in anderen mit dem betreffenden Gegenstand zugleich existierenden Gegenständen gesucht werden, bzw. in ihnen liegen könnte. So etwas, wie z . B . die „Schönheit" oder die „Vollkommenheit" ist aber nicht etwas, was sich im Gegenstand sozusagen direkt konstituieren ließe, d. h. ohne daß zu diesem Zweck gewisse Mittel im Bereich des wertvollen Kerns des ästhetischen Gegenstandes verwendet würden. Man kann dem Gegenstand die Schönheit nicht so direkt verleihen wie ζ. B. einer im literarischen Kunstwerk dargestellten Person eine gewisse Gestalt oder eine Farbe oder diese oder jene psychischen Eigenschaften. Der ästhetische Wert - und vielleicht jeder Wert - , ζ. B. eben die Schönheit, ist etwas Abgeleitetes, was sich aus den Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes ergibt: weil der betreffende Gegenstand diese bestimmten Eigenschaften besitzt, kommt ihm der Wert, ζ. B. die Schönheit, zu. Welcher A r t jene Eigenschaften sind, wollten wir eben genauer bestimmen, als hier gesagt wurde: im Kunstwerk selbst seien es die künstlerischen Werte, im ästhetischen Gegenstand dagegen die ästhetisch valenten Momente. Wenn aber ein b e s t i m m t e r Wert an einem Gegenstand auftritt, ohne daß in demselben entsprechende Eigenschaften vorhanden sind, dann kommt ihm der betreffende Wert nicht effektiv zu, sondern er e r s c h e i n t nur an ihm und erzeugt deswegen den S c h e i n seines Zukommens, einen Diese beiden sehr vieldeutigen Ausdrücke sind noch zu klären. Ith komme darauf zurück.

205

Schein, dessen Grund - wenigstens zum Teil - außerhalb des betreffenden Gegenstandes zu suchen ist. Wenn dieser Grund nur in dem erfassenden Subjekt läge, und insbesondere in seiner fehlerhaften Erfassungsweise, dann dürfte man behaupten, daß jener erscheinende Wert (in einer der möglichen Bedeutungen des Wortes) „subjektiv" sei. Aber dann müßte man auch die Mitbeteiligung des betreffenden Kunstwerks, bzw. der noch in der Umgebung liegenden anderen Gegenständlichkeiten an dem Entstehen des Scheins ausschließen, was bei der Aufstellung der Subjektivitätsthese sehr selten beachtet wird. Ich werde natürlich dieses Problem hier nicht lösen können. Vor e i n e r Betrachtungsweise dieses Problems möchte ich hier aber warnen: Man behandelt es meistens auf eine ganz allgemeine Weise und dabei nicht selten mit Hilfe einer Argumentation, die viel völlig Unkontrolliertes präjudiziert und für schlagend gehalten wird, aber im Grunde lächerlich ist. So sagt man ζ. B.: das Kunstwerk sei ein physischer Gegenstand; es gäbe aber gar keine Eigenschaft physischer Gegenstände, die ζ. B. „Schönheit" wäre. Wenn also Schönheit an einem Gegenstand erscheine, so könne sie nur „subjektiv" sein. Oder ζ. B.: jedes Kunstwerk, als ein physischer Gegenstand, könne nur in einer „sinnlichen" Wahrnehmung erfaßt werden. Die sinnliche Wahrnehmung könne uns aber ihren Gegenstand nur in „sinnlichen" Qualitäten zeigen. Alles Erscheinende, das keine sinnliche Qualität ist, sei eine subjektive Täuschung. Aber die Schönheit sei keine sinnliche Qualität, sie sei weder Farbe, noch Klang, noch Geruch usw. Sie sei also „subjektiv", eine bloße Täuschung, die dabei bei demselben Gegenstand manchmal erscheine, manchmal aber gar nicht zur Sicht komme. - Es wäre nur Zeitverlust, gegen solche Argumentationen zu polemisieren. Ihre Verwendung beweist nur, daß man keine Ahnung davon hat, was ein Kunstwerk, bzw. ein ästhetischer Gegenstand einerseits und was eine ästhetische Erfassung eines Kunstwerks andererseits ist. Das uns hier beschäftigende Problem läßt sich auch nur am konkreten künstlerischen, bzw. ästhetischen Material lösen. Das heißt: man muß ein einzelnes Kunstwerk in Betracht ziehen, es zunächst in seinem Aufbau und in seinem ästhetisch neutralen Skelett genau untersuchen; dann aber mehrere Konkretisierungen dieses Kunstwerks unter verschiedenen Umständen durchführen und sich bei jeder von ihnen klar zu Bewußtsein bringen, welcher Art Wert (wenn überhaupt einer) an ihr erscheint; nachher muß man die in Gestalt dieser Konkretisation auftretenden ästhetisch valenten Qualitäten zur Erfassung bringen und endlich auch sozusagen experimentell versuchen, etwas von diesen Momenten zu beseitigen (etwa durch Abdeckung - bei 20 6

Bildern) oder sie in einer anderen Anordnung zur Erscheinung zu bringen. Dann kann sich zeigen, ob der zunächst erscheinende Wert dadurch irgendeiner Modifikation unterliegt oder unverändert bleibt. Es können zu diesem Zweck auch verschiedene verwandte, bzw. einen analogen Wert zeigende Kunstwerke miteinander verglichen werden usw. N a türlich sollen dabei auch verschiedene (möglichst gebildete und empfindsame) Betrachter befragt werden. Auf diesem Wege kann erst das konkrete Material zur Lösung unseres Problems gesammelt werden. Und das wahrscheinlichste Ergebnis dabei wird lauten, daß bei bestimmten ästhetisch relevanten Qualifizierungen der Kunstwerke und auch unter bestimmten Bedingungen der ästhetischen Erfassung gewisse bestimmte Werte zur Erscheinung kommen, während sie dagegen in anderen Fällen überhaupt nicht vorhanden sind. Aber von einer solchen Feststellung sind wir heute noch weit entfernt. Dieses Material kann uns aber erst erlauben, die Einsicht zu gewinnen, in welchem Maße und auf welche Weise bestimmt qualifizierte ästhetische Werte in Mannigfaltigkeiten von ästhetisch wertvollen Qualitäten fundiert sind. j . Ich sagte, daß die Wörter „objektiv" und „subjektiv" vieldeutig sind. Wir können hier keine ausführliche Betrachtung des Begriffes der „Objektivität", bzw. „Subjektivität" durchführen. 14 Wenigstens aber auf einige, gewöhnlich vermengte Bedeutungen dieser Wörter möchte ich hier hinweisen. I. „Objektiv" ist, was im Gegenstand auftritt, „subjektiv" dagegen, was im „Subjekt" auftritt. Die hier verwendeten Wörter haben aber noch verschiedene Bedeutungen. Und zwar: das „Auftreten" bedeutet entweder: a) das effektive im Gegenstand Enthaltensein oder b) das Erscheinen am Gegenstand. Die Wendung „im Gegenstand" aber sagt entweder „in dem Ding (dem Seienden), wie es an sich ist", oder in dem Gegenstand wie er das Ziel einer Erkenntnismeinung ist (nicht notwendig so genommen, wie er erscheint). „Im Subjekt" bedeutet aber entweder soviel wie „im Menschen als einem psycho-physischen Wesen" oder „in dem Bewußtseinserlebnis, wie es von einem Subjekt der Akte vollzogen w i r d " . 14

S . u . „Betrachtungen zum Problem der Objektivität", S . 2 1 9 f . Die dort angegebenen Objektivitätsbegriffe sind auf eine ganz andere Weise gefaßt, als nach den hier unterschiedenen Wortbedeutungen zu erwarten ist. Die hier gegebene B e trachtung soll nur den ersten Schritt zur Scheidung der gewöhnlich vermengten Sinne der Rede von der „ O b j e k t i v i t ä t " , b z w . „Subjektivität" bilden und dient nur als unentbehrliche Vorbereitung zur Behandlung des Problems der „ O b j e k tivität" der Werte.

207

II. „ O b j e k t i v " heißt soviel wie „seinsautonom existierend". „Subjektiv" dagegen bedeutet soviel wie „seinsheteronom existierend". M a n sagt dafür auch „rein intentional existierend", „durch einen Bewußtseinsakt bloß gemeint" usw. Es ist das im Mittelalter so genannte „esse obiectivum". Dagegen nannte man das „objektive" Existieren im Mittelalter „esse formale". III. „ O b j e k t i v "

=

u n a b h ä n g i g von den Bewußtseinserlebnissen existierend und insbesondere a) von den Erkenntnisakten, b) von den schöpferischen Bewußtseinsakten, wie es z . B . die dichterischen Phantasieakte sind, c) von den ästhetischen Erlebnissen;

„Subjektiv" =

v o n den Bewußtseinsakten

abhängig

exi-

stierend, wobei unter den „Bewußtseinsakten" insbesondere die Erkenntnisakte

verstanden

werden. Das „abhängig existierend" kann aber soviel bedeuten als „gebildet von den (insbesondere ästhetischen) Erlebnissen und auch nach V o l l z u g dieser Erlebnisse weiter existierend" oder b) „ v o n den Erlebnissen gebildet und nach dem V o l l z u g des betreffenden Erlebnisses nicht mehr existierend". IV. „Objektiv"

=

„Subjektiv" =

was sich trotz der wandelnden Erlebnisse, die sich auf es beziehen, selbst nicht verändert; was sich infolge der sich auf es beziehenden Erlebnisse selbst ändert.

V. „Objektiv"

=

durch den G e g e n s t a n d und mindestens durch einige seiner Eigenschaften h i n r e i c h e n d b e dingt;

„Subjektiv" =

durch den Gegenstand nicht hinreichend bedingt und zugleich durch das Subjekt, b z w . seine Erlebnisse hinreichend bedingt. Es kann dies auch ein unentbehrliches und hinreichendes Bedingtsein in den Erlebnissen (überhaupt oder einer bestimmten Art) des Bewußtseinssubjekts sein.

VI. „Objektiv"

=

als einem bestimmten Gegenstand selbst zukommend wahrheitsgemäß erkannt;

„Subjektiv" =

was nur eine Illusion (des Seins, des Zukommens, des Wertvollseins) ist, die durch gewisse

208

Erlebnisse hervorgerufen wird, welche sich auf den betreffenden Gegenstand beziehen und den scheinbaren Charakter eines Erkenntniserlebnisses haben. 15 Bei einigen der hier angegebenen Bedeutungen des Wortes „subjektiv", bzw. „objektiv" ist man oft auch geneigt von der sog. „Relativität" in bezug auf ein Subjekt zu sprechen. Eines scheint dabei ganz außer Zweifel zu stehen: daß nämlich die ästhetischen Werte konkrete am ästhetischen Gegenstand erscheinende Phänomene sind. So ist es nur natürlich, daß die Phänomenologen (M. G e i g e r , Max S c h e l e r ) , als sie gegen die psychologistische Ausdeutung der Werte aufgetreten sind, zugleich feststellten, daß die Werte nichts „Subjektives" sind, weil sie als Bestimmtheiten gewisser G e g e n s t ä n d e und nicht als Eigenschaften des erfassenden oder - allgemeiner erlebenden Subjekts gegeben sind. Im Lichte unserer obigen Erwägungen ist das durchaus richtig. Es reicht aber nicht aus, wenn man die „Objektivität" der ästhetischen Werte auch in den anderen soeben angegebenen Bedeutungen erweisen will. Das Problem der Wertobjektivität soll man auch nicht ganz allgemein für alle Werte überhaupt erwägen. Denn es ist vor allem mindestens wahrscheinlich, daß es damit bei den sittlichen Werten anders als bei den ästhetischen Werten steht. Die sittlichen Werte sind in verschiedenen von den hier angegebenen Bedeutungen „objektiv", und zwar: a) sie sind in dem gewisse reale Handlungen (Taten) vollziehenden Menschen16 effektiv enthalten, b) sie sind seinsmäßig autonom und in ihrem Bestehen und ihren Bestimmtheiten von den Erlebnissen des Betrachters unabhängig, der sie am Verhalten eines bestimmten Menschen erfaßt, und c) sie sind hinreichend durch die Eigenschaften des bestimmten Verhaltens des Menschen bedingt. Sie brauchen aber zu ihrem Sein nicht richtig erkannt zu werden, sie sind aber zugleich, sofern sie in einem handelnden Menschen wirklich realisiert sind, keine Illusionen. Sie sind also auch in dem unter V I angegebenen Sinn nicht „subjektiv". 17 15

18

17

Weitere Bedeutungen, bzw. Begriffe der „Objektivität", bzw. „Subjektivität" werden nodi weiter unten erwähnt. Es mag dabei strittig sein, ob der Mensch selbst, als handelndes Subjekt, den Wert „trägt" oder - wie man oft behauptet hat - ob es sein Wille oder erst seine von ihm bewußt und verantwortlich vollzogene Tat ist oder ob in jedem dieser Fälle ein anderer sittlicher Wert realisiert wird. Aber alle diese unentschiedenen Fragen ändern nichts an der Objektivität der sittlichen Werte, sofern sie eben in einem menschlichen, handelnden Subjekt realisiert sind. Es ist sehr fraglich, ob die sittlichen Werte phänomenale Gegebenheiten in dem

209

Anders indessen scheint es mit den ästhetischen Werten zu stehen. Sie sind unzweifelhaft in dem Sinn „objektiv", daß sie phänomenal an ästhetischen Gegenständen auftreten. Diese Gegenstände aber - obwohl sie in gewissen physischen Fundamenten verankert sind und in bestimmt gestalteten Kunstwerken ihren Seins- und Bestimmungsgrund haben werden unter Anpassung an dieses Kunstwerk v o m Betrachter intentional geschaffen und sind somit nicht seinsautonom, sondern - wenigstens in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Bestimmungen - seinsheteronom. Es scheint also nicht, daß die an ihrem Gehalt auftretenden ästhetischen Werte, im Unterschied zu dem seinsheteronomen ästhetischen Gegenstand, selbst seinsautonom sein können. 18 Also müßte man ihnen in dem sub II angegebenen Sinn „Subjektivität" zuschreiben. Wenn sie Sinne sind, wie es mit den ästhetischen Werten der Fall ist. Damit w i r d auch ihre Erkenntnisweise zum Problem. Müssen sie - um erkannt zu werden - nicht „verstanden", „eingesehen", „beurteilt" werden? Oder wird nicht vielmehr der handelnde Mensch in einer konkreten Situation verstanden, damit das eventuelle Wertvollsein seiner T a t ins richtige Licht gebracht und in seinem objektiven Bestehen beurteilt werden kann? - Wie aus den obigen Bemerkungen ersichtlich ist, wäre ich geneigt, den Begriff „ O b j e k t i v i t ä t " , b z w . „Subjektivität" so zu konstruieren, daß in seinem Inhalt verschiedene Momente, die hier unter verschiedenen Bedeutungen des Wortes „objektiv" genannt werden, auftreten. D a z u s.u. „Betrachtungen zum Problem der O b j e k t i v i t ä t " , S. 219 ff. is Waldemar C o n r a d (vgl. „ D e r ästhetische Gegenstand. Eine phänomenologische Studie". In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Bd. 3 u. 4) sah in den ästhetischen Gegenständen gewisse ideale Gegenstände. D a m i t unterschied er sie scharf von den physischen Dingen, die w i r physische Seinsfundamente der Kunstwerke nennen. Die in diesem und auch im vorigen Vortrag aufgewiesenen Zufälligkeiten im A u f b a u des Kunstwerks, und in noch höherem Maße in dem des ästhetischen Gegenstandes, weisen darauf hin, daß C o n r a d in seiner Auffassung zu weit ging. M a n könnte aber versuchen z u sagen, daß der ästhetische Wert, wenn er auf notwendigen Zusammenhängen zwischen ästhetisch v a lenten Qualitäten aufgebaut ist und aus diesen Zusammenhängen notwendig resultiert, selbst etwas Ideales und damit auch nicht seinsheteronom, sondern seinsautonom ist. Indessen scheint dies einen Schritt zu weit zu gehen. Z w a r kann nicht bestritten werden, daß am ästhetischen Gegenstand, insbesondere an seinen ästhetisch wertvollen Qualitäten, an den Zusammenhängen zwischen ihnen sowie an seinem ästhetischen W e r t und seiner qualitativen Bestimmtheit gewisse ideale Qualitäten zur konkreten Erscheinung gelangen, aber nicht diese idealen Qualitäten selbst bilden die konkrete Bestimmung des ästhetischen Gegenstandes, b z w . seines Wertes, sondern ihre vorübergehenden, nur intentional zur Erscheinung gebrachten Konkretisationen. Sobald ihre physischen und psychischen Fundamente vernichtet werden, müssen sie ganz aufs neue in ihr bloß intentionales Sein durch neuerliche Erfassungsakte, b z w . durch die Schaffung eines neuen Kunstwerks gerufen werden, was auf die entsprechenden idealen Qualitäten angewendet keinen richtigen Sinn ergibt. D a ß es aber solche idealen Wertqualitäten gibt, soll nicht bestritten werden; aber sie bilden nicht den konkreten Wert eines individuellen ästhetischen Gegenstandes, sofern er in diesem Gegenstand hinreichend fundiert ist.

210

aber zugleich durch die im ästhetischen Gegenstand enthaltenen ästhetisch valenten Momente und ihre notwendigen Zusammenhänge eindeutig bestimmt und damit durch sie hinreichend bedingt, und dadurch auch im betreffenden Gegenstand effektiv enthalten wären, dann wären sie sowohl in den Bedeutungen (I (a und b) und V) als auch in den Bedeutungen I I I und I V „objektiv". Denn sie wären in ihrem Sein und ihrer Bestimmung von den sie erfassenden Erkenntnisakten unabhängig, obwohl sie zugleich in dem Sinn „subjektiv" wären, daß sie a) seinsheteronom und b) von den schöpferischen Erlebnissen des Autors des Kunstwerks und von den mitschöpferischen ästhetischen Erlebnissen des Betrachters ( I I I b) in ihrem Sein mittelbar 19 abhängig wären. Trotz ihrer in so verschiedenen Bedeutungen verstandenen „Objektivität", bzw. „Subjektivität" brauchen die in einem ästhetischen Gegenstand auftretenden ästhetischen Werte weder in dem unter V I angegebenen Sinn „objektiv" noch aber in eben demselben Sinn „subjektiv" zu sein. Ob aber ein Wert in bestimmten Erkenntnisakten „wahrheitsgemäß" erkannt wird oder nicht, dies ändert an seiner „Objektivität" in den übrigen eben angegebenen Bedeutungen gar nichts. Daraus nämlich, daß etwas in einem bestimmten Fall durch ein gewisses Erkenntnissubjekt nicht (auf diese oder jene Weise) erkannt wird, folgt noch nicht, daß es aufhört zu sein oder daß es sich in sich selbst irgendwie ändert. Es folgt aber auch nicht, daß es deswegen zur Illusion wird. Nur dann, wenn wir Grund zu der Behauptung besäßen, daß überhaupt k e i n Wert, und insbesondere auch kein ästhetischer Wert, durch einen Betrachter richtig erkannt wird, bzw. erkannt werden kann, dürfte man über die Objektivität dieser Werte nichts behaupten. Aber audi alle anderen Behauptungen - auch die, daß sie „subjektiv" seien - wären dann völlig unzulässig. Wir müßten uns dann einfach eines jeden Urteils über sie enthalten. Denn auch derjenige, der behauptet, sie seien bloße „Illusionen", behauptet etwas Positives über diese Werte, was ihm durch die Ent-

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„Mittelbar" - weil weder der Autor noch der Betrachter die ästhetischen Werte im konkreten Fall direkt, in sich selbst intentional erschafft; er bildet lediglieli ihre neutrale, wenn audi künstlerisch leistungsfähige Grundlage, die erst den ästhetisch wertvollen Kern des ästhetischen Gegenstandes nach sich zieht. Der Autor bildet mit seinen psychophysischen Tätigkeiten das physische Fundament seines Kunstwerks, ein Fundament, das in den verschiedenen Künsten das an ihm erscheinende Kunstwerk auf verschiedene Weise und in verschiedenem Maß bestimmt. Sofern die ästhetischen Werte durch den Kern des ästhetischen Gegenstandes hinreichend bedingt sind, sind sie somit nur mittelbar und teilweise in ihrem Sein und in ihrem erscheinungsmäßigen Gewand von den mitschöpferischen ästhetischen Erlebnissen des Künstlers, bzw. des Betrachters abhängig. 211

Scheidung, sie seien völlig unerkennbar, verboten würde. Was könnte uns aber zu der Behauptung berechtigen, daß jeder Wert überhaupt unerkennbar sei? Im Lichte der durchgeführten Betrachtungen sehen wir, wie die Probleme des inneren Aufbaus des Kunstwerks und des ästhetischen Gegenstandes sowie die Entscheidungen bezüglich ihrer Seinsweise und ihrer Beziehung zum Autor und zu ihrem Seinsfundament sich mit den auf verschiedene Weise verstandenen Problemen der „Objektivität" der ästhetischen Werte aufs engste verbinden. Wir sehen auch, wie wichtig die damit zusammenhängende Frage ist, ob und auf welche Weise der ästhetische Wert in seinem Sein und in seiner qualitativen Bestimmung durch den Bestand der in dem betreffenden ästhetischen Gegenstand konkretisierten ästhetisch wertvollen Qualitäten hinreichend bedingt, also - wie man auch sagt - in ihnen „fundiert" ist. Da liegt das Kernproblem der ganzen Frage nach der Objektivität der ästhetischen Werte, und es ist klar, daß es ein auf ein i n d i v i d u e l l e s konkretisiertes Kunstwerk (bzw. auf seine individuelle ästhetische Konkretisation) sich beziehendes Problem ist - und somit je nach dem Fall positiv oder negativ gelöst werden kann. Es ist kein a l l g e m e i n e s , sich auf alle ästhetischen Werte beziehendes Problem, und man soll den Weg zu seiner Lösung nicht durch allgemeine Überlegungen über die Möglichkeit der „Objektivität" (gleichgültig in welchem Sinne) der ästhetischen Werte überhaupt versperren. Das Bestehen dieses letzteren allgemeinen Problems will ich gar nicht leugnen. Idi glaube aber nicht, daß es methodologisch richtig ist, mit seiner Betrachtung in der Ästhetik anzufangen. Ich habe auch nicht die Absicht, dieses Problem hier definitiv zu lösen, obwohl ich zugebe, daß ich geneigt bin, die Möglichkeit des hinreichenden Bedingtseins des ästhetischen Wertes durch den ästhetischen Gegenstand und damit die Möglichkeit der so verstandenen „Objektivität" des ästhetischen Wertes in manchen Fällen zuzugeben. Ich glaube aber, daß wir zu einer a l l g e m e i n e n Lösung noch nicht genügend vorbereitet sind. Es soll auch auf doppeltem Wege behandelt werden. Erstens in besonderen Untersuchungen an e i n z e l n e n Kunstwerken und ihren ästhetischen Konkretisationen, zweitens aber in a 11 g e m e i η e η Betrachtungen, in welchen die Zusammenhänge zwischen ästhetischen Werten gewisser Grundtypen und den Mannigfaltigkeiten der ästhetisch relevanten Qualitäten geklärt würden. Momentan liegt mir nur daran, daß wir uns den echten Sinn des Problems sowie seine Bedeutsamkeit für die Klärung des wesensmäßigen Aufbaus des Kunstwerks und des ästheti212

sehen Gegenstandes zum Bewußtsein bringen. Und die Vorbedingungen zu seiner Klärung und zu seiner Lösung können durch eine genaue Analyse der ästhetisch relevanten Qualitäten sowie ihrer notwendigen Zusammenhänge und ihrer konstitutiven Leistungsfähigkeit für das Konkretisieren und das Zur-Erscheinung-Bringen der ästhetischen Werte geschaffen werden. Deswegen scheint mir die Ausarbeitung der Liste der ästhetisch relevanten Qualitäten von der allergrößten Bedeutung für die weitere Forschung zu sein. 6. Es gibt aber noch andere Probleme der „Fundierung" des ästhetischen Wertes in den ästhetisch wertvollen Qualitäten. Es kommt nämlich darauf an zu klären, ob das Bedingtsein des Wertes - wenn wir schon wissen, daß es wenigstens in einigen Fällen hinreichend sein kann - auch zugleich unentbehrlich ist, bzw. sein muß. Diese Frage muß aber noch differenziert werden. Entweder können wir sie g a n z a l l g e m e i n formulieren: Muß ein beliebiger ästhetischer Wert durch entsprechende ästhetisch valente Qualitäten überhaupt bedingt sein oder kann er im ästhetischen Gegenstand ohne alle derartigen Qualitäten auftreten? Nach all dem, was hier gesagt wurde, scheint es, daß eine derartige unentbehrliche Fundierung des Wertes in den ästhetisch valenten Qualitäten bestehen muß, falls der Wert dem betreffenden Gegenstand zukommen soll. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Wesen des ästhetischen Wertes überhaupt. Denn er ist nichts anderes als eine synthetische Ausprägung der ihn fundierenden ästhetisch valenten Qualitäten und zugleich eine - wenn man so sagen darf - Summierung der Wertigkeit, die als ein besonderer Charakter in den ästhetisch wertvollen fundierenden Qualitäten vorhanden ist. Wenn wir indessen fragen, ob eine b e s t i m m t e Zusammenstellung und Zusammenstimmung von ästhetisch relevanten Momenten als Bedingung für die Konstituierung einer bestimmten Wertqualität - wie z. B. „Schönheit", „Vollkommenheit", „Reife" - unentbehrlich ist, dann müssen wir - wie es scheint - darauf eine negative Antwort geben. Denn für die Konstituierung einer bestimmten Wertqualität, z. B. der Schönheit, können - wie es scheint v e r s c h i e d e n e , wenn auch nicht beliebige Zusammenstellungen und Zusammenstimmungen von ästhetisch wertvollen Qualitäten verwendet werden. Genauere Analysen könnten wahrscheinlich zeigen, daß einer bestimmten Wertqualität, z. B. der Schönheit oder der Anmut, eine bestimmt umgrenzte M a n n i g f a l t i g k e i t von möglichen Zusammenstellungen und Zusammenstimmungen ästhetisch valenter Qualitäten zugeordnet, aber i r g e n d e i n e dieser Zusammenstellungen für die Konstituierung dieser Wertqualität u n e n t b e h r l i c h ist. Die Schwie213

rigkeit liegt aber gerade darin, eine solche Mannigfaltigkeit generaliter zu bestimmen. Man müßte eine allgemeine Charakteristik der zu dieser Mannigfaltigkeit gehörenden Zusammenstellungen von ästhetisch valenten Momenten angeben, was bis jetzt noch nicht gelungen ist. Und die Schwierigkeit wächst in erheblichem Maße, wenn man beachtet, daß es doch sehr verschiedene Abwandlungen der „Schönheit" gibt. Andererseits sind in den einzelnen Künsten verschiedene Stile möglich, die den Bereich der in den Werken des betreffenden Stils realisierbaren ästhetisch relevanten Qualitäten wesentlich mitbestimmen. Es ist aber nicht möglich, die einzelnen Abwandlungen der Schönheit zu definieren. Man kann sie nur an entsprechenden Beispielen verdeutlichen und veranschaulichen, so daß einerseits ihre Verschiedenheit, andererseits aber ihre Verwandtschaft zur Klarheit gebracht wird. Man kann dann mit Recht fragen, ob nicht auch den einzelnen Abwandlungen der „Schönheit" besondere Mannigfaltigkeiten von Zusammenstellungen der ästhetisch relevanten Momente zuzuordnen sind, von welchen die einzelnen Zusammenstellungen für die Konstituierung der betreffenden Abwandlung der Schönheit unentbehrlich wären. Natürlich ist auch diese viel schwierigere Aufgabe nicht gelöst, obwohl das Studium der verschiedenen Künste und Kunstrichtungen (eventuell der Stile) uns zur Lösung dieser Frage wertvolles Material liefern kann. Erst wenn man zugeben dürfte - was nicht sehr wahrscheinlich ist, aber oft in der Geschichte der Kunst behauptet wurde - , daß ein wirklich großes Kunstwerk einen so einzigartigen Wert hat, daß er in gar keinem anderen Kunstwerk, bzw. ästhetischen Gegenstand auftreten kann, müßte man die Frage stellen, ob die für die Konstituierung dieses Wertes hinreichende Zusammenstellung von ästhetisch valenten Momenten nicht zugleich audi die unentbehrliche Bedingung desselben sein müßte. Lassen wir alle diese Fälle als offene Fragen stehen, die hier nicht beantwortet werden können. Sie müssen aber als Möglichkeiten voneinander unterschieden werden, damit man sich zu Bewußtsein bringt, wie die Grenzen ihrer Lösung verlaufen und welche Wege zur Klärung der Sache einzuschlagen sind. Es scheint sicher zu sein, daß nur eine Wesensanalyse der wirklich echten und großen Kunstwerke und ihrer möglichen ästhetischen Konkretisationen uns an die Beantwortung der gestellten Fragen heranbringen kann. 7. Es bleibt noch ein Begriff der „Objektivität" und insbesondere der „Objektivität" des Wertes zu besprechen, welcher oft ohne genügende Präzisierung von den Kunsttheoretikern und von den Kunsthistorikern verwendet wird. Er steht im Zusammenhang mit der von mir durchge214

führten Unterscheidung des Kunstwerks und seiner in ästhetischer Einstellung gewonnenen Konkretisationen. Der ästhetische Gegenstand geht in allen Punkten seines Gehalts, welche die Ausfüllung der im Kunstwerk auftretenden Unbestimmtheitsstellen bilden, über das hinaus, was im Kunstwerk selbst als seine volle Bestimmung auftritt. Die das Kunstwerk ergänzenden Momente sind durch die Elemente und Momente des Kunstwerks nicht eindeutig bestimmt und sind somit auch durch sie nicht hinreichend bedingt. Auch wenn der Betrachter sich bei der Bildung des ästhetischen Gegenstandes bemüht, das betreifende Kunstwerk in seinem neutralen Skelett zu erkennen und seine ästhetische Konkretisation an seine Eigenheiten anzupassen, ist er nicht gezwungen, gerade solche Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen zu wählen, wie sie etwa der Künstler geplant hat. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dies zu erreichen. Um aber dessen sicher zu sein, müßte man genau wissen, wie sich der Künstler die Konkretisierung seines Werkes vorgestellt hat. Das ist aber keine leichte Aufgabe. Gewöhnlich weiß der Betrachter sehr wenig darüber, was dem Künstler vorgeschwebt hat. Manche Literatur- oder Kunstforscher überhaupt sind indessen oft der Meinung, daß die Konkretisation eines Kunstwerks dann und nur dann auf „objektive" Weise durchgeführt wurde, wenn die Konkretisation mit den sog. „Intentionen" des Autors ganz zusammenstimmt. Ohne hier auf die Schwierigkeit einzugehen, welche der Entscheidung im Wege stehen, ob und in welchem Maße es zu einer solchen Konkretisation des Werkes wirklich gekommen ist, 20 muß bemerkt werden, daß es nicht gerade richtig scheint, solche Forderungen an den Betrachter zu stellen. Das Kunstwerk zeichnet sich dadurch aus, daß es verschiedene ästhetische Konkretisationen, die mit seiner Beschaffenheit zusammenstimmend sind, zuläßt. Es ermöglicht eben dadurch in den einzelnen ästhetischen Konkretisationen die Konstituierung - wenigstens in gewissen Grenzen - v e r s c h i e d e n e r Zusammenstellungen der ästhetisch relevanten Momente und eventuell auch der ästhetischen Werte selbst, die alle nicht mit dem Wesen des betreffenden Kunstwerks im Widerstreit stehen. Daß dies möglich ist, könnte man sagen, erhöht gerade den künstlerischen Wert des Kunstwerks und es erhöht ihn um so mehr, je reicher die Mannigfaltigkeit soldier möglicher ästhetisch wertvoller Konkretisationen ist. Wenn aber die Ausfül20

Die Gewinnung des Wissens darüber ist natürlich dort erforderlich, wo es sich um historische Untersuchungen über das schöpferische Werk eines bestimmten Künstlers oder über die Auffassungsweise seiner Werke in der für den Künstler gegenwärtigen Epoche handelt. 215

lung der Unbestimmtheitsstellen, die vom Werk selbst zugelassenen Grenzen überschreitet, wenn ζ. B. der Betrachter sich um die Erhaltung der gegenständlichen Konsequenz in der dargestellten Welt nicht bemüht, wenn er die Unbestimmtheitsstellen so ausfüllt, daß verschiedene mit dem Stil des Werkes, bzw. seiner Epoche nicht zusammenstimmende ästhetisch valente Qualitäten zur Erscheinung gelangen, dann wird die Konkretisation dem Werk selbst „untreu" und gestaltet sich eigentlich zur Konkretisation eines a n d e r e n Werkes als des vom Künstler geschaffenen.21 Die Tatsache einer solchen „Untreue" läßt sich entdecken, weil man feststellen kann, welche Unbestimmtheitsstellen in der betreffenden Konkretisation ausgefüllt wurden und auf welche Weise sich diese Ausfüllung vollzogen hat. Dann läßt sich auch entscheiden, ob die Konkretisation sich in den vom Werk selbst bestimmten Grenzen hält und mit dem künstlerischen Stil des Werkes zusammenstimmt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die hervorgebrachte „untreue" Konkretisation etwa einen höheren ästhetischen Wert hat, als ihn die „treuen" Konkretisationen haben, bzw. haben können. Sie bleibt trotzdem dem Werk gegenüber „untreu" und ist auch dem Künstler gegenüber nicht loyal. Im Hinblick auf diese verschiedenen Fälle der „treuen" und „untreuen" Konkretisationen eines Kunstwerks spricht man auch oft von einer „objektiven Interpretation" des Kunstwerks. Die Mindestforderung der so verstandenen „Objektivität" besteht z. B. bei literarischen Kunstwerken darin, daß in der Konkretisation (z. B. einer Aufführung im Theater) der volle Text des Werkes erhalten bleibt. Schon die Weise, in welcher der Text (im Theater) vorgetragen wird, ist nicht beliebig und - um die „Objektivität" der Interpretation zu bewahren - muß sie von der Art sein, daß der führende ästhetische Wert des Ganzen erhalten bleibt (d. h. mit dem Text zusammenstimmt). Es sind da aber natürlich noch sehr verschiedene Fälle möglich, was uns aber hier nicht mehr aufhalten darf. Die durchgeführten Betrachtungen über die „Objektivität" des ästhetischen Wertes des ästhetischen Gegenstandes sowie über seine „Treue" im Verhältnis zum Kunstwerk selbst weisen darauf hin, wie wichtig die Weise des Vollzugs des ästhetischen Erlebnisses beim Umgang des Betrachters mit einem Kunstwerk und mit Hilfe eines bestimmten physischen Fundaments desselben ist. Ob sich nämlich dieses Erlebnis beim Bemühen des Betrachters so vollzieht, daß durch die Erlangung einer 21

Im modernen Theater führt dies zu reinem Unfug. Die heutigen Regisseure glauben, sie seien viel wichtiger als der Autor des Schauspiels selbst. Man verwandelt den Text des Werkes selbst, besonders wenn es sidi nicht bloß um neue künstlerische Effekte, sondern einfach um politische Propaganda handelt.

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möglichst adäquaten Erkenntnis der festgelegten Momente des Kunstwerks (insbesondere seines neutralen Skeletts) eine ästhetische Konkretisation gewonnen wird, die dem Werk am „getreuesten" ist, oder ob der Betrachter seine Phantasie frei walten läßt und sich wenig darum kümmert, ob er durch die Schaffung seiner Konkretisation dem Werk „gerecht" wird, da es ihm vor allem auf die Erlangung einer solchen Konkretisation ankommt, die einen ihm genehmen ästhetischen Wert zur Erscheinung bringt. Im Zusammenhang damit eröffnen sich bezüglich des ästhetischen Erlebnisses all jene erkenntniskritischen Probleme, die ich oben in den „Prinzipien der erkenntnistheoretischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung" angedeutet habe. 8. Kunstwerke sind bekanntlich keine rein intentionalen Gegenstände, die ausschließlich in den schöpferischen Akten des Künstlers ihr Seinsfundament haben, sondern sie besitzen auch in einem entsprechend gestalteten physischen Ding ihr zweites Seinsfundament. Dieses Fundament ist für seine Festlegung und auch dafür unentbehrlich, daß es vielen verschiedenen Betrachtern zugänglich gemacht werden kann. Das Verhältnis zwischen diesem Fundament und dem Kunstwerk selbst ist bekanntlich in verschiedenen Künsten recht verschieden; am engsten ist es vielleicht in der Architektur, schon nicht mehr so eng in der Skulptur oder in der darstellenden Malerei und verhältnismäßig am lockersten in der Literatur, unabhängig davon, ob das literarische Werk in der Schrift niedergelegt oder etwa auf dem Tonband oder einer Schallplatte „notiert" wird. So muß in jeder Kunst für sich eine besondere Betrachtung durchgeführt werden, inwiefern und in welchen Einzelheiten das betreffende physische Fundament dem Kunstwerk eine hinreichende Bedingung seiner Festlegung liefert und welche weiteren Bedingungen sich seitens des Betrachters (ζ. B. das Beherrschen derselben Sprache, in welcher das Werk geschrieben ist) dazugesellen müssen, damit die hinreichenden Bedingungen für eine getreue Rekonstruktion des Kunstwerks in seinem neutralen Skelett realisiert werden. Erst von da aus eröffnen sich alle hier schon von mir angedeuteten Probleme der Geschlossenheit des Aufbaus des Kunstwerks und seiner möglichen ästhetischen Konkretisationen, sowie seiner „Objektivität" in den verschiedenen hier angedeuteten Bedeutungen. Zum Schluß ist nur noch zu betonen, daß die in diesem Vortrag sich anzeigende Betonung der verschiedenen ästhetisch relevanten Momente sowie des ästhetischen Wertes des ästhetischen Gegenstandes in keiner Weise die von mir an anderer Stelle entwickelte Auffassung der Schichtenstruktur des Kunstwerks ausschaltet oder irgendwie einschränkt. Ich bin weiterhin der Meinung, daß diese Struktur 217

mindestens für alle Werke der darstellenden Kunst gültig ist und daß im Zusammenhang damit die verschiedenen ästhetisch relevanten Momente und insbesondere Qualitäten auf verschiedene Schichten verteilt sind und eine besondere nähere Bestimmung der in ihnen auftretenden Gebilde bilden. Einige von ihnen ergeben sich aus der Zusammenstimmung der in verschiedenen Schichten auftretenden Gebilde und Erscheinungen und überlagern auf gewisse Weise die zugrundeliegenden Schichten mit neuen Bestimmtheiten des Gesamtwertes des konkretisierten Kunstwerks. Insofern ist auch die Zusammenstimmung der ästhetisch relevanten Momente ζ. B. in literarischen Werken anders gestaltet als in der reinen Musik, wo von einem Schichtenaufbau kaum die Rede sein kann. Die Polyphonie der ästhetisch wertvollen Qualitäten ist in der Dichtung differenzierter als in der Musik und kann auch nicht zu einer solch einheitlichen, synthetisch geeinten, ästhetisch wertvollen Gestalt führen, wie sie in der Musik möglich ist. Auch die quasi-zeitliche Struktur der Werke einiger Künste spielt eine große Rolle bei der Konstituierung der ästhetisch wertvollen Qualitäten sowie der sich auf ihnen aufbauenden ästhetischen Werte, so daß auch in diesem Fall die Betrachtung der Kunstwerke, bzw. der ästhetischen Gegenstände unter dem Aspekt des ästhetisch Wertvollen an ihnen in keiner Weise die früher von mir herausgestellten zeitlichen Strukturen der Kunstwerke beanstanden oder sie irgendwie in den Hintergrund drängen soll. Das hier Ausgeführte bildet nur eine wesentliche Ergänzung dessen, was über die Kunstwerke und ihre ästhetischen Konkretisationen von mir anderenorts gesagt wurde oder - genauer - nur eine Entfaltung dessen, was dort nur mit einigen Worten angedeutet wurde.

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XI BETRACHTUNGEN ZUM PROBLEM DER OBJEKTIVITÄT

Als ich mich in den letzten Jahren gelegentlich mit dem Problem des Wertes beschäftigte, richtete sich dabei mein Augenmerk vor allem auf zwei Grundarten der Werte: auf die sittlichen und die ästhetischen (bzw. künstlerischen) Werte. Verschiedene alte Probleme tauchten dabei wieder auf. Sie zeichneten sich mir aber in einer etwas anderen Gestalt ab, weil ich dasjenige, was diese Werte tragen sollte, in einem anderen Lichte sah, als man dies traditionell gemeint hat. Immer wieder wurde dabei sichtbar, daß die den Werten gewöhnlich zugeschriebenen gegenständlichen Charaktere selbst, wie etwa „relativ"-„absolut", „ r e a l " - „ i d e a l " , „ s u b j e k t i v " - „ o b j e k t i v " nicht genug geklärt sind und sich bei näherem Zusehen als außerordentlich vieldeutig erweisen. Mit dem Problem der sogenannten „Relativität" der Werte habe ich mich anderenorts beschäftigt. Hier möchte idi dagegen ein wenig bei dem Gegensatz „objektiv" „subjektiv" verweilen. E r scheint dabei von besonderer Wichtigkeit zu sein; denn der Streit um die sogenannte „Subjektivität" oder „Objektivität" der Werte - und insbesondere der sittlichen Werte - wird gewöhnlich aufs heftigste ausgefochten. Man hält gewöhnlich diesen Gegensatz für allgemein verständlich und trivial, während er tatsächlich außerordentlich vieldeutig ist. Infolgedessen redet man oft aneinander vorbei und vermag keine Einigung zu erzielen. Ohne also hier das Problem der sogenannten „Objektivität", bzw. der „Subjektivität" der Werte selbst anzugreifen oder es als gelöst zu betrachten, will ich zunächst die „Objektivität" oder „Nicht-Objektivität", bzw. „Subjektivität" überhaupt einer klärenden Betrachtung unterziehen. Dabei beginne ich mit der Erörterung gewisser im Umlauf befindlicher Begriffe und suche am Ende zu anderen und neu bestimmten Begriffen zu gelangen. Es geht mir aber nicht um diese Begriffe selbst, sondern um dasjenige, was sie treffen wollen. Denn es kommt mir vor allem darauf an, ob und inwiefern die gegenständlichen Korrelate dieser Begriffe an gewissen Gegenständlichkeiten und Tatbeständen gefunden werden können. 219

Es sind vor allem zwei verschiedene Richtungen der Verwendung des Wortes „objektiv", bzw. „Objektivität" einander entgegenzustellen. In der ersten erlangen diese Worte eine gegenständliche oder - wenn man so will - ontische Bezogenheit, in der anderen beziehen sie sich auf Erkenntnisse oder Erkenntnisergebnisse. Und zwar soll nicht etwa ein Gegenstand (ein Ding, ein Kunstwerk, ein Staat, ein Mensch) selbst „objektiv" sein, sondern etwas in oder an diesem Gegenstand. Und analog dürfte nicht etwa eine Erkenntnisoperation oder ein Ergebnis selbst „objektiv" oder nicht „objektiv" sein, sondern etwas an ihr oder an diesem Ergebnis. Und zwar ändert sich die Bedeutung des Wortes „objektiv" nicht bloß mit Rücksicht darauf, in welcher Anwendungsrichtung es verwendet wird, sondern auch je nachdem, worauf es angewendet wird. Aber auch dann, wenn es in e i n e r Richtung und in bezug auf d a s s e l b e bezogen wird, kann es noch in verschiedenem Sinne verstanden werden. Daß da verschiedene Bedeutungen möglich sind und tatsächlich oft miteinander vermengt, bzw. nicht voneinander unterschieden werden, hat man nicht einmal bemerkt. Und man hat auch - ζ. B. in philosophischen Wörterbüchern - versucht, diese verschiedenen Bedeutungen auseinanderzuhalten und zu präzisieren. Ich will keine Entdeckung des längst Entdeckten machen. Es wäre aber vielleicht nützlich, einige dieser Begriffe hier anzuführen. Meine Betrachtung soll jedoch in einer anderen Richtung geführt werden. Schlagen wir also zunächst in dem bekannten Wörterbuch von L a l a n d e nach, so werden da folgende Begriffe der „Objektivität" unterschieden: a) Das von Duns S c o t u s unterschiedene, später noch von D e s c a r t e s verwendete „esse obiectivum", das dem „esse actúale" oder audi „formale" gegenübergestellt wird, bedeutet soviel wie das einem Denkoder Meinungsakt Gegenüber-Stehende und durch diesen Akt eben zu einem bloß „gegenständlichen" Sein Konstituierte. Wir wären heute geneigt, es mit dem „intentionalen Gegenstand" eines Meinungsaktes zu identifizieren. Dieses „esse obiectivum" ist somit in sich selbst in bezug auf den es vermeinenden Bewußtseinsakt seinrelativ, oder - um den von mir verwendeten Ausdruck zu benützen - „seinsheteronom". Das „esse obiectivum" bezeichnet eine zu einem besonderen Bewußtseinsakt korrelative Seinsweise. b) Diesem Begriff des „Objektivseins" wird gerade ein anderer Begriff entgegengesetzt, in welchem es sich - wie La l a n d e sagt - um eine „réalité subsistant ,en elle-même', c'est-à-dire indépendamment 220

de toute connaissance ou idée" handelt. Diese „Subsistenz" in sich selbst ist wiederum eine besondere Seinsweise, ich nenne sie in meiner Ausdrucksweise „Seinsautonomie".1 c) Der dritte Begriff von „objektiv" wird nach L a 1 a η d e im Gegensatz zu „subjektiv" im Sinne von „individuell" verwendet. Und zwar soll jetzt „objektiv" soviel bedeuten wie „valable pour tous les esprits, et non pas seulement pour tel ou tel individu". Dabei wird K a n t s „Kritik der reinen Vernunft" zitiert („die Realität, d.h. die objektive Gültigkeit des Raumes in Ansehung dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann"). Auch die „Kritik der praktischen Vernunft" wird herangezogen („objektiv", „d.h. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig"). Der Name K a n t s erinnert uns an seine Scheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung sowie an seinen Begriff des Apriori, wodurch dieser Sinn der „Objektivität" spezifisch gefärbt wird. In derselben Richtung geht das Zitat aus H. P o i n c a r é („La valeur de la science"): „Ces r a p p o r t s . . . ne sauraient être conçus en dehors d'un esprit qui les conçoit ou les sent. Mais ils sont néanmoins objectifs parce qu'ils sont, deviendront ou resteront communs à tous les êtres pensants." Wie wir sehen, ist dies ein gegenstandsgerichteter Begriff der Objektivität, der aber zugleich einen deutlichen erkenntnistheoretischen Anstrich hat. d) Der nächste von L a 1 a η d e besprochene Begriff der Objektivität ist schon deutlich ein auf das Erkennen, bzw. auf das erkennende Subjekt bezogener Begriff. „En parlant des esprits: qui voit les choses d'une manière objective (au sens c), qui ne se laisse pas entraîner par ses préférences ou ses habitudes individuelles." e) Ein anderer gegenstandsgerichteter Begriff des „Objektivseins" ergibt sich nach La l a n d e , wenn man unter „objektiv" soviel versteht wie „indépendant de la volonté comme le sont les phénomènes physiques".2 La l a n d e zitiert da R e n a n . f) Endlich bedeutet „objektiv" nach L a i a n d e den Gegensatz zu „subjektiv" im Sinne von „conscient", „mental", „le monde objectif ou extérieur". Da wird Claude B e r n a r d zitiert. Es liegt also wiederum ein gegenstandsgerichteter Begriff des „Objektivseins" vor, wenn auch 1

L a l a n d e , den idi hier nach der 8 . A u s g a b e des „ V o c a b u l a i r e " ( i 9 6 0 ) zitiere, sdieint die Unterscheidung zwischen der existentialen, formalen und materialen Ontologie noch nicht zu kennen. Ich könnte aber sagen, daß die beiden eben angegebenen Begriffe des „Objektivseins" existential ontologisdie Begriffe sind.

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Richtiger wäre es, wenn L a l a n d e hier statt von „Phänomenen" einfach v o n physischen Gegenständlichkeiten, Dingen, Vorgängen, Ereignissen spräche.

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mit einem erkenntnistheoretischen Anstrich. Dabei ist jenes „objectif ou extérieur" nicht eindeutig genug. Ich verzichte aber darauf, dies näher auseinanderzulegen. A l s ein Pendant zu diesem Begriff wird noch die „subjektive" Methode in der Psychologie als die Methode der Introspektion der „objektiven" psychologischen Methode, die sich der „äußeren" Beobachtung bedient - was wiederum vieldeutig ist - entgegengesetzt. Dies ist aber jedenfalls ein erkenntnistheoretisch orientierter Begriff des „ O b j e k t i v seins". Jeder dieser von L a i a n d e zusammengestellten Begriffe von „objekt i v " hat sicherlich eine historisch belegte Verwendung in der Wissenschaft und im täglichen Leben. Jeder von ihnen erforderte aber eine Sinnanalyse, wenn er als geklärt und eindeutig bestimmt gelten wollte. Ich will hier eine solche Analyse nicht versuchen. Ohne die angegebenen Begriffe zu vergessen, werde idi eine andere Reihe der Abwandlungen des Sinnes v o n „objektiv", b z w . „subjektiv" zusammenstellen, welche mir erst erlauben soll, neue Objektivitätsbegriffe zu bestimmen. Ich beschäftige mich zuerst mit den gegenständlich oder ontisch gerichteten Bedeutungen des Wortes „objektiv". Statt von verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes zu sprechen, könnte man auch von verschiedenen Motiven reden, die uns zur Anerkennung des „Objektivseins" zwingen. Dadurch aber erhalten auch die Bedeutungen dieses Wortes selbst mindestens eine andere Färbung, und w o ein solches Motiv allein ausschlaggebend ist, erhält dieses Wort eine spezifisch gestaltete Bedeutung. ι . „ O b j e k t i v " bedeutet zunächst soviel wie „in einem Gegenstand auftretend", „subjektiv" dagegen „in einem Subjekt auftretend". Diese Gegenüberstellung hatten einst die Phänomenologen im Sinne, als sie z. B. gegen den Psychologismus behaupteten, das Tragische sei nichts „Subjektives", da es an einer zwischenmenschlichen Situation in der Welt auftritt, nicht aber in dem Subjekt, welches ein tragisches Ereignis betrachtet oder beschreibt. Oder: das Urteil als ein Satz im logischen Sinne sei nichts „Subjektives", da es weder in mir noch in meinem Denkerlebnis auftritt, sondern in einer Theorie oder etwa als Glied eines Satzzusammenhanges in einem literarischen Werk. In demselben Sinne ist „gut" oder „schön" eine „objektive" Bestimmtheit einer Gegenständlichkeit (einer menschlichen Entscheidung oder eines Kunstwerks), die w i r betrachten oder beurteilen. Sie tritt - sagt man oft - in oder an einer solchen Gegenständlichkeit auf und nicht in mir als dem Betrachtenden. Indessen sind die hier verwendeten Worte „Gegenstand", „Subjekt", „auftreten" vieldeutig genug, um neue Verwirrung hervorzurufen. Das 222

„Auftreten" kann hier entweder das e c h t e E n t h a l t e n s e i n von etwas i η einem Gegenstand (wobei sowohl dieses Etwas als audi der Gegenstand selbst noch in verschiedener kategorialer Form stehen kann) oder aber ein bloßes E r s c h e i n e n a n einem Gegenstand bedeuten. Der soeben erwogene Gegensatz betrifft also entweder einen Unterschied in der Seinsstelle oder in der Erscheinungsstelle des „objektiven", bzw. „subjektiven" Moments. Das Wort „Gegenstand" kann hier aber mindestens zweierlei bedeuten. Entweder handelt es sich um ein Seiendes (irgendwelcher kategorialer Form, ein Ding, einen Vorgang, ein Ereignis), das in sich selbst s e i n s a u t o n o m ist und von einem erkennenden Subjekt in irgendeiner unmittelbaren Erkenntnisweise v o r g e f u n d e n wird, aber dieses Vorgefundenwerden zu seinem Sein gar nicht braucht; oder es handelt sch um ein Seiendes, das zwar ebenfalls in einem unmittelbaren Erkennen vorgefunden werden kann, aber in seinem Sein durch irgendeine Weise des Vermeintwerdens m i t b e d i n g t ist. In analoger Weise kann auch das Wort „Subjekt" Verschiedenes bedeuten. Entweder handelt es sich da um ein „ich-liches", psychologisches Wesen (insbesondere um einen Menschen), das sich auf ein „Objektives" oder „Subjektives" irgendwie bewußtseinsmäßig, und insbesondere erkenntnismäßig, bezieht, also Vollzugssubjekt irgendeiner bewußtseinsmäßigen Verhaltensweise ist; oder aber es handelt sich um ein Bewußtseins-Ich selbst, bzw. um die bewußten, ichhaft vollzogenen Erlebnisse selbst. Die Berücksichtigung dieser verschiedenen Bedeutungen der genannten Worte, welche bei der Sinnbestimmung des „Objektivseins" gebraucht werden, differenziert den Sinn des „Objektivseins" auf verschiedene Weise. Ich werde midi aber zunächst mit der Bestimmung dieser einzelnen Bedeutungen nicht weiter beschäftigen. Zu beachten ist momentan nur, daß die Erscheinungsstelle an einem „Objekt" zwar die unentbehrliche, aber nicht die hinreichende Bedingung der Seinsstelle der betreffenden Bestimmtheit an einem „Objekt" bildet, das einem Bewußtseinssubjekt gegenüber seinsautonom ist. 2. Der zweite sehr wichtige Gegensatz zwischen „objektiv" (bzw. „objektiv-seiend") und „subjektiv" („subjektiv-seiend") kann an dem schon bei L a l a n d e erwähnten Gegensatz zwischen den existentialen Momenten erläutert werden. Dann heißt „objektiv-seiend" dasselbe wie „seinsautonom", dagegen „subjektiv-seiend" dasselbe wie „seinsheteronom". 8 Es handelt sich also jetzt nicht um eine Differenz in der Seins-, 3

Diese beiden existential ontologisdien Begriffe habe idi in meinem Budi

„Der

Streit um die Existenz der W e l t " , B d . I. Tübingen 1 9 6 4 . S. 7 9 ff. auseinandergelegt.

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bzw. in der Erscheinungs s t e l l e einer Bestimmtheit, sondern um deren Seins w e i s e . Z w a r ergibt sich diese Anwendung der Begriffe „objektiv" und „subjektiv" nicht aus dem Sinngehalt dieser existentialen Begriffe, sondern aus der implicite mitgedachten existentialen Bedingung dessen, was einerseits seinsautonom, andererseits seinsheteronom ist. Das „Subjektivsein" im Sinne der Seinsheteronomie bildet dann aber einen besonderen Fall dessen, was oben unter II. und I I I . (p. 208) als „subjekt i v " behandelt wurde. 3. Mit dem soeben besprochenen Gegensatz wird oft ein anderer existentialer Gegensatz „objektiv"-„subjektiv" vermengt. Man sagt oft: „objektiv" ist dasjenige, was von den Bewußtseinsakten (Erlebnissen überhaupt) u n a b h ä n g i g e x i s t i e r t . Dabei kann noch eine Differenzierung dieses Sinnes des „Objektivseins" durchgeführt werden, wenn man diese Unabhängigkeit entweder auf a l l e Bewußtseinsakte, welcher Art auch immer, oder bloß auf Erlebnisse ganz b e s o n d e r e r A r t e n bezieht. Im zweiten Fall kann es sich z. B. bloß um die Seinsunabhängigkeit von den auf dasjenige gerichteten E r k e n n t n i s a k t e n handeln, was „objektiv" sein soll, oder auch um andere Erlebnisse, z. B. um Willensakte, Gefühlsakte oder schließlich um derartige schöpferische Bewußtseinsakte wie z. B. die schöpferischen Akte eines Künstlers, der ein Kunstwerk schafft, oder auch die Bewußtseinsakte, die zu der Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes führen. Dabei kann diese Seinsunabhängigkeit des „Objektiv-Seienden" noch entweder eine Unabhängigkeit von den Erlebnissen eines e i n z e l n e n Bewußtseinssubjektes sein oder eine solche von den Erlebnissen einer M e h r h e i t solcher Subjekte, die im gegenseitigen Einvernehmen leben, also eine Gemeinschaft: bilden. J e nachdem aber, wovon es eine Seinsunabhängigkeit ist, ergibt sich eine andere Abwandlung der so verstandenen „Objektivität". Diese „Objektivitäten" lassen sich dann in einer Reihe anordnen, je nachdem, inwiefern f ü r ihr Bestehen mehr oder weniger ihre Seinsunabhängigkeit gefordert wird. Demgegenüber bestimmt sich der entsprechende Begriff der „Subjektivität" als ein kontradiktorischer Gegensatz zu den hier angegebenen „Objektivitäten". „Subjektiv" in diesem Sinne ist also dasjenige, was von den Erlebnissen, die sich irgendwie darauf beziehen, s e i n a b h ä n g i g ist. Dabei differenziert sich der Begriff des „Subjektivseins" je nachdem, ob es sich dabei um eine Seinsabhängigkeit von b e l i e b i g e n Bewußtseinsakten oder um eine solche von Erlebnissen einer b e s o n d e r e n A r t handelt, wobei noch untersucht werden muß, welche Erlebnisarten dafür in Frage kommen. 224

In beiden Fällen - bei „Objektivität" und bei „Subjektivität" bringt noch ein Umstand eine Differenzierung ihres Sinnes hervor, sofern nämlich zu den Erlebnissen eines bestimmten Subjekts noch gewisse leibliche Betätigungen mit in Betracht kommen, die mit den sich vollziehenden Erlebnissen in Zusammenhang stehen. Auch die sich daraus ergebenden Abwandlungen des Sinnes der „Objektivität", bzw. „Subjektivität" müssen für sich genauer bestimmt werden. 4. Ein neuer Sinn des „Objektivseins" ergibt sich, wenn man sagt, dasjenige und nur dasjenige sei „objektiv", was sich in sich selbst, trotz der Wandlungen der sich irgendwie darauf beziehenden Erlebnisse (der Erfahrung, der Vorstellung, der Gefühls- oder Willens-Akte) n i c h t ä n d e r t . „Subjektiv" dagegen wäre in diesem Sinne dasjenige, was sich im Zusammenhang mit oder in der Folge der Wandlung der sich darauf beziehenden Erlebnisse in sich ä n d e r t . Ausdrücklich handelt es sich da in beiden Fällen um die E r l e b n i s s e (oder um die p s y c h i s c h e n Verhaltensweisen) des sich mit dem betreffenden Gegenstand irgendwie beschäftigenden Subjekts und n i c h t um dessen leibliche Bestätigung oder sonstige körperliche Vorgänge. Wenn man z.B. eine Marmorskulptur mit einem Hammer zerschlägt, so hält niemand d i e s e Veränderungen des Marmors für „subjektiv" in dem jetzt erwogenen Sinne. Die bei der so verstandenen „Subjektivität" bestehende „Empfindlichkeit" eines Seienden für die Wandlungen der in Frage kommenden Erlebnisse kann noch verschiedener Art sein. Entweder kann die sich an ihm vollziehende Veränderung, die von gewissen sich wandelnden Erlebnissen abhängig ist, derart sein, daß das durch sie Hervorgebrachte trotz weiterer Wandlungen der Erlebnisse dauerhaft b l e i b t , oder aber, daß es in der Folge weiterer Wandlungen der Erlebnisse weiteren Veränderungen unterliegt. Alle hier genannten Fälle sind zunächst „leere" Möglichkeiten. Sie erweisen sich aber bei der Behandlung einzelner Probleme - ζ. B. auf dem Gebiet der Ästhetik - als sehr real und wesentlich. 5. Ein weiterer damit im Zusammenhang stehender Begriff der „Objektivität" ergibt sich, wenn man gewisse Bestimmungen oder Zustände eines Seienden unter dem Aspekt ihrer Bedingtheit erwägt. So hält man eine Bestimmtheit von etwas für „objektiv", wenn sie i h r e h i n r e i c h e n d e B e d i n g u n g in d i e s e m s e l b s t h a t . Man wäre aber kaum geneigt, diese Objektivität bei einer Bestimmtheit eines Seienden zu leugnen (also sie im Gegensatz dazu für „subjektiv" zu halten), wenn sie zwar in diesem Gegenstand keine hinreichende Bedingung ihres Seins oder Zukommens hätte, dagegen aber die zu der hinreichenden Bedingung ergänzenden Bedingungen in einem a n d e r e n S e i e n d e n besäße, 22J

das zu den sich auf den betreffenden Gegenstand beziehenden Erlebnissen n i c h t gehört. So ist ζ. B. die Gestalt einer Flüssigkeit in einem Glase zwar durch die Eigenschaften dieser Flüssigkeit bedingt. Sie hat aber darin allein keine hinreichende Bedingung, um als Gestalt der betreffenden Menge der Flüssigkeit überhaupt zuzukommen. Sie wird durch die Gestalt des Behälters, in dem sie sich befindet, sowie durch das Gravitationsfeld, in dem sie liegt, und durch den Druck der Atmosphäre mitbedingt. Man wird sie aber deswegen nicht für „nicht-objektiv" oder gar für „subjektiv" halten. Erst wenn eine Bestimmtheit eines Seienden in ihm selbst keine hinreichende Bedingung ihres Seins oder Zukommens besitzt, zugleich aber mindestens die Ergänzung ihrer Bedingtheit durch dieses Seiende zu der hinreichenden Bedingung in einem sich auf dieses Seiende irgendwie beziehenden Erlebnis eines Subjekts findet, wird man diese Bestimmtheit für „subjektiv" halten. Und zwar besonders dann, wenn diese im Subjekt liegende Ergänzung zur hinreichenden Bedingung zugleich für das Bestehen dieser Bestimmtheit u n e n t b e h r l i c h wäre. Die bis jetzt besprochenen Deutungen des Wortes „objektiv", bzw. „subjektiv" sind alle entweder existential oder formal. Es gibt aber auch eine solche Verwendung dieser Wörter, in welcher sie eher eine m a t e r i a l orientierte Bedeutung haben. Und zwar betrifft dies vor allem den Ausdruck „subjektiv". 6. „Subjektiv" bedeutet nämlich jetzt soviel wie: „zum Wesen des Subjekts" als eines psychischen oder psycho-physischen Individuums „gehörig". Man sagt ja: „die psychischen Phänomene sind subjektiv". Dabei kann der Nachdruck entweder auf die materiale Bestimmung des „Psychischen", bzw. des „Bewußtseinsmäßigen" gelegt werden oder aber darauf, daß jedes psychische Individuum eben „Subjekt", „ichhaft" ist, so daß die Erlebnisse als seine Verhaltensweisen notwendig zu ihm gehören. Dabei bezeichnet hier „Subjekt" nicht im allgemeinen Sinne den Träger der Bestimmungen; auch weist es keine einzigartige kategoriale Struktur auf. Es ist vielmehr in einem ganz besonderen Sinne „Geist", Vollzieher der Bewußtseinsakte und ein selbstbewußtes Wesen, das eventuell audi Vollzieher der bewußtseinsmäßig organisierten und geleiteten Handlungen sein kann. Den Gegensatz zu dem so verstandenen „Subjektivsein" bildet das „Objektivsein" im Sinne dessen, was in seiner materialen Bestimmung n i c h t das Moment des „Bewußtseinsmäßigen", des „Psychischen" enthält und somit weder mit dem Subjekt verbunden ist, noch es zu sein braucht. In seiner positiven materialen Bestimmung kann dann dasjenige, was „objektiv" ist, auf verschiedene Weisen ausgestattet sein, also 226

ζ. Β. als ein materielles, physisches Etwas, insbesondere ein Ding, ein Vorgang oder Ereignis, oder auch als ein mathematisches Gebilde, ein Kunstwerk und dergleichen mehr. In der Naturwissenschaft wird freilich derjenige Sinn des (hierher gehörigen) Objektivseins bevorzugt, in dem er das Materielle, das Physische bezeichnet. In den weiteren Betrachtungen werde ich mich mit dem letzten Gegensatz zwischen dem Subjektiv-, bzw. Objektiv-Sein nicht näher beschäftigen. Er muß aber in der Zusammenstellung der verschiedenen Bedeutungen des Objektivseins im ontischen Sinne erwähnt werden. In der Wissenschaft und insbesondere in der Naturwissenschaft neigt man gewöhnlich dazu, sich eines ungeklärten Begriffs der Objektivität zu bedienen, in welchem die v e r s c h i e d e n e n Sinnmomente oder Motive der Verwendung z u s a m m e n z u f l i e ß e n scheinen. Es ist hier nicht meine Absicht, bloß diese Momente auseinanderzuhalten; sie müßten eventuell einer weiteren Erörterung unterzogen werden. Ich stelle mir vielmehr zur Aufgabe, einige neue Begriffe der Objektivität, in welchen m e h r e r e der bereits hier angedeuteten Sinnmomente enthalten sind, zu bestimmen. An erster Stelle steht hier ein Begriff der Objektivität, der sozusagen die am weitesten gehenden Postulate erfüllt. Ich werde ihn den r a d i k a l e n Begriff der Objektivität nennen und ihn dann anderen nicht so weit gehenden Begriffen entgegenstellen. „Objektiv" in diesem radikalen Sinne ist also eine Bestimmtheit eines Seienden, wenn a) dieses Seiende seinsautonom existiert; b) wenn die betreffende Bestimmtheit in ihm ihre effektive Seinsstelle hat und eventuell 4 auch ihre Erscheinungsstelle an ihm besitzt; c) wenn sie selbst seinsautonom ist; d) wenn sie von den Bewußtseinserlebnissen, in denen sie eventuell erkannt wird, sowie von allen anderen Erlebnissen irgendeines Bewußtseinssubjektes, das mit dem betreffenden Seienden in Beziehung steht, seinsunabhängig ist; e) wenn sie, bzw. das betreffende Seiende, sich trotz der Wandlungen der sich auf sie irgendwie beziehenden Erlebnisse nicht ändert und f) wenn sie in dem Seienden, in dem sie ihre Seinsstelle hat, ihre h i n r e i c h e n d e Seinsbedingung findet, anders gesagt, wenn sie in ihm hinreichend „fundiert" ist.5 4

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„Eventuell", weil es nicht notwendig ist, daß jede „objektive" (in dem eben bestimmten Sinne) Bestimmtheit zur Erscheinung soll gebracht werden können. Sie kann audi nur erschlossen werden und nie selbst zur erscheinungsmäßigen Gegebenheit gelangen. Eine gewisse Abschwächung dieses Begriffes und zugleich eine Erweiterung be-

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Wie man sieht, wird hier zum Begriff der Objektivität nicht das Moment gerechnet, daß das Objektive in seinem m a t e r i a l e n Wesen von dem „Psychischen", bzw. Bewußtseinsmäßigen verschieden sein soll. In der Bestimmung der radikalen Objektivität wird auch n i c h t erwähnt, ob dieses „objektiv" Bestehende wahrheitsgemäß e r k a n n t wird, bzw. werden muß, weil ich hier bloß den ontischen (gegenstandsgerichteten) Begriff der Objektivität bestimme und erst später den erkenntnistheoretischen Begriff der Objektivität klären will, wonach dann diese beiden Begriffe in Beziehung gesetzt werden sollen. Es gehört zugleich zum Wesen der so verstandenen Objektivität, daß das „objektiv" Bestehende in seinem Sein und Sosein derart gegeben ist, daß es n i c h t erkannt zu werden b r a u c h t , daß es - anders gesagt - unerkannt existieren kann und daß das Erkanntwerden es in seinem Bestand in gar keiner Weise bekräftigt. Es ist eine andere Sache, daß die Naturwissenschaftler6 - wie es scheint - oft geneigt sind (wenn auch mehr auf eine ungeklärte Weise), zu dem Begriff der Objektivität auch das Moment des wahrheitsgemäßen Erkanntwerdens hinzuzurechnen, weil man einer Gegenständlichkeit die Objektivität so lange nicht zuzuschreiben geneigt ist, bis man davon überzeugt ist, daß sie audi wahrheitsgemäß erkannt wurde. Dabei wird das Erkanntwerden nicht geklärt. (Man glaubt aber zu wissen, was dieses Erkanntwerden ist.) Auf die Frage nach der eventuellen Berechtigung, zu dem Begriff der ontischen Objektivität auch dieses letzte Moment hinzuzurechnen, komme ich zurück, sobald die „Objektivität" im erkenntnistheoretischen Sinne geklärt wird. Zunächst aber scheinen nodi einige Bemerkungen zu dem radikalen Begriff der ontischen Objektivität notwendig zu sein. Zuerst ist zu fragen, warum in diesem Begriff weder die materiale Bestimmtheit des „Nicht-Psychischen" (bzw. des Bewußtseinsmäßigen) noch die kategoriale Struktur desselben aufgezählt wird. Dies hat seinen Grund vor allem darin, daß auch das Fremd-Psychische, bzw. die Erlebnisse eines fremden (mir gegenüber zweiten) Subjekts, ein Seiendes an

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käme man, wenn man anstatt des Punktes f) nur eine hinreichende Seinsbedingung der Bestimmtheit in dem betreffenden Seienden u n d in einem Bestand anderer seinsautonomer Seienden, die selbst nicht zu den Erlebnissen des Betrachters gehören, forderte. Ich komme noch darauf zurück. - Es wird später nötig sein, noch weitere Momente zum Inhalt dieses Begriffes der „Objektivität" hinzuzufügen. Idi spreche hier nur von den Naturwissenschaftlern, es gilt aber in hohem Maße für alle Wissenschaftler überhaupt. Es ist nicht zu vergessen, daß die Auffassung der „Wissenschaft" und der „Wissenschaftlichkeit" in unserem Zeitalter unter dem Vorbild dessen gebildet wurde, was in der Naturwissenschaft geschieht und von ihren Vertretern allen anderen (positiven) Wissenschaften, und sogar audi der Philosophie, aufgezwungen wird.

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sich bilden und auch Objekte einer gültigen, wahrheitsgemäßen Erkenntnis werden können. Im Sinne der radikalen ontischen Objektivität sind sie dann „objektiv". Oder anders gesagt: die materiale Bestimmung des Psychischseins (bzw. des Bewußtseins) als solche schließt die radikale ontische Objektivität im Falle des Fremdpsychischen gar nicht aus. Dasselbe gilt auch für das „Eigenpsychische", bzw. für die eigenen Erlebnisse dès erkennenden Subjekts. Gibt man dies zu, dann erst eröffnet sich die weitere Frage, ob das Fremd- und das Eigenpsychische (Eigenbewußtsein) „objektiv" e r k a n n t werden kann und was dieses „ObjektivErkannt-Werden" eigentlich besagen soll. Es gibt Gegenständlichkeiten, bei denen es fraglich sein kann, ob man ihnen die radikale ontische Objektivität zuerkennen darf und bei denen es doch irgendwie unstatthaft wäre, sie aus diesem Grunde für „subjektiv" zu erklären. 7 Dazu gehören vor allem Gegenständlichkeiten, denen wir keine Seinsautonomie zuschreiben dürfen, obwohl sie in seinsautonomen Gegenständlichkeiten ihr Seinsfundament haben. Es sind Gegenständlichkeiten, wie etwa Kunstwerke, ästhetische Gegenstände, sozialrechtliche Gegenständlichkeiten oder auch eine bestimmte Universität, ein Staat und dergleichen mehr. Vielleicht gehören hierher auch alle Möglichkeiten, insbesondere „empirische" Möglichkeiten, d. h. Möglichkeiten, die sich aus bestimmten realen (in der Erfahrung gegebenen) Tatbeständen ergeben. Weiterhin kommen hier Gegenständlichkeiten in Betracht, von denen es nicht möglich ist zu behaupten, daß sie vom erkennenden Subjekt (vielleicht auch von den Erlebnissen) seinsunabhängig sind, sowie Gegenständlichkeiten, die in ihren Veränderungen von dem Erkenntnisverfahren (wenigstens in manchen Hinsichten) abhängig sind. Kunstwerke (Iiterarische Werke, Bilder, Musikwerke usw.) sind - wie ich anderenorts gezeigt zu haben glaube - seinsheteronom, so sehr sie auch in gewissen seinsautonomen Gegenständlichkeiten ihr Seinsfundament haben. Ihnen, bzw. ihren Bestimmtheiten, die ontische Objektivität im radikalen Sinne zuzuerkennen, wäre sicherlich unstatthaft. Ebenso unstatthaft aber wäre es, sie für „subjektiv" zu erklären. Denn abgesehen von dem erwähnten Moment der Seinsheteronomie scheinen sie die übrigen Bedingungen der radikalen Objektivität (oder mindestens einige 7

Es ist klar, daß auch das im ontischen Sinne „Subjektivsein" aufs neue und eventuell noch in verschiedenem Sinne zu bestimmen ist. Und es ist fraglich, ob die reine Verneinung der radikalen Objektivität eben damit zur „Subjektivität" in irgendeinem Sinne führt. So ist es ratsam, zuerst noch andere Begriffe des Objektivseins zu klären und erst dann zu den Begriffen des Subjektivseins überzugehen.

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von ihnen) zu erfüllen. Und es scheint auch, daß sie in einer im erkenntnistheoretischen Sinne „objektiven" Erkenntnisweise erkannt werden können. (Mehr darüber weiter unten.) Freilich erhebt sich da noch ein Bedenken. Kunstwerke können nicht bloß durch das physische (leibliche) Verhalten sowohl des Künstlers als auch des Betrachters verändert werden, indem das physische Seinsfundament einer Veränderung unterzogen wird, sondern auch durch bloßes erlebnismäßiges Entscheiden des Künstlers, während dies letztere bei den Gegenständen, die ontisch im radikalen Sinne „objektive" Bestimmtheiten haben, ausgeschlossen ist. Bei gewissen Kunstwerken (der Skulptur, Architektur), bei denen bestimmte Seiten des Kunstwerks (also abgesehen von dessen Unbestimmtheitsstellen) eindeutig festgelegt sind, ist die Veränderung des Kunstwerks nur unter einer gleichzeitigen, durch leibliches Verhalten des Künstlers oder des Betrachters hervorgebrachten Veränderung des physischen Fundaments möglich. Wie steht es aber in dieser Hinsicht ζ. B. mit literarischen oder musikalischen Werken? Soll hier das Werk selbst verändert und nicht bloß eine seiner Konkretisationen so oder anders gestaltet werden, so muß auch das physische Fundament geändert werden (also der Druck des Textes; manche würden auch sagen, der Text selbst, bzw. die „Noten", die Partitur). Das bloße erlebnismäßige sie iubeo des Künstlers oder des Betrachters scheint da nicht auszureichen. Indessen spielt der Druck, bzw. die Partitur im Vergleich mit der Rolle des Gemäldes oder des Gebäudes für die Bestimmung des Kunstwerks eine ganz andere Rolle. Während die realen Eigenschaften des Gemäldes (eines als makroskopisch anzusehenden Dinges) die Eigenschaften des Bildes eindeutig bestimmen, sind die Druckeigenschaften für die Konstituierung der Bestimmtheiten des literarischen Kunstwerks von viel untergeordneterer Bedeutung, indem da nicht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Druckgestalt und dem Wortlaut und weiterhin dem Wort- und Satzsinn besteht, sondern ein konventioneller, bzw. auch ein Gewohnheitsfaktor die wesentliche Rolle spielt. Infolgedessen ist es nicht ausgeschlossen, daß sogar bei Erhaltung der Bestimmtheiten des Druckes (der Notenschrift) eine rein bewußtseinsmäßige Entscheidung die Konvention ändern und somit auch die Bestimmtheiten des Kunstwerks selbst einer Wandlung unterziehen kann. Abgesehen aber davon, in welchem Maße der Künstler seine bewußtseinsmäßige Macht über sein Werk erhalten und es somit auch verwandeln kann, muß doch festgestellt werden, daß das einmal geschaffene und in seiner Vollendung einmal vom Künstler anerkannte, in seinem Sein gesetzte Kunstwerk den Wandlungen der sich auf es beziehen230

den Erlebnisse n i c h t unterliegen m u ß . Es ist, mit anderen Worten gesagt, möglich, sich dem Kunstwerk gegenüber bewußtseinsmäßig so behutsam zu verhalten, daß es in seinem eigenen Bestimmtsein belassen und damit audi - was von einem anderen Standpunkt aus wichtig ist! in seinem eigenen Wesen e r k a n n t werden kann. In diesem Sinne ist es oder kann es - wenigstens im Prinzip — von den Veränderungen der sich auf es beziehenden Erlebnisse unabhängig sein. All dies muß in der Bestimmung der on tischen Objektivität derartiger Gegenstände, wie es die Kunstwerke sind, berücksichtigt werden. Etwas Analoges gilt auch für die - wie ich mich ausdrückte - „sozial-rechtlichen" Gegenständlichkeiten. Ihre formalen Eigentümlichkeiten sowie ihre Seinsweise und ihre existentiale Beziehung zu realen Gegenständen, und zwar einerseits zu physischen Dingen und Prozessen, andererseits zu den Menschen und menschlichen Gemeinschaften, sind bis jetzt nicht hinreichend geklärt. Aber soviel darf vielleicht gesagt werden, daß derartige Gegenständlichkeiten, wie ζ. B. ein bestimmter Staat, die Jagelionische Universität in Krakau, die gegenwärtig geltende Verfassung des polnischen Staates und dergleichen mehr, alles Gegenständlichkeiten sind, denen man keine Seinsautonomie zuerkennen kann, so sehr sie auch in realen Gegenständen fundiert sein mögen und zu ihrer Gründung und ihrem Weiterbestehen eines intentionalen Beschlusses eines dazu b e f u g t e n Subjekts bedürfen - im allgemeinen einer Gemeinschaft, deren Natur und Seinsweise ebenfalls noch geklärt werden muß. Dieser Beschluß muß zwar nicht notwendig von einer menschlichen G e m e i n s c h a f t vollzogen werden, denn er kann ζ. B. auch durch ein Individuum, etwa einen Herrscher, erfolgen. Wesentlich ist es aber, daß nicht bloß das Beschlußsubjekt zu einer solchen Gründung b e f u g t sein muß, sondern daß auch dieser Beschluß selbst und ihr Vollzieher nicht einfach gewisse Realitäten sind, sondern einen besonderen, aus ihrer sozialen Funktion sich ergebenden materialen Charakter 8 und damit auch eine besondere Seinsweise haben müssen. Sobald so ein Beschluß vollzogen und das von dem Wesen der betreffenden Gegenständlichkeit geforderte Seinsfundament geschaffen wird, besteht diese Gegenständlichkeit, solange sie durch ein anderes, ebenfalls dazu befugtes Subjekt nicht auf legale Weise aufgehoben wird. Und zwar besteht sie dann ungeachtet dessen, ob und wie verschiedene sich darauf beziehende Erlebnisse beliebiger Menschen mit vollzogen werden, ob man ζ. B. sich ihr gegenüber 8

Es ist nicht einfach ein bestimmter Mensch, Herr „Soundso", sondern ζ. B. ein auf legale Weise ernannter und fungierender Minister oder das „Parlament" eines Staates, und nicht eine bestimmte Menge von Menschen.

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gefühlsmäßig positiv oder negativ verhält, ob sie gegebenenfalls einem Erkennen unterworfen wird oder nicht. Es soll hier nicht erwogen werden, in welchem Sinne ζ. B. ein Rechtssystem oder eine öffentliche Institution, etwa eine Universität, zu ihrem effektivem Bestand eines entsprechenden physischen Seinsfundaments bedarf; 9 dies kann in verschiedenen Fällen ganz verschieden sein. Momentan ist es nur wichtig, daß eine derartige Gegenständlichkeit zwar seinsheteronom ist und damit sowohl in Hinblick auf den Gründungsakt wie auch auf den Auflösungsakt eines dazu befugten Subjekts seinsrelativ ist; daß sie aber zwischen dem Gründungs- und dem Auflösungsakt nicht bloß besteht, sondern auch in ihrem Beschaffensein von den Wandlungen sehr verschiedener sich auf sie beziehender Erlebnisse unabhängig ist und damit auch eine gewisse Seinsunabhängigkeit von diesen Erlebnissen bewahrt. Und dies vielleicht in einem höheren Grade, als es bei den Kunstwerken der Fall ist. Bei all dem sind die Beschaffenheiten solcher Gegenständlichkeiten nicht „objektiv" im radikalen Sinne. Soll man sie deswegen schon für „subjektiv" erklären? Dies scheint irgendwie ungerecht und falsch zu sein - wenigstens bei den verschiedenen noch ungeklärten, aber sich im Umlauf befindenden Bedeutungen des „Subjektivseins". Wie steht es aber mit den „realen" oder „empirischen" Möglichkeiten? Es gibt in einem bestimmten Zeitmoment einen realen Tatbestand (ζ. B. eine Mannigfaltigkeit von realen Dingen, ihren Zuständen und den sich zwischen ihnen vollziehenden Vorgängen). Dieser Tatbestand bestimmt eine Möglichkeit, z . B . die eines künftigen Zustandes eines zu dieser Mannigfaltigkeit gehörenden Dinges, oder läßt verschiedene solche Möglichkeiten zu, während andere zukünftige Zustände dieses Dinges derzeit durch diesen Tatbestand ausgeschlossen sind. Diese Möglichkeit b e s t e h t (wie man sagt) „objektiv", sie hat ihren Grund ausschließlich in dem in der Welt in einem Moment bestehenden Tatbestand, zu dem aber die sie betreffenden Erkenntnisakte nicht gehören. Sie kann auch auf Grund der Kenntnis dieses Tatbestandes vorausgesehen und genau berechnet werden. Sie braucht aber zu ihrem Bestehen diese Vorausberechnung nicht, sie wird dadurch weder hervorgerufen noch in ihrem Bestehen irgendwie beeinflußt, und dadurch k a n n sie auch nicht beeinflußt werden. Sie ist also in ihrem Sein und in ihrem Gehalt von den sich auf sie beziehenden Erkenntniserlebnissen oder auch von an9

Es kann z . B . passieren, daß durdi eine Katastrophe alle Universitätsgebäude zerstört und alle Professoren, Studenten und Beamten der Universität getötet werden; die Universität aber besteht weiter: sie braucht nadi der Katastrophe nicht neu „gegründet" zu werden.

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dersartigen Erlebnissen unabhängig, sofern diese Erlebnisse den sie bestimmenden realen Tatbestand nicht beeinflussen.10 Sie hat dabei - wenn man so sagen darf - eine eigene Weise der Verwandlung, welche in zwei verschiedenen Richtungen sich vollziehen kann. Eine Möglichkeit kann entweder durch eine Modifikation ihres materialen Gehalts (also dessen, w a s da in einem bestimmten Zeitmoment „möglich" ist) oder aber in dem G r a d des Möglichseins selbst verändert werden. In beiden ist sie von den in der Welt bestehenden aktuellen Tatbeständen, die sie bestimmen, abhängig. Diese Tatbestände können sich so ändern, daß ζ. B. ein bestimmter zukünftiger Tatbestand sozusagen möglicher wird, als er es in einem früheren Moment war. Er kann sich auch in einigen seiner Züge anders gestalten, als dies früher möglich gewesen ist. 11 In einem Moment verwandelt sich die Möglichkeit - wenn es erlaubt ist, es so zu sagen — in einen a k t u e l l e n Bestand. So scheinen die realen Möglichkeiten ebenso „objektiv" zu sein wie die in der realen Welt aktuell bestehenden Tatbestände. Man darf aber nicht sagen, daß sie seinsautonom sind oder daß sie seinsautonom an den aktuellen, realen Tatbeständen „haften". Es scheint somit notwendig zu sein, den Begriff der ontischen „Objektivität" im radikalen Sinne für diese Fälle durch einen anderen Begriff der „Objektivität" zu ersetzen, da es doch unzulässig wäre, die Möglichkeiten in der realen Welt für „subjektiv" zu erklären. Wir werden bald versuchen, diesen neuen Begriff zu bestimmen. Augenblicklich sind aber noch andere Fälle in Erwägung zu ziehen, 10

Dies muß nidit so sein, wenn dieser Tatbestand gewisse fremdpsychische oder auch eigenpsychische Bestände enthält. Die Voraussicht der Möglichkeiten, die sidi in unserem eigenen psychischen Sein andeuten, kann den Ausgangsbestand in unserer eigenen Seele verändern und mittelbar audi eine Änderung der sich andeutenden Möglichkeiten hervorrufen. Dies ist aber keine direkte Beeinflussung der Möglichkeit durch die sie erfassenden Erlebnisakte.

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Es ist ein besonderes Problem, ob bei dieser Wandlung nicht einfach eine völlig a n d e r e Möglichkeit an die Stelle der vor einiger Zeit bestehenden tritt oder ob nur eine Modifikation der bereits bestehenden Möglichkeit statthat. Wir können diese Frage hier nicht behandeln. Vielleicht kann dies auch in verschiedenen Fällen verschieden sein. Momentan ist für uns nur wichtig, daß diese im Bereich der realen, empirisch feststellbaren Möglichkeiten stattfindenden Wandlungen nicht von den sich auf sie beziehenden Erkenntnisakten, sondern ausschließlich von dem, was sonst in der Welt stattfindet, abhängig sind. - Gegen diese Bestimmung könnte eingewendet werden, daß nicht alle der gegebenen Bestimmtheiten angegeben werden müssen, da einige von ihnen sich aus den anderen ergeben. Aus der Seinsautonomie scheint die Seinsunabhängigkeit von den Erlebnissen zu folgen. Indessen soll dies nicht ohne weiteres angenommen werden. Und auch dann, wenn es der Fall wäre, ist es nützlich, auf alle hier angegebenen Bestimmtheiten hinzuweisen, weil sie als Kriterien in einzelnen Fällen benutzt werden können.

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die uns zu einem analogen Ergebnis führen werden. Sie sind mit den Entdeckungen der modernen Mikrophysik verbunden und haben sogar zu dem Vorschlag geführt, die Beziehung zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Es sind die Konsequenzen der Einführung des Quantenbegriffs in die Mikrophysik. Insbesondere handelt es sich um den Umstand, daß man - um den Verlauf eines Vorganges auf dem Niveau der Atome, bzw. der Elementarteilchen zu beobachten - diesen Vorgang beleuchten, d. h. auf dieses Objekt einen Strom von Photonen werfen muß, wodurch der zu beobachtende Vorgang in seinem Verlauf gestört wird. Dasjenige also, was in dem beleuchteten Gesichtsfeld gegeben ist, ist nicht der betreffende Vorgang, wie er sich an sich, ohne beleuchtet zu sein, vollzogen hat, sondern wie er sich unter dem Einfluß des einfallenden Photonenstroms abspielt. Analog benutzt man zur Beobachtung sehr kleiner Objekte (ζ. B. in der Biologie) das Elektronenmikroskop. Man wirft auf dieses Objekt einen Strom von Elektronenstrahlen, der das bestrahlte Objekt (ζ. B. eine lebende Zelle) in seinen Eigenschaften verändert (die Zelle etwa abtötet) ; dann aber muß man das Ergebnis der Bestrahlung photographisch sichtbar machen, wonach man im Grunde nur einen Schatten des aufs neue alterierten Objekts bekommt usw. Daß die Versuchsapparate, unter anderem die Meßinstrumente, das gemessene, bzw. beobachtete, dem Versuch unterworfene Objekt in seinem Zustand alterieren, war übrigens längst bekannt und audi in den Berechnungen des Versuchsergebnisses immer berücksichtigt. Solange es sich aber um relativ große Objekte und Wirkungen in der Makrophysik handelte, konnten diese Berechnungen ohne größere Schwierigkeit durchgeführt werden. Sobald es sich aber um Vorgänge und Gegenständlichkeiten in der Mikrophysik handelt, wo unter anderem das Energiequantum mit in Frage kommt, kann man die durch den Versuchsapparat und das Meßinstrument bewirkten Störungen in dem eigenen Verlauf des untersuchten Vorgangs wegen der Unschärferelation H e i s e n b e r g s nicht mehr genau berechnen. Man kann also nicht wissen, wie der betreffende Vorgang verliefe und wie die an ihm beteiligten Körperchen in sich selbst wären, wenn sie nicht beobachtet, bzw. gemessen würden. Und in dieser Situation sagt man: die Idee des Objekts, bzw. der ontischen Objektivität seiner Bestimmtheiten, wie sie an sich selbst sind, ohne durch den Erkennensvorgang alteriert zu werden, müsse fallengelassen werden, die scharfe Scheidung zwischen Objekt und Subjekt - die die Voraussetzung der radikalen ontischen Objektivität bildet sei unhaltbar. Vom Standpunkt unserer Betrachtungsart aus müssen wir 234

dann sagen: die radikale ontische Objektivität ist - mindestens auf dem Gebiet der Mikrophysik - ein zu weit gehendes Postulat, vielleicht eine Fiktion; eine bis zu dieser Objektivität vordringende Wissenschaft-mindestens auf bestimmten Gebieten - ist nicht realisierbar. Das erkennende Subjekt - der reale Mensch, aber mit ihm auch alle Erkenntniswerkzeuge, derer er sich bedient - darf nicht in einer absoluten Isolierung gegenüber dem Objekt, das es erkennt, genommen werden. Man muß den zu erkennenden Gegenstand immer nur als Glied eines Gegenstandssystems nehmen, zu welchem sowohl die diesen Gegenstand umgebenden anderen Gegenstände (Dinge, Vorgänge) als auch der erkennende Mensch mit den von ihm benutzten Organen und Werkzeugen gehören. Es ist eine Illusion, ein Vorurteil, wenn man glaubt, daß beim konkret durchgeführten Erkennen bloß die reinen Erlebnisse in Gang gebracht würden, welche den zu erkennenden Gegenstand selbst in seiner ontischen (radikalen) Objektivität prinzipiell nicht beeinflussen können. Auch die Auffassung, daß, wenn es einmal scheint, es käme zu einer solchen Beeinflussung, dieselbe jedenfalls keine wirkliche, „reale" Beeinflussung sein könne und nur in einem Schein bestehe, ist - wie es scheint falsch. Denn erstens kann sich der erkennende Mensch seines Leibes und insbesondere seiner Sinnesorgane nicht entledigen. Und zweitens ist es eine zwar sehr alte, aber dennoch nicht begründete Auffassung, welche die reinen Erlebnisse sozusagen aus dem Kausalsystem der realen Welt herausnimmt und den sogenannten „psycho-physischen Parallelismus" statuiert. Wenn aber die reinen Erlebnisse ein Glied in dem gesamten einheitlichen System des Menschen (des psycho-physischen Individuums) bilden und zwischen dem Leib und den Erlebnissen eine gegenseitige kausale Beeinflussung besteht, dann gehören diese Erlebnisse (ζ. B. das Beobachten der Meßapparate) zu dem Umgebungssystem des beobachteten Gegenstandes (des Dinges, des Vorganges usw.). Dieser Gegenstand kann dann Bestimmtheiten doppelter Art besitzen: erstens solche, die in ihm selbst ihre hinreichende Bedingung ihres Zukommens haben, und zweitens solche, die nur eine nicht hinreichende Bedingung in diesem Gegenstand finden. Sobald sie ihm aber wirklich zukommen, muß es doch die hinreichende Bedingung ihres Zukommens geben, und zwar in dem ganzen System der miteinander kausal verbundenen Gegenständlichkeiten, zu welchem auch der beobachtende und messende Mensch mit seinen Erlebnissen und Apparaten (bzw. Organen) gehört. In diesem System b e s t e h t dann jene gemessene Bestimmtheit „objektiv", wenn auch nicht im radikalen Sinne. Man müßte also einen solchen Begriff der ontischen Objektivität bilden, der zu dieser Situation paßte. 235

Bevor ich dazu übergehe, die Bildung eines ontischen Objektivitätsbegriffs aufzuzeigen, muß ich noch gewisse Komplikationen der Problemsituation berücksichtigen. Die erste von ihnen stammt daher, daß es fraglich ist, wie weit die Grenzen des Systems liegen, innerhalb dessen sich die hinreichende Bedingung der „objektiv" bestehenden Bestimmtheit eines realen Gegenstandes auf verschiedene Gegenständlichkeiten verteilt. Hat dieses System überhaupt bestimmbare endliche Grenzen oder erstreckt es sich auf die gesamte reale Welt? Oder anders gesagt: ist die Relativität der Bedingtheit einer gegenständlichen Bestimmtheit innerhalb einer Welt auf ein endliches, begrenztes System beschränkt oder reicht sie ins Unendliche, so daß die im Gegenstand nicht hinreichend bedingten Bestimmtheiten die Ergänzungsbedürftigkeit ihres Bedingtseins erst im Unendlichen der Welt stillen können? Im letzteren Fall wäre es mindestens praktisch nicht möglich, audi die modifizierte abgeschwächte Objektivität gewisser gegenständlicher Bestimmtheiten der in der Welt auftretenden Gegenständlichkeiten zu erweisen, bzw. müßte man den Begriff der ontischen Objektivität aufs neue dieser Problemsituation anpassen.12 Die zweite Problemkomplikation ist damit verbunden, daß jedwede in der realen Welt sich befindende Gegenständlichkeit sich in der Zeit befindet und im Grunde nur dann faßbar ist, wenn sie hinreichend lange d a u e r t . Sie sowie alle ihre Bestimmtheiten existieren aktuell nur im Rahmen der jeweiligen Gegenwart. All unser Bestreben bei der Feststellung des „objektiv" Bestehenden geht darauf hinaus, das in der betreffenden Gegenwart Existierende zu erfassen. Indessen dauert auch alles Erkennen (Beobachten, Messen, Denken usw.) eine Zeitlang, besonders wenn es sich im sinnlichen Wahrnehmen vollzieht oder mindestens in ihm seinen Anfang nimmt. Ehe es sich vollzieht und in einem Erkenntnisergebnis zum Abschluß gelangt, ist das zu Erkennende bereits vergangen. Wir verspäten uns mit unserem Erkennen immer ein wenig und 12

Wie es damit steht, ist hier nicht zu entscheiden, weil die Entscheidung darüber letzten Endes von dem Wesen des Kausalzusammenhangs und in der Folge auch der kausalen Struktur der realen W e l t abhängt, Probleme, die eine umfangreiche Untersuchung erfordern, welche in der vorliegenden, das Kausalproblem betreffenden Literatur kaum aufgegriffen worden sind (vgl. C . J . D u c a s s e). Idi habe in den Jahren 1 9 5 0 - 1 9 5 4 diesem Problemkomplex einen Band gewidmet und audi in verschiedenen Vorträgen bei uns und im Ausland einige Ergebnisse davon bekanntgegeben, der B a n d selbst aber - der eine Fortsetzung des Buches „ D e r Streit um die Existenz der W e l t " bildet - ist bis jetzt noch nicht publiziert worden. D a z u gehört auch die Unterscheidung verschiedener Eigensdiaftstypen des G e genstandes, die in dem „ S t r e i t " durchgeführt wurde.

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sind nur imstande, das zu erfassen, was bereits zur Vergangenheit gehört. Natürlich sind wir im Erkennen auch daran interessiert, was erst in der Zukunft kommen wird. Um es aber irgendwie vorauszusehen und eventuell zu berechnen, müssen wir von Anfang an auf das jeweilig Gegenwärtige eingestellt sein, da das Gegenwärtige eben den Grund für das in der Zukunft Kommende bildet. Dieses Gegenwärtige gehört aber, sobald wir es erkannt haben, bereits zur Vergangenheit. Audi wenn wir nur gewisse Möglichkeiten im voraus zu erfassen suchen, sind wir auf das Zukünftige eingestellt und streben danach, sie auf Grund der Gegenwart, die uns entgleitet, vorauszusehen. Tatsächlich vermögen wir also das Zukünftige, bzw. das in der Zukunft nur Mögliche, nur auf Grund einer Vergangenheit zu erkennen. Und zwar sind wir dabei immer darauf eingestellt, sowohl das Vergangene als auch das Gegenwärtige, das uns beständig entgleitet, als endlich das Zukünftige, bzw. das zukünftig Mögliche, wie es an sich „objektiv" besteht, zu erfassen. In dem Begriff der radikalen Objektivität ist aber die Zeit, und insbesondere das Zeitlichsein des „Objektiven", bzw. die Objektivität des Zeitlichseienden, überhaupt nicht berücksichtigt, so als ob das on tisch „Objektive" entweder überhaupt außerzeitlich wäre (wie es die idealen Gegenständlichkeiten sind) oder als ob es nur in einer unwandelbaren und unvergänglichen Gegenwart bestünde. Es hat den Anschein, als ob hinter dem Begriff der ontischen radikalen Objektivität der Begriff des unwandelbaren, vielleicht sogar zeitlosen Seins im Sinne etwa eines P a r m e n i d e s verborgen sei. Sofern sich der Begriff der Objektivität auf das reale, zeitliche, vergängliche Sein beziehen soll, muß man ihn so umgestalten, daß er die Wandelbarkeit des Seienden in der Zeit berücksichtigt. Dies hat aber seine Schwierigkeiten. Es genügt nicht, das Zeitmoment in die Bestimmung der ontischen Objektivität einfach einzuführen. Denn es fragt sich, ob man von dem Vergangenen überhaupt als von etwas „Objektivem" sprechen darf. Diese Frage, mit der ich mich noch beschäftigen werde, ist von allergrößter Bedeutung für die gesamte Geschichtswissenschaft, aber - wie die obigen Bemerkungen bezeugen nicht bloß für sie. Denn auch die Naturwissenschaft muß damit rechnen, daß sie eigentlich von etwas spricht, was zur Vergangenheit gehört. Am krassesten ist dies ζ. B. in der Astronomie, wo man ein Bild des Weltalls entwirft, das zum größten Teil bereits seit Millionen Jahren nicht mehr besteht, wo man die Sternenwelt sozusagen auf unsere jeweilige Gegenwart projiziert, so als ob alle Sternensysteme gleichzeitig existierten, obwohl das meiste von ihnen entweder überhaupt nicht mehr existiert 237

oder sich auf eine für uns gegenwärtig unzugängliche Weise verändert hat. Die Astronomie und insbesondere die Kosmologie und Kosmogonie hat mit der Geschichtswissenschaft das gemeinsam, daß sie den e i n m a l i g e n Zustand der Welt in individuo zu fassen sucht und dabei aus dem (anscheinend) gegenwärtigen Zustand der Welt ihre Entstehungsund Entwicklungsgeschichte in ihrer Einmaligkeit zu rekonstruieren, bzw. zu entziffern sucht. Nicht anders ist es auch mit der Geologie. In der Physik scheint dies etwas anders zu sein, weil sie, ebenso wie z. B. die Chemie, a l l g e m e i n e Gesetze zu entdecken bestrebt ist, nach welchen die individuellen physikalischen, in der Zeit sich entfaltenden Vorgänge sich abspielen. Das ist daran ersichtlich, daß das Zeitmoment als eine Veränderliche in die Gesetzformel eingeht. Aber andererseits weist das Weglassen einer Datumsveränderlichen darauf hin, daß die in der Gesetzformel angegebene Regelmäßigkeit nicht bloß für die sich gegenwärtig abspielenden Vorgänge, sondern auch für die in der Vergangenheit bereits vollzogenen als auch für diejenigen, die erst in der Zukunft sich vollziehen werden, ihre Geltung bewahren soll. Damit umspannt das Gesetz sowohl das Vergangene als audi das Zukünftige und behandelt es auf ganz dieselbe Weise wie das in der Gegenwart sich Vollziehende. Die Gegenwart, bzw. das Gegenwärtige hat dann sozusagen gar keinen Vorrang im Verhältnis zu dem Vergangenen und dem Zukünftigen; es scheint in ganz demselben Sinne „objektiv" zu sein. Nun, da liegt eben der Punkt, bei welchem sich der Zweifel regt, ob dies berechtigt sei. Denn wenn die Zeit sozusagen mehr ist als das, was K a n t aus ihr machen wollte, d.h. eine bloße „Anschauungsform", die in der Wirklichkeit an sich überhaupt nicht vorhanden ist, wenn sie zu der Seinsweise des Realen wesenhaft gehört, dann muß man zugeben, daß in der Seinsweise zwischen dem Gegenwärtigen, dem Vergangenen und dem Zukünftigen ein unüberbrückbarer Wesensunterschied besteht. Und da taucht die Frage auf, die wir schon gestellt haben: ist das Vergangene im gleichen Sinne „objektiv" wie das Gegenwärtige? Und dasselbe betrifft das Zukünftige. Von der Physik oder von der Chemie aus sieht man das Bestehen dieses Problems nicht. Aber das beweist nur, daß diese auf das Allgemeine, auf wiederholbare Regelmäßigkeiten eingestellten Wissenschaften vom Realen doch dieses Reale in seinem individuellen Sein nicht zu erfassen vermögen, ebensowenig übrigens wie eine auf allgemeine Gesetzlichkeiten eingestellte Psychologie oder Soziologie. Obwohl es hier schon kaum möglich ist, die Zeitlichkeit des Psychischen, des personhaften Seienden so zu eliminieren, wie dies in der Physik der Fall ist. 238

Die Entscheidung der Frage, ob man tatsächlich genötigt ist, einen anderen Begriff des „Objektivseins" für das Vergangene und für das Zukünftige zu bestimmen, kann natürlich erst auf Grund einer befriedigenden Analyse des Zeitlichseins gegeben werden, was wir hier nicht tun können. Ich persönlich bin geneigt, 13 das Vergangene f ü r seinsautonom zu halten, mit dem Unterschied von dem Gegenwärtigen, daß es nicht mehr aktuell ist, wobei die Aktualität ein besonderes existentiales Moment ist, das für das Gegenwartsreale charakteristisch und wesentlich ist. Zugleich ist f ü r das Vergangene die so von mir genannte „Postaktualität" oder mit anderen Worten die von dem Gegenwärtigen stammende rückwärtige Seinsabgeleitetheit charakteristisch. Beides kann uns dazu bewegen, den Begriff der radikalen Objektivität ensprechend umzuformen, wenn die Bestimmtheiten des Vergangenen noch in irgendwelchem Sinne für „objektiv" gehalten werden sollen. Es ist aber nicht zu vergessen, daß der Seinscharakter des Vergangenen strittig ist und daß es eine Zeitauffassung gibt, nach welcher nur das Gegenwärtige wirklich besteht, während das Vergangene und das Zukünftige eigentlich gar nicht existiert. Dann wäre die Rede von der „Objektivität" des Vergangenen und dessen Bestimmtheiten überhaupt sinnlos. Bezüglich des Zukünftigen, oder mindestens bezüglich des bloß real Möglichen,14 kann sogar mit Recht bezweifelt werden, ob es seinsautonom ist oder ob es im Gegenteil nicht im echten Sinne seinsheteronom ist, mit dem alleinigen Unterschied im Vergleich mit dem rein intentionalen Seienden, daß es seinen Seinsgrund nicht in den Intentionen gewisser Bewußtseinsakte, sondern in einem Bestand realer, in einer bestimmten Gegenwart vorhandener Gegenstände und der in ihnen bestehenden Sachverhalte (bzw. Vorgänge) besitzt. Audi in einer anderen Hinsicht scheint sich das Zukünftige von dem Vergangenen und von dem Gegenwärtigen zu unterscheiden. Das Zukünftige, oder mindestens das in der Zukunft real Mögliche, scheint noch nicht eindeutig festgelegt, entschieden zu sein. Es ist mit Rücksicht auf das in der jeweiligen Gegenwart Vorhandene immer noch in seinem e v e n t u e l l e n Eintreten auch von den zukünftigen Gegenwarten, die auf die in Betracht gezogene Gegenwart folgen, aber zugleich nodi vor dem erwogenen Zukünftigen eintreten werden, seinsabhängig. Und da diese noch kommenden Gegenwarten noch nicht festgelegt und eingetreten sind, so ist auch das erwogene Zukünftige, „jetzt" 13

V g l . dazu R . I n g a r d e n , V und § 3 3 .

14

Jedes Zukünftige muß einmal real möglich sein, aber nidit alles real Mögliche ist zukünftig, d. h., daß es nicht notwendig in der Z u k u n f t stattfinden muß.

„ D e r Streit um die Existenz der W e l t " , B d . I . Kapitel

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nur real Mögliche, noch nicht endgültig festgelegt, nicht zu einer eindeutig bestimmten Tatsache geworden. Bei aller sicheren Vorbestimmung bleibt es noch immer „in der Schwebe". Populär ausgedrückt ist das letzte Wort, das über sein Eintreten entscheidet, nodi immer nicht gefallen. Dagegen ist bei dem Vergangenen immer alles bereits entschieden. Einmal in einer Gegenwart zur Tatsache geworden, ist es in seinem Sein und auch in seinem Beschaffensein eindeutig festgelegt, so sehr auch sein Wesen oder audi seine Bedeutsamkeit im Verlauf der Geschehnisse nodi verhüllt sein mag und erst durch spätere Gegenwarten zur Enthüllung gebracht werden kann. Das ist aber auch ein Umstand, der für die „Objektivität" der Bestimmtheiten des Vergangenen von Bedeutung sein kann. Die Eindeutigkeit der Bestimmung des Seienden und die Entschiedenheit und Einmaligkeit seines Seins scheint auch zum Wesen der „Objektivität" im radikalen ontischen Sinne implicite zu gehören, was aber - soweit es sich um das zeitliche reale Sein handelt - nur das Gegenwärtige (und vielleicht auch das Vergangene) charakterisiert, während es das Zukünftige bei seinem Charakter des „In-der-Schwebe-gelassen-Seins" nicht auszeichnet. Solange es noch Zukünftiges ist, kann es nodi immer „anders werden", sofern es als Zukünftiges und nicht als ein in einer erst kommenden Gegenwart zur Tatsache Gewordenes betrachtet wird. Und da scheint sich die Problemsachlage noch einmal zu komplizieren. Die Vertreter des Determinismus im Sinne von L a p l a c e werden nämlich gegen die soeben ausgesprochene Behauptung entschieden protestieren, da nach L a p l a c e a l l e s Zukünftige mit eben derselben Notwendigkeit eindeutig bestimmt und im vorhinein entschieden ist, gerade so wie das Gegenwärtige und das Vergangene.15 Andererseits aber haben eben die Erwägungen über die Weise der Vorbestimmung des Zukünftigen durch das Gegenwärtige sowohl im Mittelalter als auch in der modernen Logistik zu der Einführung der dreiwertigen Logik geführt, 16 was natürlich auch zu einer Modifizierung des L a p l a c e sehen Determinismus führen muß. Diese Konsequenz wurde aber von den Vertretern der modernen Logik nicht gezogen. Was aber den Standpunkt von L a p l a c e betrifft, so gilt sein Satz nur insofern, als man zugibt, daß die reale Welt ein e i n h e i t l i c h e s System der kausalen Zusammenhänge 15

18

M a n kann sagen, bei L a p l a c e gibt es audi keine echte Zeit als Seinsweise. Alles ist so bestimmt wie das Gegenwärtige. Die radikale Objektivität ist bei ihm auf alle realen Gegenständlichkeiten ungeachtet ihrer Zeitlichkeit anwendbar. W a s das Mittelalter betrifft, hat dies C . M i c h a l s k i in der Abhandlung „ L e problème de la volonté à O x f o r d et à Paris au X I V siècle". In: Studia Philosophica. V o l . II. Leopoli 1 9 3 7 , gezeigt. Bezüglich der modernen dreiwertigen Logik gab J . L u k a s i e v i c z bemerkenswerte Informationen.

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bildet. Die Entscheidung darüber, ob diese Auffassung stichhaltig ist, hängt von der Auffassung der kausalen Beziehungen selbst ab. Dieses Problem können w i r aber hier nicht behandeln. Es genügt hier festzustellen, daß diese ganze Angelegenheit sehr problematisch ist. Wir müssen aber mindestens damit rechnen, daß es möglicherweise notwendig ist, einen besonderen Begriff der Objektivität für das real Mögliche und das Zukünftige einzuführen, um den Unterschieden in der Seinsweise der zeitlich bestimmten Wirklichkeit gerecht zu werden. D e r Begriff der radikalen Objektivität müßte dabei bloß auf das gegenwärtige Reale eingeschränkt werden. Sein Gehalt muß aber durch das Moment der eindeutigen Bestimmung und Entschiedenheit des Seins des zur Tatsache Gewordenen ergänzt werden. Versuchen wir jetzt, aus diesen Bemerkungen die Konsequenzen zu ziehen und den Begriff der ontischen Objektivität zu differenzieren. Es lassen sich folgende Begriffe dieser Objektivität unterscheiden:

I. D i e r a d i k a l e o n t i s c h e O b j e k t i v i t ä t zeichnet sich durch folgende Momente aus: ι . die Seinsautonomie des Subjektsgegenstandes 17 mit seinen Bestimmtheiten zusammengenommen, 2. die Seinsautonomie der Bestimmtheit, welche „objektiv" sein soll, 3. effektive Seinsstelle der Bestimmtheit in ihrem Subjektsgegenstand, 4. Erscheinungsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand, falls sie überhaupt zur Erscheinung gebracht werden kann, 5. die Seinsunabhängigkeit der Bestimmtheit von a l l e n Erlebnissen des menschlichen Subjekts, die mit dem betreffenden Gegenstand und der Bestimmtheit irgendwie in Beziehung stehen, 6. die Unempfindlichkeit der Bestimmtheit gegenüber Wandlungen aller Erlebnisse des menschlichen Subjekts, die mit dem Subjektsgegenstand in irgendeiner Beziehung stehen, 7. hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit in dem Subjektsgegenstand selbst, 8. eindeutige Festlegung des Seins der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes, 9. Eindeutigkeit des Beschaffenseins des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit, 17

So nenne ich den Gegenstand, dem die Bestimmtheit zukommen soll, deren O b jektivität in Frage steht.

241

io. Einzigkeit 1 8 des Subjektsgegenstandes mit der ihm zukommenden Bestimmtheit zusammengenommen. Die radikale Objektivität liegt a) bei außerzeitlichen Gegenständlichkeiten, b) bei Gegenständen, die z w a r in der Zeit existieren, aber bloß in ihrem Gegenwartsein genommen werden, und c) die zugleich isoliert sind oder mindestens als isoliert betrachtet werden, oder wenn dies nicht der Fall ist, nur bezüglich ihrer unbedingt eigenen Eigenschaften 19 vor. Außerhalb dieses möglichen Anwendungsbereiches des Begriffes der radikalen Objektivität gelten andere Begriffe der ontischen Objektivität, denn es wäre unzweckmäßig und auch falsch, außerhalb dieses Bereiches schon überall von einer „Subjektivität" zu sprechen. Das Gebiet der „Subjektivität" scheint viel enger zu sein. II. D i e a b g e s c h w ä c h t e o n t i s c h e O b j e k t i v i t ä t unterscheidet sich von der radikalen ontischen Objektivität nur dadurch, daß an Stelle des Punktes 7 zwei Punkte: 7a) und 7b) eingesetzt werden müssen, und z w a r : 7a) unzureichende Bedingtheit der Bestimmtheit durch den Subjektsgegenstand selbst, 7b) hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit in einem System der Seinszusammenhänge, zu dem der Subjektsgegenstand der Bestimmtheit gehört, wobei aber der erkennende Mensch zu diesem System nicht gehört. III. D i e a n d e n e r k e n n e n d e n M e n s c h e n r e l a t i v i e r t e a b g e s c h w ä c h t e o n t i s c h e O b j e k t i v i t ä t unterscheidet sich von der abgeschwächten ontischen Objektivität (II) nur dadurch, daß an Stelle des Punktes 7b) der Punkt 7c) eingesetzt wird, und z w a r : 7c) hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit in einem System von Seinszusammenhängen von Gegenständlichkeiten, zu welchem auch der erkennende Mensch (mit allen seinen leiblichen und psychischen Zuständlichkeiten, b z w . Erlebnissen) gehört. Der Begriff der abgeschwächten ontischen Objektivität paßt auf diejenigen Gegenständlichkeiten, welche reale Glieder der realen Welt sind und als solche neben den unbedingt eigenen Eigenschaften auch a) erwor18

19

Anders gesagt: die schlechthinnige Individualität, bei welcher der Gegenstand keinen „Doppelgänger" hat. Die verschiedenen T y p e n der Bestimmtheiten der nicht isolierten in der Zeit seienden individuellen Gegenstände habe ich in meinem Buch „ D e r Streit um die Existenz der W e l t " , Bd. II/i, § J7, unterschieden.

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bene Eigenschaften sowie b) äußerlich bedingte Eigenschaften besitzen. Diese beiden letzteren haben in dem Gegenstand, dem sie zukommen, keine hinreichende Fundierung. 20 Nichtsdestoweniger sind sie reale und effektive Bestimmtheiten dieses Gegenstandes, sofern sich nur in seiner Umwelt und in seinem Aktionsradius Gegenständlichkeiten befinden, welche die Ergänzung ihrer Bedingtheit zur hinreichenden Bedingung liefern. Die auf diese Weise hinreichend bedingten Bestimmtheiten eines Gegenstandes sind eben im abgeschwächten Sinne ontisch objektiv. Dagegen trifft die radikale Objektivität auf die unbedingt eigenen Eigenschaften der realen Gegenstände zu. Sie aber für die erworbenen und die äußerlich bedingten Eigenschaften des Gegenstandes zu fordern wäre unzulässig, weil die Form und die existentiale Eigenheit dieser Eigenschaften die Realisierung einer solchen Objektivität ausschließt und nur die abgeschwächte ontische Objektivität ermöglicht. Auch die relativen Merkmale des Gegenstandes (im strengen, engen Sinne) sind im abgeschwächten Sinne ontisch objektiv, natürlich aber nur als korrelative Exponenten eines bestehenden Verhältnisses zwischen dem Gegenstand, dem sie zukommen, und dem übrigen Glied dieses Verhältnisses.21 In welchem Umfang der Begriff der auf den erkennenden Menschen relativierten abgeschwächten ontischen Objektivität (III) angewendet werden darf, erforderte noch nähere Erwägungen, die hier nicht durchgeführt werden können. Es ist hier nur vor einer vorschnellen, nicht durchdachten Entscheidung zu warnen, die in der Behauptung liegen würde, daß es in j e d e m Fall des menschlichen Erkennens eines b e l i e b i g e n realen Gegenstandes infolge dieses Erkennens zu einer Wandlung des zu erkennenden Gegenstandes komme, so daß a l l e seine Eigenschaften durch dieses Erkennen erworben, bzw. äußerlich bedingt seien. Sollte dies zutreffen, dann könnte gar kein Erkennen eines solchen Gegenstandes ihn in seinen Bestimmtheiten zeigen, die er sozusagen außerhalb des Erkennens und in diesem Sinne „an sich" besitzt. Das ist eben der Standpunkt eines radikalen Relativismus in der Erkenntnistheorie, eine Auffassung, die weder der differenzierten Struktur der realen Gegenstände gerecht wird, noch mit der Eventualität rechnet, daß es einerseits material verschieden beschaffene reale Gegenständlichkeiten geben kann und daß andererseits audi der erkennende Mensch und seine Erkenntnisvorkehrungen noch sehr verschieden sein können und nicht not20

21

Zwischen den ersten und den zweiten besteht da nodi ein Unterschied; idi kann dies aber hier nicht näher ausführen, weil midi dies zu weit von unserem Hauptthema abbringen würde. Vgl. dazu „Der Streit um die Existenz der Welt", Bd. II/1, Kapitel X I .

243

wendig die Wandlung des zu erkennenden Gegenstandes in seinen unbedingt eigenen Eigenschaften nach sich ziehen müssen. Wenn man beides berücksichtigt, so eröffnet sich vor allem die Möglichkeit, daß im Erkenntnisvorgang nur die erworbenen, bzw. die äußerlich bedingten Eigenschaften des zu erkennenden Gegenstandes anders sind, als dann, wenn er dem Erkennen nicht unterworfen wird. Wahrscheinlich werden sich Methoden des Erkennens finden lassen, die uns darüber belehren können, welche erworbenen, bzw. äußerlich bedingten Eigenschaften dem zu erkennenden Gegenstand infolge des Erkenntnisvorganges zuwachsen und welche Eigenschaften dafür unempfindlich sind. Endlich wird es auch möglich sein, zu entdecken, welche Erkenntnisvorgänge eine solche oder eine andere Wandlung in dem Gegenstand hervorrufen, und wie (ob überhaupt) man ihnen vorbeugen, bzw. sie auf das Minimum reduzieren kann. Man muß dabei auch mit der Möglichkeit rechnen, daß in dieser Hinsicht zwischen den einzelnen menschlichen Erkenntnissubjekten große Unterschiede bestehen und daß sich nicht alle Menschen dazu eignen, den Gegenstand auf eine möglichst behutsame Weise zu erkennen. Wie es aber auch damit im einzelnen stehen mag - ein Problem, das in der wissenschaftlichen Praxis gewiß nicht unbeachtet geblieben ist, das aber innerhalb der Erkenntnistheorie nicht auf befriedigende Weise behandelt wurde - eins muß hier betont werden: Die in dem einzelnen Fall am Gegenstand infolge des Erkenntnisvorganges hervorgebrachten erworbenen, bzw. äußerlich bedingten Eigenschaften gehören dem Gegenstand, als einem Glied in diesem ganzen System des zu erkennenden Gegenstandes, seiner gegenständlichen Umgebung, des erkennenden Menschen, auf eben dieselbe effektive Weise zu, wie die ihm zukommenden unbedingt eigenen Eigenschaften, und sind in dem unter III bestimmten Sinne „objektiv". Es besteht gar kein Grund, sie für „subjektiv" und infolgedessen als in der Realität nicht bestehend zu betrachten. Ebenso verkehrt wäre es aber, von allen irgendwie am Gegenstand auffindbaren Bestimmtheiten zu fordern, daß sie im radikalen Sinne „objektiv" seien. Das eventuelle Vorhandensein der infolge des Erkenntnisvorganges erworbenen oder äußerlich bedingten Eigenschaften am Gegenstand genügt auch gar nicht, die Scheidung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem erkennenden Subjekt zu verwischen, wie dies öfters im Zusammenhang mit der Unschärferelation H e i s e n b e r g s in der Mikrophysik gefordert wurde. Freilich muß die ganze Sachlage, wo mikrophysikalische Objekte dem Erkennen unterworfen werden, noch im Zusammenhang mit unseren differenzierten Objektivitätsbegriffen einer besonderen Erwägung unterzogen werden, die im Rahmen 244

dieses Artikels nicht mehr durchgeführt werden kann. Wie es aber damit auch stehen mag, das Ergebnis dieser Erwägung kann an unserem Postulat, die Objektivitätsbegrifie zu differenzieren und sie entsprechenden gegenständlichen Sachlagen und Erkenntnisvorkehrungen anzupassen, nicht rütteln. Zu bemerken ist nur, daß hier von der Möglichkeit und von der Weise, in welcher die verschiedenen Objektivitäten erkenntnismäßig ausgewiesen werden können, abstrahiert wird, da dieses Problem mit der Frage nach den erkenntnismäßig orientierten Objektivitätsbegriffen im Zusammenhang steht. Die beiden Abwandlungen der abgeschwächten Objektivität treten bei Gegenständen auf, welche von ihrer Umgebung nicht isoliert sind. Sofern aber diese Gegenstände in der Zeit dauernde Gegenstände sind, kommen diese Objektivitäten nur für Bestimmtheiten, welche diesen Gegenständen in der Aktualität der jeweiligen Gegenwart zukommen, in Betracht. Für die Vergangenheit und die Zukunft müssen andere Objektivitätsbegriffe gesucht werden. Ob die Werte im abgeschwächten oder im abgeschwächten relativierten Sinne „objektiv" sind, muß nur als Problem aufgeworfen werden, da die Seinsweise der Werte bis jetzt nicht aufgeklärt wurde. Es ist möglich, daß es damit bei Werten verschiedener Grundarten noch verschieden sein kann, daß es also ζ. B. bei den sittlichen Werten anders damit steht als bei den ästhetischen Werten und auch anders als bei Nützlichkeitswerten. Es ist momentan nur damit zu rechnen, daß viele Vertreter der Werttheorie sich gegen die Möglichkeit aussprechen werden, daß man den Werten, oder wenigstens manchen von ihnen, die radikale Objektivität zuerkennt. Bei dem heutigen Stand der Forschung kann aber auch diese Möglichkeit nicht von vornherein ausgeschlossen werden. IV. D i e O b j e k t i v i t ä t seinsheteronomer

Bestimmtheiten.

Ich suche jetzt den Begriff der „Objektivität" einer Bestimmtheit zu bestimmen, die selbst seinsheteronom ist, aber einem seinsautonomen Gegenstand zukommt. Ihre Objektivität läßt sich dann folgendermaßen bestimmen: ι . Seinsautonomie des Subjektsgegenstandes (mit seinen sonstigen Bestimmtheiten zusammengenommen), 2. Seinsheteronomie der Bestimmtheit, die „objektiv" sein soll, 3. Seinsstelle der Bestimmtheit im Subjektsgegenstand, 4. Erscheinungsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand (falls sie überhaupt erschaubar ist), 2

4S

j . Seinsabhängigkeit der Bestimmtheit von menschlichen Erlebnissen besonderer Art (z.B. Akten der Wertfühlung, des Gefallens, dem A k t der Verleihung einer Würde an jemanden u. dgl. m.), 6. Seinsunabhängigkeit der Bestimmtheit von den Erlebnissen, in welchen sich ihre Erkenntnis vollzieht, 7. Unwandelbarkeit der Bestimmtheit bei der Wandlung der Erkenntniserlebnisse, die sich auf sie beziehen, obwohl zugleich eine Wandelbarkeit der Erscheinungsweise dieser Bestimmtheit bei der Wandlung der Erkenntniserlebnisse vorhanden sein kann; diese Wandlung der Erscheinungsweise selbst gehört nicht zu der eventuell erscheinenden Bestimmtheit selbst und ist auch nicht „objektiv" in dem hier behandelten Sinne, 8. unzureichende Bedingtheit der Bestimmtheit durch die seinsautonomen Eigenschaften des Subjektsgegenstandes, 9. hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit im System der Seinszusammenhänge von Gegenständen, zu dem auch der mit dem Subjektsgegenstand verkehrende Mensch mit seinen Erlebnissen besonderer Art notwendig gehört, 10. eindeutige Festlegung des Seins der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes, 1 1 . Eindeutigkeit des Beschaffenseins des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit, 12. Einzigkeit des Gegenstandes und der Bestimmtheit. Diese Objektivität (IV) ist, wie man sieht, auf den erlebenden Menschen relativiert. Es ist möglich, daß sie u. a. in ästhetischen Werten auftritt, die an seinsautonomen Naturgegenständen bei entsprechender Einstellung des Betrachters zur Erscheinung gelangen. Dies müßte aber von der Theorie der ästhetischen Werte bestätigt werden. Der Begriff der Objektivität (IV) ist so bestimmt, daß er nur bei Gegenwartsgegenständlichkeiten in Betracht kommt. V. D i e O b j e k t i v i t ä t des V e r g a n g e n e n . Sie läßt sich durch folgende Momente bestimmen: ι . Seinsautonomie des Subjektsgegenstandes, 2. Seinsautonomie der Bestimmtheit, die „objektiv" sein soll, 3. Postaktualität des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit (anders gesagt: rückwärtige Seinsabgeleitetheit von einer bestimmten Gegenwartssituation, an welcher der Subjektsgegenstand und die Bestimmtheit teilgenommen haben), 246

4· Inaktualität des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit, 5. Zeitstelle der Bestimmtheit in der Vergangenheit, 6. Identität der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes trotz des Überganges von der Gegenwart in die Vergangenheit, 7. Seinsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand, 8. keine Erscheinungsstelle (da das Vergangene nur erinnerbar, aber nicht mehr wahrnehmbar ist), 9. Unwandelbarkeit der Bestimmtheit bei der Wandlung der sich auf sie beziehenden Erlebnisse eines beliebigen Subjekts, 10. Seinsfestlegung (Entschiedenheit) der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes, 11. Einzigkeit der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes, 12. hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit im Subjektsgegenstand (wenn in der Gegenwart vorhanden) oder erst in einem System der Seinszusammenhänge in der Umgebung des Subjektsgegenstandes (so wie es in der Gegenwart war), 13. Unabänderlichkeit des einmal Gewordenen. Diese Objektivität (V) kann noch entsprechenden Modifizierungen unterworfen werden, je nachdem, ob die Bestimmtheit in der einst aktuellen Gegenwart im radikalen oder im abgeschwächten oder endlich so oder anders auf das erlebende Subjekt relativiert war. A n dieser ihrer (einstigen) Objektivität kann in der Vergangenheit nichts geändert werden und so „ o b j e k t i v " nimmt die vergangene Bestimmtheit also den Charakter der Objektivität (V) an.

VI. D i e O b j e k t i v i t ä t des r e a l M ö g l i c h e n ( b z w . des Z u künftigen). Sie charakterisiert sich durcit folgende Momente: ι . Seinsheteronomie des (zukünftigen) Subjektsgegenstandes, der, falls er nicht bloß real möglich, sondern auch zukünftig ist, mit einem in einer bestimmten Gegenwart existierenden seinsautonomen Gegenstand identisch sein muß, 2. Seinsheteronomie der Bestimmtheit (wobei dieselbe Identität in Frage kommt wie bei dem Subjektsgegenstand), 3. Seinsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand, 4. keine Erscheinungsstelle (da das real Mögliche, b z w . Zukünftige überhaupt nicht erscheint, sondern nur vorstellbar, b z w . berechenbar ist),

247

5· Seinsabgeleitetheit der Bestimmtheit und des Subjektsgegenstandes von einem System der in einer bestimmten Gegenwart bestehenden Seinszusammenhänge zwischen Gegenständen eines Bereiches, zu dem der Subjektsgegenstand gehört, 6. Zugehörigkeit zu der Zukunft, wobei die Zeitstelle innerhalb dieser Zukunft bei dem bloß real Möglichen durch die Gegenwartssituation nicht notwendig vorbestimmt sein muß; dagegen ist bei dem Zukünftigen diese Zeitstelle eindeutig bestimmt, wenn auch eventuell nicht im voraus berechenbar, 7. Unwandelbarkeit der real möglichen, bzw. zukünftigen Bestimmtheit bei der Wandlung der sich auf sie eventuell beziehenden Erlebnisse eines Menschen, 8. Seinsschwebe der real möglichen Bestimmtheit (keine Seinsfestlegung),

9. unzureichende Bedingtheit der Bestimmtheit in dem sub 5. genannten System der Seinszusammenhänge, 10. Ergänzbarkeit der Bedingtheit der Bestimmtheit zum zureichenden Grund in einem Moment der Zukunft (bei dem Zukünftigen: in einem bestimmten Moment der Zukunft), 1 1 . Wandelbarkeit der Bedingtheit der Bestimmtheit in der Zukunft beim Wandel des Systems der Seinszusammenhänge, zu welchem der Subjektsgegenstand gehört (vgl. oben Punkt 5), wobei es nicht ausgeschlossen ist, daß der Grad der Bedingtheit bis auf Null sinkt, so daß dann für die Möglichkeit der Bestimmtheit nichts „spricht", obwohl sie auch nichts ausschließt. Es können aber in der Zukunft solche Faktoren auftreten, welche in einem Moment die Realisierung der Bestimmtheit ausschließen. Ihre Möglichkeit verwandelt sich dann in eine Unmöglichkeit, und sie gehört nicht mehr zu dem Zukünftigen, 12. Vielheit der Eventualitäten, die sich zwar in der Realisierung in der Zukunft - sobald es dazu kommt - gegenseitig ausschließen, die aber als Möglichkeiten alle durch das gegenwärtige System der aktuell bestehenden Tatbestände zugelassen werden (im Gegensatz zu den sie unzureichend bedingenden Tatbeständen, die nur e i n e Gesamtheit bilden, die aus einer Vielheit rein möglicher Gesamtheiten aktuell geworden ist). Dieser Objektivitätsbegriff gilt nur für das real Mögliche, nicht aber f ü r das Mögliche im megarischen Sinne, also für das Ermöglichte. Das Zukünftige ist nicht bloß zu einem Moment real möglich, sondern muß 248

zu einem Ermöglichten werden, wenn es zu dem Zukünftigen gehören soll. D a n n fällt auch die Vielheit der Eventualitäten fort. Die O b j e k tivität des Zukünftigen bildet also eine A b w a n d l u n g der Objektivität des real Möglichen. VII. D i e

Objektivität

seinsheteronomen

des i n t e r s u b j e k t i v

erfaßbaren

Gegenstandes.

Sie bestimmt sich durch folgende Momente: ι . Seinsheteronomie des Subjektsgegenstandes, 2. Seinsabgeleitetheit des Subjektsgegenstandes von bestimmten seinsautonomen (realen) Gegenständlichkeiten: a) von physischen Gegenständlichkeiten (Dingen, Vorgängen), die sein physisches Seinsfundament bilden, b) von Erlebnissen eines oder mehrerer Menschen, 3. Seinsheteronomie der Bestimmtheit des Subjektsgegenstandes, die „objektiv" sein soll, 4. partielle Seinsabhängigkeit der Bestimmtheit von den fundierenden seinsautonomen Gegenständlichkeiten, 5. Wandelbarkeit des Subjektsgegenstandes, b z w . der „objektiven" Bestimmtheit bei Wandlung der physischen Seinsfundamente (bis zur möglichen Vernichtung der Bestimmtheit), 6. Wandelbarkeit des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit bei der Wandlung der ihn fundierenden seinsautonomen Erlebnisse besonderer Art, wobei es Erlebnisse eines einzelnen Erlebnissubjekts als auch Erlebnisse vieler solcher Subjekte sein können, 7. Unwandelbarkeit des Subjektsgegenstandes, b z w . der Bestimmtheit bei der Wandlung der reinen Erkenntniserlebnisse, in welcher der Subjektsgegenstand (bzw. die Bestimmtheit) erf aßt wird, wobei über die A r t dieser Erkenntnisakte nichts präjudiziert wird, 8. Seinsstelle und (eventuell auch) Erscheinungsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand, 9. hinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit in dem Gesamtbestand der fundierenden seinsautonomen Gegenständlichkeiten, 10. Seinsfestlegung des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit durch den konstituierenden Erlebnisakt, 11. nichthinreichende Bedingtheit der Bestimmtheit in dem fundierenden physischen Gegenstand allein, 12. eindeutiges Beschaffensein des Subjektsgegenstandes und der ihm zukommenden Bestimmtheit, 249

1 3 . Einzigkeit des Gegenstandes und seiner Bestimmtheiten, 14. Unvollständigkeit des Beschaffenseins des Subjektsgegenstandes (Vorhandensein der Unbestimmtheitsstellen). Die hier bestimmte „Objektivität" paßt f ü r Kulturgebilde verschiedener Art, die nicht real oder mindestens nicht voll real sind. Es gibt Kulturgebilde der sogenannten „materiellen" Kultur, die real und insbesondere physisch sind. Das sind z.B.: ein regulierter Fluß, ein Bahndamm, ein Tunnel, alle physischen Werkzeuge (wie Hammer, D a m p f maschine u. dgl. m.), ein Gebäude usw. Es gibt aber auch Kulturgebilde, die nicht real, sondern seinsheteronom, z . T . rein intentional sind, obwohl sie auch in physischen Gegenständlichkeiten fundiert sind. Es sind dies ζ. B. Sprachgebilde aller Art, Kunstwerke (Bild, Architektur, Dichtung, Musik), dann aber sozial-rechtliche Gegenständlichkeiten, z.B. Staaten, Institutionen wie Universität, Amt, Gericht, Landtag, Geltungssysteme, ζ. B. Rechtssysteme wie das bürgerliche Recht, die Verfassung eines Staates usw., aber auch Theorien u. dgl. m. Sie alle zeichnen sich in ihrer „Objektivität" durch die eben angegebenen Momente aus. Dabei kommt noch ein besonderes Moment hinzu, das hier gesondert angegeben wird, weil es sozusagen an der Grenze zwischen der ontisch verstandenen Objektivität und der im erkenntnistheoretischen Sinne genommenen Objektivität liegt. Es ist nämlich 15. die intersubjektive Identität des Subjektsgegenstandes und der ihm zukommenden „objektiven" Bestimmtheit. Das heißt, daß der Gegenstand, bzw. seine Bestimmtheiten, vielen verschiedenen Erkenntnissubjekten als identisch dasselbe erkenntnismäßig zugänglich sind, was aber nicht heißt, daß sie überhaupt a l l e n Erkenntnissubjekten zugänglich sein müssen, weil ihre Erkenntnis bei den betreffenden Subjekten besondere Fähigkeiten der intentionalen Rekonstruktion voraussetzen kann. Die intersubjektive Identität ist aber ein ontisches oder mindestens ontisch fundiertes Moment des Gegenstandes, bzw. seiner Bestimmtheiten, obwohl sie sich erst in bezug auf die mögliche Erkennbarkeit des Gegenstandes zeigt. Mit Rücksicht auf dieses Moment werden die hier in Betracht kommenden Gegenständlichkeiten als intersubjektive seinsheteronome Gegenständlichkeiten bestimmt.

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Vili. Die „ O b j e k t i v i t ä t " monosubjektiver ronomer Gegenständlichkeiten.

seinshete-

Die hier in Frage kommende „Objektivität" zeichnet sich durch folgende Momente aus: ι . Seinsheteronomie des Subjektsgegenstandes, 2. Seinsabgeleitetheit des Subjektsgegenstandes von schöpferischen Erlebnisakten eines Subjekts, die eventuell sich nach gewissen realen Gegenständlichkeiten richten, aber über dieselben entschieden hinausgehen, 3. Seinsheteronomie der Bestimmtheit des Subjektsgegenstandes, die „objektiv" sein soll, 4. Seins- und Erscheinungsstelle der Bestimmtheit am Subjektsgegenstand, 5. Seinsabhängigkeit der Bestimmtheit von den schöpferischen Erlebnisakten, 6. Wandelbarkeit des Subjektsgegenstandes (bzw. seiner Bestimmtheiten) bei der Wandlung der fundierenden seinsautonomen Erlebnisse, 7. Unwandelbarkeit des Subjektsgegenstandes und seiner Bestimmtheit bei der Wandlung der reinen Erkenntnisakte, in denen der Subjektsgegenstand erfaßt wird, 8. nicht hinreichende Bedingtheit der festgelegten Bestimmtheiten des Subjektsgegenstandes in seinem physischen Seinsfundament, falls es überhaupt ein solches Fundament gibt, 9. Seinsfestlegung des Subjektsgegenstandes und der Bestimmtheit in einem Entscheid der schöpferischen Erlebnisse, 10. Nichtnotwendigkeit der eindeutigen Bestimmung des Subjektsgegenstandes, 1 1 . Unvollständigkeit des Beschaffenseins des Subjektsgegenstandes (Vorhandensein der Unbestimmtheitsstellen), 12. Einzigkeit des Subjektsgegenstandes und seiner Bestimmtheiten, 13. Nichtidentifizierbarkeit der Bestimmtheiten des Subjektsgegenstandes durch verschiedene Erfassungssubjekte, mindestens hinsichtlich derjenigen Bestimmtheiten des Gegenstandes, welche in den seinsautonomen Gegenständlichkeiten keine Fundierung haben. Die hier bestimmte „Objektivität" tritt z. B. bei ästhetischen Gegenständen im spezifischen Sinne auf, d. h. bei Gegenständen, deren Sein und Wesen im Schauen e i n e s Subjekts ihren Grund hat, d.h. deren 251

Sein und Wesen im Geschautwerden liegt. Einen besonderen Fall davon bilden Gegenständlichkeiten, die auf Grund eines Kunstwerks vom ästhetisch erlebenden Subjekt konstituiert, mit ästhetisch relevanten Qualitäten behaftet sind und somit einen „ästhetischen" Wert (im engen Sinne) haben, bzw. zur Schau tragen. In allen diesen Begriffen der ontisch verstandenen „Objektivität" wird bei der Konstruktion Gewicht darauf gelegt, daß in dem Inhalt eines solchen Begriffes die e x i s t e n t i a l e n u n d f o r m a l e n E i g e n h e i t e n der Objekte, die diesen Begriffen entsprechen sollen, w i e sie a n s i c h u n d in s i c h s i n d zur Ausprägung gelangen. Es wird hier mit der ziemlich verbreiteten Auffassung gebrochen, daß alle Gegenständlichkeiten, die überhaupt existieren und erkannt werden können, auf dieselbe Weise existieren und dieselbe formale Struktur aufweisen müssen. Gegen diese Auffassung spricht die phänomenologisch erfaßbare Mannigfaltigkeit der unmittelbar gegebenen Gegenständlichkeiten, die eben in ihrer direkten unmittelbaren Gegebenheit die spezifische Verschiedenheit ihrer Seinsweise und ihrer Form zeigen. Die Differenzierung des Begriffes der „Objektivität" ergibt sich ausschließlich aus der Tendenz, dieser bunten Mannigfaltigkeit der Grundtypen des Seienden gerecht zu werden und damit den Begriff der „Objektivität" im ontischen Sinne und in ihren verschiedenen Abwandlungen zu erweitern. Dadurch soll auch vermieden werden, daß verschiedenen Gegenständlichkeiten das Sein und ihre Eigenheit abgesprochen wird, weil sie sich nicht in den im vorhinein geprägten Begriff der radikalen Objektivität einzwängen lassen. Und korrelativ wird dadurch auch der Begriff der subjektiv gerichteten „Objektivität" wesentlich erweitert. Die ungerechtfertigte und deswegen auch unerfüllbare (übrigens nie klar zum Bewußtsein gebrachte) Forderung, jedes Seiende (welcher Form und Seinsweise auch immer) unter dem Aspekt der radikalen ontischen Objektivität zu begreifen, hatte nicht bloß eine skeptische Entwertung ganzer Wissenschaftsgebiete (insbesondere der humanistischen und sozialen Wissenschaften) zur Folge, sondern sie brachte auch eine Mißdeutung verschiedener Typen des Seienden mit sich. Da liegt ζ. B. die Quelle der psychologistischen Auffassung der Kunst, der einerseits psychologistischen, andererseits physikalistischen Mißdeutung der Sprache und der Sprachgebilde usw. Im Grunde wird dadurch die gesamte menschliche Kulturwelt völlig mißverstanden, und es werden in der Folge ganz inadäquate Erkenntnismethoden und Weisen auf das Studium der Kulturgebilde (psychologische, physikalische, allgemeiner: naturwissenschafl252

lidie, zuletzt auch statistisch-mathematische Methoden) angewendet und das Spezifische dieser Gebilde einfach weggedeutet. Ich möchte jetzt zum zweiten Teil dieser Betrachtungen übergehen und den Sinn der „Objektivität" in e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r Fassung zu klären suchen. Worauf wird in diesem Fall das Wort „objektiv", bzw. „Objektivität" angewendet? Wie es scheint, kommt es da auf zweierlei Gegenständlichkeiten an: entweder handelt es sich um E r k e n n t n i s o p e r a t i o n e n oder um Erkenntnis geb il de. Im ersten Fall kommen da entweder „Operationen" im sozusagen „objektivierten" Sinne, innerhalb eines Gegenstandsgebietes, wenn man etwa vom „Addieren" oder „Multiplizieren" als einer arithmetischen „Operation" oder vom „Schließen" als einer logischen „Operation" spricht, - oder aber „Operationen" im radikal subjektiven Sinne in Betracht, wenn man die Operation des Wahrnehmens oder Beobachtens, des Experimentierens oder Denkens im Auge hat. Es kommt dann auf gewisse Erkenntnisakte und Aktmannigfaltigkeiten, auf gewisse Erlebnisse an. Was aber die Erkenntnisergebnisse betrifft, so ist es am leichtesen, auf Sätze und Satzzusammenhänge, Theorien im logisdien Sinne hinzuweisen, um sich kurz zu orientieren, worum es sich da eigentlich handelt. Die Erkenntnisoperationen können nur in einem abgeleiteten Sinne „objektiv" sein, wenn sie nämlich zu „objektiven" oder besser zu „objektiv gültigen" Erkenntnisergebnissen führen. Tun sie das nicht, so werden sie oft als „subjektiv" gebrandmarkt, und zwar „subjektiv" nicht deswegen, weil sie - wie sie tatsächlich immer und notwendig, ihrem Wesen nach, subjektive Geschehnisse sind - sich in Erlebnismannigfaltigkeiten vollziehen und als solche immer „ichlich" sind, sondern eben nur mit Rücksicht darauf, daß sie zu Erkenntnisergebnissen führen, welche keine „objektive Geltung" haben. Auf die „Objektivität" der Erkenntnisergebnisse konzentriert sich also unser jetziges Problem. Steht aber die „Objektivität" dieser Ergebnisse in Frage, so kommt es bei ihnen auf etwas an, was ihnen nicht rein in sich, sondern nur mit Rücksicht auf ihre Beziehung zu etwas von ihnen selbst Verschiedenem zukommt, und zwar die Beziehung auf ein ihnen gegenüber zweites An-sich, zweites Seiendes, das vermöge ihres Sich-Beziehens zu ihrem „Objekt" wird. Aber nicht dies, daß sie sich auf Seiendes, auf dieses „Objekt" beziehen, macht ihre „Objektivität" aus. Diese Beziehung macht es bloß, daß sie eben objektbezogen sind. Diese ihre Objektbezogenheit kann aber prinzipiell doppelter Art sein. Entweder der Art, daß 253

sie ihr zufolge „objektiv" sind oder daß sie eben „nicht-objektiv", d. h. im s p e z i e l l e n Sinne „subjektiv" sind. Welcher Art muß aber ihre Objektbezogenheit im ersten Fall sein? Jede Objektbezogenheit eines Erkenntnisaktes oder eines Erkenntnisgebildes beruht darauf, daß dieser Akt oder dieses Gebilde eine Intention (einen Intentions-Sinn) in sich enthält, die auf ein von dem Akt (Gebilde) und seiner Intention verschiedenes Seiendes h i n z i e l e n d ihm zugleich eine geformte Materie und ein Sein auf eine bestimmte Weise (die noch in verschiedenen Fällen verschieden sein kann) z u w e i s t . Ist dieser Intentions-Sinn der Art, daß das diesem Seienden durch ihn Zugewiesene das an ihm „objektiv" Bestehende (im on tischen Sinne) genau t r i f f t und sich - wie einst H u s s e r l sagte - in diesem objektiv Bestehenden „erfüllt", mit ihm „zur Deckung" kommt, dann ist dieser Erkenntnisakt oder dieses Erkenntnisgebilde „ o b j e k t i v " im erkenntnistheoretischen S i n n e , es erlangt darin seine „objektive Gültigkeit". Diese Triftigkeit des Intentionssinnes, die sich in dem Phänomen der „Erfüllung", des „Mit-dem-am-Objekt-,Objektiven' (im ontischen Sinne)-zurDeckung-Kommens" ankündigt, ist eben dasjenige, was die „Objektivität" des Erkenntnisaktes, bzw. -gebildes ausmacht. Überall dort aber, wo die Intention (die Meinung) des Erkenntnisaktes oder des Erkenntnisgebildes in irgendeinem ihrer Momente n i c h t d a s O b j e k t i v e am gemeinten Gegenstand trifft, sondern es verfehlt, ihm aber zugleich etwas zuweist, was in ihm „objektiv" im ontischen Sinne nicht vorhanden ist, ist der entsprechende Erkenntnisakt oder das Erkenntnisgebilde „nicht-objektiv" im erkenntnistheoretischen Sinne, d. h. „ s u b j e k t i v " , d.h. f a l s c h . Das „ontisch Objektive", das hierbei jeweils in Betracht kommt, muß je nach dem Typus des zu erkennenden Gegenstandes und seiner zu entdeckenden Bestimmtheit in dem e n t s p r e c h e n d e n Sinne verstanden werden, den wir hier herauszustellen suchten. Sofern man die dabei in Frage kommenden verschiedenen Sinne der ontischen Objektivität nicht beachtet und in jedem Erkenntnisfall auf dogmatische (und übrigens auch nicht geklärte) Weise die radikale ontische Objektivität in Betracht zieht, fordert man von der überwiegenden Mehrheit der Erkenntnisakte und Erkenntnisergebnisse nicht bloß etwas, was dieselben nicht zu leisten vermögen, sondern auch etwas, was in den zugehörigen Gegenständlichkeiten gar nicht realisiert werden kann, so daß es audi zu keiner echten Erfüllung des vollen Intentionssinnes des Erkenntnisgebildes kommen kann. Das Erkenntnisgebilde scheint dann eben „subjektiv" (falsch) zu sein, aber nur deswegen, weil man ihm die Erreichung einer Leistung zumutet, die es weder vollbringen kann, noch auch zu 254

vollbringen braucht. Erst die Differenzierung und die Klärung der verschiedenen ontischen Objektivitäten kann die echte Leistung des betreffenden Erkenntnisgebildes enthüllen und ihm dadurch die wirkliche „Objektivität" im erkenntnistheoretischen Sinne zuerkennen. Im Gegensatz zu den vielen ontischen Objektivitäten, die wir oben unterschieden haben, gibt es im Grunde n u r e i n e „Objektivität" des Erkenntnisgebildes im erkenntnistheoretischen Sinne, nämlich diejenige, die wir eben geklärt zu haben glauben. Ich vergesse natürlich nicht, daß die „Objektivität" und „Subjektivität" im erkenntnistheoretischen Sinne noch in vielen verschiedenen Bedeutungen verstanden werden kann und auch tatsächlich verstanden wird, ohne daß man diese Bedeutungen scharf unterscheidet und präzisiert. Es bliebe uns also, zur Vollständigkeit des Bildes noch diese mannigfachen „Objektivitäten", bzw. „Subjektivitäten" im erkenntnistheoretischen Sinne zu besprechen. Und es wäre vielleicht aus praktischen Gründen wichtig, es zu tun, um an den im Umlauf befindlichen Redewendungen Kritik zu üben. Aber etwas wirklich Neues und Bedeutendes wird sich dabei nicht ergeben. So verzichte ich hier darauf und schließe damit meine Bemerkungen zum Problem der „Objektivität" vorläufig ab.

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QUELLEN

I. Das ästhetische Erlebnis. - Gedruckt in: II Congrès International d'Esthétique et des Sciences de l'Art - Paris 1937. Bd. I, Paris 1937, S. 56-60. ( = Résumé von § 24 des Buches „O poznawaniu dziela literackiego", Lwów 1937; deutsche Ausgabe: „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks", Tübingen 1968.) II. Bemerkungen zum Problem des ästhetischen Werturteils. - Gedruckt in: Rivista di Estetica. Jg. 3, 1958, H. 3, S. 414-423. Außerdem in: Il Giudizio Estetico Atti del Simposio di Estetica - Venezia 1958, Padua o.J., S. 41-50. III. Prinzipien einer erkenntniskritischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung. Gedruckt in: Actes du I V Congrès International d'Esthétique - Athènes i960, Athen 1962, S. 622-631. Polnische Fassung u. d. T. „Zasady epistemologicznego rozwazania doswiadczenia estetycznego" in: Estetyka, Jg. 2, 1961, S. 3-11. IV. Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk. - Zuerst gedruckt in polnischer Sprache u. d.T. „Sprawa formy i tresci w dziele literackim" in: 2ycie literackie, Jg. 1, 1937, H. 5, S. 153-167. Deutsche Fassung in: Helicon, Bd. I, 1938, S. 51-67. V. Über die sogenannte „abstrakte" Malerei. - In deutscher Sprache bisher ungedruckt. - Vorgetragen 1958 vor der Gesellschaft der Kunsthistoriker in Krakau u.d.T. „Malarstwo przedstawiajqce i malarstwo pokazuj^ce, .abstrakcyjne'". Gedruckt u. d. T. „O tak zwanym malarstwie abstrakcyjnym" in: Estetyka, Jg. 1, i960 S. 147 - 1 6 3 . Eine italienische Ubersetzung erschien u . d . T . „La pittura astratta" in: Rivista di Estetica, Jg. 6, 1961, H. 2, S. 165-180. VI. Zum Problem der „Relativität" der Werte. - In deutscher Sprache bisher unveröffentlicht. - Zuerst gedruckt in französischer Sprache u. d. T. „Quelques remarques sur le problème de la relativité des valeurs" als Separatum der: Actes du I I I Congrès des Sociétés de Philosophie de langue française - Bruxelles-Louvain 2-5 septembre 1947, Paris 1947. Polnisdie Fassung u . d . T . : Uwagi o wzglçdnosci wartosci" in: Przegl^d Filozoficzny, Bd.44, 1948, H. 1/3, S.82-94. Norwegische Fassung u.d.T. „Problemet om verdienes ,relativitet'" in: Minerva's Kvartalsskrift, Jg. 12, 1968, S. 1 8 1 - 1 9 5 . V I I . Was wir über die Werte nicht wissen. - In deutscher Sprache bisher ungedruckter Vortrag vor der Polnischen Philosophischen Gesellschaft in Krakau am 18. Januar 1965 und an den Universitäten in Belgrad, Sarajevo und Zagreb im Juni 1965. Polnische Fassung u . d . T . „Czego nie wiemy o wartosciach" in: Roman Ingarden, Przezycie - dzielo - wartosc, Kraków 1966, S. 83-127. V I I I . Der ästhetische Wert und das Problem seiner Fundierung im Kunstwerk. In deutscher Sprache bisher unveröffentlicht. - Gedruckt in französischer Sprache u . d . T . „La valeur esthétique et le problème de son fondement objectif" in: Atti del I I I Congresso Internazionale di Estetica - Venezia 3-5 settembre 1956, Turin 1957, S. 1 6 7 - 1 7 3 . In polnischer Sprache u. d. T. „Wartosc estetyczna i zagadnienie jej obiektywnego ugruntowania" in: Roman Ingarden, Przezycie - dzielo - wartosc, Kraków 1966, S. 128-136.

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I X . Künstlerische und ästhetische Werte. - In deutscher Sprache bisher unveröffentlicht. - Zuerst, in abgekürzter Form, vorgetragen vor der Britischen Gesellschaft für Ästhetik in London am 6. November 1963 und im Department of Philosophy an der Universität Manchester am 10. November 1963. In englischer Sprache in etwas veränderter Fassung gedruckt u. d. T. „Artistic and Aesthetic Values" in: British Journal of Aesthetics, Bd. 4,1964, H . 3, S. 1 9 8 - 2 1 3 . In polnischer Sprache u. d.T. „Wartosci artystyczne i wartosci estetyczne" in: Roman Ingarden, Przezycie d z i e l o - wartosc, Kraków 1966, S. 1 3 7 - 1 6 1 . X . Das Problem des Systems der ästhetisch valenten Qualitäten. - In deutscher Sprache bisher unveröffentlicht. - Die Hauptgedanken dieses Aufsatzes bildeten das Thema eines Vortrages während der 3.Plenarsitzung des V.Internationalen Kongresses für Ästhetik in Amsterdam 1964. Résumé in: Actes du V Congrès International d'Esthétique - Amsterdam 1964, La Haye 1968, S. 448-456. In polnischer Sprache gedruckt u. d. T. „Zagadnienie systemu jakoáci estetycznie donioslych" in: Studia Estetyczne, Bd. II, 1965, S. 3-26 sowie in: Roman Ingarden, Przezycie dzielo - wartosc, Kraków 1966, S. 162-194. X I . Betrachtungen zum Problem der Objektivität. - Ausarbeitung eines Vortrags vor der Polnischen Philosophischen Gesellschaft in Krakau am 16. Januar 1965. Zuerst gedruckt in deutscher Sprache in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 2 1 , 1967, H . i , S. 3 1 - 4 6 und H . 2, S. 242-260.

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NACHWORT

Der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und meinem treuen Verleger, Herrn Robert Harsch-Niemeyer, danke ich wärmstens für ihre Initiative, meine kleineren Schriften zur Ästhetik in ihre Verlage zu übernehmen. Dies ermöglicht mir, mehrere besonderen Problemen gewidmete Vorträge gemeinsam zu publizieren und dadurch ihren weiteren Zusammenhang zu zeigen. Die neue, deutsche Fassung des Buches „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks" hat die Publikation dieses Buches etwas verschoben. Es bildet nicht bloß eine Ergänzung der übrigen drei Bücher zur Ästhetik, die jetzt in deutscher Sprache vorliegen, sondern wirft auch Licht auf den Gang meiner Studien auf diesem Gebiet, die ich seit fast vierzig Jahren von Zeit zu Zeit betrieben habe. Die Tatsache, daß das „Literarische Kunstwerk" drei Jahrzehnte lang allein dem Ausland zur Verfügung stand und daß auch nach meinem ersten Vortrag auf dem II.Kongreß für Ästhetik (1937) zwanzig Jahre verflossen, bis ich wiederum an einem internationalen Kongreß teilnehmen konnte, haben den Anschein hervorgerufen, daß ich mich ausschließlich für literar-ästhetische Fragen interessiere und sie in keinem Zusammenhang mit anderen ästhetischen Problemen behandle. Erst 3 j Jahre nachdem die Betrachtungen entstanden waren, die jetzt in den „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst" zusammengefaßt sind, konnten sie dem Ausland zugänglich gemacht werden, und sie zeigten, daß meine Betrachtung des literarischen Kunstwerks von vornherein im engen Zusammenhang mit ontologischen Untersuchungen mehrerer anderer Künste stand. Der Vortrag „Das ästhetische Erlebnis", der ja nur ein Resumé eines Paragraphen des Buches „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks" war, gab das Signal, daß die kunsttheoretischen Probleme von mir von Anfang an auf dem Boden der philosophischen Ästhetik angegriffen wurden. Erst aber der fast zwanzig Jahre später gehaltene Vortrag in Venedig (1956) * deutete an, daß *

D e r V o r t r a g in Brüssel ( 1 9 4 7 ) w u r d e z w a r vorgelesen, idi konnte aber nicht an dem Kongreß persönlich teilnehmen, seine W i r k u n g blieb also aus. Jedenfalls w a r auch er ein Zeichen meines Interesses für die Wertprobleme.

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bei mir das Wertproblem - und zunächst verschiedene mit der Wertung und Bewertung verbundene Fragen - seit langem lebendig war. Zuerst sollten verschiedene der Anerkennung der Werte im Wege stehende, fest eingewurzelte Vorurteile entkräftet, wenn auch nicht ganz beseitigt werden. Dabei wollte idi die in der Seinsweise und im formalen Aufbau des Wertes steckenden Schwierigkeiten gar nicht übersehen. Im Gegenteil, idi versuchte sie möglidist deutlich mir vor Augen zu stellen, um zu wissen, was noch zu überwinden wäre, wenn man zu einem positiven Ergebnis in der Klärung des Wesens der Werte kommen wolle. Das Wichtigste war dabei vielleicht die immer deutlicher werdende Einsicht, daß man nicht alle Werte unterschiedslos behandeln darf und über alle auf einmal das Urteil fällen kann, ob sie in einer Gegenständlichkeit, an der sie erscheinen, ihren genügenden Grund haben oder ihn überhaupt nicht haben können, sondern daß es notwendig ist, zunächst nicht so weitgehende Anforderungen zu haben. Man muß zuerst die einzelnen Gattungen der Werte unterscheiden und sie in einem besonderen Fall genauer untersuchen. So habe idi mich - in dieser Reihe der Betrachtungen, die mit der Kunst und der Kunsterfahrung im Zusammenhang stehen - bemüht, mich auf ästhetische Werte zu konzentrieren und sie sogar von den mit ihnen so eng zusammenhängenden künstlerischen Werten abzugrenzen, um dann nachzuforschen, was sie zu ihrem Grunde in dem Gegenstande, an dem sie auftreten, haben können. Dies führte zu der Auffassung der ästhetisch valenten Qualitäten und ihrer Rolle bei der Konstituierung des ästhetischen Wertes. Andererseits mußte audi der Begriff der sogenannten „Objektivität" geklärt und differenziert und endlich ganz aufs neue für mehrere besondere Abarten einzeln bestimmt werden. All dies ist nur die Suche nach dem Wege, auf welchem in einzelnen Fällen bei dem zur Erscheinung gelangenden Wert nach seiner Fundierung in dem betreffenden Gegenstande und im Zusammenhang damit nach seiner entsprechend verstandenen Objektivität gefragt werden darf. In langsamem Vorwärtsgehen wurde hier versucht, die Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, und dieses Vorgehen hat nur den Zweck, wiederum im langsamen Fortschreiten die Wege vorzubereiten, auf welchen man - wie ich hoffe - am Ende zum Ziele kommen könnte: zum Aufzeigen, daß bei der Erfüllung genau bestimmter Bedingungen man im Einzelfall zur Entscheidung kommen kann, ob wir es in ihm mit einem bestimmten Wert zu tun haben und ob und in welchem Sinne er dem betreffenden Gegenstande wirklich zukommt und von uns in diesem seinen Charakter erkannt werden kann. 260

Idi glaube, daß erst im Lichte der hier gegebenen schwierigen und vorsichtigen Betrachtungen die zuerst durchgeführten ontologischen Untersuchungen der Kunstwerke sowie die ihre Erkenntnis betreffenden Erwägungen, die in meinen drei Büchern zur Ästhetik gegeben wurden, ihren eigentlichen Sinn und ihre Funktion zurückgewinnen, so daß es erst jetzt verständlich gemacht werden kann, warum gewisse Probleme und Problemgruppen behandelt wurden und warum ich midi bei ihrer Behandlung für gewisse Entscheidungen ausgesprochen habe. Die einzelnen Vorträge, jedesmal vor einem neuen und unbekannten Publikum gehalten, mußten auch jedesmal auf gewisse Ausgangspunkte meiner Betrachtungen hinweisen. Die stets eng begrenzte Zeit erzwang eine Komprimierung des Gedankenganges, die ihm einen oft zu abstrakten Charakter aufzwang. Es fehlen natürlich zudem viele Einzelheiten. Mehrere strittige Fragen sind als Fragen stehen gelassen worden. Bei alldem beginnt sich aber jetzt ein Umriß der ästhetischen und kunsttheoretischen Einsichten in ihrer Eigenart und in gewisser Ganzheit anzudeuten. Natürlich soll nichts für abgeschlossen und erledigt gelten. Es soll alles der weiteren Forschung und Korrektur offen bleiben, und zwar nicht bloß in der Überzeugung, daß weitere, tiefer gehende philosophisch-phänomenologische Betrachtungen fortgeführt werden sollen, sondern auch in der Hoffnung, daß die konkrete Literatur- und allgemeine Kunstwissenschaft mit ihren neuen, vielleicht eben durch manche von den Auffassungen, die ich zu begründen suchte, angeregten Betrachtungen verhelfen werde, auch die rein theoretischen, philosophisdi-phänomenologischen Probleme der Lösung näher zu bringen. Zuletzt möchte ich noch Herrn Hermann Wetzel, der mir auch diesmal geholfen hat, die Unkorrektheiten meines Deutsch auszumerzen, aufs herzlichste danken. Kraków, Juni 1969

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