227 85 30MB
German Pages 911 [964] Year 1993
Karl Carstens Erinnerungen und Erfahrungen
SCHRIFTEN DES
BUNDESARCHIVS
44
Karl Carstens Erinnerungen und Erfahrungen
Herausgegeben von Kai von Jena und Reinhard Schmoeckel
HARALD
BOLDT
VERLAG
·
BOPPARD
AM
RHEIN
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Carstens, Karl: Erinnerangen und Erfahrungen / Karl Carstens. Hrsg. von Kai von Jena und Reinhard Schmoeckel. - Boppard am Rhein : Boldt, 1993 (Schriften des Bundesarchivs ; 44) ISBN 3-7646-1928-7 NE: Jena, Kai von [Hrsg.]; Bundesarchiv : Schriften des Bundesarchivs
ISBN: 3 7646 1928 7 1993 © Harald Boldt Verlag · Boppard am Rhein Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Printed in Germany · Herstellung: boldt druck boppard
Geleitwort Biographische Arbeiten und autobiographische Texte gehören seit Anfang zum Programm der „Schriften des Bundesarchivs". Unter den bislang erschienenen Arbeiten nehmen die hier vorgelegten „Erinnerungen und Erfahrungen" von Karl Carstens gew^iß eine Sonderstellung ein. Der Grund dafür liegt nicht allein in dem hohen Amt des Autors, der von 1979 bis 1984 Bundespräsident war, sie ist auch durch die Parallelität seines beruflichen Lebensweges zur Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland bedingt. Die Memoiren von Karl Carstens können in deren Kem auch als Rückblick eines Politikers auf die von ihm miterlebte und mitgestaltete Geschichte von der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands im Jahre 1990 gelesen werden. Vom ersten Tag des Bestehens der Bundesrepublik war Karl Carstens in Bonn als kundiger und stets gut informierter Beobachter präsent, sehr bald aus der Rolle eines Beteiligten zu jener eines tätigen Mitgestahers in wichtigen Politikbereichen aufsteigend. Karl Carstens vereinigte in seiner Person eine in Deutschland ungewöhnliche Verbindung: er verkörperte ebenso den loyalen, aber auch sehr selbstbewußten hohen Staatsbeamten vñe den sich zur Gestaltung berufenen Politiker. Aber daneben blieb er sich zeit seines Lebens auch der Rolle eines distanzierten, der Wissenschaft verpflichteten Gelehrten bevioißt. Diese drei herausragenden Eigenschaften von Karl Carstens waren schon früh angelegt. Im Laufe seiner beruflichen Karriere trat zuweilen die eine oder andere Seite seiner Persönlichkeit stärker hervor, ohne die jeweils andere dabei völlig zu verdrängen. Die Verbindung von Wissenschaft und staatlicher Praxis befähigte ihn, einerseits die Theorie in der Lebenswirklichkeit zu überprüfen, andererseits sich im politischen Alltag mit durchdachtem Sachverstand zu bewegen. Auch in seinen Lebenserinnerungen treten die für Karl Carstens charakteristischen Wesenszüge deutlich hervor: Die Präzision seiner Erinnerungen an die Schul- und Studienzeit, an die Familie, Verwandte und Freunde, die Fülle der hierbei mitgeteihen Namen und Erlebnisse sind geschichtlich reizvoll. Die Schilderung der frühen Jahre der Ära Adenauer orientiert sich gewissenhaft an seinen Berichten, die er als Bevollmächtigter des Bremer Senats beim Bund verfaßt hatte. In der Darstellung seiner Erfahrungen im diplomatischen Dienst — Karl Carstens war mit 45 Jahren der jüngste Staatssekretär in der Geschichte des Auswärtigen Amtes —, im kurzen Dienst des Verteidigungsministeriums und als Chef des Bundeskanzleramts bis 1969 dominiert der korrekte und pflichtbewußte Staatsbeamte. V
Die Zwischenstation als Forschungsleiter in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zeigt Karl Carstens wiederum als Wissenschaftler, der seine Erfahrungen im Staatsdienst zum Forschungsgegenstand macht. Seinem Dienst und seinen Interessen entsprechend liegt das Schwergewicht seiner Untersuchungen vornehmlich auf dem Gebiet der Außenpolitik. Die Ausführungen über seine Tätigkeit als Vorsitzender der Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag lassen Karl Carstens als leidenschaftlichen Politiker erkennen, der auch heftige Auseinandersetzungen über Grundfragen der deutschen Politik nicht scheute. In der Darstellung seiner beiden letzten hohen Ämter - als Präsident des Deutschen Bundestags und als Bundespräsident - erweist sich der Autor schheßUch als ein Staatsmann, der dem demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes mit leidenschaftUcher Überzeugung verbunden ist und den vielfältigen geistigen und sozialen Problemen der Menschen in Deutschland mit Einfühlungsvermögen und dem Ausdruck der Mitsorge begegnet. In seinen Lebenserinnerungen kommt schließlich noch ein weiterer Wesenszug von Karl Carstens zum Ausdruck. Bei aller hanseatischen Kühle und Distanziertheit besaß er die Fähigkeit, auf die Menschen zuzugehen imd sich viele von ihnen zu Freunden zu machen. Eindrucksvoll ist, über welch lange Zeiträume hinweg er freundschaftliche Bindungen aufrechtzuerhahen vvrußte. Die SchUderung seiner Wanderungen durch Deutschland, die den Bundespräsidenten Carstens so populär machten, belegen u. a. diese Seite seiner Persönlichkeit: eine unnachahmliche Kombination von vornehmer Distanz und Volkstümlichkeit. In ihrer Gesamtheit sind die „Erinnerungen und Erfahrungen" von Karl Carstens sowohl eine Darstellung der jüngsten deutschen Geschichte als auch eine bei aller Subjektivität sachliche Schilderung des persönlichen und politischen Lebens des fünften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, seiner Erfahrungen und seiner Erkenntnisse. Für das Bundesarchiv, das der Epoche der jüngeren deutschen Geschichte als Ort ihres „schriftlichen Gedächtnisses" in besonderer Weise veipflichtet ist, danke ich für die Möglichkeit, die „Erinnerungen und Erfahrungen" von Karl Carstens der öffenüichkeit vorlegen zu können. Zu diesem Zweck hatte der Bundespräsident a. D. ein Jahr vor seinem Tode mir das Manuskript seiner Memoiren anvertraut. Dabei bestand von Anfang an Einverständnis, daß die besondere Form der Darstellung auch eine besondere wissenschaftliche Erschließung des geamten Memoirenwerkes erforderte. Zu den Bearbeitungsgrundsätzen haben die Herausgeber und Bearbeiter, mein Kollege Dr. Kai von Jena und der letzte persönliche Referent von Karl Carstens, Dr. Reinhard Schmoeckel, in der Editorischen Vorbemerkung zu den Erinnerungen das Notwendige gesagt. Ihnen und allen, die bei der Vorbereitung der Drucklegung behüflich waren, danke ich herzlich. Möge dieser Band über das Fachpublikum hinaus viele Leser finden. Koblenz, im Juli 1993
VI
Friedrich P. Kahlenberg Präsident des Bundesarchivs
Inhaltsverzeichnis
Seite Geleitwort
V
Editorische Vorbemerkung
XI
I. Familiäre Wurzeln
1
1. Väterliche Vorfahren 2. Mein Vater 3. Mütterliche Vorfahren 4. Meine Mutter
1 3 8 15
II. Kindheit und Jugend 1914-1933 1.Kindheit 2. Schule 3. Außerhalb der Schule
23 23 28 44
III. Student, Referendar, Soldat 1933-1945 1. Studium 2. Referendarausbildung S.Soldat 4. Nationalsozialismus
55 55 75 81 89
IV. Nachkriegszeit 1 9 4 5 - 1 9 4 9 1. Rechtsanwalt in Bremen 2. Tätigkeit beim Justizsenator 3. Diakon am Dom 4. Studium in Amerika V. Im Dienst der Freien Hansestadt Bremen 1949-1954 1. Eintritt in den bremischen Staatsdienst 2. Bremen und Deutschland 3. Bremischer Bevollmächtigter beim Bund 4. Auslandsreisen 5. Wochenberichte an den Senat 6. Professor in Köln und Ausscheiden aus dem bremischen Dienst
93 93 101 105 106
.
125 125 133 140 149 157 186 VII
VI. Auswärtiger Dienst 1954-1966 1. Ständiger Vertreter beim Europarat 2. Die Entstehung der Römischen Verträge 3. Abteilungsleiter und Staatssekretär 4. Beziehungen zu Frankreich 5. Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien . . 6. Die Krisen um Berlin 1958 bis 1962 und die Beziehungen zur Sowjetunion 7. Beziehungen zu anderen Staaten 8. Abschied vom Auswärtigen Amt 9. Persönliches Leben neben dem Dienst VII. Die Große Koalition 1966-1969 1. Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums 2. Chef des Bundeskanzleramtes 3. Probleme und Leistungen der Großen Koalition
.
.
X. Präsident des Deutschen Bundestages 1976-1979 1. Bundestag, Präsident, Präsidium 2. Internationale Kontakte 3. Ansprachen im Bundestag zu besonderen Anlässen 4. Politische Reden außerhalb des Parlaments XI. Bundespräsident 1979-1984 1. Von der Wahl bis zum Abschied vom Amt 2. Das Präsidentenamt 3. Der Regierungswechsel und die Auflösung des Bundestages 1982/83 4. Kontakte mit verschiedenen staatlichen Gewahen 5. Begegnungen mit der Wirtschaft und den Sozialpartnern . . . 6. Austausch mit Vertretern des religiösen und geistigen Lebens . . 7. Gespräche mit der Jugend VIII
280 300 314 319 333 333 353 363
VIII. Wissenschaftliches Zwischenspiel 1970-1972 1.Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 2. Weitere wissenschaftliche Arbeiten IX. Bundestagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender 1972—1976 1. Mein Weg ins Parlament 2. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion 3. Außenpolitische Fragen 4. Innenpolitische Auseinandersetzungen 5. Politischer Kampf mit juristischen Mitteln 6. Vor und nach der Bundestagswahl 1976
191 191 194 225 241 262
387 387 402 413 413 423 435 446 458 469 475 475 490 505 513 521 521 531 551 569 591 603 630
8. Wanderungen in Deutschland 9. Pflege internationaler Beziehungen
643 658
XII. Späte Jahre 1984-1991 1. Bundespräsident a.D 2. Reisen, Reden, PubUkationen 3. Verbliebene Ämter und Ehrungen 4. Meine Frau XIII. Um Einheit und Freiheit Deutschlands 1945-1990 1. Ein erreichtes Ziel 2. Rückbhck auf die deutsche Teilung (1945-1960) 3. Meine Vorschläge zur Deutschlandpolitik (1960-1969) 4. Wandel der Deutschlandpolitik (1969-1982) 5. Festhalten am Ziel der deutschen Einheit (1979-1989) 6. Die große Wende (1989-1990)
719 719 720 727 733
. . . . . . . .
737 737 738 753 771 782 790
XIV. Rückblick und Ausblick 1. Hervorragende deutsche Politiker 2. Die Staatsordnung des Grundgesetzes 3. Deutschland in Europa und der Welt 4. Erfahrungen
795 795 805 814 819
Stammtafel
828
Quellen- und Literaturverzeichnis
831
Sach-und Ortsregister
839
Personenregister
867
Bild- und Dokumententeil
nach 210, 450, 658
IX
Editorische Vorbemerkung Karl Carstens hat die Niederschrift seiner „Erinnerungen und Erfahrungen" bald nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident im Jahre 1984 begonnen und — mit Arbeitsunterbrechungen — im Jahre 1991 abgeschlossen. In dieser Zeit entstand ein Manuskript im Umfang von mehr als 2000 Schreibmaschinenseiten, das in vierzehn Kapiteln untergliedert war und im wesentlichen einer chronologischen Ordnung folgte. Bei der Abfassung seiner Memoiren ist Karl Carstens in der Regel so verfahren, daß er für jeden Abschnitt zunächst einen handschriftlichen Entwurf formulierte, diesen anschließend diktierte und danach erforderliche Korrekturen oder Änderungen in die maschinenschriftliche Fassung einfügte. Die Kapitel dieser „Rohfassung" waren in Abschnitte unterschiedlicher Länge mit eigenen Überschriften untergliedert, die im Inhaltsverzeichnis aufgeführt sind. Um die Lesbarkeit der Abschnitte zu verbessern, wurden kursiv gesetzte Zwischenüberschriften in den Text eingefügt. Während der Arbeiten an seinen Erinnerungen hatte Karl Carstens damit begonnen, seine Ausführungen mit Quellen- und Literaturverweisen zu belegen. Er benutzte hierzu neben wissenschaftlicher Literatur auch seine eigenen Aufzeichnungen. Als Bevollmächtigter des Bremer Senats bei der Bundesregierung hatte er zwischen 1949 und 1954 mehr als einhundert sogenannte Wochenberichte verfaßt, die er aus einer für ihn zusammengestellten Sammlung von Kopien ausführlich für seine Erinnerungen ausgewertet und regelmäßig zitiert hat*)· Die Herausgeber konnten für die Bearbeitung die Ausfertigungen der Berichte heranziehen, die sich im Staatsarchiv Bremen befinden. Die Memoiren von Karl Carstens sind nicht nur eine Niederschrift seiner persönlichen Erinnerungen, sondern sie stellen - unabhängig von der BeteUigung des Autors - die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Herausgeber waren sich bei der Bearbeitung bevmßt, daß die Quellenbelege zu den Texten keinesfalls den Charakter einer Kommentierung oder gar Relativierung der Ausführungen annehmen durften. Ihre Aufgabe konnte nur darin bestehen, zu den von Karl Carstens selbst genannten historischen Vorgängen, Daten, Dokumenten und Reden Belege in Form von Anmerkungen hinzuzufügen. Diese sollen neben ihrer Funktion als wissenschaftlicher Nachweis dem Leser vor allem ermöglichen, den Bezug zum politisch-historischen Umfeld herzustellen. Das schloß auch gelegentliche kurze
>) Siehe dazu S. 138 und 157 f.
XI
Erläuterangen einzelner Passagen ein, um dem Leser den gegebenen politischen Zusammenhang zu verdeutlichen. Einen Eingriff in das Manuskript haben die Bearbeiter bei all den Manuskriptteilen vorgenommen, die Fragen der deutschen Teilung und der Wiederherstellung der deutschen Einheit betrafen. Aus mehreren Kapiteln wurden die deutschlandpolitischen Passagen herausgelöst und zu einem eigenen Kapitel zusammengezogen. Dabei wurden auch Umstellungen und einige wenige neue Überleitungen erforderlich. Diese Änderungen hatte Karl Carstens in einem Schreiben an den Präsidenten des Bundesarchivs vom 18. Juni 1991 selbst für unerläßlich gehalten: „Ich behandle an mehreren Stellen das Deutschlandproblem ausführlich. Dabei kommt es zu Überlappungen und Wiederholungen. Diesen Teil müßte ich selbst noch einmal überarbeiten." Zur beabsichtigten Überarbeitung fand eine längere Besprechung im März 1992 statt, an der die Herausgeber teilnahmen. Durch die Zusammenfassung aller deutschlandpolitischen Ausführungen zu einem eigenen Kapitel gewinnt die Darstellung dieses Politikbereichs, an dessen Gestaltung Karl Carstens ja zeitweise auch persönlich stark beteiligt war, eine durchgehende Linie und den ihr gebührenden politisch-historischen Stellenwert. Da Karl Carstens den deutschlandpolitischen Teil seiner Erinnerungen etwa Anfang 1990 abgeschlossen hatte, war er nur sehr unvollkommen auf die in diesem Jahr erreichte deutsche Einheit eingegangen. Zur Abrundung dieses Kapitels haben sich die Herausgeber daher entschlossen, einige wichtige Abschnitte aus zweien seiner Vorträge vom Herbst 1991 zu dieser Thematik noch in das Manuskript aufzunehmen^). Die Stammtafel sowie die Sach-, Orts- und Personenregister sollen die schnelle Orientierung innerhalb der umfangreichen Memoiren erleichtem. In das Personenregister sind alle Personen aufgenommen worden, die Karl Carstens persönlich gekannt hat, das heißt mit denen er zusammengetroffen war oder mit denen er in schriftlicher Verbindung gestanden hatte. Es enthäU auch alle Personen der Zeitgeschichte von Bedeutung. Dagegen unterblieb die Auflistung der lediglich erwähnten Namen von Vorfahren, Dichtem, Schriftstellern, Künstlem und Herrschern. Das mehrstufig angelegte Orts- und Sachregister ermöglicht dem Leser, vom Autor angesprochene Sachverhalte schnell zu ermitteln. Der an drei Stellen in den Band eingefügte Bild- und Dokumententeil soll sowohl Eindrücke vom politischen Wirken des Autors vermitteln als auch Karl Carstens seinen Erinnerungen entsprechend in seiner privaten Umgebung zeigen. Die von den Bearbeitern beabsichtigte Einbeziehung des schriftlichen Nachlasses von Karl Carstens ließ sich nur partiell verwirklichen. Die dem BunSiehe „Laudatio auf Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl aus Anlaß der Verleihung des Europapreises für Staatskunst F. V. S." am 12. Nov. 1991 in Straßburg und „Die deutsche Einheit — ein Jahr danach". Vortrag vor der Heimatschutzbrigade 41 der Bundeswehr am 13. Sept. 1991 in Eggesin/Voipommem (Nachlaß Carstens/415). XII
desarchiv noch zu Lebzeiten vom Autor übergebenen Papiere bestehen zum größten Teil aus Sammlungen von Rede- und Auf satzmanuskripten aus der Zeit nach 1970, die für die Bearbeitung mit herangezogen werden konnten. Die umfangreichen und historischen wertvolleren, aber noch ungeordneten Papiere von Karl Carstens aus seiner Amtszeit als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums der Verteidigung und des Bundeskanzleramtes bis 1969 standen den Herausgebern noch nicht zur Verfügung. Da die „Erinnerungen und Erfahrungen" ganz wesentlich aus den Nachlaßpapieren des Autors erarbeitet wrurden, wird die historische Forschung der Benutzung dieser Unterlagen mit besonderem Interesse entgegensehen. Die Authentizität der Ausführungen des Verfassers wird sich an ihnen zu bewähren haben. Dies gilt nach Ablauf von dreißig Jahren für Unterlagen staatlicher Provenienz ebenso wie für das Schriftgut, das in den nichtstaatlichen Funktionen des Autors entstanden ist. Das Bundesarchiv bleibt um die Vervollständigung der nachgelassenen Papiere von Karl Carstens, die vor Abschluß der Redaktionsarbeiten noch nicht erreicht war, bemüht. Koblenz, im Mai 1993
Kai von Jena Reinhard Schmoeckel
XIII
I. Familiäre Wurzeln Als ich am 14. Dezember 1914 in Bremen im Hause Fitgerstraße 36 geboren wurde, lag über diesem im allgemeinen als freudig empfundenen Ereignis ein tiefer Schatten: Mein Vater war 2 Monate vorher, am 6. Oktober 1914, in Frankreich bei Noyon in der Ile de France als Soldat gefallen. Dieser Schlag, der meine Mutter und mich — ich hatte keine Geschwister — getroffen hatte, hat jahrzehntelang meinen Werdegang und die Entwicklung meiner Persönlichkeit bestimmt. Meine Eltern hatten 5 Jahre lang eine überaus glückliche Ehe geführt. Sie waren in einer tiefen, unzertrennlichen Liebe miteinander verbunden gewesen. Meine Mutter hat 49 Jahre lang bis zu ihrem Tode um meinen Vater getrauert und niemals auch nur in Erwägung gezogen, eine neue Verbindung einzugehen. Dabei waren sie beide sehr verschiedene Menschen. Meine Mutter dunkel, impulsiv, temperamentvoll, zart besaitet, aber zugleich tapfer, ganz unmusikalisch. Mein Vater blond, von mittlerer Statur, sehr kräftig, hochbegabt, musikalisch, von einer unerschütterlichen Ruhe und Gelassenheit.
1. Väterliche Vorfahren In meinem Vater steckte das Erbe einer langen, ununterbrochenen Kette niedersächsischer Bauern. Die Ursprünge der Familie Carstens führen in die Lüneburger Heide zu dem Carstenshof in Frielingen bei Soltau im Herzogtum Lüneburg, einem großen Einzelhof, der wahrscheinlich um 900 n. Chr. gegründet worden ist, in herrlicher Gegend inmitten ausgedehnter Heideflächen und Wälder, am Oberlauf der Bomlitz gelegen. Hier können wir unsere Carstenschen Vorfahren bis 1563 zurückverfolgen. Der damalige Besitzer hieß Carsten to Frieling. Er gab dem Hof seinen Namen. Um 1770 muß ein schweres Unglück den Hof getroffen haben. Heinrich Carstens, der letzte Hofbesitzer aus unserer FamiUe, besaß schließlich nur noch ein Rind und mußte den Hof aufgeben; aber dieser trägt bis heute unseren Namen, und wer dort geboren wird, erhält nach niedersächsischer Sitte den Namen des Hofes. So wird die jetzige Besitzerin, Frau Lotti Bock geb. Michaelis, Carstens Lotti genannt. Der Name Carstens geht auf den christlichen Vornamen Christian (plattdeutsch Carsten) zurück. Er ist in Norddeutschland, vor allem in der Lüneburger Heide, weit verbreitet. Der Sohn des letzten Carstens vom Carstenshof hieß Jakob Carstens. Er woirde Schäfer. Dessen Sohn Johann Heinrich Carstens war Forstaufseher; des-
sen Sohn Johann Friedrich Jakob Carstens Häusling in Schwitschen bei Visselhövede. Er ist mein Urgroßvater. Ich weiß leider wenig über ihn. Was ich weiß, läßt auf eine gev«sse Phantasielosigkeit der Familie schließen. Er und seine Frau Katharina Margarethe Bremer, die ebenfalls aus einer Bauemfamilie stammte, hatten fünf Kinder, vier Söhne und eine Tochter. Bei den Söhnen gingen ihnen anscheinend die Namen aus. Jedenfalls hieß ein Sohn (mein Großvater) Johann Heinrich Friedrich und wurde Heinrich genannt. Ein anderer Sohn hieß Heinrich Friedrich Karl und wurde Hinrich genannt. Mein Großvater wurde 1844 in Schwitschen geboren. Das Haus steht noch. Es ist ein bescheidenes Bauemhaus. Auf dem Türbalken steht der schöne Spruch: „Kommt Kinder, lernt in früher Jugend die Furcht des Herrn und Christentugend. Legt in der besten Lebenszeit den Grund zum Glück der Ewigkeit." Das Haus war früher ein Schulhaus gewesen. Mein Großvater erlernte das Tischlerhandwerk. Als 1866 der Preußisch-Hannoversche Krieg begann, mußte er einrücken. Er nahm mit seinem Regiment an dem legendären Marsch von Lüneburg bis Göttingen mit der Eisenbahn und von da zu Fuß bei glühender Hitze nach Thüringen teil. Die hannoversche Armee wollte sich mit den verbündeten Bayern vereinigen. Aber bei Langensalza (30 km nordwestlich von Erfurt) kam es zur Schlacht mit den Preußen. Die Hannoveraner behaupteten sich, mußten aber am nächsten Tage aus Mangel an Nachschub kapitulieren. Mein Großvater wurde am Arm schwer verwundet. Im Lazarett empfing er aus der Hand des blinden Königs Georg V. die Hannoversche Tapferkeitsmedaille. Er genas nach einiger Zeit. Aber der Arm blieb steif. Mit dem Tischlerberuf war es vorbei. Es versuchte es nun bei der Post, wurde angenommen und zunächst an das Postamt in Zeven versetzt. Hier war er Briefträger, hier lernte er meine Großmutter Marie geb. Detjen kennen. Beide heirateten im Jahre 1875 und zogen nach Bremen, dem nächsten postalischen Dienstort meines Großvaters. In Bremen wurden zwei Söhne geboren, mein Vater Karl Carstens im Jahre 1877 und sein Bruder Willy im Jahre 1880, und hier in Bremen begann der Aufstieg der Familie. Beide Söhne waren gute Schüler und machten beide das Abitur, als beste in ihrer Klasse. Leider starb Willy schon mit 18 Jahren an der damals grassierenden Schwindsucht. Mein Vater hat diesen Verlust des geUebten Bruders zeit seines Lebens tief betrauert. 1902 starb auch mein Großvater, ebenfalls an Schwindsucht. Er wird als ein gütiger, stUler, absolut zuverlässiger fleißiger Mann geschildert. Am Schluß seines Lebens war er Geldbriefträger, der viele Freunde und keine Feinde hatte. Meine Großmutter Marie Carstens geb. Detjen, die ich noch gut gekannt habe, war energischer und unternehmungslustiger. Sie reiste viel zu ihren Verwandten nach Zeven und Sittensen und in die Heimat meines Großvaters nach Visselhövede und Schwitschen. Mich, ihren einzigen Enkel, umgab sie mit unendlicher Liebe und Fürsorge. Sie war 1849 in Zeven im alten Erzbistum, dem späteren Herzogtum Bremen geboren, das von 1648 bis 1712 schwedisch gewesen war. Davon merkte man allerdings im 19. Jahrhundert nicht mehr allzu viel. Aber das Christinen-
Haus in Zeven, nach der Königin Christine von Schweden benannt, die dort einmal gewohnt hatte, und der Ausdruck „er sitzt hinter schwedischen Gardinen" für jemanden, der eine Gefängnisstrafe verbüßte, erinnerten daran. Meine Großmutter stammte gleichfalls von Bauern ab. Ihr Vater besaß einen kleinen Hof in Zeven, ihre Mutter Gesche Ehlen, die 85 Jahre alt wurde, stammte von einem großen Hof in Brümmerhof bei Zeven. Deren Vater, Peter Ehlen, also mein Urargroßvater, pflegte, wenn seine Enkelkinder ihn besuchten, zu sagen: „So weit das Auge blickt, all unser Land". Tatsächlich gehörten etwa 130 hannoversche Morgen, das heißt etwa 34 Hektar, zum Hof. Die Namen Detjen und Ehlen sind wie der Name Carstens typische niederdeutsche Namen. Detjen ist ein Diminutiv von Deterich gleich Dietrich. Ehlen geht auf den Vornamen Ellert zurück. Meine Großmutter besuchte in Zeven die Volksschule, eine offenbar sehr gute Schule. Sie kannte bis in ihr hohes Alter Schillers „Glocke", ein Gedicht von 2000 Wörtern, und viele andere klassische Gedichte auswendig und besaß damit einen reichen geistigen Schatz, der sie nie verließ. Sie war eine tapfere Frau. Ihren Mann und zwei Söhne hatte sie durch den Tod verloren. Aber sie ließ sich nicht vom Leid niederdrücken. Sehr hing sie an Zeven, wie ich meine, mit Recht. Es ist eine schöne alte Stadt mit der romanischen Vituskirche aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Ich habe Zeven 1986 bei seiner 1000-Jahrfeier wieder besucht und daran erinnert, wie viel meine Großmutter und damit auch ich dieser Stadt verdankten. Während der schlechten Jahre im und nach dem Ersten Weltkrieg besuchte meine Großmutter ihre Verwandten in Zeven und die ihres Mannes in Visselhövede, um Lebensmittel zu bekommen. Aus Visselhövede ist folgender Ausspruch von ihr überliefert: „Us Karl (das war ich) is so hoch upschoten und nix in Liev, und he schall doch noch so veel leem')." Meine Großmutter verlor ihr kleines Vermögen in der Inflation. Es bestand im wesentlichen aus einer Hypothek von 10 ООО Goldmark, die sie einem Bremer Kaufmann geliehen hatte. Er zahlte die Summe 1923 zurück, als man für 10 ООО Mark gerade ein Pfund Butter kaufen konnte. Meine Großmutter war darüber sehr verbittert. Aber sie hatte noch ihre kleine Pension, von der sie bescheiden lebte.
2. Mein Vater Mein Vater vrarde am 19. Februar 1877 in Bremen geboren. Er besuchte dort die Volksschule und danach zunächst die Realschule in der Altstadt, dann die Handelsschule, die spätere Oberrealschule in der Dechanatsstraße, wo er 1895 die Reifeprüfung bestand. Er erhielt im Abitur die Gesamtnote „sehr gut", ebenso wie übrigens drei Jahre später sein Bruder WUly. Die bremischen Lehrer staunten nicht wenig über das Ausmaß an Begabung, das in dieser unscheinbaren Famüie aus kleiner bäuerlicher Abkunft zum Vorschein kam.
Siehe Festschrift zum 600-jährigen Jubiläum von Visselhövede 1988 S. 159.
Der Lebensweg meines Vaters ist ein typisches Beispiel dafür, daß Vererbung und Umwelt den Werdegang eines Menschen bestimmen. Die Vorfahren sowohl mütterUch- wie väterUcherseits besaßen sicher eine latente Begabung, die Fähigkeit zum klaren, logischen Denken, eine gute Ausdrucksfähigkeit und ein sehr gutes Gedächtnis. Bei einem Vetter meines Vaters, August Carstens, der Volksschullehrer und später Rektor in Harsefeld war, trat diese Begabung deutlich zutage. Aber nur mein Vater imd sein Bruder hatten die Chance, eine höhere Schule zu besuchen, was in damaliger Zeit für die Bauemkinder in der Heide oder in Zeven völlig undenkbar war. So haben mir später meine Verwandten in Visselhövede im Scherz vorgehalten, daß der Aufstieg unseres Familienstammes letzten Endes dem Schuß zu verdanken sei, der meinen Großvater bei Langensalza traf. Diese Verwundung beendete seinen Beruf als Tischler. Die Laufbahn des Postbeamten, die er danach ergriff, führte ihn nach Bremen und gab ihm die Chance, seine Kinder auf die höhere Schule zu schicken. So ist die Geschichte meiner Familie zugleich ein Beitrag zu dem Thema „Chancengerechtigkeit". Ich habe mich in meinen späteren Ämtern immer dafür eingesetzt, daß begabten Schülern die Chance zum Besuch höherer Schulen geboten wird, einerlei ob ihre Eltern arm oder begütert sind, und einerlei, ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen. Freilich bin ich immer skeptisch gebheben gegenüber bestimmten, in der Gleichheitsideologie virurzelnden bildungspolitischen Projekten, die möglichst allen Schülern ohne Rücksicht auf ihre Begabung den Weg zum Abitur öffnen wollen. 1895 nahm mein Vater das Studium auf, ein in jeder Hinsicht anspruchsvolles Studium: Er studierte Germanistik, Anglistik und Romanistik in Marburg, Paris, Berlin und London. In Marburg trat er einer nicht schlagenden studentischen Verbindung, dem Akademischen Neuphilologischen Verein, bei und gewann dort gute Freunde. Nach Beendigung seines Studiums absolvierte mein Vater die einjährige Militärdienstzeit beim Bremischen Infanterieregiment 75. Er hat sich darüber in einem Brief an einen Freund, den Bildhauer Köper, sehr kritisch geäußert. Es war „eine grauenhaft stumpfsinnige Zeit", schreibt er. Aber es hatte auch einige erhebende Momente gegeben, wenn von jedem einzelnen Soldaten „größte Kraftanstrengung verlangt woirde". Er gewann damals „enormes Zutrauen zu seiner körperlichen Leistungsfähigkeit". Übrigens vrarde er auch ein passionierter Reiter. Deutsche Literatur und deutsche Literaturgeschichte waren seine Hauptfächer. Aber er beherrschte außerdem die englische und die französische Sprache und kaimte die Literatur dieser Länder. Die französische Geisteswelt zog ihn besonders an. Er vermittelte seinen Schülern Balzac, Flaubert, Maupassant. Vor allem verehrte er Zola. Über ihn hat er gearbeitet und Vorträge gehalten. Es war nicht zuletzt das soziale Engagement Zolas, seine schonungslose Kritik an den frühkapitahstischen Produktionsverhältnissen, die meinen Vater faszinierte. Auch der Kampf Zolas um die Rehabilitierung des zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmanns Dreyfuss begeisterte meinen Vater. Er verachtete jede Form von Antisemitismus.
Welche politische Partei mein Vater gewählt hat, weiß ich nicht. Seine Sympathien galten sicher mehr dem linksliberalen poUtischen Spektrum. Als meine Mutter einmal von Kaiser Wilhelm II. schwärmte, den sie glühend verehrte, sagte mein Vater zu ihr: „Fräulein Clausen, Sie sitzen auf einem morschen Ast". Das war etwa 1907 und zeigt die Skepsis meines Vaters gegenüber der Person des Kaisers, aber auch gegenüber der damaligen Verfassungsordnung Preußens. Im Jahre 1901 trat mein Vater in den bremischen Schuldienst ein. 1903 wurde er Oberlehrer, die damalige Bezeichnung für Lehrer an höheren Schulen, am Realgymnasium in Bremen, der heutigen Hermann-Böse-Schule. Er war ein begnadeter Lehrer. Er förderte die Begabung jedes einzelnen seiner Schüler und Schülerinnen. Besonders seine Schülerinnen hat er, wie sie später gesagt haben, geistig geprägt. Sie haben ihn geUebt und verehrt und meiner Mutter und mir nach seinem Tode jahrzehntelang die Treue gehalten. Die Unterrichtsstunden über Goethes Faust gehörten zu den Höhepunkten ihrer Schulzeit. „Sein Wesen strahlte Sicherheit, Heiterkeit, Güte und Wärme aus", schrieb Frieda Dröscher geb. Plate, eine Schülerin, die ihm besonders nahestand. Sie ist die Mutter von Vitus B. Dröscher, dem bekannten Schriftsteller. Er sei von großer Geduld, unerschütterlicher Ruhe und Freundhchkeit gewesen. Er ließ jedem seiner Schüler die Freiheit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. „Noch unbev^mßt oder halbbev^mßt keimte in uns der Wille auf, nach höchstem Dasein immerfort zu streben". Mein Vater behandelte im Unterricht auch die damals moderne Malerei, die Impressionisten und die Expressionisten. Eingehend sprach er über van Goghs Mohnfeld, dessen Ankauf durch die Bremer Kunsthalle wilde Proteste in der Stadt ausgelöst hatte. Er hatte aber auch den Mut, Schülern, die sich übermäßig plagten, zum Schulabgang zu raten. Hans Ostermann, der später ein außerordentUch erfolgreicher deutsch-amerikanischer Unternehmer in New York wurde, hat meinem Vater zeitlebens dafür gedankt, daß er ihm geraten hat, mit dem Einjährigen, das heißt mit 16 Jahren, die Schule zu beenden. Mein Vater beschäftigte sich eingehend mit pädagogischen Grundsatzfragen. Er verglich den jungen Menschen mit einem jungen Baum, den man stützen müsse, bis er feste Wurzeln im Erdreich gefaßt und die Kraft erlangt habe, den Stürmen des Lebens zu widerstehen. Einen besonders hohen Erziehungswert maß er dem Kunstwerk bei und schrieb darüber in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Das Kunstwerk müsse, so sagte er, nicht nur in seiner ästhetischen, sonden auch in seiner ethischen Wirkung erfaßt werden. Unter Hinweis auf Dilthey, Gundolf, Simmel und Kuno Fischer forderte er, daß bei der Behandlung der Werke der Literatur der Zeitgeist und die individuelle Weltanschauung des Dichters erforscht würden. Zur Promotion kam mein Vater erst verhältnismäßig spät. Ethymologie, Sprachforschung und Namensforschung waren Gebiete, die ihn seit langem beschäftigten, und so wählte er sich als Thema seiner Doktorarbeit „Beiträge zur Geschichte der bremischen Famihennamen". Mit dieser Arbeit promovierte er
1906 in Marburg bei dem Neuphilologen Friedrich Vogt^). Die Fakultät bewertete die Dissertation mit „lobenswert". Die Arbeit ist bis heute grundlegend für die niederdeutsche Namensforschung geblieben und wird in den einschlägigen Veröffentlichungen noch regelmäßig zitiert. Einen wichtigen Teil des Lebens meines Vaters bildeten in jenen Jahren die militärischen Übungen, die er zunächst als Offiziersanwärter, dann als Leutnant, schließlich als Oberleutnant ableistete. Seine große pädagogische Fähigkeit kam ihm auch dabei zustatten. Er gewann die Zuneigung der Soldaten nicht zuletzt deswegen, weil er selbst vor keiner кофегИсЬеп Strapaze zurückschreckte, sondern in schwierigen Lagen immer selbst voranging. 1909 heirateten meine Eltern. Sie hatten sich beim Tennisspiel kennengelernt und verlobten sich bei einer gemeinsamen Schlittschuhtour auf dem Eise bei klirrender Kälte im Angesicht der kleinen Dorfkirche Sankt Jürgen, bis heute ein Juwel in der norddeutschen Landschaft. Die Bremer betrieben damals den Schlittschuhsport nach Art der Holländer. Auf langen flachen Schlittschuhen, „Holländer" genannt, machten sie ausgedehnte Touren über 20, 30 und mehr Kilometer auf den überschwemmten Wiesen der Wümme und der Hamme. Meine Eltern bezogen eine Wohnung in der Fitgerstraße. Meine Mutter war verhältnismäßig wohlhabend, was meinen Vater aber eher störte als erfreute. Jedenfalls sträubte er sich mit Entschiedenheit und mit Erfolg, als sie ihm eine goldene Uhr schenken wollte. Täglich machten meine Eltern Spaziergänge im nahe gelegenen Bürgeφark. Die Harmonie und Liebe, die sie miteinander verband, war, das spürten die Verwandten und Freunde, einzigartig. Freilich war mein Vater in Bremen nicht wirklich glücklich. Die soziale Gliederung und die damit verbundene unterschiedliche Wertschätzung der einzelnen Klassen der Bevölkerung störten ihn. Bekanntlich gab es in Bremen damals ein sehr merkvrärdiges Achtklassen-Wahlrecht. In Klasse 1 waren Bürger mit Universitätsbildung wahlberechtigt. Aber die Absolventen technischer Hochschulen gehörten nicht dazu. In Klasse 2 wählten die Kaufleute, in Klasse 3 die Gewerbetreibenden, in Klasse 4 alle anderen Bürger der Stadt, und in den Klassen 5 bis 8 die Einwohner der Städte Bremerhaven und Vegesack und der ländlichen Gebiete. Allerdings äußerte sich mein Vater auch kritisch über die preußischen Beamten, denen er geistige Enge vorwarf. Er erwog aber lange Zeit, nach Frankfurt oder Wiesbaden zu gehen, wo sein Freund Weimann lebte. Eine große Anziehungskraft behielt für meinen Vater Paris. Dorthin wäre er gem wieder gereist, zumal ein guter Freund von ihm, der Schriftsteller Alexander Uhlemann, der sich später Alexandre Ular nannte, dort lebte. Einen Höhepunkt der gemeinsamen Jahre meiner Eltern bildete eine Klassenfahrt mit der Oberprima nach Weimar. Aber sie blieben auch vom Unglück nicht verschont. Zweimal hatte meine Mutter, die sich sehr nach Kindern sehnte, eine Fehlgeburt. Bei der dritten Schwangerschaft im Jahr 1914 ordnete der Arzt an, daß meine Mutter während der letzten Monate liegen müsse. In diese Karl Carstens, Beiträge zur Geschichte der bremischen Familiennamen, Diss. Marburg 1906.
Zeit fielen Mobilmachung und Kriegsausbruch. Am 3. August 1914 nahmen meine Ehern herzzerreißenden Abschied voneinander. Mein Vater ahnte, daß er nicht zurückkommen würde. Beim Weggehen traf er eine Nachbarin Agnes Sander-Plump, meine spätere Patentante, eine Malerin, und sagte zu ihr: „Ich werde nicht wiederkommen. Bitte nehmen Sie sich meiner Frau und des Kindes an". Agnes Sander hat das getreulich getan. Mein Vater wurde zum Infanterieregiment 31 in Altona berufen und übernahm dort die 11. Kompanie. Nach einigen Wochen der Aufstellung auf dem Gut Hörst bei Eckemförde wurde das Regiment im Westen eingesetzt. Es marschierte durch Belgien nach Nordfrankreich. Hier hatten die deutschen Streitkräfte nach dem Rückschlag an der Marne neue Stellungen bezogen. Es kam zu erbitterten Kämpfen mit den Franzosen. Der Übergang über die Oise wurde unter schweren Verlusten erzwungen. Mein Vater erhielt das Eiserne Kreuz. Anfang Oktober lag das Regiment in der Nähe von Noyon. Auf einem Erkundungsgang im Arbre de Cany traf meinen Vater die tödliche Kugel. Auf der Bahre liegend, bei langsam verlöschendem BewTißtsein, schenkte er seiner Gefechtsordonnanz Louis Behnke aus Uthlede seinen Feldstecher. „Frau" war sein letztes Wort, ehe er verschied. Er wurde an der Wegekreuzung in La Potière beigesetzt auf französischem Boden in dem Land, das er so geliebt hatte und dessen Geisteswelt ihm so eng vertraut war. Es war ein tragisches Schicksal, das er mit vielen seiner Kameraden teilte, ein bewegendes Zeugnis für die Sinnlosigkeit dieses Krieges. Später im Jahre 1917 wurde der Sarg nach Bremen überführt. Pastor Bode von der Ansgari-Kirche hielt in der überfüUten Friedhofskapelle des Riensberger Friedhofs die Traueransprache. Sie hatte wenig Bezug zum christlichen Glauben. Das entsprach der damaligen liberalen Richtung der evangelischen Kirche in Bremen. Statt dessen zeichnete Bode meinem Vater als den von Goetheschem Geist erfüllten humanen Lehrer. Die Predigt schloß mit den Versen von Goethe: „Es rufen von drüben die Stimmen der Geister die Stimmen der Meister, versäumt nicht zu üben die Kräfte des Guten. Hier flechten sich Kronen in ewiger Stille. Sie werden mit Fülle die Tätigen lohnen. Wir heißen Euch hoffen. " Mein Vater hat auf mein Leben einen kaum zu ermessenden Einfluß ausgeübt. Durch die Schilderungen meiner Mutter, seiner Kollegen, seiner Kriegskameraden und vor allem seiner Schüler stand er mir ständig vor Augen. Er erschien mir als Vorbild schlechthin. Ihm nachzueifern, seinem Gedächtnis Ehre zu machen, sind jahrzehntelang Leitmotive meines Lebens gewesen. Kaum ein AugenbHck in meinen Jugendjahren hat sich mir so tief eingeprägt wie der Glückwunsch des Schulrates, eines früheren Kollegen meines Vaters, der mir
nach meinem mit „Auszeichnung" bestandenen Abitur 1933 die Hand gab und sagte: „Ihr Vater wäre stolz auf Sie". Später, als ich in der Politik wichtige Funktionen bekleidete, haben sich Psychologen mit mir beschäftigt und gemeint, diese starke Vaterbindung sei zu einseitig gewesen. Es habe der Konflikt mit dem Vater, eine im Leben jedes Jungen normale Phase, bei mir gefehlt. Dadurch hätte ich ein übermäßiges Harmoniebedürfnis entwickelt. Das sei für mich und auch für die von mir bekleideten Funktionen nachteilig. Mit diesen Theorien kann ich mich mangels eigener Kenntnisse in der Psychologie nicht auseinandersetzen. Ich kann nur sagen, daß ich meinen Vater auch heute noch liebe, verehre und stolz auf ihn bin. 3. Mütterliche Vorfahren Über meine mütterlichen Vorfahren und über meine mütteriiche Familie weiß ich weit mehr als über die Seite meines Vaters. Das liegt natürlich daran, daß ich meinen Vater nicht gekannt habe und er mir nichts über seine Familie erzählen konnte. Er hatte aber auch, anders als meine Mutter, keinen ausgesprochenen Familiensinn. Als meine Mutter ihn einmal fragte, wie viele Vettern und Cousinen er habe, antwortete er nach einigem Zögern: „Zwei". Die Antwort war falsch. Er hatte weit mehr, aber den väterlichen Zweig hatte er nicht mitgezähh. Als sich das herausstellte, war meine Mutter sprachlos. Sie hatte 36 Vettern und Cousinen und hatte jeden ihrer Namen und ihrer Geburtstage im Kopf. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, daß die Familie meiner Mutter von einer Insel, von Fehmarn, stammte. Auf Inseln entvdckelt sich bekanntlich der Familiensinn besonders stark.
Die Mackeprangs Die Mutter meiner Mutter hieß mit Mädchennamen Margarethe Mackeprang. Sie stammte aus einem aUen Bauemgeschlecht der Insel Fehmarn. Viele fehmamschen Bauernnamen kommen in ihrer Ahnentafel vor, außer Mackeprang Wüder, Witte, MUdenstein, Lafrentz, Sievert, Rauert, Rahlf, Gossel. Wir nehmen an, daß unsere Vorfahren zu den ersten Deutschen gehörten, die nach 1150 die Insel besiedelten. Bis dahin hatten etwa 600 Jahre lang Slawen dort gewohnt, worauf zahlreiche fehmamsche Ortsnamen slawischen Ursprungs bis heute hinweisen: Puttgarden, Freesen, Bannesdorf, Galendorf, Bojendorf, Glambeck und andere. Vermutlich haben Deutsche und Slawen sich im Laufe der Jahrhunderte vermischt. Von den Mackeprangs, deren Name erst verhältnismäßig spät, Anfang des 16. Jahrhunderts, auf Fehmarn auftaucht, vermute ich, daß sie einen starken slawischen Blutanteil haben. Jedenfalls war Tante Johanna Kleingam geborene Mackeprang, die abstammungsmäßig als „reinrassige" Mackeprang galt, dunkel. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar und ganz dunkle Augen. Ebenso hatte meine Mutter dunkle Augen. Auch das Temperament der Mackeprangs ist lebhafter als das der deutschen Stämme (Dithmarschen, Westfalen, Holsten), die nach 1150 auf Fehmarn einwanderten. 8
Fehmarn war früher eine Weh für sich. Heute haben sich die Besonderheiten der Insel durch den Zuzug vieler Flüchtlinge nach 1945 und durch den Bau der Sundbrücke verwischt. Früher sagten die Fehmaraner, wenn sie aufs Festland fuhren: „Wi fort na Europa". Sie sahen sich also als den sechsten Erdteil an. Die Landschaft Fehmarn, so hieß die Insel bis zu ihrer Eingliederung in den preußischen Staatsverband im Jahr 1864, genoß viele Privilegien. Am wichtigsten war vielleicht, daß dem Adel durch könighch-dänisches Dekret untersagt war, Landbesitz auf Fehmarn zu erwerben. Dadurch blieben die Bauern frei und gerieten niemals in eine persönliche Abhängigkeit oder gar Leibeigenschaft, anders als viele Bauern im gegenüberUegenden Ostholstein. Mehr noch: Die Fehmaraner verwalteten sich unter der Aufsicht des vom König ernannten Landvogts selbst. Auch die Landvögte kamen häufig aus den alten BauemfamiUen. Zwei meiner Vorfahren waren Landvögte. Die fehmamschen Bauern übten die Gerichtsbarkeit über alle Einwohner der Insel aus. Noch 1852 wurde ein Todesurteil von einem Bauemgericht, in dem der Landvogt den Vorsitz hatte, verhängt und vollstreckt. Die Insel war in drei Kirchspiele eingeteilt. Der höchste Repräsentant jedes Kirchspiels hieß Kämmerer. Dazu kam als vierte poUtische Einheit die Stadt Burg, die 1329 mit dem Lübschen Recht belehnt wurde. Die Inselgeschichte, und insbesondere meine Familiengeschichte, verzeichnet ungezählte, zum Teil sehr düstere Episoden von Kriegen und Brandschatzung durch fremde Soldaten, von Kindesentführung, Erbschleicherei und noch schwereren Vergehen. Im 19. Jahrhundert war eine der eindrucksvollsten Gestalten der Insel mein Urgroßvater, der Kämmerer Friedrich August Mackeprang (1821-1909). Er bewirtschaftete 51 Jahre lang den alten FamiUenhof in Meeschendorf und brachte es zu großem Wohlstand. Schheßhch besaß er 200 Hektar Land auf Fehmarn, das heißt Boden erster Güteklasse. Er konnte jedem seiner drei Söhne einen stattlichen Hof hinterlassen. Er war extrem sparsam und ein Autokrat. Über ihn sind noch heute viele Geschichten in Umlauf. So lehnte er als Kirchenähester den Einbau eines Ofens in der Burger Kirche mit der Begründung ab: „Wozu brauchen wir einen Ofen. Lassen wir uns doch von der Predigt erwärmen". Er war von starker Willenskraft, vollständig furchtlos, eine Eigenschaft, die er auf einige seiner Nachkommen vererbt hat. Er besaß eine große und von allen akzeptierte Autorität. Er war auch ein frommer Mann. Immer wenn Pläne für die Zukunft gemacht wurden, fügte er hinzu: „So Gott will." Wenn Kinder oder Enkelkinder aufs Festland fuhren, pflegte er zu sagen: „Föhr mit Gott." Zusammen mit seiner Frau Gertrude geborene Wilder - nach ihr hieß meine Mutter Gertrud - hatte er sechs Kinder und 36 Enkelkinder. Meine Mutter war seine Lieblingsenkelin. Sie führte ihm nach dem Tode seiner Frau eine Zeitlang den Haushalt. Zum Dank vermachte er ihr die Gartenzimmermöbel aus der Zeit um 1770, die wir noch heute als den wertvollsten Teil unserer Einrichtung ansehen. Von den vielen Vorfahren meines Urgroßvaters will ich nur einige wenige erwähnen, seinen Großvater, Justizrat Johann Friedrich Mau und dessen Vater Pastor Andreas Mau aus Altenkrempe bei Neustadt in Holstein, den Begründer
eines zahlreichen Geschlechts. An seinem Grabe haben sich auf meine Veranlassung im Jahre 1984 etwa dreißig seiner Nachkommen versammelt, darunter Carl Mau, der langjährige Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes in Genf, ein gebürtiger Amerikaner. Der Sohn von Pastor Andreas Mau, Justizrat Johann Friedrich Mau (1765—1830), war geistig vielseitig interessiert und regsam. Er hat uns eine Fülle von schönen Gedichten hinterlassen. Er hatte 13 Kinder. Der andere Vorfahre, den ich erwähnen möchte, war gleichfalls Pastor, und zwar in Landkirchen auf Fehmarn. Er hieß Michael Mackeprang, lebte von 1702 bis 1762, ein hochangesehener Bürger der Insel, verheiratet mit Cäcilia Benigna geborene Chemnitz, die aus Pritzwalk in der Mark Brandenburg stammte. Aus dieser Familie sind zahlreiche Bürgermeister, Gelehrte, Pastore und berühmte Glasbläser hervorgegangen. Auch der Dichter des Schleswig-Holstein-Liedes Matthäus Friedrich Chemnitz (1815-1870) gehört zu dieser Familie. Die fehmamschen Bauern werden im 19. Jahrhundert sehr reich. Vielleicht profitierten sie von der Kontinentalsperre. Sie lebten und feierten in großem Stil. Meine Großmutter pflegte zu sagen, so wie Selma Lagerlöf in ihrem Roman Gösta Berling das Leben auf den Gütern in Värmland geschildert habe, so sei es in ihrer Jugendzeit auf Fehmarn zugegangen. Die Bauern fuhren in großen dunklen Kutschen, von Holsteiner Pferden gezogen, zweispännig und manchmal auch vierspännig durchs Land. Besonders die Feste der Vettemschaften waren und sind noch Höhepunkt im gesellschaftlichen Leben der Insel. Die Vettemschaften sind uralte Sippenverbände, wie sie sonst noch in Dithmarschen vorkommen. Ihr ursprünglicher Zweck war gegenseitiger Beistand in allen Fährnissen und Notlagen. Die Vettern traten füreinander als Eideshelfer auf. Notleidende Vettern wurden unterstützt. Mehrfach kauften die Vettemschaften solche Vettern frei, deren Schiffe bei der Fahrt durchs Mittelmeer von Sarazenen aufgebracht und die dadurch in Sklaverei geraten waren. Der Vorsitzende der Vettemschaft heißt Worthalter. Stirbt ein Vetter, so geben ihm alle Vettern das letzte Geleit. Wenn aber ein Vetter ohne Leibeserben starb, mußte er seinen „Harnisch" der Vettemschaft hinterlassen. Das waren ursprünglich sicher seine Waffen. Später war Hämisch die Bezeichnung für ein Vermächtnis in Höhe von fünf Prozent des Vermögens, auf das die Vettemschaft Anspmch hatte. Von den alten Fehmaraner Vettemschaften besteht nur noch eine, die der Mackeprangen und Witten. Worthalter ist seit 30 Jahren mein Vetter Fritz Mackeprang aus Meeschendorf. Natürlich hatten die alten Familien auch Wappen, die Mackeprangs eine Möwenklaue, weil sie glaubten, daß das der ethymologische Ursprang ihres Namens sei. Erst mein Vater, der Namensforscher, klärte sie auf : Mackeprang bedeutet Streitmacher und heißt wohl so viel wie der Streitbare oder vielleicht auch der Anführer im Kampf. Von den sechs Kindem meines Urgroßvaters Friedrich August Mackeprang studierte der älteste Sohn Jura. Die drei anderen Söhne erbten drei Höfe, nachdem sie zuvor die höhere Schule in Lübeck bis zur Mittleren Reife besucht hatten. Danach dienten sie in feudalen Reiterregimentem, zum Beispiel bei 10
den Grünen Husaren in Düsseldorf. Mein Urgroßvater tat etwas für die Ausbildung seiner Kinder und scheute, der sonst so sparsam war, dafür keine Ausgaben. Auch die Töchter genossen eine sehr gute Erziehung durch den von ihnen verehrten Lehrer Ruser, einen illegitimen Nachkommen eines dänischen Königs, dem eine schöne Fehmaranerin den Kopf verdreht hatte. Später verbrachte meine Großmutter ein Jahr bei Verwandten in Antwerpen, so daß sie gut Französisch sprach. Sie war eine sehr gebildete Frau. Bei einer Abendgesellschaft unterhielt sie sich mit ihrem Tischnachbam lange über Neapel, bis dieser sie schließlich fragte: „Wann waren Sie das letzte Mal dort?" Die Antwort meiner Großmutter: „Ich war nie da. Was ich über Neapel weiß, weiß ich aus Büchern und von Bildern". Sie war eine gefühlvolle Frau und konnte unendlich schwelgen. Als sie einmal zu Besuch bei ihrer Schwester Caroline, verheiratete Numsen, weihe, fuhren die beiden Frauen zu später Abendstunde im offenen Landauer und begannen alsbald über den Sternenhimmel zu schwärmen. Sie machten sich gegenseitig auf die verschiedenen Sternbilder Orion, Waage, Leier, Jungfrau usw. aufmerksam und gerieten dabei so in Begeisterung, daß schließlich auch der Kutscher gen Himmel blickte, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Erfolg: Der Wagen landete im Graben. 1877 mit 26 Jahren heiratete meine Großmutter den Bauingenieur Wilhelm Clausen. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Aber das große Glück war es wohl für beide nicht. Mit um so größerer Liebe umgab meine Großmutter mich, ihren ersten EnkelsOhn. Ich bewahre eine sehr schöne Erinnerung an sie, obwohl ich sie zuletzt gesehen habe, als ich erst 2 У4 Jahre alt war. Sie starb 1917 an Darmkrebs. Die
Clausens
Über keinen Zweig meiner Famihe weiß ich so viel wie über meine Clausenschen Vorfahren. Meine Tante Carla Weidemann geborene Clausen war eine angesehene Familienforscherin und hat sich um die Aufhellung unserer familiären Ursprünge große Verdienste erworben. Ihr Sohn, mein Vetter Professor Volker Weidemann, setzt ihre Arbeit fort. Der Clausensche Stammbaum umfaßt etwa 250 Namen. Der Älteste, Eggeling boven dem Kerkhove, gehörte von 1231 bis 1253 dem Rat der Stadt Braunschweig an. Geographisch verteilen sie sich über ganz Deutschland von Regensburg über Wertheim bis nach Schleswig, und im Osten nach Mecklenburg und Pommem. Es gibt auch eine dänische Linie. Ein Vorfahre Jep Jespersen Engberg war 1560 Ratsherr in Stubbeköping auf der Insel Falster. Viele verschiedene Berufe finden sich unter meinen Clausenschen Ahnen, von Insten, das sind ländhche Arbeiter ohne eigenen Grundbesitz, die also zu den ärmsten Schichten gehörten, bis zu adeligen Besitzern großer Güter in Pommem und Mecklenburg, dazu viele Bauern. Ein Stamm meiner Clausenschen Vorfahren mündet in meine Mackeprangsche Ahnentafel auf Fehmarn ein. So stamme ich von denselben fehmamschen Bauern auf mehrfache Weise ab. 11
Clausensche Vorfahren waren auch Ratsherrn, Bürgermeister, so in Braunschweig, Osnabrück, Wertheim, Burg auf Fehmarn, Kiel, Rostock, Güstrow, Neustadt in Holstein. Viele waren Handwerker, zum Beispiel Bäcker, Weber, Tischler, Schneider, Dachdecker, auch Kaufleute, Gastwirte und Seeleute. Etliche hatten studiert, Medizin, Theologie, Jurisprudenz. Einige bekleideten hohe Ämter an Fürstenhöfen. Der bedeutendste unter ihnen war Johann Phihpp Förtsch, geboren 1652 in Wertheim, gestorben 1732 in Eutin. Er war zugleich Arzt, Kapellmeister und leitender Minister des Fürstbischofs August Friedrich von Lübeck, der in Eutin residierte. Als der Bischof starb, verheimlichte Förtsch den Tod so lange, bis die holsteinischen Truppen in Eutin angelangt waren. Er sicherte die Nachfolge für einen holsteinischen Prinzen und wehrte durch kluge Diplomatie die dänischen Aspirationen ab. Johann Philipp Förtsch war auch ein bedeutender Komponist. Er nimmt zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach einen achtbaren Platz in der deutschen Musikgeschichte ein. Von den vielen Kantaten, die er hinterlassen hat, hat die Stadt Wertheim 1984 einige mit großem Erfolg aufgeführt. Etwa 50 Nachkommen von Förtsch hatten sich dazu eingefunden. Ein anderer bedeutender Vorfahre auf der Clausenschen Seite war Jacob Andreas Witte, mein Ururgroßvater, geboren 1779 in Burg auf Fehmarn, gestorben 1842 gleichfalls in Burg auf Fehmarn. Er war zu seiner Zeit einer der angesehensten Bürger der Stadt, wo er einen stattlichen Hof besaß. Zugleich war er Kaufherr, Ratsherr und Stadtvogt. Ihm schenkte, so weiß es die Familienüberlieferung zu berichten, der dänische König Friedrich VI. zwei Ölbilder, die ihn und die Königin Marie-Sophie, eine geborene hessische Prinzessin, zeigen. Sie sind jetzt in meinem Besitz. Ich schätze sie hoch, weil sie auch ein Beweis für das gute Verhältnis zwischen dem dänischen Königshaus und seinen schleswig-holsteinischen Untertanen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sind. Die Spannungen setzten später ein, von der Mitte des Jahrhunderts an, und haben die deutsch-dänischen Beziehungen fast 100 Jahre lang schwer belastet. Zum Glück hat sich der Horizont in den letzten Jahren wieder aufgehellt. Um so wichtiger ist es, auf die jahrhundertelangen, traditionell guten Beziehungen immer wieder hinzuweisen. Ich habe das bei der Taufe des nach mir benannten Fährschiffs „Karl Carstens", das zwischen Puttgarden und Rödby auf Lolland verkehrt, im Jahre 1986 in einer Rede zu tun versucht'). Doch zurück zu Jacob Andreas Witte. Seine Tochter Dorothea Charlotte Witte (1816-1898) heiratete im Jahre 1842 den Rechtsanwalt und Notar Friedrich Konrad Clausen (1815-1878), einen Sohn des Kirchenpropstes Peter Clausen (1772-1851). Friedrich Konrad Clausen war klein von Statur. Er erwarb sich als Anwalt einen guten Namen auf Fehmarn. Auch war er an der Gründung der freiwilligen Feuerwehr in Burg beteiligt. Seine Frau war zart, nervös und viel Ansprache bei der Indienststellung des Fährschiffes am 2. Mai 1986 in GEIST S. 3 5 2 - 3 5 4 . Vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Mai 1986 („ ,Karl Carstens' löst .Theodor Heuss' ab"). 12
krank, wurde allerdings trotzdem 82 Jahre alt. Ihre weiblichen Nachkommen, auch meine Mutter, pflegten ihre Nervosität und einen gewissen Hang zur Schwermut auf sie zurückzuführen, wie überhaupt in unserer Familie die Neigung besteht, eigene Schwächen einem der vielen Vorfahren anzulasten. Das ist ein Nachteil, wenn man über seine Ahnen so gut Bescheid weiß. Meine Urgroßeltern hatten drei Söhne, meinen Großvater Wilhelm Clausen (1843-1896) und seine Brüder Heinrich (1844-1917), der Pastor wurde, und Peter (1851—1922), der als staatlicher Wasserbaudirektor der Provinz Westfalen den Bau des Dortmund-Ems-Kanals leitete und zu seiner Zeit das angesehenste Mitglied der Clausenschen Familie war. Mein Großvater Wilhelm Clausen studierte von 1861 bis 1866 Ingenieurwissenschaften, insbesondere Eisenbahnbau und Wasserbau an der Technischen Hochschule in Hannover. 1867/68 diente er als Einjährig-FreiwiUiger beim Kaiser-Franz-Gardegrenadier-Regiment Nr. 2 in Berlin. Am Kriege 1870/71 nahm er mit dem Holsteinischen Infanterieregiment Nr. 85 teil. 1874 erhielt er die Qualifikation als Baumeister. Er trat zunächst in den preußischen Staatsdienst, wo er u. a. die Trockenlegung des Cismarer Klostersees leitete. 1877 heirateten meine Großeltem in Burg auf Fehmarn. Zwei Jahre später übersiedelte die Familie nach Bremen. Hier wurde mein Großvater ein Mitarbeiter des genialen bremischen Wasserbauingenieurs und Oberbaudirektors Ludwig Franziskus, der den Bremer Freihafen baute und vor allem die stark versandete Weser korrigierte, so daß die Seeschiffe die bremischen Häfen wieder erreichen konnten. Mein Großvater baute einen weiteren bremischen Hafen, den Holzhafen. Er war zugleich für die Deiche verantwortlich. Als 1880 der Wümmedeich nördUch Bremen brach und große Teile der Stadt überschwemmt wurden, leitete er die Arbeiten zur Wiederherstellung des Deiches und die Trockenlegimg des überschwemmten Landes. Tag und Nacht war er auf einer Barkasse unterwegs. Dabei, so sagte meine Mutter, zog er sich eine schwere rheumatische Erkrankung zu, die das Herz angriff und an der er 16 Jahre später, erst 53 Jahre alt, starb. Meine Mutter stand ihm besonders nah, zumal auch sie technisch begabt war. Er sagte oft zu ihr: „Wenn Du ein Junge wärst, müßtest Du mein Nachfolger werden". Eine Geschichte ist charakteristisch für meinen Großvater: Ein Bauer, der Ländereien hinter dem der Aufsicht meines Großvaters unterstehenden Wümmedeich besaß, schickte meinen Großeltem eines Tages einen großen Hasen. Meine Großmutter war glücklich, hatte es doch lange keinen Hasenbraten mehr gegeben. Aber als mein Großvater davon erfuhr, sagte er: „Der Hase geht sofort zurück". Er wollte sich auch nicht dem Anschein der Bestechlichkeit aussetzen. Meine Großeltem hatten einen lebhaften geselligen Verkehr mit ihren Nachbam, damnter der Familie Bachof, den Großeltem des bedeutenden Tübinger Lehrers des öffentlichen Rechts Otto Bachof, und im sogenannten Baukasten, wo sich die Architekten und Bauingenieure trafen. Diesem Kreis gehörte das Ehepaar Becker an, die Eltem von Paula Becker-Modersohn und die Großeltem meines Freundes Woldemar Becker-Glauch sowie das Ehepaar Bücking, mit deren Kindem meine Mutter und mit deren Enkeln ich gut befreundet war. 13
Aus der Ehe meiner Großeltem Clausen gingen fünf Kinder hervor, zwei Söhne starben schon, bevor ich geboren vnirde. Aber meine Mutter, ihr Bruder Fritz und ihre Schwester Annie wurden über 70 Jahre ah, meine Mutter sogar 83. In diesem Kreis der Familie wuchs ich auf. 1921 scheiterte die Ehe meines Onkels Fritz Clausen. Es folgte ein langer, erbitterter Scheidungsprozeß, in dem es vor allem um die vier Kinder ging, an denen mein Onkel sehr hing. Die Gerichte sprachen die Kinder zeitweilig ganz der Mutter, zeitweilig zwei der Mutter und zwei dem Vater zu. In jedem Fall hatte mein Onkel einen Anspruch, die Kinder wöchentlich einmal zu sehen. Ich wurde dann gebeten, sie bei ihrer Mutter abzuholen und bei meinem Onkel abzuliefern. Am nächsten Tag brachte ich sie zurück. Es schien, daß ich mich für derartige Vermittlungsaktionen gut eignete, zumal ich auch bei meiner geschiedenen Tante Elisabeth in gutem Ansehen stand. Die vier Kinder litten schwer unter der Trennung ihrer Eltern. Sie liebten beide und waren innerlich hin- und hergerissen. Ich bin mit ihnen in freundschaftlicher Verbindung geblieben. Peter, der Jüngste, fiel im Zweiten Weltkrieg. Liesel, die mit mir gleichaltrig war, wurde Krankenschwester, erkrankte dann selbst und schied viel zu früh auf tragische Weise aus dem Leben. Annelotte wurde Amtsgerichtsräün in Bremen. Sie ist eine prachtvolle Frau, zuverlässig, gerecht und rücksichtsvoll. Trade, eine aktive, bedeutende Frau, heiratete gegen Ende des Krieges Dr. Walther Kratz, hat zwei sehr sympathische Kinder und zwei Enkelkinder. 1923 starb der Onkel meiner Mutter, Peter Clausen, Wasserbaudirektor der Provinz Westfalen in Münster. Er hatte keine Kinder. Seine sieben Neffen und Nichten beerbten ihn daher und fuhren zur Erbverteilung nach Münster. Es muß eine recht vergnügliche Veranstaltung gewesen sein. Onkel Alfred Clausen, Oberlandesgerichtsrat in Celle, bemerkte scherzhaft, er habe zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes von den lachenden Erben erfahren. Dabei fiel die Erbschaft selbst bescheiden aus. Bargeld, Bankkonten und Wertpapiere waren entwertet. Alfreds Schwester, die rührende, äußerst sparsame und nahezu mittellose Elisabeth Clausen, wählte aus dem Nachlaß Onkel Peters vier lange Unterhosen gegen den Protest der andern, die das unpassend fanden. Aber sie erklärte, in der kahen Zeit hätte sie nicht genug Geld, um sich Kohlen zu kaufen. Sie könnte die warmen Unterhosen daher gut gebrauchen. Meine Mutter wählte die Königsbilder von Friedrich VI. von Dänemark und Marie-Sophie geborene Prinzessin von Hessen, die unserem Vorfahren Jakob Andreas Witte 1808 vom König geschenkt worden waren. Die anderen Erben wollten die Bilder nicht haben. Damals waren die Beziehungen zu Dänemark noch gespannt. Aber das war wiederum meiner Mutter ganz gleichgültig. Sie sah in den Bildern zu Recht den Ausdrack enger, guter Beziehungen zwischen Fehmarn und dem dänischen Königshaus zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Onkel Fritz wählte u. a. Onkel Peters Trommelrevolver. Er zeigte ihn meiner Mutter und sagte: „Du siehst, er ist nicht geladen". Meine Mutter: „Aber du würdest doch trotzdem damit niemals auf einen Menschen zielen". „Nein", sagte Onkel Fritz, und richtete den Revolver gegen die Zimmerdecke, drückte ab, und der Schuß fiel. Den Erben verging das Lachen. Fritz hatte die Kugel, die im Lauf steckte, übersehen. 14
4. Meine Mutter Meiner Mutter verdanke ich entscheidende, meinen späteren Werdegang bestimmende und mein Wesen prägende Einflüsse. Sie hat mich allein erzogen mit Liebe, Fürsorge und Festigkeit, und indem sie mir ein Vorbild für Standhaftigkeit und Gerechtigskeitssinn war. Meine Mutter wurde am 26. September 1880 in Bremen in der Kaiserstraße geboren. Als sie wenige Jahre alt war, siedelte die Familie in die Humboldtstraße über. Hier wurden Annie 1884 und Richard 1889 geboren. Hier entstanden auch Freundschaften mit den Familien Schröder, Bachof und Hülsen, die ein Leben lang gehalten haben. Meine Mutter war als Kind besonders klein, so daß ihre Mutter sich oft Sorgen machte, ob sie wohl wachsen würde. Aber sie war recht kräftig. So lernte sie früh, Schlittschuh zu laufen und zog zur Bewunderung des Publikums als kleinste Schlittschuhläuferin auf dem Stadtgraben ihre Kreise. Und sie war sehr mutig. Wenn ihr um ein Jahr älterer Bruder Carl von andern Jungens angegriffen vmrde, kam sie ihm zu Hilfe und jagte die Gegner davon. Ihr Vater, der das beobachtete, war ganz erschrocken und ermahnte sie, sich nicht solchen Gefahren auszusetzen. In der Mitte der 90er Jahre trafen die Familie Clausen zwei schwere Schläge. Der jüngste Bruder Richard starb im Alter von 7 Jahren an Lungenentzündung, und wenige Wochen danach starb der Vater meiner Mutter im Alter von 53 Jahren. Bruder Fritz ging auf die Universität. Bruder Carl, der die kaufmännische Lehre im Weinhandel absolviert hatte, ging nach Spanien, um dort die Vertretung eines Bremer Weinimporthauses zu übernehmen. Er blieb dort bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1911. So v^rurde es stiller im Humboldtstraßenhaus. Die Mutter, Gertrud und Annie blieben zusammen. Die einzige Schwester meiner Großmutter, Tante Caroline, hatte einen holsteinischen Landwirt, Friedrich Numsen, geheiratet, der etwa 1890 das große Gut Lehmkuhlen bei Preetz pachtete. Er war ein ungewöhnlich tüchtiger und umsichtiger Mann und brachte es zu großem Wohlstand. Da meine Großmutter und ihre Schwester sich sehr nahestanden, v\rurden die Bremer Clausens jedes Jahr zu Besuch nach Lehmkuhlen eingeladen. Sie haben dort vnmdervolle Zeiten erlebt. Der Lebensstil war entsprechend dem der holsteinischen Güter großzügig. Eine unübersehbare Zahl von HUfskräften stand dem Haushalt zur Verfügung. Ein großer Park mit herrlichem Baumbestand lud zu täglichen Spaziergängen ein. Noch im hohen Alter leuchteten meiner Mutter Augen, wenn sie von Lehmkuhlen sprach. Nicht nur hatte sie dort viele Sommer lang die Ferien verbracht. Die Gastfreundschaft ging so weit, daß meine Mutter auch ihre Freundinnen mitbringen konnte. Ein Bruder meines Großvaters Heinrich Clausen war Pastor in Kiel. Er heiratete nacheinander zwei Schwestern Ruchmann. Aus beiden Ehen gingen fünf Kinder hervor. Die Älteste, Elisabeth, stand meiner Mutter am nächsten. Sie schrieben sich regelmäßig lange, wunderschöne Briefe. Tante Lilly haben auch meine Frau und ich noch gut gekannt, und auch wir haben sie sehr geliebt. Als sie 1960 starb, schrieb ihr Bruder, der Pastor Otto Clausen: „Denn Gott, der da 15
hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstände die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi". (2. Korinther 4). Nichts kann das Wesen dieser einzigartigen Frau schöner umschreiben als dieser Spruch. Die im folgenden beschriebenen Jahre aus dem Leben meiner Mutter stehen mir nicht ganz deutlich vor Augen. Sie ging ein Jahr ins Pensionat zu Pastor Gensgen nach Preetz in Holstein. Von dieser Zeit hat sie später beglückende Schilderungen gegeben. Der Garten des Pastorats grenzte an den Klostersee. Oft ruderte sie, zusammen mit ihrer Freundin Ada Müller, später verheiratete Schellhass, auf den See hinaus. Frau Pastor Gensgen muß eine ausgezeichnete Hausfrau gevkresen sein. Jedenfalls lernte meine Mutter bei ihr vorzüglich kochen. In den ersten Jahren des Jahrhunderts ging meine Mutter nach England, und zwar nach Canterbury und Bristol, um ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie lebte zunächst in einer Baptistenfamilie, in der sie sehr herzlich aufgenommen wurde. Aber bald siedelte sie in eine private Internatsschule über, wo sie Lehrerin und Erzieherin war. Sie muß dort sehr beliebt gewesen sein. Abends, wenn sie durch die Schlafsäle ging, baten die Mädchen sie, doch noch eine Geschichte zu erzählen. Ihre besonderen Eigenschaften, ihre Ausdruckskraft, ihren Mut und ihren Schalk hatten die Angehörigen des Internats bald erkannt. „You are so peculiar", sagten sie zu ihr. Nach Bremen zurückgekehrt, wurde meine Mutter Lehrerin an einer Privatschule. Sie hatte gute pädagogische Fähigkeiten und handelte nach dem Grundsatz, daß Wiederholung die Mutter des Lernens ist. Sie gab vor allem Unterricht im Englischen. Nach ihrer Rückkehr aus England lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Im Jahre 1909 heirateten sie. Ihr gemeinsames Glück dauerte nur fünf Jahre. Die Liebe zu meinem Vater, die Erinnerung an das genossene Glück und der Schmerz über den Verlust, den sie nie überwunden hat, haben von diesem Zeitpunkt an das Leben meiner Mutter bestimmt. Höhepunkte der gemeinsamen Jahre meiner Eltern waren ihre Reisen nach Fehmarn und Lehmkuhlen, wo mein Vater in die Familie meiner Mutter aufgenommen wurde. Der große Lebensstil, der von dem der Heidebauem so stark abwich, die feste Tradition, in der die Familie seit Jahrhunderten stand, haben ihn tief beeindruckt. Auf einem Essen, das mein Urgroßvater, Kämmerer Friedrich August Mackeprang, zu Ehren meiner Familie gab, hielt mein Vater eine Rede über die Familientradition. Als er mit den Goetheschen Worten Schloß: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen", stand mein Urgroßvater auf und ermahnte seine Söhne, dieses Wort zu beherzigen. Während des Krieges, in den Monaten August und September 1914, schrieben meine Eltern sich fast tägUch Briefe. Meine Mutter hat darin später oft gelesen. Aber meist verlor sie dann die Fassung, so daß sie längere Zeit verstreichen lassen mußte, bevor sie die Briefe wieder zur Hand nahm. 16
Die Nachricht von dem Tode meines Vaters hat meine Mutter mit großer Beherrschung empfangen. Ihre ganze seelische Kraft konzentrierte sich darauf, das Kind, das sie trug, gesund zur Weh zu bringen, und so wurde ich am 14. Dezember 1914 posthumus geboren. Das Los, das meine Mutter trug, war und bheb schwer. Sie war oft krank. Vor allem litt sie an schweren, mit Erbrechen verbundenen Schwindelzuständen. Eine Ohrenerkrankung, die erst spät erkannt vnirde, lag diesen Erscheinungen zugrunde. In der Inflationszeit verlor sie ihr Vermögen. Die kleine Witwenpension, die sie erhieh, entwertete innerhalb weniger Tage. Schwere Jahre begannen. Sie mußte Zimmer vermieten, die Hausgehilfin wurde abgeschafft, und sie gab viele Privatstunden, um sich und mich durchzubringen. Ich habe in meinem späteren Leben oft gesagt, daß jeder Mann, wo er kann, den Witwen und Waisen, überhaupt den alleinstehenden Frauen und ihren Kindern helfen sollte. Sie werden von den Stößen, die das Leben austeilt, härter getroffen als Familien, in denen der Vater noch lebt. Sie verdienen Schutz und Fürsorge. Meine Mutter war eine groß angelegte Persönlichkeit mit starken Empfindungen. Mir sind nur wenige Menschen begegnet, die Hitler von Anfang an so leidenschaftlich und kompromißlos ablehnten, ja haßten, wie meine Mutter. Sein anmaßendes Auftreten war ihr zuwider. Seine Untaten empörten sie, und mit sicherem Instinkt fühlte sie, daß er auf einen neuen Krieg zusteuerte. Wenn er im Kino in der Wochenschau gezeigt vnirde, murmelte sie „Mörder" oder „Verbrecher" vor sich hin, so daß ich oder andere, die mit ihr zusammensaßen, in größter Sorge waren. Auch ihren Privatschülem pflanzte sie eine tiefe Abneigung gegen den NationalsoziaUsmus ein. „Jede Stunde war eine kleine Verschwörung", hat einer ihrer Schüler später gesagt. Während des Krieges, als ich Soldat war, besuchten sie meine gleichaltrigen Freunde: Hans Bücking, Wolf Sander, Klaus Berg, Otto Müller. Sie fühlten sich zu ihr hingezogen, weil sie eine so klare Haltung gegen den Nationalsozialismus einnahm. Sie war darin unerbittlich. Manches, was sie sagte, war lebensgefährlich. Während meines Studiums im Jahre 1934 haben meine Mutter und ich eine unvergeßliche Reise durch Nordfrankreich gemacht. Ich hatte in Dijon studiert und traf meine Mutter Anfang August in Paris*). Wir verbrachten fünf Tage in der Stadt, fuhren nach Chartres und Versailles, und schließlich nach La Potière bei Noyon an die Stelle, wo unter einem hohen Kruzifix mein Vater zunächst beigesetzt worden war. Meine Mutter war tapfer und gefaßt, als vdr dort zusammen standen. Eine Genugtuung darüber, daß sie ihrem Sohn trotz aller Schvderigkeit zum Studium und zu einer aussichtsreichen Berufslaufbahn verholfen hatte, erfüllte sie. Während des Zweiten Weltkrieges blieb meine Mutter in ihrem Hause. Sie hat kaum jemals einen Luftschutzbunker aufgesucht und mehrmals das brennende Haus mit eigenen Händen gelöscht. Wenige Tage vor Kriegsende, noch bevor Bremen von den Engländern eingenommen woirde, traf ich in unserem
*) Vgl. hierzu auch Kap. III S. 60. 17
Hause ein. Hier mußte ich mich buchstäbhch hinter meiner Mutter verstecken. Sie lenkte die englischen Soldaten, die nach deutschen Wehrmachtsangehörigen suchten, von unserem Hause ab. Kurze Zeit danach holte ich meine Frau aus Heide in Holstein, und wir begründeten unseren ersten gemeinsamen ehelichen Wohnsitz im Hause meiner Mutter, wo ich auch bald eine schwunghaft aufsteigende Anwahspraxis eröffnete®). Diese Zeit war ein Höhepunkt im Leben meiner Mutter. Sie war 65 Jahre alt und noch voller Kraft. In ihrem Hause, das sie gebaut und vor Brand und Bomben bewahrt hatte, versammelten sich Sohn und Schwiegertochter. Es war offenkundig, daß wir ihr viel verdankten. Als ich in den öffentlichen Dienst eintrat und im Bremer Haus in Bonn und dann in Straßburg und schließUch wieder in Bonn repräsentative Funktionen bekleidete, fiel es meiner Mutter schwer, sich damit abzufinden, daß in erster Linie meine Frau die gesellschaftlichen Pflichten mit mir teilte und sie insoweit in den Hintergrund treten mußte. Dennoch sind auch aus diesen letzten 14 Jahren viele erfreuliche Ereignisse festzuhalten. Meine Frau und ich gingen fast jede Woche mit ihr ins Kino, für das sie eine wahre Leidenschaft besaß. Wir haben notgedrungen manchen mäßigen Film gesehen, aber auch viele hervorragende. Einige schöne Reisen habe ich während dieser Zeit mit meiner Mutter unternommen, die sie sehr genossen hat und von denen sie lange schwärmte. Zweimal waren wir in Ghon oberhalb Montreux am Genfer See und einmal in Charlottenlund bei Kopenhagen. Leidenschaftlich gem fuhr sie Auto, und wir hatten auch Mühe, sie davon abzubringen, an Sonntagen stundenlang in einer Kolonne den Rhein herauf bis Koblenz oder bis zur Loreley zu fahren. In den Jahren nach 1949 war meine Mutter nur noch selten in Bremen. Trotzdem blieb das Haus so eingerichtet, daß wir jederzeit dahin fahren konnten, und Weihnachten verlebten wir dort regelmäßig. Reihum traf sich dann die in Bremen ansässige Famüie bei uns. Es waren fröhliche Stunden. Das Clausensche Temperament sprudelte über, so daß den Angeheirateten, meiner lieben Frau und deren Verwandten, manchmal unheimlich wurde. Von 1955 bis zu ihrem Ende lebte unsere Mutter mit uns zusammen in unserer Wohnung in Bad Godesberg, Im Meisengarten 25. Sie hatte dort ein kleines, hübsches Zimmer mit dem Blick auf den Rhein und den Petersberg. Meist aber saß sie auf einem grünen Lehnstuhl in unserem großen Wohnzimmer. Es war hauptsächlich mit ihren Möbeln eingerichtet, was sie gelegentlich erwähnte, wenn wir in einer Einrichtungsfrage ihrem Votum nicht folgen wollten. Es war ein sehr schönes Zimmer und voller Wärme, wenn die Nachmittagssonne hineinfiel. Es ist schwer, einen Menschen, dem man nahesteht und mit dem man in Liebe verbunden ist, richtig zu charakterisieren. Doch will ich es versuchen. Meine Mutter war eine starke Natur. Sie hatte starke Gefühle in Liebe, in Freundschaft, in Haß. Für meinen Vater und für mich, denen ihre große Liebe
=) Vgl. hierzu Kap. IV S. 93 ff.
18
galt, hätte sie alles geopfert. Ihren Freunden war sie treu. Aber denen gegenüber, die sie ablehnte, war sie schroff und hart. Sie hatte große dunkle Augen, in denen sich die ganze Skala ihrer Gefühlsausdrücke widerspiegelte. Während ihrer letzten Krankheit brach eine überströmende Liebe aus ihr hervor, die lange durch den Schmerz über den Tod meines Vaters und eine gewisse Verhärtung ihrer äußeren Schale verdeckt gewesen war. Sie war mutig und tapfer. Wenn sie glaubte, sie müsse handeln, ging sie klar und unbeirrt auf ihr Ziel los. Zugleich war sie aber von einer großen Empfindlichkeit und sehr verletzUch. Vor persönlichen Zusammenstößen, denen sie glaubte nicht ausweichen zu dürfen, schreckte sie doch zugleich zurück. Auf Kinder hatte meine Mutter einen großen Einfluß. Wo in der Familie oder bei Freunden Erziehungsprobleme auftauchten, griff sie oft ein. Mit ihrer bestimmten und konsequenten Art machte sie Eindruck. Sie schlug nie ein Kind. Trotzdem hatte sie Autorität. Hin und wieder hat sie ganz störrische Kinder „durchgerüttelt", wie sie es nannte. Sie war sehr stolz und freiheitsbewußt. Jede Art von Freiheitsbeschränkung brachte sie in höchste Erregung. Deswegen empörte sie sich mit ganzer Kraft gegen die Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Ihr Stolz verband sich mit ihrem Familiensinn. Sie war auf ihre FamUie stolz und bestrebt, allen Gliedern dieser Familie das Gefühl für die hohe Stellung und die Würde, die jahrhundertelang mit ihr verbunden gewesen waren, zu vermitteln. Als sie aU war, vrarde sie auf Fehmarn wie ein Familienoberhaupt geehrt, als der älteste lebende Nachkomme des großen Vorfahren, Kämmerer Friedrich August Mackeprang. Darüber empfand sie eine tiefe Befriedigung. Das Verhältnis zu ihren Geschwistern war kompliziert. Alle drei: Fritz, Gertrud und Annie, hatten ihre eckigen Seiten, konnten auffahren und stritten sich auch gelegentlich; manchmal mit Leidenschaft und Ausdauer. Trotzdem hielten die drei Geschwister fest zusammen. Die großen Feiertage des Jahres, Weihnachten, Silvester, Ostem und Pfingsten, wurden immer gemeinsam begangen. Meine Mutter nahm herzlichen Anteil an den Lebenswegen ihrer sechs Nichten und Neffen. Mit ihrer Schwägerin Sophia Clausen fühlte sie sich eng verbunden. Sie schätzte sie hoch wegeri ihrer Treue und Verläßlichkeit. Den Tod ihres Bruders Fritz und ihrer Schwester Annie, die beide vor ihr starben, hat sie tief betrauert. Aber vielleicht noch stärker als zu den Bremer Verwandten lenkte der Familiensinn die Gedanken meiner Mutter in das alte Haus in Meeschendorf auf Fehmarn zu Fritz und Emmi Mackeprang mit ihren neun Kindern. An ihrem Schicksal nahm sie teil, als ob es sich um ihr eigenes handelte. Jede Woche schrieb sie nach Meeschendorf eine ihrer eng beschriebenen Karten mit Rückantwort, auf denen mehr stand als in vielen Briefen. Sie hatte eine klare, feste Handschrift und schrieb einen guten, knappen und treffenden Stil. Ein hervorragender Zug meiner Mutter war ihre außergewöhnliche Sparsamkeit. Erbmäßig war sie von der Mackeprangschen Seite her mit dieser Eigenschaft ausgestattet, die schweren Jahre während und nach der Inflation ver19
stärkten sie. Jahrelang hat meine Mutter für ihre persönlichen Bedürfnisse wie Kleider, Wäsche, Schuhe, Hüte, Mäntel weniger als 10 Mark im Jahr ausgegeben. Altes Zeug wurde aufgetragen und auch dann noch nach MögUchkeit verwendet. Mit dieser Sparsamkeit ging aber eine gewisse Großzügigkeit einher. Das Haus, das sie sich baute, zeigte guten Geschmack. An Türen, Fenstern und am Treppenhaus wurde nicht gespart. Eine Leidenschaft besaß sie für Teppiche. Kurz entschlossen kaufte sie Perserbrücken, die sie schön fand. Nicht vergessen werden sollen auch ihr Schalk und ihr Temperament. Mein Vater nannte sie „petit gamin", weU sie oft kleine Streiche ausheckte. Sie hatte eine ausgesprochene Zuneigung für alles Schöne: schöne Bilder — sie sammelte Hunderte von Reproduktionen —, schöne Landschaften — schöne Menschen. Von allen Sinnen nahm sie am stärksten mit den Augen auf; daher auch ihre Leidenschaft für den Film. Illustrierte Zeitschriften und Bücher fesselten sie. Musikalisch war sie nicht. Diese Eigenschaft hat sie sehr zu ihrem Kummer vererbt. Aber sie hörte gem schönen Gesang und bewunderte musikalische Begabungen. Ihr stärkster und charakteristischster Wesenszug aber war wohl, daß sie gerade, steinige Wege ging. Sie faßte das Leben als einen Kampf auf, dem man sich stellen mußte. Sie wich nicht aus, und sie schlug nie einen verschlungenen, aber glatten Umweg auf ein Ziel ein; teils weil sie den verschlungenen Weg gar nicht sah, teils weil es ihrem Wesen viridersprach, ihn zu gehen. Sie wandte häufig auf sich selbst das Dichterwort von dem Gemsenjäger an: „Wo er sich anklebt mit dem eigenen Blut, um ein armselig Grattier zu erjagen." Manche der Kämpfe, in die sie sich einließ, hätte sie vermeiden können. Aber in den großen Entscheidungsstunden ihres Lebens mußte sie so handeln, wie sie es tat. Der Tatsache, daß sie an jenem Oktobertage des Jahres 1914, als sie die Nachricht von dem Tode meines Vaters erhieh, den Schmerz verwand, verdanke ich mein Leben. Ein Gedicht, das ich in ihrem Nachlaß fand und das ihre eigene Auffassung vom Leben treffend widerspiegelt, lautet: Du bist deine Zeit! Gehe in die Stille. Schaffe todbereit! Bist du harter Wille, Wirst du Ewigkeit. Wehe allen Schlaffen, Wenn der Würfel fällt. Nur in treuem Schaffen Wächst du in die Welt. Leben war nicht Singen, Leben war nicht Tanz, Arbeit schuf ihm Schwingen. Was in hartem Ringen Dein wurd, das trug Glanz. 20
Sie, die als junges Mädchen ein frommes Glied der Friedensgemeinde gewesen war und Pastor Funkes Predigten mit Andacht gelauscht hatte, wehrte sich später nach den schweren Schicksalsschlägen gegen die christliche Botschaft von der Güte und Gnade Gottes. Aber sie ging doch gelegentlich mit uns zur Kirche, und ein Bibelwort, das ich ihr oft vorgelesen habe, ergriff sie jedesmal tief, das Wort des Paulus über die Liebe im 1. Korintherbrief, wo es am Schluß heißt: „Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. " Das 13. Kapital des 1. Korintherbriefes las Pastor Berg an ihrem Sarge. Unser Godesberger Pastor, Pfarrer Hoffmann, und Schwester Luise haben meiner Mutter an ihrem Krankenbett mehrmals den 23. Psalm vorgelesen und sie hat dankbar zugehört. „ Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich. " Über den letzten Lebensmonaten meiner Mutter lag ein versöhnender Glanz. Es ging ihr gesundheitlich recht gut, so daß sie sich entschloß, allein nach Bremen und Fehmarn zu reisen. Dort wollten meine Frau und ich zu ihr stoßen, um mit ihr zusammen die vielen Verwandten auf der Insel zu besuchen. Aber am 13. August 1963 stürzte meine Mutter im Zimmer und zog sich einen Riß im Oberschenkelhals zu. Sie kam zunächst ins Burger Krankenhaus. Von dort holten vwr sie aber drei Tage später im Krankenwagen nach Bonn; sie überstand den Transport gut und woirde im Johanniter-Krankenhaus sehr liebevoll gepflegt. Der Bruch heilte auch gut, aber geistig ließ sie nach. Sie war zeitweilig stark verwirrt, gelegentlich vrarde sie sehr unruhig und wollte unbedingt aufstehen, dann schlief sie wieder tagelang. Immerhin besserte sich der Zustand so weit, daß ihre Entlassung zum 19. Oktober ins Auge gefaßt werden konnte. Wenige Tage davor trat aber emeut eine Verschlechterung ihres Befindens ein, so daß ich dahin tendierte, sie im Krankenhaus zu lassen. Aber meine Frau plädierte für die Rückkehr in unsere Wohnung, und Mutter war ihr herzlich dankbar dafür. „Ich hatte solche Angst", sagte sie, „daß ich noch länger im Krankenhaus bleiben müßte." Wir engagierten eine Diakonissenschwester als Pflegerin und baten, da wir vom 23. Oktober bis 4. November den Bundespräsidenten auf seiner Ostasienreise begleiten sollten, Tante Emma Clausen, geb. Numsen, eine der Numsenschen Töchter von Lehmkuhlen, solange bei uns zu wohnen; sie willigte gleich ein und hat meine Mutter in sehr liebevoller Weise betreut. Während dieser ihrer letzten Wochen vioirde sie immer freundlicher und liebevoller. Ihre schönen Augen strahlten, wie ich es an ihr noch nicht gesehen hatte. Sie gab Tante Emma, Veronica und mir die liebevollsten Namen und schlug manchmal die Hände vor Freude zusammen, wenn vdr ins Zimmer kamen. Nachdem wir abgereist waren, blieb meiner Mutter Befinden einige Tage unverändert, dann nahmen ihre Kräfte jedoch schnell ab, sie schlief meistens und erkannte ihre Umwelt nur noch für kurze Augenblicke. Sie schien ganz 21
wunschlos und ohne Schmerzen zu sein. Am 28. Oktober 1963 um 20.30 Uhr schlief sie still ein. Meine Frau und ich sahen sie am 31. Oktober nachts um 24 Uhr in Bremen, wo sie aufgebahrt war, wieder. Wir waren 36 Stunden lang, fast ohne Unterbrechung, im Flugzeug und Auto von Indonesien herangeeilt und standen nun plötzlich vor ihr. Sie ruhte ganz friedlich, die Traurigkeit, die sie während ihrer letzten 50 Lebensjahre begleitet hatte, war nicht von ihr gewichen. Aber über ihr lag ein unerklärbarer, wunderschöner Glanz, der uns beide tief ergriff. Ihr feines, schmales Gesicht war von ihrem noch immer vollen und dunklen Haar umgeben. Um sie herum brannten zwölf Kerzen. Am nächsten Tage fand im Krematorium des Riensberger Friedhofs die Trauerfeier statt. Mein aUer Freund und meiner Mutter Freund, Pastor Klaus Berg, von der Auferstehungskirche in Hastedt, hieh eine uns tief bewegende Predigt. Nur die nächsten Verwandten, darunter sechs Vettern von Fehmarn, und einige wenige Freunde waren anwesend. So war es meiner Mutter Wunsch gewesen. An ihrem Sarge lagen die Kränze der nächsten Angehörigen, meiner Mitarbeiter aus dem Auswärtigen Amt und des Bundespräsidenten. Nach der Trauerfeier versammelte sich die Familie noch eine Stunde im Busestraßenhaus. Ich sprach einige Worte: und sagte, dies sei ihre Welt gewesen, ihr Haus, ihre Möbel, die Wohnung atme ihren Stil. Wir sahen einige Bilder an, die meine Mutter besonders geliebt hatte, und gingen dann auseinander. Am 4. November 1963 wurde die Urne neben dem Sarg meines Vaters beigesetzt. So hat sich der Kreis ihres Lebens geschlossen und vollendet. Sie ruht an der Seite dessen, den sie am meisten geliebt hat, von den Mühen und Lasten ihrer irdischen Tage aus.
22
п. Kindheit und Jugend 1914-1933 1. Kindheit Ich bin mit sehr viel Liebe großgezogen worden. Meine Mutter hat mich rührend umsorgt. Als ich wenige Wochen alt war, erkrankte ich an einem Ausschlag, der fast den ganzen Körper bedeckte. Die Situation war lebensgefährlich. Der Kinderarzt, Dr. Schelble, dem meine Mutter, solange sie lebte, dafür dankbar war, rettete mich, indem er den ganzen Körper mit Zinksalbe und Öl einreihen ließ. Später litt ich häufig an fiebrigen Erkältungen, auch an Asthma. Im Nu hatte ich 40 und 41 Grad Fieber. Mit Brust- und Beinwickeln, heißem Fliedersaft und andern Schwitzkuren kam ich wieder auf die Beine. Eine wichtige Rolle in meinen frühesten Lebensjahren spielte Tante Annie Moebius, geb. Clausen, die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie hatte zu Kriegsbeginn ihren langjährigen Verlobten Dr. Walter Moebius, einen hochbegabten Juristen, geheiratet, der kurz darauf, noch vor meinem Vater, fiel. Auch sie trauerte jahrzehntelang bis zu ihrem Tode um ihn. Er hatte die berühmte Fürstenschule in Pforta in Sachsen besucht und sie mit einer preisgekrönten Arbeit, einem Vergleich zwischen Piatons „Gastmahl" und Goethes „Faust" verlassen. Tante Annie besuchte uns jede Woche und wohnte zeitweilig bei uns. Sie war eine bedeutende Frau, hatte in Heidelberg und Leipzig Geschichte und Kunstgeschichte studiert und mit einer Arbeit über Leopold von Gerlach promoviert^). Sie gehörte also zu den frühen Akademikerinnen, die den Weg für spätere Generationen von Studentinnen gebahnt haben. Ihre große Passion war die Kunstgeschichte. Sie hielt später, als wir größer geworden waren, ihren Neffen und Nichten Vorlesungen über dieses Fach. Mir gehenkte sie 1933 Georg Dehios „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler"''). Was ich von der deutschen Kunst des Mittelalters, von Renaissance, Barock und Klassizismus weiß, verdanke ich in erster Linie ihr. Sie war begeisterungsfähig und konnte ihre Begeisterung auf andere übertragen. Den Dehio-Band hat sie mit einer persönlichen Widmung versehen :
Anna Clausen. Die Stellung Leopold v. Gerlachs zum Abschluß des preußischen Verfassungswerkes unter Friedrich Wilhelm IV., Diss. Leipzig 1914 (Weiden i. Th. 1914). Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Band IV Südwestdeutschland. Berlin 1926. 23
„Meinem lieben Neffen Karl Carstens beim Beginn seiner Studentenzeit in Erinnerung an eigene glückselige Studienjahre, wo wir - in unbeschwerteren Zeiten - auf unseren Fahrten so manche alte Stadt deutschen Landes kennenlemten, unterstützt durch dieses Buch; in der Hoffnung, daß es auch ihm die Freude an den Städten alter Kultur und das Verständnis dafür bereichem und vertiefen möge. Bremen, im Mai 1933 AM"^) Rührend haben sich auch meine beiden Großmütter meiner angenommen. Meine Großmutter Clausen starb, als ich 3 Jahre alt war. So bin ich im wesentlichen auf die Schilderung anderer angewiesen. Einmal, im Hungerjahr 1917, hatte sie meine Mutter und mich zum Kaffee eingeladen. Es gab einen von ihr selbst gebackenen Sandkuchen, eine große Seltenheit in jener Zeit. Als ich den ersten Bissen zerkaute, sagte ich plötzlich: „Ich habe Dreck im Mund". Es war Kuchen aus Rübenmehl, wovon wir damals lebten. Meine Großmutter brach in Tränen aus, sie hatte es so gut gemeint. Es ist gut, sich an die damalige Zeit zu erinnern, wenn die Menschen heute über neue Armut klagen. Die Älteren haben weit Schlimmeres erlebt. Eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben spielte Agnes Sander-Plump, unsere Nachbarin in der Fitgerstraße, meine Patentante. Ihr hatte mein Vater, als er ins Feld zog, meine Mutter und mich anvertraut. Sie hat sich rührend um uns gekümmert. Sie war eine bedeutende Malerin. Aber vor allem hatte sie eine unerschöpfliche Phantasie und konnte wundervolle Geschichten erzählen. Sie und ihr Mann Fredi Sander, ein Tabakkaufmann, luden uns mehrfach in ihr Haus nach Ritterhude ein, wo ich unvergeßliche Tage in der etwas melancholischen Hamme-Landschaft verbrachte habe. Mit den drei Kindern Ursula, Hanna, Jochen, freundete ich mich an. Wir lebten zeitweilig wie Geschwister zusammen. Alle haben die künstlerische Begabung ihrer Mutter geerbt. Hanna ist eine hochgeschätzte Malerin in der Schweiz geworden. Jochen, ebenfalls ein begnadeter Maler, blieb in Stalingrad. Ursel starb ebenfalls vor ihrer Mutter, die über 90 Jahre alt wurde. Mit Tante Agnes blieb ich bis zu ihrem Tode in enger Verbindung. Ich verdanke ihr sehr viel. Auch unsere anderen Nachbarn in der Fitgerstraße verhielten sich meiner Mutter und mir gegenüber freundschaftlich, Schwartings, Herrnlebens, Freyes, Flügges. Hansi Flügge war mit mir gleichaltrig, und vdr waren zeitweilig enge Freunde. Sehr vdchtig waren für meine Mutter und mich die Kontakte mit den Schülern und Schülerinnen meines Vaters. Sie bewahrten uns ihre Treue. Etty Schäfer, die Lehrerin geworden war, lebhaft und anregend, besuchte uns jede Woche. Auch Hans Kasten, der bibliophile Bücher herausgab, kam häufig, gelegentlich auch Frieda Plate, die Lieblingsschülerin meines Vaters. Von den Kollegen meines Vaters nahmen sich besonders Schulrat Päpke und Dr. Kegel unserer an. Schulrat Päpke war vor dem Kriege der Direktor des Realgymnasium gewesen.
') Siehe Abbildung Nr. 4. 24
ein grandgütiger Mensch. Von ihm und seiner Frau erzähhe man sich folgende Geschichte: Am Morgen nach der Hochzeit beim Frühstück fragte Frau Päpke ihren Mann, ob er lieber die obere oder untere Hälfte des Brötchens möge. Er mochte lieber die obere, dachte aber, daß sie die gleiche Präferenz habe, und sagte daher: „Die untere". Sie, die tatsächlich lieber die untere Hälfte aß, nahm daraufhin die obere. Und so hielten sie es 50 Jahre bis zu ihrer Goldenen Hochzeit. Da klärte sich das Mißverständnis auf, eine für die heutige Generation nicht nachvollziehbare Geschichte, aber doch ein Beispiel für liebevolle Rücksicht. Dr. Kegel, den mein Vater sehr geschätzt hatte, kam blind aus dem Krieg zurück. Er unterrichtete weiter. Regelmäßig besuchten wir ihn und seine Frau. Ich überwand bald das unheimliche Gefühl, das ein Kind gegenüber einem Blinden hat, und unterhielt mich mit ihm ganz unbefangen. Eine sehr wichtige Rolle spielte von Beginn meines Lebens an Fehmarn. 1917 reisten meine Mutter und ich dorthin mit einem besonderen Paß, da die Insel mUitärisches Sperrgebiet war. Seitdem bin ich jedes Jahr auf Fehmarn gewesen, manchmal wochenlang. Es war für uns hungernde Städter das Land, in dem Milch und Honig flöß. In Meeschendorf lebten die drei Brüder meiner Großmutter, Kuno, Jürgen, Friedrich. Jeder auf einem statthchen Hof. Zunächst verbrachten wir die Sommerferien bei Onkel Kuno und Tante Grete, die uns mit ihren Kindern rührend verwöhnten. Aber 1924, als sie ins Altenteil gingen und ihr Sohn Hugo den Hof übernahm, wechselten wir zu Onkel Jürgen und Tante Guste über. Hier habe ich die schönsten Ferien meines Lebens verbracht. Mit den beiden Kindern Gerte und Fritz, die allerdings älter waren als ich, freundete ich mich an. Gerte starb früh. Aber mit Fritz bin ich bis heute in enger Freundschaft verbunden. Er versuchte, mich sportlich zu trainieren, im Laufen, Werfen und Reiten. Da er mir allerdings haushoch überlegen war - er war ein Athlet und zudem acht Jahre älter als ich —, stärkte sich dadurch mein Selbstbewußtsein nicht sonderhch. Immerhin waren es nützliche Übungen. Vor allem lernte ich durch ihn reiten, und das wurde eine meiner großen Passionen. Onkel Jürgen und Tante Guste waren rührende Gastgeber. Nicht nur meine Mutter und ich, auch andere Mitglieder der Familie, denen es schlecht ging, fanden bei ihnen immer Aufnahme. Er war ein großgewachsener, sehr gut aussehender Mann, sehr deutschnational, der es sich angewöhnt hatte, nachts aufzubleiben. Er ging dann über den Hof, fütterte auch nachts sein Vieh. Gegen 4 Uhr morgens ging er schlafen und stand mittags gegen 1 Uhr wieder auf. Sein Sohn Fritz, der auch als Landwirt schon in jungen Jahren tüchtig war, sorgte dafür, daß der Hof unter dieser seltsamen Zeiteinteilung seines Hofbesitzers nicht litt. Tante Guste war die Verkörperang der gütigen Frau. Immer hUfsbereit, immer für andere sorgend, immer auf Ausgleich bedacht, wenn Spannung oder Streit entstanden. Sie nimmt in meiner Erinnerang einen ganz hohen Platz als eine selbstlose, verehrangsvWirdige Frau ein. Auf dem Hof von Onkel Jürgen und Tante Guste fand auch regelmäßig ihr Neffe Fritz-August Mackeprang Aufnahme. Er gehört zu den ungewöhnlichen 25
Menschen, die unsere Familie hervorgebracht hat. Geistig und politisch äußerst interessiert, in deutscher Literatur und Geschichte wie nur wenige belesen, ein faszinierender Gesprächspartner, aber in allen praktischen Dingen des Lebens glücklos und unbeholfen. Als er im Ersten Weltkrieg als Essensträger das Essen an die Front bringen sollte, landete er zwei Mal bei den Franzosen, die ihm jedesmal das Essen abnahmen und drohten, sie würden ihn erschießen, wenn er noch einmal käme. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er in Berlin. Bei einem Bombenangriff wurde das Haus, in dem er wohnte, schwer getroffen. Aber er nahm das nicht richtig wahr, ging vielmehr nach der Entwarnung wie gewohnt die Treppe zum zweiten Stock hinaus, öffnete die Wohnungstür und stürzte, da der angrenzende Teil des Hauses weggerissen war, in die Tiefe. Mit schweren Knochenbrüchen kam er ins iCrankenhaus. Aber wir liebten ihn alle, nicht zuletzt wegen der wundervollen Gedichte, die er schrieb. Eines davon habe ich in die 1983 von mir herausgegebene Gedichtsammlung aufgenommen^). Er ist auch der Verfasser mehrerer Theaterstücke. Nie werde ich vergessen, wie ich ihn einmal in Berlin ins Theater eingeladen hatte. Es wurde „Maria Stuart" gespielt. Weit vorgebeugt, mit aufgerissenen Augen, folgte er dem Geschehen auf der Bühne. Dabei bewegten sich fast unaufhörlich seine Lippen. Er sprach den Text, den er nahezu auswendig konnte, lautlos mit. Er liegt, dafür hat Vetter Fritz gesorgt, in dem Mackeprangschen Grab neben der Burger Kirche begraben und wird von allen, die ihn gekannt haben, weiter verehrt. Auf dem dritten Hof in Meeschendorf residierte Onkel Friedrich. Er war zweimal verheiratet, hatte aus der ersten Ehe eine Tochter, Diete, und aus der zweiten Ehe elf Kinder. Diete, die klein blieb, aber geistig ungewöhnlich lebendig war, und aus der zweiten Ehe Emmi und Lale spielten mit mir, als ich Kind war, und nahmen sich meiner liebevoll an. Emmi heiratete später Fritz vom Nachbarhof. Sie hatten neun Kinder. Mit dieser Familie wuchs ich so eng zusammen, als ob ich selbst dazugehörte. Ich war ein fröhliches und phantasiereiches Kind. Fortgesetzt erzählte ich Geschichten über von mir frei erfundene Personen, u. a. über zwei Brüder, die sportlich außerordentlich tüchtig waren und sich in allen Fährnissen des Lebens behaupteten. Von einem der Brüder sagte ich: „Er kann sich schon selber versohlen". Darin kam mein Abscheu gegen die Prügelstrafe zum Ausdruck. Ich selbst bin nie geschlagen worden, wohl aber einige meiner jugendlichen Freunde von ihren Vätern. Bei einem Vater hing die Reitpeitsche, mit der der Sohn gezüchtigt wrurde, über dem Schreibtisch. Meine Phantasiegeschichten beunruhigten meine Großmutter Carstens, die so etwas bei ihren Kindern nicht erlebt hatte. „Was hat der Junge?", sagte sie zu meiner Mutter mit sorgenvollem Unterton. Offenbar stellte sich ihr die Frage, ob ich wohl ganz richtig im Kopf sei. Später, als ich schon Sextaner war, habe ich auf dem Schulweg meinen Klassenkameraden ähnUche Phantasiegeschichten erzählt. Sie waren davon so angetan, daß sie mich zu meiner Wohnung begleite-
*) Karl Carstens (Hrsg.), Deutsche Gedichte, München 1983. 26
ten und dadurch kilometerlange Umwege machten. Mein Freund Rudi Blaum erregt sich noch heute darüber, daß er wegen meiner erfundenen Geschichten derartig nutzlose Wege gegangen ist. Als Beispiel für meine Phantasiegeschichten möge mein nachstehender Klassenaufsatz aus der Sexta vom 16. Januar 1925 dienen: „Gespräch der Kartoffel und des Apfels im Keller Im Keller eines vornehmen Hauses waren drei Säcke Kartoffeln und ein Sack Äpfel aufgestellt. Aus den Kartoffelsäcken war nur eine Kartoffel herausgefallen, während der Apfelsack umgekippt war, und es war über die Hälfte der Äpfel herausgekollert. Ein Apfel war neben die eine Kartoffel gerollt. Er hatte eine tüchtige Fallstelle erhalten und lag völlig verwirrt da. Als die Kartoffel ihn fragte, woher er komme, antwortete er: „Aua, Fallstelle". Endlich erholte er sich wieder, und nun begann das Gespräch zwischen Apfel und Kartoffel. Der Apfel fing an: „Entschuldigen Sie bitte, Fräulein Kartoffel, ich glaube, Sie haben mich vorhin um etwas gefragt, und ich werde Ihnen wohl eine unverständliche Antwort gegeben haben. Aber Sie können es sich wohl denken, daß man ein wenig durchhin ist, wenn man einen tüchtigen Stoß gekriegt hat." „Nein", antwortete die Kartoffel, „das kann ich wahrlich nicht, denn ich habe noch nicht gerade bedeutende Schmerzen erdulden müssen, wohl einige von meinen Altersgenossen. Denn als wir aus der schönen warmen Erde ans Tageslicht gebracht wurden, wurden sie von dem scharfen Spaten mittendurch geschnitten". „Aber, Fräulein Kartoffel, ich kann Sie gar nicht verstehen, daß Sie es in der Erde schön finden. Ich finde, es ist viel schöner, so hoch unter freiem Himmel zu hängen und sich von der warmen Sonne bescheinen zu lassen." „Oh", sagte die Kartoffel, „das Leben unter der Erde bringt auch viel Abwechslung mit sich. Zum Beispiel, wenn ein Käfer vorbeikrabbelt. Dann muß er ungefähr hundert Fragen beantworten. Er wird gefragt, wie es oben auf der Erde aussieht, und ob man schon bald käme, um uns auszugraben. Aber am meisten wußten doch die Regentropfen zu erzählen. Einer erzählte von einem wunderschönen Apfel, der an einem Grafensteiner Apfelbaum hing. Der Baum gehörte einem großen Bauern, der am Ende des Dorfes wohnte". „Ist das vielleicht das Dorf Langenwisch, und hing der Apfel wohl an der höchsten Spitze des Baumes ?", fragte der Apfel etwas aufgeregt. „Ja, so erzählte der Regentropfen", antwortete die Kartoffel. Da platzte der Apfel heraus, „das war ich". Und er hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht, wenn er es gekonnt hätte. „Das hätte ich nicht gedacht", sagte die Kartoffel erfreut, „daß ich den Apfel, von dem der Regentropfen am allermeisten erzählt hat, noch einmal wirklich treffen würde. " Plötzlich öffnete sich die Kellertür. Ein Kind kam herein und holte sich den Apfel. So endete das Gespräch zwischen Kartoffel und Apfel. " Aber ich erlebte während meiner Kindheit auch manche Enttäuschung. Lebhaft steht mir eine Szene vor Augen: Ein Nachbar kaufte Eicheln auf, um sie dann seinerseits mit Gewinn an Bauern zur Fütterung der Schweine zu verkaufen. Ich sammelte daraufhin mehrere Tage Eicheln und zog mit einem ansehnlichen Sack zu jenem Nachbar, um sie zu verkaufen. Aber da herrschte ein furcht27
bares Gedränge. Immer wieder wurde ich von den Größeren zurückgestoßen, und als ich schließlich am Tresen stand, hieß es: „Wir haben genug, wir kaufen nichts mehr." Weinend zog ich mit meinem Sack voll Eicheln nach Hause. Meine Mutter tröstete mich. Das Erlebnis hat sich mir tief eingeprägt, es enthielt eine nützliche Lehre: „Sei auf der Hut vor dem Egoismus und der Rücksichtslosigkeit der Menschen."
2. Schule Volksschule und Altes Gymnasium Ostern 1921 wairde ich als Sechsjähriger in die Volksschule an der Schillerstraße eingeschult. Ich erinnere mich nicht allzuviel an jene Zeit. Wir waren eine große Klasse, wohl knapp 40 Schüler. Unsere Klassenlehrerin hieß Strathmann, Fräulein Strathmann, die wir sehr gem mochten. Einen Schüler, den sie besonders hebte, nahm sie gelegenthch auf den Schoß. Wir beneideten ihn alle darum. Schulleiter war Herr Wellmann mit wallendem Bart, aber gütigen Augen. Mit ihm hatten wir nicht viel zu tun. Die meister meiner Mitschüler habe ich später aus den Augen verloren, außer Günther Bischoff, der, ebenso wie ich, nach drei Jahren zum Alten Gymnasium überwechselte und mit dem ich bis heute befreundet bin, ferner Johann Heinrich Carl, der später mein bester Freund wurde, Joachim v. Ahlefeld, Christoph Kulenkampff und Ludwig Markreich, dem jüdischen Freund, der ein Jahr später als ich zum Alten Gymnasium kam, mit dem ich aber weiter in Verbindung blieb. Ich war auch einige Male in dem Markreichschen Hause in der Kohlhökerstraße. Es ging dort sehr streng zu. Der Vater trug eine kleine Kopfbedeckung, worüber ich mich natürlich woinderte, bis ich lernte, daß strenggläubige Juden das taten. Ludwig Markreich hatte zwei jüngere Schwestern, schöne Mädchen mit dunklen Augen, die mir aber fremd bUeben. Die Familie konnte noch 1938 nach Südamerika und USA auswandern. Dort, in Washington, habe ich Ludwig Markrich — wie er sich jetzt nannte — in den 60er Jahren wiedergetroffen. Es war ein uns beide tief bewegendes Wiedersehen. Wir gingen sehr behutsam miteinander und mit den Erinnerungen an die verflossenen 20 Jahre um. Aber es war eine freundschaftliche Begegnung. Ludwig Markreich ist 1967 gestorben. Sein Vater, Max Markreich, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Bremen gewesen war, hat über die Geschichte der bremischen Juden geschrieben®). Es ist ein erschütterndes Buch voll tiefer Bitterkeit. Nach dreijähriger Volksschulzeit eröffnete sich für mich plötzlich die Möghchkeit „zu springen". Eigentlich war ein vierjähriger Besuch der Volksschule vorgeschrieben. Aber im Jahr 1924 hatte das Alte Gymnasium so wenige Anmeldungen für die Sexta, daß es die Erlaubnis erhielt, Schüler mit dreijähriger Max Markreich, Geschichte der Juden zu Bremen und Umgebung, New York 1955.
28
Volksschulzeit aufzunehmen, falls diese eine besondere Prüfung erfolgreich bestanden. Normalerweise wäre ich sicher beim Realgymnasium, der Schule meines Vaters, angemeldet worden. Aber meine Mutter war der Meinung, daß ich die Chance, ein Jahr zu sparen, nutzen sollte, und ich war auch selbst dafür. So unterzog ich mich einer mehrtägigen schriftlichen und mündlichen „Intelligenzprüfung" am Alten Gymnasium. Es war ziemlich aufregend. Was ist ein Großvater?, was ist eine Insel?, lauteten einige der Fragen. Eine an mich gerichtete Frage beschäftigt mich bis heute: „In einer großen Glasflasche mit engem Hals befinden sich Nüsse. Ein Affe greift mit der Hand hinein und nimmt so viele Nüsse, wie er fassen kann. Dann aber bekommt er die Hand nicht wieder heraus. Wie vrärdest Du diesen Affen nennen?" Ich sagte: „Dumm". Aber damit war der Prüfer nicht zufrieden. Ich versuchte es dann mit einigen anderen Eigenschaftswörtern, aber hatte damit genauso wenig Glück. Die richtige Antwort weiß ich bis heute nicht. Trotzdem bestand ich die Prüfung. Sie war organisiert worden von unserem späteren Lehrer Dr. Theodor Valentiner, einem bedeutenden Pädagogen, der selbständig forschte und experimentierte. Er rühmte sich übrigens, daß die Beurteilung, die er uns bei der Aufnahmeprüfung von 1924 gegeben hatte, mit unseren Abiturzeugnissen von 1933 übereinstimmte. Heute, 60 Jahre später, streiten sich die Pädagogen darüber, ob es möglich ist, neun- oder zehnjährige Kinder nach ihrer Begabung und Leistungskraft zu unterscheiden. Von großem Unfug ist die Rede und von einer pädagogischen Schande®). Es ist dies einer der vielen Irrwege, die die Pädagogik in den letzten Jahren beschritten hat, immer unter dem Etikett „wissenschaftlicher Erkenntnis", in Wahrheit meist von ideologischen Prämissen bestimmt. Würden sich die modernen Wissenschaftler die Mühe machen, die Arbeiten von Theodor Valentiner aus den zwanziger Jahren zu lesen, so würden sie erkennen, daß viele ihrer Thesen nicht zu halten sind. Freunde
So wurde ich also Sextaner am Alten Gymnasium, einer fast 400 Jahre ahen berühmten Schule mit großer, bedeutender Geschichte. Unsere Klasse war klein. Sie hatte etwa 25 Schüler, und ich gewann bald Freunde, mit denen ich zeitlebens verbunden blieb. Dazu gehörte Woldemar Becker-Glauch, Sohn des Gerichtsarztes Dr. Kurt Becker-Glauch und seiner Frau Gertrud geb. Sander. Ihn kannte ich schon. Er war ein Neffe der berühmten Malerin Paula Becker-Modersohn und ein Neffe meiner Patentante Agnes Sander-Plump. Hochbegabt war er in den musischen Fächern Musik, Literatur und Schauspielkunst. Er konnte hinreißend Klavier spielen. Auch war er unwahrscheinlich mutig, ja tollkühn. Eine Geschichte aus späterer Zeit ist charakteristisch für ihn. Er stieg aus dem Abteil Karl Carstens belegte diese Textstelle mit Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. April 1988 S. 29 („Widersprüche"). 29
eines fahrenden Zuges aus, kletterte über das Dach des Wagens und kam von der anderen Seite wieder durch die Tür herein. Er las viel bis tief in die Nacht, leider auch wrährend der Schulstunden, die ihm zu langweilig waren. So blieb er ein schwacher Mathematikschüler. Aber andere, auch ich, halfen ihm. Und er kannte mit 18 Jahren die gesamte deutsche Literatur. Er studierte später Literatur und Theaterwissenschaften, u. a. bei Prof. Kutscher in München, promovierte, vmrde in jungen Jahren Regisseur in Krefeld. Seine Aufführungen wurden von der Presse von Dortmund bis Frankfurt gut rezensiert. Er war eine der Hoffnungen des deutschen Theaters. 1940 wurde er Soldat. Am 13. Februar 1945 fiel er bei Goldberg in Schlesien. Zwei seiner Brüder waren schon vorher gefallen. Er hatte noch geheiratet. Seine Frau Elisabeth Becker-Glauch lebte in Freiburg. Der Sohn, Dr. Kurt Becker-Glauch, ist Chirurg in Bremen. In einem Brief an seine Eltern vom 24. Januar 1945, also kurz vor seinem Tode geschrieben, heißt es: „Ich ziehe nun in den Kampf, wohl in dem ernstesten AugenbUck, den unser Land je gesehen hat. Das macht ßr mich alles sehr leicht, wenn nicht der Gedanke an Frau und Kind wäre. Ich selbst will bis zum letzten Blutstropfen die Werte verteidigen, die ein Jahrtausend aufgebaut hat. [...] Nur Elisabeth und der Junge! Mein Gott, könnte man sie mit einer Dornenhecke umgeben. Mehr aber als je lebt in mir der Glaube an Gott, der uns durch seine Prüfungen reifen läßt, und die Bereitschaft, das, war er uns zumißt, willig anzunehmen. So bin ich in tiefstem Grunde getrost, so furchtbar auch die Gegenwart im Augenblick auf mir lastet. [.. .1 Das eigene kleine Leben ist in einem Augenblick, der über Jahrhunderte entscheidet, unwichtig. Ich möchte aber doch sagen, daß ich ßr mein Leben, so wie es geworden ist, unendlich dankbar bin und seinen Reichtum empfinde. Es war mir vergönnt, das Schönste, das wir haben und das jetzt in höchster Gefahr schwebt, unsere deutsche Kultur, zum Mittelpunkt meines Lebens zu machen. Wenn ich selbst auch nur ein kleiner Jünger am Ende der langen Kette bin und das, was ich wollte, noch lange nicht zeigen konnte, so daß die Leistung, die am Ende übrigbleibt, leichter ist als eine Feder. Ich selbst bin glücklich und ausgeßUt dabeigewesen. [...] So kommt denn immer wieder nur Dank, Dank an Euch, meine Eltern, ßr all das tausendfach in Liebe Empfangene, Dank an meine Frau ßr ihre Liebe und ihr Kind, und Dank daßr, ein Deutscher sein zu dürfen und teilzuhaben an dem Reichtum unserer Kultur und Geschichte. Ihr Lieben, es war mir ein Bedürfnis, das ganz kurz zu sagen, was eigentlich den hundertfachen Raum beanspruchte, vor allem, was die geschichtlichen Vorgänge betrifft, um deren Erkenntnis ich mich bemühe. Nehmt es denn als ein Bekenntnis, das durchaus nicht wie ein Abschiedsbrief sein soll. Wer dürfte sich vermessen, Gott vorgreifen zu wollen, weder was unser persönliches wie geschichtliches Schicksal betrifft. Wir können nur unsere Aufgabe eißllen, die uns gesteUt ist. [...] Dein Lieblingschoral, Vater, „Befiehl du deine Wege" und jenes von Rheinhard geliebte Bibelwort aus Römer 5, 3—5, das ja auch mir in der unvergeßlichen Predigt am 3. Oktober 1943 die Augen öffnete und mich seitdem begleitet, sie sollen mich begleiten. Durch sie weiß ich mich mit Euch und meiner Frau verbunden. " 30
Ein weiterer sehr enger Freund war Johann Heinrich Carl, Sohn des Oberfinanzpräsidenten in Bremen. Mit ihm verband mich eine enge Freundschaft, obwohl wir im Grunde sehr verschiedene Menschen waren. Wir haben nach der Schulzeit zusammen studiert, waren zusammen in Bremen Referendare, haben beide juristische Staatsprüfungen gemeinsam abgelegt und sind 1930 gemeinsam in der Homer Kirche konfirmiert worden. Als der Krieg begonnen hatte, haben wir uns noch einmal in Bremen getroffen. Wir gingen durchs Blockland. Ich war überzeugt, daß er, der in seinem Leben so oft Glück gehabt hatte, den Krieg überstehen würde. So legte ich ihm meine Mutter ans Herz für den Fall, daß ich fallen würde. Aber er fiel am 19. Oktober 1941 auf der Krim. Kurz danach verloren seine Eltern noch einen weiteren Sohn. Ich habe Johann Heinrich Carl 1943 folgenden Nachruf gewidmet: „Johann Heinrich Carl war ein Mensch, der dazu bestimmt schien, auf der Sonnenseite des Lebens zu gehen. Er besaß einen großen persönlichen Charme und eine überlegene Sicherheit, verbunden mit einem unverwüstlichen Optimismus. Er konnte - oft durch eigenen Leichtsinn - in die verwegensten und schwierigsten Lagen hineinkommen. Durch seine Geistesgegenwart und Sicherheit kam er stets wieder heraus. Körperlich zäh und von einer außerordentlichen Willenskraft, die ihn zu weit überdurchschnittlichen sportlichen Leistungen befähigte, hatte er auch geistig die Beharrlichkeit, ein einmal gesetztes Ziel zu erreichen. Seine ganz besondere Begabung lag in der Beurteilung und Behandlung von Menschen. Ich habe immer wieder gestaunt, wie er mit instinktiver Sicherheit einen Menschen nach kurzer Bekanntschaft beurteilte, und er hat nie Unrecht gehabt. Er handelte impulsiv, aber er hatte eine begnadete Sicherheit, dann das Richtige zu tun. Er machte aus seiner Abneigung gegen Menschen, die er nicht schätzte, keinen Hehl und konnte einen Gegner mit seiner überlegenen, aber doch ungemein treffenden Art abtun, l.. .1 Andererseits hatte er aber auch die Gabe, Menschen für sich und seine Pläne einzunehmen. Er hat das Leben genossen. Aber er besaß dabei eine warme, tiefe Empfindung. Seine Briefe aus dem Rußlandfeldzug verraten eine große Aufgeschlossenheit gegenüber den Schönheiten der Natur. Ihm sind schwere innere Konflikte nicht erspart geblieben, und er hat sie in ehrlicher, männlicher Auseinandersetzung mit sich selbst durchgekämpft. Sie haben den letzten Jahren gelegentlich einen Anflug von Schatten gegeben. Und mir war er ein Freund. Wir haben Jahrelang miteinander geteilt, was an kleinen und großen Ereignissen unser Leben berührte. Er ergänzte mich in einer besonders glücklichen Weise. Als ich die Nachricht von seinem Tode erhielt, hatte ich das Empfinden, daß ein Teil von mir selbst dahingegangen sei, ein Teil jener Jugend, die nicht wiederkehrt. " Der dritte meiner besonderen Freunde war Gottfried Stoevesandt, Sohn des Arztes Dr. Karl Stoevesandt. Er war wohl der integerste, sittlich hochstehendste und am festesten im christlichen Glauben verwurzelte von allen unseren Mitschülern. Auch mit ihm verband mich eine enge Freundschaft. Für ihn stand immer fest, daß er, wie sein Vater und Großvater, Arzt werden wollte. Er war 31
sehr gut in den naturwissenschaftlichen Fächern. Besonders viel bedeutete ihm die Musik. Zeitweilig, als er auf der Universität Schwierigkeiten bekam, weil er ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus war, hat er mit dem Gedanken gespielt, Orgelbauer zu werden. Er heiratete während des Krieges Margarete von Bodelschwingh. Ein Sohn Gottfried und eine Tochter Reinhild sind heute erwachsen. Gottfried Stoevesandt vrarde im Kriege Stabsarzt und hat Verwundete und Kranke an der Ostfront bis zur Selbstaufopferung behandelt. Tief bewegend ist sein Ende. Er war in Jugoslawien eingesetzt. Seine Einheit zog sich unter schwersten Kämpfen zurück. Aber er blieb freiwiUig bei seinen Verwundeten, zehn Bauchverletzten, die nicht mehr transportfähig waren. Als die Partisanen in den Ort eindrangen, trat er ihnen ohne W^affe mit der Rote-Kreuz-Fahne in der Hand entgegen. Aber er und alle Verwundeten vmrden niedergemacht. Dies geschah am 5. Mai 1945, drei Tage vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Der Adjutant der deutschen Einheit, der er angehörte, schrieb an die Eltern, die vorher schon zwei Söhne im Kriege verloren hatten, sie könnten alle nur mit Ehrfurcht an ihn denken. Das, war er getan habe, sei einmalig in der Division gewesen. Von ihm kann man sagen: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde". (Johannes 15,13). Mich erfüllt Jammer und Trost, wenn ich an ihn denke. Er wird als ein menschliches Vorbild in der Erinnerung aller, die ihn kannten, fortleben. Der einzige der mir besonders nahestehenden Freunde in unserer Klasse, der den Krieg überlebte, ist Rudi Blaum. Wir saßen neun Jahre Seite an Seite auf derselben Schulbank. Er setzte sich gleich am ersten Schultag neben mich, obwohl wir uns bis dahin gar nicht kannten. Ich sei ihm sympathisch gewesen, hat er später gesagt. Es war eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Wir waren beide die besten Schüler unserer Klasse, stachelten uns gegenseitig in einem echten Leistungswettbewerb zu immer größeren Anstrengungen auf, machten schließlich das Abitur beide „mit Auszeichnung", studierten danach mehrere Semester zusammen und machten die erste juristische Staatsprüfung wieder gemeinsam, wieder beide „mit Auszeichung". Mir ist kein anderer Fall so erfolgreicher Zusammenarbeit zwischen zwei Schülern bekannt. Wir dachten in gleichen Denkkategorien, konnten uns über Meinungsverschiedenheiten meist schnell verständigen und einigten uns dann fast immer auf einer gemeinsamen Linie. Und das ist bis heute so geblieben. Geschichte war seine große Leidenschaft, und darin war er mir überlegen. Außerdem war er sehr musikalisch, spielte mehrere Instrumente, glänzte also auf dem Gebiet, auf dem meine größte Schwäche lag. Rudi Blaum hat außer Jura auch Geschichte studiert und in beiden Fächern promoviert, in Geschichte 1940 bei Professor Schüssler in Berlin mit einer bedeutenden Arbeit') über den österreichischen Politiker Albert Schäffle und das Rudolf Blaum, Albert Schäffle und die geistigen Grandlagen des Kabinetts Hohenwart, Diss. Berlin 1940; Rechtsstellung und Aufgaben des Sondertreuhänders für den öffentlichen Dienst, Diss. Hamburg 1938. 32
Kabinett Hohenwart, eine Arbeit, die von außerordentlichem Verständnis der kompUzierten Lage der Donaumonarchie in der Mitte des 19. Jahrhunderts und der in ihr wirksamen geistigen und politischen Kräfte zeugt. Nach dem Kriege ließ er sich als Anwalt in Bremen nieder, wurde Sozius eines der bedeutendsten Anwaltsbüros der Stadt und ist bis heute dessen Senior. Er spielt im bremischen Kulturleben eine bedeutende Rolle in der Philharmonischen Gesellschaft und im Kunstverein. 1985 vnirde ihm die bremische Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen. Zusammen mit seiner Frau Rosemarie geb. Freudenberg hat er vier Kinder, und er hat es verstanden, in den schwierigen sechziger und siebziger Jahren durch endlose geduldige Gespräche den Kontakt mit allen Kindern zu behalten, eine enorme geistige und seelische Leistung. Alle vier Kinder haben sich gut entwickelt. Mich hat er dazu bewogen, 1955 der CDU beizutreten, wodurch mein Leben 17 Jahre später eine entscheidende Wende nahm. Ich werde darüber später berichten®). Auch andere Schüler meiner Klasse, fast alle, standen mir nahe: Hartwig Frank, ein äußerst sensibler Journalist, der sich, nachdem er den Krieg überlebt hatte, in einem tragischen Konflikt, an dem er völlig unschuldig war, das Leben nahm. Friedrich Frevert, ein hervorragender Mathematiker und Physiker, der heute in Wetzlar lebt. Gerhard Gieschen, der in Rußland fiel. Wemher Molle, der Apotheker, der in den fünfziger Jahren starb. Hinrich Plate, einer unserer besten Sportler, den die Hansa-Linie nach Persien schickte und der in einem russischen Intemierungslager starb. Paul Rasch, ein sensibler Idealist, der im Kriege U-Boot-Kommandant wurde und sich in einer Depression im Kriegsgefangenenlager in Texas das Leben nahm in dem Augenblick, in dem er entlassen werden sollte. Dabei spielten gehässige Anfeindungen fanatischer deutscher Mitgefangener, die ihm die frühzeitige Entlassung vorwarfen, eine traurige Rolle. Hanfried Schmedes, ein sehr guter Mathematiker, der 1944 in Rußland fiel. Peter Wegener, ein besonders liebenswerter Klassenkamerad, der 1945 bei Danzig fiel. Fred Weichert, der den Krieg überlebte, in die Finanzverwaltung ging und heute im Ruhestand in Bremen lebt. Ich war der Klassensprecher dieser, in so vielfacher Hinsicht einzigartigen Klasse, und ich denke mit Wehmut und in Freundschaft an die Kameraden, die allzu früh ihr Leben lassen mußten. Unser Direktor Dr. Schaal schrieb 1943, er habe in seinem Schulleben kaum je bei einer Klasse so viel Aufgeschlossenheit, Regsamkeit, so viel Mitgehen und Bereitwilligkeit, so viel Hilfe auch bei Dingen, die außerhalb des Unterrichts lagen, gefunden vde bei uns. Die drei Jahre, in denen er unser Lehrer war, sei die fruchtbarste Zeit für ihn gewesen.
Siehe Kap. IX S. 415 ff. 33
Im gleichen Jahr schrieb unser Mathematiklehrer Schulze: „Ihre Klasse gehört zu den allerbesten, die ich je kennengelemt habe, nicht nur in bezug auf Begabung, sondern auch in charakterlicher Hinsicht." Lehrer Wir hatten gute, teilweise sehr gute Lehrer. Dr. Hans Schaal, unser Direktor: Bei ihm hatten wir in der Oberstufe Griechisch, und er gab einen interessanten, lebendigen Unterricht. Er beteiligte sich selbst an archäologischen Forschimgen in Griechenland und hielt darüber Vorträge mit ausgezeichneten Lichtbildern. Er war ein selbstbewußter, energischer Mann. Aber wir haben uns nie von ihm imter Druck gesetzt gefühlt. Unvergeßlich ist mir seine Abiturientenrede von 1932, ein Jahr vor unserem Abitur, die er imter das Motto des Homer-Verses stellte: „Immer der Erste sein, immer den anderen überlegen sein und dem Geschlecht der Väter keine Schande machen." Es war eine sehr anspruchsvolle Mahnung, aber ich nahm sie auf. Vor allem der Gedanke, daß ich meinem Vater Ehre machen müßte, entsprach meiner eigenen Grundüberzeugung. Nach 1933, als wir die Schule verlassen hatten, hörten wir, daß Schaal sehr stark auf die Linie der neuen Machthaber eingeschwenkt sei. Andere verteidigten ihn. Er habe das mit Rücksicht auf seine halbjüdische Frau getan und weil er die Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten, denen sie ein Dom im Auge war, fürchtete. Ich kann das nicht beurteilen. In unserer Zeit war er ein sehr guter Lehrer. Dr. Emil Schwartze: Er gab Deutsch und Geschichte. Ein hochgebildeter, anspruchsvoller Geist, in der klassischen deutschen Literatur ebenso bewandert wie in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wir verdanken ihm viel. Er war nicht frei von Hochmut und konnte gegenüber schwächeren Schülern sehr scharf werden. Als ein mäßiger Schüler auf die Frage, was er werden wollte, antwortete, er wolle zum Auswärtigen Amt gehen, sagte Schwartze: „Wohl als Portier". Das hat ihm der Betreffende nie verziehen. 1933 virurde Schwartze als Halbjude entlassen. Mehrere Schüler unserer Klasse hielten den Kontakt zu ihm aufrecht und besuchten ihn regelmäßig. Über mich schrieb er in meinem Entnazifizierungsverfahren®) 1947: „So gehörte Dr. Carstens für mich zu jener Jugend, der man angesichts ihrer latenten Gefährdung durch das nationalsozialistische System nur immer vvTinschen mußte, daß sie für die Zeit nach dem voraussehbaren Zusammenbruch erhalten bleiben möchte." Nach 1945 wurde Schwartze Direktor des Alten Gymnasiums und erhieU damit die verdiente Genugtuung für das ihm angetane Unrecht. Das absolute Gegenteil von Schwartze war Prof. Friedrich Wellmann, unser Klassenlehrer in der Oberstufe. Er war deutschnational, kein Nationalsoziahst, aber von relativ undifferenzierter Geistigkeit. Berühmt war er als Vogelstimmenimitator. Wenn wir mit ihm im Blockland wanderten, imitierte er Kiebitze und
») Vgl. hierzu auch Kap. III S. 92.
34
andere Vögel, die dann in Scharen herbeigeflogen kamen. Natürlich nahm er an unserer Abschiedsfeier am 5. März 1933 teil. Das war der Tag, an dem die Nationalsozialisten in Bremen die Macht ergriffen. Wir gingen über den Marktplatz, wo eine tausendköpfige Menge die Ansprache des Gauleiters Röver anhörte. Von dem hellerleuchteten Rathaus hingen die neuen Fahnen herab. Darauf Wellmann: „Daß meine alten Augen nochmal die schwarzweißrote Fahne am Rathaus hängen sehen, das erfreut mein Herz." Darauf einer unserer Mitschüler, Hartwig Frank: „Aber Herr Professor, die Hakenkreuzfahne hängt daneben." Wellmann: „Ganz egal, schwarzweißrot ist die Hauptsache". So fühlten damals viele Deutschnationale. Als sie aufwachten, war es zu spät. Dr. Alfred Nawrath, wieder das Gegenteil von Wellmann. Er stand politisch weit links, und wir fühlten das. Aber wir schätzten ihn. Er hatte einen scharfen, bisweilen ätzend scharfen Verstand, war ein glänzender Analytiker, auch bisweilen Zyniker, und zerstörte viele unserer jugendlichen Illusionen. Als Geograph hatte er die Welt bereist und Bücher über fremde Länder geschrieben. Die glänzenden Fotos darin stammten von ihm. In der Schule schäbig gekleidet, war er auf Reisen ein eleganter Mann. Er trug einen Borsalino-Hut. Von ihm hörte ich das Wort zum ersten Mal. Es dauerte 40 Jahre, bis ich selbst einen hatte. Nawrath vnirde 1933 sofort als politisch unzuverlässig entlassen. Rudi Blaum und ich hielten die Verbindung zu ihm aufrecht. Wir besuchten ihn regelmäßig in der Stader Straße, wo er mit seiner alten Mutter wohnte. Wir sprachen sehr offen über die düsteren Prognosen der nationalsozialistischen Herrschaft für unser Vaterland. Er wurde 1945 rehabilitiert, reiste weiter viel und starb während einer Kreuzfahrt auf den Kanarischen Inseln. Ich habe dafür gesorgt, daß er dort ein vWirdiges Grab erhielt. Prof. Theodor Seiferth: Er war in der Mittelstufe unser Klassenlehrer. Ich erwähne ihn besonders wegen seiner charakterlichen Eigenschaften. Mit unbedingter Zuverlässigkeit und Treue hing er an unserer Klasse. Was er versprach, hielt er. Er war ein eigenwiUiger, eher verschlossener Mann, der uns aber große Achtung abnötigte. Ja, wir liebten ihn. Er hatte den Montblanc bestiegen und hatte die merkwürdige Angewohnheit, die Treppen des Alten Gymnasiums in Serpentinen heraufzugehen. Schheßlich nenne ich unsere beiden Mathemaüklehrer Karl Schulze und Dr. Karl Schierloh. Schulze war gutartig und um das Wohl seiner Schüler redlich bemüht. Er hatte 1914 bei Tannenberg gekämpft. Wenn wir ihn ablenken wollten, fragten wir danach. Er ging immer bereitwillig auf das Thema ein, und bald kannten wir den Verlauf dieser Schlacht ziemlich genau und konnten daher auch immer wieder interessante neue Fragen stellen. Als er bei unserer schriftlichen Mathematikarbeit im Abitur die Aufsicht zu führen hatte, vergrub er sein Gesicht hinter einer Zeitung und ermöglichte dadurch mancherlei Hilfe für die Schwächeren. Schierloh hatte geniale Züge, einer der besten Pädagogen, die ich kennengelemt habe. Er sprang unaufhörlich im Klassenzimmer hin und her, sprach sehr schnell, rief bald diesen, bald jenen Schüler auf, so daß jeder in ständiger Spannung lebte. Auch würzte er seinen Vortrag mit köstlichen Bonmots. Wenn 35
wir zu viel fragten, pflegte er zu sagen: „Sie müssen wissen, in der Physik gilt der Satz: Was ich nicht erklären kann, sehe ich als nicht vorhanden an". Das war natürUch beißende Ironie. Trotzdem habe ich diesen Satz 50 Jahre später häufig zitiert, als es darum ging, der Homöopathie zum Durchbruch zu verhelfen. Das war das große Anliegen meiner Frau^°). Aber die Koryphäen der Physik verschlossen sich ihm mit der Begründung, daß die Wirkung der Homöopathie wissenschaftlich nicht erklärt werden könne. Als letzten nenne ich unseren Musiklehrer, Herrn Rudolf Grossmann. Er war rührend zu mir. Trotzdem war das Probesingen bei ihm für mich jedesmal ein Alptraum. Ich konnte nur ein Lied einigermaßen singen: „Nun adé, du mein lieb' Heimatland." Aber einer meiner besten Freunde, entweder Becker-Glauch oder Blaum, die im Alphabet vor mir kamen und hochmusikalisch waren, nahm mir jedesmal dieses Lied weg. So etwas gibt es unter Schulfreunden auch! Und dann sang ich ein Lied, das ich überhaupt nicht beherrschte („Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd"), und die Klasse brüllte vor Lachen. Unter diesem Trauma leide ich noch heute. Grossmann gab mir trotzdem eine Zwei in Musik. Theorie Eins, Singen Vier, gleich Zwei. Prägende
Schulzeit
Wie sich aus allem bisher Gesagten ergibt, hatten wir eine herrliche Schulzeit. Unsere Lehrer besprachen das Unterrichtsprogramm vorher mit uns. Wir genossen eine Freiheit wie später niemals mehr in unserem Leben. Latein hatten wir während der ganzen neun Jahre unserer Gymnasialzeit, zunächst wöchentlich sechs Stunden. Wir lasen Cäsar, Cicero, Tacitus, Vergil, Ovid, Catull, Sallust, Plinius u. a. Einen bleibenden Eindruck hinterließ bei mir Cäsar durch seine bildhafte Sprache und die prägnante Kürze seines Stils. Auch Vergib Aeneis ist mir bis heute unvergeßlich. In ihr stellt der Dichter, der selbst zur Zeit des Kaisers Augustus lebte, den Ursprung der historischen und sittlichen Sendung Roms dar. Aeneas ist der Held, der seinen alten Vater aus dem brennenden Troja herausträgt, der allen Versuchungen widersteht und getreu dem Befehl der Götter nach langen Irrfahrten in Latium eine neue Heimat findet und einen neuen Staat gründet. Cicero erscheint mir bis heute zu weitschweifig, zu kompliziert. Aber Tacitus habe ich mit Begeisterung gelesen, auch wenn wir hörten, daß seine Beschreibung der Germanen tendenziös sei. Er wollte den dekadenten Römern seiner Zeit das Bild eines kraftvollen, moralisch integren Volkes als Vorbild vor Augen stellen. Als ich anfing, mich für die Juristerei zu interessieren, habe ich selbst viel im Corpus Juris Civilis, jener Gesetzessammlung des römischen Kaisers Justinian aus der Zeit um 530 n. Chr., gelesen. Ich war beeindruckt von der Prägnanz und Kürze der römischen Rechtssprache. „Audiatur et altera pars" („man muß auch die andere Seite hören"). Im Sachsenspiegel heißt es bildhaft, aber eben doch
»») Vgl. Kap. XII S. 733 ff.
36
auch sehr viel umständlicher: „Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede. Man soll sie hören alle bede". Ich habe das „audiatur et ahera pars" unzählige Male in meinem Leben zitiert und angewandt, vor allem auch in der Politik, wenn ich verhindern wollte, daß wir uns aufgrund einer einseitgen Darstellung vorschnell ein Urteil bildeten. „Ne bis in idem" („nicht zwei Mal gegen dasselbe") ist ein anderes Beispiel für die großartigen Grundsätze, die das römische Recht der abendländischen Welt vermittelt hat, und zugleich für seine einzigartige Ausdruckskraft. Der Rechtsgedanke ist in unser Grundgesetz von 1949 aufgenommen. Er lautet dort in der langatmigeren Diktion unserer Zeit: „Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals verurteilt werden" (Art. 103, Abs. 3). Sehr stark wirkte auf uns die Beschäftigung mit der römischen Geschichte. Die Fähigkeit der Römer, ein riesiges Reich zu regieren ebenso wie einige herausragende Gestalten, Cäsar, Brutus, Augustus, Antonius, stehen mir bis heute lebendig vor Augen, nicht zuletzt auch dadurch, daß wir in den verschiedenen literarischen Zirkeln, denen ich angehörte, die Shakespeareschen Dramen über diese Epoche lasen. Auch die Begegnung zwischen Römern und Germanen, der große Einfluß, den die Römer auf die von ihnen besetzten Teile des heutigen Deutschland im Westen und im Süden ausübten, sind eine bleibende Frucht meiner endlosen Beschäftigung mit lateinischen Texten in den Jahren zwischen 1924 und 1933. Wichtiger war für mich das Griechische. Es stand zwar nur sechs Jahre auf unserem Unterrichtsplan, aber es wirkte ungeheuer stark. Schon das Lesen der homerischen Epen, von denen wir einige Abschnitte auswendig lernten, begeisterte uns. Diese nicht endenden phantastischen Geschichten von Göttern und Heroen, die Darstellung des Heldischen und zugleich Tragischen in der Gestah Hectors, die Heimsuchungen des Odysseus, aus denen er sich immer vdeder löst, um nach zwanzigjähriger Abwesenheit die heimatliche Scholle auf Ithaka doch schließlich zu erreichen, sein Scharfsinn, sein Ideenreichtum, seine kaltblütige Tapferkeit, wie könnte das alles jemand vergessen. Dann die griechischen Dramen von Aeschylos, Sophokles, Euripides, die bis heute zu den niemals übertroffenen Darstellungen des menschlichen Schicksals auf der Bühne gehören. Auch hier die oft im Mittelpunkt stehende Tragik, die Hybris, die den Menschen ins Unglück führt, die Unlösbarkeit von Konfliktsituationen — Vorstellungen, die der moderne wissenschaftsgläubige Mensch, der alles für „machbar" hält, zu verdrängen sucht, und die doch heute genauso gültig sind wie vor 2000 Jahren. Die griechische Geschichtsschreibung: Xenophon, Herodot, Thukydides, und schließlich die griechische Philosophie, vor allem Sokrates, Plato und Aristoteles. Unvergeßlich der Tod des Sokrates: Wegen Gottlosigkeit war er verurteilt. Seine Freunde boten ihm die Flucht an, aber er trank den Schierlingsbecher in unerschütterlicher innerer Ruhe und Gelassenheit — aus Respekt vor den Gesetzen Athens. Er ist, so wie ihn Plato uns in seinen Dialogen schUdert, zum Vorbild für sittliches Handeln aus freier Entscheidung des mündigen Menschen geworden, ebenso wie er zum Vorbild für das unerbittliche Forschen nach 37
der Wahrheit wurde. Seine Philosophie ist die erste Absage in der Geschichte des Abendlandes an alle Ideologien, die die Wahrheit verfälschen oder verbiegen und die sich daher nicht hinterfragen lassen wollen. Aristoteles schließlich, der Schüler Piatons und Erzieher Alexanders des Großen. Von ihm lasen wir ethische und politische Schriften. Auch er lehrte, die Wahrheit um der Wahrheit willen zu suchen und machte uns gefeit gegen die ideologischen Irrlehren, denen wir in unserem späteren Leben immer v«eder begegnen sollten. Wir studierten aber auch seine Darstellung der Demokratie: Was macht ihr Wesen aus? W o liegt ihre Stärke? Und wo ihre Schwächen und Gefahren? Von der Freiheit in der Demokratie sagt er bekanntlich: „Ein Stück der Freiheit ist aber damit gegeben, daß man abwechselnd gehorcht und befiehlt." Diese Einsicht ist in unserer Republik vielen, die sich für vermeintlich bessere Ziele ereifern, verlorengegangen. Der Griechischunterricht umfaßte nicht die Lektüre des Neuen Testaments, wie ja überhaupt die religiösen Dimension in der bremischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, von Ausnahmen abgesehen, stark unterentwickeh ist. Aber Gottfried Stoevesandt schenkte mir ein Neues Testament in griechischer Sprache, der Sprache, in der die Worte Jesu und die Briefe des Apostels Paulus ebenso wie alle anderen Teile des Neuen Testaments auf uns gekommen sind. Es ist eine meist einfache Sprache. Sie liest sich leicht, und ich habe seitdem immer wieder zu dem griechischen Urtext der Bibel gegriffen. Außer Latein (neun Jahre), Griechisch (sechs Jahre) lernten wir Englisch (sieben Jahre) und freiwillig Französisch (drei Jahre). Ich habe die beiden modernen Sprachen auf der Schule leidlich erlernt, meine Kenntnisse aber später durch Auslandsaufenthalte in England, Frankreich und Amerika vervollkommnet und sprach sie beide zeitweilig fließend. Dafür hatte die humanistische Bildung die Grundlage gelegt. Warum das heute nicht mehr möglich sein sollte, ist mir ganz unerfindlich. Sehr gut war unser Deutschunterricht bei Dr. Schwartze. Lessings „Nathan" ist mir seitdem lebendig. Von Goethe und Schiller behandelten vdr Dramen und Gedichte, von Goethe außerdem ausführlich die „Italienische Reise". Unvergeßlich ist mir das Gedicht Goethes über Schiller, wohl die großartigste Würdigung, die einem Genius von einem anderen Genius zuteil wurde:
Er glänzt uns vor wie ein Komet entschwindend unendlich Licht mit seinem Licht verbindend (Epilog zu Schillers „Glocke"). Wir lasen Goethes „Iphigenie", Schillers „Wallenstein" und „Don Carlos" und Kleists „Prinz von Homburg". Das Bildungsideal der deutschen Klassik, vor allem Schillers, stand im Vordergrund: Der Mensch ist frei, niemand darf und kann ihm seine Würde nehmen. Aber er ist zugleich sittlich gebunden und findet seine Bestimmung in der Erfahrung des Guten, Wahren und Schönen — ein hohes, anspruchsvolles, bis heute nicht übertroffenes Erziehungsziel. Auch unser Mathematikunterricht war vorzüglich. Im Abitur beherrschten wir die Differential- und Integralrechnung. 38
Schließlich sei der Geschichtsunterricht erwähnt. Glänzend war die Behandlung des hohen Mittelalters, der Kaiserpolitik in Italien und im Osten, der Reformation und Gegenreformation, des Dreißigjährigen Krieges, der preußischen Staatsgründung im 17. und 18. Jahrhundert. Schließlich das 19. Jahrhundert: Es wurde aus Bismarckscher Sicht dargestellt. Scharfe Kritik wurde an der deutschen PoUtik nach Bismarck geübt. Freüich machten die Unterrichtsstunden nur einen Teil unserer schulischen Aktivitäten aus. Sie wurden in glücklicher Weise ergänzt durch Ausflüge, Aufführungen von Stücken und bis zu zehntägigen sogenannten Schulkolonien. Ein herrlicher Ausflug brachte uns als Untersekundaner 1929 in den Harz. Unter Leitung unseres sehr geschätzten Klassenlehrers Prof. Seiferth, des Montblanc-Bezwingers, bestiegen wir den Brocken, ein unvergeßliches Erlebnis. Noch wichtiger waren die Schulkolonien 1930 auf Wangerooge und vor allem 1932 in Oberprima auf Sylt. Hier wurde der Unterricht ganz auf den Raum, in dem wir uns befanden, umgestellt. Auf Sylt beschäftigten wir uns mit Meeresbiologie und lasen bei Plinius und Tacitus die Kapitel, die sich auf Germanien und die Nordsee bezogen. Die Lehrer Schaal und Schierloh leiteten die Sylter Schulkolonie, beide hervorragend. Wir fuhren mit dem Dampfer über Helgoland, das ich damals zum ersten Mal sah, und zurück die Elbe herauf bis Hamburg. Über diese letztere Fahrt schrieb ich einen Aufsatz, in dem ich die Schönheit des Elbflusses und seiner Uferlandschaft schUderte, aber auch den Schiffsfriedhof im Hamburger Hafen, wo hunderte von Schiffen festlagen, Opfer der großen Weltwirtschaftskrise. Auf Sylt wohnten wir in einem Schullandheim in Puan Klint zwischen Hörnum und Westerland. Der Zauber dieser Insel hat mich seitdem nicht vdeder losgelassen, wenn sie auch durch Uferabbrüche und übermäßige Bautätigkeit stark gelitten hat. Auf Sylt erschien eines Abends der plattdeutsche Liedersänger Richard Germer, der zur Gitarre unter anderem „Lütt Matten de Haas" sang. Wir waren begeistert. Am letzten Tag stiegen einige Mutige aus dem Fenster unseres Schlafraumes über das Dach in den Schlafraum einer daneben wohnenden Mädchenklasse. Es passierte überhaupt nichts Emsthaftes. Die meisten Mädchen, ca. 16 Jahre alt, fanden das Erlebnis sehr spannend. Aber die Direktorin, die von der Sache Wind bekam, beschwerte sich bei Direktor Schaal, der sich jedoch für die Inteφretation „harmloser Streich" entschied. Aber wir machten nicht nur Schulausflüge, sondern versuchten auch, auf eigene Faust unsere nähere und weitere Umgebung kennenzulemen. 1931 oder 1932 unternahmen Rudi Blaum, Woldemar Becker-Glauch und ich eine Radtour, die uns unter anderem nach Goslar, Quedlinburg und Naumburg an der Saale führte. In Goslar sahen wir das Brusttuch und viele andere prachtvolle Bürgerhäuser aus dem 16. Jahrhundert, der Zeit, als die Stadt durch den Silberbergbau reich wurde, und femer die unter Kaiser Heinrich III. und Heinrich IV. erbaute Kaiserpfalz. Über Quedlinburg erfuhren wir, daß es die wichtigste Pfalz Heinrichs I. und Ottos I. war. Dessen Tochter Mathilde begann den Bau der Stiftskirche, einer 39
der großartigsten Schöpfungen romanischer Bankunst in Norddeutschland. Hier liegt Heinrich I. begraben. Schließlich sahen wir in Naumburg den Dom, einen Kirchenbau aus der Übergangszeit von der Romanik zur Gotik mit den Stifterfiguren, die mir bis heute unvergeßlich sind. Es war die Zeit, in der vor allem die Gestalt der Uta als eine der großartigsten Schöpfungen der deutschen Bildhauerkunst enthusiastisch gefeiert wurde; aber auch die Darstellungen aus dem Leben Jesu am Westlettner aus der Mitte des 13. Jahrhunderts beeindruckten uns tief. Wir waren damals 16 oder 17 Jahre alt, aufgeschlossen für die deutsche Geschichte und die mittelalterliche Baukunst, und nahmen die vielen Erlebnisse dieser Fahrt mit großer Begeisterung in uns auf. Sie blieben unauslöschlich in unserer Erinnerung. Schon als Schüler lernte ich Rudolf Alexander Schröder, Abiturient des Alten Gymnasiums, Jahrgang 1897, kennen. Er lebte mit seiner Schwester zusammen in der Hohenzollemstraße, der heutigen Heinrich-Heine-Straße. Er lud uns, Woldemar Becker-Glauch, Rudi Blaum, mich und einige andere Schüler, mehrfach abends ein. Wir tranken herrlichen Rotwein, und er las uns aus seiner „Ilias"-Übersetzung, an der er gerade arbeitete, vor. Er machte einen tiefen Eindruck auf uns, und wir verehrten ihn. Auch aus meiner heutigen Sicht erscheint er mir als einer der bedeutendsten Geister, die Bremen hervorgebracht hat. Später zog er nach Bayern. In der Zeit des Nationalsozialismus schloß er sich der Bekennenden Kirche an. Aus jener Zeit stammen herrliche Kirchenlieder. Außer bei den klassischen Abenden erlangte unsere Klasse eine gewisse Berühmtheit durch die jährliche Aufführung eines weihnachtlichen Krippenspiels. Die Aula war jedesmal voll. Woldemar Becker-Glauch spielte die Maria, ich den Josef, Friedrich Frevert einen der Hirten. Auch als wir längst im Stimmbruch waren, gelang Becker-Glauch immer noch eine ergreifende Darstellung der Jungfrau Maria. Älteren Damen im Zuschauerraum kamen die Tränen. Im Sport und im Turnen war ich ein durchschnittlicher Schüler. Viel Freude machte mir das Rüdem auf der Weser im Ruderverein des Alten Gymnasiums. An den musikalischen Darbietungen der Schule beteiligte ich mich nicht. Aber ich genoß die Aufführungen des Orchesters und des Schulchores sehr. Erich Witte, später ein bedeutender Tenor an der Berliner Staatsoper, Hermann Uhde, später ein ebenfalls bedeutender Baß, Carl Seemann, ein genialer Klavierspieler und später Professor der Musik in Freiburg, waren teils etwas älter, teils etwas jünger als wir. Das Alte Gymnasium zeichnete sich damals auch auf musikalischem Gebiet durch hervorragende Leistungen aus. Sehr wichtig waren für unsere Entwicklung Sekunda- und Prima-Verein. Ihr Ursprung geht auf die Zeit um 1820 zurück. Sie bestanden unabhängig von der Schule. In ihnen trafen sich etwa zehn bis zwölf Sekundaner und Primaner in regelmäßigen Abständen. Wir veranstalteten abwechselnd Leseabende, an denen wir Dramen der Weltliteratur mit verteilten Rollen lasen, und Diskussionsabende, an denen wir nach einem einleitenden Referat und Korreferat über uns interessierende Themen — ich erinnere: Die Todesstrafe, die Revolution von 1848 und viele andere - diskutierten. Von den Stücken, die wir lasen, 40
sind mir besonders die Dramen Woyzeck und Dantons Tod von Büchner in Erinnerung. Leider sind die Protokolle im Kriege verbrannt. Es war ein liberaler, geistig engagierter Kreis junger Menschen. Ich bedauere sehr, daß der Prima-Sekunda-Verein, der trotz Verbots die Zeit des Nationalsozialismus überdauert hat, Ende der 60er Jahre eingegangen ist, und ich möchte die heutige Schülergeneration ermuntern, ihn wieder zu gründen. In meine Zeit im Prima-Verein fiel ein wichtiges Ereignis mit politischem Hintergrund. Ludwig Markreich, von dem ich früher berichtet habe"), und der in eine Klasse unter mir ging, bewarb sich um die Aufnahme in den SekundaVerein. Aber er stieß dabei auf Schwierigkeiten und erzählte mir davon. Rudi Blaum und ich sprachen darauf mit dem Präses des Sekunda-Vereins. Wir waren beide der Meinung, daß Markreich unter jedem Gesichtspunkt in diesen Kreis aufgenommen werden sollte. Er war geistig interessiert und menschUch sehr sympathisch. Aber die Antwort war negativ. Als Juden, so hieß es, könne man ihn nicht aufnehmen. Blaum und ich waren bestürzt darüber, daß sich jetzt auch am Alten Gymnasium der Antisemitismus zeigte, der mit einer humanistischen Einstellung gänzlich unvereinbar ist. Wir konnten uns aber dem Sekunda-Verein gegenüber nicht durchsetzen. Darauf erörterten wir die Sache mit unseren Freund im Prima-Verein, und dieser beschloß, Markreich unter Überspringung des SekundaVereins direkt in den Prima-Verein aufzunehmen. Max Markreich, der Vater von Ludwig Markreich, schreibt in seiner „Geschichte der Juden in Bremen und Umgebung", die 1955 in New York erschien, daß sein Sohn im Juni 1932 als zweiter Jude in der über hundertjährigen Geschichte des Vereins Mitglied des Prima-Vereins wurde. Er blieb es bis zum März 1933. Das war der Zeitpunkt, zu dem unsere Runde sich nach bestandenem Abitur auflöste. Jubiläen Während meiner Schulzeit, nämlich 1928, feierte das Alte Gymnasium sein 400jähriges Jubiläum. Es war ein großes Ereignis für die Stadt Bremen. Bürgermeister Spitta, der für das Schulwesen verantworthch war, selbst ein ehemaUger Schüler des Alten Gymnasiums, hielt eine Ansprache. In der alten Halle des Rathauses fand der Festakt statt. Theateraufführangen, u. a des „Oedipus" von Sophokles, des „Meisterwerks der tragischen Literatur", wie es in der Ankündigung hieß, und weitere Stücke, die von Schülern aufgeführt wurden, gaben dem Fest die Würze. Einen Höhepunkt bildete ein großer Kommers in den Festsälen der Union, bei dem wir Schüler mit den alten Herrn zusammensaßen und köstliche Geschichten hörten. Von einem Lehrer Wellmann (nicht unser Friedrich Wellmann) wurde der Ausspruch berichtet: „Alle dummen Jungens werden Juristen,
" ) Siehe oben S. 28. 41
meiner auch". Der letztere war damals schon ein angesehener Rechtsanwalt und Notar in Bremen. Eine andere typische Lehrergeschichte handelte von Prof. Ziegler, der Griechisch unterrichtete. Eines Tages brachte er eine Tafel mit in die Klasse und erläuterte sie mit folgenden Worten: „Ich habe Ihnen hier ein Bild von Athen mitgebracht. Athen ist darauf nicht zu sehen. Es liegt hinter jenem Hügel dort". Und schließlich ein Ausspruch des Lehrers Pileus, dessen wirklichen Namen ich leider nicht mehr weiß: „Meine Herren, daß Sie mich Pileus nennen, ist geschmacklos. Aber daß Sie meine Töchter die Pileiden nennen, das ist ruchlos." Damals, 1928, stand das Alte Gymnasium in voller Blüte. Niemand konnte ahnen, daß sein Bestand zehn Jahre später unter der nationalsoziaUstischen Herrschaft und 50 Jahre später, als die SPD Bremen allein regierte, emsthaft gefährdet sein virürde. Ich habe mich Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre wiederholt für den Fortbestand der Schule öffentlich eingesetzt. 1985 habe ich zu einem Buch über das Alte Gymnasium das Vorwort geschrieben und darin u. a. ausgeführt: Es bereitet mir Freude, das Vorwort zu einem Buch über das Alte Gymnasium in Bremen zu schreiben. Ich verdanke dieser Schule sehr viel. Sie hat mich geistig geprägt, an ihr habe ich meine besten Freunde gefunden; drei von ihnen sind in jungen Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen, mit den anderen bin ich bis heute eng verbunden. Wir hatten einige großartige Lehrer, farbige Persönlichkeiten, deren politische und weltanschauliche Positionen weit auseinanderlagen. Die Besten waren eindeutige Gegner des damals aufkommenden Nationalsozialismus, ebenso wie die meisten Schüler meiner Klasse. Ich habe Anfang 1933 Abitur gemacht. Wir alle machten einen großen Fehler. Wir unterschätzten die politische Potenz des Nationalsozialismus, seine brutale Entschlossenheit, die Macht zu ergreifen; wir beurteilten ihn nach seinen geistigen Leistungen, die wir gering schätzten und die uns, wie besonders der Antisemitismus, abstießen. Aber wir haben selbst nicht dagegen gekämpft, wie wir überhaupt — und das war ein Fehler unserer sonst so vorzüglichen Schulausbildung — politischen Fragen unserer Zeit distanziert gegenüberstanden. Es ist deswegen gut, daß heute an den Schulen politischer Unterricht erteilt wird, dessen Ziel es sein muß, unsere mühsam erkämpfte freiheitliche, soziale und rechtsstaatliche Demokratie fest im Bewußtsein der Schüler zu verankern. [...] Über die Bedeutung der humanistischen Bildung in unserer Zeit habe ich später häufig diskutiert"), u. a. auch in den sechziger Jahren mit Werner Heisenberg, dem damals bedeutendsten deutschen Physiker. Er sagte, seine besten Schüler seien Humanisten gewesen, die also auf der Schule verhältnismäßig wenig Physik gelernt hätten. Ich meinte, das habe vielleicht daran gelegen, daß " ) Helgard Wams, Ralph Schneider (Hrsg.), Die Geschichte einer Penne, Bremen 1985 und GEIST S. 334. " ) Siehe dazu Karl Carstens, Die Bedeutung der humanistischen Bildung in unserer Zeit, in: Paderbomer Studien 1979 Heft 1/2 S. 2 9 - 3 4 .
42
zu jener Zeit die begabtesten Schüler zu den humanistischen Gymnasien gegangen seien. Er sagte, er glaube nicht, daß das Grund sei. Der wahre Grund hege darin, daß die humanistische Erziehung wie keine andere die Phantasie anrege und damit eine schöpferische Kraft wecke, die für die großen Entdeckungen in der Physik entscheidend sei. Am 5. März 1933 feierten wir unser Abitur in einer Bierstube in der Böttcherstraße. Es war eine fröhliche Feier mit vielen Reden, zunächst unbelastet von der Tatsache, daß am gleichen Tage die Nationalsozialisten den amtierenden Senat abgesetzt und die Macht in Bremen übernommen hatten. Um diese Zeit suchten mich die Kinder eines der führenden bremischen demokratischen Politikers auf, mit denen ich befreundet war, und sagten, sie hätten eine große Bitte. Ihnen und ihren Eltern läge sehr daran, Schriften, die sie in ihrem Hause aufbewahrten, vor dem Zugriff der Nationalsoziahsten zu schützen. Ob wir bereit wären, sie bei uns zu verwahren? Meine Freunde gingen davon aus, daß sie im Hause der armen Witwe Carstens besser geschützt sein würden als im Hause des prominenten Politikers, ihres Vaters. Meine Mutter erklärte sich, wenn auch nicht ganz leichten Herzens, einverstanden. So trugen wir mehrere Pakete mit den Schriften in unseren Keller; aber wie so oft im Leben kam es anders als vorgesehen. Das Haus meiner Mutter wurde von der Gestapo durchsucht. Dabei wurden die Pakete gefunden, und meine Mutter hatte große Mühe, sich aus der sehr unangenehmen Situation herauszureden, ohne die Herkunft des gefundenen Materials preiszugeben.") Unsere Klasse hatte beschlossen, 10 Jahre nach unserem Abitur, also 1943, ein Klassentreffen zu veranstalten. Dazu kam es nicht, weil wir alle im Kriege waren. Ich habe statt dessen Briefe von allen Klassenkameraden angefordert, sie vervielfäkigt und dann an alle verschickt. Den beiden, die damals schon gefallen oder vermißt waren, habe ich Nachrufe gewidmet. 10 Jahre später, also 1953, kam das Klassentreffen wieder nicht zustande. Damals hat Rudi Blaum einen Erinnerungsband herausgegeben, der viele Briefe, darunter letzte Briefe gefallener Kameraden, Grußworte der Eltern, der Lehrer und Nachrufe für alle, die nicht mehr lebten, enthält.") Es ist ein ergreifendes Dokument der Zeitgeschichte. Nach weiteren 30 Jahren (1983 - ich war damals Bundespräsident - ) habe ich die Initiative ergriffen und die noch lebenden Klassenkameraden unserer Klasse und der Parallelklasse zur Feier der 50jährigen Wiederkehr unseres Abiturs eingeladen, dazu den Direktor der Schule, Dr. Koch, einige Lehrer und die Oberprimaner des Jahrgangs 1983, die Latein und Griechisch als Leistungsfächer gewählt hatten und denen wir uns daher besonders verbunden fühlten. In meiner Ansprache sagte ich, daß ich die eingeladenen Oberprimaner bäte, in 50 Jahren, wenn sie ihr Abitur feierten, also im Jahr 2033, die ОЬефптапег dieses Jahrgangs einzuladen, ihnen von der heutigen Feier zu erzählen und ihnen zu sagen, daß wir Abiturienten des Jahrgangs 1933 ebenso wie unsere Vorgänger " ) Vgl. hierzu auch Kap. III S. 60 f. " ) Das Erinnerungsheft ist als private Vervielfältigung erschienen. 43
und Nachfolger unserer alten Schule mit Liebe und Verehrung gedacht hätten.") Möge es dazu kommen!
3. AuBerhalb der Schule 1926 1926 war für uns ein entscheidendes Jahr. Zunächst starb meine Großmutter Carstens. Dieser Verlust traf mich schwer. Sie hatte mich als ihr einziges Enkelkind rührend verwöhnt. Einmal in der Woche ging ich zum Mittagessen zu ihr in die Mecklenburger Straße. Sie konnte phantastisch kochen. Ihre unbedingte Redlichkeit ist mir bis heute VorbUd. Auch habe ich wohl das fröhliche Gemüt von ihr geerbt. Sie erlitt einen Schlaganfall und starb 77jährig in den Armen ihrer besten Freundin, die sie gerade besuchte. In dieselbe Zeit fällt eine entscheidende Veränderung unseres Lebens. Wir zogen in die Busestraße in ein eigenes Haus. Meine Mutter strebte schon seit Jahren nach einem eigenen Haus. Die Vorstellung, daß man auf eigenem Grund und Boden wohnen soUte, war Teil ihres Fehmamschen Erbes. Aber wie war das zu bewältigen? Ihr einstmals beträchtliches Vermögen war in der Inflation fast ganz verlorengegangen. Das Haus sollte 24.000 Mark kosten. 4.000 Mark hatte sie selbst, den Rest nahm sie als Hypothek auf. Zwar bekam sie als Kriegerwitwe Kredite zu günstigen Zinsen, aber die finanzielle Last, die sie übernahm, wog doch schwer. Sie vermietete die obere Etage und gab verstärkt Privatstunden. Ich übrigens auch. So kamen v«r finanziell über die Runden. Manche unserer Bekannten sahen in dem Umzug in die Busestraße einen sozialen Abstieg, weil dort „einfache Leute" wohnten, wie man damals sagte. Aber das war meiner Mutter wieder ganz gleichgültig. Soziale Vorurteile hatte sie nicht. Sie war, vwe sich auch hier wieder zeigte, eine innerlich ganz freie, selbständig urteilende Persönlichkeit. Außerdem wohnten, vde wir bald herausfanden, sehr schätzenswerte Menschen in der Busestraße: Zollrat Müller und Frau mit Töchtern Trude und Margret, mit denen wir uns befreundeten, Maurermeister Stieber, Klempnermeister Pein, MUchhändler und Bauer Lindemann, uns uns gegenüber Famihe Soller. Vater Soller war Postbeamter, machte das ganze Jahr hindurch fast nur Nachtdienst, schlief wenig und bewirtschaftete am Tage zusammen mit seiner Frau und seinen vielen Kindern eine gepachtete Landwirtschaft, das Urbild des fleißigen, tüchtigen Deutschen. Er hat es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Gleichzeitig mit uns zogen in die Nachbarhäuser in die Busestraße Familie Engelhardt, denen später Familie Fliege folgte, und FamUie Assmann ein. Mit ihnen hielten v«r einen gutnachbarlichen Kontakt. Vgl. dazu auch Weser-Kurier vom 1. Febr. 1983 („Soviel wie Elke und Christoph. Bundespräsident lud Abiturienten von 1933 und 1983 ein"). 44
Ich habe entscheidende Jahre meines Lebens in diesem Hause verlebt. Es wurde 1945 der erste gemeinsame Wohnsitz von meiner Frau und mir. Erst nach dem Tode meiner Mutter in den sechziger Jahren habe ich das Haus verkauft, als sich abzeichnete, daß ich nicht nach Bremen zurückkehren würde. Der Gar ten, den meine Mutter angelegt hatte und in dem sie viel arbeitete, ist im we sentlichen noch heute erhalten, vome ein Ziergarten, hinten ein Gemüsegarten Eine geschmackvolle Anlage. 1926 heiratete mein Onkel Fritz in zweiter Ehe Sophia, geborene Lucht eine prachtvolle, kluge Frau, der Inbegriff von Zuverlässigkeit, die ihm in den folgenden schweren Jahren - sein Haus wurde 1944 ausgebombt, er selbst erlit einen Schlaganfall - treu zur Seite gestanden hat. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Hartwig, der Veterinärarzt virurde und seinerseits zwei Söhne hat, und Marlene, die nach Leck in Schleswig heiratete, dort zusammen mit ihrem Mann ein Hotel betrieb, mit einem Sohn. Auch mit ihnen stehe ich bis heute in freundschaftlicher Verbindung. Bekannte und Freunde Gleich nach dem Ersten Weltkrieg schlossen sich die Witwen der im Kriege gefallenen Soldaten in Bremen zu der Kriegshinterbliebenen-Vereinigung zusammen. Ihr gehörte auch meine Mutter an. Ich lernte dort viele gleichaltrige Kriegerwaisen kennen, vor allem Otto Bachof, der später einer der bedeutendsten deutschen Staatsrechtslehrer und Professor für öffentliches Recht in Tübingen wurde. Wir waren gute Freunde. Ebenso lernte ich dort die Geschwister Magdalene und Hans Schopp kennen, mit denen die Verbindung bis nach dem Zweiten Weltkrieg fortbestand,. Ihre Mutter Gustel Schepp war eine der Vorsitzenden der Kriegshinterbliebenen-Vereinigung, eine bedeutende, mutige und sehr wortgewandte Frau. Auch Reinhard Hardegen, der später hochdekorierte U-Boot-Kommandant, und Lenchen Schepp, von mir Schwesterchen genannt, da sie an dem gleichen Tage wie ich geboren war, lernte ich als Kriegerwaisen kennen. Einmal im Jahr fand eine große Weihnachtsfeier statt, bei der gesungen und Theaterstücke aufgeführt sowie mancherlei Geschenke verteilt wurden. In den zwanziger Jahren hatte Gertrud Becker-Glauch, die Mutter meines Schulfreundes Woldemar, einen Tum- und Gymnastikkreis gegründet, zu dem ich angemeldet wurde. Unter ihrer Anleitung betrieben wir schwedische Gymnastik. Frau Becker-Glauch war eine hervorragende Pädagogin und brachte uns dazu, daß wir freiwillig und gem mitmachten. Ich lernte dort Erika Gabriel kennen, der ich später Privatstunden in Mathematik gab, deren Vater mir einen Aufenthalt in England verschaffte und mit der ich bis heute gut befreundet bin. Sie wurde Dolmetscherin, heiratete während des Krieges den Arzt Dr. Kleckow. Nachdem ihr Mann im Kriege gefallen war, gestaltete sie ihr Leben tapfer selbst und sorgte für ihren Sohn, der heute ein angesehener Lungenfacharzt ist. Sie hat mehrfach meine Publikationen kritisch durchgesehen, wofür ich ihr, und für vieles mehr, herzlich dankbar bin. 45
Gleichfalls in den zwanziger Jahren begegnete ich Heinrich Maas zum ersten Mal. Er war Schüler am Alten Gymnasium mehrere Klassen über mir. Etty Schäfer, die Schülerin meines Vaters, hatte ihn angesprochen und ihm nahegelegt, daß er sich doch mal um mich kümmern möchte. So erschienen auf dem Schulhof eines Tages zwei große Schüler, Heinrich Maas und Wilhelm Stadtländer, beide sechs Jahre älter als ich und fragten mich, ob ich Karl Carstens sei. Ich war, wie jeder Schüler in einer solchen Lage, zunächst etwas besorgt, was die wohl im Schilde führten. Aber das Gespräch verlief sehr freundschaftlich und war eines der folgenreichsten Gespräche meines Lebens. Heinrich Maas warb mich für den VDA, Verein für das Deutschtum im Ausland, dessen Klassenobmann ich wurde. Wir trafen uns, als er schon das Abitur gemachte hatte, weiter regelmäßig, liefen zusammen Schlittschuh und paddelten. Er war ein begeisterter Kanufahrer. So wurden wir enge Freunde. 1943 lud er mich zu seiner Hochzeit mit Annette Prior nach Bielefeld ein, wo ich die Schwester seiner Frau, Veronica Prior kennenlemte. Wir heirateten ein Jahr danach. Und das war das wichtigste von mir selbst beeinflußte Ereignis meines Lebens. Heinrich Maas vnirde nach dem Zweiten Weltkrieg leitender Beamter der Bremischen Verwaltung für Häfen, Schiffahrt und Verkehr. Er hat sich um Bremen allgemein anerkannte, außerordentlich große Verdienste erworben ebenso vde um die Deutsche Seemannsmission, deren ehrenamtUcher Präsident er viele Jahre bis zu seinem Tode war. 1929 MTirde ich zum Konfirmandenunterricht bei Pastor Gustav Fraedrich in Bremen-Hom angemeldet. 1930 wurde ich dort konfirmiert. Dieses Jahr hat für mein Leben eine sehr große Bedeutung erlangt. Fraedrichs Unterricht war mehr eine äußerst fesselnde, vdssenschaftliche Darstellung der christlichen und der anderen großen Weltreligionen (er brachte uns u. a. Mahatma Ghandhi und Rabindranath Tagore nahe) als eine Stärkung im Glauben. Er war, wie man in Bremen sagte, ein liberaler Pastor und wollte niemanden zum Glauben zwingen. Aber er war eine große, starke, müreißende Persönlichkeit. Er bildete um sich einen Kreis junger Menschen, las mit ihnen Stücke der Weltliteratur von Shakespeare bis zu den damals ganz modernen Kaiser, Werfel und Kolbenheyer. Einige dieser Stücke brachte er mit seinen Konfirmanden zusammen auf die Bühne des Homer Gemeindesaals, mit großem Erfolg. Ich lernte dort viele junge Menschen kennen, mit denen ich zum Teil bis heute in lebendiger Verbindung stehe: Klaus Berg, einen meiner besten Freunde; Eva Spitta, Tochter von Bürgermeister Spitta; Maria, Eva, Wolf gang, Werner Fraedrich, die Kinder des Pastors; Klaus Bücking. Einige von ihnen waren oder v«irden Kommunisten, so Maria Fraedrich, die sich später über mich wie folgt äußerte: „Karl Carstens hat den Siegfried von Hebbel gelesen wie ein junger Gott. Er hatte damals das, was ihm heute fehlt, eine strahlende Harmonie".") Die letzte Bemerkung bezog sich ohne Zweifel auf mein Wirken als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag von 1973 bis 1976. " ] Horst Adamietz, Die fünfziger Jahre 1978 S. 245.
46
Bremer Parlamentarier 1951-1959, Bremen
Von den Theaterstücken, die wir bei Pastor Fraedrich aufführten, sind mir in Erinnerung: Shakespeares „Julius Caesar" und „Macbeth", mit Gerda Höf er als Lady Macbeth. Mir läuft noch heute ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, wie sie nachts im Schloß umherirrte und mit heiserer Stimme „Blut, Blut, Blut" schrie. Weiter führten wir Hebbels „Nibelungen" auf mit mir als Siegfried, Eva Spitta als Kriemhild, Eva Fraedrich als Brunhild, Klaus Berg als Hagen Tronje. Es war ein großer Erfolg. Und vor allem Schillers „Wallenstein", in dem ich die Titelrolle spielte. Ich kann den großen Monolog „Wär's möglich, könnt' ich nicht mehr wie ich wollte" noch heute auswendig. In einem modernen Stück, dessen Titel ich vergessen habe, spielte ich einen idealistischen Jüngling. Ich mußte in dieser Rolle sagen: „Ich glaube an das Gute im Menschen". Offenbar wirkte das sehr überzeugend. Einige Zuschauer weinten. Wir lernten die Rollen nicht ganz auswendig — das wäre unmöglich gewesen — , sondern hatten kleine Reclamhefte in der Hand, aus denen wir bei Bedarf lasen. Aber große Partien konnten wir auswendig. Es waren durchaus ernst zu nehmende Aufführungen. LeseL·e¡s In Verbindung mit dem Fraedrichschen Konfirmandenkreis bildete sich 1930 unter der Initiative von Klaus Berg der Lesekreis, dem etwa 15 bis 20 junge Menschen, Mädchen und Jungen, angehörten, außer mir Klaus und Lotte Berg, Eva und Friedel Spitta, Woldemar Becker-Glauch, Heinke Dehning, HansJürgen Seekamp (zeitweilig), Hilde und Wolfgang Vogel, Eva und Werner Fraedrich, Ulrich Rauch, Otto Bachof, Irma Tiedemann, Herta und Ilse König. Wir trafen uns regelmäßig ein- bis zweimal im Monat, lasen Dramen, Novellen, Gedichte. Auch wurde häufig musiziert. Aber den Schwerpunkt bildete das gemeinsame Lesen. Daraus wird deutlich, wie intensiv meine Beschäftigung mit der Literatur war. Wir behandelten sie in der Schule, lasen Dramen im Primaund Sekundaverein, führten viele Stücke bei Pastor Fraedrich auf und lasen wiederum'regelmäßig im Lesekreis. Im weiteren Sinne gehörte der Lesekreis zur Jugendbewegung. Aber wir waren spontan entstanden und nirgendwo organisiert. Niemals wäre es uns in den Sinn gekommen, von der Stadt Bremen Geld für unsere Tätigkeit zu erbitten oder einen Sozialarbeiter zu unserer Betreuung anzufordern, so wie das heute im Rahmen der verschiedenen Jugendpläne geschieht. Ich meine nach wie vor, daß die Jugend sehr wohl in der Lage ist, sich selbst zusammenzufinden und sich mit anregenden, fesselnden Themen zu beschäftigen. Die beherrschende Figur des Kreises war Klaus Berg. Geistig, schauspielerisch, musikalisch außerordentlich begabt, voller Initiative, voller Enthusiasmus. Er riß uns mit. Später studierte er Theologie, vnirde im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront eingesetzt, geriet in Gefangenschaft. Im Lager in Rußland hat er mit hiunderten von Gefangenen Gottesdienste abgehalten. Er war und ist ein sehr starker, von tiefer Frömmigkeit geprägter Prediger. Nach dem Kriege wurde 47
er Pastor in Bremen. Er genießt bei den bremischen Pastoren hohes Ansehen und versucht, zwischen den stark auseinanderdriftenden Gemeinden der Stadt eine Verbindung aufrechtzuerhahen. Neben Klaus Berg strahlte Woldemar Becker-Glauch eine starke, uns alle inspirierende Kraft aus. Hoch musikalisch wie er war, gab er gelegentlich Klavierkonzerte. „Geradezu meisterfich spielte Woldemar die Mozart-Phantasie in c-moll", heißt es in einem Protokoll. An einem anderen Abend spielte er eine Stunde lang Haydn und dann moderne Musik (Zilcher, Janach, Tack, Reuter, Hindemith, Strawinsky und Teile aus der Drei-Groschen-Oper). Dazu suchte er, der angehende Regisseur, die Stücke aus, die wir lasen, und las selbst eine der Hauptrollen. Und schließlich war er für jeden Unsinn zu gebrauchen. Einen total betrunkenen Mann, wohl einen grundsoliden kaufmännischen Angestellten, der einmal über den Durst getrunken hatte, und den wir auf einer Wanderung trafen, überredete er, nach Berlin zu Max Reinhardt zu gehen und dort den Hamlet zu spielen. Dem Mann schien das einzuleuchten. Als wir zusammen auf dem Bremer Freimarkt in der russischen Schaukel saßen, brachte er die Gondel in so starke Schwingungen, daß mir übel wurde. Auch Eva Spitta spieUe im Lesekreis eine wichtige Rolle, hochbegabt und an allen geistigen Auseinandersetzungen lebhaft interessiert. Ich gab ihr Unterricht im Griechischen, das sie auf der Schule nicht gelernt hatte. Wir wurden gute Freunde, besonders auch, nachdem sie Klaus Bücking geheiratet hatte, einen der großen Idealisten, die mir in meinem Leben begegnet sind, der zunächst Kommunist war, als solcher seine juristische Ausbildung nach 1933 abbrechen mußte, im Zuchthaus zum Christentum fand und als Bewährungshelfer später vorbildliche soziale Arbeit geleistet hat. Eine Liste der wichtigsten Stücke, die wir im Lesekreis lasen, zeigt den hohen Anspruch, den wir an uns stellten. Shakespeare: „König Lear", „Hamlet", „Othello", „Coriolan", „Richard II". Racine: „Phaedra". MoHère: „Der eingebildete Kranke". Lessing: „Emilia Galotti". Goethe: „Glavigo", „Götz", „Faust". Hölderlin: „Tod des Empedokles". Tolstoi: „Macht der Finsternis". Kleist: „Amphitrion", „Penthesilea". Hebbel: „Gyges und sein Ring". Kaiser: „Die Bürger von Calais". Werfel: „Paulus und die Juden" und „Juarez und Maximilian". Hauptmann: „Fuhrmann Henschel", „Versunkene Glocke". Shaw: „Caesar und Kleopatra". Femer Strindberg, Ibsen, Otto Ludwig. Auch Prosa woirde gelesen (Novellen von Keller, Jakobsen, Selma Lagerlöf, Lyrik von Rilke, Werfel, Goethe). Die Protokolle führten Klaus Berg und ich. Den größten Eindruck machten auf uns „Paulus und die Juden", „Die Bürger von Calais" und der „Faust". Den „Faust" lasen wir im Hause Spitta. Ich schrieb damals das Protokoll: Wenn jemals
das Erlebnis
einer Dichtung durch den einheitlichen
das Zusammengehörigkeitsgefühl
aller Beteiligten
Geist und
vertieft wurde, so packte
der „Faust", gelesen, und schön gelesen und von allen miterlebt, in der Stunde des Abschieds einzugehen. chen (Lotte),
48
mit hinreißender
Die drei Gestalten
Gewalt. Es wäre sinnlos, auf
Faust (Klaus),
Mephisto
unterstützt von den gut sich einfügenden
Einzelheiten
(Woldemar), anderen
Gret-
Personen,
brachten den Grundgedanken und den Sinn des ganzen Werkes so schön zum Ausdruck, daß eine Kritik an einzelnen Stellen sich erübrigt. Dem Erfordernis, das bei einer so gewaltigen Schöpfung von den darstellenden Personen nur verlangt werden kann, daß sie nämlich Dolmetscher sind, und daß sie nur hindeuten auf die letzten Ideen, diesem Erfordernis vmrde voll Genüge getan. Wer den ehrlichen Willen zu hören hatte, und ein jeder brachte diesen Willen mit, der konnte den „Faust" in unserem kleinen Kreise ebenso großartig und vielleicht noch innerlicher, durchdringender erleben, als auf der vollendetsten Bühne. Die Berechtigung des unserer Gemeinschaft zugrundeliegenden Gedankens, auch die größten dramatischen Werke mit unseren beschränkten Kräften zur Darstellung zu bringen, wurde durch diesen Abend glänzend erwiesen." Ich habe seit jener Zeit den dringenden Wunsch behahen, daß die Stücke unserer großen Dichter so auf der Bühne dargesteUt werden möchten, wie die Dichter sie gesehen haben, ein Wunsch, der auf den westdeutschen Bühnen der Nachkriegszeit selten erfüUt wird. Hier versuchen die Regisseure ihre Botschaft zu übermitteln und das Publikum zu schockieren. Manche lassen ihrem Haß gegen unsere freiheitliche Ordnung, das System kapitalistischer Ausbeutung, wie sie es nennen, freien Lauf. Nur auf einer deutschen Bühne, auf dem Deutschen Theater in Ostberlin, habe ich 1979 eine klassische Theateraufführang gesehen, die nach meiner Meinung dem Werk voll gerecht wurde, Goethes „Tasso" in der Regie von Solte. Doch zurück zu dem letzten Lesekreisabend im März 1933. Ich hielt, nachdem der „Faust" gelesen war, eine Rede auf die Freundschaft. „Karl stellte", heißt es im Protokoll, „der Öde und Zerrissenheit der durch politische und weltanschauliche Parteien gebundenen Jugend die Sehnsucht nach dem unmittelbaren freundschaftlichen Verkehr zwischen Mensch und Mensch gegenüber. Diese Sehnsucht hat der Lesekreis, besonders durch seine alle Teilnehmer aufschließenden Wanderungen und durch die gemeinsamen Erlebnisse großer Dichtungen, „Die Bürger von Galais", „Paulus unter den Juden" und endlich „Faust" eifüllt. Wenn auch Erinnerungen an Einzelheiten allmählich verblassen werden, wenn auch die Gemeinschaft selbst sich über kurz oder lang auflösen wird, das beglückende Geßhl ist aus ihr hervorgegangen, daß es gelungen ist, eine Schar junger Menschen in Freundschaft über alles Trennende hinweg zu verbinden. " Der Abend endete mit einem Feuerwerk im Spittaschen Garten. Darüber heißt im Protokoll: „Das schöne Geßhl enger Zusammengehörigkeit genoß man bis in die tiefe Nacht beim Scheine des allmählich verglühenden Feuers. Ein Lied und Kanon nach dem andern stieg zu dem kalten klaren Nachthimmel herauf Feuer, Sprünge und Tänze erfreuten und erwärmten die Gemüter, bis schließlich um 1 Uhr das Feuer unter starkem Qualmen erlosch und die Lesegemeinschaft sich auflöste, wohl ein jeder mit dem Geßhl, daß dieser letzte Abend der Abschluß eines zweijährigen Bestehens des Lesekreises all das in so er49
freuUcher Weise noch einmal bewußt machte, was wir in den zwei Jahren Schönes erlebt und genossen haben, und was wir als ein bleibendes Gut hoffentlich auch in die Zukunft mitnehmen." Vorbilder der
Elterngeneration
Bei den Leseabenden im Hause Spitta lernte ich den damaligen Bürgermeister Theodor Spitta kennen. Er gehört für mich zu den verehrungswürdigsten Männern aus der Generation meines Vaters. Hoch gebildet in Geschichte und Literatur, Staats- und Rechtswissenschaft, in der Welt der Antike und in der deutschen Klassik gleichermaßen bewandert, von vornehmer Gesinnung, menschlich und als Politiker absolut integer, abgewogen in seinem Urteil, ein überragender Vertreter einer Politik der Vernunft auf fester moralischer Grundlage, zugleich ein glänzender Repräsentant des liberalen bremischen Bürgertums. Im Zweiten Weltkrieg verlor er drei seiner Söhne. Er ist der Schöpfer der beiden bremischen Verfassungen, die nach 1919 und nach 1945 entstanden. Mit ihnen hat er sich ein bleibendes Denkmal gesetzt. Ich verdanke ihm sehr viel. Er hat auf mich einen großen Einfluß ausgeübt und hat auch den entscheidenden Anstoß dazu gegeben, daß ich 1949 bremischer Bevollmächtigter beim Bund") vnirde und damit den ersten Schritt in die Richtung tat, die mich schließlich in hohe staatliche und politische Ämter geführt hat. Aus der Generation meiner Eltern übten auch noch andere Einfluß auf mich aus: Dr. Kurt Becker-Glauch, Gerichtsarzt in Bremen, der Bruder von Paula Becker-Modersohn, war umfassend gebildet, absolut ehrenhaft und begegnete mir, wenn ich ihn traf, mit großer Freundlichkeit. Sehr nahe standen meiner Mutter und mir unsere beiden Ärzte Dr. Kurt Bücking, ein Jugendfreund der Geschwister Clausen, der uns praktisch umsonst behandelte und ebenso wie seine Frau ein Beispiel für noble Gesinnung war, und Dr. Karl Stoevesandt, der Vater von Gottfried Stoevesandt, von rührender Fürsorge, behutsam und vorsichtig, ein sehr guter Arzt und ein nobler Mensch, v«e er mir in meinem Leben nicht oft begegnet ist. Er war ein gläubiger Christ, der sich nach 1933 der Bekennenden Kirche anschloß, mehrfach verhaftet wurde, aber in Glaubensfragen keinen Schritt zurückwich. Als meine Mutter einmal sehr krank war, fragte sie Stoevesandt, ob er und seine Frau mich wohl zu sich nehmen würden, wenn sie sterben sollte. Er sagte sofort zu und hätte mich sicher zusammen mit den sechs Kindern, die er hatte, liebevoll großgezogen. Ich bin noch heute von tiefer Verehrung für Dr. Stoevesandt und Frau Stoevesandt erfüllt. Auch Stoevesandts verloren drei Söhne im Krieg. Neben den Leseabenden besuchten Eva Spitta und ich mit einigen anderen Freunden regelmäßig die Vorlesungen, die der Direktor der Stadtbibliothek, Dr. Knittermeyer, über die Existenzphilosophie hieh. Von Kierkegaard bis Heidegger steUte er in faszinierenden Vorträgen die Hauptvertreter dieser philoso-
Siehe hierzu Kap. V S. 125.
50
phischen Schule vor. Seine Vorlesungen haben mir einen großen Eindruck gemacht und meine Kenntnis von der Philosophie bereichert. Im Gefängnis Ein mich tief schockierendes Erlebnis hatte ich im Jahre 1931. Gottfried Stoevesandt, Woldemar Becker-Glauch und ich machten eine Radtour nach Aspelhom bei Bispingen in der Lüneburger Heide, wo Familie Stoevesandt sich für die Herbstferien einquartiert hatte. Wir verbrachten dort einen schönen Tag inmitten der blühenden Heide. Während die anderen noch bUeben, fuhr ich am nächsten Mittag allein mit dem Rad zurück nach Soltau, von wo ich per Bahn nach Bremen fahren wollte. Unterwegs stürzte ich in einer ganz einsamen Gegend mit dem Rad, zog mir blutige Verletzungen am Knie und an der Hand zu, nahm mein Rad, das kaputtgegangen war, auf den Rücken und lief in Richtung Soltau, fragte unterwegs mehrmals, wo der Bahnhof sei. Und als ich dort eintraf, sah ich gerade noch das SchlußUcht des Zuges. Erschöpft sank ich auf einer Bank nieder. Wenige Augenblicke danach erschienen zwei Polizisten mit zwei jungen Mädchen, die ich unterwegs nach dem Bahnhof gefragt hatte. Die Polizisten zu den Mädchen: „Ist er das?" „Ja", sagten die Mädchen, und schon war ich festgenommen und landete nach langen, für mich zunächst unverständhchen Verhören, im Polizeigefängnis der Stadt Soltau. Was war geschehen? Auf dem einsamen Heideweg, auf dem ich gekommen war, war etwa um die gleiche Zeit ein älterer Mann überfallen, niedergeschlagen und beraubt worden. Und ich sollte der Täter sein. Einige Indizien belasteten mich: Das Blut an Händen und Beinen, meine auffälUge Eile, mit der ich zum Bahnhof gelaufen war. Dem Überfallenen waren 10 Mark geraubt worden, ich hatte 10 Mark bei mir. Und das Allerschlimmste: Als ich dem Mann gegenübergestellt wurde, sagte er: „Na, alter Freund, sehen wir uns hier wieder." Er war allerdings stark betrunken und von den schweren Schlägen auf seinen Kopf wohl auch etwas benommen. So fand ich mich also im Gefängnis. Meine dringende Bitte, meine Mutter zu benachrichtigen (ich war 16 Jahre alt), vrarde abgelehnt. Am nächsten Morgen begannen umständliche Vernehmungen. Allerdings war der Überfallene, inzwischen nüchtern geworden, nicht mehr so sicher, ob ich der Täter war. Ein Gastwirt, bei dem Täter und Opfer vor der Tat gemeinsam gezecht hatten, wurde geholt. Nein, sagte er, ich sei es nicht. Der betreffende Mann sei etwa 30 Jahre alt gewesen und hätte einen schwarzen Schnurrbart gehabt. So wurde ich gegen Mittag schließlich entlassen. Meine arme Mutter hatte inzwischen, als ich nicht nach Hause kam, in Aspelhorn angerufen, wo ihr bestätigt vrarde, daß ich am Tage vorher mit dem Rad abgefahren war. In höchster Sorge machte sie sich in einem gemieteten Wagen in Richtung Soltau auf den Weg. Gleichzeitig fuhren Stoevesandt und Woldemar Becker-Glauch die Strecke ab, die ich hatte fahren wollen. Bei jedem Erdhügel, so sagte Woldemar später, hätten sie sich die bange Frage gestellt, ob ich vielleicht darunter läge. Als mei51
ne Mutter in Soltau eintraf, war ich bereits frei, und sie konnte mich erleichtert in die Arme nehmen. Aber es war doch ein tiefer Schock für alle Beteiligten. Das Erlebnis hat mich in dem Entschluß bestärkt, Jurist zu werden, um in solchen Lagen besser gewappnet zu sein. Außerdem hat es mir eine lebenslange Skepsis gegen Indizienbeweise eingeflößt. Die Sache hatte noch ein eher komisches Nachspiel. Eines Tages erschien die Mutter eines Schülers des Alten Gymnasiums bei Direktor Schaal und erklärte, sie wollte ihren Sohn von der Schule nehmen. Auf die erstaunte Frage, warum, antwortete sie: „Wenn ein Primaner einen Raubmord begeht, fällt das auf die ganze Schule zurück". Schaal, der den Sachverhalt kannte, konnte sie beruhigen. Aber man sieht, hysterische Reaktionen gab es auch damals schon. England Einige Monate nach dem Erlebnis von Soltau war ich in England. Ein Geschäftsfreund von Vater Gabriel, Mr. Malcolm, suchte jemanden, der seinem Sohn Collin Deutsch beibringen konnte. Gabriel, in dem Gefühl der Fürsorge für den Sohn eines gefallenen Soldaten, fragte mich, ob ich Lust dazu hätte, nach England zu gehen. Es ist dies einer der vielen Beweise der fortdauernden Kameradschaft, die die Soldaten des Ersten Weltkrieges und ihre Hinterbliebenen miteinander verband und die ich oft erfahren habe. Ich sagte sofort zu und verbrachte drei herrliche Wochen auf dem Malcolmschen Landsitz bei Oxsted in Kent. Collin lernte auch etwas Deutsch, aber vor allem lernte ich Englisch und besonders eine gute englische Aussprache. Am Schluß gab mir Vater Malcolm, ein nobler, sehr wohlhabender Schotte, eine 5-Pfundnote mit den Worten: „Keep this and it will increase in value". Diese Prophezeiung hat sich allerdings nicht erfüUt. Die äUeste Tochter von Malcolm war damals bei der Heilsarmee. Sie ging an jedem Wochenende in die finstersten Kneipen Londons, um die Arbeiter, die dort ihren Lohn vertranken, herauszuholen und zu ihren Familien zu bringen, eine christlich und menschlich hoch anzuerkennende Haltung. Seitdem habe ich größten Respekt vor der Heilsarmee. Während meines Englandaufenthaltes ging ich einige Male ins Theater. Unvergeßlich ist mir eine Aufführung von Noel Coward's „Cavalcade". Es ist ein Gesellschaftsstück mit ernstem Gehalt. Eingebettet in die Geschichte einer englischen Familie erlebt der Zuschauer den Burenkrieg, den Untergang der „Titanic" und den Ersten Weltkrieg. Jane und Robert Marryot sind die Hauptpersonen. Sie selbst, ihre Söhne und Töchter werden durch die tragischen Ereignisse dieser beiden Jahrzehnte in Mitleidenschaft gezogen. Das Stück endet in der Silvesternacht 1929/30. Jane und Robert, inzwischen beide weißhaarig, sind allein. Jane spricht den Toast: „First of all, my dear, 1 drink to you. Loyal and loving always. Now, then, let's couple the future of England with the past of England. The glories and victories and triumphs that are over, and the sorrows that are over, too. Let's drink to our sons who made part of the pattern and to our hearts that died with them. Let's drink to the spirit of gallantry and courage that made a 52
strange Heaven out of unbelievable Hell, and let's drink to the hope that one day this country of ours, which we love so much, will find dignity and greatness and peace again. " Während der Vorhang fiel, intonierte das Orchester die Nationalhymne. Das Publikum erhob sich und sang „God save the King". Es war ein ergreifendes Bild: pathetisch, aber doch beherrscht. England war trotz allem das geliebte Land, dem die Hoffnung seines Volkes galt.
53
III. Student, Referendar, Soldat 1933-1945 1. Studium Vom Wintersemester 1933/34 abgesehen habe ich eine glückliche und verhältnismäßig unbeschwerte Studienzeit gehabt. Ich studierte sieben Semester, von 1933 bis 1936, an fünf verschiedenen Universitäten. Das erscheint heute ungewöhnlich. Damals war es das nicht so sehr. Zu dem häufigen Wechsel veranlaßten mich folgende Gründe: In Bremen gab es keine Universität. Ich mußte also in jedem Fall auswärts wohnen. Die Bahnfahrten, auch in die entfernten Studienorte, waren für Studierende sehr billig. So nahm ich die Chance wahr, die verschiedenen Teile Deutschlands (Frankfurt am Main, München, Königsberg, Hamburg) und dazu eine französische Universität (Dijon) kennenzulernen. Es kam aber noch ein weiterer Grund hinzu. Wenn man sich längere Zeit an einer Universität aufhielt, lief man Gefahr, von der nationalsozialistischen Studentenführung oder anderen nationalsozialistischen Organisationen zu allen möglichen Dienstleistungen herangezogen zu werden, so wie es mir in Frankfurt erging. Wechselte man jedes Semester die Universität, konnte man derartigen Versuchen leichter entgehen. Frankfurt am Main Im Sommersemester 1933 immatrikulierte ich mich an der Universität Frankfurt am Main. Für die Wahl Frankfurts war der Umstand ausschlaggebend, daß ich dort bei Freunden, der Familie Reuber, wohnen konnte und so die Miete für eine Studentenbude sparte. Im Reuberschen Haus am Mühlberg, i i Sachsenhausen gelegen, herrschte eine freundliche Atmosphäre. Frau Helene Reuber, geborene Müller-Erzbach, stammte aus Bremen. Sie war eine der besten Jugendfreundinnen meiner Mutter. Ihr Mann, Professor Reuber, war Gymnasiallehrer, ein echter Frankfurter. Er sprach den Frankfurter Dialekt perfekt und ergötzte uns, indem er die berühmten Geschichten und Gedichte des Frankfurter Heimatdichters Friedrich Stoltze vorlas. Zwei Kinder waren etwa in meinem Alter. Rudolf, etwas älter als ich, studierte Chemie. Mit ihm teilte ich das Zimmer. Wir sind bis heute befreundet, und Ilse, etwas jünger als ich, ein liebreizendes junges Mädchen. Die Universität Frankfurt befand sich in einer schwierigen Lage. Bis 1933 hatten dort viele jüdische Professoren gelehrt, die nun plötzlich entlassen worden waren und schwer ausfüllbare Lücken im Lehrplan hinterließen. Die neuen 55
Machthaber hatten es sich zum Ziel gesetzt, aus der Frankfurter Universität eine nationalsozialistische Musteruniversität zu machen. Zu dem Zwecke wurde ein prominenter Nationalsozialist, Prof. Emst Krieck, zum Rektor berufen. Im juristischen Vorlesungsbetrieb merkte man davon allerdings wenig. Meine damaligen Lehrer, Franz Beyerle (Deutsche Rechtsgeschichte), Fritz von Hippel (BürgerUches Recht), Hans-Wilhelm Thieme und Franz Wieacker, waren sicher keine Nationalsozialisten. Sie machten auch bei der Darbietung des Lehrstoffes keine Konzessionen an die neue Zeit. Von Emst Forsthoff sagte man, daß er dem Nationalsozialismus nahestände, doch war in seiner formal glänzenden Vorlesung über deutsche Verfassungsgeschichte davon wenig zu merken. Er setzte sich besonders mit dem Souveränitätsbegriff, wie er im 16. Jahrhundert von dem Franzosen Jean Bodin entvwckelt worden war, auseinander. Außerhalb der juristischen Fakultät belegte ich eine Vorlesung über den deutschen Ordensstaat, in der ich starke Eindrücke empfing, und die mir ein Jahr später, als ich in Königsberg studierte, wieder lebendig wurden. Außerdem nahm ich an französischen Sprachkursen teil, um meine französischen Sprachkenntnisse, die ich als unbefriedigend empfand, aufzubessern. Mit vielen Studenten kam ich natürlich in mehr oder minder enge Verbindung. Mit wenigen hielt der Kontakt auch später noch an. So mit Walter Schmidt, der nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Funktionen in RheinlandPfalz, zuletzt als Regierangspräsident in Koblenz, bekleidete. Eine lebenslange Freundschaft entstand zu Otto Müller, einem hochbegabten, sensiblen, nachdenklichen, ein wenig zur Melancholie neigenden Menschen. Er ist einer meiner besten Freunde geworden. Wir besuchten uns auch in den folgenden Jahren regelmäßig. Nachdem er das Studium beendet hatte, leistete er seinen Wehrdienst bei der Marineartillerie in Cuxhaven ab. Er verehrte meine Mutter, besuchte sie gelegentlich in Bremen und schüttete ihr seine Sorgen über die politische Entwicklung aus, an deren Ende auch er den Krieg kommen sah. Er heiratete kurz vor Kriegsende die Freiin Stockhom von Starein. Auch diese Ehe hatte, wie so viele Ehen, die in schlimmer Zeit geschlossen wurden, Bestand. Nach dem Kriege schlug Otto Müller die Laufbahn eines Richters ein. Er war am Schluß, bis zu seiner Pensionierang, Richter am Bundespatentgericht in München. Mir ist selten ein Mensch von so unbestechlichem Gerechtigkeitssinn wie er begegnet. In den Pfingstferien 1933 traf ich mich mit meinen Schulfreunden Woldemar Becker-Glauch und Rudi Blaum in Bingen. Wir machten gemeinsam eine Radtour von Bingen das Nahetal aufwärts über Bad Kreuznach, Idar-Oberstein nach Birkenfeld, dann über den Hunsrück nach Trier, der ältesten Stadt Deutschlands, einst eine der Hauptstädte des Römischen Reiches. Dort blieben wir mehrere Tage und besichtigten die Sehenswürdigkeiten der Stadt aus der römischen Zeit und aus dem Mittelalter. Das mächtige Stadttor, die Porta Nigra, die gewahige römische Basilika und die großartigen Thermen sind mir ebenso in lebhafter Erinnerang geblieben wie der romanische Dom und die mit ihm ver56
bundene Frauenkirche, eine der ältesten gotischen Kirchen in Deutschland. Zurück ging es durch das Moseltal abwärts bis Koblenz, wo wir uns trennten. Es war ein unvergeßliches, gemeinsames Pfingsterlebnis: in herrlicher Landschaft genossen wir die Zeugnisse großer deutscher Vergangenheit und erneuerten unsere Freundschaft. Gegen Ende des Sommersemesters hatte ich in Frankfurt eines der schönsten Theatererlebnisse meines Lebens. Auf dem Römerberg, dem Marktplatz der Stadt, fand eine Freilichtaufführung von Goethes Götz von Berlichingen statt. Heinrich George spielte die Hauptrolle. Eine gewaltige schauspielerische Leistung! Mit seiner rauhen, tiefen Stimme erfüllte er mühelos den großen Platz, auf dem tausende von Zuschauem saßen und standen. Bei den Worten des sterbenden Götz: „Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihnen Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen", kamen vielen die Tränen. Während das Sommersemester 1933 für mich also recht angenehm verlief, trat im Wintersemester 1933/34 eine wesentliche Verschlechterung ein. Die Studenten der ersten beiden Semester wurden aufgefordert, in sogenannten Kameradschaftshäusem zu wohnen, damit sie dort besser erfaßt werden konnten, entweder in Häusern, die die studentischen Korporationen für ihre MitgUeder einrichteten, oder in dem allgemeinen Kameradschaftshaus der Studentenschaft. Ich konnte mich nicht entschließen, einer Korporation beizutreten, teils weil mir ihr StU nicht sonderlich lag, teils weil ich die damit zwangsweise verbundenen höheren finanziellen Aufwendungen scheute. So bUeb mir also keine andere Wahl, als mein Domizil in der freundlichen Reuberschen Wohnung in Sachsenhausen mit dem Kameradschaftshaus der Studentenschaft zu vertauschen. Wir schliefen zu etwa sechs Studenten in einem Zimmer. Einer der für die Verwaltung des Hauses Verantwortlichen, eine verkrachte Existenz, wurde später beschuldigt, Veφflegungsgeld, das für die Studenten bestimmt war, unterschlagen zu haben. Außerdem hieß es, er sei homosexuell. Die sportliche Ausbildung der Studenten übernahmen Frankfurter SA-Führer. Sie leiteten den Frühsport und organisierten regelmäßige Ausmärsche an Wochenenden. Meist ging es nach Oberursel (10 km) und zurück. In Oberursel machten wir dann noch eine Geländeübung. Die Lieder, die wir dabei singen mußten, waren unbeschreiblich primitiv und abstoßend, antisemitisch und antimonarchisch. („Hoch die Hohenzollem am Latemenpfahl", „Wetzt die langen Messer"). Wenn wir nicht laut genug sangen, hieß es: „Im Laufschritt marsch marsch", bis uns die Puste ausging. Ich empfand das alles als hochgradig ekelhaft. Am Schluß des Wintersemesters legte ich in einigen von mir belegten Fächern sogenannte Fleißprüfungen ab. Die Zeugnisse benötigte ich für die beiden Stellen, von denen ich eine finanzielle Studienunterstützung erhielt, der bremischen Schulbehörde und der privaten Franz-Schütte-Stiftung, die von dem großen Bremer Bürger, neben seinen vielen anderen Wohltaten, speziell für die Förderung von Kriegswaisen errichtet worden war. Ich bin dieser Stiftung zu tiefem Dank verpflichtet und natürlich war ich auch der Schulbehörde für das mir 57
gewährte staatliche Stipendium dankbar, bis es mir unter sehr unerfreulichen Umständen entzogen wurde*)· Dijon Nach Schluß des Wintersemesters 1933/34 beschloß ich, auf keinen Fall in Frankfurt weiterzustudieren, sondern versuchte, an einer französischen Universität anzukommen. Nach längerer Überlegung fiel meine Wahl auf Dijon. Paris erschien mir zu groß. In Grenoble, das damals eine sehr beliebte Universität war, vermutete ich, viele Ausländer zu treffen, während ich gerade den Kontakt mit Franzosen suchte. Dijon erwies sich als eine sehr glückliche Wahl. Die aUe Hauptstadt von Burgund mit ihrer stolzen Geschichte, besaß noch viele Zeugnisse ihrer großen Vergangenheit. Tiefen Eindruck haben mir die Gräber der burgundischen Herzöge und die Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert gemacht. Ich wohnte in der rue Gambetta, im Hause eines kinderlosen Ehepaares, M. und Mme. Sigaud, die mich rührend verwöhnten. An Vorlesungen belegte ich römisches Recht bei Professor Paoli, einem Korsen, der dem neuen Deutschland sehr kritisch gegenüberstand, mich das aber niemals persönlich fühlen ließ, femer Völkerrecht und Verwaltungsrecht. Ich hatte damals noch die Vorstellung, daß ich vielleicht einmal in den deutschen auswärtigen Dienst eintreten woirde und wählte meine Vorlesungen unter diesem Gesichtspunkt aus. Außerdem belegte ich einen französischen Sprachkurs, der mit einem Examen und der Überreichung eines Diplom abschloß. Ich lernte gut französisch sprechen. So gut wie damals habe ich leider später nie mehr gesprochen. Auch in Dijon gewann ich einige gute Freunde. Unter den Franzosen vor allem René Gaston Henry, einen gewissenhaften, klugen und strebsamen Studenten, von dem ich viel lernte. Im Kriege vrarde er Soldat und kam in deutsche Kriegsgefangenschaft. Aber nach dem Kriege nahm er den Briefwechsel mit mir wieder auf. Er schlug die Verwaltungslaufbahn ein. Als er Unterpräfekt im Departement Basses-Alpes war, besuchten meine Frau und ich ihn und seine liebensvirürdige Gattin auf der Fahrt an die Côte d'Azur und erfreuten uns seiner vorbildlichen französischen Gastfreundschaft. Leider ist René früh gestorben. Aber mit seiner Witwe und seinen Töchtern stehe ich noch in Verbindung. Unter den vielen ausländischen Studenten in Dijon freundete ich mich besonders mit zwei Norwegern, Olaf Bjercke und Jacob Hvinden Haug, an. Die Entstehungsgeschichte dieser Freundschaft ist charakteristisch. Ich hatte mir ausgedacht, daß ich über Pfingsten eine mehrtägige Radtour durch Burgund machen wollte, fand aber unter den Franzosen niemanden, der sich beteiligen wollte. So fragte ich die beiden Norweger, die sofort einverstanden waren. Es wurde eine zauberhafte Fahrt. In der Mittagshitze rasteten wir jeweils im Freien, meist unter einem Baum. Unsere Mahlzeit bestand aus ölsardinen, köstlichem
Siehe dazu S. 90. 58
französischem Weißbrot und (viel zu schwerem) Landwein aus Burgund, den wir unverdünnt tranken. Wir fielen danach in einen langen, traumlosen Schlaf und konnten unsere Tour erst am späten Nachmittag fortsetzen. Mit Olaf und Jacob bin ich lange befreundet geblieben. Jacob, der nach dem deutschen Einmarsch in Norwegen nach England gegangen war, fiel bei einem britischen Luftangriff über Deutschland. Er war ein stiller, besonders liebenswerter Mensch. Olaf war bis zu seinem Tode einer meiner besten Freunde. Freilich dauerte es nach 1945 einige Jahre, bis er seine Abneigung gegenüber Deutschland überwinden konnte. Nicht nur unser gemeinsamer Freund Jacob, sondern auch sein Bruder waren bei einem britischen Luftangriff über Deutschland gefallen. Olaf war Anwalt in Oslo, beherrschte die deutsche, englische und französische Sprache und verfügte über große internationale Erfahrungen. Ich habe ihn und seine liebensvnirdige Frau noch in den achtziger Jahren besucht. Doch zurück nach Dijon. Das Leben dort war unwahrscheinlich billig. Ich verbrauchte monatlich etwa 80 Reichsmark für Wohnung, Essen und Trinken und sonstige kleinere Ausgaben. Mittags aß ich in einem privaten Haus, in dem ein gutes und preiswertes Essen für Studenten serviert wurde. Die Stars unserer Gruppe waren zwei feurige Ferser mit einer riesigen schwarzen Lockenmähne, die von den Mädchen angehimmeU vioirden, uns Männern aber weniger sympathisch waren. Um mein Französisch aufzubessern, nahm ich Stunden bei einer französischen Studentin, die ich sehr anziehend fand und die mich auch ganz gerne leiden mochte, bis unsere Verbindung ein tragikomisches Ende fand. Zur Feier ihres Geburtstages hatte sie mich und andere Freunde eingeladen. Sie wohnte im obersten Stock eines Hauses. Es war Juli und glühend heiß. Mir drückte sie eine Flasche mit rotem Champagner in die Hand, ich sollte sie öffnen. Es war für mich der erste Versuch dieser Art und ich scheiterte kläglich. Ich hielt nämlich den Hals der Flasche senkrecht nach oben. Als der Korken sich löste, entstieg der Flasche, in der unbeschreiblichen Hitze des Raumes, eine sprudelnde rote Fontäne und setzte sich anschließend auf das weiße Kleid meiner Gastgeberin. Sie war tief gekränkt und hat mir das nicht verziehen. Immerhin kann ich seitdem Champagnerflaschen öffnen. Einmal im Jahr lud das „Hospice de Beaune", eine prachtvolle mittelalterliche Anlage und eine der berühmtesten Weinkellereien Frankreichs, die ausländischen Studenten der Universität Dijon zu einer Weinprobe ein. Solange wir unten im Keller saßen, ging alles gut. Die Weine waren über alle Begriffe köstlich. Aber als wir aus dem Keller heraus vneder ans Tageslicht kamen, verließ mich leider das Bewußtsein. Es ist bis heute der stärkste Rausch meines Lebens gewesen. Ich fand mich erst am nächsten Morgen in meiner Bude, in der rue Gambetta wieder. Wie ich dahin gekommen bin, weiß ich nicht. Aber Mme. Sigaud nahm sich meiner rührend an und brachte mich wieder auf die Beine. Zu den großen kulinarischen Genüssen, die ich mir trotz meines knappen Wechsels leistete, gehörte ein einmaliger Besuch des Restaurants „Aux trois faisans", wo ich mit Olaf und Jacob zu Abend aß. Es galt als das beste Restaurant in Dijon und war, so folgerten wir, da Dijon die beste Küche Frankreichs und 59
Frankreich die beste Küche der Weh hatte, das beste Restaurant der Weh. Jedenfalls speisten wir hervorragend. Es war also, wie man sieht, ein fröhliches Semester, das ich in Dijon verbrachte. Ich nahm übrigens auch Fechtstunden, was sich auf meine körperliche Konstitution günstig auswirkte. Nach Ende des Semesters unternahm ich mit einem anderen deutschen Studenten, Hubert Becker, eine Reise nach Italien für spottbilliges Geld. Die Eisenbahnpreise waren für Studenten drastisch reduziert. Wir wohnten meistens in Klöstern, wo die Übernachtung Pfennige kostete. So sah ich als 19jähriger zum ersten Mal Rom, Neapel, Capri, Florenz und Venedig. In Rom beeindruckten uns die großartigen Bauten aus dem Altertum, dem Mittelalter und der Renaissance, das Forum Romanum, das Kolosseum, die Triumphbögen, das Kapitol, die Engelsburg, die Peterskirche und der Petersplatz. Auch besuchten wir die frühe christliche Kirche Santa Maria fuori le muri. Am Petersplatz hatten wir ein lustiges Erlebnis. Wir wechselten Geld in einer Wechselstube, hatten aber das Gefühl, daß ein Silberstück, das uns der Händler in die Hand gedrückt hatte, nicht echt war. Wir fragten einen Polizisten, und der bestätigte unseren Verdacht. Wir also zurück in die Wechselstube. Aber der Händler weigerte sich empört, das Geldstück zurückzunehmen. Er warf es auf die Marmoφlatte, damit wir uns überzeugen sollten, daß der Klang echt war. Auch biß er hinein, zeigte uns die Kerben, woraus wir wohl auch auf die Echtheit der Münze schließen sollten. Wir versuchten ihm klarzumachen, daß, wenn das Geldstück echt sei, er es uns doch ohne jedes Risiko umwechseln könnte, und wir setzten uns schließhch durch. Unvergeßlich sind mir Neapel und Pompeji. Wir besuchten die Ausgrabungen und erlebten den Sonnenuntergang vom Vomero, dem Hügel auf der anderen Seite der Stadt. Ein Tenor, mit einer wundervollen Stimme, sang „O mia bella NapoU" und andere sentimentale Weisen. Ich konnte meinen Reisegefährten, der davon hingerissen war, nur mit Mühe davon abhalten, dem Sänger ein für unsere Verhältnisse gänzlich unangemessen hohes Trinkgeld zu geben. Auch an Florenz und Venedig bewahre ich unvergeßliche Eindrücke. Zurückgekehrt nach Frankreich, traf ich in Paris mit meiner Mutter zusammen. Wir besuchten den Louvre und Notre Dame, spazierten über die Avenue des Champs Elysées und die großen Boulevards. Im Louvre kaufte ich mir einen Gipsabguß der berühmten Büste Homers, die mich seitdem auf allen Stationen meines Lebens bis heute begleitet hat. Während unseres Aufenthalts in Paris erzählte meine Mutter von einer schrecklichen Gefahr, der sie gerade entronnen war. Sie hatte eine Auseinandersetzung mit ihrem Mieter der oberen Etage unseres Hauses wegen der Heizungskosten gehabt. Dieser hatte sie daraufhin bei der Gestapo denunziert und behauptet, sie hätte gesagt, Hitler wolle den Krieg und sei ein Verbrecher. Es kam zu einer Haussuchung, bei der unter anderem die schon erwähnten Schriften^), die
Vgl. Kap. II S. 43.
60
wir in Verwahrung genommen hatten imd außerdem meine Briefe beschlagnahmt wurden. Meine Mutter befand sich in einer äußerst gefährlichen Lage, aber sie verteidigte sich geschickt. Der vernehmende Beamte möge bedenken, so sagte sie, daß sie Kriegerwitwe sei. Sie hätte ihren Mann im Weltkrieg verloren. Das sei das größte Opfer, was eine Frau bringen könne. Sie hätte große Angst, daß es v«eder zu einem Kriege kommen könne und dann womöglich ihr einziger Sohn fallen würde. Das müsse man verstehen. Sie habe nicht Hitler einen Verbrecher genannt, sondern nur ganz allgemein gesagt, daß Kriege ein Verbrechen seien. Der letzte Krieg sei das bestimmt gewesen. Nach den gefimdenen Schriften befragt, sagte sie, sie hätte die Pakete nicht geöffnet und hätte nicht gewußt, was darinnen war. Sie seien von Fremden ihres Sohnes, die sie nicht näher kenne, zur vorübergehenden Aufbewahrung in unserem Hause abgegeben worden. Auch ihr Sohn hätte mit Sicherheit nicht gevmßt, um was für Schriften es sich dabei handelte. Der Beamte sei dann auch auf meine Briefe eingegangen und habe sich sehr kritisch zu ihrem Inhalt geäußert. Schließlich sei sie mit einer ernsten Verwarnung entlassen worden. Beim nächsten Mal würde man sie dabehalten. Ich dankte Gott, daß die Sache diesmal so glimpflich abgegangen war und bat meine Mutter dringend, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Jahre später schrieb Ida Schröder, eine Jugendfreundin meiner Mutter, in meinem Entnazifizierungsverfahren') dazu folgendes: „Als Herr Dr. Carstens studierte und gerade auf der Universität war, wurde in der Wohnung seiner Mutter in Bremen, Busestraße 67, aufgrund einer Denunziation, eine Haussuchung durch die Gestapo gemacht. Es wurden mehrere Bücher und verschiedene Briefe von Dr. Carstens an seine Mutter beschlagnahmt. Anschließend wurde die Mutter von Dr. Carstens einem längeren Verhör durch die Gestapo unterzogen. Sie kam gleich nach der Vernehmung in großer Aufregung zu mir und erzählte mir, was vorgefallen war. Sie sagte, der vernehmende Beamte hätte die Briefe ihres Sohnes als staatsfeindliche Äußerungen bezeichnet. Sie hätte dann immer wieder daraufhingewiesen, daß sie Kriegerwitwe und außerdem gesundheitlich schwer leidend sei. Daraufhätte sie schließlich eine Erklärung unterschreiben müssen und sei dann entlassen worden. Wir waren damals in großer Sorge um Dr. Carstens und seine Mutter. Da wir wohl wußten, daß beide entschiedene Gegner des Nationalsozialismus waren und daß sie sogenannte staatsfeindliche Briefe im Hause hatten. Glücklicherweise hatte die Gestapo nur einen Teil dieser Schriften gefunden. Die anderen hatte ich vorher in Verwahrung genommen. Wären auch diese Schriften bei der Haussuchung gefunden, so wäre, nach meiner festen Überzeugung, wohl Dr. Carstens und seine Mutter verhaftet worden. " Während meines Studiums in Frankreich fand in Deutschland am 30. Juni 1934 der sogenannte Röhm-Putsch statt. Doch kann ich mich nicht erinnern, die Nachricht darüber gelesen zu haben. Vielleicht fiel sie mit dem Beginn unserer Reise nach ItaUen zusammen. Erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland er-
Vgl. dazu auch S. 91 f. 61
fuhr ich nach und nach, was geschehen war: daß nämlich nicht nur Röhm und einige weitere SA-Führer, die mit ihm zusammenarbeiteten, sondern auch andere, dem Regime mißhebige Pohtiker kurzerhand erschossen worden waren. So der ehemaUge Reichskanzler Schleicher, dessen Ehefrau, zwei Mitarbeiter Papens und andere. Meinen Freunden und mir erschien dies als ein brutaler Willkürakt und zum ersten Mal nach 1933 wurde uns deutlich, wessen die neuen Machthaber im Reich fähig waren. Unauslöschlich hat sich mir in diesem Zusammenhang ein Aufsatz des Staatsrechtlehrers Carl Schmitt eingeprägt, der bald nach dem 30. Juni 1934 unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht" in der Deutschen Juristenzeitung erschien^) und in dem Schmitt die Morde rechtfertigte. Schmitt gah bis 1933 als einer der führenden Staatsrechtler der Weimarer Republik, wenn er auch der Weimarer Reichsverfassung kritisch gegenüberstand. Auch nach 1945 hat er bedeutende Werke veröffentlicht. Die Prägnanz und zugleich Eleganz seiner Sprache, seine Fähigkeit zur Begriffsbildung macht den Reiz seiner Schriften aus. Und sicher hat er bedeutende Beiträge zur Fortentwicklung des Rechts, insbesondere auch nach 1945, geleistet. Seine Bestimmung des Politischen als „Freund-Feind-Verhältnis", die mir immer zu eng erschien, hat Generationen von Staatsrechtslehrem beeinflußt, ebenso seine Lehre von der Souveränität®). Und doch liegt aus meiner Sicht auf der Erinnerung an Carl Schmitt ein dunkler Schatten, eben jener Aufsatz aus dem Jahre 1934. Wenn ich den Aufsatz heute wiederlese, so fällt mir das gleiche auf, was meine Freunde und mich schon damals, 1934, erschreckt hat. Es ist einmal die Art, wie Schmitt sich mit der November-Revolution von 1918 auseinandersetzt: „In beispielloser Tapferkeit und unter furchtbaren Opfern hat das deutsche Volk vier Jahre lang einer ganzen Welt standgehalten, aber seine politische Führung hat im Kampf gegen die Volksvergiftung und die Untergrabung des deutschen Rechts und Ehrgefühls auf traurige Weise versagt." Und dann weiter: „Alle sittliche Empörung über die Schande eines solchen Zusammenbruchs hat sich in Adolf Hitler angesammelt und ist in ihm zur treibenden Kraft einer politischen Tat geworden. Alle Erfahrungen und Warnungen der Geschichte des deutschen Unglücks sind in ihm lebendig [...] Der Führer [...] macht ernst mit den Lehren der deutschen Geschichte, das gibt ihm das Recht und die Kraft, einen neuen Staat und eine neue Ordnung zu begründen." Und der zweite Grund unseres Erschreckens über den Aufsatz von Carl Schmitt ist die Art und Weise, wie Schmitt sich zu einem rückhaltlosen, sich zu immer euphorischeren Formulierungen steigernden Befürworter des Führerprinzips entwickelt. So heißt es: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr, kraft seines Führertums, als oberster Gerichtsherr, unmittelbar Recht schafft [...] Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides vonSiehe Deutsche Juristenzeitung 1934 Sp. 745 ff. Siehe dazu Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio oppositorum — über Car) Schmitt, Berlin 1988. 62
einander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. Das ist eine oft ефгоЫе Methode, nicht nur der Staats- sondern auch der Rechtszerstörung." Die Tat des Führers am 30. Jimi sei echte Gerichtshoheit, höchste Justiz gewesen und dann weiter wörtlich: „Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richterlich rächender Verwirklichung des Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur soviel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt. Das übrige ist kein Recht, sondern ein ,positives Zwangsnormengeflecht', dessen ein geschickter Verbrecher spottet." Diese Übersteigerung, in der Hitler dargebrachten Huldigung, erschien uns damals und erscheint mir heute besonders abstoßend. Freilich fügt Schmitt hinzu, vom Führer nicht ermächtigte „Sonderaktionen", wie sie am 30. Juni vorgekommen seien, seien um so schlimmeres Unrecht „je höher und reiner das Recht des Führers" sei. Sie müßten streng bestaft werden. Aber natürlich könne die Abgrenzung des ermächtigten und nicht ermächtigten Handelns nicht Sache der Gerichte sein, sondern - so wird man gedanklich hinzufügen müssen - auch dies sei Sache des Führers. Tatsächlich ist damals weder die Ermordung Schleichers, noch die seiner Ehefrau, noch die der engsten Mitarbeiter von Rapens gerichtlich verfolgt worden®). München Im Wintersemester 1934/35 ging ich nach München, wo ich eine in jeder Hinsicht genußreiche Zeit verbrachte. Von meinen Bremer Freunden fanden sich Rudi Blaum und Hinni Carl gleichfalls in München ein. Wir liefen zusammen Ski — übrigens leider das einzige Mal, daß ich in meinem Leben Ski gelaufen bin —, besuchten Kunstmuseen und Ausstellungen sov«e phantastische Faschingsbälle und studierten zugleich intensiv. Ich belegte Vorlesungen bei Franz Exner (Strafrecht), Rudolf Müller-Erzbach (Handelsrecht), Wilhelm Kisch (Zivilprozeßrecht) und Theodor Maunz (Arbeitsrecht). Bei Otto Koellreuter nahm ich an einem Seminar über Staatsrecht teil. Müller-Erzbach, ein gebürtiger Bremer, Bruder von Helene Reuber, bei der ich in Frankfurt gewohnt hatte, vertrat die Schule der Interessenjurisprudenz, die er zusammen mit Philipp Heck (Tübingen) begründet hatte. Sie trat gegen die sogenannte Begriffsjurisprudenz auf, die die Rechtsfindung als einen logischen Vorgang, nämlich als Subsumtion konkreter Einzelfälle unter allgemeine Rechtsregeln verstand. Demgegenüber setzte die Interessenjurisprudenz bei der Gesetzgebung, also bei dem Erlaß der allgemeinen Rechtsnormen an. Ihr Anliegen war es nachzuweisen, daß die Gesetze Entscheidungen des Gesetzgebers in
Vgl. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, München 1988 S. 445 ff.
63
Interessenkonflikten darstellten, daß man daher, um die Gesetze richtig interpretieren zu können, die Interessen darlegen müsse, mit denen der Gesetzgeber sich auseinandergesetzt habe. Bei der Anwendung der Gesetze müsse in erster Linie die Interessenentscheidung des Gesetzgebers beachtet werden. Es handelte sich um eine sehr fruchtbare Denkschule der Rechtswissenschaft, die die gesamte weitere Entwicklung beeinflußt hat. Kischs Vorlesung gehörte zu den glänzendsten, die ich überhaupt gehört habe. Er war körperlich stark behindert, aber seine geistigen Fähigkeiten traten um so stärker hervor. Zivilprozeß, eine im allgemeinen als langweilig angesehene Materie, las er in einem der größten Hörsäle der Universität, der immer voll besetzt war. Er war mutig in seiner Kritik an den neuen Machthabem. Zu einem Reformprojekt der Zivilprozeßordnung, das damals diskutiert wurde, sagte er: „Wenn die Herren im Reichsjustizministerium, die diesen Vorschlag gemacht haben, sich der Mühe unterzogen hätten, die Materialien zur Zivilprozeßordnung aus dem Jahre 1877 zu studieren, dann würden sie festgestelh haben, daß ihre Gedanken schon damals geprüft und zu leicht befunden worden sind." Donnernder Applaus begleitete solche Sätze. Kisch war freilich nicht ganz frei von Bosheit. In der Faschingszeit pflegten einzelne Studenten Mädchen, mit denen sie die Nacht vorher gefeiert hatten, mit in die Vorlesung zu bringen. Kisch erkannte die Situation sofort und stellte an eines dieser Mädchen eine Frage über ein zivilprozeßrechtliches Thema, das er in der vorigen Stunde behandelt hatte. Natürlich bekam er keine Antwort. Aber er bohrte weiter, bis das Mädchen in Tränen ausbrach. Maunz stand damals noch am Anfang seiner akademischen Laufbahn. Er wurde nach 1945 einer der führenden deutschen Verfassungsrechtler und gab, mit Günter Dürig zusammen, den wichtigsten Kommentar zum Grundgesetz heraus. Ich bin ihm später oft begegnet und bewahre ihm eine verehrungsvolle Erinnerung. Das Seminar bei Koellreuter hatte den Zweck, Veränderungen in der bundesstaatlichen Struktur des Reiches zu diskutieren, die seit 1933 eingetreten waren. W^ir behandelten die Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom April 1933'), über den Neuaufbau des Reiches vom Januar 1934 und über die Auflösung des Reichsrats vom Februar 1934°). Koellreuter war alter Nationalsozialist, aber bei der Darstellung des Stoffes blieb er verhältnismäßig nüchtern. So kritisierte er die Abschaffung des Reichsrates. Man könne nicht wissen, so sagte er, ob man dieses Organ nicht noch einmal brauchen würde. Die pragmatisch eingestellten Engländer hätten einen solchen Schritt nie getan. Deutlich war zu spüren, daß er sich übergangen fühhe. Nach seiner Meinung hätte er der erste Berater der Reichsregierung auf dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrechts werden sollen. Statt dessen war das Carl Schmitt geworden, gegen den er eine tiefe Abneigung zeigte und den er deutlich als Opportunisten charakterisierte. Gesetze vom 31. März und 7. April 1933 (RGBl. I S. 153 und 173). ") Gesetze vom 30. Jan. und 14. Febr. 1934 (RGBl. I S. 75 und 89).
64
Außer den juristischen Vorlesungen besuchte ich zwei kunsthistorische Veranstaltungen: eine Vorlesung von Pinder über Rembrandt — sie gehört zu meinen stärksten kunsthistorischen Erlebnissen — und eine Führung durch die ahe Pinakothek, wo uns der ganze Reichtum der mittelalterhchen Kunst entgegentrat. Zwischen den einzelnen Semestern nahm ich mehrfach an sogenannten Wehrertüchtigungslagern teil, zu denen Studenten einberufen wurden. Es hieß, daß die Teilnahme Voraussetzung für die Fortsetzung des Studiums sei. Ich habe zwei solcher Lehrgänge besucht, 1933, in Kiel-Gaarden, wo wir von Unteroffizieren der Reichswehr ausgebildet vnirden. Es war die härteste körperliche Belastung, die ich jemals erfahren habe. Wir machten jeden Tag lange Gepäckmärsche, die mit anstrengenden Übungen im Gelände verbunden waren. Aber das schlimmste war die Aufgabe, mit Gepäck eine vier Meter hohe, glatte Eskaladierwand zu überwinden. Das ging so vonstatten, daß ein besonders kräftiger Kamerad, den wir von unten stützten, an der Wand hochkletterte und sich rittlings darauf setzte. Wir anderen sprangen dann, so weit wir konnten, an der Wand hoch, streckten dem oben Sitzenden einen Arm entgegen, der uns dann mit seinen riesigen Kräften hochzog. Auf der anderen Seite der Wand sprangen wir herunter. Die Ausbildung war hart, aber nicht schikanös. Mit mir zusammen war mein Fehmaraner Freund, Joachim Haltermann, der älteste Sohn des Besitzers von Staberhof in Kiel-Gaarden. Er war sehr still („Haltermann, haben Sie während dieser drei Wochen mehr als drei Sätze gesagt?" fragte ihn der Ausbilder am Ende des Lehrgangs), aber er war ein verläßlicher, nachdenklicher, ja versponnener, tapferer Freund. Auch er ist später in Rußland gefallen. Den zweiten Lehrgang, der weit weniger anstrengend war als der erste, absolvierte ich 1935 in Frankfurt an der Oder, in einer Kaserne am linken Ufer des Flusses, mit weitem Blick über die Niederung. In der Feme war das Schlachtfeld von Kunersdorf zu sehen, wo Friedrich der Große 1759 eine seiner schwersten Niederlagen erlitten hatte. Er wurde von einer russisch-österreichischen Armee besiegt und stand vor dem militärischen Zusammenbruch. Ich lernte in Frankfurt manchen guten Kameraden kennen, mit denen der Kontakt jedoch später abriß. Königsberg Im Sommersemester 1935 studierte ich in Königsberg. Schon auf der Fahrt dahin, einer endlos langen Bahnfahrt von Berlin durch den polnischen Korridor über Elbing bis Königsberg, lernte ich Hans Hitzelberger kennen, der einer meiner besten Freunde werden sollte. Er war Bayer, genauer bayerischer Schwabe, stammte aus Kaufbeuren und studierte Medizin. Wir unterhielten uns im Gang des D-Zuges stundenlang und verabredeten, uns in Königsberg wiederzutreffen. Ich fand eine Bude in der Magisterstraße, in der Altstadt Königsbergs. Von meinem Fenster sah ich den Chor des Doms, das Grabmal Kants und das Kant-Haus, in dem der Philosoph gewohnt hatte. Meine Wirtin war Witwe und hatte drei temperamentvolle Töchter. Eine war mit einem Assessor verlobt, der 1,90 m 65
groß war, und den sie nach ostpreußischer Art hebevoll „Langerchen" nannten. Im Nebenhaus, das zu unserem Haus in einem Straßenknick rechtwinklig stand, befand sich ein Edelbordell. Es dauerte aber lange, bis ich dahinter kam. Zwar unterhielten sich zwei oder drei hübsche Mädchen häufig von Fenster zu Fenster mit mir und warfen mir gelegenüich Bonbons zu, aber dabei fiel mir nichts Ungewöhnhches auf, bis ich eines Tages im Nebenhaus klingelte, weil ich meinen Hausschlüssel vergessen hatte. Ich wollte über das Sims in das offene Fenster meines Zimmers klettern. Auf mein Klingeln trat mir eine meiner freundlichen Nachbarinnen in sehr leichter Bekleidung entgegen. In der Garderobe hingen die Mäntel zweier Offiziere. Mir wurde die Situation schlagartig klar. Aber zum Bleiben konnte ich mich trotz freundlicher Aufforderung nicht entschließen. So kletterte ich aus dem Fenster in mein Fenster. Es war eine ziemlich gefährliche Unternehmung, die aber gut ablief. An der Universität belegte ich eine Vorlesung über Verwaltungsrecht bei Emst von Hippel, dem Bruder meines Frankfurter Lehrers imd meinem späteren Kollegen an der Kölner Universität. Er war bei den Nationalsozialisten verhaßt, und gelegentlich störten Studenten in SA-Uniform seine Vorlesung. Bei Ottokar Tesar belegte ich Strafrecht, Besonderer Teil. Er war eine ungewöhnliche Erscheinung, ein ungarischer Graf, früher Erzieher von Prinzen, jetzt also Lehrer des Strafrechts. Er trug einen dicken, goldenen Armreif und ein goldenes Monokel, das er, wenn er seinem Vortrag Nachdruck verleihen wollte, durch eine bestimmte Bewegung seiner Augenmuskulatur aus dem Auge springen ließ, wobei es durch eine schwarze, seidene Schnur aufgefangen vmrde. Seine Vorlesung war nicht besonders fesselnd, aber er war ein gütiger und zugleich nobler Mann. Bei einem Ausflug der Universität nach Cranz ging ich lange neben ihm und führte ein sehr anregendes Gespräch mit ihm. Tesar erhielt später einen Ruf nach Hamburg, wo ich ihn wiedertraf. Schließlich hörte ich bei einem Dozenten Recht der Landwirtschaft oder Bauemrecht. Dabei ereignete sich eine lustige Begebenheit. Ich machte in dieser Vorlesung eine Fleißübimg und holte einige Tage später das Zeugnis beim Pedell der Universität ab, bei dem alle Fleißzeugnisse hinterlegt wurden. Er warf einen BUck darauf imd sagte dann: „Damit köimen Sie nicht viel anfangen. Er hat Ihnen nur „ausreichend" gegeben." Auch ich sah mir den Schein an und kam zu dem Ergebnis, daß die schwer leserliche Schrift vielleicht „ausgezeichnet" heißen konnte. Ich bat den Pedell, das Papier nochmal anzusehen. Er stimmte mir zu und brach dann, wieder in echt ostpreußischer Manier, in eine große Lobpreisung für mich aus. So ein Zeugnis habe er noch nie gesehen. „Männchen", sagte er, „Sie werden eine große Zukimft haben." Um ruhig zu arbeiten, ging ich oft in das sonst wenig besuchte Institut für Luftrecht, dessen Leiter Hermann von Mangoldt war. So lernte ich diesen hervorragenden Juristen kennen, der nach 1945 einer der angesehensten deutschen Staatsrechtslehrer wurde, Autor eines wichtigen Kommentars zum Grundgesetz®), aber leider früh starb. ») Hermann von Mangold, Das Bonner Grundgesetz. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und Frankfurt 1950.
66
In Königsberg erwarb ich das Tum- und Sportabzeichen. Meine Leistungen waren nur wenig besser als die geforderten Mindestleistungen, außer im Zehntausendmeterlauf, wo ich die 50-Minutenmarke um drei Minuten, 9 Sekunden unterbot. Zu keiner Zeit meines Lebens bin ich so viel gereist wie im Sommer 1935. Zunächst fuhren Hans Hitzeiberger und ich für ein Wochenende nach Danzig — damals ein vom Deutschen Reich abgetrennter Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes. Die alte Hansestadt mit ihren gotischen Kirchen, vor allem der gewaltigen Marienkirche, den prachtvollen Bürgerhäusern in der Langgasse und dem Krantor, machte einen tiefen Eindruck auf uns. Wir fuhren auch nach Oliva, besichtigten dort die berühmte Zisterzienserkirche und dann in das elegante Seebad Zoppot. Auf der Rückfahrt besuchten wir die Marienburg, eines der größten und bedeutendsten Bauwerke des Mittelalters, ehemals Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens, am Ufer der Nogat, einem Mündungsarm der Weichsel, gelegen, mit einem weiten Blick über das Land. Häufig fuhren wir am Wochenende mit der Bahn nach Cranz, nahmen unsere Fahrräder mit und entdeckten die Kurische Nehrung, eine der faszinierendsten Landschaften, die ich gesehen habe. Die Dünen sind bis 70 m hoch. Gegen das Westufer brandet in unendlicher Weite die Ostsee. Auf der Ostseite erstreckt sich das Kurische Haff, in Dichtung und Malerei oft dargestellt, wo die ostpreußischen Fischer in ihren malerischen Booten ihrem harten Beruf nachgehen. Der nördliche Teil der Nehrung war schon damals von Deutschland abgetrennt und gehörte zum Memelgebiet. Wir fuhren mit dem Fahrrad bis Rossiten und Pillkoppen und sahen unterwegs häufig Elche. Auch wanderten wir stundenlang barfuß am Weststrand entlang und fühlten uns in der völligen Einsamkeit wie die Herren der Welt. In den Pfingstferien machten wir eine Radtour durch Masuren. Von Insterburg fuhren wir über Gumbinnen, Goldap, Lötzen an den masurischen Seen entlang, durch unendliche Wälder nach Orteisburg, Tannenberg und Alienstein. In Tannenberg sahen wir das Denkmal, das an die beiden großen Schlachten von 1410 und 1914 erinnerte. 1410 fügte das polnische Heer dem Deutschen Orden hier eine schwere Niederlage zu. 1914 siegte das deutsche Heer unter den Generälen von Hindenburg und Ludendorff über eine russische Armee und befreite Ostpreußen. Auf dieser Fahrt waren vdr zu dritt. Engelbert van de Loo, ein Jurastudent vom Niederrhein, der als Kind ein Bein verloren hatte, und für den die Radtour daher eine große Anstrengung bedeutete, hatte sich uns angeschlossen. Er hielt tapfer durch und war ein fröhlicher Reisegefährte. Wenn ich heute, über fünfzig Jahre später, an mein Königsberger Semester zurückdenke, wird mir schwer ums Herz. Ostpreußen ist zvdschen Rußland und Polen aufgeteilt. Die Altstadt von Königsberg ist zerstört. Ein Besuch für Deutsche ist erst wieder seit einigen Jahren möglich. Bei einem Besuch Breschnews in Bonn hatte ich, als damaliger Bundespräsident, um eine Erleichterung der Reisebedingungen für Deutsche gebeten. Ich kann die Trauer der Ostpreußen um ihre verlorene Heimat gut verstehen. Freilich werden v«r Deutsche, wenn vñr von den abgetrennten deutschen Ostgebie67
ten sprechen, nicht vergessen dürfen, daß der Krieg, durch den dieses Unglück über unser Land hereingebrochen ist, von Deutschland begonnen wurde. Als im Juni 1941 mehrere Millionen deutsche Soldaten in Rußland einmarschierten, dachten viele, auch ich, an das Ende mit Schrecken, wenn wir diesen Krieg verlieren würden. Das Königsberger Semester fand seinen Abschluß mit einer zwölftägigen Reise durch Lettland, Estland und Finnland, die Hans und ich gemeinsam unternahmen. Damals durfte man auf einer Auslandsreise nur 10 Reichsmark mitnehmen. Wir hatten auch nicht mehr Geld bei uns. Wohl hatten v«r die Fahrkarten für die gesamte Bahn- und Schiffsreise vorher in Königsberg kaufen können. Für alle Fälle nahmen wir einen Schinken mit, damit wir etwas zu essen hatten. Diesen Schinken haben wir nicht angebrochen, sondern brachten ihn, so wie wir ihn gekauft hatten, wieder nach Deutschland zurück. Das lag an der Gastfreundschaft der Balten-Deutschen und der Finnen, die ich nicht hoch genug preisen kann. Hans hatte in Königsberg bei einer balten-deutschen Familie gewohnt, die ihm die Adresse ihrer Verwandten in Riga mitgab. Dort meldeten wir uns und waren sofort für zwei Tage Gast der Familie. Von Riga erinnere ich besonders die großartige Ufeφartie entlang der Düna. Weiter ging es nach Reval. Dort meldeten wir uns bei Herrn Oldenburg, dessen Anschrift wir in Riga bekommen hatten. Er war Mecklenburger, Direktor einer großen staatlichen Erdölanlage und ein sehr wohlhabender Mann. Er erklärte sofort, wir seien seine Gäste. Er brachte uns auf seine Kosten im Hotel unter und lud uns zu einem fulminanten Essen ein, das um fünf Uhr nachmittags begann und gegen Mitternacht endete. Wir platzten förmlich, so reichlich waren die Speisen. Aber wenn v«r erklärten, daß wir satt wären, antwortete Herr Oldenburg mit dem Satz von Onkel Bräsig aus Fritz Reuters Stromtid „Eet langsam, min Söhning, und du glövst nich, wat sich rinpacken läßt." Etliche klare Schnäpse erleichterten den Kampf mit dem überreichlichen Essen. Von Reval erinnere ich die prachtvolle Domkirche und das Domschloß im Zentrum der Stadt, auf einem Berg hoch über der Wohnsiedlung gelegen. Von Reval setzten wir mit dem Schiff nach Helsinki über. Hier, in Finnland, hatten wir die schönsten Erlebnisse. Damals bestand eine sprichwörthche Freundschaft zwischen Deutschen und Finnen. Deutsche Freikorps hatten die Finnen 1918/19 in ihrem Freiheitskampf gegen die Rote Armee erfolgreich unterstützt. Feldmarschall Mannerheim, der spätere Präsident, und General von der Goltz waren Waffenbrüder gewesen. Wo immer war uns als Deutsche zu erkennen gaben, vrarden wir mit einer Herzlichkeit und Gastfreimdschaft empfangen, die ich nie vergessen werde. In Helsinki ereignete sich gleich nach unserer Ankunft eine köstliche Szene. Wir mieteten zwei Fahrräder und baten den Händler, er möchte uns Schlösser mitgeben, damit wir die Fahrräder abschließen könnten. Dieses Ansinnen wies er empört zurück. In Helsinki würden keine Fahrräder gestohlen, in Finnland würde überhaupt nicht gestohlen. Und dann erzählte er die Geschichte von dem Mann, der seine goldene Uhr verloren hatte. Nach mehreren Tagen vergeblichen Suchens fiel ihm ein, daß er sie vielleicht beim Einkaufen auf dem Wo68
chenmarkt in Helsinki verloren haben könnte. Er suchte dort und fand sie. Sie lief auch noch, denn die Vorübergehenden hatten sie regelmäßig aufgezogen. Hans und ich waren platt, als wir diese Geschichte hörten. Finnland schien ein Land von paradiesischer Unschuld zu sein. Soweit wir nicht zum Essen eingeladen v^irden, aßen wir einmal am Tag um die Mittagszeit. Man zahlte im Restaurant ein Eintrittsgeld und konnte dann so viel essen, v«e man wollte. Die Speisen standen nach schwedischer Sitte mitten im Raum auf einem großen Tisch. Man hohe sich, was einem gefiel. Von Helsinki, dessen Parlamentsgebäude mir besonderen Eindruck machte, ging es mit Bahn und Schiff über Imatra, Savonlinna, Jyväskylä, Tamerfors nach Abo, von wo vdr mit einem deutschen Frachtdampfer nach Stettin zurückfuhren. Unvergeßlich ist mir die Fahrt über den unendlichen, von dunklen Wäldern umrahmten Saima See. Sie dauert fast 24 Stunden. Wir schliefen an Bord. In der hellen Sommernacht saßen wir stundenlang an Deck, in einer sehr fröhlichen Runde, mit drei finnischen Mädchen, die aus ihrer Zuneigung zu den Deutschen kein Hehl machten. Savonlinna ist eines der großen historischen Bauwerke Nordeuropas, eine Trutzburg zum Schutz der Ostgrenze Finnlands im 15. Jahrhundert errichtet. In Jyväskylä, dem nördUchsten Punkt unserer Reise, besuchten vwr eine Sauna, damals für Deutsche noch eine wenig bekannte Einrichtung. In dem ersten, dampf geheizten Raum befand sich eine Treppe, die bis zur Decke reichte. Je höher man hinaufging, desto heißer wurde es. Hans, der einen gewissen Hang zum Abenteuer hatte, setzte sich auf die oberste Stufe und probierte aus, wie lange er die Hitze ertragen konnte. Als er, lange nach mir, schließlich in den nächsten kalten Raum kam, wankte er und schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Am Schluß bearbeiteten uns finnische Mädchen, Mitarbeiterinnen der Sauna, mit Birkenreisem, bis wir an Brust und Rücken knallrot waren. Auch das war ein unvergeßliches Erlebnis. Während meines Aufenthalts in Königsberg wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Mein Jahrgang, 1914, war der erste wehrpflichtige Jahrgang. Aber Studenten konnten bis zur Beendigung ihres Studiums zurückgestellt werden. Von dieser Möglichkeit machte ich Gebrauch. Hamburg Meine beiden letzten Semester (das sechste und siebte) absolvierte ich in Hamburg. Hier trafen sich fünf Bremer Freunde. Vier Juristen, die sich gemeinsam auf das Examen vorbereiteten, Rudi Blaum, Hinni Carl, Wemer Papendieck und ich und Erich Stade, der Zahnmedizin studierte. Wir waren unzertrennlich, gingen fast jeden Abend, nach getaner Arbeit, noch einmal ein Bier trinken. Wir gingen häufig nach St. Pauli, wo wir im Café Heinze einkehrten und dort auch gelegentlich mit den Mädchen tanzten. („Damen der Gesellschaft" pflegte Hans Hitzeiberger sie zu nennen. Den Ausdruck habe ich übernommen.) Dann ging es zu Fuß zurück in unsere Buden, die an der Rothenbaumchaussee und in der Schlüterstraße lagen. Nach Mittemacht waren wir im Bett und schliefen danach gut. Nach der intensiven Arbeit des Tages brauchten wir abends eine Entspannung. 69
Hamburg hatte eine angesehene juristische Fakuhät. Ich hörte Bürgeriiches Recht bei Leo Raape, Zivilprozeßrecht bei Max Pagenstecher, Völkerrecht bei Rudolf Laun. Auch belegte ich eine Vorlesung bei dem nur wenig älteren Privatdozenten Rolf Stödter, der es später zu großem Ansehen brachte. Er war Völkerrechtler und schrieb nach 1945 ein vielbeachtetes Buch über die Rechtslage Deutschlands"). Später war er Geschäftsführer, dann Präsident des Verbandes Deutscher Reeder, selbst erfolgreicher Reeder und als Präsident des Überseeclubs eine der geistig führenden Persönlichkeiten Hamburgs. Wir sind gute Freunde geworden. Bei Alfred Bertram hörte ich das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Bis heute hat sich mir ein von ihm behandeher Fall zum Adoptionsrecht unauslöschlich eingeprägt: Ein Graf W., schon ziemlich betagt, erlag den Reizen einer lebenslustigen jungen Dame namens Elfriede Meier (dieser Name ist fingiert) und heiratete sie. Bald danach starb er. Um ihre finanzielle Situation aufzubessern, beschloß seine Witwe, nunmehr Gräfin W., einen Hamburger Kaufmann zu adoptieren, der für die Erlangung des gräflichen Namens bereit war, ein erkleckliches Entgelt zu zahlen. Ein Notar beurkundete die Adoption und zeigte sie dem Standesamt zur Änderung des Namens des Adoptierten an. Dieser erhielt nach einiger Zeit die Mitteilung, daß er künftig den Namen Meier führen dürfe und müsse. Statt Graf W. hieß er also schlicht Meier. Alle Beteiligten, auch der Notar, hatten übersehen, daß, wenn eine Witwe ein Kind adoptiert, dieses den Mädchennamen der Frau erhält. Besagte Gräfin W. führte auch weiterhin ein bewegtes Leben. Sie begegnete mir zwei Jahre später, als sie im Gerichtsgefängnis in Lesum wegen Betruges einsaß, wieder. Die Gefängnisbeamten waren begeistert von ihr. Alle Professoren, bei denen ich hörte, standen dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber, was sich aus gelegentlichen Bemerkungen ergab. Es war eine wohltuende Atmosphäre. Auch vdr machten aus unserer Ablehnung keinen Hehl, sagten niemals „Heil Hitler" und befreundeten uns mit einem Hamburger Juristen, der seine Abneigung öffentlich zur Schau trug, indem er immer, auch bei schönstem Wetter, mit einem Regenschirm erschien. Zwei Brüder Siemonsen aus Preetz, mit denen wir oft zusammen waren, gingen in ihrer ablehnenden Haltung so weit, daß ich mir ihretwegen emste Sorgen machte. Sie waren gute, verläßliche Freunde. Oft trafen wir uns bei Rudi Blaum, um Schallplatten zu hören. Unsere Lieblingsplatte waren die Songs aus der Dreigroschenoper. Der Schlager „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht" begeisterte uns. Er war eine schneidende Absage an den Geist der Überheblichkeit, der das damalige Regime kennzeichnete. Abends gingen wir gelegentlich in ein Lokal in der Altstadt, in dem Teddy Stauffer mit seiner Kapelle spielte. Eines Tages erschien bei ihm die SA, um Rabatz zu machen. Da er aber ein sehr kräftiger Kerl war, setzte er die SA-Leute vor die Tür.
'») Rolf Stödter, Deutschlands Rechtslage, Hamburg 1948.
70
Mein Verhalten ärgerte einen früheren Schulkameraden vom Alten Gymnasium maßlos. Ich hatte ihn immer als einen Freund angesehen. Aber er war ein fanatischer Nationalsozialist und entpuppte sich als schäbiger Charakter. Er wußte, daß ich ein Stipendium von der bremischen Schulbehörde bekam und denunzierte mich dort, was zu einer Überprüfung meiner politischen Zuverlässigkeit und zum Entzug des Stipendiums führte^M- Der Schulkamerad ist im Kriege in Rußland gefallen, und ich nenne seinen Namen daher nicht. Referendarexamen
und Promotion
Wir vier Bremer Juristen arbeiteten ungeheuer intensiv, bis zu zehn Stunden am Tag, zur Vorbereitung auf das Referendarexamen. Auch besuchten wir einen Repetitor, was wir für wichtig hielten. Der Repetitor, der übrigens hervorragend war, ersetzte allerdings nicht die systematische Durcharbeitung der einzelnen Prüfungsfächer anhand von Lehrbüchern. Trotzdem war der Repetitor unentbehrlich, schon aus folgendem Grunde: In Hamburg spieUe natürlich das Seerecht eine wichtige Rolle. Es wurde von zwei Koryphäen gelesen, Hans Wüstendörfer und Georg Bacmeister, die allerdings in allen wichtigen Fragen entgegengesetzte Ansichten vertraten und die zudem persönlich miteinander verfeindet waren. Gab man im Examen bei Wüstendörfer Ansichten von Bacmeister wieder, hatte man schon verloren und umgekehrt. So paukten wir in den letzten Tagen vor dem Examen, sobald wir die Namen unserer Prüfer wußten, noch einmal mit dem Repetitor die Antworten im Seerecht durch, auf die der jeweilige Prüfer Wert legte. Im Grunde war das ein unwürdiges, aber in der gegebenen Lage äußerst zweckmäßiges Vorgehen. Im Herbst 1936, nach sieben Semestern, meldeten Rudi Blaum, Hinni Carl, Werner Papendieck und ich uns beim Hanseatischen Oberlandesgericht zum Referendarexamen. Sechs Semester war die vorgesehene Mindestdauer. Wir fanden es gut, ein Semester zuzulegen. Meine Hausarbeit bildete später die Grundlage meiner Dissertation"). Von den Klausuren erinnere ich nur noch die strafrechtliche. Die Aufgabe lautete etwa: Zwei junge Leute gehen an einem Obstgarten vorüber, an dessen Eingang ein Mann steht. Sie fragen ihn, ob sie einen Korb Äpfel pflücken dürfen. Auf die bejahende Antwort pflücken sie drei bis oben angefülhe Körbe. Der Mann, der inzvñschen weggegangen ist, war nicht der Eigentümer des Gartens, sondern ein x-beliebiger Fremder. Wie ist die Rechtslage? Es ist ein interessanter strafrechtlicher Fall, der auch ins bürgerliche Recht hineingreift. Jeder Jurist sieht schnell die Leckerbissen. Aber ich will darauf nicht näher eingehen. Im November 1936 stieg das mündliche Examen. Wir vier Freunde waren die einzigen Kandidaten. Das Examen machte als das „Bremer Examen" Furore. Rudi und ich waren vdrklich auf der Höhe und überspielten " ) Siehe S. 90. " ) Karl Carstens, Der gutgläubige Erwerb von Pfandrechten an Grundstücksrechten, Diss. Hamburg 1937 (Quakenbrück 1938).
71
gewisse Schwächen unserer Freunde, wie ich noch heute finde, geschickt. Jedenfalls stockte das Gespräch zwischen Prüfern und Prüflingen keinen Augenblick. Das Ergebnis war sensationell. Zweimal „mit Auszeichnung", zweimal „gut". Wahrscheinlich hat es in der Geschichte der deutschen Justiz ein solches Examen vorher und hinterher nicht gegeben. Dabei muß man sagen, daß das Hamburger Examen als schwer galt. Wir waren natürlich begeistert, hatten das Gefühl, daß uns die Welt zu Füßen lag. Hinni und Wemer luden Rudi und mich zu einem festlichen Abendessen in eines der besten Lokale Hamburgs ein. Rückblickend sehe ich vieles anders. Das Unglück, in das Deutschland schon 1936 hineinsteuerte, zeichnete sich für manchen kritischen Beobachter schon damals ab. Aber wir 21- und 22jährigen sahen es nicht. Die hamburgische Atmosphäre war liberal. Einen unangenehmen politischen Druck seitens unserer Prüfer empfanden wir nicht. Es gab aus unserer damaligen Sicht kaum etwas, was unser Glücksgefühl beeinträchtigte. Meine Pläne, in den öffentlichen Dienst, womöglich in den auswärtigen Dienst zu gehen, hatte ich im Laufe meines Studiums aufgegeben. Auch erschien es mir gänzlich unzweckmäßig, im öffentlichen Recht zu promovieren, in dem sich nationalsozialistisches Gedankengut mehr und mehr ausbreitete. Die Behandlung des Röhm-Putsches durch Carl Schmitt war da ein warnendes Beispiel. Ich faßte also den Entschluß, im BürgerUchen Recht zu promovieren. Dazu bewog mich auch die große Ausstrahlung meines Lehrers Leo Raape. Neben Kisch ist er der glanzvollste akademische Lehrer, den ich gehabt habe. Seine Vorlesungen waren ungemein fesselnd, wozu seine lange Erfahrung als früherer Repetitor beitrug. Er rüttelte die Zuhörer durch einprägsame Fälle auf. Köstliche Anekdoten gibt es zu erzählen. Ich gebe nur eine wieder: Raape bildet einen Fall; „Meine Herren", rief er - die anwesenden Damen ignorierte er leider - , „stellen Sie sich folgenden Fall vor! Der Bauer B. hat eine Kuh an den Händler H. in der Stadt S. verkauft. Auf dem Transport zur Stadt tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein. Was zum Beispiel, meine Herren?" Schweigen im Hörsaal. „Phantasie, meine Herren, Phantasie!" rief Raape. Weiter Schweigen. Schließlich Raape; „Ein Blitz erschlägt die Kuh." Und vdr mußten die rechtlichen Folgen dieses Unglücks untersuchen, was wir, so gut wir konnten, taten. In einer der nächsten Stunden bildete Raape wieder einen Fall: „Der Gast G. bestellt im Restaurant beim Kellner ein Beefsteak. Meine Herren, welche Schwierigkeiten können bei der Abwicklung dieses Rechtsgeschäfts entstehen?" Keine Antwort. „Phantasie, meine Herren!" Trotz mehrfacher Aufforderung keine Antwort. Schließlich hörte man aus der letzten Reihe des Hörsaals eine Stimme rufen: „Der Blitz schlägt in das Beefsteak ein!" Raape war verletzt, fühlte sich verhöhnt und es dauerte lange, bis wieder eine normale Stimmung in die Vorlesung einkehrte. Raape vertrat das Römische Recht, das Bürgerliche Recht und das Internationale Privatrecht — ein immenses Gebiet — das letztere gehört zu den schwierigsten Rechtsmaterien, die es überhaupt gibt. Er war ein großer Jurist. 72
Ich suchte ihn nach meinem Examen auf und schlug ihm vor, das Thema meiner Hausarbeit, die er, soweit ich erinnere, mit begutachtet hatte, zu einer Dissertation auszubauen. Er war nicht begeistert, sondern hätte mir Heber ein Thema aus seinem Forschungsbereich gegeben, erklärte sich aber doch einverstanden und so entstand die Arbeit „Der gutgläubige Erwerb von Pfandrechten an Grundstücksrechten". Hierbei ergab sich für mich, ohne daß ich in die Einzelheiten gehen möchte, die Möglichkeit, den Ursprüngen des Problems im römischen Recht und im germanischen Recht nachzugehen. Einschlägige Gerichtsurteile gab es nicht. Wohl aber war die Frage in der Literatur mehrfach behandelt worden. Vor allem von Martin Wolff, dem bedeutenden Zivilrechtler der Berliner Universität, der als Jude emigriert war und jetzt in England lebte. Ich korrespondierte mit ihm, und er gab mir wichtige Ratschläge. Auf diese und sein Lehrbuch des Sachenrechts, in der Reihe Enneccerus —Kipp —Wolff, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Band III, 9. Bearbeitung, Marburg 1932, stützte ich mich mehrfach bei meiner Arbeit. Aber ich durfte ihn, als jüdischen Autor, nicht zitieren. So wählte ich folgenden Ausweg: Im Literaturverzeichnis erschien sein Buch mit vollem Titel. Im Text der Abhandlung zitierte ich ihn als „Ennecceras, Band III". Raape war einverstanden. Wir umgingen das Verbot. Für jeden kundigen Leser war klar, wen ich zitierte. Die Arbeit knüpft an §892 BGB an: „Zugunsten desjenigen, welcher ein Recht an einem Grundstücksrecht oder ein Recht an einem solchen Recht (Auszeichnung von mir) durch Rechtsgeschäft erwirbt, gilt der Inhalt des Grundbuchs als richtig, es sei denn, daß ein Widerspruch gegen die Richtigkeit eingetragen oder die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt ist." In meiner Arbeit geht es um Pfandrechte an Grundstücksrechten, also an einer Grundschuld oder an einer Hypothek. Der Inhaber der Grundschuld oder der Gläubiger der Hypothek kann die Grundschuld oder die Hypothek zur Sicherung einer gegen ihn gerichteten Forderung an seinen Gläubiger verpfänden. Dann entsteht ein Pfandrecht an einem Grundstücksrecht, und die Frage, die ich untersuche, lautet: Wie ist die Rechtslage, wenn der ursprüngliche Gläubiger der Forderung diese Forderung an einen Dritten abtritt, genießt der Dritte dann den Gutglaubensschutz nach § 892 bezüglich des Pfandrechts? Zweifel können dadurch entstehen, daß das Pfandrecht bei der Abtretung der Forderung von selbst, automatisch, „ipso iure" auf den neuen Gläubiger übergeht und daß es eines besonderen Abtretungsgeschäfts für das Pfandrecht nicht bedarf. Diese ausdrückliche Vorschrift des BGB (§ 1250) ist aus dem römischen Recht übernommen. Sie wird als Akzessorietät des Pfandrechts verstanden. Aber es erhebt sich die weitere Frage, ob das Pfandrecht ungeachtet seines akzessorischen Charakters bei der Abtretung der Forderung durch ein besonderes Rechtsgeschäft übertragen werden kann. Ist dies, so frage ich, unmögUch, weil das Pfandrecht akzessorisch ist? Ich setze mich dann ausführlich mit der Lehre von der Akzessorietät auseinander und zeige, daß sie weitgehend begriffsjuristisch bestimmt ist. Nach dieser Lehre soll das akzessorische Pfandrecht ein Schatten sein, der dem К0фег Forderung folgt. 73
Ich weise nach, daß diese Vorstellung zwar für manche Beziehungen zwischen Pfandrecht und Forderung zutreffend ist, aber keineswegs für alle. Es besteht in Wahrheit keine Abhängigkeit des Pfandrechts von der Forderung, wie sie sich in dem Кофег-/Schattenbild ausdrückt, sondern es besteht eine Zweckgemeinschaft. Beide dienen demselben Zweck, der Befriedigung des Gläubigers. Die sogenannte Akzessorietät des Pfandrechts mag als Ordnungsbegriff einen gewissen Nutzen haben. Zur Ableitung von Rechtsnormen oder als Auslegungsgrundsatz ist sie nicht geeignet. Ich folge hier dem von Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz 1932, entwickehen Gedanken. Freilich gehe ich nicht so weit wie Heck, der einige Bestimmungen des BGB nicht anwenden will, weil sie Ausfluß der falschen Akzessorietätslehre seien, aber da, wo nach dem Wortlaut des BGB verschiedene Auslegungen möglich sind, sollte, so sage ich, die Auslegung gewählt werden, die den Interessen der Parteien entspricht, und nicht einer begriffsjuristischen Anwendung des Akzessorietätsgrundsatzes. Demnach ist im Falle der Abtretung einer Forderung, die durch ein Pfandrecht an einem Grundstücksrecht gesichert ist, eine Übertragung des Pfandrechts neben der Forderung durch ein besonderes Rechtsgeschäft möglich. Das BGB verbietet sie nicht. Wenn die Parteien sich einig sind, daß die Forderung samt dem Pfandrecht abgetreten werden soll, wird das Pfandrecht durch Rechtsgeschäft übertragen und der neue Gläubiger genießt den Schutz des § 892 BGB, das heißt, er erwirbt, wenn er gutgläubig ist, das Pfandrecht, auch wenn es entgegen der Eintragung im Grundbuch nicht besteht oder mit Mängeln behaftet ist. Der besondere Reiz der Untersuchung liegt darin, daß im BGB deutschrechtliche und römisch-rechtliche Vorstellungen zusammenfließen. Das untersuchte Problem konnte im römischen Recht nicht auftreten, weil das römische Recht den Grundsatz des Gutglaubensschutzes nicht kannte. Ebensowenig konnte das Problem im alten deutschen Recht auftreten, weil dem deutschen Recht die Rechtsfigur der Abtretung des Pfandrechts zusammen mit der Forderung, also der Akzessorietät, nicht bekannt war. Die Arbeit enthält keine, auch nur andeutungsweise Bezugnahme auf nationalsozialistisches Gedankengut. Ich könnte sie heute so wie damals schreiben, ohne daß ich im Text ein Wort ändern müßte. Ich sage das mit einem gewissen Stolz. Raape bewertete sie mit „sehr gut". Er zitierte sie in den folgenden Jahren mehrfach in seinem Seminar, fügte allerdings hinzu, daß er das Ergebnis, zu dem ich gelangt war, für falsch halte. Leider verlief das mündliche Doktorexamen am 22. Dezember 1937 für mich unbefriedigend. Ich kam nicht auf die richtige Lösung einer einfachen Frage aus dem Schuldrecht. So bestand ich das Doktorexamen insgesamt mit der Gesamtnote „gut", was die Brüder Siemonsen, bei denen ich anschUeßend zu einer Tasse Tee eingeladen war, und die das Ergebnis am Abend mit mir hatten feiern wollen, mit großer Enttäuschung zur Kenntnis nahmen. Auch ich war enttäuscht. Ich hatte offenbar einen schlechten Tag, war allerdings auch nicht mehr so gut auf das mündliche Examen vorbereitet, wie ein Jahr vorher auf das mündliche Referendarexamen. 74
2. Referendarausbildung Erste Stationen Am 9. Dezember 1936 wurde ich zum Gerichtsreferendar ernannt. Meine erste Station absolvierte ich beim Amtsgericht Lesum, das damals noch zu Preußen gehörte; heute ist Lesum bremisch. Sechs Monate fuhr ich jeden Morgen mit der Bahn vom Hauptbahnhof Bremen zum Bahnhof Lesum. Mit dem gleichen Zug fuhr der Amtsgerichtsrat Regeniter, der ebenfalls in Bremen wohnte. Freilich hatte er die Erlaubnis dazu, während ich nach der Einweisungsverfiigung gehalten war, am Ort des Amtsgerichts zu wohnen. Ich hatte dort auch eine fingierte Adresse, behielt aber faktisch meinen Wohnsitz in Bremen bei. Regeniter wußte das natürlich, aber ignorierte es. Er stieg immer in den ersten Wagen des Zuges ein, ich in den letzten. Am Ziel angekommen, ging ich hundert Meter hinter ihm her und traf drei Minuten nach ihm am Amtsgericht ein. Regeniter war ein prächtiger Mann, ein Westfale, der aus seiner Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus kein Hehl machte, sondern ihr im Gegenteil mit drastischen Worten Ausdruck gab. Er war der einzige Richter am Amtsgericht. Ich wurde durch den leitenden Beamten der Geschäftsstelle, einen Justizinspektor, in sämtliche Geschäfte des Gerichts eingewiesen. Natürlich nahm ich auch an allen Verhandlungen teil. Oft war eine Partei oder waren sogar beide Parteien Polen, die seit der Zeit vor dem Ersten Wehkrieg in der Grohner und Blumenthaler Industrie beschäftigt waren. Dann zogen wir einen polnisch sprechenden Polizeiwachtmeister hinzu, der als Dolmetscher fungierte. Auf das Amtsgericht folgte die Station beim Landgericht. Ich wurde einer Zivilkammer zugewiesen, die Landgerichtsdirektor Graner leitete. Beisitzende Richter waren die Landgerichtsräte Lahusen und Reuter. Ich habe dort viel gelernt. Gruner war ein vorzüglicher Jurist mit einem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, der die Verhandlungen behutsam, aber doch bestimmt leitete. An einen Fall erinnere ich mich noch gut. Ein Bremer Kaufmann, der damals etwa vierzig Jahre als war, focht durch eine Statusklage die Ehelichkeit seiner Geburt an. Mit diesem ungewöhnlichen Schritt sollten für den Kläger die negativen Folgen der Nürnberger Rassengesetze von 1935 vermieden werden, durch die Juden und „Halbjuden" diskriminiert wurden. Die Schwierigkeit bestand darin, daß seine Mutter und deren jüdischer Ehemann tot waren und der angebliche Erzeuger des Klägers unbekannt war. Als einziges Beweismittel bot der Kläger das Zeugnis einer Freundin seiner Mutter an, einer alten Dame, die auf uns einen vorzüglichen Eindrack machte und die unter Eid bekundete, daß ihr die Mutter des Klägers, die Nichtjüdin war, während ihrer Schwangerschaft erzählt habe, das Kind, welches sie erwarte, stamme nicht von ihrem Mann, sondern von einem Geliebten, dessen Namen sie allerdings nicht genannt habe. Sie, die Zeugin, habe dieses ihr anvertraute Geheimnis jahrzehntelang für sich behalten, aber es jetzt, angesichts der großen Bedeutung für den Kläger, diesem mitgeteilt. Nach langer, sehr kontroverser Beratung gab die Kammer der Klage 75
statt, was zur Folge hatte, daß der Kläger nun nicht mehr als „Halbjude" galt, eine für ihn und seine Zukunft entscheidende, positive Statusveränderung. Ich habe den Mut der drei Richter damals bewundert. Die Beweislage war äußerst schwach, aber der Wille, dem Kläger zu helfen, siegte. Auch der überstimmte Richter unterzeichnete das Urteil. Ich meine, daß dieser Fall der bremischen Justiz während der Zeit des Nationalsozialismus zur Ehre gereicht und erwähnt werden sollte, wenn die damalige Justiz pauschal verurteilt wird. Alle Referendare beim Landgericht Bremen gehörten einer Arbeitsgemeinschaft an, die der Landgerichtsrat Dr. Hinrichs, gleichfalls ein ausgezeichneter Jurist, leitete. Es war eine sehr lebendige Veranstaltung. Wir diskutierten Fälle, die bei den bremischen Gerichten anhängig gewesen waren, schrieben Klausuren und machten sogar mehrere Reisen, u. a. nach Danzig und Marienwerder, wo ich zwei Jahre vorher als Student gewesen war. Wir kamen uns menschlich nahe. Meine alten Freunde, Hinni Carl und Werner Papendieck, gehörten zu der gleichen Arbeitsgemeinschaft wie ich, dazu der lebendige und einfallsreiche Georg Lemke, später Rechtsanwalt in Bremen, mit dem wir uns befreundeten. Nennen möchte ich auch Paul Garbade, Sohn eines Bauern aus Hastedt, den Werner Papendieck wegen seiner hünenhaften Gestalt „Schrank" nannte. Auch er wurde ein guter Freund von uns. Eines Tages kam Garbade eine halbe Stunde zu spät in die Arbeitsgemeinschaft. Offensichtlich betrunken, pöbeUe er Dr. Hinrichs an und drohte, ihm gegenüber handgreiflich zu werden. Hinrichs forderte ihn auf, den Raum sofort zu verlassen, was er schließlich auch tat. Dann bat Hinrichs uns, wir möchten jeder sofort eine schriftliche Darstellung des Vorfalls geben. Es sei eine emste Sache, die er keineswegs auf sich beruhen lassen könne. Er brauche unsere Erklärungen als Beweis für das, was vorgefallen war. Da saßen wir nun und drucksten an der uns gestellten Aufgabe herum. Schließlich meldete ich mich und sagte, was wir gesehen hätten, sei so unglaublich und so untypisch für den an sich gutartigen Garbade, daß ich mir aus der ganzen Sache keinen Vers machen könnte. Ich möchte die erbetene Darstellung nicht geben, ohne zunächst mit Garbade zu sprechen, der uns allen eine Erklärung für das Vorgefallene schuldig sei. Mehrere andere Referendare stimmten mir zu. Da Hinrichs auf seinem Standpunkt beharrte, kam es nun zu einer Kontroverse zwischen ihm und uns, bis er schließlich einlenkte. Er sagte, die Sache sei zwischen ihm und Garbade verabredet worden. Zweck der Übung sollte es sein zu zeigen, wie verschieden die Aussagen von Zeugen, die den gleichen Vorgang gesehen haben, ausfallen. Garbade würde selbstverständlich nichts passieren. Darauf schrieb jeder von uns nieder, was wir gesehen hatten, und es war in der Tat erstaunlich, wie unterschiedlich unsere Darstellungen ausfielen. — Garbade ist später im Kriege gefallen.
76
Politíscher Druck Während meiner Ausbildung am Landgericht in Bremen bestellte mich eines Tages der Landgerichtspräsident, der als entschiedener Nationalsozialist galt, zu sich und forderte mich auf, einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP zu stellen. Die Partei war gerade für Neuaufnahmen geöffnet worden. Er führte das Gespräch zunächst konziliant, indem er sagte, die jungen Rechtswahrer müßten sich mit der Partei, die den Staat trage, identifizieren, nur so sei auf die Dauer eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Partei und Justiz möglich. Als ich sagte, ich müßte mir das nochmal überlegen, wurde er deutlicher. Er wisse, daß ich als Referendar einen Unterhaltszuschuß beziehe, das aber setze voraus, daß ich mich auch politisch betätige. Ja, er ging so weit zu sagen, daß, wenn ich jetzt den Beitritt ablehnte, meine Zulassung zum Assessorexamen fraglich sein würde. In ähnlicher Weise hat er damals auch alle anderen Referendare bearbeitet. Ich besprach die Sache mit meinen Freunden, und wir sahen alle keinen Ausweg aus der Zwangslage, in die uns der Landgerichtspräsident gebracht hatte. Auch meine Mutter riet dazu, den verhaßten Schritt zu tun, wenn, wie es jetzt den Anschein hatte, meine ganze berufliche Zukunft davon abhing. So stellte ich den Antrag, aber nicht in Bremen, sondern in Hamburg, wo ich seit meiner Studienzeit noch polizeilich gemeldet war. Ich entging, so überlegte ich, in Hamburg der Kontrolle der bremischen Justiz und ihrem ziemlich fanatischen Präsidenten. Ich tat noch ein weiteres, indem ich die Unterlagen über mein Wehrverhältnis, die die Hamburger Partei angefordert hatte, erst mit Verspätung, nämlich erst Anfang 1938 vorlegte. Zu diesem Zeitpunkt war die Mitgliedersperre für Neuaufnahmen in die NSDAP vdeder in Kraft getreten. Das führte dazu, daß mein Aufnahmegesuch von der zuständigen Hamburger Ortsgruppe nicht weitergeleitet vmrde. Auf die Landgerichtsstation folgte eine Ausbildung bei der Staatsanwaltschaft in Bremen, wo wir große Freiheit genossen, und bei der Anwaltschaft. Ich wurde auf meinen Antrag der hochangesehenen Sozietät Dres. Ahlers, Finke, Edzard, Strube und Rosenkranz zugewiesen. Ahlers war einer der bedeutendsten Anwälte Bremens mit einer großen, äußerst interessanten Klientel. Ich habe in dieser Sozietät viel gelernt. Schließlich absolvierte ich die Verwaltungsstation bei der Devisenstelle in Bremen, die der Oberfinanzdirektion angegliedert war, zusammen mit meinem Freund Hinni Carl. Da dessen Vater der Oberfinanzpräsident war, wurden wir sehr zuvorkommend behandelt, saßen in einem fürstlichen Sitzungszimmer im Haus des Reiches, dem früheren Verwaltungsgebäude der Nordwolle, von wo aus die Brüder Lahusen die Geschicke ihres Konzern geleitet hatten. Der Chef der Devisenstelle, Hoffmeister, war ein tüchtiger und sehr freundlicher Mann, umschwärmt von den meisten seiner zahlreichen weiblichen Mitarbeiter. Aber auch Hinni Carl und ich erfreuten uns des Wohlwollens einiger besonders hübscher Damen der Devisenstelle. 77
MiUtärübung und
Referendarlager
Im Jahre 1938 unterbrach ich meine Referendarausbildung für zwei Monate, um eine Übung bei dem Flakregiment 26 in Bremen-Grohn zu absolvieren. Mein Freund Heinrich Maas hatte mich auf diese Möglichkeit hingewiesen. Er selbst hatte sich zu einer solchen Übung freiwillig gemeldet und fand die Ausbildung an den komplizierten technischen Geräten der Flakartillerie interessant. Ich zweifelte, ob ich als wehrpflichtiger Jahrgang, während ich noch von der Ableistung des Wehrdienstes im Hinblick auf meine Ausbildung zurückgestellt war, eine Übung ableisten konnte, aber es kam auf einen Versuch an. Ich wurde angenommen und zog als Rekrut in die Flakkaseme in Bremen-Grohn ein. Die Grundausbildung war hart. Lange Märsche, auch Gepäckmärsche und Dauerlauf über drei und fünf Kilometer gehörten dazu. Aber — und das war entscheidend — die Ausbildung war niemals schikanös. Auf gesundheitlich schwache Soldaten, zu denen ich zum Glück nicht gehörte, wurde Rücksicht genommen. Mir und meinen Kameraden machte das körperliche Training Freude. Ich habe deswegen später, als in der Bundesrepublik Deutschland 1956 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt v^oirde, immer wieder betont, wie notwendig es sei, den Soldaten während seiner Ausbildung auch körperUch zu fordern. Das schlimmste sei der sogenannte Gammeldienst. Die Einheit, zu der ich gehörte, war eine schwere 6,6 cm Flakbatterie. Durch ein optisches Entfemungsmeßgerät wmrde Entfernung und Richtung des Zielflugzeuges ermittelt, ein Rechner verarbeitete die Eingangsdaten und errechnete daraus den Punkt, wo die Geschosse der Batterie, unter Berücksichtigung ihrer Flugzeit und Fluggeschwindigkeit, mit dem Flugziel zusammentreffen mußten, freilich unter der Voraussetzung, daß das Flugziel, nach dem Abschuß der Flakgranaten, seine Richtung und Geschwindigkeit nicht änderte. Der Zielpunkt lag häufig mehrere Kilometer vor dem Punkt, an dem sich das Zielflugzeug im Augenblick des Abschusses der Flakgeschütze befand. Die errechneten Daten wurden an die Geschütze durchgegeben. Dort stellten die Richtkanoniere sie von Hand ein, auf das Kommando „Feuer" wairden alle vier Geschütze gleichzeitig abgefeuert. Unter den Bedingungen des Jahres 1938 hatte dieses Verfahren eine Erfolgschance, wie wir bei einem Übungsschießen an der Ostsee feststellen konnten. Später, als die gegnerischen Bombenflugzeuge immer schneller wurden und in immer größeren Höhen flogen, sank die Treffgenauigkeit der schweren Flak erheblich. Ich bewahre an diese zwei Monate in Bremen-Grohn in persönlicher Hinsicht eine gute Erinnerung. Unser Batteriechef war ein ruhiger, schon etwas älterer, reaktivierter Hauptmann. Der Spieß, Hauptwachtmeister Anton Severin, die Mutter der Batterie, wie er genannt wurde, war stets um unser Wohl bemüht. Die acht Kameraden, mit denen ich auf einer Stube zusammenlag, waren gute Kerle. Die Gespräche drehten sich natürlich um Mädchen. Nach jedem Wochenende hörten wir tolle Berichte über das Erlebte — wahrscheinlich waren sie stark übertrieben. 78
Großen Eindruck machte mir damals der Batteriechef einer anderen Batterie des gleichen Regiments, Hauptmann Ullrich. Er war schon etwas älter, aber ein vorbildlicher Truppenführer. Bei den Dauerläufen über fünf Kilometer setzte er sich an die Spitze des Feldes und bestimmte das Tempo. Meine Referendarausbildung schloß ab mit dem Besuch des Referendarlagers in Jüterbog bei Berlin im Sommer 1939. Ursprünglich, d. h. nach 1933, sollte die Ausbildung in diesem Lager vor allem der кофегИсЬеп Ertüchtigung der Referendare und ihrer Beeinflussung mit nationalsozialistischem Gedankengut dienen. Die Lehrgangsteilnehmer waren damals streng kaserniert, trugen Uniform und wurden in primitiver Weise von ihren Ausbildern geschliffen und schikaniert. Dagegen hatte sich, gleich nach 1933, ein beachtlicher, ja bewundernswerter Geist des Widerstandes entwickelt. Es wurde erzählt, daß die Referendare, nach Beendigung des täglichen Dienstes, am Lagerzaun gestanden und den vorübergehenden Bürgern zugerufen hätten, „gebt uns Brot" oder „sind die Nazis noch am Ruder"? Eines Nachts sei mitten auf dem Exerzierplatz des Lagers ein Galgen errichtet worden, an dem eine Puppe mit dem Namen des Kommandanten gehangen habe. Strafmaßnahmen, die daraufhin ergriffen wurden, verschärften den Geist des Widerstandes noch. Als eine Abordnung des Lagers beim Juristentag in Leipzig in Uniform an dem Reichsjuristenführer Hans Frank vorbeimarschieren mußte, riefen sie in Sprechchören: „Wir sind unschuldig, man lasse uns Weib und Kind!" In meiner Zeit hatte sich die Lage entscheidend geändert. Die Schikanen hatten aufgehört. Die körperliche Ertüchtigung bestand im wesentlichen aus Frühsport. Es wurden Vorlesungen über die verschiedensten Themen gehalten, mit einem mehr oder weniger starken nationalsoziaUstischen Einschlag. Freilich waren wir überzeugt, daß in unseren Schlafsälen Mikrophone eingebaut waren und unsere Gespräche abgehört wnrden. Eines Abends fragte mich ein Kamerad von meiner Stube, ob ich mit ihm einen kleinen Spaziergang machen würde. Ich willigte ein, und viár gingen nach Einbruch der Dunkelheit durch ein Loch im Zaun in einen nahe gelegenen Wald. Dort trafen wir auf zehn oder zwölf andere Lehrgangsteilnehmer. Einer von ihnen erklärte uns, daß seit der Errichtung des Lagers sich in jedem Lehrgang eine kleine Gruppe von Lagerinsassen gebUdet habe, die zum Widerstand gegen das Lagerreglement entschlossen waren. Diese Tradition habe sich über die Jahre hinweg erhalten. Die Neuankömmlinge, zu denen auch ich gehörte, wurden gefragt, ob sie der Widerstandsgruppe beitreten wollten. Als wir das bejahten, mußten wir uns feieriich verpfHchten, die Regeln des Lagers, wo immer dies mögHch war, zu mißachten. Dann wurde jedem von uns mit einem Messer eine kleine Wunde in einem Finger beigebracht. Das hervortretende Blut sollte die feierliche Verpflichtimg bekräftigen. Ich muß sagen, daß ich das Ganze mehr als einen Ulk ansah, denn von Unterdrückung und Schikane konnte zum damaligen Zeitpunkt kaum noch die Rede sein. Aber ich freute mich doch, daß ich zur Teilnahme an dieser Gruppe aufgefordert worden war. Und vor allem blickte ich mit großer Hochachtimg auf die Kameraden, die zu Anfang, nach 1933, diese Widerstandsgruppe ins Leben gerufen hatten, zu einer Zeit, als dies sicher mit einem großen Risiko verbunden war. 79
Kriegsbeginn und Assessorexamen Während meines Lehrgangs in Jüterbog spitzte sich die internationale Lage dramatisch zu. In einer Nacht, Ende August 1939, erschien in kurzen Abständen der Wachhabende auf den einzelnen Stuben, weckte einen der schlafenden Kameraden und sagte: „Kamerad X, sofort aufstehen, für Sie liegt ein Einberufungsbefehl der Wehrmacht vor". Mit kurzem Händedruck verabschiedete sich einer nach dem anderen, so daß am nächsten Morgen nur noch knapp die Hälfte des Lehrgangs übrig war. In den Morgenstunden erhielt auch ich einen Einberufungsbefehl. Die verbleibenden Lehrgangsteilnehmer versammelten sich auf dem Exerzieiplatz. Der Leiter des Lehrgangs erklärte den Lehrgang für beendet und entließ uns mit guten Wünschen für die Zukunft. Nach mancherlei Irrfahrten erreichte ich die Einheit, der ich schließlich zugeteilt wurde, nämlich die Flakbatterie 2/407; sie lag in der Nähe von Düsseldorf. Dort vmrde eines Tages bekannt, daß Gerichtsreferendare, die mindestens zwei Drittel ihrer Ausbildung absolviert hatten, zu einem verkürzten Assessorexamen von der Truppe beurlaubt werden konnten. Ich meldete mich sofort beim Oberlandesgericht Hamburg und wurde von dort zur Ablegung der Großen Juristischen Staatsprüfung am 12. September 1939 einberufen. Im Zuge nach Hamburg stieg Hinni Carl zu, und so machten wir auch noch das Assessorexamen gemeinsam, nachdem wir zwölf Jahre die gleiche Schulbank gedrückt hatten, zusammen konfirmiert worden waren, lange Zeit zusammen studiert, das Referendarexamen zusammen bestanden und Teile der Referendarausbildung gemeinsam absolviert hatten. Ich bestand die große juristische Staatsprüfung mit „lobenswert". Es war ein verkürztes Examen, ohne Hausarbeit, das nur aus Klausuren und einer mündlichen Prüfung bestand. Nach Abschluß der Prüfung ließ mich der damalige Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, Dr. Gurt Rothenberger, zu sich rufen und legte mir nahe, in den Staatsdienst als Richter oder Staatsanwalt einzutreten. Er machte mir Avancen und sagte, daß ich in der Justiz, aufgrund meiner Examen, eine große Laufbahn vor mir haben würde. Außerdem könnte ich vielleicht von der Wehrmacht freigestellt werden. Aber ich lehnte sofort ab. Ich sagte, ich möchte unabhängig sein und deutete an, daß nach meiner Meinung, Richter und Staatsanwälte Zwängen ausgesetzt seien, die ich nicht auf mich nehmen wollte. Ich bin sicher, daß Rothenberger verstand, was ich meinte, daß ich nämlich von politischen Zwängen sprach. Er insistierte nicht weiter und wünschte mir Glück. Rothenberger, der langjähriges Mitglied der NSDAP war, ist später Staatssekretär im Reichsjustizministerium geworden. Gegen ihn wurde nach dem Kriege ein Verfahren eingeleitet. Er versuchte sich das Leben zu nehmen. Ich kann über sein Wirken während der NS-Zeit aus eigener Kenntnis sonst nichts sagen, aber in dem Gespräch im September 1939 trat er mir als fairer Partner gegenüber.
80
3. Soldat
Flugmelder und Offizier bei der Flak Mein Weg zu der ersten Einheit, der ich im Kriege zugeteih wurde, der 2. Batterie der Reserve-Flakabteilung 407 war lang und mühsam. Einberufen worden war ich zur Flakabteilung 262, bei der ich im Frieden gedient hatte, nach Bremen-Grohn. Aber dort traf ich, aus dem Referendarlager in Jüterbog kommend, erst ein, als die Abteilung schon ausgerückt war. So wurde ich weitergeleitet, zunächst nach Münster in Westfalen, dann nach Iserlohn und schließlich nach Düsseldorf-Volmerswerth, wo ich zur 2/407 stieß. Ich erhielt dort die Uniform eines Kanoniers, wurde nach ärztlicher Untersuchung, da ich besonders gute Augen hatte, als Flugmelder, neben dem erhöht stehenden E-Meßgerät, eingesetzt. Die 2/407 war eine 10,5 cm Flakbatterie, hatte also ein größeres Kaliber als die 8,8 cm Batterie, an der ich ausgebildet war, arbeitete aber im wesentUchen nach den gleichen Prinzipien. Ich blieb bei dieser Batterie bis zum 2. Juni 1940; verbrachte also in Volmerswerth den ersten, besonders kalten Kriegswinter. Unzählige Male wurde bei Tag und Nacht „Fliegeralarm" kommandiert, weil sich gegnerische Flugzeuge näherten, aber nur selten kamen sie in die Reichweite unserer Geschütze. Chef der Batterie war Hauptmann Dr. Walter Grösser, im Zivilberuf Professor der Physik an der Technischen Hochschule in Aachen, der natürlich die komplizierte Arbeitsweise der schweren Flak theoretisch und praktisch genauestens beherrschte, ein Chef, der seine Soldaten mit väterlichem Wohlwollen behandelte und allgemein sehr beliebt war. Auf unserer Bude lagen wir zu sechst. Mit einigen guten Kameraden blieb ich lange, auch noch nach meinem Weggang, freundschaftlich verbunden, so mit Alfred Rohr aus Düsseldorf und Lauterbach aus Neuss. Lebhaft erinnere ich mich noch an die kalten Wintemächte 1939/40. Wir lagen in selbstgebauten Baracken, die gegen Kälte und Wind schlecht isoliert waren. Einmal feierten vdr mit viel Alkohol in der Kantine und frotzelten den jungen Leutnant unserer Batterie an. Er forderte uns in gutmütiger Form auf, damit aufzuhören und drohte mir, er würde mir sonst eine schwere Kaffeekanne, die er in der Hand hielt, an den Kopf werfen. Ich: „Das riskieren Sie doch nicht." Er: „Da kennen Sie mich schlecht!" Ein Wort gab das andere und plötzlich schleuderte er die Kanne in Richtung auf mich. Sie zerschellte an der Wand wenige Zentimeter über meinem Kopf. Ich war von Scherben übersät. Es war klar, daß er das nicht tun durfte, aber auch ich, der ich an Lebensjahren erheblich älter war, hatte mich falsch benommen. Wir kamen überein, daß die Kanne durch ein Versehen kaputtgegangen war. Alle Anwesenden stimmten zu. Während ich in Düsseldorf lag, bemühte ich mich um eine Versetzung zu meiner eigentlichen StammabteUung 262, deren Einheiten in und um Bremen eingesetzt waren. Am 3. Juli 1940 wurde ich, inzwischen zum Gefreiten befördert, zur 1. Batterie dieser Abteilung versetzt. Wir lagen zunächst in der Hemmstraße, später in Bremen-Vahr. Batteriechef war Oberleutnant Mack, viel schneidiger als Grösser, aber trotz seines etwas martialischen Auftretens im Grunde 81
auch ein guter Kerl. Unter den Kameraden jener Zeit erinnere ich Peter Lahnstein, einen überaus geistvollen, gebildeten Freund, der später eine Biographie über Friedrich Schiller schrieb"), Karl-Otto Lorenz, Inhaber einer Handelsfirma in Bielefeld, ein hervorragender Sportler, der später erkrankte und aus dem Grunde aus der Wehrmacht ausschied, Alfred Seebeck, ein Bauer, der von einem großen Hof in Meyenburg bei Bremen stammte, ein vierschrötiger Typ mit großen körperlichen Kräften ausgestattet, aber umgänglich und freundhch. Sie alle w^aren gute Kameraden. Bei der 1/262 wurde ich im Dezember 1940 Unteroffizier und im Juni 1941 zum Wachtmeister der Reserve befördert. Vorher, im Frühjahr 1941, meldete mich die Batterie zu einem Offizierslehrgang in Amersfoort in Holland. Ich nahm an dem Lehrgang teil, traf hier zu meiner Freude meinen alten Freund Heinrich Maas wieder und freundete mich mit einem Hamburger, Smidt, an, einem Nachkommen des großen bremischen Bürgermeisters. In Amersfoort v«irden wir zu Bekämpfung eines Brandes eingesetzt, der in einem nahe gelegenen Wald, wo sich Munitionsdepots der Wehrmacht befanden, ausgebrochen war. Wie es hieß, war der Brand von holländischen Widerstandskämpfern gelegt worden. Kurz vor Ende des Lehrgangs wTirden einige Offiziersanwärter, darunter auch ich, zur Teilnahme an einer Großkundgebung im Sportpalast in Berlin befohlen. Hier war die ganze Prominenz des Dritten Reiches versammeU, dazu schätzungsweise tausend Offiziersanwärter aller Waffengattungen. Hitler hielt eine Ansprache, aus der ich einen Satz erinnere. Er sagte, wir würden uns in Kürze mit einem weiteren großen Gegner auseinandersetzen müssen, aber dieser Kampf sei notwendig und werde den Krieg entscheiden. Uns war klar, daß damit die Sowjetunion gemeint war, und v«r kehrten in bedrückter Stimmung nach Amersfoort und anschließend zu unseren Truppenteilen zurück. Am 1. März 1942 wurde ich zum Leutnant befördert und wenige Tage später zum Stab der Flakabteilung 262 versetzt, die in der Schule in Bremen-Hom untergebracht war. Kommandeur war Major Höfter, ein Münchener Rechtsanwalt, der große Autorität besaß, Adjutant Rudolf Hirschmann, der ein guter Freund von mir wurde und es bis heute geblieben ist. Er war ein tapferer Soldat, meldete sich freiwillig zum Einsatz an die Ostfront, verlor im Kriege ein Bein, ließ aber niemals den Mut sinken. Sein Nachfolger wurde Oberleutnant Busch, ein gebürtiger Bremer. Eine eindrucksvolle Persönlichkeit war auch der Truppenarzt, Dr. Meyer, der vor dem Kriege eine sehr große Praxis in Bremen-Burg betrieben hatte. Ich wurde als Ordonanzoffizier eingesetzt; mir unterstand das Stabspersonal, auch die etwa zwanzig Flakhelferinnen, die bei uns als Telefonistinnen eingesetzt waren - durchweg sehr sympathische und pflichtbewrußte junge Mädchen. Während meiner einjährigen Zugehörigkeit zum Stab 262 setzten die schweren Luftangriffe auf Bremen ein. Unsere Abteilung war oft tage- und
") Peter Lahnstein, Schillers Leben, München 1981.
82
nächtelang im Einsatz. Der Kommandeur leitete das Gefecht vom Dach der Horner Schule, wo wir nahezu ungeschützt den Anfing der britischen Luftgeschwader verfolgten und unsere Erkenntnisse an die uns unterstellten Batterien weiterleiteten. Mehrere Bomben gingen in unserer Nähe nieder. Unter den Angehörigen unserer Abteilung gab es Tote und Verletzte. Ich erhielt für mein Verhalten während dieser Angriffe das Eiserne Kreuz II. Klasse, ohne daß ich mir ein anderes Verdienst zurechnen kann, als daß ich auf dem Dach der Homer Schule während der Gefechte meine Pflicht tat, nämlich die Batterien über die Feindlage laufend zu unterrichten - nicht mehr und nicht weniger als die anderen auch. Inzwischen war für die schwere Flak ein neues Gerät entwickelt worden, das nach dem Radar-Prinzip die gegnerischen Flugzeuge ortete und mit Hilfe eines Rechengerätes die Zielvorgaben für die Geschütze ermittelte, das Funkmeßgerät. Bei jeder schweren Flakbatterie solUe ein solches Gerät eingesetzt werden. Um die AusbUdung der Mannschaften sicherzustellen, wmrde ich an die Flakartillerieschule (FAS) III in Berlin-Heiligensee, die Spezialschule für Funkmeßgeräte, kommandiert, wo ich in einem dreiwöchigen Lehrgang in das Gerät eingewiesen wurde. Dieser Lehrgang hatte für mich einschneidende Folgen, denn der Kommandeur der Lehrgangsgruppe der FAS III, Major Willy Drescher, forderte mich kurz danach als Ausbildungsoffizier für die Schule an; eine Anforderung, der stattgegeben werden mußte. Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist, daß ich während des Lehrgangs einmal in Gegenwart von Drescher die Wirkungsweise des Funkmeßgerätes erklären mußte und dies notgedrungen, da ich von Physik wenig verstand, in einer simplen, aber dafür allgemein verständlichen Weise tat. Aus der Zeit, in der ich in Bremen eingesetzt war, muß ich noch über ein erfreuliches Ereignis berichten: Die Hochzeit meines Freundes Ludwig Helmken am 14. Juni 1941 mit Meta Weiß, der Tochter eines angesehenen und wohlhabenden Bremer Kaufmanns und dazu noch ein sehr hübsches Mädchen. Es war eine Feier wie in Friedenszeiten. Acht Monate später wurde fast die ganze Familie Weiß bei einem Bombenangriff auf Bremen ausgelöscht. So nahe lagen Glück und Unglück damals beieinander. Am 15. Juli 1943 trat ich meinen Dienst bei der FAS III an. Und damit begann für mich der letzte, sehr bedeutungsvolle Abschnitt des Krieges. Ich gewann an der Schule eine große Anzahl lebenslanger guter Freunde, mit denen ich bis heute in regelmäßigen Abständen zusammentreffe. Hier heiratete ich im Dezember 1944 und konnte, nachdem im April 1945 die Schule aufgelöst worden war, von dort zu meiner alten Stammeinheit nach Bremen zurückkehren, wurde hier entlassen und entging der Kriegsgefangenschaft. Wenn ich das alles bedenke, muß ich sagen, daß mich ein gütiges Geschick in den zwei Jahren von 1943 bis 1945, in denen Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, vor einem ähnhchen Schicksal bewahrt hat. Die FAS III nahm nicht an den Kämpfen um und in Berlin teil. Weder während der schweren Luftangriffe, die die Stadt pausenlos trafen, noch im April 83
1945 an den Erdkämpfen; denn vorher, im Februar 1945, wurde die Schule nach Schongau im Allgäu verlegt. Damit wurde der allgemeine Befehl, daß in der Phase des Endkampfes keine Einheit aus Berlin abgezogen werden durfte, durchbrochen. Warum, weiß ich nicht. Es wurde damals gesagt, die oberste Führung wollte die wertvolle, hochentwickelte technische Substanz der Schule bei etwaigen Waffenstillstandsverhandlungen als Trumpfkarte einsetzen. Eine ziemlich unwahrscheinliche Perspektive. An der Schule war ich für den gesamten Ausbildungsbetrieb verantwortlich. Im übrigen hatte ich große Freiheiten. Ich bin während dieser Zeit mehrfach in die Oper gegangen, wo ich Heinrich Schlusnus hörte, und habe mehrere Theateraufführungen gesehen. Unvergeßlich ist mir „Die Braut von Messina" im SchUlertheater mit Horst Kaspar, Will Quadflieg und Antje Weisgerber, eines der stärksten Theatererlebnisse meines Lebens. Vielleicht das großartigste Ensemble, welches in diesem Jahrhundert die „Braut von Messina" gespielt hat. Unter den Vorgesetzten und Kameraden, mit denen ich mich befreundete, nenne ich vor allem Major Willy Drescher und seinen Nachfolger, Major Kurt Zehr. Drescher war der geistige Vater der Lehrgangsgruppe. Er hatte alle Offiziere, die dort ihren Dienst taten, selbst ausgesucht und dabei eine hervorragende Menschenkenntnis bevdesen. Oberleutnant Willy Andreas Herdey v^oirde mein engster Freund an der FAS III. Er war Österreicher, überlebte den Krieg, aber starb einige Jahre danach. Weitere Freunde waren der Adjutant der Lehrgangsgruppe, Oberleutnant Bernhard Flach, Oberleutnant Leo Wemer Wolski, Oberleutnant Anton Meder, Oberleutnant Richard Leute, ein hoch dekorierter Offizier, der den Afrika-Feldzug mitgemacht hatte, Leutnant Erich Merkel, Leutnant Heinz Krägelo, Leutnant Friedrich Abegg, Oberleutnant Carl Knapstein. Die meisten waren hoch befähigte Physiker, neben denen ich, als Jurist, eine ziemlich unbedarfte Rolle spielte. Dennoch gelang es mir immer wieder, das, was ich von der Theorie der Funkmeßgeräte verstand, in eine anspruchslose, für jeden verständliche Sprache umzusetzen. Die Schule spielte eine besondere Rolle nach dem Luftangriff auf Hamburg im Sommer 1943. Damals störten die Engländer die Flakabwehr, indem sie Staniolstreifen abwarfen, an denen die Strahlen der Funkmeßgeräte reflektiert woirden, so daß auf dem Schirm der Geräte nur ein Flimmern zu sehen war. Hauptmann Hoffmann, ein begabter Ingenieur der Versuchsgruppe der FAS III, gelang es, eine Methode zu entwickeln, mit deren Hilfe das Funkmeßgerät stehende Ziele, also die Folien, zu unterscheiden lernte von Zielen, die sich bewegten, also den Flugzeugen. Die letzteren waren in einer lausförmigen Gestalt auf dem Radarschirm zu sehen, daher nannte man dieses Verfahren Würzlaus. Im Mai 1943 bekam ich Urlaub, um an der Hochzeit meines Vetters, Klaus Numsen, mit Hildegard Kajatz in Roggentin bei Rostock teilzunehmen. Es war das letzte große Fest, an dem ich vor Ende des Krieges teilgenommen habe. Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir in vierzig Kutschen zur Kirche und tanzten anschließend bis zum Morgengrauen. Mein Vetter Klaus Numsen ist später in Rußland gefallen. 84
So wurden wir zwischen Freude und Leid hin- und hergerissen. Ich finde nicht, daß wir gegenüber dem Leid abstumpften, aber wir heßen uns davon auch nicht erdrücken und genossen die heiteren Stunden, die das Leben uns bescherte. Heirat, Anwalt beim Reichskriegsgericht
und Kriegsende
Bei der Hochzeit meines aUen Freundes Heinrich Maas mit Anette Prior im Sommer 1943 in Bielefeld, lernte ich die jüngere Schwester der Braut, Veronica Prior, kennen. Wir heirateten ein Jahr später in Berlin. Die standesamtliche Urkunde bestätigt, daß der Leutnant und Dr. der Rechte, Karl Walter Klaus Carstens und die Schwestemhelferin Marie Veronica Margarethe Prior am 23. Dezember 1944 vor dem Standesamt in Berlin-Tegel die Ehe geschlossen haben. Die kirchliche Trauung fand, da die evangelische Kirche in Berlin-Heiligensee zerstört war, im Offiziersheim der FAS III statt. Anschließend bekam ich eine Woche Urlaub, den wir im Riesengebirge, in Oberschreiberhau, verbrachten und wo man bei ruhigem Wetter schon den Geschützdonner der Front hören konnte. Als Veronica und ich in Berlin voneinander Abschied nahmen, hatte gerade wieder ein besonders schwerer Luftangriff stattgefunden. Wir vmßten nicht, ob wir uns in diesem Leben noch einmal Wiedersehen würden. Ich betrieb von Berlin aus meine Ernennung zum Rechtsanwalt, sprach dieserhalb bei dem zuständigen Referenten im Reichsjustizministerium vor und erreichte, daß mir am 7. Juni 1944 die Stellung eines Rechtsanwalts ohne Zulassung bei einem bestimmten Gericht verliehen wrurde. Das bedeutete, daß ich den Titel eines Rechtsanwalts führen konnte, und das war für mich wichtig, weil ich mehrfach in Verbindung mit dem mir befreundeten Rechtsanwalt Dr. Friedrich Lucht als Verteidiger vor dem Reichskriegsgericht Berlin auftrat. Noch heute habe ich daran eine beklemmende Erinnerung. Lucht war der Bruder meiner Tante Sophia Clausen. Er war ein engagierter Gegner des Nationalsozialismus ebenso wie seine Frau Hilde, die bis 1933 Mitarbeiterin des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun gewesen war. Lucht nahm die Interessen jüdischer Mitbürger wahr, die nach Amerika emigriert waren und verteidigte häufig Angeklagte vor dem Reichskriegsgericht. In diesen Prozessen ging es immer um Leben oder Tod. Die Taktik, die man als Verteidiger anwenden konnte und durfte, war sehr begrenzt. In einem Fall verteidigte ich einen jungen Soldaten, der wegen Zersetzung der Wehrkraft und wegen homosexuellen Verhahens angeklagt war. Er hatte gesagt, der Krieg sei verloren. Ich plädierte auf verminderte Zurechnungsfähigkeit, die von einem Arzt bestätigt wurde. Mein Mandant wurde darauf nicht zum Tode, sondern zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt; aber damit war sein Überleben nicht gesichert. Die Verurteilten wurden in aller Regel an ein Strafbatallion versetzt, wo die meisten bei äußerst gefährlichen Einsätzen ihr Leben verloren. Es war eine schreckliche Situation, in der die schaurigen Züge der Zeit deutlich hervortraten. In Berlin kam ich auch häufig mit Franz Heinrich Ulrich zusammen. Er war ebenso vñe ich Schüler des Alten Gymnasiums in Bremen gewesen, einige Jahre 85
älter als ich, hatte Jura studiert und war dann zur Deutschen Bank gegangen. Im Frankreich-Feldzug 1940 wurde er schwer verwundet und hatte, als schon Verblutender, mit Energie und List erreicht, daß ein vorbeifahrender Kradmelder ihn zum nächsten Truppenverbandsplatz brachte - das rettete ihm das Leben. Seitdem war er nicht mehr kriegsverwendungsfähig. Er war ein bedeutender Mann von großer Nüchternheit, ja Kaltblütigkeit, hochintelligent aber auch herzlich zu seinen Freunden. Er erzählte mir von seinem Chef, den er als phänomenal begabt und als eine große, überlegene PersönHchkeit schilderte. So hörte ich zum erstenmal von Hermann J. Abs. Ulrich wurde viele Jahre später Abs' Nachfolger als Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank. Übrigens war Ulrich der einzige meiner Bremer Freunde, der an meiner Hochzeit teilnehmen konnte, die anderen waren alle im Kriege. Ein weiteres Erlebnis aus meiner Berliner Zeit ist mir unvergeßlich. Einer meiner Freunde hatte an einer Feier bei einer Familie in Berlin teilgenommen; es war wohl im Dezember 1944. Dort war auch ein SS-Offizier gewesen, der ziemlich viel getrunken hatte und dann einen Nervenzusammenbruch erlitt. Er fing an zu heulen und erklärte, er könne nicht mehr weiter. Schließlich kam die angestaute Qual aus ihm heraus: Er hatte an Erschießungen von Juden in Rußland mitgewirkt. Die Szenen verfolgten ihn im Traum. Alle Anwesenden waren, so sagte der Freund, so entsetzt gewesen, daß sie sich nach einiger Zeit von der Feier entfernt hätten. Der SS-Offizier hatte auch noch gesagt, er würde erschossen werden, wenn bekannt würde, was er über die Exekutionen gesprochen hätte. Das war das erste Mal, daß ich von der systematischen Ermordung von Juden durch Einheiten der SS hörte, und mich haben diese Berichte, obwohl ich sie nur aus zweiter Hand erfuhr, seitdem nie wieder losgelassen, und natürlich fragte ich mich und werde heute von jungen Leuten gefragt, wie es möghch war, daß wir Soldaten weiterhin unseren Dienst versahen, als ob uns die Verbrechen, von denen wir erfuhren, nichts angingen. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Viele von uns verdrängten wohl das, was sie gehört hatten, aber niemand sah sich in der Lage, etwas Wirksames gegen diese Schreckenstaten zu unternehmen. Der Versuch einer Meuterei hätte mit Sicherheit mit dem eigenen Tod geendet. Um so größer war damals und ist noch heute meine Bevmnderung für die Männer und Frauen, die ihr Leben riskierten, um dem Schreckensregime des Nationalsozialismus ein Ende zu machen. Im Februar 1945, ich habe das schon erwähnt, wurde die FAS III von Berlin nach Schongau im Allgäu verlegt. Übrigens in die gleiche Kaserne, in der damals auch Oberleutnant Franz Josef Strauß bei einer anderen Einheit der Flakartillerie Dienst tat. Wir haben uns aber in jener Zeit noch nicht kennengelemt. Die folgenden Monate sind mir unvergeßlich. Bei gutem Wetter zogen in großer Höhe die amerikanischen Bombengeschwader über Schongau hinweg, um ihre tödliche Ladung auf München, Nürnberg und andere bayerische Städte abzuladen. Die Flakartillerie war mehr oder minder machtlos. Das Ende des Krieges war abzusehen. Immer weniger Lehrgangsteilnehmer trafen an der Flakartillerie-Schule in Schongau ein. Die Verbindung zu den meisten Truppenteilen der Flakartillerie war abgerissen. Herdey und ich überlegten, ob wir, wenn die 86
alliierten Truppen sich in der Nähe von Schongau befänden, den Versuch machen sollten, in die Schweiz zu entkommen. Wir bereiteten diesen Plan anhand von Karten vor, sahen aber deutlich, daß einem solchen Unternehmen große Schwierigkeiten entgegenstanden, vor allem für mich, der ich kein geübter Bergsteiger war. Es war außerordentlich zweifelhaft, ob die Schweiz uns als Flüchtlinge aufnehmen würde. Im April 1945 wurde die Schule schheßlich aufgelöst. Wir bekamen Marschbefehle zu den Einheiten, von denen v«r ursprünglich gekommen waren; ich also zur 8. Flakdivision in Bremen. Am letzten Abend vor meiner Abreise versammelten die Offiziere der Lehrgangsgruppe der FAS III sich noch einmal im Kasino der Kaserne von Schongau. Ich hielt dort eine Rede, in der ich sagte, für uns würden schwere Zeiten anbrechen, man würde uns in der ganzen Welt für schreckliche Dinge verantwortlich machen, die sich in den letzten Jahren ereignet hätten. Aber ich glaubte, daß uns ein wertvoller Besitz aus dieser Zeit erhalten bleiben würde; das seien die Kameradschaft und die Freundschaft, die uns miteinander verbunden hätten. Ich schloß mit einem Hoch auf die Kameradschaft. Anschließend baten mich mehrere Freunde, sie möchten den Text meiner Rede schriftlich haben. Ich habe sie dann in den Nachtstunden diktiert und sie ist am nächsten Morgen an alle Mitglieder der Lehrgangsgrappe verteilt worden. Leider ist kein Stück davon erhalten geblieben. So muß ich ihren Inhalt aus dem Gedächtnis wiedergeben. Am nächsten Morgen setzte ich mich in Marsch und reiste über Nürnberg, Berlin, Hamburg nach Bremen. In Berlin verbrachte ich einen unvergeßlichen Tag. Ich ging am Abend in die Oper, die meiner Erinnerung nach in Charlottenburg spielte. Dort wurde „Idomeneo" von Mozart aufgeführt. Bei der Arie „Holder Friede kehre wieder" schluchzte das Publikum. Kurz vorher hatte ich bei einem Besuch in Berlin ein Sinfoniekonzert der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Herbert von Karajan gehört. Die „Pastorale" von Beethoven wurde aufgeführt, auch ihre sanften Klänge standen in einem solchen Kontrast zu der schaurigen Wirklichkeit, die uns in der halb zerstörten, an manchen Stellen noch brennenden Stadt umgab, daß fast allen die Tränen kamen. Ich reiste weiter, teils mit der Bahn, teils mit Transportwagen der Wehrmacht über Hamburg bis nach Glückstadt, da es nicht möglich war, Bremen, welches von den englischen Truppen nahezu eingeschlossen war, direkt zu erreichen. Bei Glückstadt setzten wir mit einer Fähre über die Elbe, wobei wir von englischen Jagdfliegern beschossen wurden. Dann ging es weiter über Bremervörde, Gnarrenburg von Norden nach Bremen herein. Ich erzählte dem Lkw-Fahrer, daß ich Bremer sei, und er fragte, wo ich wohnte. Auf meine Antwort: in der Busestraße, sagte er, da ist alles kaputt, da brauchen Sie gar nicht hinzufahren. Ich ließ mich aber trotzdem bis in die Nähe unseres Hauses fahren und ging von dort das letzte Stück zu Fuß. Viele Häuser waren zerstört, einige brannten, aber unser Haus, Busestraße 67 stand noch. Meine Mutter öffnete mir und Schloß mich in die Arme. Sie war noch ganz benommen von den ständigen Luftangriffen, die die Engländer auf Bremen geflogen hatten. Der Weg in den Luftschutzbunker war ihr zu weit und zu anstrengend. So blieb sie bei Fliegeralarm 87
zu Hause, saß im Kellergeschoß, in dem ein Raum luftschutzmäßig ausgebaut worden war, unter einem massiven Eichentisch und hoffte, daß die Konstruktion halten würde. Einmal fühlte und hörte sie einen ganz nahen Einschlag, sie ging nach oben und sah, daß der Dachstuhl von mehreren Brandbomben getroffen war. Tatkräftig wie sie war, schüttete sie Sand auf die noch kleinen Brände und brachte sie zum Erlöschen. Wäre sie in den offiziellen Luftschutzbunker in der Parkallee gegangen, wäre das Haus abgebrannt. Ich schlief zunächst einmal und meldete mich dann am nächsten Vormittag bei meiner alten Flakabteilung 262 bei Major Höfter. Der Abteilungsstab war inzvwschen von der Homer Schule in einen Luftschutzbunker in Schwachhausen verlegt worden. Dort traf ich meine alten Kameraden in beinahe fröhlicher Stimmung an. Sie hatten die letzten Weinvorräte ausgetrunken, hatten alle Geheimsachen vernichtet und begrüßten mich mit den Worten: „Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Wir erwarten den Befehl, uns nach Bremerhaven zurückzuziehen." Ich erlaubte mir die Bemerkung, daß hinter Bremerhaven die Nordsee anfinge und ein weiterer Rückzug daher nicht möglich sei. Dort würde die Einheit dann in Gefangenschaft gehen. Das war auch ihnen klar, aber sie schickten sich an, den Befehl zu befolgen. Darauf sagte ich, ich bäte, mich nach Hause zu entlassen. Der Krieg sei offenbar verloren. Ich wohnte nur einen Kilometer von dem Bunker entfernt, in dem wir uns befanden. Nach kurzer Beratung stimmte der Kommandeur zu. Der Truppenarzt schrieb mich dienstuntauglich, eine Wiederherstellung der früheren Kriegsbrauchbarkeit sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Daraufhin schrieb Major Höfter mit eigener Hand die Entlassungsverfügung: „Leutnant Carstens [...] ist laut truppenärztlichem Attest wegen akuter кЬфегИсЬег Schwäche dienstunfähig und ins Lazarett einzuweisen. Da keine Möglichkeit zur Aufnahme in ein Lazarett wegen Überfüllung besteht, wird er auf ärztliches Anraten nach Hause beurlaubt und von meiner Dienststelle entlassen." Die Verfügung trägt das Datum vom 25. April 1945. Da das Dienstsiegel der Abteilung bereits vernichtet war, gingen Oberleutnant Busch und ich gemeinsam in das nahe gelegene Postamt, wo die Urkunde in Ermangelung eines Dienstsiegels mit dem Poststempel versehen vioirde. Was Höfter tat, war nicht ohne Risiko. Aber er nahm dieses Risiko auf sich. Ich schulde ihm dafür Dank. Erleichtert woirde die Situation dadurch, daß ich von der Abteilung 262 noch nicht vereinnahmt worden war, so daß also niemand außer dem Kommandeur, dem Truppenarzt und dem Adjutanten eingeweiht zu werden brauchte. Ich nahm mein Fahrrad, fuhr nach Hause, zog mir Zivilkleidung an und wartete das Weitere ab. Am nächsten Tag, dem 26. April 1945, marschierten britische Truppen in unsere Straße ein. Sie durchsuchten jedes Haus nach deutschen Soldaten. Meine Mutter öffnete ihnen und sagte in fließendem Englisch, sie hätte Hitler gehaßt und so wie sie aussah: ausgemergelt, abgemagert, mit großen, dunklen, funkelnden Augen, glaubte man ihr. Ich hatte mich versteckt und bheb unbehelligt. Der Krieg war für mich zu Ende. Kurze Zeit danach war der Krieg auch für Bremen zu Ende. Seit dem 20. April hatten heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Kampfkomman88
danten Generalleutnant Fritz Becker, der den ihm erteilten Durchhaltebefehl, Bremen „unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel und unter bedingungslosem Einsatz der eigenen Person mit d e r . . . unterstellten Besatzung bis zum letzten Blutstropfen und zur letzten Patrone, auch bei völliger Einschließung durch den Feind zu verteidigen und zu halten" ausführen wollte und bremischen Bürgern, die die Stadt vor der völligen Zerstörung retten wollten und die kampflose Übergabe forderten, stattgefunden. Zu ihnen gehörte der Regierende Bürgermeister Dr. Richard Duckwitz, der Polizeipräsident Johannes Schroers, der erwog, Becker zu erschießen, femer der Präses der Handelskammer Karl Bollmeyer, der Becker ebenfalls erschießen wollte, Dr. Jules-Eberhard Noltenius und der Flakkommandant Oberst Emst Müller. Auch eine kommunistische Gruppe, zu der die späteren Senatoren Adolf Ehlers und Hermann Wolters gehörten, bereitete sich darauf vor, das Ende des Kampfes zu erzwingen. In den entscheidenden letzten Stunden übemahm Oberst Müller die Initiative. Er war, ebenso wie Becker, in dem Bunker an der Parkallee, gegenüber der Emmastraße, von britischen Trappen eingeschlossen. Er entschloß sich, einen Parlamentär zu den Engländem zu schicken, der die Kapitulation der Bunkerbesatzung anbot. Becker, Müller und auch alle anderen Soldaten, die im Bunker eingeschlossen waren, gingen in Gefangenschaft. Dies alles spielte sich wenige hundert Meter von unserem Hause in der Busestraße entfemt ab").
4. Nationalsozialismus Während meines Studiums kam ich zum ersten Mal mit nationalsozialistischen Organisationen in Berührang. In meiner Schulzeit hatte ich in einer Weh gelebt, die zu Hitler und seiner Bewegung keine Beziehungen hatte. Meine Mutter haßte ihn, die übrigen Mitglieder meiner Familie, meine Freunde, fast alle meine Mitschüler, meine Lehrer, lehnten ihn ab. In unserer Klasse hatten wohl zwei oder drei Schüler Verbindung zur NSDAP, aber sie behielten das für sich und machten keinen Versuch, die anderen zu beeinflussen, so daß es nach meiner Erinnerang auch niemals zu einer ausführlichen Diskussion über dieses Thema gekommen ist. Meine Freunde und ich beurteilten die Partei nach ihrem geistígen Gehalt, den wir für äußerst schwach ansahen. Jede Art von Antisemitismus lehnten wir ab. Daß diese Partei einmal die Regierung in Deutschland übemehmen würde, zogen wir nicht in Betracht. Allerdings muß ich sagen, daß unser Interesse an polltischen Vorgängen allgemein gering war. Wir lebten in einer anderen Welt, der Welt der Kunst, der Literatur, der Geschichte und der Kultur der Antike. " ) Vgl. hierzu Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. IV, Hamburg 1985, S. 614 ff.
89
Daran änderte sich zunächst auch nicht viel, als ich im Sommer 1933 mein Studium in Frankfurt am Main aufnahm. Aber im Winter 1933/34 bekam ich den eisigen Hauch der neuen Machthaber voll zu spüren. Wir Studenten wurden en bloc in die SA überführt, ohne eigenes Zutun. Über meine Erfahrungen mit der SA habe ich oben berichtet"). Um diesem Zustand ein Ende zu machen, wechsehe ich von da an, wie geschildert, mehrfach die Universität und entging so weiteren Pressionen durch nationalsozialistische Organisationen. Als die allgemeine Wehrpflicht eingeführt v^rurde, beantragte ich meine Entlassung aus der SA, ließ mich aber gleichzeitig von der Wehrmacht zurückstellen. Ich kann auch rückblickend nicht erkennen, wie ich mich diesen Zwängen hätte entziehen können, ohne in einen offenen Konflikt zum nationalsozialistischen Herrschaftsapparat zu treten. Das aber suchte ich zu vermeiden. Ein zweiter schwerer politischer Schlag ereilte meine Mutter und mich 1934, als, wie bereits berichtet, bei einer Haussuchung kompromittierende Schriften, die wir in Verwahrung genommen hatten, und Briefe von mir gefunden wurden"). Der dritte Schlag traf mich im November 1936. Als sogenannter bedürftiger Student erhielt ich von der bremischen Schulbehörde ein staatliches Stipendium. Dieses wurde mir am 12. November 1936 mit folgender Begründung entzogen: „Staatliche Beihilfen dürfen selbstverständlich nur solchen Bewerbern bewilligt werden, die sich in einer Gliederung der Partei einsetzen und auch nach außen hin ihre nationalsozialistische Gesinnung und Haltung dartun. Sie haben im Oktober 1935 Ihre Entlassung aus der SA beantragt mit der Begründung, daß Sie in die Wehrmacht eintreten virürden. Seit der Neugliederung der SA (1. 4. 35) haben Sie in der SA keinen Dienst mehr geleistet und auch sonst nicht zu erkennen gegeben, daß Sie zu weiterem Einsatz bereit gewesen wären. Nachdem Sie bei der Wehrmacht nicht angenommen wurden, haben Sie wiederum nichts getan, um Ihre Dienstwilligkeit in der SA zu beweisen. Der SA-Führer schreibt in seiner Auskunft, er müsse annehmen, daß es Ihnen an dem notwendigen Willen fehle. Dieser Mangel könne auch nicht etwa an Arbeitsüberlastung liegen, denn es seien sehr viele Referendare und Studenten in der SA, die gem und freudig ihren SA-Dienst ausübten." Schwieriger und folgenschwerer war meine weitere Begegnung mit dem nationalsozialistischen Regime während meiner Referendarzeit in Bremen. Auch hier erhielt ich einen Unterhaltszuschuß. Über die Unterredung, in der der dortige Landgerichtspräsident mich zum Eintritt in die NSDAP aufforderte, habe ich ebenfalls schon berichtet''). Ich habe dann wieder mit meinen verschiedenen Wohnsitzen (ich war in Bremen und in Hamburg polizeilich gemeldet) operiert, habe mich in Hamburg " ) Vgl. S. 57. " ) Vgl. Kap. II " ) Vgl. S. 77.
90
S. 43
und Kap. III S. 60 f.
zur NSDAP angemeldet, weil ich dort nicht unter der Kontrolle der bremischen Justiz stand, und habe die von mir geforderten Unterlagen erst nach dem 31. Dezember 1937 eingereicht, das heißt zu einem Zeitpunkt, in dem die Partei für Neuaufnahmen wieder gesperrt war. Dies führte dazu, daß mein Aufnahmeantrag nicht weitergeleitet wurde. In einem Schreiben der NSDAP vom 12. Mai 1939 heißt es: „Eine Aufnahme kann erst bei der kommenden Kontingentierung, das heißt bei einer weiteren Lockerung der Mitgliedersperre erfolgen". Ende 1939 oder Anfang 1940 wurde mein Aufnahmeantrag dann positiv beschieden. Zu diesem Zeitpunkt aber war ich bereits Soldat, und nach den damals geltenden Gesetzen konnten Soldaten nicht MitgUed der Partei sein. Ich habe mich daher in meinem Entnazifizierungsverfahren nach 1945 auf den Standpunkt gestellt, daß ich in Wahrheit nicht Mitglied der NSDAP geworden sei, und bin mit dieser Auffassung auch durchgedrungen. Die Entnazifizierungsbehörde befand, ich sei Anwärter gewesen. Freihch entging ich der Parteimaschine doch nicht. Der Zellenleiter der NSDAP in meinem Wohnbezirk, ein mir im Grunde freundlich gesonnener Mann, der mich seit langem kannte, hatte erfahren, daß ich einen Antrag auf Aufnahme in die Partei gestellt hatte. Er kam eines Tages zu mir und bat mich, anstelle eines Parteigenossen, der weggezogen war, die Beiträge bei den Parteimitgliedern des Blocks, in dem ich wohnte — das waren etwa 15 oder 20 —, einzukassieren. Ich habe das von Ende 1937 bis zum Kriegsausbruch im Herbst 1939 getan, ohne in dieser Zeit selbst Mitglied der NSDAP zu sein. Meine ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus änderte sich dadurch nicht. Im Gegenteil: Mehr und mehr begann ich die Gefährlichkeit des Systems zu erkennen, ohne daß ich allerdings damals eine Vorstellung von den Schreckenstaten, zu denen es später fähig war, gehabt hätte. Am 9. November 1938, dem Tag der sogenannten Reichskristallnacht, war ich in Bremen. Ich lag ebenso wie meine Mutter mit einer schweren Grippe im Bett. Unser Arzt, Dr. Stoevesandt, besuchte uns. Er kam gerade von dem jüdischen Altersheim, dessen Arzt er war und das von der SA angezündet worden war. Er schilderte die erschütternden Szenen, die sich vor dem Haus abgespielt hatten. Die alten Leute hatten zitternd vor Kälte auf der Straße gesessen. Tiefe Empörung sprach aus seinen Worten, und wir teilten seine Empfindungen. Aber es war eine ohnmächtige Empörung; weder er noch wir sahen eine Möglichkeit, etwas anderes zu tun, als den Juden soweit wie möglich menschlich zu helfen. Damals sind in Bremen mehrere Juden von SA-Leuten getötet worden. Davon habe ich aber erst weit später, nach dem Zweiten Weltkrieg, erfahren. Rückblickend erscheint diese Phase meines Lebens durch einen tiefen, für die heutige Generation nicht mehr nachvollziehbaren Zvdespalt gekennzeichnet. Ich versuchte, im Grunde mit Tricks, der Parteimitghedschaft zu entgehen, vermied aber einen offenen Konflikt und wurde dadurch doch gegen meine bessere Überzeugung hineingezogen. Mein Motiv war, daß ich Rechtsanwalt werden wollte, und ich glaubte, dieses sicher nicht unehrenhafte Ziel nur durch die beschriebenen Schritte erreichen zu können. 91
Ich habe später, als ich schließlich 1944 RechtsanwaU wurde, schwer bedrängten Menschen helfen können, u. a. einem Soldaten, der vor dem Reichskriegsgericht in Berhn wegen Fahnenflucht angeklagt war, und auch dadurch, daß ich mit einem mir bekannten Rechtsanwalt in Berlin zusammenarbeitete, in dessen Praxis viele politisch Verfolgte Unterstützung fanden. Aber rechtfertigte das - so muß ich mich heute fragen - die Unterstützung der NSDAP, als die mein äußeres Verhalten angesehen werden mußte? In meinem übrigen Leben änderte sich nichts. Ich hielt die Verbindung zu meinen jüdischen Freunden aufrecht, so zu meinem Schulfreund Ludwig Markreich^®). In meinem Entnazifizierungsverfahren im Jahre 1948 vnjrde ich als Entlasteter eingestuft mit der Begründung, daß ich nach dem Maß meiner Kräfte aktiv Widerstand gegen die Nazigewaltherrschaft geleistet und auch dadurch Nachteile erlitten hätte. Ich brauche nicht zu betonen, daß die von mir geleistete Art des Widerstandes nicht verglichen werden kann mit dem ruhmreichen Verhalten der Widerstandskämpfer, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihr Leben riskierten. Später, als ich hohe Ämter in der BundesrepubUk Deutschland bekleidete, bin ich gefragt worden, wie ich das mit meiner Belastung während der NS-Zeit vereinbaren könnte. Meine Antwort darauf lautete: Ich wollte und will alles in meinen Kräften Stehende tun, um zu verhindern, daß eine junge deutsche Generation noch einmal solchen Konflikten ausgesetzt wird, wie ich und meine Altersgenossen sie erlebt haben. Ich will verhindern, daß Deutsche noch einmal durch ein totalitäres System, sei es von rechts, sei es von links, unter Druck gesetzt werden können.
Vgl. Kap. II S. 28.
92
IV. Nachkriegszeit 1945-1949 1. Rechtsanwalt in Bremen Verteidiger vor amerikanischer} Militärgerichteri Bremen wurde Ende April 1945 von englischen Truppen besetzt, die jedoch bald danach von amerikanischen Truppen abgelöst wurden. Die USA, deren Besatzungszone im Süden Deutschlands lag, hatten einen Hafen gefordert, um den Nachschub über See sicherstellen zu können. So wurde „die Enklave Bremen" (die Städte Bremen und Wesermünde und ein Gebietsstreifen beiderseits der Weser) amerikanische Besatzungszone. Die Amerikaner richteten in Bremen zugleich ein Militärgericht ein, das Verstöße gegen die strengen Besatzungsbestimmungen ahnden sollte. Unerlaubter Waffenbesitz, Überschreitung der Ausgangssperre (curfew violation), später Fragebogenfälschungen und Diebstähle von amerikanischen Zigaretten waren häufige Delikte. Ich erfuhr, daß das amerikanische Militärgericht deutsche Verteidiger suchte. Jeder Angeklagte sollte, wenn er es wünschte, einen Verteidiger haben. So meldete ich mich bei einem der Offiziere des Militärgerichts, Robert L. Guthrie, und sagte, ich sei Rechtsanwalt, ich spräche englisch, ich sei bereit, Verteidigungen zu übernehmen. Ich brauchte dazu allerdings eine Bescheinigung, die mich als Verteidiger auswies, und eine weitere Bescheinigung, durch die sichergestellt würde, daß mein Haus, in dem sich mein Büro befand, nicht beschlagnahmt würde, ein sogenanntes off-limits-Schild. Ich erhieU beides und begann meine Arbeit als Verteidiger. Mein Vorgehen war nicht ohne Risiko. Eigentlich hätte ich mich als ehemaliger Wehrmachtsangehöriger zur Entlassung durch die amerikanische Armee melden müssen. Dann wäre ich allerdings wohl längere Zeit Kriegsgefangener geworden. Ich nahm das Risiko auf mich. Guthrie stellte keine Fragen. Die Amerikaner hatten erhebliche Schwierigkeiten, deutsche Anwälte zu finden. Vielen bremischen Rechtsanwälten steckte der Schrecken des wochenlangen Bombardements der Stadt und des schweren Endkampfes um Bremen noch so in den Knochen, daß sie sich zunächst nicht entschließen konnten, ihre anwaltliche Tätigkeit wiederaufzunehmen. Auch beherrschten viele die englische Sprache nicht. Auch ich mußte mich zunächst in das amerikanische Verfahrensrecht einarbeiten. Gleich bei meinem ersten Auftritt machte ich einen schweren Fehler. 93
Mein Mandant hatte die Ausgangssperre um eine Stunde überschritten. Daran war nichts zu deuteln. Ich riet ihm daher, sich schuldig zu bekennen. Ich wollte dann auf mildernde Umstände plädieren. Er war Familienvater und war auf der Suche nach Lebensmitteln für seine vier Kinder. Aber mein Konzept ging nicht auf. Auf die Frage des Richters, ob er sich schuldig bekenne, sagte er „schuldig", und im nächsten Augenblick war er zu 30 Tagen Haft verurteilt. Ich war nicht zu Worte gekommen. Das ist mir nie vñeder passiert. Keiner meiner Mandanten hat sich jemals wieder schuldig bekannt; es sei denn, ich hätte vorher eine Vereinbarung mit dem Richter über die Höhe der Strafe getroffen, was nach amerikanischem Recht, anders als nach deutschem Recht, möglich ist. Meine Klienten fanden den Zugang zu mir auf folgende Weise: Ich hatte im Polizeigefängnis Am Wall, wo die Häftlinge der Amerikaner eingeliefert wurden, Vollmachtsformulare hinterlegt. Die Gefängnisbeamten fragten die Häftlinge, ob sie einen Verteidiger wünschten, und wenn diese die Frage bejahten, legten sie ihnen die Liste der Anwälte vor, die zur Verfügung standen. Die Häftlinge suchten dann einen der Anwälte aus und unterschrieben die entsprechende Vollmacht. Da aber die bremischen Anwälte den meisten Häftlingen völlig unbekannt waren, half ihnen oft der Rat der Gefängnisbeamten. Ich habe nie einen Beamten bestochen, aber nachdem ich einige überraschende Erfolge vor Gericht erzielt hatte, empfahlen sie mich ohne mein Zutun. Das Ganze mußte sehr schnell gehen. Die meisten Angeklagten standen schon am Tage nach ihrer Verhaftung vor dem Richter. Meine Praxis wruchs auf diese Weise, so daß ich die Arbeit kaum bewältigen konnte. Der Fall, der mich berühmt machte, betraf einen Uhrendiebstahl. Mein Mandant hatte gestohlene Uhren an sich gebracht. Er war wegen Hehlerei angeklagt. Die Umstände waren für ihn sehr ungünstig. Er konnte im Grunde nicht erklären, daß er eine größere Anzahl fabrikneuer Uhren, die damals legal nicht zu beschaffen waren, gutgläubig erworben hatte. Aber der Staatsanwalt wollte den bösen Glauben meines Mandanten noch zusätzlich dadurch beweisen, daß er behauptete, von den Uhren sei der hintere Deckel abgeschraubt worden. Das hätte ihm zeigen müssen, daß die Sache faul war. Der Staatsanwalt trat an den Richtertisch, zeigte eine der Uhren, auf deren Rückseite das Markenzeichen, die Fabriknummer und einige andere Angaben eingraviert waren. Es sah in der Tat so aus, als ob ein hinterer Deckel fehUe. Aber ich sah mir meine eigene Uhr an, die ich 1941 bei der Flak erhalten hatte und fand, daß sie auf der Rückseite ganz ähnlich aussah wie die Uhr auf dem Richtertisch. Da kam mir ein rettender Gedanke: Ich hatte einige Tage vorher einen bremischen Uhrmacher vor einer anderen Abteilung des amerikanischen Gerichts verteidigt. Er war mit einer sehr leichten Strafe davongekommen und mir deswegen, wie er sagte, „ewig dankbar". Ich schickte unseren Lehrling zu ihm und bat ihn, sofort ins Gerichtshaus zu kommen; ich brauchte ihn als Sachverständigen. Er erschien, wurde vereidigt, und dann begann folgendes Verhör: Ich: „Herr Zeuge, ich zeige Ihnen hier eine Uhr. Fällt Ihnen an dieser Uhr etwas auf?" Der Zeuge betrachtet die Uhr lange von allen Seiten und sagte dann: „Nein, es ist eine normale Uhr." Ich: „Fehlt an dieser Uhr etwas?" Zeuge 94
- wieder nach langer Inspektion der Uhr: „Nein." Ich: „Fehlt ein hinterer Dekkel an dieser Uhr?" Zeuge: „Nein, auf die hintere Seite dieser Uhr gehört kein Deckel." Ich: „Befindet sich demnach die Uhr genau in dem Zustand, in dem sie die Fabrik verlassen hat?" Zeuge: „Ja." Das Argument des Staatsanwalts war zusammengebrochen. Mein Mandant wurde freigesprochen, zu seiner und meiner großen Verblüffung, denn die Frage, wie er an die Uhr gekommen war, blieb unerörtert. Freilich durfte er die Uhren nicht behalten. Sie wurden vom Gericht eingezogen. Nach diesem Prozeß konnte ich mich vor Aufträgen kaum retten. Ich berechnete für jede Verteidigung ein Honorar von 200 RM. Vor der Währungsreform war das nicht viel Geld, aber ich konnte davon leben. Mein Büro hatte ich im Hause meiner Mutter eingerichtet. Die erste Schreibmaschine lieh mir unsere Nachbarin Frau Fliege. Die nächste bessere bekam ich von Elsbeth Papendieck, deren Mann, mein Freund Werner, noch in Kriegsgefangenschaft war. Nach kurzer Zeit hatte ich eine Sekretärin, Fräulein de Boer, und einen Bürovorsteher, Herrn Dittmann. Viele Klienten, die mir etwas Gutes tun wollten, brachten Lebensmittel, auch Zigaretten mit, die damals eine Art Währung waren, und für die man alles bekommen konnte. Einer brachte ein geschlachtetes Huhn mit, das noch warm war. Da er es offensichtlich gerade gestohlen hatte, wollte ich es nicht annehmen. Aber meine Mutter erklärte kurzerhand, das Huhn sei für sie bestimmt, was der Mandant auch sogleich bestätigte. Es waren turbulente Zeiten. Trotz der zusätzlichen Nahrungsmittel, die mir meine Klienten brachten, verlor ich stark an Gewicht und war bei einer Verteidigung vor Gericht einmal der Ohnmacht nahe, konnte mich dann aber doch im letzten Moment auf einen Stuhl retten, und der Anfall ging vorüber. Einmal rief mich ein sehr angesehener Kaufmann zu sich. Er hatte seine Waffensammlung, an der er sehr hing, nicht abgeliefert: mehrere Jagdgewehre und zwei Pistolen. Das war eine sehr üble Situation. Er wäre für mehrere Jahre ins Gefängnis gegangen, wenn das bekannt geworden wäre. Ich wandte mich an den Leiter des deutschen Polizeireviers An der Schleifmühle, schilderte ihm den Fall, natürlich ohne den Namen des Klienten zu nennen, und schlug vor, daß ich die Waffen auf das Polizeirevier bringen und er sie dann bei der nächsten Gelegenheit ohne Angabe des Ursprungsortes abliefern würde. Er war einverstanden. Und so packten der Bremer Kaufmann und seine schon sehr betagte Schwester die Waffen in ein großes Paket, das ich auf mein Fahrrad legte, und dann schob ich das Rad die etwa drei Kilometer zur Polizeistation. Mir war dabei ungemütlich zumute. Wäre ich unterwegs durchsucht worden, wäre ich in ein Verfahren verwickelt worden, zumal ich den Namen meines Klienten nicht preisgegeben hätte. Aber alles ging gut. Der Leiter der Wache nahm die Waffen entgegen, setzte ein Protokoll auf und hat sie dann, soweit ich weiß, zusammen mit anderen Waffen bestimmungsgemäß an die Amerikaner abgeliefert. Eine große Rolle in meiner Strafpraxis vor dem amerikanischen Militärgericht spielten Diebstähle von amerikanischen Zigaretten, die, wie erwähnt, damals die Funktion einer Währung übernommen hatten. Gewisse Waren konnte man überhaupt nur gegen amerikanische Zigaretten bekommen. Diese Waren 95
wurden demgemäß in Stangen bewertet, das heißt in Packungen von 200 Zigaretten. Es hieß also etwa: „Ein Wintermantel — gebraucht — kostet fünf Stangen." In den Häfen von Bremen und Bremerhaven v«irde natürlich auch gestohlen, in größeren und kleineren Mengen. Einmal hängten Hafenarbeiter, die mit Eisenbahnern zusammenarbeiteten, einen ganzen Waggon mit Zigaretten von dem Versorgungszug Bremen — Frankfurt ab, verschoben den Waggon auf ein entlegenes Abstellgleis und verteilten dann die Beute. Niemals virurden alle Beteiligten gefaßt, aber wer im Besitz einer größeren Menge von Zigaretten angetroffen vioirde, hatte es im Strafverfahren schwer, da sie legal überhaupt nicht zu beschaffen waren. Ich verteidigte mehrere Deutsche, die wegen Zigarettendiebstahls angeklagt waren, konnte aber selten eine Verurteilung verhindern. Um so mehr bemühte ich mich um eine Begnadigung meiner Mandanten, womit ich gelegentlich Erfolg hatte. Als ich 1979, also 30 Jahre später, zum Bundespräsidenten gewählt worden war, besuchte Bürgermeister Koschnick die bremischen Häfen. Da fragte ihn ein Arbeiter: „Ist das derselbe Dr. Carstens, der uns immer verteidigte, wenn wir Zigaretten geklaut hatten?" Als Koschnick die Frage bejahte, lautete der Kommentar des Arbeiters: „Der Mann ist in Ordnung." Koschnick hat mir diese Geschichte erzählt, und ich habe mich sehr darüber gefreut. Aber es kamen natürlich auch andere, wirklich tragische Fälle vor das Militärgericht. Ein hochangesehener bremischer Beamter v«irde wegen Fälschung seines Fragebogens verhaftet. Als ich ihn morgens im Polizeigefängnis besuchte, brach er weinend zusammen, und es gelang mir nur mit großer Mühe, ihn wiederaufzurichten. Im Hauptverfahren plädierte ich auf Fahrlässigkeit und hatte damit Erfolg. Diese allmählich immer umfangreicher werdende anwaltliche Tätigkeit betrieb ich möglicherweise praeter legem, außerhalb der geltenden Gesetze. Da ich, wie erwähnt, zwar zum Rechtsanwalt ernannt, aber nicht bei einem bestimmten Gericht zugelassen worden war, konnte es zweifelhaft erscheinen, ob ich überhaupt eine eigene Praxis betreiben dürfte. Als mich ein Kollege einmal darauf ansprach, erwiderte ich, daß die deutschen Bestimmungen nicht für eine Tätigkeit vor den amerikanischen Müitärgerichten gelten. Er gab sich damit zufrieden. Auch wurde der Mangel bald geheilt. Am 15. September 1945 ließ mich der Senator für Justiz und Verfassung als Rechtsanwalt beim Landgericht Bremen und gleichzeitig beim Amtsgericht Bremen zu. Und als im Jahr 1947 in Bremen ein Oberlandesgericht errichtet vioirde, erhieU ich auch die Zulassung bei diesem Gericht. Unter den Richtern des amerikanischen Militärgerichts lernte ich Robert L. Guthrie näher kennen. Er spielt in meinem Leben eine wichtige Rolle, denn er vermittelte meinen Studienaufenthalt 1948/49 in Yale. Er war ein Südstaatler, ein absolut integrer Jurist, ein Ehrenmann. Ich habe ihn bei meinem Staatsbesuch in Amerika im Oktober 1983 in Texas wiedergetroffen. Auch mit dem Leiter des Gerichts, Robert W . Johnson, kam ich gelegentlich außerdienstlich zusammen. Oft verteidigte ich vor Captain Zimmermann, einem Rauhbein, der nicht Jura studiert hatte, aber im Grunde ein gutes Herz besaß. Er 96
heiratete eine sehr attraktive Deutsche, eine vollschlanke Blondine, die einen guten Einfluß auf ihn hatte. Vom Herbst 1945 an übernahm ich auch Fälle vor deutschen Gerichten. Ich verteidigte einen ehemaligen Fremdenlegionär, der im Streit seine Stiefmutter getötet hatte. Unvergeßlich sind mir seine schaurigen Erzählungen, wie er und seine Kameraden bei den Kämpfen in Indochina gegen Zivilpersonen, auch Frauen und Kinder, vorgegangen vararen. In einem anderen Strafprozeß legte ich Revision gegen das Urteil erster Instanz mit der Begründung ein, einer der beisitzenden Richter habe während meines Plädoyers geschlafen. Der betreffende Richter gab eine Erklärung ab, daß er, wenn er besonders aufmerksam zuhöre, die Augen schließe. Ich aber brachte einen Zeugen bei, der bekundete, der Richter habe geschnarcht, auch sei sein Kopf mehrfach zur Seite weggesackt. Das Urteil wurde aufgehoben. Ich will nicht verschweigen, daß einige meiner Kollegen mir abrieten, dieses Rechtsmittel einzulegen. Ich würde mir den Richter zum Feinde machen; aber ich fühlte mich meinem Mandanten gegenüber in der Pflicht. Für einen anderen Deutschen, der eine lebenslange Zuchthausstrafe verbüßte, konnte ich eine Begnadigung erwirken. Er hatte im Zuchthaus das Schneiderhandwerk gelernt und war ein erstklassiger Herrenschneider geworden. Eine bremische Firma stellte ihn sofort nach seiner Entlassung ein. Ich machte geltend, daß er das Opfer einer übermäßig strengen Strafjustiz in der NS-Zeit geworden sei. Aber auch außerhalb des strafrechthchen Bereichs gewann ich Klienten. So beriet ich den großen Weinimporteur Heinz Bömers, Inhaber der Firma Reidemeister und Ulrichs, zu dem ich ein freundschaftliches Verhältnis entwickeUe. Er war ein königlicher Kaufmann, der sicher auf eine gewinnbringende Tätigkeit seiner Firma bedacht war, aber weit darüber hinaus für politische Fragen aufgeschlossen war. Die Versöhnung von Deutschen und Franzosen erschien ihm schon damals als wichtigstes Ziel, und dabei war nicht entscheidend, daß er die besten Bordeaux- und Burgunderweine importierte. Auch Johannes Köster, Partner des Holzkaufmanns Klages, vertrat ich in einer gesellschaftsrechthchen Auseinandersetzung, ebenso wie Fritz Ehntholt, den Inhaber einer großen Baumwollfirma, und viele andere. Mitglied einer Anwaltsgemeinschaft Da trat plötzlich Ende 1946 Rechtsanwalt Dr. Friedrich Kind an mich heran und bot mir den Eintritt in die angesehene Sozietät der Rechtsanwälte und Notare Dr. Kind, Dr. Otto Meyer, Dr. Emst Schulze-Smidt an. Die Firma war eine der ältesten Anwaltssozietäten Bremens. Sie war 1858 von Dr. Julius Stachow gegründet worden. Ihr hatten einige bedeutende bremische Anwälte angehört, so Dr. Cari Bulling (1890 bis 1943), Dr. Arthur Schulze-Smidt (1896 bis 1945), Dr. Theodor Spitta (1900 bis zu seiner Wahl in den Senat 1911). BuUing war Anwalt des bremischen Staates, sogenannter Regierungsanwalt, gewesen. Nach ihm übernahm Kind die gleiche Funktion. Mir erschien das Angebot reizvoll. Die 97
Verhandlungen führten schnell zu einem Ergebnis. Ich trat im Januar 1947 in die Sozietät ein. Jeder von uns brachte seine sämtlichen aus anwaltlicher Tätigkeit und notarieller Tätigkeit erwachsenen Einnahmen ein. Der Gewinn wurde nach Abzug aller Unkosten einschließlich der Versorgungsbezüge zweier Witwen nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. Mein Anteil betrug 18,6 Prozent. Wäre der Gewinn gleichmäßig verteilt worden, hätte ich 25 Prozent erhalten. Ich fand aber die getroffene Regelung akzeptabel. Meine Sozien waren weit länger Anwälte als ich; Kind seit 1908, Otto Meyer seit 1919, Schulze-Smidt seit 1933, und, was noch wichtiger war, meine Sozien brachten ihre sämtlichen Einnahmen aus dem Notariat ein. Ich dagegen war nicht Notar und bin es auch nicht mehr geworden, da ich nach dem in Bremen damals geltenden Anciennitätsprinzip noch nicht dran war. Nach dem Gesellschaftsvertrag brachte jeder von uns seine volle Arbeitskraft in die Sozietät ein. Ich behielt mir jedoch das Recht vor, Vorlesungen auf rechtswissenschaftlichem Gebiet zu halten. Auch schlossen wir einen Schiedsvertrag. Bei Streitigkeiten sollten Schiedsrichter entscheiden, die, falls es zu keiner Einigung kam, vom Vorstand des Anwaltsvereins berufen werden soUten. Während meiner Zugehörigkeit zur Sozietät ist dieser Fall niemals praktisch geworden. Kaum war ich in die Sozietät eingetreten, kam es Ende 1947 zu einem weiteren Zusammenschluß unserer Firma mit der Anwaltssozietät Dr. Friedrich Lührßen und Dr. Hans Löning. Schulze-Smidt und Löning waren seit langem befreundet. Sie führten die Vorgespräche und wurden bald einig. Jetzt waren wir also sechs Anwälte. Die Verbindung hat lange gedauert, bis zum Tode der einzelnen Partner. Nur ich schied bereits 1949 aus, um als Bremischer Bevollmächtigter nach Bonn zu gehen. Löning stellte eine große Bereicherang für die Sozietät dar. Er hatte einen ausgeprägten gesunden Menschenverstand und dazu beachtliche akquisitorische Fähigkeiten. Er gewann durch seine rahige und überlegene Art überall Vertrauen. Es hieß, daß er auf jeder Schiffsreise nach Amerika - seine Frau Helen war Amerikanerin; so besuchten sie Amerika bis zum Kriegsausbrach häufig — einige neue Klienten gewonnen hätte. Er genoß auch wegen seines untadeligen Verhaltens in der NS-Zeit hohes Ansehen bei den in Bremen lebenden jüdischen Anwälten, besonders bei Rechtsanwalt Dr. Alexander Lifschütz, dem späteren Senator. Löning und ich wurden enge Freunde. Unsere Frauen befreundeten sich ebenfalls. Und noch jetzt steht uns seine Tochter Helen, verheiratete Kerkhoff, nahe. Die damalige Anwaltsfirma besteht noch heute unter der Bezeichnung Ahlers, Vogel, Schottelius. 1988 umfaßte sie 18 Partner. Unvergeßlich ist mir mein erstes Gespräch mit Kind nach meinem Eintritt in die Sozietät. Kind sagte dem Sinne nach, daß unsere Firma in Bremen und weit darüber hinaus ein hohes Ansehen genieße. Dies berahe auf dem juristischen Können der Partner, aber ebenso auf ihrer unbedingten Zuverlässigkeit. Es sei entscheidend, daß sich jeder dritte, gleich wer es sei, auf unser Wort verlassen könne, und zwar auf eine mündliche Erklärang genauso vide auf eine schriftliche. Kind ging noch einen Schritt weiter. Er sagte, die mündliche Zusage 98
binde noch stärker als die schriftliche. Bei einer schriftlichen Erklärung sei es denkbar, auf die Anfechtungsgründe des Bürgerlichen Gesetzbuches, zum Beispiel wegen Irrtums, zurückzugreifen. Bei einer mündlichen Erklärung sei das in der Regel ausgeschlossen. Diese Praxis habe sich in über 90 Jahren bewährt. Er bat mich, mich daran zu halten. Ich habe mich bemüht, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, auch später noch, als ich Beamter wurde und dann schließlich in die Politik ging. Das Jahr 1948 brachte große Veränderungen mit sich. Löning ging mit seiner Familie nach Amerika. Er erwog damals auszuwandern, hat diese Absicht dann aber doch nicht verwirklicht. Wohl ist sein Sohn in den USA geblieben und dort Anwalt geworden. Die Währungsreform vom 20. Juni 1948 stellte uns vor große Probleme. Unsere Konten wTirden im Verhältnis 1 : 1 0 abgewertet. Jeder von uns erhielt zunächst wie jeder andere Deutsche überhaupt nur 50 DM auf die Hand. Unsere monatlichen Unkosten beliefen sich auf knapp 10000 DM. Dank des Verständnisses unserer Mitarbeiter und der Hilfe unserer Klienten kamen wir über die Runden. Aber nun kam ein weiterer Schlag auf die Sozietät zu: Ich ging für ein Jahr nach Amerika, um an der Universität Yale zu studieren. Wohl sahen meine Partner darin auch eine große Chance für unsere Sozietät, daß ich auf diese Weise künftig als Experte für amerikanisches Recht angesehen werden konnte, aber zunächst fiel ich aus. In mühevollen Gesprächen gaben sie mir die Zusage, meine Frau mit monatlich 200 bis 300 DM zu unterstützen, damit sie ihre Lebenshaltungskosten notdürftig decken konnte. Über mein Studium in Amerika berichte ich später'). Aber kaum war ich im Sommer 1949 nach Deutschland zurückgekehrt, drohte schon vdeder eine Trennung von meinen Sozien. Der Bremische Staat bot mir die Stellung des Bevollmächtigten beim Bund an^), was mindestens vorübergehend meine weitere aktive Partnerschaft in der Sozietät unmöglich machte. Ich führte darüber im August 1949 Gespräche mit den Sozien, und als sich die Lage Anfang September zuspitzte, richtete ich an Kind und Meyer, die gerade in Urlaub waren, den nachstehenden Brief vom 1. September 1949, den ich hier auszugsweise wiedergebe, weil er zeigt, wie ich mich zunächst noch an die Anwaltschaft klammerte: Lieber Herr Dr. Kind, lieber Herr Dr. Meyer, es tut mir leid, Sie während Ihres Urlaubs mit einer Frage behelligen zu müssen, aber die Angelegenheit ist so dringend, daß sie nicht bis zu Ihrer Rückkehr warten kann. Bei unserem letzten Zusammensein in Fischerhude erzählte ich Ihnen davon, daß Bürgermeister Dr. Spitta an mich herangetreten sei mit der Frage, ob ich bereit sein würde, die Vertretung Bremens beim Bundesrat in Bonn zu übernehmen. [...] Ich habe nach Rücksprache mit Herrn Dr. Lührßen, Dr. Löning und Dr. Schulze-Smidt und im Einverständnis mit diesen Herren erklärt, daß ich das >) Siehe S. lOB ff. 2) Siehe hierzu Kap. V S. 125 ff.
99
Angebot nicht ablehne, daß ich aber, bevor ich mich endgültig äußern könne, natürlich wissen müsse, wie die Bedingungen im einzelnen wären. Bei dieser meiner Antwort habe ich mich von dem Gedanken leiten lassen, daß es sich hier um ein ganz außergewöhnlich reizvolles Angebot handelt, und daß man es eigentlich nicht gut ablehnen kann. [...] Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie schwer mir der Gedanke wird, dadurch aus der aktiven Tätigkeit in unserer Sozietät jedenfalls zeitweise ausscheiden zu müssen. Sie wissen, wie viel mir die Unabhängigkeit des Anwaltberufes bedeutet und wie gern ich ihn insbesondere in unserer Sozietät ausgeübt habe. Dennoch finde ich, wie gesagt, daß ich das mir gemachte Angebot nicht einfach ausschlagen kann. [.. .1 Für die Ausgestaltung der Stellung schwebt mir folgender Plan vor, der in den Grundzügen bei Präsident Kaisen und Bürgermeister Spitta auf weitgehendes Verständnis gestoßen ist: Ich möchte nicht in das Beamtenverhältnis übernommen werden, sondern in einem losen beiderseits lösbaren Vertragsverhältnis stehen. Meine Zulassung als Anwalt soll mir erhalten bleiben. Für den Fall meines Ausscheidens aus der Bonner Stellung soll mir ein zweijähriges Übergangsgeld gezahlt werden. Das erscheint mir besonders wichtig, weil es mir die Freiheit gibt, jederzeit aufzuhören, wenn ich aus irgendwelchen Gründen der Ansicht bin, die Tätigkeit nicht mehr fortsetzen zu können. Gleichzeitig gibt es mir die Möglichkeit, mich auch Ihnen für die Sozietät wieder zur Verfügung zu stellen, falls dies einmal wünschenswert sein sollte. Ich würde mich nur von der Anwaltskammer beurlauben lassen und bei uns weiter firmieren können. [...] Die für mich wichtigste Frage betraf meine Rückkehr in die Firma nach Beendigung meiner Tätigkeit in Bonn. Lührßen, Löning und Schulze-Smidt sagten mir, daß sie mich jederzeit gern wieder als aktiven Partner aufnehmen würden. Das gleiche schrieb mir Otto Meyer: „Ihr Platz bleibt Ihnen bei uns reserviert." Etwas vorsichtiger äußerte sich Kind. Er schrieb, die Sozien könnten den Wiedereintritt nicht ohne weiteres juristisch garantieren. „Aber wir können Ihnen das Versprechen geben, daß wir Sie sehr gem wieder aufnehmen, wenn die Interessen der Firma dem nicht entgegenstehen." Dabei könnte es sich nur um finanzielle Gründe handeln. Ich fand Kinds Antwort verständUch und gab mich damit zufrieden. Tatsächlich bin ich nicht nach Bremen und nicht in die Sozietät zurückgekehrt. Am 5. Dezember 1952 wurde ich bremischer Beamter und schied damit aus der Anwaltschaft aus. Prägungen aus meiner Anwaltstätigkeit Die Jahre, in denen ich, wenn auch mit Unterbrechungen, Rechtsanwah war, haben einen starken prägenden Einfluß auf mein Leben gehabt, und zwar besonders aus drei Gründen: Ich habe die Freiheit und Unabhängigkeit der anwalthchen Tätigkeit als ein hohes Gut erfahren und genossen, freilich um den unvermeidlichen Preis einer starken Arbeitsbelastung. Auch ist es mir reizvoll erschienen, daß der Anwalt jedenfalls in Strafverfahren und in streitigen Zivil100
sachen mit allen erlaubten Mitteln für die Interessen seines Klienten kämpfen darf, ja soll. Hier besteht eine Ähnlichkeit mit der politischen Auseinandersetzung, wo freiUch die Grenzen des Erlaubten unklar sind und kein Richter darüber entscheidet, ob sie überschritten wurden. Für eine Sache kämpfen, diese Einstellung haben Anwälte und Politiker gemeinsam. Es kam hinzu, daß in Bremen der Anwaltsstand traditionell ein hohes Ansehen genießt. Früher gingen sämtliche bremischen Richter aus der Anwahschaft hervor. Viele Mitglieder des Senats waren vorher Anwälte gewesen. Als Anwalt habe ich gelernt, was es bedeutet, wenn man die mit der eigenen Tätigkeit verbundenen Unkosten, die Miete für das Büro, Einrichtungskosten, Gehälter für die Mitarbeiter und vieles andere mehr, aus den durch eigene Arbeit gewonnenen Einkünften aufbringen muß. Ich war entsetzt, als ich später im Staatsdienst erlebte, wie großzügig mit dem Geld umgegangen wmrde, das die betreffenden Beamten oder Politiker nicht selbst erarbeitet hatten, sondern das sie aus dem großen Sack des Steuerzahlers entnahmen. Die Praxis mancher Behörden, zum Jahresende nicht verbrauchte Etatansätze, zum Beispiel für Reisen, mehr oder minder sinnlos auszugeben, hat mich auf das tiefste empört. Ich bin ihr, wo ich konnte, entgegengetreten, immer mit dem Argument, ich käme aus einem Beruf, wo man selbst erarbeiten müsse, was man, gleich für welchen Zweck, ausgebe. Da gehe man mit dem Geld sparsamer um.
2. Tätigkeit beim Justizsenator Von Juni 1945 bis Ende 1947 habe ich als „juristischer Hilfsarbeiter", wie es damals hieß, halbtägig neben meiner anwaltlichen Tätigkeit bei dem Bremischen Senator für Justiz und Verfassung, Bürgermeister Dr. Theodor Spitta, gearbeitet. Es war eine ungemein anregende und reizvolle Tätigkeit. Damals lernte ich Spitta aus nächster Nähe kennen. Er war nicht nur ein überragend kluger Jurist, sondern auch ein Mann von unbedingter persönlicher Integrität. In der politischen Auseinandersetzung war er beharrlich und zäh, aber niemals verletzend. Mit Kaisen verband ihn eine jahrelange Zusammenarbeit im Senat - schon vor 1933 - und großes gegenseitiges Vertrauen. Spitta war führendes Mitghed der FDP, also der liberalen Partei, die in Bremen lange Zeit eine bedeutende Rolle gespielt und der Stadt führende Männer zur Verfügung gestellt hat. Spitta kannte mich als Freund seiner Kinder. Ich hatte mit ihm nach meiner Schulzeit bis zum Ende des Krieges einen engen Kontakt unterhalten. Unter meinen väterlichen Freunden vrar er der klügste und umsichtigste. Ich verdanke ihm sehr viel. Spitta ist der Schöpfer der bremischen Verfassung von 1947, ebenso wie er der Schöpfer der ersten demokratischen Verfassung von 1920 war. An der Ausarbeitung der Verfassung habe ich keinen wesentlichen Anteil gehabt, wohl aber war ich an der Wiedereinsetzung der bremischen Gerichte, des Landgerichts und des Amtsgerichts beteiligt. Vor allem ging es um die Gewinnung von Richtern und Staatsanwähen, die politisch unbelastet waren. Die meisten kamen aus der Anwahschaft. Die wich101
tigste Aufgabe war die Besetzung der Stelle des Landgerichtspräsidenten. In langen Gesprächen überredete Spitta den Rechtsanwalt Dr. Diedrich Lahusen, dieses Amt zu übernehmen. Lahusen war ein angesehener Jurist. Er stammte aus einer Bremer Kaufmannsfamilie, die in den zwanziger Jahren mit der Nordwolle zu großem Reichtum gelangt war, dann aber 1932 im Zuge der Wirtschaftsrezession Konkurs anmelden mußte. Damals waren schwere Beschuldigungen gegen die Inhaber des Unternehmens erhoben worden. Nach meinem Eindruck wollte Diedrich Lahusen durch die Übernahme des Amtes des Landgerichtspräsidenten den Makel tilgen, der seitdem auf dem Namen seiner Familie lag, und er hat das in großartiger Weise getan. Seine Amtsführung war besonnen, energisch, unbestechlich, untadelig. Freilich hatte die Sache einen Haken. Lahusen wollte Anwalt bleiben. Er wollte auf keinen Fall seine Unabhängigkeit verlieren. Er wollte, wie er sagte, jeden Tag seinen Hut nehmen und das Amt des Landgerichtspräsidenten niederlegen können. Das Problem war nicht einfach zu lösen, aber wir fanden einen Weg. Lahusen blieb Anwalt, trat sogar weiter, wenn auch selten, vor Gericht auf, natürlich nicht vor der Kammer des Landgerichts, in der er selbst den Vorsitz führte. Für jeden Außenstehenden erscheint eine solche Konstruktion undenkbar, aber in Bremen war sie damals möglich - dank der unbedingten Honorigkeit und Integrität der Beteiligten. Lahusen wäre nie auf den Gedanken gekommen, mit Hilfe seiner Funktion als Landgerichtspräsident Vorteile für seine Praxis zu suchen, und niemand wäre in Bremen auf den Gedanken gekommen, daß Lahusen etwas derartiges tun könnte. Aber natürlich ist es ein Ausnahmefall. In normalen Zeiten wäre eine solche Lösung nicht akzeptabel. Eine große Rolle spielte in der Folgezeit die Frage, ob Bremen ein eigenes Oberlandesgericht bekommen sollte. Bis dahin hatten Bremen und Hamburg ein gemeinsames Oberlandesgericht, das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg — ein Gericht, welches jahrzehntelang zu den angesehensten Gerichten in Deutschland gehört hatte und auf dem Gebiet des Seerechts eine führende, ja einzigartige Stellung einnahm. Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts war damals Dr. Wilhelm Kiesselbach, ein Vetter von Spitta, ebenso wie dieser ein Mann von außerordentlicher Klugheit und Integrität. Bremen hatte das größte Interesse daran, die Gerichtsgemeinschaft mit Hamburg aufrechtzuerhalten. So jedenfalls sahen es alle, die an den damaligen Entscheidungen beteiligt waren. Aber die Amerikaner verlangten die Schaffung eines eigenen bremischen Oberlandesgerichts, das ihrer Besatzungshoheit unterstand, während über das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg die Briten die oberste Kontrolle besaßen. Hintergrund der amerikanischen Haltung war ein großer Strafprozeß, der 1947 in Bremen anlief und bei dem mehrere Bremer wegen der Ermordung von jüdischen Mitbürgern in der sogenannten „Reichskristallnacht" vom 9. November 1938 angeklagt waren - ein düsteres Kapitel der bremischen Geschichte. Die Amerikaner wollten in dieser Sache das letzte Wort haben. Auf deutscher Seite waren wir uns alle einig, daß die Errichtung eines eigenen bremischen Oberlandesgerichts nicht sinnvoll war. Der Sprengel war zu klein, und außerdem würde die einzigartige Stellung, die das Hanseatische 102
Oberlandesgericht in Seerechtsfragen hatte, verlorengehen. Wir gaben uns das Versprechen, daß wir, sobald das Besatzungsregime beendet und die Gerichtshoheit wieder in deutsche Hände übergegangen wären, das gemeinsame Hanseatische Oberlandesgericht wiederherstellen würden. Daraus wurde freilich nichts. Die Kraft des Faktischen war stärker. Ein bestehendes Gericht wiederaufzulösen, das überstieg die Möglichkeiten, die die Politiker, auch die Parlamentarier, in Bremen zu haben glaubten. Das Bremische Oberlandesgericht besteht bis heute. Es hat sich auch durchaus Ansehen in der deutschen Justiz erworben, aber gegenüber dem gemeinsamen Hanseatischen Oberlandesgericht von Bremen und Hamburg ist es die zweitbeste Lösung. Außer meiner Mitwirkung bei den organisatorischen Fragen der bremischen Justiz fiel mir gleich nach Beginn meiner Tätigkeit im Justizressort im Sommer 1945 eine wichtige materiellrechtliche und schwierige Aufgabe zu. In Bremen gerieten nach Kriegsende zahlreiche Unternehmer und auch viele andere Bürger in finanzielle Schwierigkeiten. Sie konnten ihre Veφflichtungen nicht erfüllen, weil sie ihr Hab und Gut verloren hatten, oder weil ihre Schuldner ihrerseits nicht zahhen. Teils waren die Schuldner infolge der Kriegsvdrren unauffindbar, teils hatten auch sie ihr Hab und Gut verloren. Nach geltendem Recht hätten die zahlungsunfägigen Bürger Konkurs anmelden müssen, aber das erschien im hohen Maße unbillig. Spitta beauftragte mich, einen Ausweg zu suchen. Ein Anknüpfungspunkt war die Verordnung über die Vertragshilfe des Richters aus Anlaß des Krieges vom 30. November 1939®), die jedoch in Teilen nicht mehr anwendbar war. Ich schlug eine Neufassung und eine Erweiterung dieser Verordnung vor und entwarf die „Verordnung über die erweiterte Vertragshilfe der Gerichte", die nach einer kurzen Beratung mit einigen bremischen Richtern und Anwälten am 13. Juli 1945 aufgrund einer Ermächtigung der Militärregierung von dem damals noch amtierenden Regierenden Bürgermeister erlassen wurde^). Das von mir vorgesehene und dann in Kraft gesetzte Verfahren war denkbar einfach. Durch einen Antrag auf erweiterte Vertragshilfe genügte der Schuldner seinen gesetzlichen Verpflichtungen, das Vergleichs- oder Konkursverfahren zu beantragen. Das Gericht konnte seine sämtlichen Verbindlichkeiten stunden. Es konnte einen Treuhänder einsetzen, dem es dann oblag, zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigem eine Vereinbarung über die Abwicklung der Schulden herbeizuführen. Das gelang in vielen Fällen, vor allem aber war zunächst einmal Zeit gewonnen. Bremische Anwälte haben mir damals ihren Dank für die getroffene Regelung ausgesprochen. Ende 1947 schied ich aus dem Dienst des Senators für Justiz und Verfassung wieder aus. Ich konnte diese Arbeit neben meiner anwaltlichen Tätigkeit nicht mehr bewältigen. Spitta schrieb mir einen sehr freundlichen Brief. Darin sagte er, ich hätte nur meine halbe Arbeitskraft dem Bremischen Staat zur VerfüRGBl. I S. 2329. *) Nachträglich abgedrackt in GesetzblaU der Freien Hansestadt Bremen vom 27. Dez. 1945 S. 17.
103
gung gestellt, hätte aber „in dieser Zeit für den Staat ein Arbeitsmaß bewältigt, das die volle Arbeitskraft eines durchschnittlichen Hilfsarbeiters in Anspruch genommen hätte". Eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen hätten in der Fassung meines Entvnirfs Rechtskraft erlangt. Auch Kaisen dankte mir für „wertvolle Dienste beim Wiederaufbau der bremischen Justiz" und für meine Bereitschaft, an der Planung der Internationalen Universität in Bremen mitzuwirken. Meine Mitwirkung daran war freüich eher bescheiden. Die Idee stammte von Senator Nolting-Hauff. Er war der Auffassung, daß Bremen eine Universität haben solle und daß diese Universität dem Charakter der Stadt entsprechend international ausgerichtet sein sollte, sowohl was die an ihr vertretenen Fachrichtungen als auch was die Zusammensetzung des Lehrköφers betraf. Professor Erich Obst aus Hannover wurde beauftragt, ein Konzept zu erarbeiten. Bremen errichtete eine Stiftung zur Vorbereitung der Gründung der Universität, welcher von Seiten der bremischen Finanzverwaltung Geldmittel zur Verfügung gestellt wurden. Ich vmrde zum Vorstand der Stiftung bestellt. Am Tage der Währungsreform teilte mir die Bank mit, daß das Konto der Stiftung gelöscht sei, da das Guthaben aus öffentlichen Mitteln stamme, welche nach den besatzungsrechtlichen Richtlinien über die Währungsreform untergingen. Das nahm ich jedoch nicht hin. Ich suchte den Leiter der Bank auf und erklärte ihm mit einiger Schärfe, daß die von mir vertretene Stiftung eine solche des privaten Rechts sei. Woher ihre Geldmittel stammten, sei dabei unerheblich. Das Konto der Stiftung müsse daher wie jedes andere private Konto behandelt, das heißt im Verhältnis 1:10 umgestellt werden. Ich würde sofort eine einstweilige Verfügung gegen die Bank ervñrken, wenn sie das Konto nicht umgehend wiederherstellen würde. Der Leiter der Bank lenkte ein, und die Stiftung verfügte dadurch auch nach der Währungsreform über einige, freilich bescheidene Mittel. Der damals verfolgte Plan hatte mit der späteren Universitätsgründung in Bremen keine Ähnlichkeit. Es kann allerdings sein, daß das von mir so hartnäkkig verteidigte Konto später für die 1964 gegründete Bremische Universität Verwendung gefunden hat. Dafür trug ich jedoch keine Verantwortung mehr, da ich den Vorsitz der Stiftung lange vorher abgegeben hatte. In der Zeit meiner Tätigkeit für den bremischen Staat lernte ich einige weitere angesehene Juristen kennen: außer Lahusen Dr. Johann Heinrich Strohmeyer, der der Sprecher der Anwaltschaft war — er war ein besonnener, erfahrener und ausgesprochen praktisch veranlagter Jurist, allen grauen Theorien abhold; seinen Rat haben wir oft befolgt. Ein weiterer Mitarbeiter Spittas war Dr. Helmut Goenen, der, da er der einzige vollamtliche Mitarbeiter war, eine riesige Arbeitslast zu bewältigen hatte und das mit großer Gründlichkeit und Zuverlässigkeit tat. Mein Nachfolger wurde Dr. Gert Feine, ehemaliger Angehöriger des diplomatischen Dienstes, der mit einer Bremerin verheiratet war und so nach dem Kriege in Bremen Fuß faßte. Er wurde später, 1955, noch einmal mein Nachfolger als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Straßburg. 104
3. Diakon am Dom 1945 wurde ich in die Diakonie des St. Petri Doms in Bremen gewählt. Das war eine sehr ehrenvolle Stellung, die mir viel Freude bereitet hat. Die Anfänge der Domdiakonie gehen auf das Jahr 1638 zurück. Ihre Aufgaben waren ursprünglich vor allem karitativer Art. Sie sammelte Geld für mildtätige Zwecke, gründete ein Waisenhaus für die lutherischen Waisenkinder der Stadt und trug die Verantwortung für das Witwenhaus der Domgemeinde. Schon früh wirkte sie an der Wahl der Pastoren mir. Zunächst waren nur Kaufleute Diakone. Seit dem 19. Jahrhundert wurden auch Juristen, Ärzte und andere angesehene Bürger zu Diakonen gewählt. Die Diakonie bestand zunächst aus vier, später aus zwölf und schließlich bis heute aus vierundzwanzig Mitgliedern. Sie wurden von den jeweils aktiven Diakonen für zwölf Jahre gewähh. Die Diakonie besaß und besitzt bis heute also das Selbstergänzungsrecht. Im 20. Jahrhundert machte die bremische Domkirche, ebenso wie andere Kirchengemeinden der Stadt, wiederum eine sehr wechselvolle Entwicklung durch. Der geistliche Liberalismus ging so weit, daß ein Pastor nicht mehr über Bibeltexte, sondern über Worte großer deutscher Dichter predigte. Auch v^Tirden die Kinder von ihm nicht im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, sondern im Namen des Guten, Wahren und Schönen getauft. Die so Getauften mußten später nachgetauft werden. Freilich gab es daneben auch immer strenggläubige Pastore am Dom. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde ein deutscher Christ, Dr. Heinz Weidemann, ein Pastor am Dom, Landesbischof. Er berief sich auf das Führerprinzip und unterband die Tätigkeit der gewählten Organe der Kirchengemeinden. Die Bauherren des Doms, seit 1810 das oberste Organ der Kirche, traten daraufhin von ihren Ämtern zurück. Wieder war es die Diakonie, die dem Druck standhielt. Der Senior der Diakonie führte jahrelang die Geschäfte der Domverwaltung. Das also war das Gremium, in das ich 1945 berufen woirde. Eine Einrichtung mit einer ruhmreichen Tradition, gewissermaßen das stetige Element in der verwirrenden Geschichte des Bremer Doms. Ihr gehörten damals einige hervorragende Persönlichkeiten an. So die Rechtsanwälte Dr. Albrecht Schackow, der damalige Senior, Dr. Emst Schulze-Smidt, mein späterer Sozius und Dr. Fritz Rosenkranz aus der Sozietät, in der ich vor dem Kriege als Referendar tätig gewesen war, femer Dr. Jules-Eberhard Noltenius, Syndikus der Handelskammer und später bremischer Bürgermeister. Unter den Kaufleuten Walter Bartels, Max Halle, Max Adler, Ludwig Helmken, Karl W. König, Edgar Nieman und viele andere. Gleichzeitig mit mir trat Carl Heinz Jansen in die Diakonie ein. Es war ein Kreis von Männem, die besonders ihre karitativen Aufgaben der Domgemeindepflege, der Betreuung des Waisenhauses und des Witwenhauses emst nahmen und einen großen Teil ihrer Zeit dafür opferten. Es war zugleich ein Freundeskreis, in dem sich viele lebenslange Verbindungen bildeten. Manche Stunde, bei abendlichen Essen, habe ich in ihrer Mitte verbracht. 105
Eine besondere Bedeutung hatte die Mitwirkung der Diakonie bei der Wahl von Pastoren. Wenn eine Predigerstelle vakant wurde, setzten wir eine Kommission ein, die nach geeigneten Kandidaten Umschau haken sollte. Sie hörten sich deren Predigten an, führten auch Gespräche mit ihnen und machten uns dann einen Vorschlag, den wir, soweit ich erinnere, mehr oder minder unbesehen, übernahmen. Dabei kam es zu einer Fehlbesetzung, und ich habe mich hinterher gefragt, ob nicht jeder von uns Diakonen versuchen müßte, sich einen deutUcheren Eindruck von der Persönlichkeit jedes einzelnen Kandidaten zu verschaffen. Aber diesen Vorschlag habe ich nicht mehr zur Diskussion stellen können, denn 1949, mit meiner Übersiedlung nach Bonn, schied ich faktisch aus der Mitarbeit in der aktiven Diakonie aus. 1957, noch zwölfjähriger Zugehörigkeit, wurde ich in die Altdiakonie überführt, der ich bis heute angehöre.
4. Studium in Amerika Vorgeschichte Das Jahr 1948/49, das ich in Amerika an der Universität Yale in New Haven, Connecticut, verbrachte, war eines der wichtigsten Jahre meines Lebens. Zugleich habe ich darüber die meisten Unterlagen, da ich jede Woche an meine Frau und meine Mutter sowie mehrfach auch an Bürgermeister Spitta und meine Sozien schrieb. Die Geschichte begann Anfang 1948. Damals lud mich der amerikanische Gerichtsoffizier Robert L. Guthrie, mit dem ich ein sehr gutes Verhältnis hatte, und den ich wegen seiner Integrität und Objektivität hoch schätzte, zum Mittagessen ein. Er brachte einen weiteren Amerikaner mit, der gerade zu Besuch in Deutschland war. Ich habe seinen Namen vergessen. Im Laufe des Gesprächs sagte er mir folgendes: Er sei Professor an der amerikanischen Universität Yale, einer der bedeutendsten Universitäten des Landes, und zwar an der sogenannten Graduate School, wir würden sagen an der Philosophischen Fakultät. Seine Kollegen von der Law School, also der Juristischen Fakultät, hätten ihn gebeten, sich in Deutschland nach einem Juristen umzusehen, der Lust hätte, an der Law School zu studieren. Sie hätten dort bis 1939 immer einen deutschen graduate Student gehabt und möchten diese Tradition wieder aufnehmen. Nur Bewerber mit überdurchschnittlichen Examensnoten vrärden aufgenommen. Ob ich interessiert sei? Ich zeigte sofort Interesse, stellte einige weitere Fragen und sagte, ich müßte zunächst mit meiner Frau sprechen. Der Amerikaner sah das ein, gab mir die Adresse der Yale Law School, wo ich mich gegebenenfalls bewerben wrürde. Es stünden Stipendien zur Verfügung, von denen ich zwar bescheiden, aber doch leidlich würde leben können. Daß ich meine Frau mitnähme, sei aber ausgeschlossen. Diese Mitteilimg schlug wie eine Bombe bei uns ein. Ich besprach mich zunächst mit meiner Frau. Wollten v«r uns noch einmal wieder für fast eine Jahr treimen? Wovon sollte sie leben, wenn ich keine Einkünfte als Rechtsanwalt hät106
te? Aber sie riet mir zu. Ihre amerikanische Ader kam hier deutlich zum Vorschein. Sie hat sich immer mit Amerika, wohin ihre Vorfahren 1848 ausgewandert waren, wie mit einer zweiten Heimat verbunden gefühlt. Auch meine Mutter war sofort einverstanden, und ebenso meine Sozien, die darin eine Chance für unsere Sozietät sahen. Ich sollte zu amerikanischen Anwälten Verbindimgen anknüpfen und amerikanisches Privat- und Gesellschaftsrecht studieren. Das konnte für unsere Firma nur nützlich sein. Für meine Frau vrärden sie irgendwie sorgen. So bewarb ich mich und vv^irde angenommen. Was das unter damaligen Verhältnissen bedeutete, kann man heute nur schwer ermessen. Der Krieg lag erst drei Jahre zurück. Deutschland war noch ein besetztes Land. Jeder Deutsche unterstand der Kontrolle der jeweils zuständigen Besatzungsmacht. Zum Ausland bestanden nur wenige, sorgfältig kontrollierte Verbindungen. Und plötzlich sollte ich als freier Mann in Amerika studieren. Eine unglaubliche Vorstellung! Der Reisetermin wurde auf den 17. September festgelegt. Ich sollte mit einer Gruppe von vierzig Deutschen in einer amerikanischen Militärmaschine fliegen. Vorher aber verschärften sich die finanziellen Probleme. Von meinen Ersparnissen konnte meine Frau nicht leben. Auch meine Sozien standen vor einer sehr schwierigen Lage. Jeder von uns hatte am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, zunächst nur 50 DM zur freien Verfügung erhalten. Dem standen unsere Bürounkosten von etwa 10000 DM monatlich gegenüber. Wie die Zukunft sich entwickeln vnirde, vHißte kein Mensch. Und nun auch noch meine Frau! Aber es fand sich ein Ausweg. Wir verkauften unser 14 Jahre altes, ziemlich klappriges Auto (Opel P4), das im Jahre 1934 neu 1800 Reichsmark gekostet und das ich 1947 gebraucht für 10000 relativ wertlose Reichsmark gekauft hatte, für neue 3100 DM. So verrückt waren die Zeiten, so verrückt war der Markt für gebrauchte Autos (neue gab es nicht). Damit und mit einem monatlichen Zuschuß meiner Sozien in Höhe von 200 bis 300 DM sowie mit der Pension meiner Mutter war das finanzielle Problem gelöst. Meine Frau entschloß sich, ebenfalls eine Ausbildung aufzunehmen, und zwar an der Höheren Handelsschule in Bremen in Handelskunde, Stenographie, Schreibmaschine und kaufmännischer Buchführung. Sie wollte mir damit später in meiner anwaltlichen Tätigkeit zur Seite stehen. Aber dann tauchte im letzten Moment ein weiteres finanzielles Problem auf. In den Formularen, die ich auszufüllen hatte, stand, daß beim Betreten amerikanischen Bodens eine Steuer von 5 Dollar zu entrichten sei. Woher die Dollar beschaffen? Jeder Handel mit Devisen war in Deutschland strengstens verboten. Jede Ausfuhr von fremder Valuta ebenfalls. Es machte mir Spaß zu sehen, wie hier auch der amerikanische Amtsschimmel laut wieherte. Offenbar sollten die Deutschen, die nach Amerika reisten, während des Fluges dorthin Geld beschaffen. Ich sagte mir aber, irgendvde vrärde es wohl klappen. Und siehe da, wieder ein Amerikaner, Robert W. Johnson, gleichfalls Gerichtsoffizier in Bremen, bei dem wir drei Tage vor meiner Abreise eingeladen waren und dem ich die Geschichte erzählte, zog einen 20-Dollarschein aus der Tasche und gab ihn mir. Das war sicher illegal, aber mein Problem war damit gelöst. 107
Unser Flug nach New York wurde südlich umgeleitet, weil über Island Sturmtief lag. Nach einer Zwischenlandung auf den Azoren kamen wir 18. September 1948 in New York an. Von dort fuhr ich zunächst zu meinem zius Hans Löning und seiner Frau Helen, die in Connecticut wohnten, und mich sehr gastlich aufnahmen. Und dann ging es weiter nach Yale.
ein am Sodie
Amerika 1948 Amerika befand sich damals auf dem Zenith seiner Macht. Es hatte den Krieg gewonnen und war selbst von Kriegsschäden im Land verschont geblieben. Seine Wirtschaft prosperierte. Sie hatte im Kriege durch Mobilisierung aller Reserven einen ungeheuren, auch technischen Aufschwung genommen. Seit 1932 regierten demokratische Administrationen, von 1932-1945 Roosevelt, danach Truman. Nach der großen Depression Anfang der 30er Jahre hatte Roosevelt ein von ihm als „New Deal" bezeichnetes Reformprogramm durchgesetzt. Mit ihm waren tiefe staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, die Industrie ebenso wie die Landwirtschaft, und in den sozialen Bereich verbunden. Der Gedanke, daß der Staat, insbesondere die Bundesregierung in Washington, für das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft und aller ihrer Teile, auch der Unterprivilegierten, verantwortlich sei, hatte sich durchgesetzt. Wenn es auch gegen den „New Deal" eine starke politische Opposition gab, so waren seine Grundgedanken 1948, als ich nach Amerika ging, doch im Lande vorherrschend, besonders in Yale. Außenpolitisch war die Kriegskoalition mit der Sowjetunion zerbrochen. Der von den Sowjets gesteuerte kommunistische Umsturz in der Tschechoslowakei, das kommunistische Vordringen in Griechenland und die Berlin-Blockade waren Signale für eine neue Phase der sowjetischen Expansionspolitik. Da die Amerikaner ihre Streitkräfte, anders als die Sowjetunion, demobilisiert hatten, waren ihre militärischen Bewegungsmöglichkeiten gering. Die amerikanische Luftwaffe hatte ihren Bestand an Flugzeugen so weit reduziert, daß es General Clay nur mit großer Mühe gelang, die für die Luftbrücke nach Berlin benötigten Flugzeuge zu beschaffen. Aber Amerika besaß als einziges Land der Welt die Atombombe. Seine eigene Sicherheit war nicht bedroht. Es war das mit Abstand mächtigste Land der Erde. Der übrigen Weh leisteten die USA in großzügiger Weise Hilfe, in Europa durch den Marshall-Plan. Beim Wiederaufbau Europas übernahm Amerika selbst die Führungsrolle. In diese Hilfsaktionen woirden auch die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands und Berlin einbezogen. Das Verhältnis der Amerikaner gegenüber Deutschland war noch zwiespältig. In einem meiner ersten Briefe vom September 1948 schrieb ich: „Die antideutsche Stimmung ist völlig abgeebbt", ein typisches Beispiel für voreiUge Urteile, die sich ein Besucher bei einem kurzzeitigen Aufenthalt in einem fremden Land bildet. Bald erkannte ich, daß diese Feststellung zu pauschal war, und so schrieb ich schon im November 1948: „Die allgemeine Reserviertheit gegenüber Deutschland ist doch noch ziemlich beträchtlich". 108
Das im Kriege beschlagnahmte deutsche Vermögen war weiterhin blokkiert. M e i n e Bemühungen um eine Lockerung der amerikanischen Position — ich sprach darüber u. a. mit Allen Dulles in seinem New Yorker Anwahsbüro erbrachten nicht viel. Das für die amerikanische Innenpolitik bedeutendste Ereignis des Jahres war die Präsidentschaftswahl am 2. November 1948. Gegen alle Voraussagen wurde Harry Truman gewählt. Für mich war es ein sensationelles Erlebnis. Alle meine Freunde, alle demoskopischen Institute hatten die W a h l des republikanischen Thomas E. D e w e y vorhergesagt. Und nun war Traman gewählt. Ein Desaster für die Demoskopie. Davon habe ich später noch mehr erlebt. Über die W a h l Tramans schrieb ich an Bürgermeister Spitta am 4. November 1948: „Sehr verehrter Herr Senator! Heute ist der zweite Tag nach einem der sensationellsten Ereignisse der amerikanischen Innenpohtik, der Wiederwahl Trumans zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Diese Tage vor, während und nach der Wahl werden mir unvergeßlich sein. Ich habe in den letzten Wochen wohl mit mehr als hundert Amerikanern der verschiedensten politischen Richtungen über den voraussichtlichen Ausgang der Wahl gesprochen. Es bestand nur eine Meinung: Dewey wird gewählt werden. In der Tat sprachen alle äußeren Anzeichen gegen Truman. Die Demokraten sind jetzt 16 Jahre am Ruder. Die letzte Wahl Roosevelts im Jahre 1944 wurde keineswegs als eine Vertrauenskundgebung ßr die Partei, sondern als ein persönlicher Erfolg Roosevelts angesehen. Hinzu kam, daß während des Krieges „ein Wechsel der Pferde" offenbar unzweckmäßig war. Alle diese Gründe fielen bei der jetzigen Wahl weg. Die sogenannte öffentliche Meinung des Landes war fast einmütig gegen Truman. 90 Prozent der Zeitungen, darunter die demokratische New York Times, hatten sich ßr Dewey entschieden und griffen Truman teilweise heftig an als unfähig, unbeständig und ungeschickt. Die eigene Partei ließ den Präsidenten weitgehend im Stich. Der konservative Flügel in den Südstaaten stellte einen eigenen Kandidaten (Thurman) auf der die Sonderstellung der Südstaaten in der Negerfrage gegenüber dem von Truman entwickelten Programm verteidigen sollte. Der linke Flügel der Demokratischen Partei trennte sich ebenfalls unter Wallace und bildete eine eigene sozialistische rußlandfreundliche Fortschrittspartei. Und selbst die Unterstützung, die der Präsident von der verbleibenden Demokratischen Partei erhielt, war ausgesprochen mager. Man hatte das Geßhl, daß die Partei sich mit Trumans Niederlage abgeßnden hatte und dieses peinliche Thema möglichst wenig berühren wollte. Daßr lag das Schwergewicht des demokratischen Wahlkampfes in der Propaganda ßr die demokratischen Gouverneurs- und Kongreßkandidaten, die gleichzeitig mit dem Präsidenten gewählt wurden. Die finanziellen Mittel, die Truman in den Wahlkampf stecken konnte, waren nur ein Bruchteil derjenigen, die den Republikanern durch Unterstützung seitens der Industrie und selbst einem Mann wie Wallace — er ist Millionär, was seine sozialistischen 109
Pläne besonders pikant macht - zur Verfügung standen. Kurz vor der Wahl versuchte Truman ein außenpolitisches Manöver, er bereitete eine direkte Fühlungnahme mit Stalin über den obersten Richter des Supreme Court Vinston vor. Auf Intervention Marshalls wurde dieser Plan im letzten Augenblick unterbunden, und die Presse ebenso wie die Rundfunkkommentatoren waren sich einig, daß Trumans Versuch ein schwerer politischer Mißgriff war und die Chancen ßr seine Wiederwahl endgültig zerschlagen habe. Schließlich ergaben die durch verschiedene weltbekannte Institute, darunter Gallup, angestellten Befragungen des Publikums, noch 2 Tage vor der Wahl, eine eindeutige Niederlage Trumans, und es ist kein Zweifel, daß besonders diese Ereignisse auf die statistik-gläubigen Amerikaner großen Eindruck gemacht haben. Einer unserer Professoren sagte uns geradezu, er habe Truman nicht gewählt, weil er nach allen Voraussagen eine Wiederwahl für unmöglich gehalten habe und er seine Stimme nicht einem aussichtslosen Kandidaten geben wollte. So war die Stimmung am Abend vor der Wahl. Ich war bei einer sehr lebhaften Diskussion zwischen verschiedenen Studenten dabei, die Republikaner waren völlig siegessicher, die Demokraten zerknirscht, keiner hatte auch nur den leisesten Zweifel. Und dann kam der Wahltag, der 2. November; ab 18 Uhr wurden die Ergebnisse über den Rundfunk bekanntgegeben. Bei den ersten Resultaten aus einzelnen Wahlbezirken führte Truman. Aber alle Reporter und Zuhörer waren sich einig, daß diese ersten Ergebnisse nichts besagten, sie kamen alle aus städtischen Wahlbezirken; wenn die Berichte aus den ländlichen Bezirken vorliegen würden, würde sich das Bild ändern. Eine Stunde nach der anderen verging, das Bild änderte sich nicht. Truman blieb in Führung, teilweise knapp, aber doch immer deutlich. Die Reporter — selbst aus dem demokratischen Hauptquartier — waren jedoch immer noch weit entfernt davon, diesen Ergebnissen eine entscheidende Bedeutung beizumessen. Man müsse bedenken, daß noch keine Ergebnisse aus dem Westen vorlägen, weil dort infolge der Zeitdifferenz 3 Stunden später gewählt wird. Wenn die erwartete republikanische Mehrheit aus Kalifornien berücksichtigt würde, könne man endgültige Schlüsse ziehen. Um 11 Uhr abends begannen die ersten zu ahnen, daß das Unfaßbare Wirklichkeit werden würde, daß nämlich Truman wiedergewählt würde. Die meisten Studenten blieben die Nacht über auf, ich ging um 1 Uhr zu Bett. Am nächsten Morgen um 8 ßhrte Truman immer noch mit jetzt etwa 500000 Stimmen Vorsprung, die Demokraten hatten ihre Fassung wiedergewonnen und fingen an, an den Sieg zu glaube. Um 11 Uhr morgens gab Dewey das Rennen auf und sandte dem Präsidenten ein Glückwünsch- und Loyalitätstelegramm, und nunmehr war klar: Truman war gewählt. Die ländlichen Bezirke des Mittelwestens, Kalifornien, einstmals Hochburgen der Republikaner, hatten für Truman gestimmt. Beide Häuser des Kongresses haben eine demokratische Mehrheit, es ist ein Sieg ohnegleichen. Ein Wunder? Ich glaube nicht. Die Analyse dieser Wahl, zweifellos eines Ereignisses von historischer Bedeutung, ist sehr schwierig wegen der Kompliziertheit der amerikanischen 110
innenpolitischen Verhältnisse. Immerhin glaube ich, daß einige Gründe schon jetzt erkennbar sind. Die Wahl ist zunächst zweifellos ein persönlicher Eifolg Trumans. Er ist wochenlang duch das Land gereist, hat 273 Reden in großen und kleinen Städten gehalten, und er hat sicher eine sympathische einfache Art, zu dem einfachen Mann zu sprechen. Jedermann empfindet, daß er es ehrlich meint. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend war vielmehr nach meiner Überzeugung, daß die Masse des Volkes das Gefühl hat, die Republikaner seien mit dem Großkapital liiert - und das Großkapital hat in den Augen der Massen nicht nur seinen Nimbus verloren, es hat eine deutliche Gegenbewegung ausgelöst, die man mit aller Vorsicht mutatis mutandis als sozialistisch bezeichnen kann. Diese Kräfte hat Truman aufgefangen, nicht sein rußlandorientierter ehemaliger Parteigänger Wallace, der eine vernichtende Niederlage erlitt. Natürlich ist dieser Sozialismus ein anderer als der europäische, aber er hat doch einige sehr markante Züge: Kontrolle des wirtschaftlichen Lebens durch die Regierung (New Deal), vor allem Preiskontrolle, arbeiterfreundliche Gesetzgebung, Bekämpfung der wirtschaftlichen Monopole in der Privatindustrie. In diesen Fragen hat das amerikanische Volk eine über alles Erwarten klare Haltung eingenommen. Insofern ist es eine wirklich demokratische Entscheidung. Gegen die Einflüsse von Zeitung und Rundfunk, gegen alle Voraussagen und Wahrscheinlichkeiten sind die Leute ihrem Gefühl gefolgt. Es ist kein Zweifel, daß Truman über Nacht ein mächtiger Mann geworden ist, ob er auch ein großer Mann geworden ist, muß die Zukunft lehren. Die Außenpolitik hat auf die Wahl nur insofern einen Einfluß gehabt, als Wallace's vollständige Niederlage auf die augenblickliche außenpolitische Lage zurückzuführen ist. Zwischen Republikanern und Demokraten bestanden keine außenpolitischen Meinungsverschiedenheiten. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, daß die USA künftig eine etwas konziliantere Haltung gegenüber Rußland einnehmen werden. " Unvergeßlich ist mir, wie wohl jedem Amerikabesucher jener Jahre, die Gastfreundschaft der Amerikaner. Am ersten Tag nach meiner Ankunft im Zuge von New York nach Norwalk lud eine ältere Dame, neben der ich saß und mit der ich ins Gespräch gekommen war, mich, den ihr völlig Unbekannten, zu einem Besuch für das Wochenende in ihr Haus nach New Hampshire ein. Daraus vmrde nichts, aber die Einladungen nahmen kein Ende. Besonders die DeutschAmerikaner nahmen sich meiner rührend an. Hans und Helen Löning, mein Sozius aus Bremen, Annemarie Kramer, eine Cousine meiner Mutter, und die Familie Stengel, bei der sie in New York wohnte, schenkten mir einen Anzug für 50 Dollar (lange Zeit das Prachtstück meiner Garderobe). Georg und Gertrud Pape in New York (er stammte aus Zeven und war ein entfernter Vetter meines Vaters). Carl und Mathüde Nitze in Baltimore. Er war ein Jugendfreund meines Schwiegervaters. Die Familie Prior in Baltimore, die Verwandten meiner Frau. Als ich an einem Fest im Deutschen Verein in New York im gemieteten Smoking III
teilnahm, erhielt ich im Laufe des Abends von zwanzig Teilnehmern eine Einladung zu einem Wochenendbesuch in ihrem Haus. Praktisch jeder, mit dem ich sprach, lud mich ein. Aber der Höhepunkt meiner Erfahrungen mit amerikanischer Gastfreundschaft war zweifellos meine Begegnung mit Bob Price. Ich machte eine Fußwanderung in der Nähe von New Haven, kam aber nicht weit, weil jeder zweite Wagen anhielt und mich fragte, ob er mich mitnehmen dürfe. Schließlich gab ich auf und stieg zu einem sympatisch aussehenden, etwa 28-jährigen Amerikaner ein. „My name is Bob Price", sagte er. Ich: „My name is Karl Carstens". Wir unterhielten uns angeregt. Er fuhr mich bis zu dem Hause, in dem ich wohnte und lud mich zu einer Party ein, die seine Freundin Priscilla am nächsten Wochenende gab. Ich nahm dankend an und bat, als es so weit war, drei meiner Yale-Freunde, mich zu dem Haus von Priscilla zu fahren, da ich sonst schlecht dorthin gekommen wäre. Vor dem Hause sagten sie plötzlich: „Wir kommen mit". Aber das, so meinte ich, ging nicht. Ich war allein eingeladen von einer Dame, die ich gar nicht kannte und konnte dort nach meinem Verständnis von Gastlichkeit unmöglich mit drei weiteren Personen, die gar nicht eingeladen waren, erscheinen. „Gut", sagten meine Freunde, „dann eben nicht" und fuhren weiter. Im Hause begrüßte mich Priscilla sehr herzHch und fragte mich als erstes, warum ich die drei netten jungen Männer, die mit mir im Auto gesessen hätten, nicht mitgebracht hätte. Ich war total perplex und merkte, wie unvollständig meine Vorstellungen von amerikanischer Gastfreundschaft waren. Während meines Aufenthalts in Amerika ging ich häufig ins Theater. In New Haven gab es ein Theater, in dem die Stücke im Hinblick auf ihre Publikumswirksamkeit erprobt vmrden. Das Publikum in New Haven habe, so sagte man, etwa den gleichen Geschmack wie das in New York. Kam das Stück in New Haven gut an, ging es zum Broadway. So habe ich manche der großen Erfolgsstücke jener Jahre gesehen, einige Musicals, aber auch ein Stück, das sich mir unauslöschlich eingeprägt hat: „Two Blind Mice". Es handeh von einem Büroleiter und seiner Sekretärin, die zu einer im Kriege eingerichteten Dienststelle gehörten. Durch ein Versehen war dieses Büro, obwohl inzwischen völlig überflüssig, nach dem Kriege nicht aufgelöst worden. So gingen die beiden weiter jeden Morgen zu ihrer Arbeitsstätte, blieben dort ein paar Stunden, obwohl sie effektiv nichts zu tun hatten. Es ging auch keine Post ein. Aber sie erhielten am Ersten jeden Monats ihr Gehalt. Eine herrliche Farce. Das größte Theatererlebnis jenes Jahres war für mich das Stück „Streetcar named Desire" von Tennessee Williams, das ich am Broadway sah mit dem damals noch unbekannten Marlon Brando in der Hauptrolle. Es gehört zu den stärksten Theatereindrücken meines Lebens. Yale Yale ist eine der berühmtesten Universitäten Amerikas. Sie ist aus einem College hervorgegangen, das im Jahre 1701 in Connecticut gegründet wurde. 1716 wurde der Sitz nach New Haven, Connecticut, verlegt. 1718 erhielt das 112
College eine bedeutende Stiftung von Elihu Yale und nahm bald danach dessen Namen an. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts besteht die Yale Law School. Dort studierte um 1865 ein Amerikaner namens John B. Sterling, der es als AnwaU später zu ungeheurem Reichtum brachte. Er hinterließ der Universität 50 Millionen Dollar. Von diesem Geld v^irden um 1930 einige prachtvolle Gebäude errichtet, so die riesige Universitätsbibliothek und die Law School in gotischem Stil, nicht neogotisch, sondern in getreuer Nachahmung der englischen Gotik, besonders der Universität Cambridge. Man fühlte sich ins Mittelalter zurückversetzt. Aber innen waren die Räume mit jedem denkbaren Komfort ausgestattet. Ich wohnte im Dormitory, im Wohntrakt, der Law School in Zimmer 2672. Es war eine getreue Imitation einer mittelalterlichen Studentenstube, bleigefaßte Butzenscheiben in den Fenstern, ein Kamin. Ich kam mir vor wie in Fausts Studierstube. Die Law School ist eine autonome Einrichtung der Universität. Sie hat eine bedeutende rechtswissenschaftliche Tradition. Arthur L. Corbin, der große Ziviljurist, lehrte hier vor meiner Zeit. Aber ihre geistig-politische Tradition ist mindestens ebenso bedeutend. Sie war und ist liberal, progressiv, politisch dem linken Flügel der Demokratischen Partei nahestehend, sehr stolz auf ihren politischen Einfluß. Durch Seminare und öffentliche Diskussionen, die in Yale veranstaltet werden, wirkt die Law School auf das politische Geschehen, einschließlich der legislativen Arbeit des Kongresses, ein. Viele führende Politiker Amerikas sind ehemalige Schüler der Universität Yale und insbesondere auch ihrer Law School. Ihr Einfluß ist heute nicht mehr so groß wie vor 40 Jahren. Der Westen Amerikas hat heute ebenfalls starken Einfluß auf-die Entscheidungen in Washington. Sehr eng waren von jeher die Verbindungen zwischen der Yale Law School und dem US Supreme Court. Zu meiner Zeit standen drei der neun Richter Yale nahe, die sogenannten liberalen Richter Hugo L. Black aus Alabama, William O. Douglas aus Connecticut, der früher Professor in Yale gewesen war, und Wiley В. Rutledge aus Indiana. Sie sind bahnbrechend für die liberale Rechtsprechung des Gerichtshofs bis heute gewesen, vor allem im Bereich des Abbaus der Rassendiskriminierung, aber auch der strikten Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion. Das Verbot des Schulgebets, das heute in Amerika gih, ist eine der Ausvdrkungen dieser Rechtsprechung. Justice Black lernte ich kennen. Wir führten ein etwa einstündiges Gespräch. Es war für mich ein großes persönliches Erlebnis. Aber es v\rurde auch deutlich, daß er Deutschland reserviert gegenüberstand. Die Bedeutung des Supreme Court für das politische Leben Amerikas kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er kontrolliert Exekutive und Legislative, ist allerdings in seiner Rechtsprechung, soweit es sich um die Annullierung von Bundesgesetzen handelt, wesentlich zurückhaltender als das deutsche Bundesverfassungsgericht. Die Studenten der Yale Law School stellten eine Elite des Landes dar. Ihre Zahl überstieg selten 500, war also verhältnismäßig klein. Der Lehrkörper bestand aus etwa 25 Professoren. Nur etwa 15 Prozent der Bewerber wurden 113
angenommen. Zugleich war Yale aber eine der teuersten Schulen Amerikas, was zu ihrem liberal-progressiven Image in einem gewissen Widerspruch stand. Aber die Schule glich das aus, indem sie zahlreiche Stipendien vergab. Die Yale Law School stand damals und steht bis heute in Konkurrenz zur Harvard Law School, die zu meiner Zeit als die konservativere galt. Das zeigte sich u. a. darin, daß in Yale Frauen zum Studium zugelassen waren, in Harvard dagegen nicht. Eine sehr wichtige Rolle spielten in meinem Yale-Jahr die unzähligen Parties, an denen ich teilnahm, Cocktail-, Dance-, Dinner-Parties. Ich wurde immer eingeladen, einmal an einem Sonnabend zu fünf Cocktail-Parties hintereinander. Da war ich etwas benebelt, aber nicht betrunken. Köstlich waren die Tanzfeste. Ein Tanz dauerte bis zu dreiviertel Stunden. Es hieß, damit die Männer wieder nüchtern vrärden. Hatte man eine entsprechende Partnerin, konnte das sehr reizvoll sein. Andernfalls hatte man Pech. Einmal tanzte ich mit einer jungen Frau, deren Mann an der Law School studierte. Sie beklagte sich bitter darüber, daß er immer nur von Politik redete. Ich versuchte, sie zu trösten und sagte: „Aber es ist doch besser, als wenn der Ehepartner, wie bei mir, 3000 Meilen entfernt ist". Aber sie war entschieden anderer Ansicht. Als ich einmal die gut aussehende junge Frau eines Freundes nach Hause brachte — er selbst war so betranken gewesen, daß er das Fest schon vorher verlassen mußte —, sagte sie plötzlich zu mir: „Don't be so German, be human". Ich verstand die Aufforderung, widerstand aber nicht leichten Herzens der Versuchung. Sheila, eine Mitstudentin, die ebenfalls sehr hübsch aussah, saß bei einer Cocktail-Party neben mir auf dem Sofa, hob plötzlich ihren Rock hoch und wandte sich an mich mit der Frage: „Do I have sexy legs?" Diese Frage bejahte ich ohne Zögern. Die Amerikanerinnen an der Law School waren neben ihren beachtlichen geistigen Leistungen durchweg sehr hübsch und auch attraktiv angezogen. Sie stelken auch insofern eine Elite dar. Meine sportliche Betätigung bestand vor allem im Schwimmen. Ich ging zweimal wöchentlich ins Gymnasium, eine prachtvolle Schwimmhalle (in Yale vioirde neben Fußball der Schwimmsport besonders gepflegt). Es gab getrennte Hallen für Männer und Frauen; die Männer schwammen nackt. Bevor man das Schwimmbecken erreichte, ging man durch eine Schleuse, in der der untere Teil des Körpers durch scharfe Wasserstrahlen von allen Seiten, auch von unten gereinigt wurde. Im Ergebnis ist diese Methode wahrscheinlich hygienischer als das Baden in Badehosen. Mehrfach habe ich Football-Spiele besucht, bei denen die Yale-Mannschaft spielte. Es waren riesige Volksfeste mit 60000 Zuschauem, die in sommerlichen Kleidern und weißen Hemden tadellos angezogen waren. Die Regeln des Spiels habe ich nicht ganz begriffen. Aber eine Szene vergesse ich nie : Der Mittelstürmer der Yale-Mannschaft, ein Schwarzer, war ungeheuer schnell imd gewandt. Einmal rannte er mit dem Ball im Arm auf das gegnerische Tor zu. Ein Verteidiger der anderen Mannschaft breitete die Arme aus, um ihn zu stoppen. Unser Mann lief direkt auf ihn zu. Der andere schloß die Arme, weil er dachte, er hätte ihn gefangen. Aber unser Mann war blitzschnell nach links ausgewichen und rannte weiter. Seine Bewegungen waren schneller, als das Auge sie wahrnehmen konnte. 114
Bei einem anderen Spiel ereignete sich etwas für mich ganz Unverständliches. Das Publikum schrie begeistert, während auf dem Spielfeld nichts Sensationelles geschah. Die Erklärung: Die Zuschauer verfolgten mit einem kleinen Radioapparat gleichzeitig ein anderes Spiel und applaudierten, wenn da ein Tor fiel. Heute ist das nichts Besonderes, aber 1948 war es für einen Deutschen aus dem zerstörten Europa doch ein Grund zu staunen. Nachdem ich ungefähr zwei Monate in Yale war, setzte eine Kampagne von einer kleinen Gruppe von Studenten gegen mich ein. Ich sei Offizier der Wehrmacht gewesen. Sie verlangten, daß ich die Schule vweder verlassen sollte. Das war eine unangenehme Zeit für mich, zumal ich von den Aktivitäten dieser Gruppe nur indirekt hörte. Niemand sprach mich unmittelbar an. In dieser Lage erwies sich Sam Hobbs aus Alabama als guter Freund. Er sagte: „Sie schießen auch gegen mich vde überhaupt gegen die Weißen aus den Südstaaten. Wir seien Rassisten, sagen sie, und mißhandelten die Schwarzen. Auch dich wollen sie zum Rassisten abstempeln. Warte ab, die Sache wird sich verlaufen." Und so geschah es. Sam Hobbs Art, mich zu beruhigen, habe ich als sehr hilfreich empfunden. Aber ganz frei von rassischen VorurteUen war auch Yale nicht. Zwar studierten an der Law School mehrere schwarze Amerikaner, mit denen wir, auch ich, einen guten freundschaftlichen Kontakt hatten. Einer von ihnen lud seine Freunde zu einer Party nach New York ein, wo seine wohlhabenden Eltern ein Haus bewohnten. Etwa zwanzig sagten zu. Als ich etwas verspätet erschien, war keiner der Gäste da. Kurz nach mir kam Etienne Bloch, unser französischer Freund. Aber wir waren und blieben die einzigen. Die Mutter unseres Freundes und seine Schwester hatten ein herrliches kaltes Buffet vorbereitet. Es gab Getränke in Mengen. Aber Etienne und mir blieb der Bissen im Halse stecken. Wir versuchten, so gut wir konnten, Konversation zu machen, aber verabschiedeten uns schließlich in sehr gedrückter Stimmung. Die meisten der eingeladenen Mitstudenten waren, obwohl sie zunächst zugesagt hatten, einfach, ohne pin Wort zu sagen, weggeblieben. Ich habe einigen, mit denen ich befreundet war, bittere Vorwürfe gemacht. Wie konnten sie unseren schwarzen Freund so bloßstellen! Aber an dem Geschehen war nichts mehr zu ändern. Eine solche Szene würde sich heute nach meiner Überzeugung nicht mehr vdederholen. Faszinierend war die politische Atmosphäre in der Studentenschaft der Law School. Bis tief in die Nacht hinein wurde über die wichtigsten Fragen der Innen- und Außenpolitik diskutiert, und bald beteiligte auch ich mich daran. Ich lebte hier mit vielen Männern zusammen, die an der politischen Entwicklung der USA und der Welt starken Anteil nahmen, die sich mit ihrem Lande identifizierten, und von denen ein großer TeU in den öffentlichen Dienst gehen wollte. So etwas hatte ich in den 34 Jahren meines Lebens noch nicht erlebt. Meine Erfahrungen ebenso wie die meiner Freunde in Deutschland war größte Skepsis gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten. Ich war Rechtsanwalt, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, und woUte es bleiben. Nichts lag mir femer, als eine Karriere im Staatsdienst anzustreben. Mein Aufenthalt in Amerika hat meine Einstellung in dieser Frage verändert. Die langen Diskussionen mit meinen ame115
rikanischen und ausländischen Mitstudenten hatten daran einen erheblichen Anteil. Meine finanziellen Verhältnisse waren wieder einmal bekniffen. Ich drehte jeden Cent um. Aber diesen Zustand kannte ich aus meiner Jugendzeit. Er beeinträchtigte meine Lebensfreude überhaupt nicht. Auf die besorgte Frage meiner Mutter, ob ich genug zu essen kriegte, gab ich in einem Brief Rechenschaft: „Frühstück: Kaffee, Rührei, Toast mit Butter und Marmelade im Drugstore etwa 35 Cents. Mittags in der Dining-Hall gutes Essen für 66 Cents. Abends beköstigte ich mich selbst. Das war sehr viel billiger. Im Durchschnitt brauchte ich 40 Cents für das Abendessen." Man sieht, es war kein üppiges, aber ein auskömmliches Leben. Professoren und Vorlesungen Der erste Professor, mit dem ich in Yale zusammentraf, war Myres S. McDougal. Er leitete das Programm für die ausländischen Studenten der Law School. Es war eine für mein weiteres Leben bedeutsame Begegnung. McDougal fragte mich, für welche Vorlesungen ich mich interessierte. Ich nannte Vertragsrecht, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht. Er meinte, ich sollte auch das öffentliche Recht einbeziehen, worauf ich ihm sagte, warum ich daran nicht so sehr interessiert sei. Ich sei Rechtsanwalt und woUte durch mein Studium in Amerika meine berufliche Basis erweitern. Ich hätte früher daran gedacht, in den Staatsdienst zu gehen. Aber meine Erfahrungen während der Hitler-Zeit hätten mich davon abgebracht. Ich hätte zu oft mit angesehen, wie Beamte durch politischen Druck gezwungen wurden, Dinge gegen ihre bessere Überzeugung zu tun. Dem wollte ich mich nicht aussetzen. Aber McDougal insistierte. Er meinte, ich sollte mich einmal in den von ihm empfohlenen Fächern umsehen. Dann könnte ich immer noch entscheiden, welchen beruflichen Weg ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland einschlagen wollte. Mehr aus Höflichkeit — ich studierte immerhin aufgrund eines Stipendiums der Universität an der Law School — als aus Überzeugung folgte ich seinem Rat. Damit ist mein Interesse am öffentlichen Recht in einer solchen Weise wiedergeweckt worden, daß ich mich — nach Deutschland zurückgekehrt - in Völkerrecht und Staatsrecht habilitierte®). Und auch meine Bereitschaft, 1949 in den bremischen Staatsdienst zu gehen, war stark durch meine amerikanischen Erfahrungen bestimmt. Ich belegte eine Vorlesung bei McDougal über internationales Recht und ein Seminar, das den Titel „Law Science and Policy" trug, und das er zusammen mit dem bedeutenden Soziologen Harold L. Lasswell veranstaltete. Durch dieses Seminar bin ich ungeheuer bereichert worden, obwohl ich zu Anfang so gut wie nichts verstand. Es war keine rechtswissenschaftliche Lehrveranstaltung in unserem Sinne, sondern der Versuch, ein Gesamtsystem zur Erklärung und Beein-
5) Siehe dazu Kap. V S. 188. 116
flussung gesellschaftlicher Vorgänge zu entwickeln, in das Politik und Recht integriert sind. McDougal und Lasswell nennen es den policy oriented approach. Sie gehen davon aus, daß der Mensch bestimmte Werte (values) erstrebt. Als die wichtigsten nennen sie die folgenden acht (hinter die englischen Begriffe setze ich einige erläuternde Beispiele) : -
Power (Macht) Respect (Ansehen, Nichtdiskriminierung) Enlightenment (Bildung) Wealth (materielle Güter) Well-being (Gesundheit, Sicherheit) Rectitude (Sittlich verantwortliches Handeln aufgrund freier Entscheidung) Skill (Ausbildung) Affection (Zuneigung). Später hat McDougal alle diese Werte zu einem zentralen Wort „human dignity" (Menschenwürde) zusammengefaßt. McDougal und Lasswell fordern als Ziel staatlichen und gesellschaftlichen Handelns ein „wide sharing", also eine breite Streuung dieser Werte unter den Teilnehmern am gesellschaftlichen Prozeß. Darin liegt eine kühne, bedeutsame Erweiterung des traditionellen Demokratiebegriffs. Der einzelne soll nicht nur an der Ausübung politischer Macht durch ein allgemeines gleiches Wahlrecht, sondern ebenso an den sieben anderen Grandwerten teilhaben. Das bedeutet zum Beispiel: Niemand darf wegen seiner Hautfarbe, seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Religion diskriminiert werden. Jeder hat das Recht auf freien Zugang zu den Bildungseinrichtungen und zu den Ausbildungsstätten seines Landes. Er hat Anspruch auf eine Beteiligung an den materiellen Gütern, über die sein Land verfügt (zum Beispiel auch Mindestlohn). Im Weltmaßstab dehnen McDougal und Lasswell diese Forderung auf die gesamte Menschheit aus. Jeder Mensch hat Ansprach auf persönliche Sicherheit und gesundheitliche Vorsorge. Er muß die Möglichkeit haben, sich an kirchlichen oder weltlichen Organisationen und Vereinen zu beteiligen, in denen gesellschaftliche oder auch politische Ziele verfolgt werden. Hunderte von Forderangen dieser Art enthält das von McDougal und Lasswell entwickehe System. Wichtig ist dabei, daß sie keine gleiche Verteilung der zentralen Werte verlangen. Dann wöirde es sich um eine sozialistische Theorie mit der ihr unvermeidlich innewohnenden Zwangstendenz handeln, sondern „Wide sharing", eine breite Streuung. Damit erhält die Gesellschaft humane Züge· Die zweite Bedeutung der Theorie von Lasswell und McDougal liegt im Bereich der Rechtswissenschaft. Nach ihrer Vorstellung soll das Prinzip des „wide sharing of values" sowohl für die Schaffung neuer Rechtssätze als auch für die Inteφretation bestehender rechtlicher Normen gelten. McDougal weist nach, daß das Recht nicht einfach ein System von abstrakten Regeln ist, sondern ein fortlaufender historischer Prozeß zur Verwirklichung von bestimmten Vorstellungen für das gemeine Wohl. Regeln, so sagte er, sind immer mehrdeutig. Er will die Teilnehmer am juristischen Entscheidungsprozeß über die Situation und 117
die Wahlmöglichkeiten, die sie besitzen, aufklären, so daß sie sich für die Alternative entscheiden, die dem wahren Interesse am besten gerecht wird. Zu diesem Zweck sammeh er alle Daten, die für die jeweils zu treffenden Entscheidungen von Bedeutung sind. Dazu sagte Professor Michael Reisman, der Nachfolger McDougals auf dem Lehrstuhl für Völkerrecht: „Dieses System hat dutzende von Mitarbeitern, Generationen von Studenten und Legionen von Forschungsassistenten erschöpft. Aber es hat umfangreiche, wohl zu Recht berühmte Bücher hervorgebracht".®) Als McDougal im Oktober 1986 seinen 80. Geburtstag feierte, wurde ich gebeten, die Laudatio auf ihn zu halten. Ich bin dazu eigens nach Amerika geflogen. 600 Teilnehmer hatten sich zu seinen Ehren zum Dinner eingefunden, davon die meisten frühere Schüler, auch viele ehemalige Studenten aus anderen Ländern. Und als einer nach dem andern das Wort nahm, zog sich wie ein roter Faden der Satz durch ihre Rede: „He changed the course of my life". Ein Ghanaer sagte es, ein Pakistani, und mit andern Worten auch ich. Michael Reisman, der für die Fakultät sprach, faßte den gleichen Gedanken in folgende Worte: „Jeder, der bei McDougal studiert hat, ist für sein ganzes Leben verändert". Das stimmt. Es ist eine Feststellung, die nur für sehr wenige Hochschullehrer in der Weh zutrifft. Von den übrigen Vorlesungen, die ich in Yale hörte, erwähne ich hier nur zwei. Friedrich Kesslers „Contracts" und George Bredens „The Function of the Supreme Court today". Kessler, der in Deutschland geboren war und hier studiert hatte, hielt eine glänzende Vorlesung in bester deutscher Tradition, klar gegUedert und systemaüsch geordnet. Stundenlang sprach er über die „consideration", jenes berühmte Element des angelsächsischen Vertragsrechts, ohne dessen Vorhandensein ein Vertrag ungültig ist. Aber die spannendste aller Vorlesungen war das Seminar bei George Braden „The Function of the Supreme Court today". Braden lud uns dazu in sein Haus ein. Wir lernten seine charmante Frau kennen, die aus der Familie des deutschen Historikers Leopold von Ranke stammte. Wir waren zehn Studenten. Jeder repräsentierte einen Richter des Obersten Gerichtshofs, ich als Zehnter lief ohne besondere Aufgabe mit. Wir bekamen für bestimmte von Braden ausgesuchte Fälle die Akten des Supreme Court, die bekanntlich gedruckt werden, bevor der Supreme Court entscheidet. Und nun hatte jeder Student die Aufgabe, so zu votieren, wie seiner Meinung nach der von ihm dargestellte Richter votieren würde. Also nicht die eigene Meinung sollte für das Votum maßgebend sein, sondern die vorgestellte Auffassung des jeweiligen Richters. Wenn die Entscheidung ergangen war, verglichen wir die Voten der Richter mit unseren Prognosen. Wir lagen meistens richtig. Es wurde deutlich, was bei uns in Deutschland meist schamhaft verschwiegen vdrd, aber hier natürlich ebenso gilt wie in Amerika, wie stark der juristische Entscheidungsprozeß von den politischen und weltanschaulichen Grundüberzeugungen, aber auch von den persönlichen PräMyres S. McDougal, Harold D. Lasswell, Lung-Cha Chen, Human Rights and World Public Order, New Haven —London 1980. 118
ferenzen des einzelnen Richters, von seiner Eitelkeit, dem Wunsch, durch seine Meinung Aufsehen zu erregen, oder umgekehrt möglichst auf der Seite der Mehrheit zu stehen, und andere nicht in der Verfassung vorgesehene Faktoren beeinflußt wird. übrigens habe ich dabei auch die Haltung des „leaning backward" kennengelernt. Sie besagt, wenn ein Richter wegen seiner persönlichen Beziehung zu dem zu entscheidenden Fall als befangen angesehen werden könnte, daß er sich zurücklehnt, also eher im entgegengesetzten Sinne entscheidet, als man von ihm erwarten würde. Als Beispiel galt ein katholischer Richter am Supreme Court, der besonders strenge Anforderungen stellte, wenn es sich um einen Streitfall mit katholischem Hintergrund handelte. Bei Braden hörte ich außerdem eine venvaltungsrechtliche Vorlesung „Administrative Process". Femer nahm ich gelegentlich an den Vorlesungen „Credit Transactions" bei dem Dekan Wesley E. Sturges, einer großartigen Persönlichkeit, der eine ungeheure Sicherheit und Kraft ausstrahlte, und „Public Control of Business" von Eugene Rostow teil. Rostow bekleidete später wichtige Funktionen in der republikanischen Administration, vor allem im Bereich der Rüstungskontrolle. Meine Frau und ich fanden zu ihm und seiner Frau einen freundschaftlichen Kontakt. Außer den regulären Vorlesungen und Seminaren veranstaUete die Law School regelmäßige Vorträge. Einmal sprach Walter Hallstein, der damals eine Gastprofessur an der Georgetown University in Washington D.C. innehatte, über die Lage in Deutschland und die Schaffung einer deutschen Verfassung. Im Anschluß an die Vorlesung fand eine Diskussion statt, bei der einige Amerikaner meinten, die Deutschen sollten den Neubeginn ihres politischen Lebens nicht zu stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beeinflussen lassen, sondern diese Epoche als vergangen betrachten und ihren Blick auf die Aufgaben und Ziele in der Zukunft richten. Man hält es kaum für möglich, daß so etwas 1948 in Amerika gesagt wairde. Ich griff mehrfach in die Diskussion ein und unterstützte Hallsteins Standpunkt. Daher rührte meine persönliche Beziehung zu Hallstein, die eine wichtige Rolle bei meiner späteren Berufung in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland 1954 gespielt hat. Freunde und Kommilitonen Das Zusammenleben mit anderen Studenten der Law School war ungeheuer anregend und befruchtend. Wie ich schon sagte, vwr diskutierten bis in die Nächte hinein. Was ich über Amerika weiß, geht weitgehend auf diese Gespräche zurück. Der geistig bedeutendste meiner Mitstudenten war Alan Smith aus North Carolina, jünger als ich, von klarer Urteilskraft, ein glänzender Redner, äußerst eindrucksvoll in seinen Formulierungen. Leider habe ich den Kontakt zu ihm später verloren, ebenso zu Albert Cotton, etwas gleichaltrig mit mir, auch ein Südstaatler. Zu dieser Gruppe gehörte schließlich Sam Hobbs aus Alabama, dessen Unterstützung in einer für mich schwierigen Lage ich schon erwähnt ha119
be. Mit ihm bin ich bis heute befreundet. Wir sahen uns bei meinem Staatsbesuch 1983 in Washington wieder. Häufig war ich zu Gast bei Davis und EUinor Morton, die - soweit ich weiß — einzigen Anhänger der RepubHkanischen Partei in unserem Freundeskreis. Aber bei manchen wußte ich nicht, welcher Partei sie zuneigten. So bei David Bayne, dem Jesuiten, der nach einem vollen theologischen Studium und nach der Priesterweihe nunmehr Rechtswissenschaft studierte, um eine Lehrtätigkeit an einer Universität aufzunehmen. Viele Jahre war er Professor in Iowa. Er ist ein bedeutender Gesellschaftsrechtler geworden und hat uns oft in Deutschland besucht. Wir sind enge Freunde. Unter den vielen ausländischen Studenten, mit denen ich oft zusammenkam, nenne ich Jovito Salonga von den Philippinen. Er wurde ein bedeutender politischer Führer in seinem Land und ein scharfer Gegner von Präsident Marcos. Femer möchte ich erwähnen: — Gerhard Bebr, ein Tscheche, der später Amerikaner wurde und bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel arbeitete. — Jan Sharma aus Indien, ein hervorragender Jurist, später Dekan einer großen Law School in Indien. — Etienne Bloch aus Frankreich, der später ein hohes Richteramt in Versailles bekleidete. — Peter Hoets aus Holland, ein besonders liebenswürdiger Freund, mit dem ich bis heute gelegentlich zusammentreffe. Er ging später als Anwalt zu Coca Cola. — Guelfo Frulla, ein Florentiner, der die italienischen Sendungen der Radiostation New Haven sprach und dessen Stimme, wohin wir kamen, von den Italo-Amerikanem sofort erkannt wurde. — Karl Graf, Mario Ludwig, Jürg Sulzer, drei Schweizer, die später interessante wirtschaftliche Positionen bekleideten. Mit allen Dreien war ich befreundet. Jürg Sulzer starb leider früh. Mit ihm verlor ich einen besonders guten Freund. Das Jahr in Yale gehört auch zu den arbeitsreichsten meines Lebens. Aber nicht nur ich, alle Studenten der Law School arbeiteten intensiv. Das hängt vor allem mit der amerikanischen Vorlesungsmethode zusammen. Der Professor gibt von einer Stunde zur andern Aufgaben (assignments). Da das amerikanische Recht zu einem erheblichen Teil case law, also ein Recht ist, das sich in Gerichtsentscheidungen ausdrückt und fortentwickelt, besteht die Aufgabe meist darin, eine bestimmte Zahl von Fällen in den großen Entscheidungssammlungen der Bundesgerichte, aber auch einiger einzelstaatlicher Gerichte zu lesen. Praktisch kann das bedeuten, daß man von einer Vorlesungsstunde bis zur nächsten 50 Seiten Text lesen muß. Tut man das nicht, versteht man in der folgenden Stunde nicht, worum es geht. So sitzen denn die Studenten während der Woche täglich bis abends spät in der großen Law Library, die bis 23 Uhr geöffnet ist, und lesen. Für die graduate fellows wie mich gab es in den Magazinräumen der Bibliothek besondere Arbeitsplätze, „stalls", ziemlich eng, aber doch in völliger Abgeschiedenheit und Ruhe. In meinem „stall" habe ich viele Stunden ver120
bracht. Dort habe ich mir auch angewöhnt, meine Füße beim Arbeiten auf das Puh zu legen, eine sehr angenehme Körperhaltung, die aber in Deutschland lange verpönt war. Examen und Rückkehr nach
Deutschland
Als sich das Examen näherte, legte ich bei der Arbeit noch etwas zu. „Ich lebe vollständig in Examensvorbereitungen wie zuletzt in Deutschland 1936 vor dem Referendar-Examen", schrieb ich. Ich kam mir selbst etwas komisch vor, war ich doch mittlerweile 34 Jahre alt und nach normalen Vorstellungen kein Examenskandidat mehr. Ich arbeitete täglich, einschließlich der Wochenenden, mindestens 10 Stunden. Das Examen für den Master of Laws (LL.M.), den man nach einem erfolgreich abgeschlossenen Grundstudium von mindestens drei Jahren in einem weiteren Jahr erwerben kann, besteht aus zwei Teilen. Am Ende des ersten Semesters schreibt man Klausuren, am Ende des zweiten Semesters eine längere Hausarbeit (paper). Die Klausuren wTirden im Januar geschrieben. Es dauerte Wochen, bis die Ergebnisse bekannt wurden. Ich hatte in allen drei Fächern die Note A (excellent). Bei einer Klausur war ich sogar nach der Punktzahl der beste der Klasse von 110, fast ausschließlich amerikanischen Studenten. Ich freute mich natürlich sehr darüber. Immerhin gehörten meine Mitstudenten zur geistigen Elite ihrer Nation, und von denen die meisten bereits jahrelang amerikanisches Recht studiert hatten, während ich meine Kenntnisse in vier Monaten erwerben mußte. Auch hatte ich immer noch leichte Schwierigkeiten, mich im EngUschen wirklich perfekt auszudrücken. Wenn auch Gustav Hilger, der langjährige frühere Chefdolmetscher an der deutschen Botschaft in Moskau und Freund meines Schwiegervaters, den ich in Washington besuchte, etwas maliziös an meine Frau schrieb: „Dein Gatte spricht so gut Englisch, daß sein Deutsch bereits einen deutlichen angelsächsischen Akzent aufweist". An der Law School waren meine Examensergebnisse eine kleine Sensation. Alan Smith sagte in der für ihn typischen prägnanten Sprache mit leichter Ironie: „Deine Examensergebnisse, und daß Du Offizier in der deutschen Armee warst, machen Dich hier berühmt". Die Erklärung für mein gutes Abschneiden sehe ich einmal in meinem guten, jedenfalls kurzzeitig extrem aufnahmefähigen Gedächtnis, vor allem aber in meiner in der deutschen juristischen Ausbildung jahrelang geschulten Fähigkeit, einen Stoff zu gliedern, das Dargesteüte jeweUs nur an einer, und zwar der richtigen Stelle innerhalb dieser GUederung zu präsentieren, Wiederholungen strikt zu vermeiden und die Gedanken in logischer Folge, bei der sich ein Glied aus dem andern ergibt, vorzutragen. Mit anderen Worten, ich schlug meine Konkurrenten mit der gerade in Yale so verpönten Methode logischer Konklusion. Denn für die Darstellung eines juristischen Problems, nicht für die Suche nach der richtigen Lösung ist stringente Logik die beste Methode. Den zweiten Teil des Examens, die Hausarbeit, schrieb ich im Mai 1949 über ein Problem aus dem Vertragsrecht. Es wurde ein Papier von 220 von mir 121
selbst getippten Seiten, über das Ergebnis dieser Arbeit habe ich keine Unterlagen mehr. Immerhin wird es nicht schlecht gewesen sein, denn McDougal bot mir an zu bleiben und eine Lehrtätigkeit an der Law School zu übernehmen. Ich hätte dann meine Frau nachholen können. Das Angebot war aber finanziell nicht übermäßig attraktiv. Auch schien mir meine künftige Situation nicht sicher genug. Der Krieg zwischen Amerika und Deutschland war rechtlich noch nicht beendet. Nach amerikanischem Recht war ich ein „enemy alien", ein feindlicher Ausländer, d. h. ein Subjekt mit deutlich verminderten Rechten. So lehnte ich also dankend ab. Das Semester endete Mitte Juni. Am 21. Juni 1949 fand die feierliche Abschlußveranstaltung. Commencement genannt, statt. Die Zwischenzeit nutzte ich - ich hatte inzwischen einige Ersparnisse angesammeh - zu einer Rundreise durch die USA. Baltimore, Philadelphia, Washington D.C., New Orleans, St. Louis, Chicago, New York waren die Stationen. In Chicago geriet ich in ein Slumviertel. Die Eindrücke von Trunkenheit, Armut und Prostitution waren verheerend. Sie haben sich mir unauslöschlich eingeprägt. Aber alle andern Stationen begeisterten mich. Darüber könnte ich ein eigenes Buch schreiben: Philadelphia, die historische Geburtsstätte der USA, New Orleans, immer noch spanisch und französisch anmutend, der Mississippi, dieser gewaltige Strom, die Spirituals der Schwarzen in den Abendstunden („Old Man River", die Melodie greift mir bis heute ans Herz), der Mittlere Westen mit seinen endlosen Feldern, Chicago, Milwaukee, große, schnell expandierende Städte mit einem starken, deutschstämmigen Bevölkerungsanteil. Überall hatte ich inzwischen Freunde, überall wurde ich auf das gastlichste aufgenommen. Am 21. Juni war ich zur Commencement-Feier zurück in Yale. Die Graduierten trugen schwarze Roben und die charakteristischen viereckigen Tellermützen mit Kordeln. General Clay, der scheidende Militärgouvemeur in Deutschland, und John J. McCloy, sein Nachfolger, erhielten Ehrendoktorhüte. Ich beglückwünschte McCloy, und das war der Anfang einer jahrzehntelangen, schUeßlich sehr freundschaftlichen Verbindung. Er sagte zu mir: „Wenn ich etwas falsch mache, kommen Sie zu mir nach Frankfurt und sagen Sie es mir." Erhebliche Probleme entstanden wegen meiner Rückreise. Ich hatte gedacht, daß die amerikanischen Streitkräfte, die mich so freundlich hergeflogen hatten, mich auch wieder zurückbringen würden. Aber das war äußerst kompliziert. Schließlich half Congressman Truman M. Hobbs, der Vater von Sam Hobbs, der Prototyp eines Southern Gentleman, der mir durch seine Freundlichkeit und die Sicherheit, die er ausstrahlte, einen tiefen Eindruck machte. Ich bekam einen Platz auf einem Transportschiff, das am 22. Juni New York verließ. Auf der Rückreise - es war das einzige Mal, daß ich den Atlantik zu Schiff überquerte — lernte ich Karl Mommer, den späteren Bundestagsabgeordneten der SPD kennen, ein Mann, der mit großer Energie für die europäische Einigung eintrat und den ich deswegen in den späteren Jahren hoch schätzte, und den großen Schauspieler O. E. Hasse. Er führte am Tisch von uns Deutschen meistens das Wort, konnte wundervolle Geschichten erzählen. Ich erinnere mich an einen jener tragischen Judenwitze, den ich von ihm zum ersten Mal hörte: „Ein 122
deutscher Jude besucht während des Krieges in London einen andern deutschen Juden und sieht zu seinem Entsetzen an der Wand ein großes Hitler-Bild hängen. Auf die Frage, ob er den Verstand verloren hätte, antwortete der andere: ,Es ist gegen das Heimweh.'" Diese Geschichte, von O. E. Hasse mit seiner außerordentlichen Darstellungskraft erzählt, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Sie gibt in beispielhafter Kürze und Prägnanz die Empfindungen vieler deutscher Emigranten während der Hitlerzeit wieder: ihre andauernde Liebe zur alten Heimat und das Entsetzen vor den Verbrechen des NS-Staates. Nach acht Tagen trafen wir in Bremerhaven ein. Am Pier — ich konnte es von weitem sehen — stand eine einsame Gestalt: meine Frau. Sie hatte durch Vermittlung von Guthrie die Erlaubnis erhalten, mich innerhalb der militärischen Sperrzone direkt am Schiff abzuholen. Sie sah v«mdervoll aus. Ich werde den Anblick nie vergessen. Wir sanken uns beglückt in die Arme und sagten beide: „Wir werden uns nie wieder freiwillig so lange trennen". Auch meine Frau war während dieser zehn Monate nicht müßig gewesen, hatte sich an der Handelsschule in mehreren kaufmännischen Fächern (deutsche und englische Stenographie, Schreibmaschine, Buchführung, Handelskunde, Deutsch und Geschichte) ausbilden lassen. Sie hatte einen für ein ganzes Jahr programmierten Lehrgang in einem halben Jahr absolviert und dann noch in allen Fächern ein erfolgreiches Examen abgelegt. Ich war sehr stolz auf sie. Außerdem hatte sie Autofahren gelernt und gerade die Führerscheinpriifung bestanden.
123
V. Im Dienst der Freien Hansestadt Bremen 1949-1954 1. Eintritt in den bremischen Staatsdienst Nach meiner Rückkehr aus Amerika im Sommer 1949 fuhren meine Frau und ich zu einem dreiwöchigen Urlaub an den Tegernsee. Wir verbrachten dort nach der langen Trennung eine sehr glückliche Zeit, wanderten viel, lasen gemeinsam, gingen auch einmal ins Theater, wo wir Charlies Tante mit Axel von Ambesser in der Hauptrolle sahen - eine hinreißende Aufführung - , und natürlich erzählte ich stundenlang von Amerika, von den dortigen Freunden, von dem Leben der Amerikaner, von der einzigartigen Atmosphäre der Yale Law School. Ehrenvolles
Angebot
Eines Tages erhielt ich einen langen Brief aus Bremen von meinem väterlichen Freund Bürgermeister Theodor Spitta. Er berichtete, daß Bremen ebenso wie die anderen Länder plane, einen Ständigen Vertreter nach Bonn zu entsenden, der Verbindung zur Bundesregierung, zum Bundestag und zum Bundesrat halten sollte, die bremischen Interessen vertreten und andererseits den Bremischen Senat über alle für Bremen wichtigen Entwicklungen frühzeitig informieren sollte. Spitta berichtete, daß es früher eine ähnliche Einrichtung in Bremen gegeben habe, die Bremische Gesandtschaft, die eine nicht unwichtige Rolle gespieU habe. Freilich sei gegenüber der Zeit vor 1933 eine wichtige Änderung eingetreten. Während sich die Länder im Reichsrat der Weimarer Republik durch Beamte vertreten lassen konnten, dürften nach dem Bonner Grundgesetz nur Mitglieder der Länderregierungen für ihr Land im Bundesrat sprechen und abstimmen. Dann kam Spitta zu dem eigentlichen Anlaß seines Briefes. Er habe mit Bürgermeister Kaisen gesprochen. Sie seien sich einig, daß ich der am besten geeignete Mann für den Posten des ersten Bremischen Bevollmächtigten in Bonn sei. Ich sei Bremer, in der Stadt aufgewachsen und zur Schule gegangen, hätte als Anwah vielfältige Einblicke in die Sorgen und Schwierigkeiten genommen, vor denen die Stadt stehe, kenne auch durch meine zeitweilige Tätigkeit beim Justizsenator die bremische Verwaltung. Dazu hätte ich den unschätzbaren Vorteil, daß ich durch meinen einjährigen Aufenthalt in Amerika über genaue Kenntnisse dieses mächtigen Landes verfüge wie zum damaligen Zeitpunkt nur wenige andere Deutsche — kurzum, alles spreche dafür, daß ich den Posten in Bonn übernähme. 125
Meine Frau und ich besprachen den inhaltsschweren Brief miteinander und kamen beide zu dem Ergebnis, daß das Angebot sehr verlockend sei. Nach Bremen zurückgekehrt, suchte ich Spitta auf, dankte ihm für seinen Brief und für das sehr ehrenvolle Angebot und sagte, ich müsse zunächst mit meinen Sozien sprechen. Die Sozien zeigten sich sehr kooperativ. Sie meinten, es sei ein ehrenvolles Angebot, das ich nicht ausschlagen dürfe. Ich sagte, ich wollte aber zunächst nicht Beamter werden, meine Zulassung als Rechtsanwalt in Bremen behalten und die Möglichkeit haben, in die Sozietät zurückzukehren. Ich sähe das Ganze als ein Experiment an, von dem man nicht wissen könne, ob es glükken würde. Meine Sozien gingen auch darauf ein und sicherten mir für die nächsten drei Jahre den Wiedereintritt in die Sozietät zu den bisherigen Bedingungen zu. Daraufhin teiUe ich Spitta mit, daß ich zu der Übernahme des mir angetragenen Postens bereit sei. Es folgten Verhandlungen mit dem Leiter der Senatskanzlei, Staatsrat Dr. Wilhelm Haas, die zu dem Vertrag zvwschen der Freien Hansestadt Bremen und mir vom 4. Oktober 1949 führten. Ich wmrde nicht Beamter, sondern übernahm aufgrund dieses Vertrages „die Vertretung Bremens am Sitz der Bundesregierung". Ich erhielt auch keinen Titel, was mir durchaus zusagte. Meine Aufgabe wurde wie folgt umschrieben: a) allgemeine Vertretung der bremischen Interessen gegenüber der Bundesregierung und den Bundesbehörden, b) Berichterstattung über die Arbeiten des Bundesrates und seiner Ausschüsse, c) Vertretung Bremens im Geschäftsführenden Ausschuß und gegebenenfalls in weiteren Ausschüssen des Bundesrates, d) Verbindung mit den Vertretungen anderer Länder, e) politische Beobachtung der Tätigkeit des Bundestages und der Bundesregierung sowie die laufende Berichterstattung hierüber an den Senat. Ich stellte meine volle Arbeitskraft in den Dienst dieser Aufgabe; später wurde mir gestattet, eine ein- oder zweistündige Universitätsvorlesung auf rechtswissenschaftlichem Gebiet zu halten. Meine Vergütung entsprach den Bezügen eines bremischen Beamten der Besoldungsgruppe В 7 a, das war damals die höchste Stufe in der bremischen Beamtenhierarchie. Femer erhielt ich eine steuerfreie Aufwandsentschädigung von monatlich 250 DM und eine freie Dienstwohnung „in dem von Bremen am Sitz der Bundesregierung angeschafften Haus". Dieser Vertrag dauerte bis zum 5. Dezember 1952. Dann woirde ich bremischer Beamter auf Lebenszeit in der Besoldungsgruppe В 7 a. Wieder erhielt ich meinem Wunsch entsprechend keinen Titel, sondern die Funktionsbezeichnung „Bevollmächtigter der Freien Hansestadt Bremen beim Bund". Ich sah und sehe bis heute die Abneigung der Bremer gegen Titel als eine ihrer guten Charaktereigenschaften an. Der Grund für meine Überführung in das Beamtenverhältnis lag vor allem darin, daß ich nach dreijähriger Tätigkeit in Bonn so viel Freude an meiner Arbeit gefunden hatte, daß ich eine Rückkehr in meine Anwaltssozietät nicht länger ins Auge faßte, obwohl Hans Löning, der inzwischen aus Amerika 126
zurückgekehrt war, nicht verfehhe, mir bei jedem Besuch die Bilanzen der Sozietät zu zeigen. Danach hätten meine Einkünfte, wenn ich in die Sozietät zurückgekehrt wäre, wesentlich über meinen Bezügen im Staatsdienst gelegen. Aber Löning verstand, daß das kein ausschlaggebender Gesichtspunkt war. Ich wurde als Rechtsanwalt in Bremen gelöscht und nahm damit endgültig Abschied von einem Beruf, der mir viel bedeutet hat und den ich bis heute unverändert hoch schätze. Erste Erfahrungen in Bonn Am 6. September 1949 fuhren meine Frau und ich zusammen mit Bürgermeister Kaisen im Auto zu der ersten Sitzung des Bundesrates nach Bonn. Dieser Tag ist mir unvergeßlich. Am Vorabend der Sitzung fand eine Besprechung der Ministeφгäsidenten in Unkel statt, an der ich mit den anderen Länderbevollmächtigten teilnahm. Hier ging es vor allem um die Wahl des Bundesratspräsidenten. Auf einer früheren Sitzung waren die Ministeφräsidβnten übereingekommen, daß Bayerns Ministerpräsident Dr. Hans Ehard der erste Bundesratspräsident werden sollte, aber im Verlauf des Abends gingen die Vertreter Nordrhein-Westfalens ans Werk, um die damalige Vorentscheidung zu Gunsten ihres Ministerpräsidenten Karl Arnold umzustoßen. Ich sehe sie noch vor mir: den Minister Dr. Carl Spiecker und den Leiter der Düsseldorfer Staatskanzlei, Geheimrat Katzenberger, wie sie von einem Ministerpräsidenten zum anderen gingen und ihn davon zu überzeugen suchten, daß die Wahl auf Nordrhein-Westfalen fallen solle. Nordrhein-Westfalen sei das größte Land, und außerdem hätte der Bayerische Landtag das Grundgesetz abgelehnt. Es würde merkwürdig wirken, wenn gewissermaßen zur Belohnung dafür Bayern den ersten Bundesratspräsidenten stellen würde; und es gelang ihnen tatsächlich, eine Mehrheit der Länder für Arnold zu gevWnnen. Die Bayern waren sehr verärgert; Ehard erwog abzureisen, gab sich aber dann doch mit der Zusage zufrieden, daß Bayern im nächsten Jahr den Bundesratspräsidenten stellen würde. Auf der Sitzung in Unkel wurde auch vereinbart, daß der Bundesratspräsident jährlich wechseln sollte und daß die Länder in der Reihenfolge ihrer Größe zum Zuge kommen sollten. So ist die Praxis des Bundesrates bis heute geblieben. Unter den Ministerpräsidenten, die an dieser Sitzung teilnahmen, erinnere ich außer Karl Arnold, Hans Ehard und Wilhelm Kaisen, den Ministerpräsidenten Bruno Diekmann, Schlesvidg-Holstein, den Ersten Bürgermeister Max Brauer, Hamburg, den Regierenden Bürgermeister Emst Reuter, Berlin, den Ministerpräsidenten Wilhelm Hinrich Kopf, Niedersachsen, den Ministerpräsidenten Christian Stock, Hessen, den Ministeφräsidenten Peter Altmeier, RheinlandPfalz, den Ministerpräsidenten Dr. Reinhold Maier, Württemberg-Baden, den Staatspräsidenten Leo Wohleb, Baden, den Staatspräsidenten Gebhard Müller, Württemberg-Hohenzollem. Es waren sehr eindrucksvolle Persönlichkeiten, die sich ihrer Macht und Bedeutung voll bewußt waren. 127
Entsprechend der Unkeler Vereinbarung wurde Karl Arnold am 7. September 1949 zum ersten Bundesratspräsidenten gewählt. Bayern beteiligte sich nicht an der Wahl und enthielt sich der Stimme (so ausdrücklich Ministeφräsident Ehard)»). Arnold sprach in seiner Antrittsrede^) davon, daß Nordrhein-Westfalen zu den Ländern gehöre, die am stärksten durch Maßnahmen der Besatzungsmächte getroffen seien. Sowohl bei Kohle als auch bei Stahl beständen Produktionsbeschränkungen. Er wandte sich sodann dem Bundesrat zu. Dieser, so sagte er, gewährleiste einen arbeitsfähigen Gesamtstaat. Er sichere der Gesetzgebung den Sachverstand der Landesregierungen und über die Ausschüsse denjenigen ihrer Beamtenschaft. Arnold richtete einen Appell an die Bundesregierung und die Opposition, die Frage der auswärtigen Beziehungen vertrauensvoll miteinander zu besprechen. Der Bundesrat solle eine Klammer bilden, wenn die Leidenschaften der politischen Diskussion den Sinn für das Ganze zu gefährden drohten. Arnold Schloß mit einem Zitat von Leopold von Ranke aus dem Jahre 1837: „Jede Staatsgewalt muß heutzutage wohlwoliend sein. Auf der allgemeinen Wohlfahrt beruht ohnehin ihre Macht. Sie muß aber auch zeigen, daß sie das auf die rechte Art ist. Sie muß dafür sorgen, daß man sie kenne, daß man wisse, was sie tut, daß jeder einzelne erfahre, die Geschäfte werden so gut besorgt als immer möglich. Ist nur erst das Widerstreben besiegt, so wird jener geheime, von innen her wirkende und zum Zusammenhalt führende Antrieb in kurzem alle ergriffen haben. Die Zwangspflicht wird sich zur Selbsttätigkeit und das Gebot zur Freiheit erheben." Es war deutlich, daß hier der Regierungschef einer Großen Koalition von CDU und SPD sprach, der die im Bund sich abzeichnende Kleine Koalition von CDU/CSU und ГОР unter Adenauer mit Sorge kommen sah. Der Bremische
Senat im Jahre
1949
Die überragende Gestalt im Bremischen Senat, einer Koalition von SPD und ГОР, war, als ich in den bremischen Staatsdienst eintrat, der Präsident des Senats, Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Er vnirde 1887 als Sohn eines Maurers in Hamburg geboren und erlernte nach dem Besuch der Volksschule das Stukkateurhandwerk. Später bildete er sich auf Gewerkschaftsschulen weiter. Er verfügte über ein beachtliches Wissen. Früh trat er der SPD bei, die ihn 1920 nach Bremen schickte, um in dem Streit zwischen SPD und USPD zu vermitteln. Kaisen stellte sich auf die Seite des Flügels der SPD, der durch Ebert, Scheidemann und Noske repräsentiert vnirde, die sogenannten Mehrheitssozialisten. Es gelang ihm, den Konflikt in der bremischen SPD zu schlichten. Kaisen war zunächst Redakteur des Bremischen Volksblattes, dann Abgeordneter der Bürgerschaft und mehrere Jahre Wohlfahrtssenator, bis er 1933 ') BR-SrrZUNGSBERICHTE 1949 S. 2. 2) Ebenda, S. 2 f. 128
von den Nationalsozialisten entlassen und verhaftet wurde. Er emigrierte nicht, was charakteristisch für ihn ist, sondern siedelte auf einem kleinen Hof in Bremen-Borgfeld. Von dort holten ihn 1945 die Amerikaner, ernannten ihn zum Senator und 1946 zum Präsidenten des Senats und Bürgermeister. Kaisen genoß eine außerordentliche Popularität und Autorität. Das Herz der Bremer gewann er dadurch, daß er sich unter Aufbietung aller Kräfte für den Wiederaufbau der Stadt einsetzte. Er nahm selbst Schaufel und Spitzhacke in die Hand, um die Trümmer zu beseitigen. Er war ein gottbegnadeter Redner und riß seine Zuhörer mit, in großen Versammlungen ebenso wie im kleinen Kreise des Senats. Trotz schwerer Schläge - sein ältester Sohn Niels war im Kriege gefallen - bewahrte er sich eine optimistische Grundhaltung, die er auf andere übertrug. „Kiek nich int Musloch, kiek in de Sünn" - dieses oft ihm gebrauchte Wort war für Kaisen kennzeichnend. Nächst Kaisen ragte der Zweite Bürgermeister Dr. Theodor Spitta, geboren 1873, aus dem Kreis der übrigen Senatoren heraus. Er stammte aus einer alten bremischen Kaufmannsfamilie. Sein Großvater Arnold Duckwitz war Bremischer Bürgermeister und 1848/49 Mitglied des Reichsministeriums in Frankfurt am Main. Spitta besuchte das Alte Gymnasium in Bremen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften ließ er sich in Bremen als Anwalt nieder. Er war Sozius der gleichen Anwaltsgemeinschaft, der auch ich 1947 beitrat. 1911 wurde er in den Senat gewähh, dem er bis 1933 als Mitglied der Demokratischen Partei angehörte. 1920 wurde er Bürgermeister. Nach 1945 gehörte er wieder dem ersten Senat an, wieder als Bürgermeister. Er war von kleiner Statur und wirkte neben dem mächtigen Kaisen zart. Auch war er kein besonders volkstümlicher Redner, aber er war nicht nur ein hervorragender Jurist, sondern zugleich ein kluger Politiker mit großem Verhandlungsgeschick, dazu umfassend gebildet. Kaisen und Spitta arbeiteten hervorragend zusammen und ergänzten sich in einzigartiger Weise. Sie vertrauten einander und sahen sich in diesem Vertrauen niemals getäuscht. Spitta war im wahrsten Sinne des Wortes klassisch gebildet. Philosophie und Dichtung der Antike war ihm ebenso vertraut wie die deutsche Klassik. Große Teile von Goethes Faust kannte er auswendig. Rudolf Alexander Schröder und Anton Kippenberg, der Inhaber des Insel-Verlags, waren seine Freunde. Ebenso wie Kaisen war Spitta ein Mann von absoluter persönlicher Integrität. Auch Spitta hatte, ebenso wie Kaisen, den Wunsch, daß ich sein Nachfolger werden sollte. „Sohn, hier hast Du meinen Speer". Mit diesen Worten hat er mich oft ermuntert, in seine Fußstapfen zu treten. Unter den sozialdemokratischen Senatoren erinnere ich mich besonders gut an Adolf Ehlers, 1898 in Bremen geboren. Er besuchte die Volksschule und Handelsschule in Bremen. Im Ersten Weltkrieg wurde er zweimal verschüttet. Danach trat er als Schweißer bei der AG Weser, der größten bremischen Werft, ein. 1923 wurde er Abgeordneter der KPD in der Bremischen Bürgerschaft. Die KPD Schloß ihn jedoch 1929 aus. Seit 1946 gehörte er der SPD an. Er woirde 1948 Innensenator. 1948 bis 1949 war er Mitglied des Parlamentarischen Rates in Bonn. Er genoß weit über Bremens Grenzen hinaus Ansehen als ein Mann von 129
großer Standfestigkeit und Verläßlichkeit. Er galt als der präsumtive Nachfolger Kaisens, doch mußte er 1963 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Senat ausscheiden. Ich war mit ihm befreundet. Auch Senator Emil Theil schätzte ich hoch. 1892 in Leipzig geboren, war er seit 1920 Gewerkschaftsführer des Metallarbeiterverbands in Bremen. Er war Mitglied der Bürgerschaft bis 1933 und dort Fraktionsvorsitzender der SPD. Danach vrarde er mehrfach verhaftet. Drei Jahre verbrachte er in einem Konzentrationslager, wo er sich ein schweres Leiden zuzog. Er wurde nach 1945 Bausenator und hatte einen wichtigen Anteil an dem Wiederaufbau Bremens. Sein Gegenspieler, mit dem er schwere Auseinandersetzungen führte, war der Fraktionsvorsitzende der SPD Richard Boljahn. Lebhaft erinnere ich mich an den Schulsenator Wilhelm Dehnkamp, 1903 in Hamburg geboren, Sohn eines Hafenarbeiters. Er besuchte die Volksschule und trat mit 17 Jahren der SPD bei. Im Dritten Reich wurde er verhaftet und wegen verbotener poHtischer Tätigkeit zu Gefängnis verurteilt. Auch Dehnkamp genoß großes Ansehen. Er wurde später Präsident der Kultusministerkonferenz der deutschen Länder und war dort seinen gelehrten und studierten Kollegen aus den anderen Ländern voll gewachsen. Er war hartnäckig, oft eckig. Zwei Jahre war er als Nachfolger Kaisens Präsident des Senats und Bürgermeister. Bei seinem Ausscheiden aus dem Senat schrieb die Presse „Einer der letzten großen Autodidakten der alten Schule der deutschen Sozialdemokratie" sei abgetreten'). Senator Hermann Wolters war Wirtschaftssenator und in dieser Eigenschaft oft in Bonn. Er verfügte über eine phänomenale Redebegabung und einen scharfen Witz. Auch er war vor 1933 Mitglied der KPD gewesen. Nach 1933 wurde er verhaftet und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. 1946 trat er der SPD bei. Zwischen ihm und Kaisen bestanden Spannungen. Schließlich nenne ich Senator Gerhard van Heukelum, 1890 in Nordstrand geboren — also ein Friese. Er vertrat Bremen oft in den Sitzungen des Bundesrates. So sind wir manchesmal zusammen im Zuge nach Bonn gefahren. Er interessierte sich für die Politik im weitesten Sinne, und ich habe manches tiefgründige Gespräch mit ihm geführt. Als im Bundesrat 1952 ein Ausschuß für Fragen der Wiedergutmachung gebildet wurde, wurde van Heukelum einstimmig zum Vorsitzenden gewähh. Unter den Senatoren des sogenannten bürgerlichen Lagers nenne ich nach Spitta Dr. Hermann Apelt, ГОР, an erster Stelle - nicht nur wegen seines hohen Alters, seiner umfassenden Bildung, seines scharfen Verstandes und seiner hervorrangenden Formulierungskunst, sondern besonders, weil er das für Bremen wichtigste Ressort „Häfen, Schiffahrt und Verkehr" leitete; er verkörperte gewissermaßen das Kernstück bremischer Selbständigkeit. Apelt war 1876 in Weimar geboren, kam nach dem Studium der Rechtswissenschaft 1900 nach Bremen, wo er Syndikus der Handelskammer wurde. 1917 wurde er in den Senat
Siehe Bremer Bürgerzeitung vom 25. Nov. 1967.
130
gewählt, dem er bis 1933 und dann wieder von 1945 bis 1955 angehörte. Er war zugleich in vielen kulturellen bedeutsamen Vereinigungen tätig. Von 1922 bis 1934 war er Vorsitzender des Kunstvereins in Bremen. Aber auch die beiden anderen ГОР-Senatoren genossen in Bremen und außerhalb Bremens hohes Ansehen. Dr. Wilhelm Nolting-Hauff war Finanzsenator. Er sorgte dafür, daß die bremischen Finanzen in Ordnung waren, freilich in einer Zeit, als das leichter zu erreichen war als in den siebziger und achtziger Jahren. Bremen gehörte 1949 zu den reichen Ländern. Kaisen legte entscheidenden Wert darauf, daß die finanzielle Grundlage der Stadt intakt war. Ihm steckte die schwere Finanzkrise von 1930, die Bremen an den Rand des Zusammenbruchs führte, noch in den Knochen. Nolting-Hauff war 1902 in Naumburg an der Saale geboren. Er kam früh nach Bremen, besuchte das Alte Gymnasium, wurde Rechtsanwalt und übernahm später die Leitung der Kaffee HAG. Dem Senat gehörte er von 1945 bis 1962 an. Im Kreise der Finanzminister genoß er hohes Ansehen. Im Jahre 1954 war er der Berichterstatter des Finanzausschusses im Plenum des Bundesrates für die wichtige Vorlage des Finanzverfassungsgesetzes^). Er war auch Berichterstatter für das Gesetz über die Errichtung der Währungs- und Notenbank des Bundes®). Nolting-Hauff hatte literarische Interessen. Er schrieb ein Drama, das im Bremer Schauspielhaus aufgeführt wurde®). Äußerlich wirkte er kühl, aber er war leidenschaftlich engagiert, wenn es um wichtige Fragen ging. Senator Gustav Wilhelm Harmssen leitete das Ressort für Außenhandel. Er war 1890 in Bremen geboren, hatte die Mittelschule und die kaufmännische Lehre absolviert. Später wurde er Vorstandsvorsitzender der Atlas-Werke in Bremen. Harmssen war ein hervorragender Kenner der Fragen des Außenhandels und ein sehr eindrucksvoller Redner. Seine Stimme hatte in Bonn ein beachtliches Gewicht. 1949 wurde er Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Bundesrates. Nolting-Hauff und Harmssen übten neben ihrer senatorischen Tätigkeit ihre bisherige Berufstätigkeit in den Unternehmen Kaffee HAG und Atlas-Werke weiter aus. Dies ist nach Artikel 113 der Bremischen Verfassung von 1947 möglich. Beide bezogen kein Gehalt, sondern eine Aufwandsentschädigung. Die Konstruktion hatte den großen Vorteil, daß Führungskräfte aus der Wirtschaft für den Senat gewonnen werden konnten. Freilich setzte sie absolute Integrität der betreffenden Senatoren voraus, eine Eigenschaft, die sowohl Nolting-Hauff als auch Harmssen besaßen. Auch Harmssen hatte literarische Neigungen. Das schöne Lied der Jugendbewegung „Die blauen Dragoner, sie reiten mit klingendem Spiel vor das Tor" stammt von ihm. Als Harmssen 1953 aus dem Senat ausschied, folgte ihm Ludwig Helmken, geboren 1911 in Bremen. Er war ein Schulfreund von mir, gleichfalls eine große politische Begabung mit der besonderen Fähigkeit, Menschen zu gewinnen und BR-SrrZUNGSBERICHTE 1954 S. 7 8 - 8 7 und 3 3 6 - 3 4 1 . BR-SITZUNGSBERICHTE 1952 S. 5 6 8 - 5 7 2 . „Promethiden", uraufgeführt im November 1950. 131
von seiner Sache zu überzeugen. Es gelang ihm, wichtige bremische Anliegen im Bundesrat und im Bundestag durchzubringen. Auch Helmken übte seine berufliche Tätigkeit bei der Martin Brinkmann AG weiter aus. Auch für ihn galt, was ich von Nohing-Hauff und Harmssen gesagt habe: absolute Integrität. Nach der Bürgerschaftswahl von 1951 trat auch die CDU in den Senat ein. Senator Johannes Degener übernahm das Gesundheitsressort und Senator Helmut Yström das Ressort für Ernährung und Landwirtschaft. Mit beiden hatte ich weniger häufig Kontakt, doch erinnere ich mich gut an Degener, der durch seine rahigen und sachlichen Vorträge in den Senatssitzungen Eindruck auf mich machte. Johannes Degener war 1889 in Bremen-Blumenthal geboren. Er hatte wichtige Posten in der Gewerkschaftsbewegung bekleidet und war zeitweilig Vorsitzender der CDU-Fraktion der Bremischen Bürgerschaft. Bevor er in den Senat eintrat, war er bremischer Bundestagsabgeordneter gewesen. Die Freie Hansestadt Bremen verfügte 1949 und in den Jahren danach über einige hervorragende Beamte. Staatsrat Dr. Karlheinz Arendt leitete als Nachfolger von Wilhelm Haas die Senatskanzlei. Er war der engste Mitarbeiter von Kaisen. Arendt war Sozialdemokrat. Er war Sekretär des Emährungsausschusses des Bizonalen Wirtschaftsrats in Frankfurt am Main gewesen. Daher kannte Kaisen ihn. Seine Berafung zum Chef der Senatskanzlei erwies sich als eine glückliche Entscheidung. Er ergänzte Kaisen vor allem da, wo es um wichtige Details ging, die Kaisen manchmal zu ignorieren pflegte. Den großen bremischen Aufgaben widmete Arendt sich mit Hingabe, Geschick und hervorragender Sachkenntnis. Er und ich waren die ranghöchsten bremischen Beamten. Aus den übrigen Ressorts nenne ich Enno Ramdohr, den leitenden Beamten der Finanzverwaltung, Dr. Heinrich Maas, meinen Schwager und Freund, im Wirtschaftsressort, Dr. Bernhard Platz bei der Behörde für Häfen, Schiffahrt und Verkehr, Alfred Balcke in der Personalabteilung. Erwähnen möchte ich auch Oberregierangsrat Philipp Behrens, der das verkörperte Gedächtnis des Senats war. Er hatte alle wichtigen politischen Vorgänge auch der Jahre von 1933 bis 1945 im Kopf und fand die einschlägigen Akten sofort. Niemand machte ihm einen Vorwurf daraus, daß er in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft im Amt geblieben war. Er hatte, so die allgemeine Überzeugung, auch in dieser Zeit nach besten Kräften Bremen gedient. Ich selbst nahm in den Jahren von 1949 bis 1954 zusammen mit den anderen leitenden Beamten regelmäßig an den Senatssitzungen teil, wozu ich für einen Tag von Bonn nach Bremen herüberkam. Während die Mitglieder des Senats an einem halbrunden Tisch saßen, war der Platz der Beamten an einem längUchen Tisch innerhalb des Halbrands.
132
2. Bremen und Deutschland Geschichte der bremischen
Selbständigkeit
Meine bayerischen Kollegen in Bonn pflegten zu sagen, Bayern, Bremen und Hamburg seien die einzig historisch gewachsenen Länder. Alle anderen seien durch Zusammenlegungen in der Zeit nach 1945 aufgrund eines Dekretes der Besatzungsmächte entstanden. Und in der Tat: Wir Bremer waren nicht wenig stolz auf unsere jahrhundertelange Tradition als freie Reichsstadt, die über sich nur Kaiser und Reich und von 1815 bis 1866 nur den Deutschen Bund anerkannte. Bis zum Reichsdeputationshauptschluß von 1803, der die politische Landschaft Deutschlands radikal veränderte, gab es zahlreiche solcher Reichsstädte, darunter viele, die die Reichsstandschaft erheblich früher als Bremen erlangt hatten. Beispiele sind: Nürnberg, 1219, Dortmund 1220, Lübeck 1226, Regensburg im 13. Jahrhundert, Schwäbisch Hall 1276, Augsburg 1316, Frankfurt am Main 1375, Hamburg 1510 (allerdings wurde die hamburgische Selbständigkeit von der dänischen Krone erst 1768 anerkannt). Bremen blieb während des Mittelahers eine Landstadt im Erzstift Bremen, obwohl es sich gegenüber dem Erzbischof in schweren Auseinandersetzungen eine weitgehende Selbständigkeit erworben hatte und als Symbol seiner Unabhängigkeit schon 1404 die steinerne Rolandsstatue vor dem Rathaus errichtet hatte. Im Schild des Roland stehen in plattdeutscher Sprache die Worte: „Freiheit verkündige ich Euch, die Karl und mancher andere Fürst fürwahr dieser Stadt gegeben hat. Dafür dankt Gott. Das ist mein Rat." Aber bis ins 17. Jahrhundert hat Bremen die formelle Anerkennung als Reichsstadt offenbar nicht erstrebt. Es nahm jedenfalls an der Versammlung der Stände des Erzbistums Bremen regelmäßig teil und zahlte an das Erzstift einen finanziellen Beitrag, die Matrikel, die wesentlich niedriger war als die Reichsmatrikel, die die Stadt an das Reich hätte abführen müssen, wenn sie freie Reichsstadt gewesen wäre. Vielleicht war die Politik Bremens in der Frage der Reichsunmittelbarkeit durch den bewährten Sinn zur Sparsamkeit, der die Stadt lange auszeichnete, bestimmt. Aber während des Dreißigjährigen Krieges änderte sich die Lage. Es zeichnete sich nämlich die Gefahr ab, daß das Erzbistum Bremen an Schweden abgetreten werden würde. Und schwedisch wollten die Bremer nicht werden. Sie bemühten sich daher mit großem Nachdruck um die förmliche Anerkennung als freie Reichsstadt und fanden ein geneigtes Ohr bei Kaiser Ferdinand III. Dieser vollzog am 1. Juni 1646 in Linz die Urkunde, die Bremens Eigenschaft als Freie Reichsstadt bestätigte und sogar die Erklärung enthielt, daß „die Stadt Bremen von uralten Zeiten hero des Heiligen Römischen Reiches ohnmittelbare freie Reichsstadt gewesen" sei. Bremen zahlte dafür die horrende Summe von 100 ООО Gulden. Schweden erkannte allerdings die Reichsstandschaft nicht an und erhob nach Abschluß des Westfälischen Friedens, durch den ihm das Erzbistum zugesprochen wurde, weiterhin Ansprüche auf die Stadt, aber letztlich vergeblich. Und auch das Königreich Hannover, das Schweden im Besitz des Erzstifts nachfolgte, erkannte erst 1731, ja endgültig 133
erst 1741, die Reichsunmittelbarkeit Bremens an. Aber von den übrigen Reichsstädten wurde Bremen seit 1646 als Freie Reichsstadt betrachtet. Die Stadt nahm seitdem an allen Reichstagen, insbesondere an dem immerwährenden Reichstag (1663 bis 1806) in Regensburg teil. Emsthaft bedroht war Bremens Selbständigkeit während der napoleonischen Herrschaft. Zeitweilig wurde die Stadt als Département Bouches de Weser in das französische Kaiserreich inkorporiert. Nach dem Sturz Napoleons hatte Bremen auf dem Wiener Kongreß zunächst einen schweren Stand, um seine Selbständigkeit zu behaupten. Dem großen bremischen Bürgermeister Johann Smidt, der auf dem Kongreß eine bedeutende Rolle spielte und lebenslang mit Metternich befreundet war, gelang es, Bremens Selbständigkeit zu erhalten. Smidt brachte auch das Meisterstück fertig, ein enges Vertrauensverhältnis zu dem hannoverschen Bevollmächtigten in Wien, dem Grafen Münster, herzustellen. Er legte damit den Grund für den Erwerb von 27 Hektar hannoverschen Landes an der Wesermündung, auf denen im Jahre 1827 Häfen und die Stadt Bremerhaven entstanden. Dieser Bau an der Wesermündung faszinierte die Zeitgenossen. Goethe schrieb darüber im 2. Teü des Faust:
Kluger Herren kühne Knechte Gruben Gräben, dämmten ein, Schmälerten des Meeres Rechte, Herrn an seiner Statt zu sein.
[...]
Dort im Fernsten ziehen Segel, Suchen nächtlich sichern Port. Kennen doch ihr Nest die Vögel; Denn jetzt ist der Hafen dort. So erblickst du in der Weite Erst des Meeres blauen Saum, Rechts und links, in aller Breite, Dichtgedrängt bewohnten Raum. Von den einstmals über 50 Freien Reichsstädten gehörten nach 1815 nur noch vier, Bremen, Hamburg, Lübeck, Frankfurt am Main, dem Deutschen Bund als selbständige Gliedstaaten an. Frankfurt wurde 1866 von Preußen annektiert, aber die drei Hansestädte gründeten mit Preußen und den anderen norddeutschen Staaten 1867 den Norddeutschen Bund und 1871 das Deutsche Reich. Sie hatten im Bundesrat und später im Reichsrat der Weimarer Republik Sitz und Stimme. Lübeck fiel 1937 durch ein Reichsgesetz an Preußen und wrurde in die Provinz Schleswig-Holstein eingegliedert'). So überstanden nur Bremen und Hamburg die Zeit des Nationalsozialismus als formell noch eigene, wenn auch tatsächlich durch Reichsstatthalter kontrollierte und weisungsabhängige Länder.
') Gesetz über Groß-Hamburg und andere Gebietsabtretungen vom 26. Jan. 1937 (RGBl. I S. 91). 134
In den Wirren der Ereignisse nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurde Bremen schließlich Teil der amerikanischen Besatzungszone zusammen mit den süddeutschen Ländern Hessen, Württemberg-Baden und Bayern. Es wurde sogar um die Stadt Wesermünde einschließlich des alten Bremerhaven vergrößert, das es 1937 an Preußen im Austausch gegen große Gebietserweiterungen im Bereich der Stadt Bremen abgetreten hatte. Nach der Eingliederung in den Verband des Staates Bremen nahm die Stadt Wesermünde den Namen Bremerhaven an, und so kamen auch ehemals preußische Städte, nämlich Geestemünde und Lehe, die einst zur Stadt Wesermünde zusammengeschlossen worden waren und niemals bremisch gewesen waren, an Bremen. Bremerhaven liegt 60 Kilometer von der Stadt Bremen entfernt und ist mit Bremen nicht räumlich verbunden. Es bildet eine selbständige Stadtgemeinde im Lande Bremen. An ihrer Spitze steht ein Oberbürgermeister, während der höchste Repräsentant der Stadt und des Landes Bremen nach wie vor die Amtsbezeichnung „Bürgermeister" führt. Allerdings hat die Stadt Bremen niemals die kommunale Kontrolle über das Gebiet des Überseehafens in Bremerhaven aufgegeben. Es ist bis heute Teil der Stadtgemeinde Bremen. Die Situation ist kompliziert, aber historisch erklärbar: Die Stadt Bremerhaven bildet eine Enklave des Landes Bremen im heutigen Niedersachsen. Innerhalb der Stadt Bremerhaven bildet das Überseehafengebiet eine Enklave der Stadtgemeinde Bremen.
Prägungen der bremischen
Bevölkerung
Bremens Urbevölkerung war niedersächsisch. Das Gebiet der Stadt liegt seit unvordenklichen Zeiten im Bereich des sächsischen Stammes. Die ersten Bewohner Bremens waren bäuerlicher Herkunft; aber wichtig für die künftige Entwicklung war der Zuzug von Friesen, eines für seine Hartnäckigkeit und Ausdauer, aber auch für seine Verschlossenheit bekannten deutschen Volksstammes. Diese Mischung brachte in Bremen einen realistischen, nüchternen, praktisch denkenden, sparsamen, bedächügen, im Ganzen vorsichtig operierenden, eher wortkargen Menschenschlag hervor®). An einem der Stadttore Bremens stand ein Satz in plattdeutscher Sprache, welcher hochdeutsch lautet: „Bremen sei bedächtig, laß nicht mehr ein, du seiest ihrer mächtig." Es ist für Bremen charakteristisch. Demgemäß sträubte sich die Stadt gegen den Zuzug von Fremden — übrigens auch von Juden —, ganz anders als Hamburg, das durch die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus vielen Ländern geradezu aufblühte. Dieser mehr konservativen Einstellung der Bremer stand in ihrer Geschichte freilich auch eine gevwsse revolutionäre Neigung gegenüber. Die Revolutionen von 1848 und insbesondere von 1918 verliefen in Bremen dramatischer als in anderen Städten. 1918 gewannen in Bremen die Spartakisten die Oberhand, sie riefen die „Sozialistische Republik Bremen" aus, bis sie schließlich in blutiVgl. dazu Heinrich Maas, Geist und Formen des bremischen Staatslebens, in: Hanns Meyer (Hrsg.), Schaffendes Bremen, Bremen 1960.
135
gen Kämpfen besiegt werden konnten. Es steckt also beides im bremischen Volkscharakter: die ruhige Besonnenheit und eine gewisse hitzige Rabiatheit. Ich schreibe das als ehemaliger Bürger dieser Stadt, der ich viel verdanke. Bremens Entwicklung ist auch dadurch bestimmt, daß es im 16. Jahrhundert den reformierten calvinistischen Glauben annahm, freilich ohne mit dem Luthertum ganz zu brechen. Das niedersächsische Umland und auch Hamburg waren lutherisch. Diese Tatsache führte zu einer Absonderung Bremens. Lange Zeit war die Lebensart der Bremer, auch der wohlhabenden Bremer, puritanisch. Aber entscheidend für die Geschichte der Stadt war ihre frühe Hinwendung zur See und zur Schiffahrt. Schon im 12. und 13. Jahrhundert tauchten bremische Kaufleute in Palästina und im Bahikum auf. Der Zugang zur See mußte unter schweren Kämpfen gesichert werden. Die Nachbarn sperrten den Strom. Die Weser versandete. Die ganze Energie der Stadt, ihre Zähigkeit, auch ihre Finanzkraft richtete sich Hunderte von Jahren auf Hafenbau, Schiffbau, Schiffahrt und Korrektur der versandenden Weser. Im 19. und 20. Jahrhundert kannten sich Bremer Kaufleute besser in Nord- und Südamerika, in China und in anderen Teilen der Welt aus als im deutschen Vaterland. Erst 1888 Schloß sich Bremen dem Zollverein an. Bis dahin war es ebenso vWe Hamburg Zollausland. Diese Entwicklung war nur dadurch möglich, daß die Stadt früh ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen konnte, daß sich Bürger und Rat voll mit den maritimen Interessen Bremens identifizierten. Bremen vnirde eine Polis, wie sie aus der Geschichte in Athen, Venedig, La Rochelle und anderen großen selbständigen Städten bekannt sind. Daraus resultiert bis heute der Wille der überwiegenden Mehrheit der Bremer, eine selbständige Stadt, ein selbständiges Land zu bleiben. Zu den besonderen Eigenschaften der Bremer rechne ich schließlich ihre Zuverlässigkeit. Das gegebene Wort eines bremischen Kaufmanns oder eines bremischen Anwalts galt viel — auch außerhalb Bremens. Als ich später Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war, verhandelte ich mit einem führenden Schweizer Bankier. Wir kamen auf Bremen zu sprechen, und er sagte: „Wissen Sie, wenn Schweizer Banken untereinander eine Vereinbarung treffen, über die nichts Schriftliches festgehalten wird, aber die doch von allen genauestens eingehalten wird, dann sagen wir: Wir haben unter der Bremer Klausel abgeschlossen!" Über diese Mitteilung habe ich mich damals sehr gefreut. Sie hat mich mit Stolz auf meine Heimatstadt erfüllt; gelten doch bei uns die Schweizer Banken als Symbol der Zuverlässigkeit. Ehrbarkeit ist eine der traditionellen Eigenschaften der Bremer. Bei einem Besuch in Münster zeigten mir meine Gastgeber das Haus der Kaufmannschaft. An ihm steht der Spruch: „Ehr is Twang nooch", Ehre ist Zwang genug. Das könnte auch am Schütting, dem Hause der bremischen Kaufmannschaft, stehen. Dafür nur ein Beispiel: Bis ins 19. Jahrhundert bestand in Bremen ein einzigartiges Besteuerungssystem. Jeder Kaufmann schätzte sich selbst ein und warf in einem verschlossenen Umschlag den Geldbetrag, den er nach seiner Ansicht zu zahlen hatte, in einen im Schütting aufgestellten Kasten, den sogenannten 136
„Schoß". Kein Dritter nahm also Einblick in seine Verhältnisse. Ob die Geschäfte gut oder schlecht gingen, erfuhr niemand. Aber jeder Kaufmann war sich der Tatsache bewußt, daß er zum Gedeihen der Stadt einen angemessenen Beitrag leisten mußte. Die Stadt Bremen ist mit diesem System gut gefahren. Bremens Ansehen nach 1945 Als ich die Vertretung Bremens in Bonn übernahm, genoß die Freie Hansestadt in Deutschland ein sehr hohes Ansehen. Das hatte mehrere Gründe. An erster Stelle muß man die Persönlichkeit Kaisens nennen. Seine unbedingte Redlichkeit, sein Engagement für den Wiederaufbau nicht nur Bremens, sondern Deutschlands insgesamt, seine Bemühungen um die Erhaltung der Einheit Deutschlands wurden allgemein gewürdigt. 1946 hatte Kaisen alle Ministerpräsidenten, auch die der sowjetischen Besatzungszone, zu einer Konferenz nach Bremen eingeladen. Zwar war von dort nur der Landespräsident von Thüringen, Dr. Paul, erschienen, aber von der Konferenz gingen doch wichtige Impulse aus'). Sie legte den Grundstein für die spätere Entwicklung, die 1948/49 zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland führte. Im gleichen Jahr 1946 fuhr Kaisen nach Thüringen, um sich von der dortigen Entwicklung zu überzeugen und nach Möglichkeiten eines Zusammengehens zu suchen, freilich vergeblich. Eine weitere Ursache für das Ansehen Bremens in den Anfangsjahren nach 1945 war eine kluge und maßvolle Politik des Senats. Er handelte nach den Worten des großen Bürgermeisters Arnold Duckwitz: „Ein kleiner Staat muß die öffentliche Meinung für sich haben [ . . . ] . Er soll seine Stellung in solcher Weise nehmen, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze, seine Existenz als eine Notwendigkeit angesehen wird. Darin liegt die sicherste Bürgschaft seines Bestehens"*"). In den Jahren nach 1946 nahm Bremen nachhaltig an den Bemühungen zur Schaffung eines westdeutschen Staates teil. Spitta wirkte in Herrenchiemsee an der Ausarbeitung eines ersten Verfassungsentwairfs mit")· Kaisen war ein wichtiger Partner bei den Ministerpräsidentenkonferenzen des Jahres 1948. Er erreichte, daß die Verfassungspläne der drei westlichen Besatzungsmächte in einigen Punkten geändert vnirden. Die Bezeichnung „Grundgesetz" für die neue Verfassung ging auf seine Initiative gemeinsam mit Ehard, Bayern, und Brauer, Hamburg, zurück. Auf der Konferenz der Ministerpräsidenten auf dem Ritter-
Gemeinsame Konferenz der Chefs der Länderregierungen und der Oberpräsidenten der britischen Besatzungszone mit den Chefs der Länderregierungen der amerikanischen Besatzungszone in Bremen vom 28. Febr. bis 1. März 1946. Siehe dazu AKTEN ZUR VORGESCHICHTE Bd. 1 S. 2 9 0 - 3 0 0 . Arnold Duckwitz, Denkwürdigkeiten aus meinem öffentlichen Leben von 1844-1866, Bremen 1877. Zur Mitwirkung Spittas im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. Aug. 1948 siehe DER PARLAMENTARISCHE RAT Bd. 2 S. XXV f., LXXXV und passim. 137
Sturz bei Koblenz vom 8. bis 10. Juli 1948") und auf der Konferenz der Ministerpräsidenten und der Militärgouvemeure in Frankfurt am 26. Juli 1948") spielte Kaisen eine wichtige Rolle. Er machte in Frankfurt den Vorschlag, umgehend mit den Beratungen über die Verfassung des westdeutschen Staates zu beginnen und in der Zwischenzeit eine Verständigung über die Fragen herbeizuführen, in denen die Ministerpräsidenten und die Militärgouverneure noch unterschiedliche Auffassungen vertraten. Diesem Vorschlag stimmten alle anderen Ministerpräsidenten und die drei Militärgouvemeure zu. Der Parlamentarische Rat konnte dadurch am 1. September 1948 seine Arbeit in Bonn beginnen. Diese Vorgänge waren jedem politisch interessierten Deutschen bekannt. Sie brachten Bremen und insbesondere Kaisen den Ruf ein, um eine konstruktive Lösung der Nachkriegsprobleme erfolgreich bemüht zu sein. Sie begründeten Bremens Ansehen in den Jahren nach 1949. Schließlich soll die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, daß Bremen von keinem anderen Lande Geld haben wollte. Es stand finanziell auf eigenen Füßen. Wie allgemein angesehen Bremen damals war, geht aus einem Bericht hervor, den ich im Januar 1950 an den Bremischen Senat gerichtet habe. Darin heißt es: „Im Laufe dieser Woche habe ich dem Herrn Bundeskanzler, dem Bundesminister Wildermuth, den Bundesministem Hellwege und Schäffer sowie den Herren Staatssekretären Sonnemann und Sauerbom Besuche gemacht. Aus allen diesen Besuchen, insbesondere aus dem Besuch bei dem Bundeskanzler, ergab sich, daß Bremen große Sympathien innerhalb der Bundesregierung genießt. Selbstverständlich wurde ich in erster Linie nach den Schiffahrts- und Hafenverhältnissen befragt. Besonderes Interesse besteht allgemein daran, ob der Norddeutsche Lloyd Aufbaupläne hat. Ich habe überall darauf hingewiesen, daß Bremen vom 1. April an gerade im Hinblick auf seine schiffahrtspolitischen Aufgaben in eine schvwerigere Finanzlage kommen würde. Ich glaube aus meinen Besuchen allgemein die Schlußfolgerung ziehen zu können, daß auf Seiten der Bundesregierung der gute Wille besteht, Bremen in Zukunft zu helfen""). In den Jahren 1949 bis 1954 betrieb Bremen gegenüber dem Bund eine Politik, die nicht parteipoUtisch bestimmt war. Das ergab sich schon daraus, daß in Bremen eine Koalition regierte, deren einer Partner in Bonn in der Regierung, deren anderer Partner jedoch im Bund in der Opposition stand. Es war eine РоИtik, die sich an bremischen Interessen orientierte. Dabei spielte auch die alte reichsstädtische Tradition eine Rolle. Die freien Städte des Römischen Reiches waren im Prinzip reichstreu. Sie wußten, daß, wenn die Zentralgewalt stark war, dies für ihr eigenes Gedeihen vorteilhaft war. Umgekehrt waren sie oft von
Siehe DER PARLAMENTARISCHE RAT Bd. 1 8. 6 0 - 1 4 2 . " ) Ebenda S. 2 7 3 - 2 8 2 . " ) Siehe Wochenbericht Nr. 11 vom 13. Jan. 1950. - Eine vollständige Sammlung aller Wochenberichte, die Karl Carstens von 1949 bis 1954 (Nr. 1 vom 13. Okt. 1949 bis Nr. 119 vom 27. Juli 1954) an den Bremer Senat gesandt hat, ist überliefert in Staatsarchiv Bremen 3 - R. 1. n. Nr. 31 Quadr. 15 I und II. Vgl. auch S. 157 ff. 138
mächtigen Nachbarn bedroht worden, wenn die ReichsgewaU zerfiel. Dieses Bewußtsein war in Bremen noch in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts lebendig und hatte zur Folge, daß Bremen aufs Ganze gesehen eine bundesfreundliche Politik betrieb. Umgekehrt hatte Bremen einen erheblichen Einfluß auf die Bundespolitik. Der württemberg-badische Ministeφräsident Reinhold Maier klagte im Mai 1951, daß Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen den größten Einfluß beim Bund hätten, „während sich die übrigen Länder mit einer Aschenbrödelrolle begnügen" müßten. Später freilich, lange nachdem ich aus den bremischen Diensten ausgeschieden war, änderte sich das Bild. Einmal wurde die Stadt von schweren wirtschaftlichen Rückschlägen heimgesucht. 1961 brachen die Borgwardwerke, das größte Unternehmen mit über 20 ООО Beschäftigten, zusammen. 1980 geriet die Hansa-Linie, die zweitgrößte bremische Reederei, in Schwierigkeiten. Der Norddeutsche Lloyd, Bremens Stolz seit über 100 Jahren, fusionierte mit der HAPAG. HAPAG-Lloyd hieß danach die größte deutsche Reederei. Ihr Sitz war in Hamburg und Bremen. Faktisch aber ging die Führung des Unternehmens an die Hamburger Zentrale über. Schließlich brach auch die AG Weser, Bremens größte Werft, zusammen und wurde stillgelegt. Ein schöner Erfolg war demgegenüber die Ansiedlung eines großen Stahlwerkes, der Klöckner-Werke, die jedoch in den achtziger Jahren, wie viele andere Werke, unter der weltweiten Stahlkrise Einbußen hinnehmen mußten. Dazu kamen andere Ereignisse, die große Teile der deutschen Öffentlichkeit beunruhigten: Die Entwicklung an der bremischen Universität geriet zeitweilig außer Kontrolle. In der Presse vnirde von einer kommunistischen Kaderschule gesprochen. Selbst sozialdemokratisch regierte Länder weigerten sich zeitweilig, die Universität Bremens mitzufinanzieren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft lehnte bis in die achtziger Jahre jegliche Förderung von Projekten dieser Universität aus wissenschaftlichen Gründen ab. Auch das Ansehen von Radio Bremen verschlechterte sich. Die Anstalt vertrat einseitige poUtische Auffassungen im Bereich des äußersten linken Spektrums. In den fünfziger Jahren erfreute sich Radio Bremen unter der Leitung von Intendant Walter Geerdes noch großer Beliebtheit weit über Bremens Grenzen hinaus. In einer Debatte des Bundestages im Mai 1951 nannte der Abgeordnete Matthes von der Deutschen Partei Radio Bremen einen regsamen, zwar kleinen, aber durchweg anerkannten Konkurrenten des NWDR. Es sei ein ausgezeichneter Sender, der sich in seinem Hörerkreis der größten Beliebtheit erfreue"). Dieses Bild änderte sich später grandlegend. In keiner Stadt der Bundesrepublik Deutschland kam es bei einer Vereidigung von Rekraten der Bundeswehr zu so schweren gewalttätigen Ausschreitungen wie in Bremen. Als bekannt vnirde, daß der Senat im Zuge der von ihm beschlossenen Bildungsreform alle bestehenden Gymnasien schließen und in integrierte Gesamtschulen überführen wollte, daranter auch das vor 450 Jahren gegründete Alte Zur Rede von Heinz Matthes am 9. Mai 1951 siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 7 S. 5562 B-5564 D, hier 5564 B.
139
Gymnasium, empörten sich viele Mitbürger nicht nur in Bremen. Auch das Verhaken Bremens bei der Abstimmung im Bundesrat war jetzt stärker als früher parteipoHtisch bestimmt. W e n n die SPD in Bonn regierte, stimmte Bremen für die Regierung. Regierte die CDU, stimmte Bremen oft, frgilich nicht immer, gegen Regierungsvorlagen. In dieser Zeit konnte man den Eindruck gevwnnen, als ob die Stadt den w^eisen Spruch ihres großen Bürgermeisters Arnold Duckwitz, daß ein kleiner Staat seine Stellung in solcher Weise einnehmen solle, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze angesehen werde, in sein GegenteU verkehren wollte. Aber seit der Mitte der achtziger Jahre trat eine Beruhigung ein. Zwar dauerten die finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten Bremens an, die Arbeitslosigkeit lag erheblich über dem Bundesdurchschnitt, aber die Stadt tat wichtige Schritte, um einen weiteren Verfall ihrer finanziellen Grundlage zu verhindern. Die Ansiedlimg eines großen Werkes der Daimler-Benz AG war ein bedeutender wirtschaftlicher Erfolg für die Stadt. Die Entwicklung an der Universität gab zu Hoffnung Anlaß. Einige Fachbereiche gewannen hohes Ansehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft begann, Projekte der Universität Bremen zu fördern. Kennzeichnend war auch eine Wendung in der Schulpolitik. Der Senat beschloß im Juli 1987, daß das Alte Gymnasium bestehen bleiben, ja weiter ausgebaut werden sollte. In der Verlautbarung des Senats an die Bürgerschaft heißt es: „Der Senat geht davon aus, das Alte Gymnasium mit dem bestehenden Unterrichts- und Fächerangebot vornehmlich im Bereich der alten Sprachen als einmalige tradierte Schuleinrichtung auf Dauer zu erhalten. Er bittet den Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst, die von ihm eingeleiteten Bemühungen um eine Stärkung und Weiterentwicklung der Schule fortzusetzen."
3. Bremischer Bevollmächtigter beim Bund Aufgaben und Mitarbeiter Mein Aufgabengebiet in Bonn umfaßte die Vertretung bremischer Interessen im Bundesrat, gegenüber den Ausschüssen des Bundestages, gegenüber der Bundesregierung, Fühlungnahme mit den Vertretern der anderen Bundesländer und dem Diplomatischen Corps. Ich war nicht Mitglied des Bundesrates — das kann nach dem Grundgesetz von 1949 nur ein Mitglied der Landesregierung sein — ; aber ich nahm an allen Sitzungen des Bundesrates an der Seite des bremischen Stimmführers teil. Ich war Stellvertretendes MitgUed in allen Ausschüssen des Bundesrates und habe insbesondere an fast allen Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses teilgenommen, während mein Vertreter, Dr. Christian Breyhan, an den nicht minder wichtigen Sitzungen des Finanzausschusses des Bundesrates teilnahm. In den Plenarsitzungen des Bundestages saß ich auf der Bundesratsbank. Ich habe aber nie im Bundestag das Wort ergriffen, was verfassungsrechtlich vielleicht mögUch gewesen wäre. Artikel 43 Absatz 2 des Grundgesetzes lautet: 140
„Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden." Soweit ich weiß, ist aber ein Rederecht für Beauftragte der Mitglieder des Bundesrates im Plenum des Bundestages niemals in Anspruch genommen worden, wohl aber häufig in den Ausschüssen des Bundestages. Ich selbst und meine Mitarbeiter haben an vielen solcher Ausschußsitzungen teilgenommen und dort auch mehrfach das Wort ergriffen. Die Bundestagsabgeordneten sahen das nicht immer gem; aber wenn es um eine für Bremen vitale Frage ging, bestanden wir auf unserem verfassungsmäßigen Recht. Mein Stellvertreter Dr. Christian Breyhan war ein hervorragender Finanzfachmann, der sich um Bremen große Verdienste erworben hat. Er bereitete die Auftritte von Senator Nolting-Hauff in Bonn vor, hatte selbst glänzende Verbindungen zum Bundesfinanzministerium. Die ehemahgen Angehörigen des Reichsfinanzministeriums, zu denen auch er gehörte, hatten eine gemeinsame, durchaus solide Grundhaltung in Fragen der Finanzpohtik. Breyhan wurde später Oberfinanzpräsident in Bremen. Ich blieb mit ihm bis zu seinem Tode befreundet. Für die inneren Ressorts war Dr. Joachim von Hoffmann zuständig, ein sehr besonnener und verläßlicher Mitarbeiter, der später zur Montanunion nach Luxemburg ging, und dessen Nachfolger der kenntnisreiche Dr. Wemer Schwarberg wurde, ein vorzüglicher Jurist. Der ruhende Pol der Dienststelle war der Leiter des Büros, Carl Kümmel, ein hervorragender Kenner der bremischen Verwaltung, in nahezu allen bremischen Problemen bewandert. Er leitete den Bürobetrieb der Vertretung umsichtig und erfolgreich. Ihm verdanke ich eine Sammlung meiner Wochenberichte an den Bremischen Senat, die er mir zum Abschied schenkte. Schließlich erwähne ich meine Sekretärin Frau Edith Breuer, die fünf Jahre lang für mich gearbeitet hat, auch sie eine zuverlässige und höchst effiziente Kraft, der ich viel verdanke. Gesprächspartner Von besonderer Bedeutung war für mich wie für alle Länderbevollmächtigten die Akkreditierung beim Bundespräsidenten. Ich wurde durch einen Brief von Bürgermeister Kaisen bei Bundespräsident Theodor Heuss eingeführt'®) und machte ihm bald darauf einen Besuch. Auch er schätzte Kaisen hoch und übertrug sein Wohlwollen auf mich. Es hieß, daß Heuss, bevor er sich für eine Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten entschied, nach Bremen gekommen sei und Kaisen gefragt habe, ob er Bundespräsident werden wolle. Dann würde er, Heuss, zurücktreten. Aber Kaisen wollte auf keinen Fall Bundespräsident werden. Der protokollarische Zwang war ihm verhaßt. „Chinesenkram" nannte er das. Siehe Schreiben Kaisens an Heuss vom 27. Dez. 1949 in Bundesarchiv, В 122 (Bestand Bundespräsidialamt)/2209 - Abb. Nr. 8. 141
Im Februar 1950 empfing Heuss alle Bevollmächtigten zu einem Gespräch. „Er sah gut aus und war von außergewöhnlicher Lebhaftigkeit", berichtete ich an den Senat^'). Natürlich habe ich den Bundespräsidenten nur in wirklich dringenden Angelegenheiten aufgesucht. Eine solche ergab sich, als der Bundespräsident erwog, einen Orden — das Bundesverdienstkreuz — einzuführen. Ich wurde im Auftrag des Senats bei ihm vorstellig und bat ihn zu überlegen, ob er nicht an die demokratische und republikanische Tradition der Freien Städte anknüpfen und auf die Stiftung des Ordens verzichten wollte. Für uns Bremer sei der Orden Teil einer monarchischen Tradition. Die Bürger unserer Stadt trügen keine Orden. Der Senat verleihe auch keine offen zu tragenden Auszeichnungen. Man stelle seine Verdienste nicht zur Schau. Äußerliche Schlichtheit gelte als eine hohe Bürgertugend. Das sei eine schöne Tradition, wie sie übrigens auch in der Schweiz und in den USA bestehe. Heuss war sichtlich beeindruckt von diesen Argumenten, aber Manfred Klaiber, der engste Mitarbeiter von Heuss, der an dem Gespräch teilnahm, trat mir entgegen. Ein Staat müsse, so sagte er, auch einen gewissen Glanz ausstrahlen. Die Weimarer Republik sei unter anderem daran zugrunde gegangen, daß ihr das nicht gelungen sei. Bürger, die eine Auszeichnung des Bundespräsidenten erhielten, würden in ihrer Loyalität gegenüber dem freiheitlichen Staat des Grundgesetzes bestärkt. Der Orden habe daher eine staatspolitische Bedeutung. Mein Kollege Hansen wurde im Auftrag des hamburgischen Senats im gleichen Sinne wie ich bei Heuss vorstellig; aber schließhch entschied Heuss sich für die Stiftung des Ordens"). Die Klaiberschen Argumente sind nicht ohne Gewicht, und besonders sehe ich in dem Orden ein Mittel, die Verbundenheit mit befreundeten Ausländem symbolhaft zum Ausdruck zu bringen. Mich jedenfalls hat es beeindruckt, wenn die französischen Staatspräsidenten oder die Königin von Großbritannien das Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes trugen. Von größter Bedeutung war für mich der Kontakt mit der Bundesregierung. Ich hatte keine Schwierigkeiten, von den Bundesministem empfangen zu werden, wenn ich um einen Besuchstermin bat. Auch bei Adenauer wurde ich in Fragen, die für Bremen von Bedeutung waren, mehrfach vorstellig. Häufig besuchte ich die Bundesminister Ludwig Erhard, Hans-Christoph Seebohm, Fritz Schäffer, Wilhelm Niklas, der Bremen besonders freundschaftlich gegenüberstand, und Franz Blücher. Heinrich Hellwege sah ich regelmäßig, ebenso Gustav Heinemann, der mit Bremen dadurch verbunden war, daß seine Frau Hilda, geborene Ordemann, aus Bremen stammte. Auch sie war übrigens eine ehemalige Schülerin des Alten Gymnasiums.
") Wochenbericht Nr. 15 vom 10. Febr. 1950. ") Erlaß über die Stiftung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland vom 7. Sept. 1951 (BGBl. I. S. 831). - Vgl. auch KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 4 S. 580 f. (2. Aug. 1951). 142
Bei Heinemann war ich an dem Tag, an dem er sich entschloß, sein Amt als Innenminister niederzulegen. Es war im Oktober 1950"). Ich suchte ihn wegen der Paßabfertigung bei der Einreise und Ausreise von Schiffspassagieren in Bremerhaven auf ; aber er schob das Thema beiseite und erläuterte mir seinen Entschluß, aus der Regierung auszuscheiden. Er war mit den Plänen zur Aufstellung deutscher Streitkräfte nicht einverstanden. „Ein Volk, dem Gott zweimal die Waffen aus der Hand geschlagen hat, sollte nicht wieder zu Waffen greifen", sagte er. Ich sprach von der sowjetischen Bedrohung, auch davon, daß wir diesmal nicht allein stehen würden, sondern in einem festen Verbund mit den freiheitlichen Demokratien Westeuropas und Nordamerikas; aber Heinemann ließ diese Argumente nicht gelten. Er war offensichtlich tief getroffen und persönlich stark engagiert. Auch mit den Staatssekretären der Bundesregierung hatte ich häufigen Kontakt; insbesondere mit Hans Globke, dem Chef des Bundeskanzleramts, dessen Nachfolger ich 18 Jahre später werden sollte. Dem Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans Ritter von Lex, verdanke ich die Erkenntnis, wie wichtig es für die Arbeit innerhalb der Regierung ist, rechtzeitig andere Ressorts zu beteUigen, wenn deren Zuständigkeit berührt ward. Er sagte einmal zu mir: „Bevor ich über ein neues Projekt nachzudenken beginne, überlege ich: wen muß ich beteiligen?" Wenn die Ministerien nicht gegeneinander, sondern loyal zusammenarbeiten, ist dies der einzig richtige Weg zu einer geordneten Regierungsarbeit. Lex war eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit, Träger der höchsten bayerischen Tapferkeitsauszeichnung aus dem Ersten Weltkrieg. Mit Günther Bergemarm, Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, war ich befreundet. Wir sahen uns häufig, auch zusammen mit unseren Frauen. Er stammte aus Husum und war zu Recht der Meinung, nach Theodor Storm der bedeutendste Husumer Bürger zu sein, der dritte im Bunde war übrigens Wilhelm Claussen, der von 1957 bis 1965 Staatssekretär im Arbeitsministerium war, auch er ein gebürtiger Husumer und ebenfalls ein hervorragender Staatssekretär. Von Bergemann habe ich den Ausdruck übernommen: „Der beißt keine Ofenschrauben ab", zur Kennzeichnung eines Beamten, der die ruhige Tour bevorzugt. Häufig sah ich Felix von Eckardt, den Chef des Bundespresse- und Informationsamtes. Er war eine ungemein farbige und sehr sympathische Persönlichkeit, geistvoll und der Sache, der er diente, voll ergeben. Sein Leben war bewegt verlaufen. Er war Regisseur gewesen, ihm gehörte ein Gut in Mecklenburg, und schließlich wurde er Mitherausgeber des Weser-Kuriers, der größten bremischen Zeitung. So hatte er enge Beziehungen zu Bremen geknüpft. Bevor er zum Bundespressechef ernannt wurde, suchte er mich im Januar 1952 auf. Wir führten ein langes und freundschaftliches Gespräch. Seine Vorgänger waren alle nach relativ kurzer Zeit in ihrem Amt gescheitert, auch deswegen, weU sie mit Adenauer nicht zurecht kamen. Aber ich riet Eckardt dringend dazu, das Dokumentation zur Entlassung Heinemanns aus der Bundesregierung in KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 3, 1950 (Wortprotokolle).
143
Amt zu übernehmen. Es stellte sich heraus, daß er der erfolgreichste Pressechef der ersten zehn Jahre der Bundesrepublik Deutschland wurde. Sehr wichtig waren meine Kontakte mit den Bevollmächtigten der anderen Länder. Befreundet war ich mit meinen beiden bayerischen Kollegen, Staatsrat Emst Rattenhuber, der allzu früh starb, und dann Ministerialdirektor Claus Leusser, ein bayerischer Einser-Jurist. An Rattenhubers Beerdigung nahm ich teil — an einem kalten Wintertag auf einem Dorffriedhof in der Nähe seines Hofes. Er genoß in Bayern großes Ansehen. Viele Persönlichkeiten mit klangvollen Namen hatten sich an seinem Grabe eingefunden. Fast die gesamte bayerische Staatsregierung mit Ministerpräsident Hans Ehard an der Spitze, die Präsidenten des Bayerischen Landtages und des Bayerischen Senats, Repräsentanten der großen landwirtschaftlichen Verbände, ehemalige Offiziere der Chevaux Legers, des bayerischen Reiterregimentes, dem Rattenhuber im Ersten Weltkrieg angehört hatte, und schließlich, last not least, die beiden königlichen Prinzen Rupprecht und Franz, hinter denen ich stand. Prinz Franz bat seinen Bruder, einige Worte am Grabe zu sagen, aber dieser wollte nicht und antwortete: „Er war dein Adjutant", worauf Prinz Franz erwiderte: „Aber du bist der Chef des Hauses Wittelsbach". Das Ergebnis war leider, daß keiner von den beiden sprach. Persönlich befreundet war ich auch mit dem hessischen Bevollmächtigten Wilhelm Apel, der eine wichtige Rolle unter den Bevollmächtigten spielte. Er hatte in der Emigration von 1933 bis 1945 Schweres durchgemacht, war aber frei von Ressentiments. Die beherrschende Gestalt im Kreise der Bevollmächtigten war der nordrhein-westfälische Minister Dr. Carl Spiecker. Er und der Senator für Bundesangelegenheiten in Berlin, Günter Klein, waren die einzigen Landesminister im Kreise der Bevollmächtigten und daher im Bundesrat stimmberechtigt. Spiecker hatte eine große politische Erfahrung aus der Zeit der Weimarer Republik. Er war ein sehr geschickter Taktiker, aber zugleich engagiert für die Ziele der rheinischen CDU. Leider war sein Verhältnis zu Adenauer schlecht. Sein damals noch sehr junger Persönlicher Referent war Dr. Rainer Barzel, den ich auf diese Weise schon Anfang der fünfziger Jahre kennenlemte. Senator Günter Klein spielte eine wichtige Rolle. Er gehörte der SPD an. Manch ein Kompromiß, auf den sich die Länder einigten, war das Ergebnis von Gesprächen zwischen Spiecker und Klein. Klein vertrat mit Energie und Zähigkeit Berliner Interessen. Ihm kam es darauf an, Berlin mit dem Bund so eng wie möglich zu verklammem, es möglichst nah an den Status eines Bundeslandes heranzubringen, und er hat dabei große Erfolge erzielt. Wenn später in den Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion immer wieder davon die Rede war, daß die gewachsenen Bindungen zwischen Berlin und dem Bund bestehen bleiben mußten, so hatte Klein einen entscheidenden Anteil daran, daß diese Bindungen, etwa im Bereich der Finanzen oder bei der Errichtung von Bundesbehörden in Berlin zustande gekommen waren. Berlin verdankt Klein viel. Unter den norddeutschen Bevollmächtigten hatte ich häufig Kontakt mit Dr. Julius Clausen, Schleswig-Holstein, und Dr. Bernhard Hansen, Hamburg. 144
Hansen war wie ich Rechtsanwalt, ein geschickter Advokat auch in poHtischen Verhandlungen. Clausen уегкофеЛе die alte Beamtentradition. Leicht gespannt waren meine Beziehungen zu Dr. Justus Danckwerts, Niedersachsen, der 1951 dem klugen und feinsinnigen Herbert Lauffer folgte. Danckwerts war ein erfahrener Beamter. Er teilte die Auffassung seines Ministerpräsidenten Kopf, der Bremen, um es vorsichtig auszudrücken, reserviert gegenüberstand; und dafür mußte man sogar Verständnis haben, wenn man bedenkt, daß Niedersachsen durch die Eingliederung ehemaliger hannoverscher Gebiete in das Land Bremen mehrere Male in den dreißiger und in den vierziger Jahren erhebliche territoriale Einbußen erlitten hatte. Ich behandelte sowohl Kopf als auch Danckwerts mit unerschütterlicher Liebenswürdigkeit, und so blieben die vorhandenen Spannungen weitgehend unsichtbar. Eine besonders liebenswerte Persönlichkeit war der württemberg-badische Bevollmächtigte Dr. August Gögler. Nach der Bildung des Südweststaates des Landes Baden-Württemberg im Jahre 1952 trat Minister Oskar Famy an die Spitze der Landesvertretung. Auch mit ihm unterhielt ich bis zu seinem Tode freundschaftliche Kontakte. Meine beiden Kollegen aus Rheinland-Pfalz, Franz Haenlein und Hubert Hermans, waren hochgeschätzte, aber auch eigenwillige Persönlichkeiten. Schließlich erwähne ich Albert Pfitzer, ursprünglich Bevollmächtigter des Landes Württemberg-Hohenzollem, später ab 1951 Direktor des Bundesrates. Er hat dieses Amt 27 Jahre bekleidet, mit großem Geschick und großem Erfolg. Wenn man bedenkt, daß der Präsident des Bundesrates jährlich wechselt und daher CDU- oder CSU-Ministerpräsidenten und SPD-Ministerpräsidenten schnell aufeinander folgten, verdient Pfitzers Leistung höchste Anerkennung. Er genoß das Vertrauen aller Bundesratspräsidenten. Ich bin mit ihm befreundet seit der Zeit, als wir die beiden kleinsten Länder in Bonn vertraten. Mit den Bundesratsmitgliedern der anderen Länder, die nicht zugleich Bevollmächtigte beim Bund waren, traf ich naturgemäß viel seltener zusammen als mit den Bevollmächtigten. Aber einige von ihnen haben sich mir tief eingeprägt. Da waren zunächst die Justizminister Dr. Rudolf Katz (Schleswig-Holstein, SPD) und Dr. Adolf Süsterhenn (Rheinland-Pfalz, CDU). Sie waren beide hervorragende Juristen und lieferten sich im Rechtsausschuß und im Plenum des Bundesrates unvergeßliche Rededuelle. Katz vnirde später Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Da war femer Heinrich Albertz (Niedersachsen, SPD), der sich für Flüchtlinge und Vertriebene engagierte, sodann der hessische Finanzminister Dr. Wemer Hilpert (CDU), der sich mit aller Kraft, freilich vergeblich, dafür einsetzte, daß Frankfurt die Bundeshauptstadt wmrde. Am Tag der Abstimmung im Bundestag ging er noch einmal durch die Reihen der Abgeordneten, und als er auf die Bundesratsbank zurückkehrte, sagte er zu mir „Wir haben eine sichere Mehrheit für Frankfurt". Das war freilich ein Irrtum. Aus Hamburg kam Dr. Walter Dudek (SPD), der vorsichtig abwägende Finanzsenator, zu dem ich ein Vertrauensverhältnis gewann, und Dr. Karl Schiller (SPD), der schon damals durch glänzende wirtschaftspolitische Vorträge brillierte. Sein engster Mitarbeiter für den Verkehrsbereich war Helmut Schmidt, der 145
ebenfalls schon damals durch intelligente, aber bisweilen verletzende Beiträge hervortrat. Einmal griff er in einer Ausschußsitzung des Bundesrates den verehrangswmrdigen bremischen Senator Apelt so heftig an, daß es uns Bremern die Sprache verschlug. Nordrhein-Westfalens Vertreter war Dr. Heinrich Weitz (CDU). Als Finanzminister des größten Bundeslandes hatte er ein starkes Gewicht. Aus Bayern kam Dr. Hanns Seidel (CSU), Wirtschaftsminister, der wegen seines großen Sachverstandes und seiner ruhigen, geschickten Verhandlungsführung allgemein hoch geschätzt wurde. Sehr wichtig war für alle Bevollmächtigten der enge Kontakt mit den Abgeordneten des Bundestages. Wir Bremer hielten zunächst mit den fünf bremischen Abgeordneten Verbindung. Von der SPD : Heinz Meyer, Dr. Siegfried Bärsch und Bernhard Lohmüller; von der CDU: Johannes Degener, der später Senator in Bremen wurde, und dessen Nachfolger Dr. Emst Müller-Hermann; von der Deutschen Partei: Adolf Ahrens. Die farbigste Gestalt unter ihnen war Ahrens. Er hatte als Kapitän der „Bremen" das größte deutsche Passagierschiff nach Ausbruch des Krieges auf einer abenteuerlichen Fahrt unbemerkt von den Briten von New York über Murmansk nach Bremerhaven zurückgebracht. Aber noch wichtiger als die bremischen waren andere Abgeordnete, mit denen meine Mitarbeiter und ich regelmäßig Verbindung unterhielten. Oft waren sie bei uns im Bremer Haus zu Gast. Ich kann sie hier nicht alle nennen. Aufgrund der besonderen bremischen Konstellation waren meine Kontakte ebenso eng zu den Abgeordneten der Opposition wie zu denen der Regierungskoalition. Ich schätzte die meisten von ihnen hoch, und es würde mich sehr reizen, über jeden eine kurze Charakteristik zu geben. Alles in allem muß man sagen, daß die Parlamentarier jener Jahre einen aufopferungsvollen und entbehrungsreichen Dienst an unserem Lande leisteten. Anfangs saßen zwei oder drei von ihnen in einem Zimmer. Wenn einer ein vertrauliches Gespräch führen wollte, gingen die anderen hinaus. Ihre Heimreisen in die entlegenen Wahlkreise, wie Flensburg im Norden oder Cham im Bayerischen Wald, waren lang und beschwerlich; das zu bewältigende Arbeitspensum enorm. In der ersten Legislaturperiode behandelte der Bundestag 545 Gesetzentwürfe - mehr als in irgendeiner der folgenden Legislatuφerioden - , darunter viele wichtige Gesetze, die die Grundlage einer neuen freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland bildeten. Die Parlamentarier jener Epoche verdienen Dank und Anerkennung. Alle Bevollmächtigten unterhielten zu meiner Zeit Kontakte zum Diplomatischen Corps. Ich besuchte von Zeit zu Zeit John McCloy, den amerikanischen Hohen Kommissar, der sehr offen mit mir über seine Sorgen sprach. Die schroffe Auseinandersetzung zwischen Adenauer und Kurt Schumacher beunruhigten ihn. Er sah in Schumachers Haltung einen nationalistischen Zug. Ich verwies auf seine schrecklichen Erfahrungen in den Konzentrationslagern der Hitlerzeit und auf seine historische Leistung nach 1945, als er den Bruch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten vollzog. Er sei ein absolut verläßlicher Demokrat. Daß für ihn die Wiedervereinigung Deutschlands das alles überragende 146
Ziel sei, könne man verstehen. Freilich sei es auch nach meiner Meinung falsch, deswegen den europäischen Einigungsprozeß zu blockieren. Auch mit dem französischen Hohen Kommissar, André François-Poncet, einer bedeutenden Gestalt, der Deutschland genau kannte und fließend deutsch sprach, hatte ich gelegentliche Kontakte; häufiger mit seinem Stellvertreter Armand Bérard, und vor allem mit dem französischen Verbindungsmann zum Bundesrat Bruno de Leusse, mit dem ich befreundet war. Von den ausländischen Botschaftern der Anfangszeit stehen mir besonders die türkischen Botschafter Nizamettin Ayashli und Suat Ürgüplü vor Augen eindrucksvolle Gestalten und verläßliche Freunde Deutschlands. Auch mit dem spanischen Botschafter Antonio Aguirre, dem schwedischen Gesandten Ragnar Kumlin, dem niederländischen Botschafter Arnold Theodor Lamping, dem belgischen Botschafter Fernand Muuls und dem schweizerischen Gesandten Albert Huber kam ich häufig zusammen. Freundschaftlich war ich mit dem dänischen Botschafter Frants Hvass verbunden. Auch mit dem jugoslawischen Botschafter Dr. Mladen Ivekovic unterhielt ich mich gem. Sehr angesehen waren der indische Botschafter Subim Dudd, einer der ersten ausländischen Botschafter, die in Bonn akkreditiert wurden, und der argentinische Botschafter Luis Irigoyen, der vorzüglich deutsch sprach. Einmal im Jahr luden die Bevollmächtigten der Länder das gesamte Diplomatische Соф8 mit Damen zu einem Abendessen und anschließendem Tanz in das Restaurant „Kuckuck" in Köln ein. Das waren jedesmal glanzvolle und bei allen Teilnehmern sehr beliebte Feste. Aus dem kurzen Überblick, den ich von meinen Aufgaben als Bevollmächtigter beim Bund gegeben habe, geht hervor, wie interessant und reizvoll diese Tätigkeit war, und das ist sie sicher auch heute noch. Thomas Dehler hat einmal gesagt: „Am besten haben es in Bonn die Länderbevollmächtigten. Sie verfolgen in der Proszeniumsloge sitzend die Geschehnisse auf der politischen Bühne aus nächster Nähe, brauchen sich aber selbst an den manchmal häßlichen Kämpfen, die dort stattfinden, nicht zu beteiligen." Zutreffend ist auch die Schilderung, die Heinz Laufer gibt: „Die Tätigkeit ist vielgestaltig und umfassend. Sie verlangt Sachkenntnis, Phantasie, Kontaktfreudigkeit, politisches Urteilsvermögen, Beharrlichkeit und föderatives Engagement. Von der Qualität der Bevollmächtigten und der ihrer Mitarbeiter in den Landesvertretungen ward zu einem guten Teil die Stellung, das Ansehen sowie die Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen Länder im System des kooperativen Föderalismus bestimmt"^®). Protokollarische Schwierigkeiten hatte ich nie. Ich vertrat das kleinste Land und war der jüngste Bevollmächtigte. Daher waren meine Frau und ich immer einverstanden, wenn unsere älteren Kollegen in der Sitzordnung mit ihren Frauen vor uns rangierten.
Heinz Laufer, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 5. neu bearbeitete Auflage München 1985 S. 164. 147
Das Bremer Haus in Bonn Meine Frau und ich wohnten nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in einer Mietwohnung in Bad Godesberg in dem Bremer Haus in Bonn, Schaumburg-Lippe-Straße 9. Dr. Joachim von Hoffmann, ein Mitarbeiter der Vertretung, hatte den Kauf vermittelt, schon bevor ich eintraf. Es war ein Glückstreffer. Zwar war das Haus im Kriege stark beschädigt worden; als wir mit dem Büro dort einzogen, fehlte das Dach, so daß das Regenwasser über die Treppen ins Untergeschoß lief, wo die Büroräume lagen. Aber nach und nach wmrde das Haus mit Hilfe der bremischen Bauverwaltung und ihres ideenreichen Baudirektors Claus Tippel ein ansehnliches Gebäude. Im Erdgeschoß waren die Repräsentationsräume untergebracht sowie mein Arbeitszimmer mit einem herrlichen Blick auf den Rhein bis hin zum Siebengebirge, im ersten Stock lag unsere Wohnung (vier Zimmer, Küche und Bad) und im zweiten Stock einige Gästezimmer, wo die bremischen Bundesratsmitglieder, wenn sie in Bonn waren, übernachten konnten. Meine Frau und ich haben in diesem Hause eine lebhafte Geselligkeit entfaltet: große Empfänge mit 50 und mehr Personen, Abendessen mit zehn Gästen und kleinere Veranstaltungen, zu denen ich im Auftrage bremischer Senatoren einlud. Bei den geselligen Veranstaltungen unterstützte mich meine Frau hervorragend. Im Jahr 1949 war sie 26 Jahre alt und meist die jüngste Frau im Kreise. Sie war künstlerisch sehr interessiert und spielte Geige in einem Bonner Quartett. Die meisten unserer Gäste waren begeistert von ihr. Damals sagte Carlo Schmid: „Die Carstens sind Schokolade". Damit war vor allem meine Frau gemeint. Wir fühlten uns nicht ganz zutreffend gekennzeichnet. Aber Schmid meinte es in einem netten Sinne (er aß gem Schokolade). Auch Bundesminister Lübke, der spätere Bundespräsident, war von meiner Frau begeistert. Sie trüge Kleider, wie sie früher seine Mutter getragen hätte, sagte er, mit weißen Rüschen am Ärmel und am Hals. Das sah auch wirklich sehr hübsch aus. Meine Frau befreundete sich in jenen Jahren mit einer Reihe von Damen, die ebenso wie sie selbst in Begleitung ihrer Männer nach Bonn gekommen waren und jetzt dort wohnten. Besonders freundlich war ihr gegenüber Frau Luise Erhard, ebenso wie ihre älteste Tochter, Frau Elisabeth Klotz. W o immer sie sich begegneten, kam es zu einer herzlichen Begrüßung, zu langen Gesprächen, bei denen sich viele gemeinsame Interessen und Berührungspunkte ergaben. Auch Frau Dehler stand meiner Frau nahe. Sie war im Dritten Reich verfolgt worden, sprach aber nie darüber. Es war eine kluge Frau mit vielseitigen kulturellen Interessen. Auch zu manchen Damen des Diplomatischen Corps knüpfte meine Frau engere Beziehungen an. Oft hat sie von einer Einladung bei Mme. François-Poncet erzählt, einer der großen Botschafterfrauen unserer Epoche. Sie war klug und gebildet, kannte Deutschland und die Deutschen aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts in unserem Lande, früher in Berlin, jetzt in Bonn, sehr genau. Die Gespräche mit ihr waren genußreich. Meine Frau war besonders beeindruckt, wie sie sich auf ihre Gäste vorbereitete. So fragte sie meine Frau nach 148
ihren musikalischen Interessen. Sie erkundigte sich nach dem Medizinstudium, das sie 1944 unterbrochen hatte. Sie fragte nach Bielefeld, der Heimatstadt meiner Frau, und nach Bremen und erkundigte sich nach Frau Kaisen. Kurzum, sie hatte sich über meine Frau ebenso wie über die anderen Damen, die sich bei ihr zum Tee trafen, vorher genauestens informiert und führte das Gespräch mit ihnen freundlich und souverän. Im Bremer Haus fanden auch viele Gespräche über Bremen interessierende Sachthemen statt. Besonders lebhaft erinnere ich mich an ein Gespräch aus dem Jahre 1950 oder 1951. Es ging um die Freigabe der Stahlpreise. Auf Bitten von Senator Harmssen hatte ich Ludwig Erhard eingeladen, dazu einige Abgeordnete von CDU und FDP. Erhard entwickelte seinen Plan, im Zuge der vollständigen Einführung der Marktwirtschaft die Stahlpreise freizugeben, und stieß dabei auf den erbitterten Widerstand aller Anwesenden. Harmssen (ГОР), sonst sicher ein Anhänger der Marktwirtschaft, befürchtete, daß die Stahlpreise kräftig steigen und die deutschen Werften dann nicht mehr konkurrenzfähig sein würden. Andere Gesprächspartner prophezeiten das gleiche für die Automobilbranche und sonstige stahlverarbeitende Industriezweige. Damals habe ich Erhard bewundert. Er stand unter massivem Druck, blieb aber bei seiner Meinung, daß ohne die Einbeziehung der Stahlindustrie die Marktwirtschaft ein Torso bleiben würde. Kurz darauf wurden die Stahlpreise freigegeben, die in der Tat zunächst anstiegen, sich dann aber auf einem Niveau einpendelten, das die stahlverarbeitende Wirtschaft gut verkraften konnte. Im wirtschaftspolitischen Bereich lag Erhards große Stärke. Er war prinzipientreu und dachte in langfristigen Perspektiven.
4. Auslandsreisen Begleitung Kaisens in die USA Bürgermeister Kaisen unternahm zwischen 1949 und 1954 mehrere Auslandsreisen, auf denen ich ihn begleitete. Die wichtigste war seine fast sechswöchige Reise nach Amerika. Anlaß dazu war eine Einladung der amerikanischen Militärregierung. Kaisen hatte McCloy und jeden Amerikaner, dessen er habhaft werden konnte, immer wieder auf die unerträgliche Situation der deutschen Werften und der deutschen Reedereien hingewiesen. In Bremen gab es 25 ООО Arbeitslose, unter anderem, weil der Schiffbau alliierten Beschränkungen unterlag. Die von deutschen Werften gebauten Schiffe durften eine bestimmte Geschwindigkeit (12 Knoten) und eine bestimmte Größe (7 200 Bruttoregistertonnen) nicht übersteigen. Für Schiffe dieses Typs aber gab es keinen ausreichenden Markt, weder in Deutschland noch im Ausland. So konnten die Werften nicht arbeiten. Die amerikanische Militärregierung war in dieser Frage nicht uneinsichtig, konnte sich aber in Washington, das seinerseits durch Vereinbarungen mit London und Paris gebunden war, nicht durchsetzen. Es war daher ein geschickter Zug der amerikanischen Militärregierung, Kaisen die Chance zu geben, seine Sorgen selbst in Washington vorzutragen. Kai149
sen bat mich, ihn zu begleiten - ein Angebot, das ich mit Freude annahm. In seinen Lebenserinnerangen schildert er meine Mitwirkung an der im ganzen erfolgreichen Reise mit sehr freundlichen Worten^'). Für mich bedeutete die Reise die Chance, zu einem längeren Aufenthalt in die USA zurückzukehren, die ich erst neun Monate vorher verlassen hatte. Am 19. April 1950 flogen wir in Frankfurt am Main ab und trafen am 21. April in New York ein. Während des sechswöchigen Aufenthalts besuchten wir zweimal New York, femer Washington, Baltimore, New Orleans, Houston, Yale (New Haven), Boston, Chicago und einige Farmen in lUinois. In New York traf Kaisen Vertreter der amerikanischen Gewerkschaften, die ihm Unterstützung zusagten. Auch General Franklin, der mächtige Vorsitzende der United States Lines, schien sich in einem langen Gespräch mit Kaisen mit dem Gedanken abzufinden, daß der Norddeutsche Lloyd demnächst wieder auf den Wehmeeren auftauchen würde. Bei seinen Gesprächen über Schiffbau und Schiffahrt wurde Kaisen hervorragend durch einige Bremer unterstützt, die in New York lebten: F. W. Hartmann sowie Ewig und Glässel jun. Allen Dulles, ein sehr einflußreicher Anwalt und Bruder von John Foster Dulles, empfing uns. General Lucius D. Clay lud Kaisen zum Frühstück ein, und schließlich erhielten wir eine Einladung zu einem großen Empfang, den der Bürgermeister von New York, William O' Dwyer, für eine internationale Konferenz von Bürgermeistern, die gerade in New York stattfand, gab. Dabei beeindruckte mich besonders der Protokollchef der Stadt, der etwa 1 ООО Gäste aus dem Gedächtnis unter Nennung ihres Namens und ihrer Funktion dem Bürgermeister vorstellte, auch Kaisen und mich, die er am Vortage bei einem Besuch im Rathaus kennengelemt hatte. Zum erstenmal in meinem Leben fuhr ich hinter einer Polizeieskorte, die mit ihrem ohrenbetäubenden Sirenengeheul geradezu furchterregend wirkte. Bei unserem zweiten Aufenthalt in New York lud uns der Plattdeutsche Volksverein, der etwa 40 ООО Mitglieder zählte, ein. Wir besichtigten das FritzReuter-Haus, ein Altenheim für Plattdeutsche, das aus privaten Mitteln unterhalten wurde. In der Liste der plattdeutschen Vereine New Yorks ist fast jeder größere Ort in Norddeutschland vertreten, natürlich Bremen und Hamburg, aber auch Zeven, Ottersberg, Lilienthal. Kaisen hielt eine hinreißende Rede auf plattdeutsch. Hinterher kam allerdings ein Plattdeutscher zu mir, der schon vor 1914 nach Amerika eingewandert war und sagte: „Wie kommt es, daß euer Bremer Bürgermeister Hamburger Platt spricht?" Er hatte den Unterschied der beiden plattdeutschen Dialekte noch im Ohr. Auch ich mußte eine plattdeutsche Rede halten, fiel natürlich gegen Kaisen stark ab, wurde aber ebenso wie er zum Ehrenmitglied des Plattdeutschen Volksfestvereins ernannt. Mein Vetter Georg Pape aus Brümmerhof bei Zeven spielte im Verein eine wichtige Rolle. Er hatte in den schlimmen Jahren nach 1945 großzügige Hilfssendungen von Care-Paketen nach Norddeutschland organisiert.
Siehe Wilhelm Kaisen, Meine Arbeit, mein Leben, München 1967 S. 292 ff. 150
In Washington kam es zu einer Begegnung mit Außenminister Dean Acheson, dem Kaisen ein von mir verfaßtes Memorandum zur Situation der deutschen Werften übereichte. Acheson, dem ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal begegnete und der einen sehr starken Eindruck auf mich machte, zeigte sich den Wünschen Kaisens gegenüber aufgeschlossen, und er werde, so sagte er, die Angelegenheit auf der für Mai geplanten Außenministerkonferenz der drei Westmächte in London zur Sprache bringen. Auch ein Gespräch mit John Foster Dulles, einem Republikaner, der damals als Sonderberater des amerikanischen Präsidenten Truman im State Department arbeitete, verlief positiv, und ebenso eine mehrstündige Unterredung mit mehreren Kongreßabgeordneten. Dagegen war der Versuch Kaisens, aus den Marshall-Plan-Mitteln eine Beihilfe für die deutschen Reedereien zu erhalten, erfolglos. Es v«irde deutlich, daß dieser Gedanke bei den amerikanischen Reedern auf klare Ablehnung stieß. Sie wollten sich keine Konkurrenz, noch dazu mit amerikanischer finanzieller Unterstützung, großziehen. In New Orleans erhielten Kaisen und ich bei gewaltiger Hitze die Ehrenbürgerurkunde der Stadt. Gespräche mit Reedern, vor allem mit Lykes Brothers, dienten der Anbahnung von Kontakten zwischen bremischen und amerikanischen Reedereien. In Houston führte Kaisen Gespräche mit Baumwollfirmen, denen die frühere Bedeutung Bremens als wichtigster Baumwollimporthafen des europäischen Kontinents vor Augen stand und denen offenbar an einer Wiederbelebung ihrer Kontakte mit den bremischen Baumwollimporteuren sehr gelegen war. In Yale empfing uns mein alter Lehrer und Freund McDougal auf das gastlichste. Kaisen war von der Atmosphäre dieser Universität tief beeindruckt. In Boston wohnten wir bei Carl Friedrich, der aus Emden stammte, seit Jahrzehnten ein bedeutender Professor des Staatsrechts an der Harvard Universität war und nach 1945 eine wichtige Funktion in der amerikanischen Militärregierung in Deutschland ausgeübt hatte. Er war ein außerordentlich liebensvrärdiger Gastgeber. In Chicago sahen wir die Häfen und die weltberühmten Schlachthöfe. Wir wohnten im Bismarck-Hotel, dessen Besitzer, Herr Eitel, ein glanzvolles Dinner für Kaisen gab. Am nächsten Tag besuchten wir mehrere Farmen in Illinois, die auf einem damals für uns Deutsche unvorstellbar hohen technischen Niveau standen. Die Kühe wurden mechanisch gemolken, dazu ertönte Musik. „Bei preußischer Marschmusik geben sie die meiste Milch", sagte der Farmer Alfred Bothe, ein Einwanderer aus Deutschland. Wohin die Automisierung der industriellen Entwicklung treibt, zeigte man uns an einer riesigen Sojaölfabrik, die in fünf Stockwerken untergebracht war. Sie wTirde von zwei Arbeitern im Schichtdienst Tag und Nacht bedient. Nach seiner Rückkehr erstattete Kaisen am 9. Juli 1950 vor der Bremischen Bürgerschaft einen ausführhchen Bericht über seine Amerikareise^^). Er hob da-
Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft 1950 S. 301 ff. 151
bei hervor, wie freundlich er in Amerika aufgenommen worden sei und wie entgegenkommend man seine Wünsche beurteih habe. Die Zeichen der Ermutigung, die er in Washington gefunden habe, seien für ihn etwas Großes und Überraschendes gewesen. Die Rede ist ein bedeutendes Dokument deutschamerikanischer Beziehungen in den fünfziger Jahren. Kaisen schildert seine Eindrücke in der plastischen Sprache, die er wie kaum ein anderer beherrschte: „ Was wir in Industrien, Farmen, Banken, Werften usw. gesehen haben, übersteigt das Maß aller Phantasie. Ich habe Gebäude gesehen, in denen 20 ООО bis 30 ООО Menschen arbeiteten, eine richtige Stadt, wo Restaurants waren zur Verpflegung dieser kleinen Stadt. Da stehen Tausende und Abertausende von Autobussen, deren Verkehr sich automatisch regelt, ohne Verkehrsschutzleute. Wenn Sie solche Gebäude sehen, dann verblaßt dagegen, was wir in den Romanen von Jules Verne und anderen Phantasieschriften gelesen haben. Das sieht man da alles verwirklicht. Ich habe den Kopf geschüttelt. Wie ist das möglich, eine solche Macht, eine solche Verwaltungsmacht von 30 ООО Menschen in einem Gebäude zu konzentrieren! Gehen Sie nach New York! Ich habe z. B. das Rockefeller-Gebäude gesehen. — Mit den Wolkenkratzern ist im allgemeinen nicht viel los. - Aber, das RockefellerGebäude, eine Schönheit sondergleichen! Dort arbeiten 20 000 Menschen." Aber er erwähnt auch das unbeschreibliche Elend, das ihm begegnet ist: „Es gibt auch in den USA Elend, viel Elend. Wenn Sie nach New Orleans in die Negerviertel oder nach Chicago kommen und dort die Hinterhäuser sehen, so werden Sie dort ein unerhörtes Elend flnden, dessen Bekämpfung ßr die USA ein sehr ernstes Problem bedeutet. Für Chicago hat der Bund 250 Millionen Dollar ßr die Beseitigung der Slums bewilligt. Und gerade angesichts auch dieses Elends, angesichts dieser kaum vorstellbaren Zustände in diesen elenden Mietskasernen bekommt man erst einen Begriff davon, was es bedeutet, daß trotz alledem die USA den Marshallplan bewilligt haben und durchßhren. 3,5 Milliarden Dollar hat Präsident Truman erst am Montag wieder unterzeichnet, zum Zwecke der Hilfeleistung in Asien, Europa und Afrika. Würden wir unsererseits auch so handeln, wenn bei uns derartige Elendszustände vorhanden wären ? Diese Frage müssen wir uns stellen. Es ist ganz sicher nicht allein die Angst vor Stalin, die die Amerikaner veranlaßt, der Welt mit dem Marshallplan zu Hilfe zu kommen. Es ist auch nicht allein die Angst davor, in der eigenen riesigen Produktion zu ersticken, ßr \ die man Käufer auf dem Weltmarkt suchen muß". Gar nichts häh er von den amerikanischen Kartoffeln: „Das Zeug schmeckt nicht", sagt er. Voller Stolz berichtet Kaisen, in welch hohem Ansehen Bremen in den USA stehe: „Ich habe drüben oft empßnden, was Bremen in den Hafenstädten der USA, an den großen Plätzen bedeutet. Ob ich nach Washington kam, nach New Orleans, Boston, Baltimore, Houston: überall in den Hafenplätzen genügte der Name ,Bremen'. Durch Zeitung oder Rundßnk wurde bekanntgegeben, daß ich da war, und alle möglichen Leute kamen, um mich aufzusuchen. Der Nimbus unserer Stadt ist groß. Ich habe oft zu meiner Genugtuung oder 152
Überraschung empfunden, wie groß der Aktionsradius unserer Hansestadt dort ist, wenn auch jahrelang unsere Verbindungen abgeschnitten waren, wenn auch der Krieg unsere Handelsflotte erneut vernichtete, uns isolierte und zu Formen zwang, die nicht zu dem Wesen unserer Hansestadt paßten, wo wir nicht wußten, was aus der Zukunft wurde in einer Stadt, die zu 60 Prozent zerstört war, wo wir uns fragten: Werden wir wieder zu Schiffen kommen ? Wird es möglich sein, eine Handelsstadt im alten Sinne zu werden ? Werden wir die verlorenen Verbindungen wieder aufholen, die zerrissen sind? Wenn man dann nach so vielen Jahren wieder rüberkommt und das aufleben sieht, was einst lebendig war, und wie aus aller Augen die Freude leuchtet, mit einem Bremer über diese Dinge zu sprechen, wie überall die freundliche Geste unterstrichen wurde durch die hilfreiche Tat!" Über mich fand er freundliche Worte, vor allem wegen meiner genauen Kenntnisse der amerikanischen Verhältnisse: „Es war ein glückliches Zusammentreffen, das es mir ermöglichte, mit diesem Begleiter die USA zu besuchen, weil er es verstand, viele Pforten zu öffnen, die sonst vielleicht verschlossen geblieben wären. Ich muß das hier ausdrücklich betonen, damit sein Anteil an dem Erfolg dieser Reise gebührend gewürdigt wird, auch soweit er als junger Vertreter Bremens in Bonn unsere Interessen wahrnimmt. " Die Reise Kaisens nach Amerika erwies sich in der Folgezeit als ein großer Erfolg. Im September 1950 gaben die Allierten den Bau von Frachtschiffen für den Export frei, und im April 1951 fielen alle Beschränkungen für den Bau von Handelsschiffen und Passagierschiffen auf deutschen Werften. Reisen nach Frankreich, Belgien und den
Niederlanden
Im März 1951 reiste Kaisen auf Einladung der französischen Hohen Kommission in Bonn nach Frankreich. Auch hier durfte ich ihn begleiten. Mit uns reiste Alfred Faust, ein langjähriger Freund Kaisens, damals Pressesprecher des Senats. Faust war 1883 im Elsaß geboren und sprach gut Französisch. 1909 kam er nach Bremen als Reklamechef der Kaffee HAG. 1919 engagierte er sich politisch; zunächst auf der äußersten Linken, später gab er zusammen mit Kaisen die Bremer Volkszeitung, die Zeitung der SPD, heraus. Faust war ein erbitterter Gegner der Nationalsozialisten, die er bis 1933 politisch bekämpfte. Nach der Machtergreifung wurde er in ein Konzentrationslager verschleppt und dort schwer mißhandelt. Aber der Alfred Faust, der Kaisen 1951 nach Frankreich begleitete, hatte das alles überwunden. Er war ein kluger, aufgeschlossener, man kann sagen heiterer und im Vergleich zu seinen früheren stürmischen Jahren beinahe abgeklärter Gesprächspartner. Kaisen hatte lange gezögert, die Einladung nach Frankreich anzunehmen. Die Wunden des Krieges waren auf beiden Seiten noch frisch. Auch machte uns die französische Nachkriegspolitik mancherlei Sorgen, vor allem die immer wieder erneuerten Bemühungen Frankreichs, das Saargebiet fester an sich zu bin153
den. Andererseits gab der Schuman-Plan, die bevorstehende Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Anlaß zu der Hoffnung, daß das deutsch-französische Verhältnis sich nachhaltig bessern würde. Kaisen führte in Paris ein langes Gespräch mit Außenminister Robert Schuman, von dem er den Eindruck gewann, daß er es ehrUch meinte. Kaum einer kannte beide Völker so gut wie er, der bis zu seinem 33. Lebensjahr deutscher Staatsangehöriger gewesen war. „Er ist Europäer", sagte Kaisen von ihm. Tief beeindruckt waren Kaisen und vwr anderen von der ungebrochenen französischen Tradition, wie sie sich uns in Versailles, im Invalidendom und am Grab des unbekannten Soldaten unter dem Are de Triomphe manifestierte. Aber Kaisen sah auch den Wandel in der französischen Politik von Poincaré zu Schuman. Im Rathaus von Paris erhieh Kaisen als erster Deutscher seit 1914 die Bürgermeistermedaille der Stadt Paris. Unter den sachlichen Themen, die Kaisen mit Schuman erörterte, stand wieder die Freigabe des Schiffbaus im Vordergrund. Schuman beruhigte ihn; bis zum nächsten Jahr würden die letzten Beschränkungen fallen (tatsächlich fielen sie vier Wochen später im April 1951). Kaisen wies auf die Schwierigkeiten hin, die sich aus dem hohen Handelsbilanzdefizit der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Frankreich ergaben. Er erhielt die Zusage, daß sich deutsche Kaufleute demnächst in Frankreich niederlassen könnten. Außer Paris besuchten wir die beiden Häfen Rouen und Le Havre, die im Kriege schwer zerstört worden, aber inzwischen zu zwei Dritteln wieder aufgebaut waren, große moderne Häfen, in die der französische Staat ungeheure Summen investierte. Über seine Reise berichtete Kaisen mehrfach vor der Presse und am 22. März 1951 vor der Bremischen Bürgerschaft^^). Die Gespräche seien, so sagte er, in einem freundschaftlichen Geist geführt worden. Nirgends sei ihm Haß begegnet. Das Mißtrauen gegenüber Deutschland sei im Schwinden begriffen. Mit Nachdruck setzte sich Kaisen für die Unterzeichnung und Ratifikation des Montanvertrages ungeachtet mancher noch nicht gelöster Probleme ein. Wieder flocht er wie bei dem Bericht über seine Amerikareise köstliche persönliche Eindrücke ein: „Zum erstenmal habe ich gewagt, um nicht unhöflich zu sein, Weinbergschnecken und Austern zu essen (Heiterkeit). Das kostete mich starke Überwindung. Ich bin ein guter Bremer oder in diesem Fall ein guter Borgfelder und handele nach dem Sprichwort ,Wat de Buer nich kennt, dat fritt he nich' (Heiterkeit). Ich konnte es aber nicht verhindern, daß man mir solche Delikatessen servierte, und ich mußte aus lauter Höflichkeit diese wabbelige Masse auch zu mir nehmen. Es schmeckte dank seiner Zubereitung nicht schlecht, erinnerte leicht an Coca Cola (Heiterkeit)." Nach seiner Rückkehr gab Kaisen Adenauer einen ausführlichen Bericht über die Frankreichreise, indem er seine wichtigsten Eindrücke zusammenfaßte. Die Franzosen wünschten, so sagte er, engere Kontakte zwischen deutschen und
Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft 1951 S. 133 ff. 154
französischen Parlamentariern. Schuman schlage Adenauer vor, bald nach Paris zu kommen (tatsächlich unternahm Adenauer seine erste Parisreise einen Monat später zur Unterzeichnung des Montanunion-Vertrages). Besonders hob Kaisen in seinem Bericht an Adenauer die enormen finanziellen Leistungen des französischen Staates für den Ausbau der Atlantikhäfen hervor; aber hier in Deutschland schröpfe der Bund Bremen im horizontalen und vertikalen Finanzausgleich. Statt dessen müsse er, Kaisen, fordern, daß der Bund Mittel für die Häfen zur Verfügung stelle. Adenauer dankte mit Brief vom 3. April 1951"). Besonders begrüßte er die Anregung zu regelmäßigen Treffen deutscher und französischer Parlamentarier. Im Jahre 1951 unternahm Kaisen auch eine Reise nach Belgien und Holland, auf der ich ihn gleichfalls begleitete. Unvergeßlich ist mir eine Szene im Antwerpener Rathaus. Wir hatten die Häfen, den alten Stadtkern und das Rubenshaus besichtigt. Abends gab Bürgermeister Craeybeckx ein Essen für Kaisen. Nach dem Hauptgericht erhob er sich und sagte: „Eigentlich wollte ich jetzt eine Rede halten, aber das Essen ist so gut und unsere Unterhaltung so interessant, daß eine Rede störend wirken vioirde. Ich gebe Ihnen daher den Text meiner Rede und schlage vor, daß Sie sie heute abend vor dem Schlafengehen lesen. Ich trinke auf Ihr Wohl." Es war ein klassisches Beispiel ungezwungener flämischer Lebensart nach dem Grundsatz „leben und leben lassen". Demgegenüber verlief der Besuch in Rotterdam zwar in durchaus höflichen Formen, aber doch viel kühler. Das Bombardement durch die deutsche Luftwaffe vom 14. Mai 1940, bei dem der größte Teil der Stadt zerstört wurde und über 900 niederländische Zivilisten ums Leben kamen, lag wie ein düsterer Schatten auf den Besprechungen. Aber hinzu trat das deutliche Bestreben der niederländischen Häfen, für das Ruhrgebiet und das Rheinland bestimmte Ladungen aus Übersee an sich zu ziehen, übrigens in der Folgezeit mit großem Erfolg. Die holländische Konkurrenz gegenüber Bremen und Hamburg ist bis heute weit härter als die belgische. Urlaub in Portugal, Spanien und Marokko Zu den großen Erlebnissen in den frühen fünfziger Jahren gehörte die Urlaubsreise mit meiner Frau nach Portugal, Spanien und Marokko. Es war eine Zeit, in der nur wenige Deutsche in diesen Teil der Welt reisten. Für Marokko benötigte man ein Visum, das wir nur aufgrund einer besonderen Empfehlung der französischen Hohen Kommission in Bonn erhieUen. Wir nahmen unseren Wagen, einen Mercedes 170 Diesel, mit, was sich als sehr zweckmäßig erwies. In Spanien kostete der Dieselkraftstoff 0,26 DM je Liter. Wir verbrauchten für 100 km 6,5 Liter, das heißt, unsere reinen Fahrtkosten in Spanien beliefen sich auf weniger als 2 DM je 100 km. Antwortschreiben Adenauers vom 3. April 1951 auf den Bericht Kaisens vom 21. März 1951 in Staatsarchiv Bremen 3 - S. la. Nr. 444 quadr. 9 Nr. 4; Schreiben Adenauers auch gedruckt in ADENAUER, Briefe 1 9 5 1 - 1 9 5 3 ; S. 35. 155
Wir schifften uns im Sommer 1953 in Antwerpen an Bord des NeptunDampfers „Feronia" ein, der auch unseren Wagen übernahm. Als das Schiff auslief, genossen meine Frau und ich den Abendhimmel. Es war völlig windstill; die Sonne ging in einem glasigen Dunst unter. „Mir gefällt das Wetter gar nicht", sagte der Kapitän, und er sollte recht bekommen. In der Nacht, als wir im Ärmelkanal waren, brach ein Sturm los, der bald Orkanstärke erreichte. Meine Frau und ich blieben in unseren Kojen. Hier fühlten wir uns einigermaßen sicher. Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück erschienen und auf dem immer noch stark schaukelnden Schiff nach einem festen Halt suchten, begegnete uns der Kapitän. Er berichtete von einem aufregenden Abenteuer während der vergangenen Nacht. Der Erste Offizier war auf Wache auf der Brücke; der Kapitän hatte sich hingelegt, um etwas zu schlafen. Plötzlich sah der Erste ein großes Schiff quer zu unserer Fahrtrichtung, das offenbar den Ärmelkanal auf der Fahrt von Frankreich nach England durchquerte. Aber die seitliche Position des anderen Schiffes änderte sich nicht. Statt dessen kam es immer näher auf uns zu. Der Erste rief den Kapitän durch die Rufanlage, die von der Brücke in die Kapitänskajüte führt. Der Kapitän, so berichtete er uns, stürzte in Pantoffeln in höchster Eile auf die Brücke und erkannte die Situation sofort: Das andere Schiff hatte offenbar einen Maschinenschaden und trieb vor dem Weststurm genau auf uns zu. Es war wesentlich größer als unser Schiff. Im Falle einer Kollision, die nahe bevorstand, wären wir die Leidtragenden gewesen. Der Kapitän leitete sofort die erforderlichen Ruder- und Maschinenmanöver ein, und es gelang ihm um Haaresbreite, uns an dem großen Pott vorbeizubugsieren. Er sagte, es wäre der bisher schlimmste.Augenblick seiner seemännischen Laufbahn gewesen. Der Sturm hielt weiter an. Dramatisch wairde es jedesmal, wenn einer von uns die Passagiertoilette benutzen wollte. Sie stand oben auf dem offenen Deck, über das in kurzen Abständen die Kämme der Wellen hinwegfegten. Aber nach drei oder vier Wellen vvoirde es meist rahiger. Dann mußte man aus dem Niedergang, der zu den unteren Decks führte, heraus und mit größter Eile zur Toilette hasten. War man erstmal darin, war man geborgen. Aber der Rückweg! Hier half uns der Koch. Er beobachtete die Wellen, bis eine vorübergehende Beruhigung eintrat. Dann rief er: „Jetzt!" und wir sausten zurück zum Niedergang. Das sind Eindrücke, die man nie vergißt. Nach zwei Tagen passierten wir die Westspitze Frankreichs, die Insel Quessant („Uschant" sagen die Seeleute), und dann wurde es rahiger. In der Biscaya war es vdndstill. Wir lagen in der Sonne; der Kapitän angelte Fische, „Bonitos", die wir mittags mit Genuß verzehrten. Schließlich erreichten wir Porto und konnten nach einem langen, mühseligen Papierkrieg den Hafen mit unserem Wagen verlassen. Vom Kapitän und seiner Mannschaft nahmen wir herzlichen Abschied. Noch jahrelang haben wir mit ihnen zu Weihnachten Grüße ausgetauscht. Von Porto ging es südwärts über Nazaré, wo wir den Fischern zuschauten, die in ihren malerischen Booten ihrem anstrengenden, manchmal lebensgefährlichen Broterwerb nachgehen, während ihre Frauen in dunkler Tracht am Strande sitzend die Netze flicken, nach Lissabon. 156
Diese Stadt war ein großes Erlebnis. Die weißen Kirchen und Paläste in manuelischer Gotik prägten sich uns tief ein. Dann ging es mit der Fähre über den Tejo weiter nach Süden. Bei El Rosal de la Frontera überschritten wir die Grenze nach Spanien und erlebten den südlichen Teil dieses Landes, sanfte Hügel, mit Oliven bewachsen. Sevilla, Cordobà, Granada, Malaga waren die Stationen, an denen wir haltmachten. Die Alhambra von Granada überwältigte uns, dieser herrliche maurische Palast, in dessen Gärten die Brunnen fließen und seltene Blumen in überreichlicher Fülle blühen. Fast 30 Jahre später war ich als Bundespräsident mit meiner Frau wieder in Granada, und wieder überwältigte uns seine fremdartige, faszinierende Schönheit. Von Malaga setzten wir zu dem spanischen Melilla an der nordafrikanischen Küste über und fuhren dann durch Marokko in Richtung Westen weiter. Wir kamen durch das wilde, zerklüftete Bergland des Rif, wo in den zwanziger Jahren der legendäre Führer der Rif-Kabylen, Abd el-Krim, gegen Spanien und Frankreich gekämpft hatte. Wir sahen Tetuan, eine moslemische Stadt, mit ihren Moscheen, wo die Frauen dunkle Schleier trugen und auf dem Basar kostbare und weniger kostbare Waren anboten, und gelangten nach Tanger, damals noch eine Stadt mit internationalem Statut, voll pulsierenden Lebens, mit einem bedeutenden Hafen und Schiffsverbindungen in viele Länder. Hier wurde ich krank. Meine Frau hatte sich schon in Spanien eine schwere Magen- und Darmverstimmung zugezogen. Ich bekam eine meiner stark fiebrigen Erkältungen, und vdr beschlossen schweren Herzens, auf den Rest unserer Fahrt, das heißt auf Rabat, Meknes, Fes und das Atlasgebirge zu verzichten. So schifften wir uns in Tanger an Bord eines französischen Schiffes ein und erreichten in angenehmer Fahrt, während derer ich mich langsam erholte, Marseille. Von dort fuhren wir das Rhonetal hinauf und kamen über Lyon, Genf, Basel zurück nach Deutschland. Nie habe ich das mitteleuropäische Klima wohltuender empfunden als auf dieser Fahrt. Nach der Hitze in den schroffen Landschaften und kahlen Gebirgen Nordafrikas empfing uns plötzlich eine wohltuende grüne Landschaft mit breit ausladenden, schattenspendenden Bäumen und eine üppige Vegetation. Die Fahrt, die wir unternommen hatten, machen heute jährlich viele Tausende unserer Landsleute. Damals, 1953, war es ein großes, seltenes, einzigartiges Erlebnis.
5. Wochenberichte an den Senat Einen vdchtigen Teil meiner Tätigkeit in Bonn bildete die laufende Berichterstattung an den Bremischen Senat. Ich habe in den fünf Jahren von 1949 bis 1954 119 Wochenberichte mit insgesamt über 500 Seiten Text nach Bremen geschickt. An ihrer Abfassung hatten auch meine Mitarbeiter, vor allem Dr. Breyhan für den finanzpolitischen Bereich und Dr. von Hoffmann für den innenpoUtischen Bereich, einen wesentlichen Anteil. Die Berichterstattung über die weltpolitische Lage und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist dage157
gen durchweg von mir verfaßt. Ich sah es als meine Aufgabe an, in diesen Bereichen die wichtigsten pohtischen Ereignisse zu kommentieren und kommende Entwicklungen aufzuzeigen, zumal in den ersten Jahren nach 1949 die Berichterstattung über die Weltpolitik in den deutschen Medien noch verhähnismäßig schwach entwickelt war. Diese Lücke suchte ich auszufüllen. Dazu führte ich viele Gespräche mit den in Bonn akkreditierten ausländischen Diplomaten. Auch unterhielt ich weiter briefliche Kontakte mit meinen amerikanischen Freunden und verfolgte regelmäßig die Auslandspresse, vor allem die amerikanische und die französische Presse. Ein Schwerpunkt der Berichte lag naturgemäß auf den Bremen besonders interessierenden Fragen des Außenhandels, der Schiffahrt, des Schiffbaus und des Verkehrs sowie auf Fragen der Finanzpolitik. Alles in allem bilden die Berichte aus heutiger Sicht eine wichtige Grundlage für die Darstellung der bremischen Entwicklung und bis zu einem gewissen Grade auch der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den Anfangsjahren. Die weltpolitische Entwicklung In der Berichterstattung behandelte ich ausführUch die Entvdcklung des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Im Februar 1950 konstatierte ich zunehmende Spannung und nannte als Beispiele den Abschluß des chinesisch-russischen Vertrages, die Entscheidung der USA, die Wasserstoffbombe zu bauen, und den Verrat von amerikanischen Atomgeheimnissen an die Sowjetunion durch die Spione Klaus Fuchs sowie Ethel und Julius Rosenberg. Die amerikanische Regierung bemühte sich, die Aufmerksamkeit des amerikanischen Volkes auf die russische Gefahr zu lenken^'). Ich berichtete von Befürchtungen in den USA, daß Deutschland eine engere Zusammenarbeit mit Rußland anstreben könnte^®). Für die amerikanische Politik ergab sich daraus die Schlußfolgerung, daß die Bundesrepublik Deutschland enger an den Westen angegliedert werden müsse, was jedoch in England und in Frankreich auf Widerspruch stoße. Die Engländer befürchteten, daß Deutschland dann eine wirtschaftliche Vormachtstellung in Europa erlangen könne. Frankreich sei besorgt, daß Deutschland wieder eine mUitärische Rolle spielen werde^'). Die amerikanische Presse wandte sich plötzHch Deutschland zu. Adenauer sei der bedeutendste Deutsche seit Hitler^®). McCloy sagte mir, daß Deutschland im Mittelpunkt des amerikanischen Interesses stände. Mit dem Ausbruch des Korea-Konflikts im Juni 1950 beschleunigte sich diese Entwicklung. Die großen Erfolge der nordkoreanischen Truppen riefen in Deutschland zunehmende Besorgnis, ja Angst vor einem neuen Krieg in Europa " ) Wochenbericht Nr. 21 vom 24. März 1950. Wochenbericht Nr. 23 vom 22. April 1950. " ) Wochenbericht Nr. 25 vom 5. Mai 1950. Siehe „Time" vom 5. Dez. 1949 („Germany's Konrad Adenauer") und Wochenbericht Nr. 9 vom 8. Dez. 1949.
158
hervor. Aber die Amerikaner resignierten nicht. Sie begannen aufzurüsten, nachdem sie nach dem Kriege ihre Armee auf zehn Divisionen reduziert hatten, von denen zwei in Korea kämpften. Demgegenüber verfügte Rußland über 170 bis 200 Divisionen^®). Der 70jährige General und Außenminister Marshall, der ein sehr großes Ansehen in Amerika genoß, wurde neuer Verteidigungsminister. Damit schien auch die Gefahr gebannt, daß die USA ihr Engagement in Europa reduzieren würden, war doch Marshall der Schöpfer des nach ihm benannten Planes zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft'"). Jetzt drängten die Amerikaner die Europäer massiv, mehr für ihre eigene Verteidung zu tun. Im Dezember 1950 verschlechterte sich die Lage für die UNO-Truppen in Korea erneut. Gleichzeitig forderte der frühere amerikanische Präsident Herbert Hoover, daß sich Amerika vom europäischen Festland zurückziehen und nur England mit seinen Truppen verteidigen sollte. Auch Senator Robert A. Taft äußerte sich ähnlich, fügte allerdings hinzu, daß die USA im Falle eines Angriffs der Sowjetunion auf Europa notfalls die Atombombe einsetzen sollten. Hoover und Taft fanden in der amerikanischen Öffentlichkeit Zustimmung. Aber Präsident Truman, John Foster Dulles und Dwight D. Eisenhower, der zum Oberkommandierenden der Atlantikstreitkräfte ernannt worden war, traten ihnen entgegen. Im März 1951 kamen sechs Bundestagsabgeordnete von ihrer USA-Reise zurück (Heinrich von Brentano, Hermann Pünder, Erich Ollenhauer, Gerhard Lütkens, August Euler, Hans Mühlenfeld). Sie bestätigten die Eindrücke, die Kaisen und ich 1950 in Amerika gewonnen hatten. Besonders beeindruckt waren sie von Senator Taft, seiner Klugheit und seiner politischen Weitsicht. Im April 1951 durchlief Amerika eine kritische Phase. Der amerikanische Oberbefehlshaber in Korea, General Douglas MacArthur, kritisierte öffentlich die Politik Washingtons. Er wurde darauf von Präsident Truman abgerufen. Als gefeierter Held kehrte er nach Amerika zurück, sprach vor beiden Häusern des Kongresses und setzte seine Angriffe gegen die Regierung in einem Untersuchungsausschuß, den der Kongreß gebildet hatte, fort. Ihm trat Marshall entgegen. Er erwies sich MacArthur gegenüber eindeutig überlegen und setzte sich mit seiner Auffassung durch, daß nicht nur Korea, sondern auch Europa verteidigt werden mußte. Allerdings sagte Marshall auch, da die Verhandlungsprotokolle des Untersuchungsausschüssen veröffentlicht würden, käme er sich wie ein Agent Moskaus vor, denn jedes Wort, das er sage, sei für die Sowjets von größerem Wert als das, was ihre besten Agenten in Erfahrung bringen könnten. In der Kraftprobe zwischen dem Präsidenten und dem ungeheuer populären General MacArthur siegte eindeutig der Präsident - ein lehrreiches Beispiel für die elementare Kraft der amerikanischen Demokratie. In meinem Bericht vom 18. Mai 1951 beklagte ich, daß diese wichtigen Vorgänge in Amerika kaum Resonanz in Bonn fänden"). Wochenbericht Nr. 32 vom 27. Juli 1950. ">) Wochenbericht Nr. 35 vom 14. Sept. 1950. " ) Wochenbericht Nr. 54 vom 18. Mai 1951. 159
Im November 1951 besuchte eine Grappe von 13 amerikanischen Kongreßabgeordneten die Bundesrepublik. Dabei ergab sich, wie ich mit Befriedigung feststellte, eine Übereinstimmung aller deutschen Parteien darüber, daß die Hauptverantwortung für die Verteidigung Europas bei den Europäern und nicht bei den Amerikanern lag. Ein Sprecher der SPD sagte: „Wir hassen den Krieg, aber wir hassen die Bolschewisten noch mehr"'^). Im Febraar 1952 berichtete ich, daß die Ost-West-Spannung nachlasse. „Vermindern die Sowjets den Drack", so fragte ich, „um damit die Verhandlungen über die europäische Verteidigungsgemeinschaft zu beeinflussen?")" Aber die Partner des Nordatlantischen Bündnisses waren entschlossen, eine gemeinsame Verteidigungsstreitmacht aufzustellen. Auf der Konferenz in Lissabon im Febraar 1952 beschlossen sie, bis Ende 1952 50 Divisionen in Westeuropa aufzustellen, daranter 12 deutsche Divisionen im Rahmen der europäischen Verteidigungsgemeinschaft'^). Kurz danach richtete die Sowjetunion eine Note an die drei Westmächte, in der sie die Wiedervereinigung Deutschlands vorschlug, die sogenannte Stalin-Note, auf die ich später ausführlich eingehen werde") Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1952 ergriff McCloy für Eisenhower und gegen Taft (beide präsumtive Kandidaten der Republikaner) Partei. Die Anhänger Tafts warfen McCloy vor, die deutsche Presse in diesem Sinne zu beeinflussen, und zwar auch mit finanziellen Mitteln. Der Leiter der politischen Abteilung der amerikanischen Hohen Kommission, Shepard Stone, wies diese Behauptungen energisch zurück'®). Ich warnte davor, sich deutscherseits in der Frage der amerikanischen Präsidentschaft zu früh festzulegen. Im Juni 1952 begann auch McCloy zu schwanken. Er sagte mir, daß Eisenhower, der das politische Leben nicht kenne, in seinen Femsehansprachen schwere Fehler mache. Aber Eisenhower v^mrde zum republikanischen Kandidaten nominiert und gewann im November 1952 die Präsidentschaftswahlen haushoch gegen den demokratischen Kanidaten Adlai Stevenson. Ein Teil der traditionell demokratisch wählenden Südstaaten hatte sich für Eisenhower entschieden. Am 12. November 1952'') nannte ich die Gründe für den Erfolg Eisenhowers: Er genoß ein ungeheures, fast legendäres persönliches Prestige als der erfolgreichste alliierte Feldherr des Zweiten Weltkrieges. Viele Amerikaner hatten zudem das Gefühl, daß es Zeit für einen Machtwechsel sei („It is time for a change"). Immerhin regierte die Demokratische Partei seit 1933, also 20 Jahre, und schließlich hatte in Amerika das Argument Eindrack gemacht, daß in der Wochenbericht Nr. 59 vom 23. Nov. 1951. " ) Wochenbericht Nr. 64 vom 12. Februar 1952. Zu den Ergebnissen der Tagung des Nordatlantikrates in Lissabon vom 20. bis 25. Febr. 1952 vgl. Foreign Relations of the United States 1952-1954, Bd. V, Washington 1983 S. 1 7 7 - 1 7 9 und Europa-Archiv 1952 S. 4795 f. Siehe dazu Kap. XIII S. 745 f. Wochenbericht Nr. 71 vom 25. April 1952. " ) Siehe Wochenbericht Nr. 85 vom 12. Nov. 1952.
160
amerikanischen Regierang viele Kommunisten oder Kommunistenfreunde säßen. Eisenhower bheb acht Jahre Präsident. Im Juh 1952 kehrte McCloy nach Amerika zurück, einer der großen Staatsmänner unserer Zeit und ein erprobter Freund Deutschlands'®). Ich berichtete am 22. November 1952, daß John Foster Dulles, Kaisens verständnisvoller und hilfsbereiter Gesprächspartner im Frühjahr 1950, Außenminister werden solle''). Seit dem Sommer 1952 begann in der Sowjetunion eine Haßkampagne gegen die USA, die schwerste seit 1945. In Massenkundgebungen wurden die Vereinigten Staaten, besonders wegen ihrer Kriegführung in Korea, angegriffen. Wie nervös die Politiker in allen Teilen der Welt geworden waren, ging aus meinem Bericht vom 12. September 1952 hervor^"). Brasilien hatte seine Einfuhren aus Deutschland immens gesteigert und war nicht in der Lage, sie zu bezahlen. Die brasilianische Regierung begründete ihr Verhalten gegenüber einem Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums „schlicht damit, daß sie mit einem Kriege rechne und vorher noch so viel Waren wie möghch aus Deutschland beziehen wolle". Im Dezember 1952 schien sich die Weltlage zu entspannen. Stalin äußerte sich positiv zu dem Gedanken eines Zusammentreffens mit Eisenhower. Sobald die neue amerikanische Regierang sich konstituiert hatte, vvoirde klar, daß sie sich mit größter Energie für die Einigung Europas einsetzte^^). Im Febmar 1953 kam John Foster Dulles zum ersten Mal nach Bonn. Sein Gespräch mit Adenauer bildete die Grandlage einer engen persönlichen Freundschaft zwischen den beiden Männern und einer sehr weitgehenden sachlichen Übereinstimmung, die bis zum Tode von Dulles bestanden hat. Dulles trat mit Nachdrack für den EVG-Vertrag ein. Am S.März 1953 starb Stalin. Am l.April*^) registrierte ich eine Entspannung im Ost-West-Verhältnis. Der neue Staatschef Georgij Malenkow betonte den Friedenswillen des rassischen Volkes. Eisenhower erklärte sich zu Gesprächen mit ihm bereit. In der Sowjetunion waren erstaunliche Ereignisse zu verzeichnen: Ärzte, die vor einigen Monaten unter der Beschuldigung verhaftet worden waren, sie hätten führende rassische Staatsmänner ermordet, wurden plötzlich freigelassen. Statt dessen woirden die Beamten festgenommen, die die Untersuchung gegen sie geleitet hatten. Dabei berief sich der neue sowjetische Innenminister Lawrentij Berija auf das Prinzip der Menschenrechte^'), was insofern grotesk anmutete, als Berija bisher der Chef der gefürchteten Geheimpolizei war.
Vgl. hierzu KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 474 (18. Juli 1952). Siehe Wochenbericht Nr. 86 vom 22. Nov. 1952. « ) Siehe Wochenbericht Nr. 81 vom 12. Sept. 1952. Wochenbericht Nr. 90 vom 30. Jan. 1953. « ) Siehe Wochenbericht Nr. 96 vom 1. April 1953. " ) Wochenbericht Nr. 98 vom 17. April 1953.
161
Außenpolitisch machte die Sowjetunion gegenüber dem Westen einige freundliche Gesten (Verbesserung des Luftverkehrs nach Berlin, Zustimmung zur Wahl des Schweden Dag Hammarskjöld zum Generalsekretär der Vereinten Nationen u. a.). Kenner der Sowjetunion nahmen an, daß dort Machtkämpfe von unerhörten Ausmaßen stattfänden. Berija schob sich vor. Die Armee wartete zunächst ab. Über die Gründe der neuen sowjetischen Politik gab es die verschiedensten Theorien. Die einen glaubten, daß die russischen Schritte nur die Bedeutung hätten, die Einigung der westlichen Weh zu stören, so die herrschende Meinung in den USA, ähnüch auch Adenauer. Andere meinten, daß die neuen Machthaber sich in Friedensangeboten an den Westen überböten, um ihre inneren Rivalitäten damit zu verdecken. Eine dritte Theorie nahm an, daß die Sowjets zwar nicht die Ziele, aber doch die Mittel zur Erreichung dieser Ziele geändert hätten: Sie hätten erkannt, daß Stalin durch seine Politik das Gegenteil von dem erreicht habe, was er bezweckte — die westliche Welt sei durch sein Verhalten veranlaßt worden, sich enger zusammenzuschließen. Zudem glaubten die Anhänger dieser Theorie, daß die neuen Machthaber der Sowjetunion innere Reformen, vor allem eine Steigerung der Konsumgüterindustrie planten und daher eine außenpolitische Entlastung anstrebten. Vor allem die Briten vertraten diese Auffassung. Sie rechneten auch mit einem ernsthaften sowjetischen Angebot zur Wiedervereinigung Deutschlands*^). Heute wissen vdr, daß diese letztere Theorie wahrscheinlich recht hatte. Chruschtschow selbst hat das zehn Jahre später bestätigt, als er Malenkow und Berija vorwarf, sie seien bereit gewesen, die soziaHstischen Brüder in der DDR im Interesse der Wiedervereinigung Deutschlands preiszugeben*^) Die Ära Malenkow/Berija dauerte nur einige Monate. Berija WTirde am 9. Juli 1953 verhaftet und am 23. Dezember 1953 hingerichtet. Auch Malenkow vmrde noch im Jahre 1953 entmachtet. Über die Ereignisse im Sommer 1953 berichteten deutsche Heimkehrer, daß ihre Kriegsgefangenenlager in Rußland, die zunächst von der Staatspolizei bewacht worden waren, plötzlich von der russischen Armee eingeschlossen worden seien, die die Bewachung übernommen habe und die bisherigen Wachmannschaften einschließlich der Offiziere in Fesseln abgeführt hätten*®). Chruschtschow, der auf Malenkow folgte, nahm zunächst vorsichtig, dann mit aller Klarheit den expansiven Kurs der sowjetischen Politik wieder auf. In Amerika geriet Eisenhower unter Druck. Senator Joseph R. McCarthy attackierte auch ihn und seine Regierung, ebenso wie die frühere demokratische Regierung, daß sie nicht entschieden genug gegen die Kommunisten in Amerika vorgehe. Auch in einigen amerikanischen Wirtschaftszweigen zeigten sich Rückschläge, so in der Zigarettenindustrie, wo diese Erscheinung „auf die neu-
") Wochenbericht Nr. 98 vom 17. April 1953. Siehe die Ausführungen Chruschtschows vom 8. März 1963 (Pravda vom 10. März 1963). - Vgl. auch Kap. ХШ S. 747 f. «) Wochenbericht Nr. III vom 9. Jan. 1954. 162
erdings in Amerika vieldiskutierte Behauptung zurückgeführt wird, daß das Zigarettenrauchen den Lungenkrebs fördere"·»'). Auch im Jahre 1954 ging der Entspannungsprozeß zunächst weiter. Die Sowjetunion erteilte deutschen Werften große Aufträge zum Bau von Schiffen. Mitglieder der jugoslawischen Botschaft in Bonn, die nach meiner Erfahrung das beste Urteil über die Sowjetunion besaßen, erklärten „mir gegenüber, daß an einem emsthaften Verständigungswillen der Russen nicht gezweifelt werde"«). Die Amerikaner zogen zwei Divisionen aus Korea ab. Sie planten, ihr Heer während der nächsten fünf Jahre drastisch um ein Drittel zu reduzieren, bauten aber ihre nukleare Streitmacht systematisch weiter aus. Auf der Genfer Fünf-Mächte-Konferenz (die großen Vier und zusätzlich Rot-China) kam es im Juli 1954 zum Abschluß eines Waffenstillstandsvertrages für Indochina. „Damit vrärde zum erstenmal seit dem Jahre 1937 ein kriegloser Zustand auf der ganzen Welt erreicht sein", schrieb ich am 27. Juli 1954^®). Ich schrieb im Konjunktiv und drückte damit selbst Zweifel an dem, was ich sagte, aus. Diese Zweifel erwiesen sich als berechtigt; denn anderthalb Jahre später begannen die Kämpfe in Vietnam von neuem. Das Ringen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und den Deutschlandvertrag Über erste Anzeichen für eine Bereitschaft der Bundesregierung, sich mit deutschen Streitkräften an einer europäischen Verteidigungsstreitmacht zu beteiligen, berichtete ich im August 1950®°). Vorher, im Dezember 1949, hatte Adenauer in einem Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten noch jede derartige Möglichkeit zurückgewiesen®'). Die Alliierten, so sagte er, hätten Deutschland entwaffnet. Es sei daher ihre Pflicht, auch den Schutz Deutschlands zu übernehmen. Auch im August 1950 lehnte die Bundesregierung eine deutsche Wiederaufrüstung zunächst ab. Sie sei finanziell nicht durchführbar. Sie wöirde ein erneutes Mißtrauen der westeuropäischen Staaten hervorrufen. Sie könne von den Russen als Kriegsgrund angesehen werden. Nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Armee und bei voller Gleichberechtigung könne die Aufstellung deutscher Streitkräfte in Betracht gezogen werden. In dieser Frage kam es im September 1950 zu einem Konflikt zwischen Adenauer und Bundesminister Gustav Heinemann, der auch von Bundesminister Jakob Kaiser — beide waren Mitglieder der CDU — unterstützt wurde. Während die CDU-Fraktion erklärte, die Sache sei beigelegt, sagte Heinemann in " ) Wochenbericht Nr. 112 vom 1. Febr. 1954. Wochenbericht Nr. I I I vom 9. Jan. 1954. " ) Wochenbericht Nr. 119 vom 27. Juli 1954. =") Wochenbericht Nr. 33 vom 11. Aug. 1950. Zu dem Gespräch Adenauers mit einem Vertreter der amerikanischen Zeitung „Cleveland Piain Dealer" am 3. Dez. 1949 siehe ADENAUER Bd. 1 S. 3 4 1 - 3 4 5 .
163
einem persönlichen Gespräch mit mir, die Dinge seien noch in der Schwebe. Im Oktober 1950 kam es zum Bruch zwischen Adenauer und Heinemann. Der Zufall wollte es, daß ich an dem Tage bei Heinemann war, als er sich entschloß, aus dem Kabinett auszuscheiden®^). Inzwischen drängten die Amerikaner weiter. Der amerikanische Kongreß war nicht bereit, die geforderten ungeheuren Summen für die Aufstellung amerikanischer Streitkräfte zu bewilligen, wenn nicht die Europäer, insbesondere die Deutschen, auch einen Beitrag zu ihrer Verteidigung leisteten. Aus amerikanischer Sicht wäre auch die Aufstellung einer nationalen deutschen Armee akzeptabel gewesen, aber da die Amerikaner Verständnis für die strikte Ablehnung dieses Gedankens durch die Franzosen hatten, unterstützten sie die Bildung einer europäischen Armee mit deutscher Beteihgung. Grundlage des Konzepts der europäischen Armee bildete ein französischer Plan, der sogenannte Pleven-Plan, benarmt nach dem französischen Ministerpräsidenten René Pleven. Aber, obwohl der Plan von ihnen stammte, verfolgten die Franzosen das Projekt von Anfang an nur halbherzig, so daß es immer vñeder eines massiven Drucks der Amerikaner auf Frankreich bedurfte, um die stockenden Verhandlungen voranzutreiben. Mehrfach drohten die Amerikaner damit, daß, wenn die EVG nicht zustande käme, Deutschland die Möglichkeit erhalten würde, nationale Streitkräfte aufzustellen und direkt in die NATO aufgenommen zu werden — etwas, was die Franzosen unter allen Umständen verhindern wollten. Die Bundesregierung bezeichnete im November 1950 den Pleven-Plan als wertvollen Beitrag zur Integration W^esteuropas und erklärte ihre Bereitschaft, einen angemessenen Beitrag zur Verteidigung zu leisten, wenn sie dazu aufgefordert würde. Bisher sei sie nicht aufgefordert worden; auch habe sie selbst kein Angebot gemacht. Voraussetzung für eine deutsche Beteiligung sei völlige Gleichberechtigung der Bundesrepublik Deutschland mit den übrigen Partnern. Der Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, widersprach dem Konzept der Bundesregierung. Er stellte folgende Forderungen auf : - Das Kapitel bedingungslose Kapitulation müsse endgültig abgeschlossen werden; - die Saarfrage dürfe nicht totgeschvdegen werden; - die Amerikaner müßten sich mit Landtruppen an der Verteidigung beteiligen; - bei einem etwaigen Angriff aus dem Osten müßten die kriegsentscheidenden Kämpfe sofort aus dem Gebiet der Bundesrepublik nach Osten vorgetragen werden können: „Unser Schicksal ist die erste Schlacht" (später nannte man dieses Konzept „Vomeverteidigung", Schumacher war also ihr erster Verfechter) ; - die Gefahr einer Restauration, das heißt, einer Wiedererweckung des militaristischen Geistes in Deutschland, müsse verhindert werden; - das soziale Problem müsse gelöst werden.
" ) Vgl. dazu oben S. 143.
164
Alles in allem ergab sich, daß die SPD der Wiederbewaffnung nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstand'^). In den folgenden Wochen schränkte Adenauer die bisher geäußerte Bereitschaft zur Aufstellung deutscher Streitkräfte wieder ein. Er war mit den Verhandlungen der Alliierten über eine Änderung des Besatzungsstatuts nicht zufrieden. Auch hatten ihm die Ergebnisse der Wahlen in Hessen und in Württemberg-Baden, wo von der SPD Erfolge erzielt worden waren, die Gefahren der bisher von ihm verfolgten Politik deutlich gemacht. Aber im Januar 1951 berichtete ich, daß die Verhandlungen über den deutschen Wehrbeitrag begonnen hatten. Deutscherseits verhandelten der Bundestagsabgeordnete Theodor Blank und die ehemaligen Generale Hans Speidel und Adolf Heusinger mit den Alliierten"). Etwa in dieser Zeit fand im Bremer Haus ein wichtiges Gespräch zwischen Kaisen, Heusinger und Speidel statt, das ich angeregt hatte. Die beiden Generäle berichteten über den Stand der Verhandlungen. Die ursprünglichen Pläne der Franzosen, daß die europäische Armee aus kleinsten nationalen Einheiten bestehen solle, die schon von der Bataillonsebene ab aufwärts mit Einheiten aus anderen Mitgliedstaaten gemischt werden sollen, seien nicht akzeptabel. Ihre Realisierung scheitere schon an der Sprachenfrage. Auch gäbe es zahlreiche weitere Probleme: Wie solle Deutschland, das nicht Mitglied der NATO vrärde, am Entscheidungsprozeß der NATO beteiligt werden? Wer solle die Rüstungsaufträge vergeben? Kaisen legte sich nicht fest, erkannte aber die Ernsthaftigkeit der Lösungsversuche an, die auf europäischer Ebene unternommen wurden. Im Februar 1951 stockten die Verhandlungen wieder. Eisenhower empfahl, zunächst die politische Stellung der Bundesrepublik Deutschland zu klären, bevor man über die Aufstellung deutscher Streitkräfte spräche. Er folgte damit einem Rat der Briten, der von Frankreich unterstützt wurde. Präsident Truman hatte Pleven zugesagt, daß die Aufstellung einer stärkeren französischen Armee zeithchen Vorrang vor einem deutschen Wehrbeitrag haben solle''). Aber im November 1951 drängten die Amerikaner wieder auf einen schnellen Abschluß. Sie wollten vor den Parlamentswahlen im Herbst 1952 Klarheit haben. Im Januar 1952 sagten mir niederländische und belgische Diplomaten in Bonn, daß in ihren Ländern noch starke Bedenken gegen den EVG-Vertrag bestünden. So ging es hin und her. Einseitige französische Maßnahmen an der Saar (Ernennung von Gilbert Grandval zum französischen Botschafter in Saarbrücken) veranlaßten die Bundesregierung zu erklären, daß sie den EVG-Vertrag nicht abschließen vrärde, bevor nicht die Saarfrage geklärt sei'®). Auch hier schalteten sich die Amerikaner ein. In Bonn wurde vertraulich erörtert, daß das Saarland Sitz aller euro5') Wochenbericht Nr. 39 vom 9. Nov. 1950. Wochenbericht Nr. 46 vom 19. )an. 1951. " ) Wochenbericht Nr. 49 vom 10. Febr. 1951. Vgl. dazu KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 78 f. (29. Jan. 1952). 165
päischen Organe werden und dann diesen Organen unterstellt werden könnte (Modell District Columbia in USA)='). Bei einer Debatte in der französischen Nationalversammlung über die EVG sei, so berichtete ich, der einzige Redner, der sich dazu eindeutig positiv geäußert habe, Außenminister Robert Schuman gewesen. Auch aus deutscher Sicht seien wichtige Probleme noch ungelöst, vor allem das Verhältnis der Bundesrepublik zur NATO. Ich gewann den Eindruck, daß das EVG-Projekt nur zu verwirklichen sein würde, „wenn das Gefühl einer akuten Bedrohung aus dem Osten stärker wird, als es zur Zeit ist"^®). Aber im März 1952 teilte der Bundeskanzler mit, daß der EVG-Vertrag kurz vor dem Abschluß stehe. Das Verhältnis zur NATO sei geklärt. Die Bundesregierung werde das Recht haben, jederzeit die Einberufung einer gemeinschaftlichen Sitzung des Atlantikrates und des Ministerrates der EVG zu verlangen. Sie werde außerdem in allen Organen der NATO durch Beobachter vertreten sein. In einer sehr bedeutsamen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundesrates am 14. Mai 1952, an der alle Ministeφräsidenten teilnahmen, entwikkelte der Bundeskanzler die Grundlagen seiner Politik. Er bezeichnete es als seine Hauptaufgabe zu verhindern, daß Deutschland neutralisiert werde, was die Sowjetunion erstrebe. Das vdirde der Anfang unseres Ende sein. Eine unmittelbare Kriegsgefahr bestehe nicht. Die USA betrieben eine defensive Politik. Die Sowjets wdirden nur angreifen, wenn sie militärisch eindeutig überlegen wären. Am 27. Mai 1952 wurde der EVG-Vertrag in Paris unterzeichnet. Er sah die Aufstellung von zwölf deutschen Divisionen im Rahmen einer europäischen Streitmacht vor. Einen Tag vorher war in Bonn der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Mächten, auch Generalvertrag oder Deutschlandvertrag oder Bonner Vertrag genannt, unterzeichnet worden®®). Es waren historisch bedeutsame Ereignisse. Dean Acheson beglückwünschte die Bundesregierung zum Eintritt Deutschlands in die Familie der Nationen®"). Unmittelbar danach begann eine Kette von Schwierigkeiten und Hindernissen auf dem Weg zur Ratifikation des EVG-Vertrages. Frankreich benutzte jede Gelegenheit, um die Ratifizierung zu verzögern. Da sich die französischen Regierungen in schneller Folge ablösten, mußte jeder Ministerpräsident in der Erörterung der Ratifizierungsfrage gewissermaßen wieder von vome anfangen. Ministerpräsident René Mayer forderte Zusatzprotokolle, die den französischen Kontingenten eine größere Selbständigkeit innerhalb der europäischen Armee einräumen sollten. Mayer kam damit dem Wunsch des französischen Generalstabs entgegen. Die Franzosen wollten auch das Recht haben, ihre der EVG angehörenden Kontingente jederzeit gegen ihre überseeischen Truppen auszu-
" ) Wochenbericht Nr. 64 vom 12. Febr. 1952 - Vgl. auch KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 9 0 - 9 3 (Sondersitzung am 4. Febr. 1952). " ) Wochenbericht Nr. 64 vom 12. Febr. 1952. Vgl. dazu KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 363 f. (30. Mai 1952). «>) Wochenbericht Nr. 75 vom 29. Mai 1952. 166
tauschen®^). Gleichfalls forderte Mayer, daß die Saarfrage im Sinne einer Autonomie der Saar gelöst sein müsse, bevor Frankreich den EVG-Vertrag ratifizieren könne®^). Die Franzosen wünschten, von dem im EVG-Vertrag vorgesehenen Verbot des Exports von Rüstungsmaterial freigestellt zu werden®'). Auch befürchtete die französische Presse, daß eine selbständige Bundesrepublik der Versuchung erliegen könnte, sich mit Rußland zu verständigen, um die deutsche Wiedervereinigung zu erreichen®^). Als die Sowjets massiv gegen den EVG-Vertrag Stellung bezogen, forderten einflußreiche Kreise in Frankreich, daß zunächst das Ergebnis der Vier-Mächte-Verhandlungen über die deutsche Frage abgewartet werden müsse, bevor der Vertrag ratifiziert werde®'). Andere Franzosen, mit denen ich sprach, verwiesen auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich im Januar 1954. Vorher könne keine wichtige politische Entscheidung getroffen werden. Es war unverkennbar, daß durch die Diskussion über den EVG-Vertrag die Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich wuchsen®®). Als der Deutsche Bundestag im Februar 1954 ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes über die Frage der Wehrhoheit verabschiedete®') und der Bundespräsident dieses Gesetz verkündete®®) und die Bundesregierung daraufhin am 31. März 1954 die Ratifikationsurkunde für den EVG-Vertrag in Paris hinterlegte, fühhen sich Teile des französischen Parlaments dadurch brüskiert. Veteranenverbände veranstalteten Schweigemärsche. In zahlreichen Kundgebungen wurde teils für, teils gegen den Vertrag Stellung genommen®®). In dieser Zeit erlitt Frankreich bei den Kämpfen in Dien Bien Phu in Indochina eine schwere Niederlage. Ein französischer Freund sagte mir, in dieser Lage könne niemand von Frankreich verlangen, daß es den EVG-Vertrag ratifiziere'"). Soweit die Wiedergabe meiner Wochenberichte zum EVG-Vertrag. Über das Ende habe ich nicht mehr berichtet, da ich mich seit dem Sommer 1954 auf mein Ausscheiden aus dem bremischen Dienst und den Übertritt in den Auswärtigen Dienst vorbereitete. Aber hier möchte ich die wichtigste Entwicklung nach meinem letzten Wochenbericht vom 27. Juh 1954") in aller Kürze wiedergeben:
«ä) ") «5) «') 6») "0) "}
Wochenberichte Nr. 88 vom 9. Jan. und Nr. 94 vom 6. März 1953. Wochenbericht Nr. 88 vom 9. Jan. 1953. Wochenbericht Nr. 94 vom 6. März 1953. Wochenbericht Nr. 76 vom 13. Juni 1952. - Vgl. hierzu auch MEYER-LANDRUT S. 9 8 - 1 1 2 . Wochenbericht Nr. 110 vom 11. Dez. 1953. Wochenbericht Nr. i l l vom 9. Jan. 1954. Zur zweiten und dritten Lesung am 26. Febr. 1954 siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 18 S. 552 A - 5 8 3 A. Gesetz vom 26. März 1954 (BGBl. I S. 45). - Vgl. auch KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 7 (1954) S. 119 f. (26. März 1954). Wochenbericht Nr. 114 vom 2. April 1954. Wochenbericht Nr. 115 vom 10. Mai 1954. Wochenbericht Nr. 119 vom 27. luh 1954. 167
Als ΜϊηίβΐΘφΓΜβίάβηΙ Pierre Mendès-France in Genf den Abschluß eines Waffenstillstandsvertrages für Indochina durchgesetzt hatte, legte er den EVGVertrag der Nationalversammlung zur Ratifizierang vor, ohne sich allerdings selbst dafür nachdrücklich einzusetzen. Die Nationalversammlung lehnte mit einer Entscheidung über eine Verfahrensfrage am 30. August 1954 mit 319 zu 264 Stimmen die Ratifizierung ab'^). Damit war das EVG-Projekt gescheitert. Mir war damals und ist heute noch zweifelhaft, ob es zwischen 1952 und 1954 jemals eine Chance für die Annahme des Vertrages in der französischen Nationalversammlung gab. Auch die Befürworter des Vertrages in Frankreich rechtfertigten ihre Haltung hauptsächlich damit, daß er aus französischer Sicht gegenüber der Aufstellung nationaler deutscher Verbände das kleinere Übel sei. Nach dem Scheitern der EVG begann die große Stunde der britischen Diplomatie. Innerhalb von knapp drei Monaten gelang es im wesentlichen der Verhandlungskunst des britischen Außenministers Anthony Eden, eine Ersatzlösung für die gescheiterte EVG zu finden: Die Brüsseler Pakt-Organisation von 1948 (MitgUeder Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg) wurde um die Bundesrepublik Deutschland und Italien erweitert und erhielt den Namen „Westeuropäische Union". Deutschland nahm eine Reihe von Rüstungsbeschränkungen auf sich, vor allem im Bereich der ABC-Waffen, und unterwarf sich insoweit einer Kontrolle der WEU. Deutschland und Frankreich unterzeichneten ein Abkommen über das Saargebiet, das — vorbehaltlich der Zustimmung der saarländischen Bevölkerung — einen europäischen Status im Rahmen der WEU erhalten sollte. Die Bundesrepublik stellte eigene nationale Streitkräfte auf und wurde Mitglied der NATO. Es war eine Meisterleistung von Mendès-France, dennoch die Ratifizierung dieser neuen Verträge in der französischen Nationalversammlung durchzusetzen. Freilich ging ein starker amerikanischer Druck damit einher. Die neuen Verträge traten am 5. Mai 1955 in K r a f f ). Auseinandersetzungen
um die Ratiflzierung der Verträge
In meinen Wochenberichten hatte ich mehrfach darüber berichtet, wie skeptisch die Briten das EVG-Projekt betrachteten. Sie gaben ihm von Anfang an keine Chance und schlugen in Gesprächen schon früh die unmittelbare Mitgliedschaft der Deutschen in der NATO vor'*). Damit behielten sie schließlich recht. Hier hat sich der nüchterne Pragmatismus der Briten den kühnen Konstruktionen, die die Kontinentaleuropäer entworfen hatten und die sie jahrelang mit größter Energie zu realisieren versuchten, als überlegen erwiesen. Nicht weniger dramatisch als in Frankreich verlief in Deutschland die Debatte über die Ratifizierung des EVG-Vertrages. Außer im Bundestag und Bundesrat spielte sie sich vor dem Bundesverfassungsgericht ab, wo nicht weniger " ) Vgl. dazu Europa-Archiv 1954 S. 691 f. und Archiv der Gegenwart 1954 S. 4705-4711. " ) Bekanntmachungen vom 9. Mai 1955 (BGBl. II S. 630 f.). Wochenbericht Nr. 98 vom 17. April 1953. 168
als sechs Verfahren in dieser Sache anhängig gemacht wurden"). Bei der Behandlung des EVG-Vertrages im parlamentarischen Raum spielte der Bundesrat eine wichtige Rolle. In seiner Sitzung vom 20. Juni 1952 faßte der Bundesrat den Beschluß, wonach er sich seine abschließende Stellungnahme zum EVG-Vertrag ebenso wie zum Deutschlandvertrag bis zum zweiten Durchgang vorbehielt. Er wies darauf hin, daß alle ihm vorgelegten Ratifikationsgesetze (insgesamt vier) seiner Zustimmung bedürften. Er hieU es für angezeigt, zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verträge die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht abzuwarten. Diesen Beschluß faßte der Bundesrat einstimmig'®). Im Bundestag setzte sich die Regierungskoalition für eine schnelle Verabschiedung der Verträge ein. Die SPD forderte dagegen, daß zunächst in einer weiteren Verhandlung der vier Mächte ein letzter Versuch unternommen werden solle, zu einer Wiedervereinigung Deutschlands zu kommen. Nach der Ratifikation der Verträge würden die Aussichten auf eine Wiedervereinigung Deutschlands mit friedlichen Mitteln, jedenfalls zunächst, viel geringer sein''). Einen ähnlichen Standpunkt nahmen die Abgeordneten Emst Lemmer (CDU), Emst Müller-Hermann (CDU) und Karl Georg Pfleiderer (ГОР) ein'»). Bei den Beratungen der Verträge in den Ausschüssen des Bundestages traten besonders Staatssekretär Walter Hallstein, Professor Wilhelm Grewe, der „als der beste Experte des ganzen Vertragswerkes gilt" und Ministerialrat FriedrichKarl Viaion, der sich in der Diskussion über Finanzfragen als überlegen erwies, hervor'®). Der Bundestag setzte einen besonderen Ausschuß für den EVG-Vertrag ein. Vorsitzender vrarde der Abgeordnete Franz-Josef Strauß (CSU). In Paris woirde ein Interimsausschuß der sechs Partnerstaaten der EVG eingesetzt, der alle Fragen, die von den EVG-Organen künftig zu entscheiden sein würden, vorbereiten sollte. Allein die deutsche Delegation umfaßte 200 Personen. Die führenden deutschen Vertreter waren der Abgeordnete Theodor Blank, Leiter der gesamten Delegation, und sein Stellvertreter Albrecht von Kessel sowie General Speidel, Ministerialrat Viaion und Professor Karl-Friedrich Ophüls®"). Bei den Beratungen im Bundestag spielte eine zunehmende Rolle die Frage, ob die Verträge eine Änderung des Grandgesetzes erforderlich machten»*)· Hierzu erwartete man eine Klämng durch das Bundesverfassungsgericht. Angeblich gut informierte Kreise wollten wissen, „daß sich die Waagschale in Karlsrahe gegen die Regierang zu neigen beginnt"®^). Der Abgeordnete Erich Mende (FDP)
") ") ")
«2)
Vgl. dazu die Dokumentensammlung Der Kampf um den Wehrbeitrag, München 1952-1953, Bd. 1: Die Feststellungsklage 1952. Bd. 2: Das Gutachtenverfahren (30. 7 - 1 5 . 1 2 . 1952) 1953; Ergänzungsband, München 1958. Siehe BR-SITZUNGSBERICHTE 1952 S. 271 C. Wochenbericht Nr. 78 vom 5. )uli 1952. Wochenbericht Nr. 81 vom 12. Sept. 1952. Wochenberichte Nr. 80 vom 6. Sept. und Nr. 82 vom 4. Okt. 1952. Wochenbericht Nr. 82 vom 4. Okt. 1952. Wochenbericht Nr. 86 vom 27. Nov. 1952. Wochenbericht Nr. 87 vom 6. Dez. 1952. 169
verlangte, daß vor der Ratifizierung die Frage der w^egen Kriegsverbrechen verurteilten deutschen Soldaten eine befriedigende Lösung gefunden haben müsse»'). Wilde Gerüchte bildeten sich um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Reinhold Maier. Der Rheinische Merkur behauptete: Maier wolle dem Bund mit Hilfe der Abstimmung im Bundesrat, dessen Präsident er war, eine große Koalition aufzwingen und dann selbst Bundeskanzler werden®^). Am 19. März 1953 fand die Abstimmung über das gesamte Vertragswerk im Bundestag statt. 226 Abgeordnete stimmten dafür, 164 dagegen, 2 enthielten sich der Stimme. Der Abgeordnete Ollenhauer (SPD) faßte die Gründe für die Ablehnung der Verträge durch seine Fraktion v«e folgt zusammen: — es sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß durch den Abschluß der Verträge die Wiederherstellung der deutschen Einheit erschwert oder verhindert werde, — die Notstandsklausel im Generalvertrag stelle eine einseitige Belastung Deutschlands dar, — die BundesrepubHk werde dadurch diskriminiert, daß ihre Truppen dem NATO-Befehlshaber unterstellt würden, sie aber nicht selbst Mitglied der NATO sein werde, — Vorbedingung für die Verabschiedung der Verträge müsse die Lösung der Saarfrage sein. Ollenhauer forderte femer die Einbeziehung Großbritanniens und der skandinavischen Länder in das europäische Verteidigungskonzept und einen Verzicht auf eine supranationale Lösung"). Beim zweiten Durchgang behandelte der Bundesrat die Ratifikationsgesetze zweimal: am 24. April 1953 und am 15. Mai 1953.®®). Bundesratspräsident war in diesem Zeitpunkt immer noch Reinhold Maier. Er spielte auf Zeitgewinn. BadenWürttemberg beantragte demgemäß, das Ergebnis der Prüfung der Rechtsfragen durch das Bundesverfassungsgericht weiterhin abzuwarten. Dazu wies Ministeφräsident Ehard (Bayern) darauf hin, daß z. Zt. kein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig sei. Trotzdem fand der baden-württembergische Antrag auf Vertagung eine knappe Mehrheit (20 zu 18). Dafür stimmten Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, dagegen stimmten Berlin, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein. In der Debatte nahm Bürgermeister Kaisen das Wort. Er hielt eine große außenpolitische Rede. Darin sprach er sich eindeutig für den „Weg nach Westen" aus. Der Weg nach Osten sei versperrt, weil die Westzonen nicht das Schicksal der Ostzone teilen wollten, „sondern umgekehrt die Ostzone zu uns herüberholen müßten". Neutralität führe in die Isolierung. Er billige und " ) Ebenda. Wochenbericht Nr. 89 vom 15. )an. 1953. Wochenbericht Nr. 95 vom 20. März 1953. - Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 15 S. 12296 A - 1 2 3 6 1 D. Siehe BR-SITZUNGSBERICHTE 1953 S. 178 D - 1 9 5 A und 232 Λ - 2 3 6 C. 170
unterstütze die bisherige Linie der Bundesregierung. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verträge bemerkte er, daß darüber 14 Gutachten vorlägen, die, er habe sie mal gewogen, insgesamt 25 Pfund wögen („große Heiterkeü"). Der Bundesregierung warf er vor, daß sie es versäumt habe, ein Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes einzubringen, das in dieser Frage allein Klarheit schaffen könne. Dazu hätte allerdings die Regierung auf die Opposition zugehen müssen. Die Außenpolitik müsse in diesem unfertigen Zustand Deutschlands von einer breiten, großen Gruppe im Parlament getragen werden. Adenauer antwortete ihm, er habe sich die größte Mühe gegeben, die Unterstützung der Opposition zu gewinnen. Er hätte auch angeboten, wenn die Opposition Bedenken gegen einzelne Bestimmungen hätte, sich um eine entsprechende Änderung der Verträge zu bemühen — leider vergebens. Ich habe diese Debatten mit größter Aufmerksamkeit verfolgt und daraus die Lehre gezogen, daß ich vier Jahre später, als ich für den EWG-Vertrag und EURATOM verantwortlich war, frühzeitig die Opposition in die Gespräche einbezog.®') Dadurch gelang es 1957, die SPD-Fraktion zur Zustimmung zu den Europa-Verträgen zu bewegen. Die überstimmte Minderheit im Bundesrat gab sich mit dem Ergebnis der Sitzung vom 24. April 1953 nicht zufrieden und erreichte, daß die Verträge am 15. Mai erneut auf die Tagesordnung des Bundesrates gesetzt vnirden. Jetzt wurde über einen Antrag des Auswärtigen Ausschusses abgestimmt, wonach dem Bundesrat vorgeschlagen wurde, festzustellen, daß hinsichtlich des EVG-Vertrages und des Deutschlandvertrages kein Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses gestellt worden sei und daß diese Gesetze beschlossen seien. Der Antrag fand eine Mehrheit von 23 Stimmen, wodurch der Beschluß vom 24. April wieder aufgehoben vnirde. Nur Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen (15 Stimmen) stimmten dagegen. Es war gelungen, Baden-Württemberg zum Einlenken in der Frage der Verträge zu bewegen. Der Bundesrat machte in dieser Phase einen traurigen Eindruck. In endlosen Diskussionen über Verfahrensfragen ging die eigentliche politische Auseinandersetzung unter — so ausdrücklich der Hamburgische Bürgermeister Brauer in der Sitzung vom 24. April 1953. Ich schrieb in meinem Wochenbericht vom 18. Mai 1953, daß das Ansehen des Bundesrates durch die unklare und widerspruchsvolle Haltung, die er in der Vertragsfrage eingenommen habe, erheblich gelitten habe. „Der Bundesrat ist in dieser Frage überfordert worden. Es hat sich deutlich gezeigt, daß der Bundesrat seiner Konstruktion nach für die Mitwirkung an großen außenpolitischen Entscheidungen nicht geeignet ist"®®). Das war ein sehr summarisches und pauschales Urteil, welches im Lichte der späteren Entwicklung sicher differenziert werden müßte, aber für die Situation des Jahres 1953 traf es zu.
Vgl. Kap. VI S. 217 f. »») Siehe Wochenbericht Nr. 99 vom 18. Mai 1953.
171
Die Auseinandersetzung über die EVG ging weiter. Am 6. September 1953 wurde ein neuer Bundestag gewählt. CDU und CSU gewaimen mit 45,2 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Sitze, zusammen mit FDP, ВНЕ und DP hatten sie eine Zweidrittelmehrheit. Die SPD sank mit 150 Sitzen unter die Drittelgrenze, die für die Einleitung von Verfahren nach Artikel 93, Ziffer 2 CG vor dem Bundesverfassungsgericht Voraussetzung ist. Kommunisten, Bayempartei und Deutsche Reichspartei blieben unter der 5 Prozent-Grenze und kamen nicht in den Bundestag. Am 26. Februar 1954 beschloß der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit eine Änderung des Grundgesetzes®®), die die Zweifel, ob die Verträge verfassungskonform seien, ausräumte. Der Bundesrat stimmte der Verfassungsänderung am 19. März 1954 gleichfalls mit Zweidrittelmehrheit zu®»). Auch an dieser Sitzung nahm Kaisen teil. Er hielt, wie ich damals fand und auch heute noch finde, eine außerordentlich geschickte Rede, mit der er Bremens Stimmenthaltung begründete®'). W^ieder äußerte er Verständnis für die Haltung der Bundesregierung. Er sei auch dafür, daß dem Bund die Wehrhoheit zugesprochen würde. Aber er beanstandete die Einfügung eines Zusatzes zu Artikel 79 des Grandgesetzes, der folgenden Wortlaut hatte: „Bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine Friedensregelung, die Vorbereitung einer Friedensregelung oder den Abbau einer besatzungsrechtlichen Ordnung zum Gegenstand haben, oder der Verteidigung der Bundesrepublik zu dienen bestimmt sind, genügt zur Klarstellung, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Abschluß und dem Inkrafttreten der Verträge nicht entgegenstehen, eine Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes, die sich auf diese Klarstellung beschränkt " Kaisen beanstandete gleichfalls die Einfügung eines neuen Artikels 142a GG, in dem eben diese Klarstellung mit Bezug auf den EVG-Vertrag und den Deutschlandvertrag ausgesprochen wrurde. Das geltende Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland müsse, so sagte Kaisen, in einer Urkunde enthalten sein. Es müsse für jedermann einsichtig und klar erkennbar sein. Das Grundgesetz solle ein allgemein verehrtes Symbol der staatlichen Gemeinschaft sein. Durch die eingefügten Bestimmungen würden plötzlich Verträge mit Hunderten von Artikeln dem Grandgesetz gleichgestellt. Künftig sei also nicht mehr der Text des Grandgesetzes allein maßgebend, sondern daneben unübersichtliche und komplizierte Vertragstexte. Die Erwiderang von Staatssekretär Walter Strauß vom Bundesministerium der Justiz auf Kaisens Rede wirkte äußerst schwach®^). Außer Bremen enthielt sich Niedersachsen der Stimme. Hessen stimmte gegen die Grandgesetzänderang.
Vgl. oben S. 167. «>) BR-SrrZUNGSBERICHTE 1954 S. 60 A. Ebenda S. 55 D - 5 7 C . EbendaS. 5 8 B - 5 9 A . 172
Heute wird die Kritik Kaisens von der deutschen Staatsrechtslehre überwiegend geteih. Theodor Maunz bezeichnete die Änderung des Grundgesetzes zu Artikel 79 als „unerfreulich"®'). Friedrich Klein sah sie sogar als rechtswidrig an»^). Parallel zu der parlamentarischen Behandlung des Vertragswerkes liefen die schon erwähnten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Am 31. Januar 1952 erhob die SPD eine vorbeugende Klage, mit der sie die Feststellung begehrte, daß der beabsichtigte Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ohne Änderung des Grundgesetzes mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Diese Klage erklärte das Bundesverfassungsgericht am 30. Juli 1952 für unzulässig, da die gesetzgebenden Körperschaften ihre Beratungen noch nicht abgeschlossen hätten. Schon am 15. Mai 1952 hatte das Gericht einen Antrag der SPD auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung in dieser Sache abgelehnt. Am 10. Juni 1952 bat der Bundespräsident das Gericht um Erstattung eines Rechtsgutachtens über die Frage, ob der inzwischen unterzeichnete EVG-Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Nach der damals geltenden Fassung des § 97 des Bundesverfassungs-Gerichtsgesetzes konnte der Bundespräsident ein solches Gutachten anfordern, das vom Plenum des Gerichts zu erstatten war. Dieser Schritt des Bundespräsidenten wurde in der verfahrenen verfassungsrechtlichen Situation zunächst als Erleichterung empfunden®®). Danach aber machten sich Besorgnisse breit. In welcher Reihenfolge woirde das Gericht die bei ihm anhängigen Verfahren behandeln? Im Bundesverfassungsgericht bestanden starke Tendenzen, das Gutachten nicht eher zu erstatten, als bis das Vertragswerk in dritter Lesung im Bundestag behandelt worden war®®). Würde das Gutachten des Plenums die beiden Senate binden®')? Der Ungevdßheit hinsichtlich der zweiten Frage bereitete das Gericht selbst am 8. Dezember 1952 ein Ende. Das Plenum beschloß, daß sein Gutachten beide Senate binde. Die Entscheidung erging mit 20 zu 2 Stimmen. Das gefiel jedoch dem Bundespräsidenten gar nicht, obwohl es eigentlich eine sachgerechte und vernünftige Entscheidung war. Jedenfalls zog Heuss am 9. Dezember 1952 sein Ersuchen um Erstattung eines Rechtsgutachtens zurück. Das Bundespräsidialamt teilte mit, der Bundespräsident habe angenommen, daß das von ihm erbetene Gutachten nur beratenden Charakter haben würde. Schon einige Tage vorher, am 6. Dezember 1952, hatten die Fraktionen von CDU/CSU, ГОР und DP eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben und die Feststellung beantragt, daß die SPD-Fraktion dadurch gegen das Grundgesetz verstoße, daß sie dem Deutschen Bundestag und den antragstellenden Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grandgesetz Bd. III, München 1991 (Art. 79, Randnr. 7). Von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz Bd. III, München 1974 S. 1876 f. (Art. 79, Anmerkung VI 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der staatsrechtlichen Literatur). Wochenbericht Nr. 76 vom 13. Juni 1952. W^ochenbericht Nr. 82 vom 4. Okt. 1952. Wochenbericht Nr. 77 vom 21. Juni 1952. 173
Fraktionen das Recht bestreite, die Vertragsgesetze mit einfacher Mehrheit zu verabschieden — eine offensichtlich absurde Klage, die anscheinend den alleinigen Zweck hatte, den 2. Senat mit der Vertragsfrage zu befassen, von dem man annahm, daß er eine positivere Einstellung zu den Verträgen habe als der 1. Senät®®). Die Klage vnirde vom Bundesverfassungsgericht prompt am 7. März 1953 als unzulässig zurückgewiesen. Aber nun zog die SPD-Fraktion nach. Am 26. Mäz 1953 beantragte sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, durch die die Bundesregierung gehindert werden sollte, die inzwischen vom Bundestag beschlossenen Gesetze über die Verträge gegenzuzeichnen und sie dem Bundespräsidenten zur Ausfertigung und Verkündung zuzuleiten, bevor das Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit dieser Gesetze mit dem Grundgesetz entschieden habe. Diesen Antrag zog die SPD zurück, nachdem der Bundeskanzler dem Abgeordneten Ollenhauer mitgeteilt hatte, die Bundesregierung v«irde die Ratifikationsurkunden für die Verträge erst hinterlegen, wenn auch die übrigen Vertragsstaaten hinterlegt hätten, es sei denn, daß vorher eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ergangen sei. Am 11. Mai 1953 erhob die SPD eine Klage, mit der sie die Feststellung beantragte, daß die Vertragsgesetze mit dem Grundgesetz nicht vereinbar seien. Diese Klage erledigte sich durch die Bundestagswahl und die am 26. Februar 1954 beschlossene Änderung des Grundgesetzes. Alles in allem muß man sagen, daß in der Behandlung der verfassungsrechtlichen Fragen weder die Regierungskoalition noch die Opposition noch auch der Bundesrat glücklich operiert haben. Hier zeigte sich die später noch oft beklagte Tendenz deutscher Politiker, politische Streitfragen in gerichtlichen Verfahren auszutragen. Frankreich, Europarat und Montanunion Die ersten fünf Jahre nach der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland waren keinesweg frei von Spannungen mit Frankreich. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen wegen der Saar. Die einseitigen Schritte, die Frankreich dort unternahm, stießen in Deutschland auf Widerstand. Mehrfach drohten europäische Projekte, so die Ratifizierung des Montan-Vertrages oder der Abschluß des EVG-Vertrages, daran zu scheitern. Auch der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat kam zeitweilig ins Stocken, da zusammen mit der Bundesrepublik auch das Saarland Mitglied des Europarats werden sollte. Ende Februar 1952 übergab die Bundesregierung dem Europarat eine Denkschrift über die politischen Zustände an der Saar®®). Darin wurde beklagt, daß
Wochenbericht Nr. 87 vom 8. Dez. 1952. Die Denkschrift der Bundesregierung unter der Überschrift „Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Saargebiet" wurde dem Generalsekretär des
174
demokratische Grandrechte an der Saar nicht verwirklicht worden seien. Die französische Regierang reagierte scharf. Besonderen Belastungen waren die deutsch-französischen Beziehungen während der Verhandlungen über die europäische Armee ausgesetzt. Aber Adenauer lenkte immer wieder ein und war ehrlich bemüht, langsam und geduldig die deutsch-französischen Gegensätze abzubauen, auch nahm er auf die innenpolitischen Schwierigkeiten der französischen Regierangen so weit wie mögUch immer wieder Rücksicht. Die Pflege der deutsch-französischen Beziehungen während dieser schwierigen Zeit war eine der größten politischen Leistungen Adenauers. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat, der am 13. Juli 1950 stattfand, spielte in meinen Berichten an den bremischen Senat nur eine untergeordnete Rolle. Ich konnte damals nicht ahnen, daß ich vier Jahre später beim Europarat meine erste Aufgabe im diplomatischen Dienst finden würde. Im April 1950 berichtete ich, daß Adenauer offenbar den Beitritt anstrebe, auch wenn die Bundesrepublik im Ministerkomitee des Europarats zunächst nicht vertreten sein würde. Die SPD sprach sich gegen den Beitritt aus, wenn gleichzeitig das Saargebiet aufgenommen vrärde. Am 15. Juni 1950 beschloß der Bundestag mit 220 gegen 152 Stimmen den Beitritt^""). Nunmehr forderte der Bundesrat, daß ihm von den insgesamt 18 Vertretern der Beratenden Versammlung des Europarats, die auf die Bundesrepublik Deutschland entfallen, 6 zustehen sollten"'^). Aber der Bundestag ging darüber hinweg und wählte alle 18 Abgeordneten aus seiner Mitte^"^). Anfang Juli 1950 machte der Generalsekretär des Europarats, Jacques Paris, einen Besuch in Bonn. Aus diesem Anlaß gab der Stellvertretende Hohe Kommissar Frankreichs, Armand Bérard, ein Abendessen, zu dem auch ich eingeladen wurde. „Die freundschaftliche Haltung der anwesenden französischen Herren und ihr lebhaftes Interesse für die deutschen Probleme war besonders auffallend"»"'). Größere Probleme warfen die Verhandlungen über die Gründung der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS) auf. Staatssekretär Hallstein, der Leiter der deutschen Delegation, berichtete am 28. Juni 1950 im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages über die Grandgedanken des Vertragswerkes. Frankreich und Deutschland seien sich weitgehend einig. Schwierigkeiten machten die Holländer, offenbar unter englischem Einfluß. Ziel sei die Bildung eines großen Marktes, der, so glaubte man, eine eigene Dynamik entfalten werde. Das politische Ziel sei die Überwindung des deutschfranzösischen Gegensatzes und die Befriedung Westeuropas. Charakteristisch
Europarates am 29. Febr. 1952 zugeleitet, Bundesarchiv, В 136 (Bestand Bundeskanzleramt)/933. " " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 4 S. 2513 A. BR-SrrZUNGSBERICHTE 1950 S. 428 ff. (23. Juni 1950). Wochenbericht Nr. 28 vom 29. Juni 1950. Wochenbericht Nr. 29 vom 7. Juli 1950.
175
für Adenauers Politik war seine Antwort auf die Frage, ob Frankreich im Hintergrand irgendwelche wirtschaftlichen Vorteile für sich selbst verfolge. „Der Bundeskanzler verwahrte sich mit Nachdrack gegen diese Fragestellung. Er v«es auf die ungeheure Bedeutung des Schuman-Planes für die Verwirklichung der europäischen Idee und die deutsch-französische Verständigung hin und sagte, man müsse mit einem gewissen Optimismus und Vertrauen in diese Verhandlungen hineingehen. W e n n jeder Partner sich mißtrauisch frage, welche Vorteile der andere Partner zu erreichen suche, würde das Zustandekommen des Vertrages gefährdet"""). Freüich traten später doch noch Schwierigkeiten auf, gerade im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Der Bundestag verlangte, daß mit dem Inkrafttreten der Montanunion Beschränkungen wegfallen müßten, denen die deutsche Industrie noch unterliege, vor allem das Ruhrstatut. Mehrfach störten einseitige französische Maßnahmen an der Saar den glatten Ablauf der Verhandlungen. Aber der Bundeskanzler ließ sich auch hier nicht beirren. Er drängte auf Abschluß, um ein deutliches Signal für die Integration Europas zu geben"®). Und am 18. April 1951 wurde der Vertrag in Paris durch Adenauer und Hallstein unterzeichnet. Es war gleichzeitig Adenauers erster Besuch in Frankreich"®). Am 27. Juni 1951 faßte der Bundesrat einstimmig eine Resolution zum Montanunion-Vertrag"'), die in der deutschen und ausländischen Presse als staatsmännisch bedeutende Leistung gewürdigt vimrde. Ohne sich endgültig auf eine Zustimmung zum Vertrag festzulegen, forderte der Bundesrat die Beseitigung aller besatzungsrechtlichen Beschränkungen für die Kohle- und Stahlproduktion, insbesondere den Wegfall der Ruhrbehörde. Er verlangte eine befriedigende Regelung für die Verbundwirtschaft zwischen Kohle und Stahl und für eine wirtschaftlich vernünftige Organisation des Absatzes der deutschen Kohle. Er forderte schließlich, daß bei der Instraktion der deutschen Vertreter im Ministerrat der Gemeinschaft die Mitvdrkung des Bundesrates durch ein Gesetz sichergesteUt vnirde. Mehrere Ministeφгäsidenten bekannten sich in ihren Reden zur europäischen Idee, die allerdings auf die Dauer nicht auf das Kemeuropa der sechs EGKS-Staaten beschränkt bleiben dürfe. Die Bundesregierang übernahm die Stellungnahme des Bundesrates weitgehend. Schließlich war es soweit, daß das deutsche und das französische Parlament den Vertrag ratifizierten. Die französiche Nationalversammlung stimmte im Dezember 1951 mit 377 zu 233 Stimmen, der Deutsche Bundestag am 11. Januar 1952 mit 232 zu 143 Stimmen zu"®).
Wochenbericht Nr. 78 vom 29. Juni 1952. Wochenbericht Nr. 51 vom 3. März 1951. Vgl. KABINETTSPROTOKOLLE 1951 S. 330 f. (24. April 1951). BR-SrrZUNGSBERICHTE 1951 S. 439. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 10 S. 7833 A - 7 8 3 6 B. - Gesetz vom 29. April 1952 (BGBl. II S. 445).
176
Dagegen lehnte der Bundestag die Forderang des Bundesrates ab, daß die Länder bei der Instmktion der deutschen Vertreter im Ministerrat mitwirken soUten. Aber ich nahm an und berichtete, daß die Bundesregierang bereit sein werde, einen beratenden Länderausschuß anzuhören, bevor dem deutschen Vertreter im Ministerrat Instraktionen erteih würden'"'). Nach der Konstituierang der Organe der EGKS wurde der Vater des Schuman-Planes, Jean Monnet, erster Präsident der Hohen Behörde. Franz Etzel wurde sein Stellvertreter. „Er arbeitet Tag und Nacht, um den Anschluß an Monnet zu finden", schrieb ich. Weiteres deutsches Mitglied vrarde Heinz Potthoff, ein Angehöriger der Gewerkschaften""). Kennzeichnend für Adenauers Politik war auch die Behandlung des Montanunion-Vertrages. Er verlor nie das große Ziel aus dem Auge und war bereit, sich über Hindemisse, die er als weniger bedeutsam ansah, hinwegzusetzen. Die Entwicklung gab ihm recht. Innerhalb der nächsten Jahre fielen alle besatzungsrechtlichen Beschränkungen für die Produktion von Kohle und Stahl, und das Saargebiet kehrte 1957 nach Deutschland zurück. Damit wurden die beiden Haupteinwände gegen den Montanvertrag gegenstandslos. Heute freilich stehen Kohle und Stahl vor dem schweren Problem einer weltweiten Überproduktion. Das hatte 1950/51 niemand vorhergesehen, auch Adenauer nicht. Aber auch das erscheint mir typisch. Man streitet sich in Vertragsverhandlungen oft um Fragen, die sich später als bedeutungslos erweisen. Die später auftauchenden Probleme sieht man nicht vorher. Innenpolitische Fragen Hier greife ich nur einige Ereignisse heraus, die mir auch heute noch von Interesse zu sein scheinen. Die Hauptstadtfrage Der Bundestag sprach sich am 3. November 1949 für Bonn als Sitz der Bundesorgane aus. 200 Abgeordnete stimmten dafür, 179 dagegen"*). Dabei spielte das Argument eine Rolle, daß der Raum der Hauptstadt von Besatzungstrappen freigemacht werden sollte. Aus Bonn brauchten nur wenige belgische Einheiten verlegt zu werden. In Frankfurt handelte es sich um zahlreiche amerikanische Dienststellen mit mehreren tausend Soldaten. Die Auseinandersetzung wurde mit allen denkbaren Mitteln geführt. Adenauer war für Bonn und machte seinen ganzen Einfluß in dieser Richtung geltend. Bremen hatte sich für Frankfurt entschieden, freUich ohne sich in dieser Frage stark zu engagieren. Später, in den siebziger Jahren, habe ich es als Glück empfunden, daß die Entscheidung für Bonn gefallen war. Die häufigen, z. T. gewalttätigen DemonWochenbericht Nr. 62 vom 11. Jan. 1952. "») Wochenbericht Nr. 80 vom 6. Sept. 1952. Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 1 S. 343. 177
strationen, die damals in Frankfurt stattfanden, hätten die Arbeit der Bundesregierung und des Bundestages sehr erschwert. Demgegenüber behielten die Bonner die Ruhe. Eine alte Frau rief bei einer Demonstration im Winter einem Jugendlichen zu: „Jüngelchen, Du frierst ja, geh doch nach Hause!" Der also Bemitleidete war so frustriert, daß er tatsächlich wegging. Das Bundesverfassungsgericht Am 18. März 1950 berichtete ich, daß der Bundesrat zu dem Gesetz über das Bundesverfassimgsgericht Stellung genommen habe"^). Danach sollte das Gericht aus zwölf Richtern bestehen, von denen je sechs Berufsrichter und „StaatsmännerRichter" (der Ausdruck stammt von Jusüzminister Rudolf Katz, Schleswig-Holstein, der später Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts wurde) sein sollten. Der Bundestag entschied sich für ein Drittel Berufsrichter und zwei Drittel Staatsmänner-Richter und faßte den unglücklichen Beschluß, das Gericht aus zwei Senaten von je zwölf Richtern zu bilden, die weitgehend unabhängig voneinander judizieren sollten"'). Dadurch wurde der Keim für viele spätere Schwierigkeiten in die Rechtsprechung des Gerichts gelegt. Das Argument, daß ein einziger Senat überlastet wäre, hatte mich schon damals nicht überzeugt. Der amerikanische Supreme Court besteht aus neun Richtern und wird mit seiner Aufgabe auch fertig. Freilich hätten Abstriche von deutschem Perfektionismus gemacht werden müssen, wenn man sich auf einen Senat beschränkt hätte. Im Juli 1952 unternahm das Bundesverfassungsgericht einen Vorstoß in eigener Sache. Es beanstandete, daß das Gericht in organisatorischer Hinsicht dem Bundesjustizminister unterstellt war und verlangte, als oberstes Bundesorgan anerkannt und keiner anderen Dienststelle unterstellt zu werden. „Insoweit werden die Wünsche des Bundesverfassungsgerichts hier allgemein als begründet bezeichnet"^^*). Darüber hinaus erfuhr ich vertraulich, daß das Bundesverfassungsgericht bei einem Ausscheiden einzelner seiner Mitglieder ein Selbstergänzungsrecht für sich verlangte. Der Beschluß sei mit 20 zu 2 Stimmen gegen die Stimmen von Präsident Hermann Höpker Aschoff und Bundesverfassungsrichter Willi Geiger gefaßt worden: „Ich halte für ausgeschlossen, daß ein solcher Vorschlag [...] eine Mehrheit im Bundestag oder im Bundesrat finden wird", schrieb ich*"). Neugliederung des Bundesgebietes Wiederholt berichtete ich über die Pläne zur Neugliederung des Bundesgebietes. Das Gesetz über die Bildung des Südweststaates wurde am 25. April 1951 "2) Wochenbericht Nr. 20 vom 18. März 1950. Siehe Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243). Vgl. hierzu ausführlich die Dokumentation von Reinhard Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, Düsseldorf 1984. Wochenbericht Nr. 78 vom 5. Juli 1952. - Vgl. hierzu auch KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 427 (1. Juh 1952). 1") Wochenbericht Nr. 78 vom 5. Juli 1952. 178
vom Bundestag verabschiedet"®). In die Debatte griffen Staatspräsident Gebhard Müller (Württemberg-Hohenzollem) und Staatspräsident Leo Wohleb (Baden) ein. Beide gehörten der CDU an. Während Müller sich für das Gesetz aussprach, legte Wohleb stärksten Widerspruch ein. Er forderte die Wiederherstellung des Landes Baden, d. h., die Wiedervereinigung seiner südlichen und nördlichen Häfte. Er hielt eine großartige, alle Zuhörer tief beeindruckende Rede - freilich für eine verlorene Sache. Als ich ihm kurz danach begegnete, sagte er zu mir, „Bremen w^ird der nächste sein". Diese Prophezeiung ist freilich nicht in Erfüllung gegangen. Aber immer wieder vnirden Pläne bekannt, die die Auflösung des Landes Bremen zum Ziel hatten. Im Bundesministerium der Finanzen wurde ein Projekt ausgearbeitet, wonach das Bundesgebiet künftig aus fünf Ländern bestehen sollte: Bayern, Südweststaat, Mittelstaat (Hessen und Rheinland-Pfalz), Nordrhein-Westfalen, Nordweststaat (Bremen, Hamburg, Niedersachsen, SchleswigHolstein)"'). Zur Begründung wurde gesagt, Schleswig-Holstein sei auf die Dauer nicht lebensfähig. Nur innerhalb eines großen Landes seien vernünftige Investitionen möglich. Finanzminister Heinrich Weitz (NRW) sollte sich nach Presseberichten für eine Zusammenlegung von Bremen und Niedersachsen ausgesprochen haben. In einem Gespräch mit mir distanzierte er sich jedoch von dieser Äußerung. Auch bayerische Abgeordnete beklagten sich darüber, daß künftig der süddeutsche Raum nur über zehn Stimmen, die norddeutschen Länder dagegen über die doppelte Stimmenzahl im Bundesrat verfügen vrärden. Aber ich brachte auch in Erfahrung, daß eine Gliederung des Bundesgebietes in wenige große Länder nach Auffassung der Bundesregierung nicht in ihrem Interesse liege, da gerade die großen Länder der Bundesregierung immer wieder Schwierigkeiten bereiteten, obwohl sie ihr parteipolitisch nahestünden. „Kleine Länder sind bundestreu", wurde mir gesagt^^®). Der Neugliederungsausschuß des Bundestages setzte auch nach der Bildung des Südweststaates seine Arbeit fort, ebenso der Sachverständigen-Ausschuß, den die Bundesregierung^ gebildet hatte. Wir konnten erreichen, daß Dr. Alfred Jacobs aus Bremen in diesen Ausschuß berufen wurde"®). Im März 1952 berichtete ich von grundsätzlichen Problemen, die sich bei der Arbeit des Neugliederungsausschusses des Bundestages ergeben hatten. „Ich glaube nicht, daß die Frage der Selbständigkeit der Hansestädte in absehbarer Zeit erneut zur Diskussion gestellt werden vdrd""®). Überhaupt schlief die Frage Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 7 S. 5427 A - 5 4 4 9 A. - Erstes und Zweites Gesetz über die Neugliederung in den Ländern Baden, Baden-Württemberg und Württemberg-Hohenzollem vom 4. Mai 1951 (BGBl. I S. 283 und 284). Wochenbericht Nr. 36 vom 6. Okt. 1950. "») Wochenbericht Nr. 47 vom 25. Jan. 1951. Siehe hierzu die Schreiben von Karl Carstens vom 14. )an. 1952 an den Bundeskanzler und an Bundesminister Heinrich Hellwege. Bundesarchiv, В 136 (Bestand Bundeskanzleramt)/4343 und В 144 (Bestand Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates)/257. 120) Wochenbericht Nr. 65 vom 3. März 1952.
179
der Neugliederung des Bundesgebietes allmählich ein. Aber einmal gab es noch einen großen Wirbel, als der Pfalz-Ausschuß des Bayerischen Landtages die Pfalz, die bis 1945 zu Bayern gehört hatte, bereisen wollte. Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Altmeier, legte dagegen in aller Form schärfste Verwahrung ein. Die Reise wurde darauf als private Gesellschaftsreise deklariert und trotz des Protestes durchgeführt*^'). Finanzpolitik In der finanzpolitischen Auseinandersetzung hatte Bremen anfangs einen schweren Stand. Es galt als reiches Land und sollte daher, weit über seine wirkliche Kraft hinaus, zum Finanzausgleich unter den Ländern herangezogen werden. Im Oktober 1949 erfuhren wir, daß im Bundesfinanzministerium ein Plan ausgearbeitet v^oirde, wonach zur Überbrückung einer Haushaltslücke der finanzschwachen Länder Bremen 156 Millionen DM, Hamburg demgegenüber nur 150 Millionen beisteuern sollte"^), ein grotesk anmutender Plan. Die tatsächliche Vorlage der Bundesregierung sah dann schon weit besser aus. Für das zweite Halbjahr 1949 sollte Bremen 55 Millionen zahlen, Hamburg 108 Millionen, NRW 80,5 Millionen, Württemberg-Baden 44,5 Millionen DM"'). Bei einem Gesetzentwurf über die Finanzhilfe für Schleswig-Holstein hatte die Bundesregierung vorgeschlagen, daß sich alle Länder außer Schleswig-Holstein und Niedersachsen daran beteiligen sollten*^^). Der Bundesrat änderte den Gesetzentvioirf ab und schlug vor, daß nur Nordrhein-Westfalen, WürttembergBaden, Hamburg und Bremen die erforderlichen Mittel aufbringen sollten"®). Mein Alptraum war Wirklichkeit geworden: die finanzschwachen Länder bildeten eine Koalition gegen die finanzstarken Länder"®). Glücklicherweise stellte der Bundestag die ursprünghche Vorlage vdeder her"'). Die Frage des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern zog sich wie ein roter Faden durch meine Wochenberichte. Immer stand Bremen in der Spitzengruppe der Länder, die an den Bund oder an andere Länder Mittel abgaben. Im Januar 1953 verteidigte sich der Bund gegen den Vorwurf, daß er den Ländern durch Beanspruchung ihrer Steuern mehr Mittel wegnähme, als er ihnen im Wege des Finanzausgleichs zuführe. Tatsächlich sei es umgekehrt. Sechs Länder erhielten mehr Mittel vom Bund, als sie an den Bund abführten: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern. Nur bei Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen sei die Lage anders"®). Bremen und Hamburg empfanden diese SituaWochenbericht Nr. 108 vom 17. Nov. 1953. "2) Wochenbericht Nr. 2 vom 22. Okt. 1949. Wochenbericht Nr. 9 vom 8. Dez. 1949. Siehe KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 2 (1950) S. 456 (16. Juni 1950). Siehe BR-Drs. Nr. 513/50 vom 1. Juli 1950. "6) Wochenbericht Nr. 29 vom 7. Juli 1950. Siehe BT-Drs. Nr. 2000 vom 2. März 1951. - Gesetz über eine Finanzhilfe für das Land Schleswig-Holstein im Rechnungsjahr 1950 vom 29. März 1951 (BGBl. I S. 217). Wochenbericht Nr. 90 vom 30. Jan. 1953.
180
tion als unbefriedigend, und in mühevollen Verhandlungen gelang es NoltingHauff und Breyhan im Finanzausgleich zwischen den Ländern die sogenannte Hanseatenklausel durchzusetzen. Sie sah vor, daß die Hansestädte wenigstens so viel von ihrem eigenen Steueraufkommen behalten, wie auf zwei Vergleichsstädte (Stuttgart und Köln) entfallen würde, wenn diese selbständige Landessteuem erheben könnten. Dabei wurden von dem Steueraufkommen der Hansestädte die Hafenlasten abgesetzt, weil sie im Interesse der ganzen Bundesrepublik Deutschland aufgebracht wurden"®).
Die wirtschaftliche Entwicklung Gegen Ende des Jahres 1950 wrurde als Folge des Koreakrieges die Kohle knapp. Der außerordentlich eindrucksvolle Ministerialdirigent Dr. Günter Keiser vom Bundeswirtschaftsministerium sprach von einer Katastrophengefahr*'"). Bremen (Senator Hermann Wolters) verlangte, daß das Bundeswirtschaftsministerium Richtlinien herausgeben soUte, um sicherzustellen, daß die Kohlelieferungen bei allen Beteiligten gleichmäßig gekürzt würden und niemand übervorteilt vrärde. In diesem Zusammenhang wurde im Wirtschaftsausschuß des Bundesrates die Einführung der Fünftagewoche diskutiert, um Kohle zu sparen. Der Vorschlag fand indessen keine Mehrheit. Dagegen versuchte die Bundesregierung den Kohle-Export zu reduzieren, wozu allerdings die Zustimmung der Alhierten nötig war. Auch sollte Kohle aus den USA importiert werden. Allerdings waren die Preise der amerikanischen Kohle, einschließlich der Fracht, um mehr als 100 Prozent höher als die Preise der deutschen Kohle (90 DM je Tonne gegenüber 40 DM je Tonne). Schließhch sollte die Kohleförderung der deutschen Zechen kräftig gesteigert werden^'^). Im März 1951 berichtete ich über ein Gespräch im Bremer Haus, an dem Bundesminister Erhard sovde weitere Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums, die Bank Deutscher Länder und die beteiligten Verbände des Handels teilnahmen. Dabei wurden Pläne zur Drosselung der Einfuhr angesichts eines hohen Einfuhrüberschusses der Bundesrepublik erörtert. Unter anderem wurde die Einführung einer Sonderumsatzsteuer (bis zu 33 Prozent) für sogenannte Luxusgüter erwogen^'^). Die krisenhafte Entwicklung dauerte aber glücklicherweise nicht lange. Im März 1952 berichtete Erhard, daß die Bundesrepublik Deutschland einen kräftigen Ausfuhrüberschuß erzielt habe. Die im Jahre 1951 eingeführten Einfuhrbeschränkungen wurden wieder aufgehoben. 75 Prozent der deutschen Einfuhren wTirden liberalisiert"^). Besonders erfreulich gestaUete sich der Warenverkehr mit Italien. Das Vorkriegsvolumen war fast vdeder erreicht. Italien hatte seine
"9) Wochenbericht Nr. 93 vom 27. Febr. 1953. " " ) Wochenbericht Nr. 41 vom 24. Nov. 1950. " ' ) Wochenbericht Nr. 48 vom 3. Febr. 1951. Wochenbericht Nr. 51 vom 3. März 1951. Siehe KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 173 f. (14. März 1952).
181
Einfuhren zu 98 Prozent liberalisiert. Ausnahmen bestanden noch für Kraftfahrzeuge*"). Im Sommer 1953 berichtete ich erstmals über Sorgen der Bundesregierung, die durch ständig steigende Exportüberschüsse hervorgerufen wurden. Im Bundeswirtschaftsministerium wurde erwogen, Maßnahmen zur Steigerung der Importe zu ergreifen. Der deutsche Importhandel sollte veranlaßt werden, Rohstofflager anzulegen. Auch wurde an eine Verlegung der letzten Produktionsphase ins Ausland gedacht. In Südamerika sollten Werke entstehen, die die Zusammensetzung der Einzelteile von Maschinen und Fahrzeugen übernähmen. Schließlich wurde die Hingabe langfristiger Investitionskredite an überseeische Länder erwogen"®). Der Importhandel folgte der an ihn gerichteten Aufforderung und legte Rohstofflager an. Aber alsbald ergab sich ein neues Problem: als die Rohstoffpreise stiegen, fielen bei den Firmen buchmäßige Gewinne an, die sie versteuern mußten. Hier gelang es den intensiven Bemühungen von Senator Helmken, Abhilfe zu schaffen. Die Finanzverwaltung wurde ermächtigt, bei der Bewertung von Rohstofflagem des Handels, die durch außerordentliche Preissteigerungen auf den Weltmärkten entstanden, Abschläge vom Buchwert zuzulassen (sogenannter Helmken-Erlaß), ein für den gesamten Importhandel außerordentlich wichtiger Erfolg^'®). Wiederwahl von Theodor Heuss Am 14. Juli 1954 wurde Theodor Heuss in Berlin mit überwältigender Mehrheit für weitere 5 Jahre zum Bundespräsidenten gewählt. Auf Heuss entfielen 871 von insgesamt 1018 Stimmen. Das Ergebnis vioirde im Inland und Ausland mit Recht als weiterer Beweis für die Stabilität und Zuverlässigkeit der deutschen innenpolitischen Entwicklung seit 1949 angesehen"'). Der Fall John Um so größer war der Schock, der durch den Übertritt des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Otto John, in den Ostsektor von Berlin ausgelöst wurde. John hielt in Ostberlin eine Rundfunkansprache, in der er seinen Schritt mit seiner Besorgnis wegen eines zunehmenden nationalsozialistischen Einflusses auf die westdeutsche PoUtik und seinen Wunsch, an der Wiedervereinigung Deutschlands mitzuwirken, begründete. Die Bundesregierung war der Auffassung, daß John entführt oder überlistet worden sei. Ich äußerte Verständnis für diese Haltung der Bundesregierung, die bestrebt war, den eingetretenen Schaden zu begrenzen, warnte aber davor, den Fall als eine Art Kavahersdelikt darzustellen"®).
Wochenbericht Nr. 71 vom 25. April 1952. "5) Wochenbericht Nr. 102 vom 18. Juni 1953. Wochenberichte Nr. 114 vom 2. April und Nr. 119 vom 27. Juli 1954. Wochenbericht Nr. 119 vom 27. Juli 1954. " " ) Wochenbericht Nr. 119 vom 27. Juli 1954. Vgl. hierzu auch KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 7 (1954) S. 333 f. und 3 4 2 - 3 4 4 (23. und 28. Juli 1954). 182
Wiederaufleben
des
Nationalsozialismus
Johns Befürchtungen hatten keine reale Grundlage. Zwar gab es nationalsozialistische Äußerungen und Reden ehemals führender Mitglieder der NSDAP in der deutschen Öffentlichkeit. Als General a. D. Bernhard Ramcke im Oktober 1952 eine Rede in Verden hielt, erregte er damit weltweite Aufmerksamkeit^'®). Englische und französische Gesprächspartner äußerten mir gegenüber die Befürchtung, daß ehemalige führende Nationalsozialisten in Nordrhein-Westfalen versuchten, Einfluß auf die Politik der Bundesregierung zu gewinnen'*"). Im Januar 1953 wurden sieben führende Mitglieder der früheren NSDAP, darunter der ehemalige Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, Dr. Werner Naumann, verhaftet"*). Ihnen wurde vorgeworfen, daß sie Pläne ausgearbeitet hätten, die auf einen Sturz der demokratischen Regierung in der Bundesrepublik hinausliefen. Die New York Times sprach in diesem Zusammenhang von der Gefahr eines Wiederauflebens des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich sowie des Faschismus in Italien, Spanien und Argentinien. Mein Kommentar: „Der Kreis, mit dem Naumann in Verbindung gestanden hat, ist so klein, daß von einer ernsten Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik nicht gesprochen werden kann""^). Wahlgesetz und Regierungsbildung 1953 Mehrfach berichtete ich über den Stand der Beratungen über das Wahlgesetz für die Bundestagswahl 1953. Die Einzelheiten interessieren heute nicht mehr. Das Gesetz, das schließlich mit Zustimmung der SPD zustande kam**'), war dem noch heute geltenden Wahlgesetz sehr ähnlich. Danach bestand der Bundestag aus mindestens 484 Abgeordneten, von denen die Hälfte in Wahlkreisen, die übrigen nach Landeslisten zu wählen waren. Hinzu kamen die Berliner Abgeordneten, die nicht stimmberechtigt waren. Nach der Bundestagswahl vom 6. September 1953, bei der CDU und CSU zusammen die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag erhielten, wurde in beiden Parteien erwogen, für die nächste Bundestagswahl das Mehrheitswahlrecht einzuführen"*). Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, von Brentano, sprach sich ausdrücklich dafür aus"®). Indessen wurde dieser Plan nicht weiter verfolgt. In einer Koalition mit FDP und DP hätte er sich nicht durch etzen lassen. In der Opposition herrschte Niedergeschlagenheit. Die SPD hatte weniger als ein Drittel der Sitze des Bundestages erhalten. Man dachte an einen Wechsel "») Wochenbericht Nr. 87 vom 8. Dez. 1952. - Vgl. KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. 650 f. (28. Okt. 1952). "») Wochenbericht Nr. 87 vom 8. Dez. 1952. Siehe KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 6 (1953) S. 125 (20. lan. 1953). Wochenbericht Nr. 89 vom 24. Jan. 1953. Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung vom 8. Juli 1953 (BGBl. 1 S. 470). Wochenbericht Nr. 106 vom 9. Sept. 1953. Wochenbericht Nr. 107 vom 2. Nov. 1953. 183
im Vorstand der Partei. Ministerpräsident Georg August Zinn (Hessen) wurde als aussichtsreichster Kandidat bezeichnet'^®). Diese, freilich von mir auch sehr vorsichtig formulierte Prognose trat nicht ein. Große Debatten im Bundestag Während der Jahre 1949 bis 1954 fanden im Bundestag einige große Debatten statt, über die ich regelmäßig berichtete. Besonders mitreißende Redner waren u. a. Kurt Georg Kiesinger (CDU), Franz-Josef Strauß (CSU), Thomas Dehler (ГОР) und Carlo Schmid (SPD). Als ein Höhepunkt in der Geschichte des Deutschen Bundestages erscheint bis heute die Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe im Herbst 1952"'). Sie wurde schon damals „als eine der besten Bundestagssitzungen seit Bestehen des Bundestages" bezeichnet"»). Im Mittelpunkt der Sitzung stand eine große Rede des Bundesjustizministers Thomas Dehler, der sich gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe aussprach. Seine Ausführungen wurden wiederholt durch lebhaften Beifall, vor allem auch seitens der SPD-Fraktion des Bundestages, unterbrochen. Nach der Bundestagswahl vom September 1953 setzte sich im Bundestag zunächst eine maßvollere Atmosphäre durch. „Die Debatte über die Regierungserklärung im Bundestag wurde von den Regierungsparteien und von Seiten der Opposition mit großer Mäßigkeit geführt"'*®). Die Vorsitzenden der CDU/CSU und SPD, von Brentano und Ollenhauer, setzten sich nachdrücklich für Toleranz im politischen Leben ein. Ollenhauer hob weiter hervor, daß die SPD die Entscheidung der Wähler vom 6. September 1953 respektiere. Sie werde eine Normalisierung des Verhältnisses von Regierung und Opposition anstreben. Besondere Beachtung fanden seine Ausführungen zur Wirtschaftspolitik. Die SPD sei nicht Anhänger der Planwirtschaft und Gegner des Leistungswettbewerbs, aber es gäbe Bereiche, in denen die öffentUche Hand einen sehr gesunden Einfluß ausübe, so in der Verkehrswirtschaft, im Bergbau und in der Energievdrtschaft. Der Bundesbesitz an diesen Unternehmen sollte nicht angetastet werden. Wenig später begründete Fritz Erler in der Debatte vom 25. und 26. Februar 1954 die Haltung der SPD zur Wehrfrage""). Die SPD sei bereit, an der Gestaltung einer vernünftigen demokratischen Wehrverfassung mitzuarbeiten"'). Auf Grund dieser Erklärung ist es dann später in der Frage des deutschen Wehrbeitrages zu einer Verständigung zwischen Regierung und Opposition gekommen, mit der außerordentlich bedeutsamen Folge, daß die SPD der Bundeswehr von Anfang an grundsätzlich positiv gegenüberstand.
Wochenbericlit Nr. 106 vom 9. Sept. 1953. Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 13 S. 10606 D - 1 0 6 2 8 С (2. Okt. 1952). "8) Wochenbericht Nr. 82 vom 4. Okt. 1952. 1«) Wochenbericht Nr. 107 vom 2. Nov. 1953. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 18 S. 23 D - 6 4 D und 69 В - 1 0 8 D (28. und 29. Okt. 1953). STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 18 S. 558 ff. Wochenbericht Nr. 113 vom 25. Febr. 1954.
184
Besondere bremische
Fragen
Schiffsbau Die Aufhebung der besatzungsrechtlichen Beschränkungen des Schiffsbaus und die Sicherung der Finanzierung des Baues deutscher Schiffe waren herausragende Ziele der bremischen Politik in den Jahren 1949 bis 1954. Schon im Oktober 1949 stellte Bremen im Bundesrat den Antrag, die Bestimmungen des Washingtoner Abkommens über den deutschen Schiffsbau zu überprüfen. Der Bundesrat stimmte einstimmig zu^'^). Kaisen schlug bei seiner Amerikareise im Jahre 1950 eine Bresche in die bis dahin unzugängliche Front der AlUerten"'). Ich bemühte mich Anfang 1950, zusammen mit dem Direktor des Bremer Vulkan, die Genehmigung für den Bau von zwei Tankern für Norwegen von je 10 ООО Bruttoregistertonnen und 14 Knoten Geschwindigkeit zu erwirken. Der Auftrag vrärde die Beschäftigung von 1200 Arbeitern für die Dauer eines Jahres gesichert haben. In dieser Frage wurde ich zweimal bei Bundeskanzler Adenauer vorsteUig^®*). Der Versuch, eine Sondergenehmigung für den Bremer Vulkan zu erwirken, scheiterte trotz aller Bemühungen. Aber Bremen ließ nicht locker. Am 7. Juli 1950 übergab Kaisen dem Bundeskanzler Material, das für die Alliierten bestimmt war und die Notwendigkeit einer Aufhebung der Schiffsbaubeschränkungen belegte. Im September 1950 gelang der erste Durchbruch: der Bau von Frachtschiffen für den Export vnirde mit sofortiger Wirkung freigegeben, und am 5. April 1951 konnte ich berichten: „Der Bau von Handelsschiffen und Passagierschiffen unterliegt von jetzt ab hinsichtlich Größe und Geschwdndigkeit keinerlei Beschränkungen mehr^'®)." Es war ein glücklicher Augenblick in der bremischen, ja man kann sagen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Von 1949 an bemühten wir uns, zur Finanzierung des Baues deutscher Schiffe ERP-Mittel zu erhalten, drangen aber damit nicht durch. Doch suchte die Bundesregierung nach anderen Wegen, um den deutschen Reedern zu helfen. Im April 1950 verabschiedete das Kabinett ein Schiffsbauprogramm für 1950 und 1951, das ein Volumen von 250 Millionen DM aus öffentlichen Mitteln vorsah'®®). Davon übernahm der Bund 150 Millionen. Ein angemessener Anteil (knapp 30 Prozent) der zu bauenden Schiffe entfiel auf bremische Reedereien. Radio Bremen Bei der Diskussion über ein Bundesrundfunkgesetz im Frühjahr 1953 achteten wir besonders darauf, daß Radio Bremen, der kleinste deutsche Sender, ausreichende Mittel zur Fortsetzung seiner damals allgemein sehr geschätzten
BR-SITZUNGSBERICHTE 1950 S. 251 (10. März 1950). Vgl. dazu oben S. 153. Wochenbericht Nr. 15 vom 10. Febr. 1950. Siehe Wochenbericht Nr. 52 vom 5. April 1951. KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 2 (1950) S. 353 (28. April 1950). 185
Programme erhielt"')· Im nächsten Jahr hatte der Bund den Plan eines eigenen Rundfunkgesetzes aufgegeben und verhandelte nun mit den Ländern über den Abschluß von Staatsverträgen. Durch sie sollte der Betrieb eines überregionalen Kurzwellenprogramms für Übersee (die spätere Deutsche Welle) und von Langwellensendungen in die Sowjetzone (den späteren Deutschlandfunk) sichergestellt werden. Außerdem sollten die Rundfunkanstalten ein gemeinschaftliches Fernsehprogramm (das spätere Erste Programm der ARD) aussenden. Gleichzeitig liefen Verhandlungen zwischen Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein über die künftige Ausgestaltung des Nordwestdeutschen Rundfunks, der damals noch alle vier Länder mit einem gemeinsamen Programm versorgte. Die Fortexistenz von Radio Bremen wurde von keiner Seite in Frage gestellt^'®). Damals konnte freUich niemand ahnen, welchen Weg die Bremer Rundfunkanstalt später einmal gehen würde.
Bremische Referendare in Bonn Im Juni 1953 besuchten 95 bremische Gerichtsrefendare Bonn. Sie waren im Adam-Stegerwald-Haus in Königswinter untergebracht. Für Vorträge hatten wir u. a. Bundesfinanzminister Schäffer, Bundesjustizminister Dehler, den stellvertretenden französischen Hohen Kommissar Bérard, Staatssekretär Ritter von Lex vom Bundesinnenministerium, Ministerialdirektor Josef Rust vom Bundeskanzleramt und Bundesverfassungsrichter Walter Klas gewinnen können. Die Referendare, die auch an je einer Plenarsitzung des Bundestages und des Bundesrates teilnahmen, waren von den gewonnenen Eindrücken begeistert^'®) und sprachen mich noch nach Jahren darauf an, so auch der damalige bremische Referendar und spätere Bundesminister des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher.
6. Professor in Köln und Ausscheiden aus dem bremischen Dienst
Vorlesungen und Habilitation an der Universität Köln Während meiner Zeit als bremischer Bevollmächtigter in Bonn habilitierte ich mich im Jahre 1952 bei der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln für Staats- und Völkerrecht. Schon vorher hielt ich aufgrund eines Lehrauftrages vom 24. April 1950 Vorlesungen über das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich hatte im Frühjahr 1950 Professor Hermann Jahrreiss aufgesucht, ihm von meinem Studium in Amerika berichtet und gefragt, ob ich wohl aufgrund meiner eingehenden Beschäftigung mit dem ameWochenbericht Nr. 94 vom 6. März 1953. - Zur Diskussion über ein Bundesrundfunkgesetz vgl. KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 5 (1952) S. LXXXIV-LXXXVII und Bd. 6 (1953) S. 10. "») Wochenbericht Nr. 117 vom 21. Juni 1954. Wochenbericht Nr. 102 vom 18. Juni 1953.
186
rikanischen Verfassungsrecht darüber in Köln eine Vorlesung halten könnte. Jahrreiss griff den Gedanken auf, und schon im März 1950 beantragte die Fakultät für mich einen unbesoldeten Lehrauftrag. Ich hielt meine erste Vorlesung im Wintersemester 1950/51. Sowohl die Vorlesungstätigkeit als auch das Thema, über das ich sprach, faszinierten mich. Vorlesungen zu halten vor jungen Menschen, die an dem dargebotenen Stoff interessiert sind, gehört zu den schönsten Tätigkeiten, die ich kenne. Da mein Fach kein Prüfungsfach war, blieb die Zahl meiner Hörer klein (etwa 30 bis 40). Aber diejenigen, die kamen, waren wirklich interessiert. Irgendwelche Ausfälle oder gar Tätlichkeiten von Studenten gegen ihre Professoren, vwe sie sich später leider ereignet haben, waren damals, Anfang der fünfziger Jahre, undenkbar, was aber natürlich Mißfallensäußerungen nach altem akademischen Brauch, d. h. Scharren mit den Füßen oder Zischen, nicht ausschloß. Meine Vorlesung über das amerikanische Verfassungsrecht gliederte sich in sechs Abschnitte: 1. Regierung durch das Volk; 2. Trennung der Gewalten; 3. Gerichtliche Nachprüfung (judicial control); 4. Föderalismus; 5. Schutz der Grundrechte; 6. Schutz der äußeren und inneren Sicherheit. Einen Schwerpunkt meiner Vorlesung bildete die Rechtsstellung der verschiedenen Minderheiten in den USA. Im Mittelpunkt stand dabei die Rolle des obersten Gerichtshofes. Ich behandelte seinen Ursprung, seine allmähliche Machtausweitung bis hin zu dem Kampf mit der New Deal-Gesetzgebung Roosevelts. Ich legte die Grundsätze dar, nach denen der Gerichtshof damals judizierte und bemühte mich zu zeigen, daß die Entscheidungsfindung durch das Gericht methodisch weniger in der Subsumtion eines konkreten Falles unter abstrakten Normen, sondern in grundsätzlichen Wertentscheidungen besteht, wobei persönliche Präferenzen und Abneigungen jedes einzelnen Richters eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. In diesem Zusammenhang zitierte ich Chief Justice Taft mit folgendem Satz: „Ich fühle mich alt und langsam, aber ich muß auf meinem Richterstuhl ausharren, um zu verhindern, daß die Bolschewiken das Übergewicht bekommen"'®"). Ich zeichnete auch ein Bild von anderen großen Richterpersönlichkeiten wie Brandeis und Holmes, Frankfurter und Douglas. Ich legte Wert auf die Feststellung, wie sparsam der Gerichtshof das Instrument der Ungültigkeitserklärung von Bundesgesetzen eingesetzt hat: nur 75mal von 1803 bis 1942. Ich stellte unter anderem die Frage, welche Organe oder Institutionen den größten tatsächlichen Einfluß auf die politische Willensbildung des Landes haben und kam zu dem Ergebnis: weder die politischen Parteien, noch die Interessenverbände, noch die Presse, noch die Einzelstaaten in ihrer Gesamtheit, noch die Streitkräfte und auch nicht der Kongreß oder der Oberste Gerichtshof, obwohl er große Macht besitzt. Vieles spricht dafür, in dem Präsidenten die Verköφerung der höchsten Autorität zu sehen. Aber auch er unterliegt vielfältigen Kontrollen durch andere oberste Organe.
i " ) Zitiert bei C. Hermann Pritchett, The Roosevelt Court, New York 1948 S. 18.
187
Mir erschien damals das amerikanische Volk als Ursprang und Inhaber der staatlichen Macht. Es zeige, so meinte ich, in seinen Entscheidungen eine bemerkenswerte Selbständigkeit. Im Zweiparteiensystem setzten sich letzten Endes die unabhängigen Wähler, also kritische und nachdenkliche Wähler durch. In dieser meiner Analyse wurde ich sicher durch den Ausgang der Präsidentschaftswahl von 1948 beeinflußt, die ich aus nächster Nähe erlebt hatte. Mit dem Gegenstand meiner Vorlesung habilitierte ich mich^®^). Die Fakultät nahm die Arbeit im Sommer 1952 an, und ich hielt meine Probevorlesung über das Thema „Die Verbindhchkeit des Völkerrechts für die innerstaatliche Rechtsprechung" am 23. Juli 1952. Am gleichen Tage verlieh mir die Fakultät die Venia legendi für Staatsrecht und Völkerrecht. Die Arbeit wurde nach ihrem Erscheinen gut besprochen, u. a. von Otto Bachof'62), Carl. J. Friedrich»«'), Heinz Guradze»«^), Wilhelm Kari Сеск"^), Otto Kirchheimer"®), Fritz Morstein Marx»®'), Robert Rie'®®) und Ulrich Scheuner"®), und ich hatte die Freude, daß sie in einer Arbeit von Hartmut Wasser, die 25 Jahre später erschien, als immer noch wertvoll bezeichnet wurde""). Die Voten der Mitglieder der Fakuhät zu meiner Habilitationsschrift, die ich später einsehen konnte, stimmen darin überein, daß die Arbeit als Habilitationsleistung angenommen werden sollte — freihch mit Einschränkungen. Die Hauptkritik richtete sich dagegen, daß eine historische Vertiefung des Stoffes und eine Analyse der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung fehle, um die es bei der Herausbildung der amerikanischen Verfassung ging. Es handele sich in der Hauptsache um einen Bericht über das amerikanische Recht. Meine Probevorlesung vor der erlauchten Kölner rechtswissenschaftlichen Fakultät ist mir unvergeßUch. Ganz vome saß Heinrich Lehmann, damals schon emeritiert, aber meiner Generation als der große Lehrer des Bürgerlichen Rechts und Verfasser eines Standardwerkes über das Schuldrecht bekannt. Er war ein geistvoller, hochgebildeter, aber auch fest im Leben stehender Gelehrter. Neben ihm Hermann Jahrreiss, einer der bedeutenden deutschen Völkerrechtler und Staatsrechtler, ein glänzender Redner, der später noch, mit 90 Jahren, Vorlesungen vor einem begeisterten Auditorium hielt - immer in freier Rede, da er nicht mehr gut lesen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Jahrreiss in den Nürnberger Prozessen General Jodl verteidigt und darzulegen versucht, daß die Karl Carstens, Grandgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung, Berlin 1954 (Duncker und Humblot). Otto Bachof, Die öffentliche Verwaltung 1954 S. 382. Carl J. Friedrich, Tulane Law Review Vol. XXXI p. 217 ff. Heinz Guradze, Neue Pohtische Literatur, Juni 1956 S. 36 ff. 165) Wilhelm Karl Geck, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. 16 S. 107. Otto Kirchheimer, Louisiana Law Review Vol. XV p. 879 f. Fritz Morstein Marx, Archiv des öffenüichen Rechts Bd. 81 S. 504 ff. Robert Rie, The American Journal of Comparative Law Vol. IV p. 673. Ulrich Scheuner, Das Historisch-Politische Buch 1955 S. 255. Hartmut Wasser, Die Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 1980 S. 515 Anm. 129. 188
Anklage gegen tragende Grundsätze des Völkerrechts verstieß, eine mutige und auch rechtlich wohlfundierte Stellungnahme. Für meine Frau und mich wurde Jahrreiss im Laufe der Jahre ein verehrter guter Freund, ebenso wie seine Frau. Daneben saß Hans Peters, gleichfalls ein bedeutender Vertreter des öffentlichen Rechts, vor allem des Verwaltungsrechts, ein mutiger Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit. Femer Richard Lange, einer der bedeutendsten Vertreter des Strafrechts und der Kriminologie, niemals modischen Zeitströmungen nacheifernd, sondern auf gesicherten, von ihm selbst geprüften Erkenntnissen aufbauend. Auf der anderen Seite Hans Carl Nipperdey, Lehrer des Arbeitsrechts, dazu Mitherausgeber eines Standardwerkes über die Grundrechte, ein universaler Geist mit entschiedenen, scharf profilierten Auffassungen, später Präsident des Arbeitsgerichtes. Weiter war anwesend Ottmar Bühler, ein bedeutender Lehrer des Steuerrechts, aber weit darüber hinaus an allen grundsätzlichen Fragen des Rechts interessiert und mutig engagiert. Daneben Emst v. Hippel, ein tief schürfender Staatsrechtler und Staatsphilosoph, sowie Gerhard Kegel, eines der jüngeren Mitglieder der Fakultät, ein scharfsinniger Denker und Debattierer von ungeheurer Arbeitskraft, eine der weltweit angesehenen Koryphäen des internationalen Privatrechts. Nach meiner Habilitation wurde ich Ende des Jahres 1952 zum Mitglied des Justizprüfungsamtes beim Oberlandesgericht Köln besteUt. Ich habe nicht allzu oft geprüft, aber jedes Mal mit großem Nutzen für mich. Gewann ich doch, durch die Fragen meiner Mitprüfer im mündUchen Examen, Einblick in die anderen Rechtsgebiete, vor allem das Bürgerliche Recht und das Prozeßrecht, mit denen ich wenig Berührung mehr hatte. Schließlich lud mich am 3. Februar 1954 die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer ein, ihr als Mitglied beizutreten. Es handelt sich um eine hochangesehene wissenschaftliche Vereinigung, die damals nur habilitierte Lehrer des Staatsrechts aufnahm. So erschloß sich mir in den Jahren von 1949 bis 1954 ein wichtiges Feld. Ich habe meine Verbindung mit den Staatsrechtslehrem, meine Zugehörigkeit zur Kölner Fakultät, an die ich 1960 als persönlicher Ordinarius gerufen wurde, immer als einen großen bleibenden Gevñnn für mein ganzes Lebens angesehen. Ausscheiden aus dem bremischen
Dienst
Im Spätsommer 1954 schied ich aus dem bremischen Dienst aus, um die Täügkeit des Gesandten der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat in Straßburg zu übemehmen. Die bremische Urkunde über mein Ausscheiden nennt als Stichtag den 30. September 1954. Tatsächlich hatte ich meine Tätigkeit schon im August beendet. Kaisen schrieb mir aus diesem Anlaß einen mich sehr bewegenden Brief. Er sprach den herzlichsten Dank und die größte Anerkennung für meine erfolgreiche Arbeit für Bremen aus. Er erinnerte an die Reisen nach Amerika, Frankreich, Belgien und Holland, auf denen ich ihn begleitete. Der Erfolg der Amerikareise sei mit mein großes Verdienst gewesen. Der Brief schloß mit 189
einer sehr persönlichen Bemerkung. „Mit der festen Hoffnung, daß sich das Verhähnis zwischen Ihnen und Bremen später noch einmal zu einem dauerhaften gestalten wird, verbinden sich die herzlichsten Wünsche des Senats für Ihr weiteres Wirken und Wohlergehen" (Brief vom 25.10.1954). Damit meinte Kaisen, daß ich einmal sein Nachfolger werden sollte, wie er es mir gegenüber oft mündlich zum Ausdruck gebracht hatte. Meinen Einwand, daß ich nicht Mitglied der SPD sei und es auch nicht werden wollte, ließ er nicht gelten. Für ihn war das nicht ausschlaggebend. Einen sehr herzlichen Brief erhielt ich auch von der Industrie- und Handelskammer Bremerhaven. Mein Freund Dr. August Dierks, der Hauptgeschäftsführer, mit dem ich eng zusammengearbeitet hatte, schrieb u. a., „Sie waren uns [...] ein einsatzbereiter Förderer unserer Belange [...] und haben dadurch Anteil an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau unserer Stadt." Auch die Handelskammer Bremen woirdigte meine Tätigkeit in sehr freundschaftlicher Weise und ließ mir eine Kiste alten Bordeaux-Weins übersenden, von dem ich noch heute zehre. Der Abschied von der bisherigen Arbeit wurde mir dadurch erleichtert, daß mich eine neue Aufgabe in Straßburg erwartete, die mir äußerst verlockend erschien. Mein Nachfolger im bremischen Dienst woirde Dr. Heinrich Barth, auch er hatte der Sozietät von Kind, Otto Meyer, Lührßen, Löning und Schulze-Smidt angehört, über die ich früher berichtet habe"i). Er war führendes Mitglied der CDU, zuletzt deren Landesvorsitzender, aber niemals hat jemand seine Loyalität gegenüber dem bremischen Senat und gegenüber Präsident Kaisen im besonderen in Zweifel gezogen.
Vgl. Kap. IV S. 97 ff.
190
VI. Auswärtiger Dienst 1954-1966 1. Ständiger Vertreter beim Europarat Nach meinem Übertritt in den Auswärtigen Dienst war ich von November 1954 bis August 1955 der ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat im Range eines Gesandten. Mein Dienstsitz war Straßburg. Der Europarat entstand am 5. Mai 1949. Damals unterzeichneten zehn europäische Staaten - Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Norwegen, Schweden, Dänemark, Italien und Irland - das Gründungsstatut. In dem Statut wird als Ziel des Europarats die Erhaltung und Förderung der Ideale und Prinzipien bezeichnet, die das gemeinsame europäische Erbe bilden, sowie die Entvdcklung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts der Mitgliedstaaten. In seinen institutionellen Bestimmungen stellt das Statut einen Kompromiß zwischen den kontinentaleuropäischen Anschauungen und dem britischen Standpunkt dar. Die Kontinentaleuropäer vränschten den Europarat mit einem starken parlamentarischen Organ auszustatten; die Briten lehnten das ab. Als Ergebnis wurde eine Organisation geschaffen, deren Entscheidungsgewalt bei dem von den Regierungen bestellten Ministerkomitee lag, der aber ein parlamentarisches Organ mit beratender Funktion, „die sogenannte Beratende Versammlung", beigegeben vrarde. Später nannte sie sich „Parlamentarische Versammlung". Auch in dieser reduzierten Ausgestaltung war der Europarat bahnbrechend bei der Einführung parlamentarischer Gremien in die internationale Zusammenarbeit. Tatsächlich hat die Parlamentarische Versammlung, vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung, eine erhebliche politische Bedeutung erlangt. Hier vmrden die aktuellen weltpolitischen Fragen zwischen führenden Politikern aus allen MitgUedstaaten erörtert. Die Diskussion führte häufig zu einer Annäherung der Standpunkte. Die Tätigkeit der Versammlung hatte zudem den Vorteil, daß sich Parlamentarier der Mitgliedstaaten persönlich kennenlemten. Viele Streitfragen wurden dadurch in einer verständnisvollen Atmosphäre erörtert. Mitglieder des Europarats konnten nur solche europäischen Staaten werden, die die Vorherrschaft des Rechts und die Menschenrechte und Grundfreiheiten für ihren Herrschaftsbereich anerkannten. 1950 wurde die Bundesrepublik Deutschland eingeladen, dem Europarat als assoziiertes Mitglied beizutreten. Dieser Status war für Länder vorgesehen, die noch nicht voll souverän sind. Ihnen v^oirden Sitze in der Beratenden Versammlung zugevdesen; sie waren aber im Ministerkomitee nicht vertreten. Die Bun191
desrepublik Deutschland nahm die Einladung an, wenn sie auch aus deutscher Sicht mit einem erheblichen Schönheitsfehler verbunden war, nämlich mit der gleichzeitig an das Saarland ergangenen Einladung, dem Europarat ebenfalls als assoziiertes Mitglied beizutreten. Dieser Zustand änderte sich jedoch schnell, als die Bundesrepublik Deutschland 1951 Vollmitglied wurde, während das Saarland weiter assoziiertes Mitglied blieb. Für die Bundesrepublik Deutschland bedeutete die Mitgliedschaft im Europarat den ersten Schritt zur Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der freien Völker nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war in der Frühzeit der Geschichte der Bundesrepublik ein sehr wichtiges Ereignis. Seit 1951 gehörte ein Vertreter der Bundesrepublik dem Komitee der Ministerbeauftragten an. Dieses bereitete die Sitzungen des Ministerkomitees vor und konnte in gewissem Umfang Beschlüsse anstelle des Ministerkomitees fassen. Anfänglich vrarde die Funktion des deutschen Ministerbeauftragten durch einen Beamten des auswärtigen Dienstes wahrgenommen, der zu den Sitzungen jeweils nach Straßburg reiste. Ich war der erste Beauftragte mit Sitz in Straßburg und der erste, der den Titel „Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat" führte. In dieser Eigenschaft genoß ich die üblichen diplomatischen Privilegien und Immunitäten. Ich wurde damit mit einer Aufgabe betraut, die für den deutschen Auswärtigen Dienst neu war. Neben den Vertretern der Bundesrepublik Deutschland, die als Botschafter oder Gesandte bei Staatsoberhäuptern der Staaten akkreditiert wurden, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhielt, entstand nach 1949 eine neue Art von internationaler Tätigkeit deutscher Diplomaten, nämlich die Mitarbeit in einer internationalen Organisation, deren Mitglied die Bundesrepublik ist. Seit 1954 hat sich die Zahl dieser Organisationen außerordentlich vermehrt. Die damit den deutschen Diplomaten zufallenden neuen Aufgaben sind nach meiner Überzeugung überaus wichtig und reizvoll, wenn sie auch nicht mit dem äußeren Glanz einer Akkreditierung bei einem Staatsoberhaupt verbunden sind. Meine Arbeit wurde mir sehr erleichtert durch die loyale Unterstützung, die mir die Herren Karl Kuno Overbeck und Dr. Wilhelm Hartlieb gewährten, die im Auswärtigen Amt für Fragen des Europarats zuständig waren. Die Behörde, die ich leitete, bestand mit mir zusammen aus sechs Personen: meinem Stellvertreter Dr. Dirk Oncken, dem Kanzler Wehrmann, den Sekretärinnen Gudrun Haug und Lieselotte Moskopf und dem Kraftfahrer Miesen. Es war ein kleiner, aber effizienter Betrieb. Das Arbeitsklima war gut, vor allem Oncken, der später im Auswärtigen Dienst Karriere machte, erwies sich schon damals als ein außerordentlich befähigter Diplomat. Die Bundesregierung mietete für mich ein Haus am Boulevard de l'Orangerie, zehn Minuten Fußweg vom Europarat entfernt. Hier waren unsere Wohnung und auch das Büro untergebracht. Wir gaben in diesem Hause viele Empfänge, offizielle und halboffizielle Essen. Das Haus bewährte sich dabei gut. Mein wichtigster Gesprächspartner im Europarat war der Generalsekretär Léon Marshall, ein französischer Diplomat, mit dem ich ein gutes Verhältnis hatte. Ich 192
wurde mehrfach bei ihm vorstellig, um zu erreichen, daß die Zahl der deutschen Beamten unter den eigentlichen Mitarbeitern des Europarates vergrößert würde. Wir waren erst spät Mitglied geworden und hatten daher keinen unserem finanziellen Beitrag entsprechenden Anteil am Personal. Immerhin bekleideten zwei deutsche Beamte, Werner von Schmieden und Gerrit von Haeften, führende Positionen im Sekretariat des Europarates. Sie genossen wegen ihrer Loyalität und Arbeitskraft hohes Ansehen. Von Haeften hat als Leiter der Rechtsabteilung einen wichtigen Anteil an dem Zustandekommen der im Rahmen des Europarats verabschiedeten europäischen Konventionen gehabt. Weitere deutsche Beamte, die sich gleichfalls durch Tüchtigkeit auszeichneten, waren Hans Solf, Nikolaus Sombart, Per Fischer und Heribert Golsong. Andere Beamte des Europarats, mit denen ich regelmäßig Kontakt hatte, waren der Grieche Polys Modinos, der für die Menschenrechtsfragen zuständig war, und der Engländer A. H. Robertson, ein hervorragender Jurist, der ein wichtiges Buch über das Recht des Europarats geschrieben hat^). Mit den Ministerbeauftragten, meinen Kollegen, stellte ich bald ein enges, vertrauensvolles Verhältais her, besonders mit dem Franzosen Geraud Jouve, mit dem Italiener Cettadini Cesi, mit dem Briten Peter Scarlett, mit dem Schweden Sten Häglöff sowie dem Griechen Hadji Vassiliou. Die wichtigste Leistung des Ministerkomitees bestand in der Verabschiedung der europäischen Konventionen, die der Vereinheitlichung des Rechts der Mitgliedstaaten dienten. Unter ihnen war die bei weitem bedeutendste die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die 1950 in Rom unterzeichnet wurde. Die Konvention stellt einen in der Geschichte des Völkerrechts neuen, man kann fast sagen, revolutionären Akt dar. Denn nicht nur garantiert sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten für die im Herrschaftsgebiet der Mitgliedstaaten lebenden Personen, sondern sie eröffnet ein internationales Rechtsschutzsystem, wenn diese Rechte durch einen Mitgliedstaat verletzt werden. In diesem Fall können die anderen Mitgliedstaaten, aber auch die betroffenen Einzelpersonen, die Europäische Kommission für Menschenrechte anrufen. Die Kommission stellt gegebenenfalls fest, daß der Staat, gegen den sich der Antrag richtet, die Menschenrechtskonvention verletzt hat. In zweiter Instanz entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die entscheidende völkerrechtliche Neuerung des Verfahrens liegt vor allem darin, daß Einzelpersonen, deren Menschenrechte verletzt worden sind, die Europäische Kommission für Menschenrechte auch gegen ihren eigenen Staat anrufen können. Die einzelnen Teile der Menschenrechtskonvention sind erst nach und nach, zum Teil erst nach meinem Ausscheiden aus meinem Straßburger Amt, in Kraft getreten. Neben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hatten die Mitglieder des Europarats bis 1954 sieben weitere Konventionen beschlossen, drei im sozialen, zwei im kulturellen Bereich und zwei patentrecht-
Arthur H. Robertson, The Council of Europe, London 1956.
193
liehe Konventionen. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Konventionen weiter an; bis 1990 viraren es über 100. Einen Höhepunkt in der Arbeit des Europarats bildeten die Tagungen der Parlamentarischen Versammlung. Führende deutsche Parlamentarier trafen sich mit ihren Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten. Ich lud, zusammen mit meiner Frau, die Deutschen regelmäßig in die „Gerberstuben", ein Lokal im altdeutschen Stil am Ufer der III, ein. Hier ging es jedesmal hoch her. Die Stimmung war gelockert und parteiübergreifend fröhHch. Carlo Schmid (SPD), Hermann Pünder (CDU), Eugen Gerstenmaier (CDU), Fritz Erler (SPD), Karl Mommer (SPD) lieferten sich Redeschlachten, die mir unvergessen gebheben sind. Für meine Frau und mich verbinden sich mit dem Straßburger Jahr besonders schöne Erinnerungen. Ich konnte meine Arbeit bequem am Vormittag erledigen; wir hatten daher Zeit, uns Straßburg, die Vogesen und das Elsaß näher anzusehen. Wir studierten bei dieser Gelegenheit die elsässische Geschichte. Bis ins 17. Jahrhundert gehörten Straßburg und zehn weitere Städte als freie Reichsstädte zum Deutschen Reich. Die wichtigsten freien Reichsstädte waren Weißenburg, Hagenau, Rosheim, Colmar, Münster und Mülhausen. Sie wurden im Westfälischen Frieden 1648 an Frankreich abgetreten. 1681 wurde auch Straßburg im Zuge der sogenannten Reunions-Politik von Ludvwg XIV. besetzt. Die Versuche Preußens, das Elsaß 1815 nach der Niederlage Napoleons für Deutschland zurückzugewinnen, scheiterten am Widerstand Österreichs. Die Abtretung nach dem Kriege von 1870/71 führte zu starken Spannungen mit der elsässischen Bevölkerung, die sich mehrheitlich inzwischen stärker mit Frankreich identifizierte, und legte zudem den Grund für den andauernden deutschfranzösischen Konflikt, der schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete. Dies ist eine Geschichte voller bitterer Erfahrungen. Aber landschaftlich und in seiner mittelalterlichen Architektur übt das Elsaß bis heute einen großen Reiz aus, den meine Frau und ich nicht vergessen werden. Wir sind für diese Zeit bis heute dankbar. Für meine spätere Tätigkeit im Auswärtigen Amt stellte das Straßburger Jahr zugleich eine gute Vorbereitungszeit dar. Ich lernte die europäischen Probleme und die Haltung der Mitgliedstaaten bei dem Versuch ihrer Lösung kennen. Über das Recht des Europarats veröffentlichte ich 1956 eine Monografie, in der ich alle juristischen Probleme gründlich untersuchte^).
2. Die Entstehung der Römischen Verträge Leiter der Unterabteilung für Europafragen im Auswärtigen Amt Im September 1955 trat ich meinen Dienst im Auswärtigen Amt in Bonn als Dirigent der Unterabteilung 21 an, die für die europäischen Fragen zuständig war. Ich woirde Nachfolger von Botschafter Carl Friedrich Ophüls, der nach Karl Carstens, Das Recht des Europarates, Berlin 1956 (Duncker und Humblot).
194
Brüssel ging, um sich dort ganz seiner Aufgabe als deutscher Delegierter bei den Verhandlungen über den künftigen EWG- und EURATOM-Vertrag zu widmen. Ophüls war ein hochbefähigter Mann, eine Entdeckung Hallsteins, der ihn aus dem Justizministerium ins Auswärtige Amt geholt hatte. Schon in den Verhandlungen über die Montanunion und über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft hatte Ophüls eine wichtige Rolle gespielt. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger der europäischen Integration in supranationaler Form. An diesem Ziel hielt er mit einer Beharrlichkeit ohnegleichen fest. Auch der Satz in der Präambel des WEU-Vertrages vom 23. Oktober 1954 „in dem Wunsch [...], die Einheit Europas zu fördern und seiner fortschreitenden Integrierung Antrieb zu geben"') ging vor allem auf seine Initiative zurück. Mit größter Mühe gelang es ihm, ihn bei den Engländern durchzusetzen. Ophüls war ein ausgezeichneter, scharfsinniger Debattierer, wenn er auch meist stockend, mit hoher Stimme und bisweilen verschroben sprach. Dahinter steckte ein durchdringender Verstand. Auch besaß er eine ausgeprägte schöpferische Begabung. Artikel 189 Abs. 2 des späteren EWG-Vertrages ist von ihm in der entscheidenden Phase der Verhandlungen formuhert worden: „Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren TeUen verbindlich und giU unmittelbar in jedem Mitgliedstaat." Diese Bestimmung ist ein Eckstein in dem juristischen Gebäude der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auf sie stützte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften seine Rechtsprechung, wonach das europäische Gemeinschaftsrecht unbedingten und uneingeschränkten Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten, auch vor deren Verfassungsrecht, hat. Bei der Bildung der Europäischen Gemeinschaften hat Ophüls eine zentrale Rolle gespielt, die in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Freilich war er sehr eigensinnig. Nach der Konstruktion des Auswärtigen Dienstes gab ich ihm im Auftrag des Ministers, aber faktisch weitgehend selbständig, die Weisungen für die Brüsseler Verhandlungen, die ich in einem Ausschuß der Fachressorts, wo ich den Vorsitz führte, erarbeitete. Ich war nicht immer sicher, ob Ophüls die Weisungen befolgte, setzte mich ihm gegenüber aber doch mehr und mehr durch, dabei sein großes geistiges Format immer bewundernd. Zahllose Anekdoten gibt es über Ophüls. Er war ein sehr guter Klavierspieler. Im April 1951, nachdem sich die sechs Außenminister über den Text des Montanunions-Vertrages geeinigt hatten, setzte er sich in später Nachtstunde an den Flügel im Quai d'Orsay und spielte Chopin so laut und auch so gut, daß schließlich Robert Schuman, der im Quai d'Orsay wohnte und schon zu Bett gegangen war, im Nachtgewand erschien und ihm zuhörte. Köstliche Aussprüche sind von Ophüls überliefert. Einige habe ich mir zu eigen gemacht. Wenn er einen Menschen als dumm kennzeichnen wollte, pflegte er das in folgende Worte zu kleiden: „Wenn man alle Menschen in sehr kluge und in kluge einteilt, dann gehört er zu den klugen", — eine glänzende, unanfechtbare Formulierung, die jeder Beleidigungsklage standhält.
ä) BGBl. 1955 II S. 258.
195
Ich wurde also Nachfolger von Ophüls als Leiter der Unterabteilung 21. Leiter der Hauptabteilung 2 war Ministerialdirektor Prof. Wilhelm Grewe. Auch er war von Hallstein ins Auswärtige Amt geholt worden. Er gehört zu den befähigsten Diplomaten, die der Bundesrepubhk Deutschland gedient haben. Er war ein hochangesehener Völkerrechtler, hatte bis zu seinem Eintritt in das Auswärtige Amt den Lehrstuhl für Völkerrecht in Freiburg innegehabt. Durch seine Publikationen zur Rechtslage Deutschlands nach 1945 hatte er sich nicht nur einen Namen als Wissenschaftler gemacht, sondern zugleich auch Einfluß auf die künftige Entwicklung gewonnen. Der Schweφunkt seiner Arbeit im Auswärtigen Amt waren die Deutschlandpolitik, die Bemühungen um die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und um die Wiedergewinnung der Souveränität. Er hat in diesen Bereichen Außerordentliches geleistet. In mehreren Publikationen hat er später selbst über seine Tätigkeit berichtet^). Die Zusammenarbeit mit ihm — er war mein Vorgesetzter — war für mich sehr befriedigend. Ich arbeitete im Bereich der Europapolitik weitgehend selbständig, im engsten Kontakt zu Staatssekretär Hallstein, mit dem ich schriftlich durch meine Aufzeichnungen, mündUch oder telefonisch fast täglich in Verbindung stand. Von den Mitarbeitern der Unterabteilung 21 nenne ich als erste Sigrid Berner, meine Sekretärin, die in Wahrheit zugleich meine persönliche Referentin war. Ich übernahm sie von Ophüls. Sie besaß eine ungeheure Arbeitskraft. Ich arbeitete schon viel, aber sie war immer vor mir im Büro und ging auch nach mir weg, oft erst nach 22 Uhr, nachdem sie alle Vorgänge noch gehörig geordnet hatte. Sie besaß ein sehr gutes Gedächtnis und war von beispielhafter Loyalität mir gegenüber. Freilich gab es später, als ich in der Hierarchie des Auswärtigen Amtes aufstieg und mein Büro sich vergrößerte, auch Spannungen zwischen Fräulein Bemer und den andern Mitarbeiterinnen, auch gelegentlich mit den persönlichen Referenten. Sie wollte am liebsten alles machen, weil sie meinte, nur dann würde einer im Büro über alles Bescheid wissen. Darin hatte sie zwar Recht. Die Aufteilung von Aufgaben unter mehreren Mitarbeitern führt in der Tat zwangsläufig zu Reibungsverlusten, Doppelarbeit und Lücken in der Bearbeitung. Aber wenn der Arbeitsanfall zu groß wird, muß man dieses Risiko in Kauf nehmen. Ich bin Sigrid Bemer zu sehr großem Dank verpflichtet. Ohne sie hätte ich meine Arbeit nicht mit der Präzision bewältigen können, die ich mir selbst als Ziel gesetzt hatte. Sie bheb 11 Jahre bei mir, bis ich 1966 aus dem Auswärtigen Amt ausschied. Unter den Referatsleitern der Unterabteilung 21 erwähne ich als ersten Dr. Wilhelm Hartlieb. Er war ein Mann von bedeutenden geistigen Gaben, dynamisch, zuweilen rücksichtslos bei seinen Bemühungen, die Richtlinien des Bundeskanzlers zur Europapolitik bei den andern Ressorts durchzusetzen. Er legte sich, damals Legationsrat I. Klasse, also Oberregierungsrat, mit den im Rang höheren Vertretern anderer Ressorts an, so daß die Funken stoben. Das mag manInsbesondere in den Darstellungen Rückblenden 1976—1951, Frankfurt/Main 1979 und Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960.
196
chem Leser heute schockierend erscheinen. Aber in der Sache hatte Hartliebs Methode den Erfolg, daß die Richtlinien des Bundeskanzlers durchgesetzt wurden. Das ist, soweit ich es übersehen kann, später nie mehr so eindeutig gelungen wie in den fünfziger Jahren. Ich stimmte Hartlieb in der Sache fast immer zu, versuchte aber, ihn doch zu etwas größerer Behutsamkeit zu bewegen. Er hatte eigenwillige Arbeitsmethoden. Immer war sein Schreibtisch leer, zum TeU auch dadurch, daß er Vorgänge, die ihm unwichtig erschienen, kurzerhand vernichtete. Ich habe diese Methode, die allerdings mit den Grundsätzen des deutschen Beamtentums absolut unvereinbar ist, insgeheim oft bevnindert. Aber einmal vernichtete Hartlieb auch einen Brief von Bundeskanzler Adenauer an Bundesminister von Brentano. Hartlieb glaubte, das sei die beste Erledigung der Sache, und er hatte im Grunde Recht. Aber unglücklicherweise mahnte ein übereifriger Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes die Erledigung des Briefes an, und dabei kam die Sache heraus. Ich mußte sehr zu meinem Kummer Hartheb eine formlose Mißbilligung aussprechen. Wir blieben trotzdem gute Freunde. Wenn ich mich persönlich auf jemanden verlassen konnte, dann auf ihn. Als Hartlieb später in Moskau auf Posten war, stellten ihm die Sov^rjets ein Bein. Sie schenkten ihm bei einer Festlichkeit übermäßige Mengen von Alkohol ein, photographierten ihn dann und spielten das Bild der deutschen Presse zu. Für das Zustandekommen der Europäischen Verträge aber hat Hartheb große Verdienste, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Das Atom-Referat leitete Dr. Heinz Hädrich. Auch er gehörte zu den Spitzenbegabungen des Auswärtigen Dienstes, obwohl er unter den Folgen schwerer Kriegsverletzungen, darunter einer Kopfverletzung, zu leiden hatte. Er beherrschte sein Arbeitsgebiet nicht nur fachlich, sondern war auch ein sehr guter Taktiker in politischen Fragen. Durch ihn bin ich in die überaus komplizierte Materie der Atomwissenschaft und des Atomrechts eingeführt worden. Auch Franz Josef Strauß, damals Bundesminister für Atomfragen, schätzte Hädrich hoch und bat ihn häufig, ihm über einen bestimmten Sachverhalt vorzutragen. Hädrich stimmte sich dann vorher mit mir ab. Meist folgte Strauß seinem Votum. So entstand über Hädrich eine zwar unorthodoxe, aber verläßliche, gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Auswärtigem Amt und Atom-Ministerium. Ein weiterer Spitzenkönner der Unterabteilung 21 war Herbert MüllerRoschach. Seine Aufzeichnungen zeichneten sich durch unwiderlegliche Logik der Gedankenführung und Prägnanz der Sprache aus. Zugleich war er ein glänzender Redner. Später wurde er Botschafter in Marokko und in Portugal und danach Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt. In dieser Eigenschaft entvdckelte er, wie es seine Aufgabe war, selbständige Gedanken zur deutschen Außenpolitik. Insbesondere befürwortete er ein noch engeres Zusammengehen mit Frankreich. Wir haben damals manche Auseinandersetzung miteinander gehabt. Heute neige ich seiner Auffassung zu, was freilich nicht bedeutet, daß ich rückblickend seine Vorschläge schon für die damalige Zeit für richtig hahe. 197
МШ1ег-Ко8сЬасЬ hat nach seinem Ausscheiden aus dem auswärtigen Dienst ein Buch über die deutsche Europapolitik geschrieben®). Es ist eine der genauesten, sorgfähig dokumentierten Darstellungen, die ich kenne. Er stellt darin fest, daß die anfänglichen Hoffnungen, die Europäischen Gemeinschaften würden eines Tages zur politischen Union Europas führen, sich nicht erfüllt haben. Er empfiehlt, einen umfassenden politischen Zusammenschluß in einem kleineren Kreise von Staaten zu beginnen, ohne die Europäische Gemeinschaft anzutasten. Zu den weiteren Mitarbeitern in der Abteilung 2 des Auswärtigen Amtes gehörte Georg Graf von Baudissin, ein gleichfalls hoch befähigter Beamter von ungeheurer Arbeitskraft, eine Kämpfematur mit der Fähigkeit zu glänzender Formulierung. Er war für den Komplex NATO zuständig. Die grundsätzliche Frage der Integration bearbeitete mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und vorbildlicher Hingabe an die große Aufgabe Frau Ellinor von Puttkamer. Zu den damals jüngeren Mitarbeitern gehörte Otto Baron von Stempel, der seine Aufgabe mit großer Gewissenhaftigkeit und Objektivität wahrnahm. Schheßlich nenne ich Ulrich von Rhamm. Er leitete das Konferenzsekretariat, eine große, der Unterabteilung 21 angegliederte Arbeitseinheit, in der die technische Arbeit für die zahlreichen Konferenzen und Tagungen im Bereich der Europapolitik abgewickelt vmrden (Bestellung der Quartiere, Bestellung der Kraftwagen, Abrechnung der Reisekosten usw.). Von Rhamm, der dabei über große Geldsummen verfügte, genoß mein absolutes Vertrauen. An seiner Integrität, Verläßlichkeit und Genauigkeit bestand nie der leiseste Zweifel. Er hat später wichtige Auslandsposten, zuletzt den des Botschafters in Bangkok, bekleidet und sich dabei auch große Verdienste erworben. Von Rhamm verdanke ich darüber hinaus den Fahrer, der mich seit 1956 — mit Ausnahme der sechs Jahre, in denen mir kein behördlicher Dienstwagen zur Verfügung stand - bis 1991 gefahren hat: Christoph Wald, ein gebürtiger Dortmunder, die personifizierte Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit, immer hilfsbereit, wenn irgendwo Not am Mann ist, ohne jemals - darin ein echter Westfale — viele Worte zu machen. Dazu ist er ein vorzüghcher Kraftfahrer. Er hat mich etwa 1 Million Kilometer durch Deutschland und Europa gefahren. Niemals haben wir einen emsthaften Unfall gehabt. Zweimal hing allerdings unser Leben an einem dünnen Faden. Aber er meisterte die Situation. Zur Erteilung der Weisungen für die deutschen Unterhändler in Brüssel war ein interministerieller Arbeitsstab gebildet worden, dessen Vorsitzender ich war. Hier habe ich stundenlang mit den Vertretern der andern Ressorts über die von den deutschen Unterhändlern in Brüssel einzuschlagende Verhandlungslinie beraten. Eine bedeutende Rolle spielte bei diesen Gesprächen ebenso wie bei den Brüsseler Verhandlungen selbst der Ministerialdirektor im Bundesministerium für Wirtschaft Alfred Müller-Armack, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Köln, ein enger Vertrauter Ludwig Erhards. Müller-Armack vertrat die
Herbert Müller-Roschach, Die deutsche Europapolitik 1949-1977, Bonn 1980. 198
Synthese zwischen neoliberalen marktwirtschaftlichen Grundsätzen in der Wirtschaftspolitik und der Forderung nach sozialer Absicherung der Arbeitnehmer. Mit andern Worten, er vertrat die Soziale Marktwirtschaft, deren Begriff von ihm geprägt worden war. In den Verhandlungen über den EWG-Vertrag setzte er sich mit großem Nachdruck und mit Erfolg für eine Verstärkung der liberalen, marktwirtschaftlichen Komponenten ein. Vor allem gelang es ihm, die Außenhandelspolitik der künftigen EWG auf eine liberale Linie festzulegen (Artikel 110 E WG-Vertrag). Ich habe mit ihm hervorragend zusammengearbeitet, wenn wir auch gelegentlich Meinungsverschiedenheiten miteinander hatten. Ich fühlte mich, noch mehr als für einzelne noch so wichtige Aspekte, für das Gelingen des Ganzen verantwortlich. Für den EURATOM-B ereich arbeitete ich mit dem Ministerialdirigenten im Atom-Ministerium Ulrich Meyer-Cording zusammen, der später mein Kollege in der rechtsv\rissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln vioirde, ein hochbefähigter Sachkenner der schwierigen atomrechtlichen Materie. Mehrfach habe ich auch Gespräche mit Wolfgang Cartellieri, dem Staatssekretär im Atom-Ministerium geführt, den ich sehr hoch schätzte. Von Zeit zu Zeit nahm ich auch selbst an den Verhandlungen der Sechs in Brüssel teil und lernte dort viele hervorragende Politiker und Beamte der andern fünf Länder kennen. Besonders eng waren meine Kontakte mit Paul Henri Spaak, Maurice Faure, Robert Marjolin, Olivier Wormser und dem französischen Botschafter in Bonn Maurice Couve de Murville, mit dem ich mehrfach zusammentraf, wenn sich im deutsch-französischen Verhältnis Schwierigkeiten bei den Vertragsverhandlungen ergaben. Diese persönlichen Beziehungen haben über Jahrzehnte bestanden. Ich habe in den 11 Jahren meiner Zugehörigkeit zum Auswärtigen Amt ein sehr großes Arbeitspensum bewältigt. Außer meinen Vorlesungen an der Universität Köln und einigen vñssenschaftlichen Abhandlungen, die ich in dieser Zeit schrieb, habe ich meine volle Arbeitskraft in den Dienst unserer auswärtigen Politik gestellt. Zwölf Stunden Arbeit pro Tag waren die Regel. Dazu kamen viele, meist anstrengende, weil zeitlich knapp bemessene Reisen ins Ausland. Trotzdem habe ich die Zeit genossen. Sie hat mir auch für meine künftigen Aufgaben eine große Sicherheit in der Beurteilung internationaler Vorgänge vermittelt.
Vom Schuman-Plan zum Spaak-Bericht Als ich die Leitung der Unterabteilung 21, also die Verantwortung für die Europapolitik innerhalb des Auswärtigen Amtes übernahm, bestand nur die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sogenannte Montanunion, mit Sitz in Luxemburg®). Sie war, gemessen an der Langsamkeit, in der sich die Europäische Einigung heute vollzieht, in einem D-Zug-Tempo entstanden. Am 8. Mai 1950 ging der Brief Robert Schumans, mit dem dieser die Bildung einer β) Siehe hierzu auch Kap. V S. 175 ff.
199
Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft vorschlug, in Bonn ein. Noch am selben Tag nahm Adenauer den Vorschlag an'). Zehn Monate später, am 18. April 1951, wurde der fertige Vertrag unterzeichnet, und das war wahrhaftig ein Vertrag von tiefgreifender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Die Gemeinschaft wurde mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet. Sie konnte u. a. unmittelbar in den Produktionsprozeß bei Stahl und Kohle eingreifen, Produktionsbeschränkungen verhängen, Preise festsetzen und anderes mehr. Diese Befugnisse übte eine supranationale europäische Instanz aus, an deren Spitze Jean Monnet, eine der großen schöpferischen Persönlichkeiten der Nachkriegsepoche, stand. Sein Stellvertreter war Franz Etzel, bisher Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag, ebenfalls ein engagierter Europäer, später Bundesminister der Finanzen in Bonn und lange als möglicher Nachfolger Adenauers im Gespräch. Die Montanunion sollte nach dem Willen ihrer Gründer der Anfang einer weiteren europäischen Integration sein. Schon vor Unterzeichnung des Vertrages begannen im Januar 1951 die Verhandlungen über den nächsten, noch bedeutsameren Schritt, die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)"). Langwierige schwierige Verhandlungen führten zwar zur Unterzeichnung eines Vertrages am 27. Mai 1952. Aber das Projekt scheiterte letzten Endes am Widerstand Frankreichs. Die dadurch entstandene Krise wurde auf zweifache Weise überwunden. Zunächst wurde eine Lösung für den militärischen Komplex gefunden: Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Nordatlantischen Bündnis bei. Sie stellte eigene nationale Streitkräfte auf, die in die Verteidigungsorganisation des Bündnisses integriert wmrden. Sie trat außerdem dem Brüsseler Pakt, jetzt Westeuropäische Union genannt, bei und verpflichtete sich, bestimmte Waffen nicht herzustellen. Der zweite Weg zur Überwindung der europäischen Krise galt der Fortsetzung der europäischen Einigungspolitik zvdschen den sechs Miedgliedstaaten der Montanunion. Die EVG war nicht deswegen gescheitert, weil Frankreich sich von dem Ziel der europäischen Einigung grundsätzlich abgewandt hatte. Nur seine nationale Armee wollte es nicht in eine supranationale Organisation einbringen mit der Folge, daß es die Kontrolle über seine eigenen Streitkräfte verloren hätte. Zu weiteren Schritten der Integration auf anderen Gebieten war Frankreich durchaus bereit, zumal seit 1956 in Paris eine europafreundliche Regierang unter Ministerpräsident Edgar Faure und Außenminister Christian Pineau am Ruder war. So kam es zu der Konferenz von Messina am 1. und 2. Juni 1955. Hier einigten sich die Außenminister der sechs Mitgliedstaaten der Montanunion auf einen weiteren bedeutungsvollen Schritt der europäischen Integration. Messina ist der Geburtsort, und der 2. Juni 1955 ist der Geburtstag der Europäischen ') Siehe Faksimile des Schreibens Schumans an Adenauer vom 7. Mai 1950 in ADENAUER, Briefe 1 9 4 9 - 1 9 5 1 S. 210 f. Vgl dazu auch ADENAUER Bd. 1 S. 327, BLANKENHORN S. 102 und KABINETTSPROTOKOLLE Bd. 2 (1950) S. 381 (12. Mai 1950). ») Siehe hierzu Kap. V S. 163 ff. 200
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). Diese beiden Gemeinschaften sollten den wirtschaftlichen Bereich über die schon integrierte Kohle- und Stahlindustrie hinaus erfassen. Die nationalen Wirtschaften sollten fusioniert, ein gemeinsamer Markt, frei von Binnenschranken und durch einen gemeinsamen Außenzolltarif geschützt, sollte geschaffen werden. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten sollte schrittweise harmonisiert werden. Auch sollte eine gemeinsame europäische Organisation die friedliche Entwicklung der Atomenergie in die Hand nehmen. Zur Vorbereitung dieses gewaltigen Projekts beriefen die sechs Außenminister in Messina ein Komitee von Regierungsdelegierten unter dem Vorsitz des belgischen Außenminister Paul Henri Spaak. Als ich die Leitung der Unterabteilung 21 im Auswärtigen Amt übernahm, waren die Verhandlungen des Spaak-Komitees in vollem Gange. Sie endeten im April 1956 mit der Vorlage eines Berichts der Delegationsleiter an die Außenminister, dem sogenannten Spaak-Bericht®), der die Grundlage für EWG und EURATOM bildete. Er enthielt konkrete Vorschläge zu fast allen später in den Römischen Verträgen behandelten Fragen. Es ist ein Werk von größter Bedeutung für den Fortgang der europäischen Integration. An der Abfassung dieses Berichts haben die Delegationsleiter der sechs Mitgliedstaaten (für die Bundesrepublik Deutschland Carl Friedrich Ophüls, für Belgien Baron Jean Charles Snoy et d' Oppuers, für Frankreich Félix Gaillard, für Italien Lodovico Benvenuti, für Luxemburg Lambert Schaus und für die Niederlande Gerard Marius Verrijn Stuart) großen Anteil. Sehr wichtig war die Rolle Spaaks, der als Vorsitzender des Ausschusses immer wieder schlichtend eingriff. Aber das entscheidende Verdienst an dem Zustandekommen des Berichts haben Hans von der Groeben und Pierre Uri. Es war eine glückliche Idee, diese beiden Männer zusammenzuspannen, einen Deutschen und einen Franzosen, einen Anhänger eines liberalen marktwirtschaftlichen Konzepts und den Befürworter einer Wirtschaftspolitik, die stark durch planwirtschaftliche Tradition geprägt war. Von der Groeben, mit dem ich jahrelang eng zusammengearbeitet habe, hat sich auf deutscher Seite außerordentliche Verdienste um die europäische Einigung erworben. Er stand dabei manchmal im Gegensatz zu seinem Minister Ludwig Erhard, aber er hielt unter Berufung auf die Richtlinienentscheidung des Bundeskanzlers stand. Er hat dabei viele Beweise nicht nur hoher intellektueller und schöpferischer Leistungskraft, sondern auch großer charakterlicher Festigkeit gegeben. Die Arbeit, die von der Groeben und Uri geleistet haben, verdient höchste Anerkennung. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte eröffneten sie eine gangbare Perspektive für einen freiwilligen wirtschaftlichen Zusammenschluß souveräner Staaten. Sie schilderten die Vorteile, die sich daraus für alle BeteUigten ergeben würden: Ein großer gemeinsamer Markt v\ürde eine Rationalisierung der Produktion, die Anwendung modernster technischer Verfahren, die Am 21. April 1956 vom Sekretariat des Regierungsausschusses in Brüssel veröffentlicht. Siehe DOKUMENTE ZUR AUSWÄRTIGEN POLITIK Nr. 4 vom 5. Juli 1956 S. 1 - 9 6 . 201
Produktion von Großserien ermöglichen und damit die Voraussetzung für größeren Wohlstand, einen höheren Lebensstandard, aber auch für ein engeres politisches Zusammengehen der beteiligten Staaten schaffen. Sie legten überzeugend dar, daß die Wirtschaftsgemeinschaft sich nicht auf eine Zollunion, d. h. auf die Beseitigung der Zölle im Innern und die Herstellung eines gemeinsamen Außenzolltarifs gegenüber dritten Staaten beschränken dürfe, sondern daß alle sonstigen Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten ebenfalls beseitigt werden müßten, daß zu dem Zweck die Wettbewerbsregeln und andere Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten einander angeglichen werden müßten. Sie erkannten, daß der Binnenmarkt sich nicht nur auf Waren erstrecken dürfe, sondern daß das Prinzip der Freizügigkeit auch für Arbeitnehmer, Unternehmer, für Dienstleistungen und für den Kapitalverkehr gelten müsse. Doch die Verwirklichung der damals geforderten allgemeinen Freizügigkeit Heß länger auf sich warten, als man seinerzeit erhofft hatte. Erst mit der Vollendung des Europäischen Binnenmarktes ab I.Januar 1993 sollen die einst im Spaak-Bericht genannten Empfehlungen verwirklicht werden. Der Spaak-Bericht lag der nächsten Konferenz der sechs Außenminister in Venedig am 30. Mai 1956 vor. An dieser Konferenz nahm ich teil. Sie ist mir unvei^eßlich, vor allem auch wegen ihres glänzenden Rahmens. Meine Frau und ich fuhren im Wagen von Bonn nach Venedig. Herr Wald fuhr uns. Vome saß Fräulein Bemer. Wir wohnten in dem prachtvollen Hotel Bauer-Grünewald mit Balkon vor unserem Zimmer und dem Blick auf Canale Grande und St. Giorgio. Die italienische Regierung gab einen glanzvollen Empfang. Demgegenüber ist die Erinnerung an die Verhandlungen am Konferenztisch, die der französische Außenminister Pineau leitete, bei mir leider etwas verblaßt. Sie waren sicher nicht dramatisch. Man einigte sich vielmehr schnell darauf, daß der Spaak-Bericht die Grundlage für das weitere Vorgehen bilden sollte und beschloß nunmehr die Einberufung einer Konferenz von Beamten, die unter dem Vorsitz von Spaak die förmlichen Verhandlungen über die Errichtung eines allgemeinen gemeinsamen Marktes und einer Organisation zur gemeinsamen Verwertung der Atomenergie aufnehmen sollte. Als ein schvderiger Punkt erwies sich schon in Venedig die Frage, welche Beziehung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den überseeischen Gebieten ihrer Mitgliedsländer, vor allem Frankreichs, hergestellt werden sollte. Diese Frage wurde auf eine spätere Konferenz vertagt. Alles in allem war die Konferenz von Venedig ein voller Erfolg. Es war die zweite Konferenz nach der Konferenz von Messina, die ebenfalls auf italienischem Boden stattfand. Die dritte Konferenz, die alles krönte, fand im März 1957 anläßlich der Unterzeichnung der Europäischen Verträge wiederum in Italien, und zwar in Rom statt. Daher werden EWG- und EURATOM-Vertrag bis heute die „Römischen Verträge" genannt. Die Wahl italienischer Städte als Tagungsorte der Außenministerkonferenzen der Sechs war ein Tribut an die immer hilfreiche Rolle, die Italien beim Zustandekommen der Europäischen Verträge gespielt hatte. Vielfach fanden italienische Diplomaten die rettenden Kompromisse. Aber die Wahl dieser drei 202
Städte sollte auch deutlich machen, wo die geistige Wiege Europas gestanden hatte. Die Krise im Herbst 1956 Nach der Konferenz von Venedig gingen die Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt und die Atomgemeinschaft zunächst zügig voran. Doch dann stockten sie. Vor allem die Harmonisierung der Sozialpolitik der sechs Mitgliedstaaten erwies sich als äußerst schwierig. Frankreich vertrat plötzlich den Standpunkt, man solle das Projekt des Gemeinsamen Marktes zeitlich hinausschieben und das EURATOM-Projekt vorab in Kraft treten lassen, um dadurch einen sichtbaren neuen Schritt auf dem Wege der europäischen Integration zu tun, ohne der französischen Wirtschaft schon gleich die Risiken eines freien Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt aufzubürden. In Deutschland war die Beurteilung genau umgekehrt. Die Bundesregierung ebenso vwe die interessierten Wirtschaftskreise erhofften sich von dem Gemeinsamen Markt einen starken Impuls in Richtung auf eine Verschmelzung der Volksvñrtschaften und damit auch auf eine politische Einigung Europas, während das EURATOM-Projekt von vielen Deutschen skeptisch bewertet wurde. Es handelte sich bei diesen Auseinandersetzungen vorwiegend um einen deutsch-französischen Gegensatz. Die anderen Partnerstaaten neigten in Fragen, die den Gemeinsamen Markt betrafen, eher der deutschen Position zu, während sie umgekehrt in den EURATOM betreffenden Fragen Sympathie für den französischen Standpunkt zeigten. Im einzelnen betraf die Kontroverse folgende Punkte: Die Franzosen forderten, daß bestimmte soziale Bereiche harmonisiert sein müßten, bevor der Gemeinsame Markt endgültig geschaffen vdirde. Sie nannten dies „Harmonisierung der sozialen Lasten". Darunter verstanden sie u. a. eine Angleichung der Arbeitslöhne, eine einheitliche Regelung der wöchentlichen Arbeitszeit und eine einheitliche Festlegung der Überstundenzuschläge in allen Gemeinschaftsstaaten. Frankreich stand damals auf dem Standpunkt, daß sein soziales System fortschrittlicher als das der übrigen Mitgliedstaaten sei und daß daraus der französischen Wirtschaft Lasten erwüchsen, die sie im Wettbewerb mit den anderen Mitgliedstaaten benachteiligten. Die deutsche Regierung lehnte diese französischen Forderungen ab, u. a. mit der Begründung, daß es sich um Regelungen handele, die in Deutschland von den autonomen Tarifpartnem zu treffen seien. Die Franzosen beanspruchten femer für sich das Recht, bestimmte Exportbeihilfen und Importsteuern, die den Wettbewerb der französischen Wirtschaft gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz erleichterten, auch nach der Errichtung des Gemeinsamen Marktes beizubehalten. Die deutsche Regierung sah in dieser französischen Forderung einen Verstoß gegen das Grundprinzip des Gemeinsamen Marktes und lehnte sie daher ebenfalls ab. Frankreich wollte auch das Recht haben, bei schweren Zahlungsbilanzkrisen einseitig Schutzklauseln in Ansprach zu nehmen, mit deren Hilfe die Ein203
fuhren nach Frankreich beschränkt werden konnten. Die deutsche Regierung stand dieser Forderung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, wünschte aber Sicherungen gegen einen Mißbrauch. Eine Außenministerkonferenz in Paris am 20. und 21. Oktober 1956, auf der man versuchte, zu einer Einigung zu kommen, scheiterte'"). Auf deutscher Seite nahmen außer dem Außenminister von Brentano die Bundesminister Erhard und Strauß (damals Atom-Minister) teil. Erhard und Strauß vertraten kompromißlos den deutschen Standpunkt. Brentano, der eine vermittelnde Position einnahm, konnte sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen. Nach der Sitzung frohlockte Erhard. Er, der im Grunde seines Herzens ein Gegner des EWG-Vertrages war, sah, wie viele andere auch, den Vertrag als gescheitert an. In einer Besprechung am Abend, die im Hotel Bristol stattfand, meinte er, man solle einen neuen Vertragsentwurf von nur 15 Artikeln herstellen, einen allgemeinen Rahmen festlegen und alles weitere der Entwicklung überlassen. Das Häuflein derer, die in diesem Augenblick noch an das Gelingen der EWG glaubten und die bereit waren, sich für das Projekt einzusetzen, war klein geworden. Hallstein gehörte dazu, Etzel, von der Groeben, Ophüls, Hartlieb und ich selbst. In der abendlichen Runde im Hotel Bristol trat Groeben Erhard mit bemerkenswertem Mut entgegen. Aber das Gespräch endete ergebnislos. In Bonn befaßten wir sofort Adenauer mit der Sache. Wir machten ihm klar, was auf dem Spiele stand. Nur er konnte über den Kopf der Ressortminister hinweg die EWG noch retten. Er wurde gewonnen und entschied sich für einen Besuch in Paris, bei dem er den Versuch machen wollte, über die strittigen Fragen zunächst zwischen Deutschland und Frankreich eine Einigung zu erzielen. Der Termin wurde auf den 6. November festgesetzt. In jenen Tagen v^oirde die Welt durch zwei Ereignisse von großer politischer Tragweite erschüttert. England, Frankreich und Israel unternahmen einen bewaffneten Vorstoß gegen Ägypten, um Nasser zu stürzen oder ihn zumindest zu einer nachgiebigeren Haltung in der Suez-Frage zu veranlassen. Nasser hatte den Suez-Kanal enteignet. Er weigerte sich, die Vorschläge, die ihm eine Konferenz der den Kanal benutzenden Staaten unterbreitet hatte, zu akzeptieren. Er trotzte der vereinigten Macht Englands und Frankreichs, die ihn nun gemeinsam mit Israel in die Knie zwingen wollten. Um die gleiche Zeit erhob sich das ungarische Volk und schüttelte innerhalb weniger Tage die kommunistische Herrschaft ab. Die neue Regierung unter Imre Nagy löste sich aus dem Warschauer Pakt und suchte Anschluß an den Westen zu gewinnen. Am Abend des 5. November 1956, als Adenauer mit seiner Begleitung den Sonderzug nach Paris bestieg, war in beiden Krisen ein Umschwung zum Nachteil des Westens eingetreten, und zwar in beiden Fällen durch ein Eingreifen der Sowjets.
Vgl. Europa-Archiv 1956 S. 9401. 204
Die sowjetische Regierung hatte von der französischen und von der britischen Regierung die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen in Ägypten verlangt und mit militärischem Eingreifen gedroht, falls ihrer Forderung nicht entsprochen würde. „Wir sind fest entschlossen, durch Gewaltanwendung die Aggressoren zu zerschlagen und den Frieden im Nahen Osten wieder herzustellen", hieß es in dem Brief von Bulganin an den französischen Ministeφräsidenten Guy MoUet vom 5. November 1956. In dem Brief Bulganins an Eden war sogar von der Möglichkeit des Einsatzes sowjetischer Atomwaffen die Rede. „Wie wäre die Lage Englands, wenn es selber von stärkeren Staaten überfallen würde, die über alle Arten modemer Vernichtungswaffen verfügen? Solchen Ländern wäre es ja heutzutage möglich, von der Entsendung von See- und Luftstreitkräften zur Küste Englands abzusehen und andere Mittel, z. B. Raketentechnik, einzusetzen")." In Ungarn hatte die sowjetische Armee eingegriffen. Der Aufstand war im Begriff zusammenzubrechen. Auch eine beschwörende Botschaft Eisenhowers an Bulganin vom 4. November 1956 änderte an der Lage nicht einen Deut: „Ich beschwöre Sie im Namen der Menschheit und des Friedens, daß die Sowjetunion unverzüglich die sowjetischen Truppen aus Ungarn zurückzieht")." Während der Reise Adenauers nach Paris in der Nacht zum 6. November traf im Sonderzug eine Meldung des Bundesnachrichtendienstes ein, wonach die Sowjets größere Truppenmassen an der tschechisch-bayerischen Grenze zusammenzogen. Die gedrückte Stimmung, die schon vorher geherrscht hatte, verdüsterte sich noch mehr. Der einzige, der völlig gelassen blieb, war Adenauer selbst. Er erklärte, da man jetzt doch nichts machen könne, sei es wohl das Beste, zu Bett zu gehen^'). Und das tat er. Er schlief prächtig, während Brentano und die übrigen Begleiter stundenlang diskutierten und überlegten, was nun zu tun sei. Im Grunde waren sie über die anscheinende Gleichgültigkeit Adenauers entrüstet. Als der Sonderzug am nächsten Morgen in Paris einlief, stand ich am Bahnhof. Ich war zur Vorbereitung der Gespräche schon zwei Tage zuvor nach Paris gereist. Nun konnte ich Adenauer und Brentano mit der guten Nachricht begrüßen, daß die nächtliche Meldung über sowjetische Truppenzusammenziehungen an der bayerischen Grenze falsch war. Es handelte sich, wde inzwischen festgestellt worden war, um normale Bewegungen kleinerer Verbände. Adenauer meinte, er hätte wohl gut daran getan, die gestrige Nachricht erst einmal zu überschlafen; aber abgesehen von diesem Lichtblick blieb die Gesamtlage äußerst bedrückend, und wir alle sahen mit großer Sorge den bevorstehenden Gesprächen mit der französischen Regierung entgegen.
" ) Siehe Europa-Archiv 1956 S. 9447. Botschaft abgedruckt in Europa-Archiv 1956 S. 9391. Adenauers Erklärung, daß man im Augenblick nichts unternehmen könne, traf zu, da der Sonderzug der Bundesregierung damals zwar Einrichtungen zum Empfang, nicht aber zum Absenden von Nachrichten während der Fahrt hatte. 205
Diese begannen am 6. November um 10.00 Uhr im Hotel Matignon, dem Amtssitz des französischen Ministerpräsidenten. Guy Mollet begrüßte den Bundeskanzler mit einem so ernsten Gesicht, daß wir regelrecht erschraken. Die französische Regierung hatte die Nacht in endlosen Beratungen zugebracht. Wie sollte man auf die sowjetische Drohung reagieren? London schien zum Abbruch der Suez-Aktion entschlossen. Die USA, die das Vorgehen Englands und Frankreichs von Anfang an mißbilligt hatten, vränschten offenbar auch, daß das militärische Unternehmen in Ägypten abgebrochen würde, waren aber andererseits bereit, Frankreich und England gegen die Drohung der Sowjetunion zu schützen. Obwohl sie fast die ganze Nacht beraten hatte, war sich die französische Regierung am Morgen des 6. November über den einzuschlagenden Kurs noch nicht im Klaren. Bleich und übemächtigt saßen Guy Mollet und Außenminister Pineau vor uns. Nie wieder ist mir so sinnfäUig vor Augen geführt worden, was eine atomare Erpressung für die Regierung eines nichtatomaren Landes, wie Frankreich es im damahgen Zeitpunkt war, bedeutet. Die in einer solchen Situation zu treffenden Entscheidungen gehen bis an die Grenze menschlicher Kraft. Aber für die E WG-Verhandlungen erwies sich die sowjetische Drohung als hilfreich. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sehr der sowjetische Druck die europäische Einigung gefördert hat. Vielleicht ist es das schlagendste Beispiel von allen. Adenauer und Guy Mollet waren sich nach kurzer Beratung über zwei Dinge einig: Sie selbst wollten ihre Unterhaltungen auf die großen politischen Probleme konzentrieren. Demgegenüber wirkten die in den EWG-Verhandlungen noch offen gebliebenen Fragen zweitrangig, während die Bedeutung der EWG als eines kraftvollen europäischen Zusammenschlusses gerade in der politischen Misere dieses Tages um so deutlicher wurde. Es gab angesichts der Rückschläge, die die europäischen Staaten in diesen Stunden in Ägypten und Ungarn erlitten, kein wichtigeres Ziel als die europäische Einigung. Eine unvergeßltche Verhandlung Da Adenauer und Guy Mollet keine Zeit hatten, die komplizierten Einzelfragen des EWG-Vertrages selbst zu diskutieren, wurden auf französischer Seite Robert Marjolin und auf deutscher Seite ich beauftragt, über die strittig gebliebenen Punkte zu verhandeln. Die einzige Marschroute, die man uns mitgab, lautete, wir müßten uns bis zum Abend desselben Tages geeinigt haben. Nun zogen sich Marjolin und ich, jeder begleitet von einer Reihe hoher Beamter, in den Quai d'Orsay zurück und begannen eine Verhandlung, die unter allen internationalen Begegnungen, an denen ich teilgenommen habe, aus vier Gründen in meiner Erinnerung einen exzeptionellen Platz einnimmt: — Niemals vorher oder hinterher hatte ich so umfassende, man könnte fast sagen unumschränkte Vollmachten, — niemals hat eine Verhandlung, an der ich teilgenommen habe, in so kurzer Zeit eine so vollständige Einigung ergeben, 206
- niemals waren die Umstände dramatischer, — niemals hatte ich einen faireren Partner. Marjolin und ich waren von der Überzeugung durchdrungen, daß wir im Falle einer Einigung der europäischen Sache einen großen Dienst erweisen könnten, daß aber im andern Falle die Konsequenzen verheerend sein würden. Keiner von uns versuchte, diese Situation für ungerechtfertigte Vorteile auszunutzen, während wir beide entschlossen waren, an den Positionen festzuhalten, die nach unserer Meinung für uns unverzichtbar waren. Wir spielten also beide vom ersten Augenblick an mit offenen Karten. Die Einigung gelang. Gegen 2 Uhr morgens verständigten wir uns über den letzten strittigen Punkt. Teilnehmer dieser denkvrärdigen Sitzung, denen für ihre Mitwirkung an dem Ergebnis großer Dank gebührt, waren auf deutscher Seite vor allem Ophüls und von der Groeben. In der besonders schwierigen Frage der sogenannten Harmonisierung der Sozialpolitik einigten wir uns auf die folgende Formel: „Die hohen vertragschließenden Teile halten es übereinstimmend für notwendig, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der werktätigen Bevölkerung zu fördern, die deren Angleichung nach oben ermöglichen. Sie sind der Auffassung, daß sich eine solche Entwicklung ebenso aus der Wirkungsweise des Gemeinsamen Marktes selbst, der die Harmonisierung der sozialen Systeme begünstigt, ergeben wird wie aus den Verfahren, die im gegenwärtigen Vertrag vorgesehen sind und aus der Annäherung der in Frage kommenden Gesetzgebung." Wir erklärten also, daß nach unserer Ansicht die Entwicklung im Gemeinsamen Markt bis zum Ende des ersten Abschnitts gewissermaßen von selbst zu einer Angleichung der Wochenarbeitszeit und der Überstundenzuschläge auf dem derzeitigen hohen französischen Niveau führen v^rürde. Sollte das aber nicht der Fall sein, dann sollte Frankreich eine Schutzklausel gegen billige Importe aus den übrigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in Anspruch nehmen können. In dem von Marjolin und mir erarbeiteten Papier verpflichtete sich Frankreich weiter, seine bisher gewährten Ausfuhrbeihilfen und Einfuhrabgaben abzubauen und über den jeweiligen Stand der Europäischen Gemeinschaft zu berichten. Frankreich stimmte auch zu, daß der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft die Aufhebung des französischen Systems der Beihilfen und Abgaben sollte beschließen können, wenn sich die laufende französische Zahlungsbilanz ein Jahr im Gleichgewicht befunden habe und die Währungsreserven eine befriedigende Höhe erreicht hätten. Wie so oft bei internationalen Verhandlungen bewahrheitete sich auch hier die Erfahrung, daß manche Regelungen, um die am heftigsten gerungen wird, später an Gewicht verlieren und gar nicht zur Anwendung kommen, ein Beispiel für die mangelnde prognostische Kraft des Menschen. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, daß die Entwicklung in Algerien im Jahre 1956 die französische Lage noch schwer belastete. Nach dem Inkrafttreten der Römischen Verträge besserte sich die wirtschaftliche Situation in Frankreich nicht zuletzt durch die Lösung der Algerien-Frage durch de Gaulle so nachhaltig, daß die für Frankreich vorgesehenen Schutzklauseln nicht angewendet zu werden brauch207
ten. Darüber hinaus konnte mit Zustimmung Frankreichs der Abbau der Binnenzölle innerhalb des Gemeinsamen Marktes sogar schneller und die erste Angleichung der nationalen Zolltarife an den gemeinsamen Außenzolltarif der Gemeinschaft eher durchgeführt werden, als dies im Vertrag vorgesehen war. Im Bereich von EURATOM erklärte ich mich mit dem Prinzip der zentralen Versorgung durch eine europäische Agentur einverstanden. Jedoch sollten die Mitgliedstaaten ihren Bedarf aus Ländern außerhalb der Gemeinschaft dann decken können, wenn die Agentur zur Deckung des Bedarfs nicht in der Lage sein vrärde oder wenn die Lieferbedingungen oder die Preise der Agentur mißbräuchUch sein würden. Dieses Versorgungssystem sollte einer periodischen Überprüfung unterliegen. Am nächsten Morgen billigten Adenauer und Mollet die in der Nacht von Marjolin und mir erarbeiteten Vorschläge. Was den Suez-Konflikt anlangt, so wiesen die britische und die französische Regierung noch im Laufe des 6. November ihre Befehlshaber an, die militärischen Operationen in Ägypten einzustellen. Nach vorliegenden Pressemeldungen hat sich Adenauer gegenüber Mollet gleichfalls für eine sofortige Feuereinstellung in Ägypten ausgesprochen. In ihrem gemeinsamen Schlußkommuniqué") gaben beide Regierungschefs ihrer Empörung über die totale Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfes Ausdruck. Sie beklagten die ungenügende Zusammenarbeit der Westmächte und forderten ein höheres Maß an Solidarität. Tatsächlich hatten die Sowjets auf beiden Schauplätzen, in Ägypten und in Ungarn, einen vollen Erfolg erzielt. Zu den Europa-Verhandlungen hieß es in dem Kommuniqué: „Die beiden Regierungschefs hatten weiterhin eine sehr befriedigende Aussprache über die EURATOM und den Gemeinsamen Markt betreffenden Probleme, deren Ergebnis nach BiUigung durch die andern an der Brüsseler Konferenz beteiligten Delegationen die Überwindung der Schwierigkeiten ermöglicht, die bei der Konferenz der Außenminister am 20. und 21. Oktober zutagegetreten waren." Adenauer kehrte, befriedigt über das Ergebnis seines Besuchs, nach Bonn zurück. Auch die Presse gab dieser Stimmung Ausdruck: „Weitgehende Einigung in Paris"^®), „Der Kanzler tief befriedigt"^®), „Einigung über Europa-Politik bei Treffen Adenauer/Mollet"^'), „Wieder grünes Licht für Europa""). In einer großen Rede vor dem Deutschen Bundestag vom 8. November 1956 berichtete Adenauer über seine Pariser Reise^®). Er machte deutlich, daß die Bundesregierung nicht hinter der militärischen Aktion Frankreichs und Großbritanniens in Ägypten gestanden hatte. „Es kam zu kriegerischen Handlungen, die wir bedauern, da vwr überzeugt sind, daß auch legitime Ziele der Politik nicht
" ) BULLETIN vom 8. Nov. 1956 S. 2009. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Nov. 1956. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Nov. 1956. " ) Die Welt vom 7. Nov. 1956. Le Monde vom 19. Nov. 1956. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 32 S. 9259.
208
mit Waffengewalt verwirklicht werden sollten." Er rechtfertigte den Zeitpunkt seiner Reise, der von der SPD kritisiert worden war, weil der Eindruck hätte entstehen können, als wenn die Bundesregierung eine Aggression unterstütze. Das Ergebnis seiner Reise, so sagte Adenauer, zeige, daß es richtig gewesen sei zu fahren. Er sei von seinen Pariser Gesprächen sehr befriedigt. „Wir haben Ratschläge erteilt und Ratschläge entgegengenommen." „Seit Jahren bemüht sich die Bundesregierung, die letzten Zweifelnden von der Notwendigkeit einer engen und unverbrüchhchen Zusammenarbeit der europäischen Völker zu überzeugen. Nur wenn wir dieses Ziel rasch und entschlossen verwirklichen, werden v«r vor der Geschichte unserer Völker bestehen können." Adenauer wies die an den Brüsseler Verhandlungen beteiligten Ressorts der Bundesregierung unverzüglich an, die Verhandlungen auf der Brüsseler Regierungskonferenz anhand der zwischen ihm und Guy Mollet vereinbarten Texte wieder aufzunehmen. In den folgenden Wochen gelang es auf dieser Grandlage, in Brüssel zu allen bis dahin strittigen Fragen übereinstimmende Regelungen zwischen allen sechs Partnern zu finden. Fortan herrschte in Brüssel die Uberzeugung, das große Einigungswerk werde gelingen. Zwar war die Herbstkrise 1956 nicht die letzte Krise in den Europa-Verhandlungen. Im Frühjahr 1957 kam es noch einmal zu einer sehr schwierigen Auseinandersetzung über die Frage der Assoziierang der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete, welche damals der Hoheitsgewalt Frankreichs, Italiens und der Niederlande unterstanden. Aber die schwerste Krise der Verhandlungen über EWG und EURATOM war die des Herbstes 1956. Sie wurde durch Adenauers persönliches Eingreifen überwunden. Er spürte die weltgeschichtliche Bedeutung des Augenbhcks und griff zu. Angesichts der tragischen Ereignisse in Ungarn und der drohenden sowjetischen Haltung gegenüber Großbritannien und Frankreich wäre es absurd gewesen, wenn die Einigung Europas an der Frage der Bezahlung der Uberstunden gescheitert wäre. 1956, wie auch früher und später, hat die sowjetische Politik unzweifelhaft eine starke Hebelwirkung auf den europäischen Einigungsprozeß ausgeübt und ihn dadurch gefördert. Dies festzustellen hindert nicht, die große politische Leistung Adenauers zu würdigen, dem das Ziel der Einigung Europas unverrückbar vor Augen stand und der die Gabe besaß, Probleme in der richtigen Dimension zu sehen, die wichtigen Dinge wichtig zu nehmen und die sekundären Fragen auf den zweiten Platz zu verweisen. Für ihn war die dauerhafte politische Einigung Europas das wichtigste Ziel. Den wirtschaftlichen Zusammenschluß sah er als eine Etappe auf dem Weg zu diesem Ziel an. Vertragshindernisse Durch das Treffen Adenauer/Guy Mollet am 6. und 7. November 1956 waren die ins Stocken geratenen EWG-Verhandlungen wieder flott geworden. Bei der nächsten Krise im Febraar 1957, die die Assoziierang der überseeischen Gebiete betraf, war die Lage anders als im Herbst 1956. Im Febraar 1957 glaubte man wieder allgemein an das Zustandekommen des Gemeinsamen Marktes. Die 209
inneren Widerstände, vor allem in Deutschland, waren überwunden. Die Zahl derer, die das Projekt unterstützten, war mittlerweile wieder so angewachsen, daß man die wahren und die falschen Freunde nur noch mit Mühe unterscheiden konnte. Eine wirkliche Gefahr bildete der Assoziierungskomplex, so schwierig und kostspielig er war, daher nicht. Vor allem die Franzosen, aber auch die Belgier und die Holländer verlangten, daß im EWG-Vertrag die Beziehungen der Gemeinschaft mit den Gebieten geregelt werden müßten, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Mitgliedstaaten standen. Ich werde sie im folgenden „Überseeische Gebiete" nennen. Der EWG-Vertrag spricht meist von „Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten". Es handelte sich insbesondere um Französisch-Westafrika, FranzösischÄquatorialafrika, Togo, Kamerun und eine größere Anzahl von Inseln, über die Frankreich die Hoheitsgewalt ausübte, vor allem um Madagaskar und Neukaledonien sowie um Belgisch-Kongo und Ruanda/Burundi, um Somaliland und Niederländisch-Neuguinea. Dagegen betrachteten die Franzosen Algerien und einige überseeische Departements wie Réunion, Guayana und Martinique nicht als von Frankreich abhängige Gebiete, sondern als Teil Frankreichs. Auf sie sollten daher die Bestimmungen des EWG-Vertrages selbst mit einigen Ausnahmen unmittelbar Anwendung finden. Für die abhängigen überseeischen Gebiete stellte Frankreich eine Reihe von Forderungen. Sie sollten ihre Produkte zu angemessenen Preisen auf dem Gemeinsamen Markt absetzen können, und die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sollten sich an den notwendigen Investitionen in den überseeischen Gebieten beteiligen, jedoch unter Wahrung der französischen Hoheitsrechte in jedem Gebiet. Vor allem die deutsche Delegation erhob gegen beide Forderungen Einwände. Absatzgarantien zu festen Preisen widersprachen unserer Auffassung von Marktwirtschaft. Und was die Investitionen betraf, so waren wir zwar bereit, unseren Beitrag zu leisten, verlangten aber, daß die Bevölkerung der in Frage kommenden Gebiete unmittelbar an den Entscheidungen über die Investitionen beteiligt würde. Wir wollten verhindern, daß die EWG mit der bisherigen Kolonialpolitik der europäischen Mutterländer identifiziert werden konnte. Dabei kam uns zustatten, daß Deutschland keine Kolonien mehr besaß und aus diesem Grunde besonderes Ansehen in der Dritten W e h genoß. Wir wollten dieses Ansehen nicht aufs Spiel setzen. Auch gingen wir davon aus, daß die überseeischen Gebiete früher oder später selbständig werden wrürden und wollten sicherstellen, daß für diesen Fall die Beziehungen zur EWG ungetrübt fortgesetzt werden konnten. Das war nur möglich, wenn man sich von vornherein der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung zu allen Maßnahmen der EG vergewisserte. In dieser Frage kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Als ich einmal davon sprach, daß wir Deutschen von der künftigen Unabhängigkeit der jetzt noch abhängigen Gebiete ausgingen, erwiderte mir Spaak mit großer Schärfe, in den betreffenden Gebieten denke bisher kein Mensch an Unabhängigkeit. Die Deutschen möchten bitte aufhören, dauernd davon zu sprechen. 210
Abb. 1: Die Eltern von Karl Carstens im Jahr 1911: Dr. Karl Carstens und Gertrud, geb. Clausen. - Vgl. S. 6. (Foto; Privat)
Abb. 2 : Mit seiner Mutter im Jahr 1926. - Vgl. S. 44. (Foto: Privat)
Abb. 3: M i t seiner Schulklasse auf einer Harzwanderung im Jahr 1929 (obere Reihe links außen). - Siehe S. 39. (Foto: Privat)
/Vt//^
CaA) Siehe dazu später S. 347 f. 339
Auch im Jahre 1967 erreichten das Ministerium immer wieder Klagen über Fluglärm durch Tiefflieger. Wertvolle Baudenkmäler waren dadurch beschädigt worden. Die Bevölkerung fühlte sich stark belästigt. Ich besprach die Sache mit Generalleutnant Steinhoff, der eine sehr verständige Haltung einnahm. Er sagte, Tiefflüge zu Übungszwecken seien unerläßlich. Die Piloten müßten die Landschaft, über der sie im Emstfall würden kämpfen müssen, so genau wie möglich kennen. Aber auch Steinhoff beklagte die mangelnde Koordinierung zwischen den Flugübungen der deutschen Luftwaffe und der Alliierten. Er setzte sich mit Erfolg für eine Verbesserung der Situation ein. Für die Flüge der deutschen Piloten ordnete er eine Mindesthöhe von 800 Fuß (240 Meter) an. Die AlUierten gingen freilich bis auf 500 Fuß (150 Meter) herunter. Die Diskussion über das Thema Wehrgerechtigkeit riß nicht ab. Immer wieder wurde gefordert, daß die Benachteiligung der jungen Männer, die dienten, gegenüber den nicht dienenden auf irgendeine Weise ausgeglichen werden müsse. Der Parlamentarische Staatssekretär Adomo nahm sich dieser Frage besonders an. Unter anderem wurde die Einführung einer Wehrsteuer für die Nichtdienenden erörtert. Aber die Bemühungen verliefen im Sande. Das Problem blieb ungelöst. Freilich entstand ein gewisser Ausgleich dadurch, daß manche Untemehmen der Wirtschaft Bewerber, die Wehrdienst geleistet hatten, bei der Einstellung bevorzugten. Ich hielt das für eine gute Praxis. Die militärischen Fachleute wiesen darauf hin, daß durch die Einziehung einer senkrechten Spundwand der damals im Bau befindliche Elbeseitenkanal ein schwer zu überwindendes Hindemis für gepanzerte Fahrzeuge darstellen würde. Die Schätzung belief sich auf etwa 300 Millionen DM zusätzliche Kosten. Aber auch aus dieser Sache wurde nichts. Das Geld stand nicht zur Verfügung. Aber der Hamburgische Senat erhob gmndsätzliche Bedenken gegen das Projekt, weil der Kanal auf diese Weise gevdssermaßen einen militärischen Charakter, wenn auch rein defensiver Natur, erhalten würde. Ich fand die Argumente zwar nicht überzeugend, sah aber keine Möglichkeit, das Projekt zu realisieren. Ich bin später etwa 20 km am Elbeseitenkanal entlang gewandert. Er liegt landschaftlich schön, ist wenig befahren, weil die Bundesbahn die Binnenschiffstarife unterboten hat. Sein militärischer Nutzen im Sinne einer Abwehrstellung ist sehr gering. Man muß sich fragen, ob nicht auch dieser Kanal, volkswirtschaftlich gesehen, als eine Fehlinvestition anzusehen ist. Eine der wichtigsten Ermngenschaften der Bundeswehr sehe ich in der Einführung des Prinzips der sogenannten Inneren Fühmng. Es sucht den Grandsatz, daß der Soldat Staatsbürger in Uniform ist und daß seine menschliche Würde unantastbar sein muß, zu verwirklichen. Vorkämpfer dieses Grandsatzes war Generalleutnant Wolf Graf Baudissin. Er fand nicht überall Zustimmung. Manche Trappenführer befürchteten, daß durch die Anwendung der Grandsätze der Inneren Führang das andere Grandprinzip des soldatischen Dienstes, nämlich Disziplin und Gehorsam und damit die Kampfkraft der Trappe, geschwächt werden könnte. Aber trotz dieser Bedenken setzten sich die Grandsätze der Inneren Führang immer mehr durch; auch ich war von ihrer Richtigkeit überzeugt. Sie erfordern hohe Führangsqualitäten des Trappenführers. Er muß 340
beide Grundsätze „Befehl und Gehorsam" und eine menschengerechte innere Führung miteinander verbinden. Ich habe damals vorgeschlagen, wenn die Lage es zuließe. Befehle zu erläutern, ja möglicherweise sogar beabsichtigte Befehle vorher zur Diskussion zu stellen. Der Jahresbericht der Bundesregierung von 1967 stellt zur Inneren Führung lakonisch fest, daß der Bundesminister der Verteidigung in einer richtungweisenden Rede vor der Führungsakademie in Hamburg erklärt habe, „daß das bewährte Prinzip der Inneren Führung Gültigkeit behalten werde"^). In dem Entvkoirf zu dem verfassungsändernden Gesetz über das Notstandsrecht, der 1967 im Bundestag behandelt wurde'), war vorgesehen, daß die Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes einsetzen könnte. Ebenso sah der Entwurf vor, daß die Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen bei Naturkatastrophen Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei einsetzen könne. Bei den Beratungen des Gesetzes im Bundesrat forderten mehrere Innenminister der Länder, daß, wenn der Einsatz der Streitkräfte zum Schutze eines Landes stattfinde, die Streitkräfte, ebenso wie die Polizei, dem Innenminister des betreffenden Landes unterstellt werden müßten. Wir erörterten die Frage in einer Abteilungsleiterbesprechung des Verteidigungsministeriums und kamen übereinstimmend zu der Auffassung, daß diese Forderung abgelehnt werden müsse. Der Bundesminister der Verteidigung könne die Befehlsgewalt über die Bundeswehr nicht an andere zivüe Instanzen abtreten. Dem trägt die Regelung des Artikels 87a des Grundgesetzes, die später in Kraft trat, Rechnung^). Der
Atomwaffensperrvertrag
Auch im Verteidigungsministerium beschäftigte ich mich intensiv mit Fragen der auswärtigen und der Sicherheitspolitik. Das Jahr 1967 war für die Entwicklung der inemationalen Beziehungen, vor allem innerhalb des Nordatlantischen Bündnisses, von großer Bedeutung. Mehrfach schaltete ich mich in die Verhandlungen über den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (auch NV-Vertrag oder Atomsperrvertrag genannt) ein. Ich hielt den im Jahre 1967 erörterten Entwoirf des Vertrages aus mehreren Gründen für bedenklich. Einmal vidirde er, so meinte ich, eine machtpolitische Verschiebung zu unserem Nachteil bewirken. Während die Supermächte und auch Großbritannien und
Jahresbericht der Bundesregierung 1967. Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1968 S. 267. Siehe BT-Drs. Nr. V/1879 vom 13. )uni 1967 (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes) und STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 64 S. 5 8 5 6 C - 5 9 0 2 C (29. )uni 1967). Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709).
341
Frankreich keinerlei Beschränkungen auf sich nehmen würden, müßte die BundesrepubHk Deutschland in einem weltweiten Vertrag, dessen Partner auch die Sowjetunion sein würde, neue Beschränkungen ihrer Souveränität auf sich nehmen. Es würde also eine Veränderung zu unserem Nachteil, sowohl im Verhältnis zu Großbritannien und Frankreich, aber besonders im Verhältnis zur Sowjetunion eintreten. Zwar hatten wir schon im WEU-Vertrag von 1955 auf die Herstellung von Atomwaffen und später ausdrücklich auch auf nationale Verfügungsgewalt über atomare Sprengkörper verzichtet') und vdr sollten, nach meiner Auffassung, daran festhalten. Aber die Bindungen, die uns der NV-Vertrag auferlegen vrörde, gingen weiter. In dem Vertrag, und das war der zweite Einwand, waren umfassende Kontrollrechte vorgesehen. Wir mußten uns also solchen Kontrollen, auch im Verhältnis zur Sowjetunion, unterwerfen. Damit verbunden waren Befürchtungen unserer Industrie, daß die Kontrollen nach dem NV-Vertrag zur Ausspähung von Betriebsgeheimnissen in dem ausschließlich der friedUchen Nutzung der Kernenergie dienenden Sektor mißbraucht werden würden. Schließlich wäre mit dem Vertrag auch eine beträchtliche internationale Aufwertung der DDR, die dem Vertrag beitreten sollte, verbunden. Aus diesen Gründen empfahl ich, dem Vertrag zunächst nur befristet, für etwa fünf Jahre, beizutreten, verband damit aber zugleich eine Warnung. Ich wies darauf hin, daß die USA mögUcherweise über unsere Bedenken hinweggehen würden, weil sie ein großes politisches Interesse daran hätten, mit der Sowjetunion zum Abschluß zu kommen. Aus diesem Grunde müßte unsere Haltung flexibel bleiben. Vor allem müßten wir uns hüten, die bedenklichen Besümmungen des Vertrages, z. B. über Kontrollen, noch über den Wortlaut hinaus in einem für uns nachteiligen Sinne gegen unsere Interessen zu 1п1ефгейеren. Ich trug meinen Standpunkt im Februar 1967 im Kabinett vor. Der Bundeskanzler stimmte mir in vollem Umfang zu. Im Laufe der Jahre 1967 und 1968 verstärkten die Amerikaner den Druck auf uns, um möglichst noch vor der Präsidentenwahl 1968 zu einem Abschluß des NV-Vertrages zu kommen. Italien, das zunächst unsere Bedenken geteilt hatte, erklärte sich mit dem Vertrag einverstanden. So mußten wir uns mit einigen vdchtigen Detailverbesserungen des ursprünglichen Entv^oirfs, die besonders die friedliche Nutzung der Kernenergie betrafen, zufriedengeben. Der Vertrag wurde am 1. Juli 1968 in Washington, Moskau und London unterzeichnet. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Brandt unterzeichnete ihn am 28. November 1969, nach der Bundestagswahl 1969, für die Bundesrepublik Deutschland. Erst am 20. Februar 1974 stimmte ihm der Bundestag zu®).
5) Siehe dazu Kap. V S. 168 und Kap. VI S. 270. «) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 86 S. 5 2 5 4 B - 5 2 9 3 C . 4. Juni 1974 (BGBl. II S. 785).
342
-
Gesetz vom
Neue Sicherbeitskonzeption
der NATO
Während des Jahres 1967 wurde die Strategie- und Einsatzplanung der NATO in verschiedenen wichtigen Bereichen fortentwickeh. Hier folgte ich fast ausnahmslos der klugen, wohldurchdachten, abgewogenen Stellungnahme des Generalinspekteurs de Maizière. Am wichtigsten war der Beschluß der NATO über die neue Verteidigungsdoktrin der flexiblen Antwort („flexible response"). Bis dahin hatte die noch in den fünfziger Jahren entwickelte, freilich inzwischen schon faktisch überholte Doktrin der massiven Vergeltung gegolten. Sie sah aufgrund der damaligen nuklearen Überlegenheit der USA im Falle eines sowjetischen Angriffs massive nukleare Gegenschläge vor. Die neue Doktrin zog die Folgerung aus der inzwischen stark gewachsenen nuklearen und konventionellen Kapazität der sowjetischen Streitkräfte. Nach der Doktrin der flexiblen Antwort sollten, je nach Art und Schwere eines gegnerischen Angriffs, abgestufte, bewegliche Reaktionen des Bündnisses, sowohl im konventionellen als auch im nuklearen Bereich, stattfinden. Die Bedeutung der konventionellen Abwehr wurde stärker betont. Das neue Konzept solhe, v^e das alte, den Gegner in erster Linie von einem Angriff abhalten. Sollte es aber dennoch zu einem Angriff kommen, so sollte die Doktrin der flexiblen Antwort „die Sicherheit des Nordatlantikvertragsgebietes im Sinne der Vomeverteidigung gewährleisten". Diese neue Doktrin beruhte auf Beschlüssen zunächst der Verteidigungsministerkonferenz der NATO und abschließend des NATO-Rates vom 14. Dezember 1967'). Im Jahresbericht der Bundesregierung von 1967 wird dazu ergänzend erklärt»): „1.) Die Bundeswehr muß in Aufbau, Gliederung und Ausrüstung klar die ausschließlich defensive Zielsetzung der nordatlantischen Allianz und der deutschen Verteidigungspolitik erkennen lassen. 2.) Die Bundeswehr muß einen wirksamen Beitrag zur abgestuften Abschrekkung leisten, der auch Trägermittel für atomare Sprengkörper einschließt. 3.) Die Streitkräfteplanung der Bundeswehr hat sich vornehmlich nach den Erscheinungsformen eines begrenzten Krieges auszurichten. Die Möglichkeit von Überraschungsangriffen, sowie die hohe technische und mobile Ausrüstung des Gegners eφrdern ausreichend starke, präsente, einsatzbereite Verbände, eine Verstärkung der konventionellen Feuerkraft, insbesondere zur Panzerabwehr und eine hohe Beweglichkeit. 4.) Die Streitkräfte müssen in der Lage sein, durch intensive Aufklärung in Krisenzeiten und im Krieg, die Grundlagen für die Beurteilung und Entschlußfassung der politischen und militärischen Führung zu schaffen. 5.) Im Falle einer Aggression haben sie im Rahmen der gemeinsamen NATOVerteidigung, Umfang und Zielsetzung feindlicher Angriffe festzustellen.
') Siehe Schlußkommunique der NATO-Ministerratstagung vom 14. Dez. 1967 in Archiv der Gegenwart 1967 S. 13606 f. ') Jahresbericht der Bundesregierung 1967 S. 262 f.
343
Feindangriffe so weit vorn wie möglich aufzufangen, zu zerschlagen oder Zeit zu gewinnen, um die Vorbereitungen zum Zurückweifen des Angreifers auf seine Ausgangsstellungen zu treffen. 6.) Die Kommandostruktur muß in den integrierten Rahmen eingepaßt bleiben und zugleich die Wahrnehmung der Verteidigungsaufgaben gewährleisten, die nationaler Zuständigkeit übergeben sind. 7.) Die Möglichkeit einer Vorwarnzeit erlaubt es, sich für Teile der benötigten Streitkräfte auf Mobilmachungsmaßnahmen abzustützen. 8.) Im Interesse der Glaubwürdigkeit der Abschreckung muß das Risiko eines Angriffs ßr den Gegner unkalkulierbar sein. " Diese, ich möchte sagen, Uassisch formulierte Militärdoktrin für die Bundeswehr wurde noch zu meiner Amtszeit durch den Führungsstab der Streitkräfte erarbeitet. Auf der gleichen Sitzung des NATO-Rates im Dezember 1967, auf der die Militärdoktrin der flexiblen Antwort beschlossen wurde, verabschiedete der Rat ein weiteres, außerordentlich wichtiges Dokument, an dessen Ausarbeitung auf deutscher Seite in erster Linie Staatssekretär Schütz vom Auswärtigen Amt, daneben aber auch das Bundesministerium der Verteidigung beteiligt gewesen war: den Bericht des Rates über die künftigen Aufgaben der Alhanz, auch Harmel-Bericht genannt, weil der belgische Außenminister Pierre Harmel den Anstoß dazu gegeben hatte. Es ist eine der wichtigsten Entscheidungen des NATORates, die über zwanzig Jahre lang die Politik der Allianz bestimmt hat®). Nach dieser Entscheidung des Rates hat die Allianz zwei Hauptaufgaben: einmal eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um „gegenüber Aggressionen und anderen Formen der Anwendung von Druck abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt", zum anderen soll die Allianz nach Fortschritten in Richtung auf eine dauerhafte Ost-West-Beziehung suchen, mit deren HUfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können. Wörtlich heißt es: „Militärische Sicherheit und politische Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar. Die kollektive Verteidigung ist ein stabilisierender Faktor in der Weltpolitik. Sie bildet die notwendigen Voraussetzungen ßr eine wirksame, auf größere Entspannung gerichtete Politik. Der Weg zu Friede und Stabilität in Europa beruht vor allem auf dem konstruktiven Einsatz der Allianz im Interesse der Entspannung". Und weiter: „Eine endgültige stabile Regelung in Europa ist Jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannung in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren. [...] Das höchste politische Ziel der Allianz ist es, eine gerechte und dauernde Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu erreichen." ') Auszugsweise Wiedergabe des Harmel-Berichts im Anhang des NATO-Kommuniqués vom 14. Dez. 1967 in Archiv der Gegenwart 1967 S. 13607. 344
Bemerkenswert an dieser Resolution von 1967 ist die Zweigleisigkeit, das Nebeneinander von Abwehrbereitschaft und Entspannungspolitik und zum anderen die große Bedeutung, die sie der Lösung der Deutschlandfrage beimißt. Dieser letzte Teil ist, wenn der Harmel-Bericht in späteren Jahren zitiert wurde, häufig in den Hintergrund getreten. Im Jahre 1967 überschattete der große Konflikt in Südostasien die weltpolitische Szene. Die Amerikaner verstrickten sich immer tiefer in den VietnamKrieg. Bis Ende 1967 standen 565 ООО amerikanische Soldaten in diesem Raum*") und ein Ende des Krieges war nicht abzusehen. Die Kämpfe griffen auch auf nordvietnamesisches Gebiet über, allerdings übten die Amerikaner dabei große Zurückhaltung, um nicht einen förmlichen Eintritt Chinas und der Sowjetunion in den Krieg zu provozieren. Ende des Jahres resignierte der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara. Die Presse berichtete, daß er die Leitung der Weltbank übernehmen würde. Robert McNamara war ein hochbefähigter, intelligenter Mann, von außerordentlicher geistiger Kraft und logischem Argumentationsvermögen, dazu, nach meinem persönlichen Eindruck, integer. Er gab sein Bestes. Aber einem Gegner, wie dem Vietcong, war er nicht gewachsen. Der andere militärische Konflikt des Jahres 1967 nahm einen völlig anderen Verlauf. Israel stieß im Juni mit starken Streitkräften in eine ägyptische Truppenansammlung auf der Halbinsel Sinai hinein und erzielte bereits nach sieben Tagen einen vollständigen Sieg. Für die Sowjets, die Ägypten mit Waffen unterstützt hatten, bedeutete der Ausgang des Krieges eine erhebliche Einbuße an Prestige. Sie setzten die Unterstützung Ägyptens aber verstärkt fort. Nach Pressemeldungen, die durch unsere Erkenntnisse bestätigt wurden, befanden sich Ende 1967 etwa 2500 bis 3000 sowjetische militärische Berater in Ägypten. Auf der NATO-Tagung in Ankara und Istanbul Im September 1967 fand in Ankara eine Sitzung der Nuclear Planning Group (NPG) der NATO statt, auf der ich den erkrankten Minister Schröder vertrat"). Ich woirde begleitet von General de Maizière, Botschafter Grewe, Kapitän zur See Trebesch und Kapitän zur See Armin Zimmermann, dem späteren Generahnspekteur der Bundeswehr. Die NPG war ein Jahr zuvor gegründet worden, gewissermaßen als Ersatz für das gescheiterte MLF-Projekt^^), um den nichtnuklearen Mitgliedern der Allianz, wenn schon keine Teilhabe, wie sie das MLP-Projekt vorgesehen hatte, wenigstens ein Mitspracherecht für ihren Einsatz zu geben. Es war ein exklusives und sehr wichtiges Gremium. 1967 gehörten ihm die USA, Großbritannien,
") Vgl. Manfred Knapp, Die internationale Politik 1966/1967, München 1972 S. 17. Kommuniqué der Tagung am 28. und 29. Sept. 1967 in BULLETIN vom 3. Okt. 1967 S. 915. Beschluß der NATO-Ministerratstagung vom 15. und 16. Dez. 1966 in Archiv der Gegenwart 1966 S. 12685. 345
Italien, die Türkei, die Niederlande, Kanada und die Bundesrepublik Deutschland an. In Ankara standen die Einsatzgrundsätze für die ADM (Atomic demolition means — fälschlich auch Atomminen) zur Debatte. Es handelt sich um nukleare Waffen kurzer Reichweite, die einen konventionell angreifenden Gegner aufhalten sollten, wenn eine Abwehr mit konventionellen Mitteln allein nicht möglich war. In der Diskussion zeigten sich die sehr unterschiedlichen Ausgangslagen der einzelnen NATO-Partner. Die Türkei hat eine lange Grenze mit der Sowjetunion, die durch sehr dünn besiedeUes Gebiet läuft. Der Schaden, der durch den Einsatz von ADM für die eigene Bevölkerung entstehen würde, wäre daher gering. Demgegenüber verlief die Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschland durch dicht besiedeltes Gebiet, sowohl auf selten der Bundesrepublik als auch auf selten der DDR und der CSSR, so daß bei einem etwaigen Einsatz von ADM erhebliche Schäden und Verluste zu befürchten wären. Die Frage v\rurde eingehend diskutiert. Der oberste Militärstab der NATO in Europa SACEUR") wurde beauftragt, Vorschläge auszuarbeiten. Im Anschluß an die Diskussion über ADM wurde auch die Frage des Einsatzes taktischer Atomwaffen behandelt, das heißt der nächstgrößeren atomaren Waffenart. In der Diskussion wurde klar, daß der Versuch, Europa nur mit den hier stationierten Atomwaffen der Allianz zu verteidigen, zu inakzeptablen Ergebnissen führen würde, zumal wenn ein etwaiger Krieg länger dauern würde. Ein Rückgriff auf die strategischen Waffen der USA erschien daher für die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsstrategie des Bündnisses unerläßhch. Alle anderen Mitgliedsstaaten der NPG waren durch ihre Verteidigungsminister vertreten, die USA durch McNamara, Großbritannien durch Denis Healey. McNamara war die beherrschende Figur. Seine Ausführungen wirkten klar und überzeugend, besonders als er die Wirkung der westlichen Abschreckungsstrategie behandelte. Neben der Konferenz fanden zahlreiche andere Veranstaltungen statt. Der türkische Staatspräsident General Cevdet Sunay gab ein Essen. Ich saß zu seiner Rechten. Hinterher fragte ich einen türkischen Freund, ob ich damit nicht im Verhältnis zu den anwesenden Ministem zu hoch piaziert worden sei. Die lakonische Antwort lautete: „Sie sind als Deutscher der beste Freund der Türken. Ihnen gebührt der beste Platz." Während meines Türkeibesuches traf ich auch mit alten Freunden zusammen, so mit dem früheren türkischen Botschafter in Bonn, Suat Ürgüplü. Er war inzwischen türkischer Ministerpräsident gewesen. Durch ihn hörte ich viel über die innere Lage der Türkei. Unser Botschafter in Ankara, Horst Groepper, gab für mich ein Abendessen, bei dem ich den ausgezeichneten türkischen Diplomaten Zekir Kuneralp kennenlemte. Ich unterhielt mich zwei Stunden mit ihm; er war über alle wichtigen politischen Vorgänge auf der Welt sehr gut informiert, kannte insbesondere die USA und die Sowjetunion genau und gab dazu wohl-
" ) Supreme Allied Commander Europe. 346
fundierte Ansichten ab. Ich habe nur wenige außenpolitische Gespräche von solcher Intensität und von solchem Nutzen für mich geführt. Der zweite Teil der Konferenz, eine mehr gesellschaftliche Veranstaltung, fand in Istanbul statt. Ich flog mit der kleinen Passagiermaschine der Luftwaffe. Pilot war Oberstleutnant Stenzler. Über dem Flugplatz von Istanbul herrschte ein fürchterliches Gewitter, der Sturm riß die Luftmassen nach oben. Die Maschine McNamaras, die vor uns landen sollte, kam nicht herunter und mußte durchstarten. Stenzler, der das sah, stellte unsere Maschine buchstäblich auf den Kopf, so daß wir uns im Gewittersturm im Sturzflug mit großer Geschwindigkeit dem Flugplatz näherten. Im letzten Moment fing er die Maschine ab und wir landeten sicher. Draußen zeigte er mir vier Stellen am Rumpf, wo Blitze eingeschlagen hatten. Ich fragte, ob ihn diese Einschläge nicht sehr behindert hätten. Antwort: „Nein, nur fielen sämtliche Instrumente aus." Es war eine phantastische Leistung des Piloten und ein Beweis seiner Kaltblütigkeit. In Istanbul besichtigten wir die Hagia Sophia, den Sultanspalast und andere Moscheen. Ich traf auf McNamara, wie er versonnen über den blauen Bosporus blickte, der im Schein der untergehenden Sonne glitzerte. Wir unterhielten uns lange. Er wirkte auf mich in seiner menschlichen Aufgeschlossenheit überaus erfreulich. Den Ruf des kalten Rechners und Machtmenschen, der ihn umgab, kann ich nicht bestätigen. In Istanbul wohnten wir im Hotel Tarabya oberhalb des Bosporus. Am nächsten Morgen kamen Trebesch und Zimmermann in mein Zimmer und sagten, eine sowjetische Schnellbootflottille laufe gerade an unserem Hotel vorbei. Ich müßte das sehen. Es zeigte sich ein eindrucksvolles Bild. Die Frage, wohin die Schiffe gingen, konnte nicht beantwortet werden. Immerhin hatten die Türken durch ihre geographische Lage einen genauen ÜberbUck über alle Bewegungen der sowjetischen Schwarzmeerflotte. Sowjetische U-Boote mußten in aufgetauchtem Zustand den Bosporus und die Dardanellen passieren. Ich besuchte auch die Sommerresidenz des Deutschen Botschafters in Istanbul, ein prachtvolles, schloßartiges Anwesen. Hier hing in einem der Empfangsräume ein großes Ölbild Kaiser Wilhelms II. in der Uniform eines türkischen Paschas. Ich fragte den Botschafter, ob das noch angemessen sei, aber er antwortete überzeugend, daß die Türken es als einen Affront ansehen würden, wenn dieses Bild, das seit 60 Jahren an der gleichen Stelle hänge, jetzt abgenommen werden würde. Reise in die USA mit überraschendem
Ausgang
Noch vor meiner Reise in die Türkei unternahm ich als Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums im August 1967 eine wichtige Reise in die USA. Sie sollte einen für mich überraschenden Ausgang nehmen. Anlaß dieser Reise war der Stapellauf der „Lütjens", des ersten von drei Lenkwaffenzerstörem, die wir in den USA bestellt hatten. Damit verbunden sollte ein Besuch in Washington und Gespräche im dortigen Verteidigungsministerium stattfinden. Zuerst war daran gedacht, daß Minister Schröder selbst 347
reisen wollte. Indessen befürchtete er schwierige Auseinandersetzungen mit McNamara wegen unserer, nach amerikanischer Ansicht, ungenügenden Rüstungsanstrengungen. Schröder stand der Besuch Erhards in Washington im September 1966 noch vor Augen, bei dem die Amerikaner Erhard unter einen außerordentlichen Druck gesetzt hatten, dem er schließlich teilweise nachgab und wodurch er einen weiteren Anlaß für seinen, von der CDU/CSU-Fraktion erzwungenen Rücktritt bot"). Wie so oft in schwierigen Lagen bat Schröder mich, an seiner Stelle zu fahren. Ich tat es ausgesprochen gem. Zunächst flog ich nach Baath in Maine, wo die „Lütjens" vom Stapel lief. Der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Zenker, und Kapitän zur See Trebesch, Schröders Adjutant, begleiteten mich. Die Schwiegertochter des Admirals Günther Lütjens taufte das Schiff. Ich hielt die Taufrede"). „Zum ersten Mal in der Geschichte unserer beiden Länder läuft heute ein deutsches Kriegsschiff auf einer amerikanischen Werft vom Stapel ab", sagte ich. Aber Kriegsschiffe seien für uns nicht mehr Symbole nationaler Selbstverherrlichung und Weltgeltung, sondern Teil der gemeinsamen Anstrengungen, Freiheit und Sicherheit für alle, die durch das Nordatlantische Bündnis geschützt vñirden, zu wahren. Das Bündnis diene ausschließlich unserer gemeinsamen Verteidigung und der Verhinderung eines Krieges. Es war eine durchaus friedliche Rede. Ich erwähnte die deutsch-amerikanischen Beziehungen während der letzten zweihundert Jahre und hob besonders den geistigen Einfluß der amerikanischen Verfassungsväter auf die Entwicklung von LiberaUsmus und Demokratie in Deutschland im 19. Jahrhundert hervor. Ich sagte ferner, daß die Marinen beider Länder im Ersten und Zweiten Weltkrieg den Kampf gegeneinander als ritterliche Gegner geführt hätten. Schließhch woirdigte ich Admiral Lütjens, der am 27. Mai 1941 als Flottenchef auf dem Schlachtschiff „Bismarck" gefallen war und dessen Pflichttreue auch kommenden Generationen der Marine als Vorbild dienen möge. Damals vraßte ich nicht, daß an Lütjens Verhalten im Frühjahr 1941 von Angehörigen der damaligen deutschen Kriegsmarine scharfe Kritik geübt worden ist. Burkard von Müllenheim-Rechberg, der als Leutnant zur See auf der „Bismarck" gedient hatte und später in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde, hat eingehende Recherchen in deutschen und britischen Archiven angestellt. Er wirft Lütjens vor, daß er durch die Abgabe unnötiger Funksprüche den Briten die Möglichkeit gegeben habe, die Position der „Bismarck" zu orten und dann das Schiff zu versenken^®). Wahrscheinlich ist die Kritik berechtigt. Aber die Bundesmarine stand 1967 auf dem Standpunkt, daß Lütjens als der ranghöchste Seeoffizier, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war, geehrt werden sollte. Diesem Argument haben sich » ) Vgl. Kap. VI S. 266. '=) Veröffentlicht in BULLETIN vom 15. Aug. 1967 S. 741. Burkard von Müllenheim-Rechberg, Schlachtschiff Bismarck, Frankfurt/Main 1987 S. 151 ff.
348
erw.
Neuauflage
Bundesminister Schröder und auch ich, freihch ohne Kenntnis der Einzelheiten, die zum Untergang der „Bismarck" führten, angeschlossen. Und ich möchte das Argument auch heute noch, nach Kenntnis der Vorgänge aus dem Jahre 1941, gelten lassen. Niemand kann bestreiten, daß Lütjens sich tapfer und ehrenhaft verhalten hat. In Baath traf ich Paul Nitze, der das amerikanische Verteidigungsministerium bei dem Stapellauf vertrat. Von ihm erfuhr ich, daß seine Tante Mathilde Nitze, die von mir verehrte, gütige Frau von Carl Nitze, bei der ich 1948 als Student einige Tage gewrohnt hatte, in Baltimore gestorben war. Ich flog mit ihm zusammen zur Beisetzung. Anschließend führte ich in Washinton im Pentagon Gespräche mit McNamara und den stellvertretenden Verteidigungsministem Nitze und Paul Wamke. Immer ging es um den deutschen Verteidigungsbeitrag. Ich ließ mich nicht in die Defensive drängen, sondern machte den Amerikanern klar, welche immensen immateriellen Lasten die Deutschen im Interesse der Verteidigung auf sich nähmen: über 800 ООО Soldaten, deutsche und alliierte, seien in der Bundesrepublik stationiert, Tiefflüge überzögen das ganze Land, häufige Manöver richteten große Schäden an. Dabei sei die Bundesrepublik Deutschland so groß wie der amerikanische Staat Oregon, doch habe dieser nur 3 Milhonen, die Bundesrepubhk dagegen 60 Millionen Einwohner. Wenn man das alles berücksichtige, könne sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Verteidigungsanstrengungen sehr wohl sehen lassen. Auch würden die vorgesehenen Kürzungen im Verteidigungsetat allenfalls zu einer Verzögerung, aber nicht zu einer Umgestaltung der bisherigen Planung führen. Einen Abend verbrachte ich mit Paul Nitze und seiner Frau auf seiner Farm in Virginia, einem landschaftlich überaus reizvoll gelegenen, parkartigen Gutsbesitz. In der Zeit vom 14. bis 17. August 1967 hielt sich auch Bundeskanzler Kiesinger zu Gesprächen mit Präsident Johnson in Washington auf. Er bat mich ins Blair-House, wo er wohnte, und ich berichtete ihm über meine Gespräche im Pentagon. Anschließend bat Kiesinger mich zu einem Gespräch unter vier Augen, in dem er mir eröffnete, daß er mich bitten möchte, die Leitung des Bundeskanzleramtes zu übernehmen. Er und Staatssekretär W e m e r Knieper seien so verschiedene Naturen, daß die Zusammenarbeit darunter litte, obgleich Knieper seine Aufgaben mit größter Sorgfalt und Hingabe erfülle. Er, Kiesinger, habe mehrere vertrauenswürdige Persönlichkeiten wegen einer möglichen Nachfolge von Knieper konsultiert; alle hätten übereinstimmend erklärt, nur ich könne es machen. Ich war baß erstaunt! Noch vor neun Monaten hatte die Verhandlungsdelegation von CDU/CSU - wohl nicht Kiesinger selbst - Brandt nahegelegt, er möge mich aus der Leitung des Auswärtigen Amtes ablösen. Und nun kam plötzlich dieses Angebot Kiesingers, den wdchtigsten, freilich auch schwierigsten Posten im Regierungsapparat zu übernehmen. Ich dankte Kiesinger und bat um kurze Bedenkzeit. Natürlich müßte ich zunächst mit Minister Schröder sprechen, dem dieser Wechsel sicher nicht angenehm sein wöirde. Aber nach meiner 349
Meinung käme es in erster Linie darauf an, daß die Regierungsarbeit insgesamt optimal laufe. Ich flog anschließend nach Bonn zurück und suchte gleich nach meiner Ankunft Gerhard Schröder auf, der seinen Urlaub auf SyU verbrachte. Wir hatten ein langes Gespräch in seinem schönen Landhaus in Kampen. Ich berichtete ihm über meine Gespräche in Washington und schließhch über mein Gespräch mit Kiesinger und das Angebot, das Kiesinger mir gemacht hatte. Schröder fragte mich, wie ich dazu stände. Ich antwortete, daß ich geneigt sei, das Angebot anzunehmen. Schröder war darüber offenbar betroffen. Er äußerte sich zurückhaltend; ich müßte selbst wissen, was ich wollte. Kurz danach erkrankte Schröder schwer. Er mußte mit dem Hubschrauber von Sylt nach Hamburg geflogen werden, zeitweise war er ohne Bewußtsein, die Diagnose der Universitätsklinik Eppendorf lautete: Herzrhythmusstörungen. Ich habe mich damals gefragt, ob mein Gespräch mit Schröder eine Ursache für seine Erkrankung gewesen sein könnte und kann das leider nicht ausschließen. Schröder war ein Mann von großer Selbstbeherrschung. Er polterte nie. Er ließ den Ärger nicht heraus, sondern fraß ihn eher in sich hinein. Daß ihn meine Absicht zu Kiesinger zu gehen, sehr getroffen hat, halte ich für sicher. Aber natürlich konnte ich nicht mit einer solchen Wirkung rechnen. Schröder blieb drei Wochen in der Universitätsklinik in Hamburg und trat dann einen längeren Kuraufenthalt am Tegernsee an. Dort besserte sich sein Zustand, aber er fiel insgesamt sechs Wochen in der Leitung des Ministeriums aus. Nachdem ich von der Erkrankung Schröders gehört hatte, rief ich sofort Bundeskanzler Kiesinger an und sagte ihm, daß ich bereit sei, zu ihm zu kommen, daß virir aber die Rückkehr Schröders ins Ministerium abwarten müßten. Nach meiner Schätzung würde mein Wechsel ins Bundeskanzleramt erst Ende des Jahres 1967 möglich sein. Kiesinger war einverstanden. Vertretung des
Verteidigungsministers
Die Frage, wer den Verteidigungsminister im Falle seiner Verhinderung zu vertreten habe, war jahrelang heftig umstritten, ohne freilich je akut zu werden. Infolge der Erkrankung Schröders mußte diese Frage aber jetzt schnell entschieden werden. Mein Vorgänger, Staatssekretär Gumbel, hatte den Standpunkt vertreten, daß er, wie jeder andere Staatssekretär, nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung der ständige Vertreter des Ministers sei und daß sich diese Vertretung auch auf die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers über die Streitkräfte (Art. 65a GG) erstrecke. Dem hatte die Generalität entschieden widersprochen. Sie war nicht bereit, sich im Falle der Verhinderung des Verteidigungsministers einem Beamten zu unterstellen. Die Rücktritte des Generahnspekteurs Heinz Trettner und des Inspekteurs der Luftwaffe, Werner Panitzki, im September 1966 hingen auch mit dieser Kontroverse zusammen. Ich hatte schon damals Gumbels Standpunkt für falsch gehalten. Als jetzt der Vertretungsfall eintrat, bildete ich mir sofort eine Meinung; Vertreter des 350
Verteidigungsministers in der Regierung und auch in der Befehlsgewalt sollte dasjenige Kabinettsmitglied sein, das nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung den Verteidigungsminister in der Regierung vertrat. Das war im Jahre 1967 Kai-Uwe von Hassel, damals Vertriebenenminister. Vorher war er selbst Verteidigungsminister gewesen. Aber ich, als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, nahm in Ansprach, ebenso wie ich der ständige Vertreter des Verteidigungsministers war, auch der ständige Vertreter des ihn vertretenden Kabinettsmitgliedes zu sein. Diese Lösung gab mir umfassende Vollmachten, vermied aber den Konflikt mit den Streitkräften und räumte allen Beteiligten, jedenfalls theoretisch, die Möglichkeit ein, gegen meine Entscheidungen Bundesminister von Hassel anzuraten. Ich erörterte meinen Vorschlag mit dem Generalinspekteur de Maizière, dem Parlamentarischen Staatssekretär Adorno, und auch mit den Hauptabteilungsleitem. Alle erklärten sich mit ihm einverstanden. Darauf suchte ich den Bundeskanzler auf, der die von mir vorgeschlagene Lösung gleichfalls billigte und so v«irde verfahren. Ich war während der Abwesenheit Schröders tatsächlich Herr der Situation. Von Hassel trat kaum in Erscheinung, aber alle Beteiligten konnten mit dieser Lösung leben. Besonders an die Unterstützung, die General de Maizière mir damals gegeben hat, denke ich mit großer Dankbarkeit zurück. Nur mit seiner Zustimmung war eine Lösung der schwierigen Frage innerhalb weniger Stimden möglich. Ich trag das Ergebnis meiner Überlegungen auch noch auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Frankfurt am Main im Oktober 1967 vor"). Niemand widersprach. Seitdem ist diese Lösung unbestritten. Wenn Gesetzesbeschlüsse zu unterzeichnen waren, zeichnete Minister von Hassel wäe folgt: „Für den Bundesminister der Verteidigung Der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte von Hassel". Abschied
vom
Ministerium
Ende 1967 war Minister Schröder so weit wiederhergestellt, daß er selbst wieder die Leitung des Ministeriums übernehmen konnte. Meinem Wechsel ins Bundeskanzleramt stand nichts mehr im Wege. Mein Abschied vom Verteidigungsministerium vollzog sich in zwei Etappen. Zunächst verabschiedete Minister Schröder mich am 18. Dezember 1967 in einer Abteilungsleitersitzimg in seiner Wohnung auf dem Hardtberg. Schröder hielt eine freundliche Rede auf mich, in die freilich auch einige bittere Töne einflossen.
Gedruckt in Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 26 (1968) S. 2 9 7 - 3 0 3 . 351
Sehr herzlich dankte mir General de Maizière. Er sagte, ich hätte die gute Art der Zusammenarbeit im Ressort wesentlich geprägt und meine Arbeitskraft unter das Ziel gestellt, die Effektivität unserer Verteidigung zu stärken. Wörtlich erklärte er u. a. : „Die Schnelligkeit Ihrer Entscheidungen ist vorbildhch. Sie strahlen Vertrauen und Offenheit aus. Sie haben Vertrauen jedem Ihrer Mitarbeiter geschenkt und haben dazu verpflichtet, es ^zurückzugeben. [...] Die hohe Zeit Ihrer Arbeit in diesem Hause waren die Wochen, in denen der Herr Minister nicht hier sein konnte, die Wochen, in denen Sie unser Ressort nach innen und außen vertraten, und zwar in einer Weise, die nachzumachen wohl kaum einer in der Lage sein dürfte. Wir lassen Sie alle nur ungern gehen und lassen Sie überhaupt nur dorthin gehen, weil wir wissen, daß dort Ihre Wirkungsmöglichkeiten noch größer sind. Wir sind froh, dort einen Mann zu wissen, der unsere Probleme kennt und der diese in den Rahmen der Bundesregierung einzuordnen weiß. Wir werden Sie hier in diesem Hause sehr vermissen. Dieses Jahr war prägender als viele Jahre zuvor. " Auch Ministerialdirektor Wirmer hielt eine launige Rede. Er meinte, es sei nötig, und ich hätte das gezeigt, daß man an die Dinge mit einem gewissen Abstand herangehen müsse und sich nicht von den vielen Strömungen des Hauses beeinflussen lassen dürfe. Ich dankte für das mir erwiesene Vertrauen und für die freundlichen Abschiedsreden und sagte am Schluß: „Ich habe den Eindruck, daß uns allen unruhige Zeiten bevorstehen: Unruhen an den Universitäten, Unruhen im politischen Bereich, Unruhen außerhalb unserer Grenzen; schon im neuen Jahr werden sehr viele Schwierigkeiten auftreten. Dann tut nach meiner Auffassung allerdings eines not: „Diejenigen, die Verantwortung tragen, müssen die Ruhe bewahren, sie dürfen sich nicht von der allgemeinen Unruhe erfassen lassen. Es ist meine Hoffnung, daß dieses Haus ein Haus der Ruhe bleibt. Sie dienen alle damit unserem Land, wenn Sie sich das klarmachen und darüber Rechenschaft geben. Jedermann muß das Gefühl haben, daß von Ihnen Ruhe, Sicherheit und Festigkeit ausstrahlt." Zum zweiten Mal wurde ich am 5. Januar 1968 bei der Einführung meines Nachfolgers Staatssekretär Karl-Günther von Hase verabschiedet. Ich war über diese Entscheidung sehr glücklich. Nie habe ich bei den zahlreichen Wechseln, die meinen Lebensweg kennzeichnen, meine Arbeit lieber in die Hände eines Nachfolgers gelegt. Von Hase war einer der besten Beamten der Bundesrepublik Deutschland. Er hat in allen seinen Funktionen als Beamter des Auswärtigen Dienstes, als Pressesprecher der Bundesregierung, als Botschafter in London, als Intendant des ZDF und insbesondere als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, sich hervorragend bewährt. Uns verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Schröder hielt zunächst auf mich und dann auf von Hase eine sehr freundliche, herzliche Rede^®). Er sprach von unserer guten Zusammenarbeit zunächst
Abdruck der folgenden Reden in BULLETIN vom 9. Jan. 1968 S. 1 7 - 1 9 . 352
im Auswärtigen Amt, dann im Verteidigungsministerium: „Die Trennung von dieser langen gemeinsamen Arbeit fällt mir nicht leicht." Schröder schloß mit folgenden Worten, die mich sehr persönlich anrührten:
„Es gibt vieles, was Ihren Eφ¡g in der beruflichen Tätigkeit im wissenschafthchen und staathchen Bereich erklären kann. Ich glaube, daß der entscheidende Punkt der folgende ist: Bei aller angeborenen Zurückhaltung ist doch für jedermann klar erkennbar geworden, daß Sie stets — wenn gefordert — die Sache über die Person stellen; die Sache von der Person trennen und daß Sie sich in Ihrer Zusammenarbeit mit anderen von dem Respekt leiten lassen, den jeder nach dem Maß seiner Pflichterfüllung verdient. " Ich antwortete, indem ich zunächst Bundesminister Schröder dankte: „Mit
dem heutigen Tage endet eine über sechsjährige enge Zusammenarbeit zwischen Ihnen und mir, an die ich immer gern zurückdenken werde, weil sie mich einem Manne nahegebracht hat, der, wie wenige andere, fest zu seinen Grundsätzen steht und dem opportunistische Kompromisse fremd sind. Ich danke Ihnen für das hohe Maß an persönlicher Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, das Sie Ihren Mitarbeitern und insbesondere mir gewährt haben. Es war die Voraussetzung daßr, daß ich die Arbeit an Ihrer Seite als hochbefriedigend empfunden habe. " Ich dankte sodann allen Angehörigen des Verteidigungsministeriums und Schloß mit dem Appell an alle Angehörigen der Bundeswehr, in der Stärkung unserer gemeinsamen Ziele und der uns verbindenden Klammer fortzufahren, nämUch unserem Staat zu dienen. Dabei sagte ich: „Nun wird niemand bestreiten
wollen, daß manches an diesem Staat verbesserungswürdig ist, und jeder von uns ist dazu aufgerufen, an der Verbesserung mitzuarbeiten. Aber diese Tatsache darf uns nicht die Einsicht verdunkeln, daß das deutsche Volk noch niemals in seiner langen Geschichte einen Staat gehabt hat, der jedem einzelnen seiner Bürger ein so hohes Maß an Freiheit und zugleich an Sicherheit gewährt hat. [.. .1 Dieser Staat verdient es daher, daß wir, die wir den Staatsdienst als unseren Beruf erwählt haben, ihm mit Loyalität und Hingabe dienen, l...] Es ist mein lebhafter Wunsch, daß sich diese Haltung im Bundesverteidigungsministerium und in der Bundeswehr immer weiter festigen möge. "
2. Chef des Bundeskanzleramtes Dienstantritt und erste
Amtshandlungen
In den ersten Januartagen des Jahres 1968 übernahm ich meine neue Funktion als Chef des Bundeskanzleramtes. Damit bekleidete ich die wichtigste Stellung in der Beamtenhierarchie des Bundes. Ich war gleichzeitig der erste Berater des Bundeskanzlers, Staatssekretär der Bundesregierung und Behördenchef des Bundeskanzleramtes. Außerdem führte ich die Aufsicht über den Bundesnachrichtendienst (BND), eine besonders verantwortungsvolle Funktion. Als Staatssekretär der Bundesregierung mußte ich versuchen, Differenzen zwischen den 353
Ressorts in Sachfragen auf Staatssekretärsebene auszuräumen. Bis 1963 hatte das Bundeskanzleramt in Hans Globke einen herausragenden Chef gehabt"). Später zeichneten sich Manfred Schüler (1974-1980) sowie Wolfgang Schäuble und Rudolf Seiters, beide mit dem Status eines Bundesministers, in dieser Funktion besonders aus. Meine eigene Amtszeit war zu kurz, um bleibende Spuren zu hinterlassen. Ich habe das Amt bis zum 21. Oktober 1969, also 22 Monate, ausgeübt. Es war eine außerordentlich arbeitsreiche, hektische und für mich sehr anstrengende, aber auch sehr lehrreiche Zeit. Sie war die Voraussetzung für meine spätere parlamentarische Tätigkeit. Meine erste Amtshandlung als Chef des Bundeskanzleramtes war ein Besuch bei Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, dem Parlamentarischen Staatssekretär des Bundeskanzlers. Guttenberg und ich hatten uns in den zurückliegenden Jahren heftig bekämpft. Er sah in mir den Verfechter einer Politik, die, unter Vernachlässigung der Beziehungen zu Frankreich, in erster Linie auf das Bündnis mit Amerika setzte, ein Vorwurf, der in meinen Augen nicht zutraf. Ich dagegen hatte ihm den entgegengesetzten Vorwurf gemacht. Wir hatten uns gegenseitig nicht geschont. Als ich sein Vorzimmer betrat, sah mich seine Sekretärin, Frau Christina Neunzig, mit entsetzten Blicken an, so als wenn der böse Feind plötzlich vor ihr stände. In meinem Gespräch mit Guttenberg sagte ich, ich schlüge vor, daß wir unseren alten Streit auf sich beruhen ließen. Die Arbeit im Bundeskanzleramt könnte nur erfolgreich sein, wenn er und ich vertrauensvoll zusammenarbeiteten. Ich versprach ihm, ihn über alle für ihn wichtigen Vorgänge zu unterrichten und bat ihn um das gleiche mir gegenüber. Er sagte das zu und hat diese Zusage minutiös eingehalten; ebenso habe ich mich darum bemüht, mein Versprechen zu erfüllen. Das Verhältnis zwischen uns besserte sich schnell, am Schluß waren virlr Freunde. Sein früher Tod hat mich tief geschmerzt. Er war ein hochbefähigter, für die Sache der Freiheit leidenschaftlich engagierter Politiker. Auch meine Beziehungen zu Frau Neunzig entspannten sich. Ich lernte sie als eine außerordentlich tüchtige, zuverlässige, gescheite und geschickte Mitarbeiterin kennen und holte sie nach Guttenbergs Tod zu mir. Sie ist von 1973 bis 1964 meine engste Mitarbeiterin gewesen. Ich verdanke ihr sehr viel. Meine zweite Amtshandlimg betraf den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Mein Vorgänger, Staatssekretär Wemer Knieper, hatte mir bei der Übergabe der Geschäfte gesagt, er hinterlasse mir ein geordnetes Haus. Die Dinge, die zu regeln er übernommen hätte, seien mit einer Ausnahme erledigt worden. Es sei ihm nicht gelimgen, die Emeimung des neuen Präsidenten des BND, Generalleutnant Gerhard Wessel, im Kabinett durchzusetzen. Die Sache sei dringlich, weil der bisherige Präsident des BND, Reinhard Gehlen, dessen Dienstzeit schon einmal um ein Jahr verlängert worden war, am 30. April 1968 in den Ruhestand träte. " ) Zu seiner Würdigung siehe auch das Geleitwort von Karl Carstens in Klaus Gotto (Hrsg.), Der Staatssekretär Adenauers. Persönlichkeit und politisches Wirken Hans Globkes, Bonn 1980 S. 7 f.
354
Ich beschloß, sofort zu handeln und schlug dem Bundeskanzler vor, die Sache in der ersten Kabinettssitzung des neuen Jahres, am 10. Januar 1968, durchzuziehen. Der Bundeskanzler griff den Vorschlag auf und unterrichtete das Kabinett von seiner Absicht, Generalleutnant Wessel zum Präsidenten des BND zu ernennen. Das Kabinett nahm zustimmend Kenntnis. Zuvor hatte Kiesinger den Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt von seiner Absicht unterrichtet. Nach der Kabinettssitzung kam Bundesminister Lauritzen auf mich zu und beklagte sich über das eingeschlagene Verfahren. Nach der Koalitionsvereinbarung zvdschen CDU/CSU und SPD von Ende 1966 sei er für alle Personalfragen auf Seiten der SPD zuständig. Die Nachfolge Gehlens hätte daher zunächst mit ihm besprochen werden müssen. Außerdem habe der Punkt nicht auf der Tagesordnung des Kabinetts gestanden. Ich antwortete Lauritzen, daß ich die volle Verantwortung für den Vorgang übernähme. Knieper habe mir die Sache als äußerst dringend ans Herz gelegt. Im Interesse des BND sei eine sofortige Klärung notwendig gewesen. Die Sache habe übrigens auf der Tagesordnung einer früheren Kabinettssitzung gestanden, sei aber damals nicht erledigt worden. Knieper habe mir gesagt, daß die SPD Anspruch auf den Vizepräsidentenposten im BND erhebe. Darüber zu reden sei ich jederzeit bereit, aber die Frage der Präsidentschaft hätte nicht länger zurückgestellt werden dürfen. Soweit ich wisse, habe auch die SPD keine Einwendungen gegen Wessel, was Lauritzen bestätigte. Lauritzen und ich haben in den folgenden zwanzig Monaten gut zusammengearbeitet. Wir traten uns später im Bundestagswahlkampf 1972 als Gegner im Wahlkreis Oldenburg/Plön gegenüber^"). Dort schlug er mich mit einem lOprozentigen Vorsprung, aber wir haben uns auch dadurch persönlich nicht entzweit. Er starb im Juni 1980 mit 70 Jahren. Er war wegen seiner Ruhe und Zuverlässigkeit ein allgemein geschätzter Kollege.
Bundeskanzler, Kabinett und „Kressbronner Kreis" -
Für die Arbeit der Bundesregierung gelten drei verschiedene Prinzipien: das Kanzlerprinzip: der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Pohtik; das Ressortprinzip: innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung; das Kollegialprinzip: die förmlichen Beschlüsse der Bundesregierung z . B . im Gesetzgebungsverfahren wie die Einbringung einer Gesetzesvorlage beim Parlament und der Erlaß von Rechtsverordnungen, die Ernennung hoher Beamter und Offiziere sowie die Entscheidung über Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesministern fallen in die Kompetenz der Bundesregierung als Kollegialorgan.
") Vgl. dazu Kap. IX S. 4 1 8 f.
355
Diese Prinzipien stehen in einem gewissen Widerspruch zueinander. Über die daraus resuhierenden Probleme habe ich mich ausführlich geäußert^^). In der Praxis ist die Unterscheidung zwischen einer Richtlinie, die der Kanzler geben darf und einer Einzelweisung an einen Ressortminister, die er nicht geben darf, oft schwierig. Auch bei den Kabinettssitzungen muß der Kanzler aufpassen; dort hat er nur eine Stimme. Wird er überstimmt, ist der Beschluß trotzdem gültig. Diese scheinbare Schwäche in der Position des Kanzlers wird freilich dadurch kompensiert, daß der Kanzler den Ablauf der Kabinettssitzung in der Hand hat. Er setzt die Tagesordnung fest. Er entscheidet, ob abgestimmt werden soll. In der Großen Koalition ist selten abgestimmt worden. Ich erinnere mich nur an einen Fall: Die Entscheidung des Kabinetts über die Nichtaufwertung der Deutschen Mark im Jahre 1969. Hier wurden die SPD-Minister überstimmt^^). Die Machtstellung des Kanzlers beruht schließlich darauf, daß er dem Bundespräsidenten jeden Minister jederzeit zur Entlassung vorschlagen kann. Aber in der Praxis ist diese Kompetenz nicht so groß, wie sie nach dem Text des Grundgesetzes zu sein scheint. Zumal in einer Koalitionsregierung riskiert der Bundeskanzler das Auseinanderbrechen der Koalition, wenn er einen Minister der anderen Partei zur Entlassung vorschlägt. Vor diesem Dilemma stand Kiesinger im Verhältnis zu Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, als dieser trotz des Kabinettsbeschlusses über die Nichtaufwertung der Deutschen Mark weiter öffentlich für die Aufwertung eintrat. Alles in allem ist der Kanzler mit einer großen Machtfülle ausgestattet. Er ist im Besitz umfassender Informationen durch die Auslandsmissionen, den BND und das Bundespresse- und Informationsamt. Zu Adenauers Zeiten kam es vor, daß der Kanzler bisweilen, unter Umgehung der Minister, mit den Staatssekretären der Ministerien einen direkten Kontakt aufnahm und so die Entscheidung der Ressorts beeinflußte. Natürlich widersetzten sich viele Minister dieser Praxis, und sie ist wohl in der Folgezeit mehr und mehr außer Übung gekommen, aber immerhin gibt es bis in die jüngste Zeit Beispiele dafür, daß die Staatssekretäre auf ihre Minister im Sinne der Einhaltung der vom Bundeskanzler gesetzten Richtlinien einwirken. Besonders wichtig ist ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen Bundeskanzler und Außenminister. Das funktioniert in der Regel, wenn beide derselben Partei angehören. Aber wenn der Außenminister einer anderen Partei als der Kanzler angehört, womöglich deren Vorsitzender ist, sind Spannungen nahezu unvermeidlich. Das war der Fall zwischen Kiesinger und Brandt und später zwischen Brandt und Scheel, Schmidt und Genscher und schließlich zvdschen Kohl und Genscher. Eine ungewöhnliche Rolle spielte im Kabinett Kiesinger der Emährungsminister Hermann Höcherl. Er war vorher in den Kabinetten Adenauer und Erhard Karl Carstens, Politische Führung, Erfahrungen im Dienst der Bundesregierung, Stuttgart 1971 S. I I I ff. " ) Vgl. dazu später S. 366. 356
Innenminister gewesen und verfügte über eine große parlamentarische und ministerielle Erfahrung. Oft machte er im Kabinett, wenn die Diskussion sich festfuhr, Kompromißvorschläge, auch zu Fragen, in denen er keinerlei Zuständigkeit besaß. Er verblüffte dabei die Runde oft durch pragmatische, auf den ersten Blick vernünftig erscheinende Vorschläge, so daß er mehr als einmal mit seiner Initiative Erfolg hatte. Freilich stellte sich gelegentlich nachher heraus, daß die Sache einen Haken hatte und mit dem Kabinettsbeschluß noch nicht erledigt war; aber sicher war es Höcherls Verdienst, die Angelegenheit zunächst einmal vom Tisch gebracht zu haben. In der Ära Kiesinger gab es eine Reihe von Kabinettsausschüssen, in denen die Arbeit des Kabinetts vorbereitet und in denen zum TeU auch abschließende Entscheidungen getroffen v^nirden. Die wichtigsten waren das Wirtschaftskabinett, das Finanzkabinett, in dem die Mittelfristige Finanzplanung festgelegt wurde, und der Bundesverteidigungsrat. In allen Ausschüssen hatte der Bundeskanzler den Vorsitz, aber er ließ sich häufig vertreten. Sehr große Bedeutung gewann damals der Bundesverteidigungsrat, in dem die Haltung der Bundesregierung zum Atomwaffensperrvertrag festgelegt vnirde. Hier führte der Bundeskanzler regelmäßig den Vorsitz. In den meisten Koalitionsregierungen hat es sich als notwendig erwiesen, neben dem formalen und schwerfälligen Regierungsapparat ein Gremium zu bilden, in dem die Koalitionspartner in kleinem Kreise unter Einbeziehung der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag und unter völliger Abschirmung gegenüber der Öffentlichkeit wichtige, vor allem kontroverse Fragen vorbesprechen konnte. Zu Kiesingers Zeit hieß dieses Gremium der „Kressbronner Kreis", weil er 1967 zum ersten Mal in Kressbronn am Bodensee zusammengetreten war. Er tagte meist einmal wöchentlich im Bundeskanzleramt. Die Zusammensetzung des Kreises wechselte. Immer führte Kiesinger den Vorsitz. Von der CDU gehörte ihm der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel und Bundesminister Bruno Heck, von der CSU Bundesminister Franz Josef Strauß und der Vorsitzende der CSULandesgruppe im Bundestag Richard Stücklen, von der SPD die Bundesminister Brandt und Wehner und der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt sowie meist einer seiner Stellvertreter an. Gelegentlich nahmen auch die Parlamentarischen Geschäftsführer Will Rasner (CDU/CSU) und Karl Wienand (SPD) teil, häufig auch der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeskanzleramt zu Guttenberg und der Parlamentarische Staatssekretär Gerhard Jahn vom Auswärtigen Amt. Als Chef des Bundeskanzleramtes führte ich seit dem 1. Januar 1968 das Protokoll dieses Kreises. Im Februar 1969 v^oirde der Teilnehmerkreis eingeschränkt, um die Arbeit zu straffen. Nunmehr sollten, außer Kiesinger und Brandt, nur noch Strauß, Barzel und Stücklen für die Unionsseite sowie Wehner, Helmut Schmidt und Alex Möller für die SPD-Seite dem Kreise angehören. Aber auch diese Regelung wurde nicht strikt eingehalten. In den 22 Monaten, in denen ich das Protokoll führte, hat der Kreis die wichtigsten Regierungsthemen behandelt. So unter anderem die Notstandsgesetzgebung, die Wahlrechtsreform, die Finanzverfassungsreform, die Jugendun357
rahen, den Atomwaffensperrvertrag, die Verjährung bei Mord, die Entscheidung über den Tagungsort der Bundesversammlung im März 1969, die DeutschlandpoHtik und schließlich die Frage der Aufw^ertung der Deutschen Mark. Und natürlich wurden die persönlichen Streitigkeiten und Konflikte innerhalb des Kressbronner Kreises behandelt. Die Diskussionen verliefen konzentriert und beschränkten sich auf die Punkte, die zwischen den Koalitionspartnern streitig waren. Fast immer kam es zu einer Einigung. Seine längste Sitzung hielt der Kressbronner Kreis am 2. und 3. Juni 1969 ab. Sie dauerte von 19 Uhr bis 5 Uhr am anderen Morgen. Es ging um die Frage, wie die Bundesregierung auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch Kambodscha reagieren sollte, femer um die Frage der Aufwertung und um den Atomwaffensperrvertrag. Und schließhch ging es um die noch nicht erledigten Punkte des Regierungsprogramms. Ich wqirde um 2 Uhr morgens beauftragt, ein Ergebnisprotokoll abzufassen. Als ich meinen Entv^oirf um 2.55 Uhr vorlegte, war zunächst niemand damit einverstanden. Aber nach weiteren 2 Stunden kam ein Beschluß zustande, der mit meinem Entwurf im wesentlichen übereinstimmte.
Bundeskanzleramt, Bundespresseamt, Bundesnachrichtendienst Die wichtigsten Arbeitseinheiten des Bundeskanzlers waren das Bundeskanzleramt und das Bundespresse- und Informationsamt in Bonn. Auch der Bundesnachrichtendienst in Pullach bei München lieferte wichtige Informationen. Innerhalb des Bundeskanzleramtes erfüllte Guttenberg wichtige Funktionen als Parlamentarischer Staatssekretär. Er hielt den Kontakt zum Parlament, zur Fraktion der CDU/CSU, aber auch zur SPD aufrecht. Außerdem verfügte Guttenberg über einige zuverlässige Informationsquellen und konnte den Bundeskanzler frühzeitig unterrichten. Das Bundeskanzleramt lieferte unter meiner Leitung dem Bundeskanzler die für ihn wichtigen Informationen aus allen Bereichen der Innen- und Außenpolitik. Es bestand damals aus drei Abteilungen und dem Planungsstab. Zuständig waren: Abteilung 1 unter Ministerialdirektor Josef Selbach für die Innenpolitik; Abteilung 2 unter Ministerialdirektor Horst Osterheld für Außen-, Verteidigungs- und Deutschlandpolitik; Abteilung 3 unter Ministerialdirektor Johannes Praß für Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Der Planungsstab, unter Ministerialdirektor Wemer Krueger, hatte, wie der Name sagte, Planungsaufgaben. Zugleich bereiteten die Abteilungen alle Entscheidungen des Bundeskanzlers vor. Sie lieferten ausführliche Unterlagen für jede Kabinettssitzung. Sie leisteten eine außerordenüich umfangreiche, zuverlässige und solide Arbeit. Der Planungsstab hatte es schwer. Es war die Zeit einer gewissen Planungseuphorie in Deutschland und auch in anderen Ländern, der ich eher skeptisch gegenüberstand, schon aufgrund meiner früheren Erfahrungen mit dem Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Das Wort von Bertoldt Brecht: „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch 'nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht" kam 358
mir immer wieder in den Sinn. In der Tat ist die prognostische Kraft des Menschen, wie jeder weiß, begrenzt. Die bloße Fortschreibung von gegenwärtigen Trends in die Zukunft kann unvorhersehbare Ereignisse nicht berücksichtigen und noch weniger die Fähigkeit der Politiker, mit diesen Ereignissen fertig zu werden. Dennoch ist Planung notwendig. Die Mittelfristige Finanzplanung habe ich trotz aller auch ihr innewohnenden Unsicherheitsfaktoren immer als ein wichtiges Instrument der Regierungsarbeit geschätzt. Eine sehr wichtige Arbeitseinheit bildete das Büro des Bundeskanzlers unter Leitung von Ministerialdirigent Hans Neusei. Er war schon damals der gute Geist des Hauses war, wußte über alles Bescheid, war absolut loyal und von einer enormen Arbeitskraft. Er war ein wichtiger Gehilfe des Bundeskanzlers. Zudem ging er sehr geschickt auf dessen persönliche Wünsche ein. Dem Bundeskanzler standen außerdem drei ausgezeichnete Mitarbeiterinnen zur Seite: Hella Wassmann, Doris Bremen und Helga Heyden. Mein eigenes Büro bestand aus meinem persönUchen Referenten Dr. Gerhard Selmayr, den ich aus dem Bundesverteidigungsministerium mitgenommen hatte und der später Kanzler der Bundeswehrhochschule in München vnirde. Seine Loyalität und die behutsame Art, mit der er die Probleme anging, waren mir sehr hilfreich. Zwei Damen arbeiteten für mich: Frau Hedi Trudewind, die Schwester von Eva Trudewind, die meine Mitarbeiterin in den fünfziger Jahren in der bremischen Vertretung gewesen war. Hedi Trudewand ist später mehrere Jahre bei der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin tätig gewesen. Die zweite, gleichfalls sehr loyale und tüchtige Mitarbeiterin war Frau Hildegard Blumenstein. Das Bundespresse- und Informationsamt lieferte dem Bundeskanzler täglich die Informationen über die Entwicklung der veröffentlichten Meinung im Inland und Ausland. Es beriet ihn bei seinen eigenen Auftritten vor der Presse und im Femsehen. Leiter des Presseamtes war als Nachfolger von Karl-Günther V. Hase Günter Diehl, der Kiesinger seit langem persönlich nahestand und auf dessen Rat er hörte. Stellvertretender Leiter war Conrad Ahlers, der von der SPD vorgeschlagen worden war. Beide arbeiteten gut zusammen, beide standen in voller Loyalität zum Kanzler. Es waren unabhängige Männer, die kein Blatt vor den Mund nahmen, was Helmut Schmidt gelegentlich kritisierte. Der Bundeskanzler solle, so sagte er, eine schärfere Dienstaufsicht gegenüber Diehl und Ahlers ausüben. Beide nähmen in unzulässiger Weise am Wahlkampf teil. Kiesinger wies demgegenüber auf die große Leistung beider bei der Darstellung der gemeinsamen Politik der Koalition hin. Kaum hatte ich mein Amt im Bundeskanzleramt angetreten, berichteten mir die zuständigen Mitarbeiter von großen Problemen, die im BND entstanden waren. Diese Organisation war das Werk des früheren Generals Reinhard Gehlen. Er leitete bei Kriegsende die nachrichtendienstliche Abteilung „Fremde Heere Ost" beim Generalstab des Heeres und verfügte über ein hervorragendes Nachrichtenbild von den sowjetischen Streitkräften und ihren Verbündeten. Es gelang ihm, die Amerikaner für seine Arbeit zu interessieren, so daß sie ihn und seine Organisation geschlossen in ihre Dienste übernahmen, bis sie diese 1955 359
an die Bundesregierung übergaben. Auch in der Folgezeit verfügte der BND über hervorragende Nachrichtenquellen aus dem gesamten Ostblock. Er galt zeitweilig als der beste westliche Nachrichtendienst. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 und dem Aufbau einer Gegenspionage in den Ostblockstaaten entstanden für den BND Schwierigkeiten, die schließlich 1963 in der Entdeckung des sowjetischen Spitzenagenten Heinz Felfe im BND selbst kulminierten. Dieser Schock hat den BND und insbesondere Gehlen selbst tief getroffen. Der Fall Felfe und die daraufhin im BND ergriffenen Maßnahmen erzeugten eine allgemeine Atmosphäre des Mißtrauens innerhalb des Dienstes und lähmten seine Wirkungsmöglichkeiten. Im Bundeskanzleramt lagen Eingaben vor, die sich darüber beklagten. Einige gingen soweit zu behaupten, daß es außer Felfe noch weitere Ostagenten im BND gäbe und boten dafür Beweise an. Mir war klar, daß dieser Komplex schnellstens untersucht werden mußte, und es hätte nahe gelegen, den neuen Präsidenten Wessel damit zu beauftragen, zumal er ganz unvoreingenommen von außen in den Dienst eintrat. Aber dagegen sprachen wichtige Gründe. Wessel wäre mit dieser Untersuchung zeitlich stark belastet und seinen eigentlichen Aufgaben entzogen worden. Hätte er seinerseits Mitarbeiter für die Untersuchung eingesetzt, wären unvermeidlicherweise solche Beamten herangezogen worden, die den geschilderten Vorgängen nicht unbefangen gegenüberstanden, weil sie sich zu ihrer Amtszeit ereignet hatten. Ich entschloß mich daher, den Komplex durch eine von mir ernannte, unabhängige Kommission untersuchen zu lassen. Der Bundeskanzler stimmte zu, und so beauftragte ich am 31. Mai 1968, einen Monat nachdem Wessel sein Amt als Präsident angetreten hatte, den früheren Staatssekretär Dr. Reinhold Mercker, den früheren Leiter der Rechtsabteilung und danach der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes, Ministerialdirektor a. D. Dr. Paul Raab und den früheren General Alfred Zerbel mit der Untersuchung des Komplexes. Diese Kommission hat hervorragend, zugleich gründlich und zügig gearbeitet. Sie hat sich große Verdienste um den BND und damit um unser demokratisches Staatswesen erworben. Vor allem ist es ihr zusammen mit Präsident Wessel gelungen, eine Atmosphäre des Vertrauens im BND wieder herzustellen. Im Juli 1969 legte die Kommission einen umfangreichen Bericht vor, dessen Lektüre zu dem Spannendsten gehört, was ich in meinem Leben gelesen habe und der sehr wertvolle, bis heute wichtige Erkenntnisse enthält. Als wichtigstes Ereignis ihrer Untersuchung erklärte die Kommission, daß sie keine Beweise für eine Feindtätigkeit im BND oder eine Feindsteuerung des BND durch den Gegner gefunden habe. Insoweit war das Ergebnis also beruhigend. Aber die Kommission übte zugleich Kritik an einer Reihe von sachlichen und personellen Entscheidungen, die im BND getroffen worden waren und beklagte insbesondere die Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigung, die sich dort ausgebreitet hatte. Die Kommission machte verschiedene Vorschläge, unter anderem griff sie den immer wieder zur Diskussion gestellten Gedanken auf, den BND in den Raum Köln—Bonn zu verlegen, um ihn aus der Isolierung herauszu360
führen und den Angehörigen des Dienstes einen ungezwungeneren Kontakt zu den politischen und parlamentarischen Instanzen in der Bundeshauptstadt zu ermöglichen. Dieser Vorschlag ist freilich nicht realisiert worden, da er mit ganz außerordentlich hohen Kosten verbunden gewesen wäre. Aufgrund des Berichtes der Kommission habe ich meine eigene Auffassung über den Charakter der Dienstaufsicht, die der Chef des Bundeskanzleramtes gegenüber dem BND zu führen hat, korrigiert. Bis dahin war ich der Meinung, daß ich entscheidend verantwortlich sei für die richtige Auswahl des Präsidenten des BND und einiger weniger Beamter in führender Stellung, daß aber die Durchführung der Aufgaben des Dienstes und ihre Kontrolle dem Präsidenten überlassen bleiben müßte. Wie sollte, so fragte ich, der Chef des Bundeskanzleramtes oder seine Mitarbeiter die Arbeit von Agenten im Ausland kontrollieren? Das sei weder möglich noch sinnvoll. Die Mercker-Kommission hat mich davon überzeugt, daß auch ein gewisses Maß an Detailaufsicht durch das Bundeskanzleramt notwendig ist. Vor allem muß den Angehörigen des Dienstes auf einem geregelten Wege die Möglichkeit gegeben werden, sich mit Eingaben und Beschwerden an das Bundeskanzleramt zu wenden. Insoweit mußte der Bundesnachrichtendienst durchlässiger werden. Die Vorstellung, daß der BND ein Staat im Staate ist, durfte sich nicht durchsetzen. Zum anderen gibt es Grenzfälle, in denen es zweifelhaft ist, ob der Dienst sie aufgreifen sollte, etwa die sogenannte Inlandsaufklärung, die Aufklärung durch sogenannte „Sonderverbindungen" und anderes. Hier muß das aufsichtsführende Bundeskanzleramt entscheiden. Auch eine begrenzte parlamentarische Kontrolle des Dienstes, wie sie seit Jahren praktiziert wird, erscheint mir notwendig. Alles in allem ist der BND, nachdem seine inneren Schwierigkeiten ausgeräumt waren, nach meinem Eindruck wieder zu einem wichtigen, umfassend informierten Instrument der politischen Führung geworden. Vor allem auch dadurch, daß er in ständiger Verbindung zu befreundeten Diensten steht und damit auch über deren Erkenntnisse verfügt. FreUich muß dabei ein Problem beachtet werden: ausländische Dienste, gegnerische, gelegentlich aber auch befreundete, haben die Tendenz, unseren Dienst „zu stopfen", d. h. dadurch, daß sie ihm bestimmte Nachrichten zuspielen, über den BND Einfluß auf die Entscheidungen der Bundesregierung zu gewinnen. In vielen Diskussionen mit Präsident Wessel habe ich auf diese Gefahr hingewiesen und auch konkrete Hinweise dafür gegeben. Spannungen in der Koalition Kiesinger gelang es nicht, ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu Brandt zu finden. Er beklagte sich darüber, daß Brandt ihm gegenüber verschlossen sei und nicht deutlich sage, was er wirklich wolle. Dagegen bestanden gute Beziehungen zwischen Kiesinger und Wehner. Wehner half dem Bundeskanzler wiederholt, wenn es Schwierigkeiten in der Koalition gab. Wehner war wohl auch für eine Fortsetzung der Großen Koalition 361
über die Bundestagswahl von 1969 hinaus. Aber, und das ist rückblickend noch klarer als damals. Wehner hieh sich, möglicherweise als zweitbeste Lösung, auch die Option für die ГОР offen. Sicher scheiterte die Wahlrechtsreform wegen starker Widerstände in großen Teilen der SPD, die vor allem auf dem Nürnberger Parteitag im Herbst 1968 deutlich wurden. Aber Wehner nutzte dieses Instrument auch, um einen engeren Kontakt zur ГОР herzustellen"). Zu dem großen Streit zwischen Union und SPD im Jahre 1969 über die Aufwertung der Deutschen Mark") kamen viele weitere Streitpunkte hinzu. Günter Grass nannte auf einer SPD-Veranstaltung Kiesinger einen alten Nazi. Diese Äußerung wies Barzel empört zurück und die SPD distanzierte sich davon. Umgekehrt nannte Walther Leisler Kiep auf einer CDU-Veranstaltung Wehner einen alten Kommunisten. Der Bayem-Kurier griff Brandt an, weil dieser den Abschluß des Atomwaffensperrvertrages befürwortete. Im Dezember 1968 nahm der CSU-Abgeordnete Richard Jäger mit großer Schärfe gegen die Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten Stellung, weil dieser durch Verhandlungen mit Vertretern der kommunistischen Partei den Kommunisten zur Gründung einer neuen Partei verholfen habe. Die SPD beanstandete das. Auch Kiesinger erklärte, manche Formulierungen Jägers gingen zu weit. Zu einer schweren Auseinandersetzung kam es in einem Koalitionsgespräch im April 1968 wegen eines Gespräches, welches führende Mitglieder der SPD mit der KPI in Rom geführt hatten, ohne daß der Kanzler davon unterrichtet worden war. Wehner und Schmidt erkannten an, daß das Letztere ein Fehler gewesen sei, erklärten aber die Gespräche selbst für nützlich und stellten die Gegenfrage, auf welchem Wege und mit welchem sachlichen Inhalt der Kanzler davon informiert worden sei. Das war ein Schuß gegen den BND, der darüber berichtet hatte. Je mehr sich die Bundestagswahl 1969 näherte, desto schärfer wurden die gegenseitigen Attacken. Kiesinger und Barzel auf der einen, Brandt und Schmidt auf der anderen Seite bemühten sich allerdings immer vdeder um Beruhigung und Mäßigung bei ihren jeweiligen politischen Freunden. Aber Brandt und auch Schmidt beklagten sich über Äußerungen der Sprecher der Bundesregierung, Staatssekretär Diehl und seines Stellvertreters Ahlers. Deren Aufgabe sei es nicht, einzelnen Ministem Zensuren zu erteilen. Brandt beschwerte sich auch über das Verhalten von Beamten des Bundeskanzleramtes, die sich so aufführten, als ob sie die Vorgesetzten der Ressortminister seien. Immer wieder glättete Kiesinger die Wogen, mit dem Erfolg, daß das Kabinett bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenhielt.
" ) Siehe später S. 368 f. " ) Siehe S. 365 f.
362
Die Bundestagswahl 1969 und ihre Folgen Die Bundestagswahl vom 28. September 1969 brachte der Union (CDU und CSU zusammen) 46,1 Prozent der güUigen Zweitstimmen; das waren 1,5 Prozent weniger als bei der vorangegangenen Wahl von 1965. Die SPD erzielte 42,7 Prozent, d. h. 3,4 Prozent mehr als 1965. Die Verhererin war die ГОР, die mit 5,8 Prozent die 5-Prozent-Grenze nur knapp überschritt. Sie verlor gegenüber 1965 3,7 Prozent, d. h. mehr als ein Drittel ihres damaligen Stimmanteils. Trotzdem führte sie die Entscheidung zum Koalitionswechsel herbei. Noch in der Wahlnacht verständigten sich Brandt und Scheel auf die Koalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten, die sogenannte Sozial-liberale Koalition. Die Union hatte das Nachsehen, was Kiesinger schwer traf. Er hatte bis zum Schluß gehofft, die Regierang mit der SPD oder vielleicht auch mit der ГОР fortsetzen zu können. Am 21. Oktober 1969 wählte der Bundestag Willy Brandt zum Bundeskanzler^®), der am 22. Oktober sein Kabinett vorstellte^®). Ihm gehörten außer Brandt dreizehn Sozialdemokraten an und drei ГОР-Mitglieder. Femer ein parteiloser Minister, Hans Leussink, für Bildung und Wissenschaft. Ich wurde durch zwei Verfügungen von Brandt am 21. Oktober von meinen Pflichten als Chef des Bundeskanzleramtes entbunden und am 22. Oktober 1969 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Die Prozedur war vergleichsweise rappig, wie es der Mentalität meines Nachfolgers, Horst Ehmke, entsprach, der Chef des Bundeskanzleramtes im Range eines Bundesministers wurde. Aber ich litt nicht daranter, sondem empfand die Tatsache, daß ich nun, nach zwanzigjähriger Tätigkeit im öffentlichen Dienst, zunächst des Landes Bremen dann des Bundes, aller amtlichen Verpflichtungen los und ledig war und mich ganz meinen wissenschaftlichen Neigungen widmen konnte, auch zugleich als eine große Chance. Ich konnte damals nicht ahnen, daß ich drei Jahre später als Bundestagsabgeordneter einen neuen Anfang nehmen und erst fünfzehn Jahre später, mit dem Ende meiner Amtszeit als Bundespräsident, endgültig aus dem Dienste unseres Landes ausscheiden würde.
3. Probleme und Leistungen der Großen Koalition Die Regierang Kiesinger, der ich für knapp zwei Jahre an entscheidender Stelle diente, war die bisher kürzeste aller Regierangen in der Bundesrepublik Deutschland; sie währte zwei Jahre und elf Monate, während Adenauer fast 14 Jahre, Erhard drei Jahre und einen Monat, Willy Brandt vier Jahre und fünf Monate, Helmut Schmidt über acht Jahre und Helmut Kohl bis 1991 schon über neun Jahre im Amt waren. Aber trotz ihrer kurzen Dauer erzielte die Regierang der Großen Koalition große Erfolge.
" ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 71 S. 7 A - 8 C . " ) Ebenda S. 15.
363
Wirtschafts-
und
Währungspolitik
Ein Schwerpunkt der Arbeit der Regierung Kiesinger lag von Anfang an im Bereich von Wirtschaft und Finanzen. Hier war sie außerordentlich erfolgreich. Das Bruttosozialprodukt begann nach einer Phase der Rezession wieder zu steigen; 1968 um 7,2 Prozent, 1969 um 8 Prozent in Preisen von 1962. Die Arbeitslosenzahlen gingen zurück von 459 ООО im Jahr 1967 auf 179 ООО im Jahre 1969. Die Preissteigerung hielt sich in Grenzen, 1967 -1- 1,4 Prozent, 1968 -1- 1,4 Prozent und 1969 -f· 2,8 Prozent. Zu dieser Entwicklung trug das Vertrauen bei, welches die Wirtschaft in die Führungskraft der Regierung setzte. Aber auch gezielte wirtschaftspolitische Maßnahmen stimulierten den Aufschwung. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, welches am 14. Juni 1967 in Kraft trat^'), ist zwar auf mancherlei Kritik gestoßen; in der Tat erscheint es fast unmöglich, die vier Ziele des Gesetzes: Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Wachstum (das sogenannte magische Viereck) im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zu realisieren. Aber als Orientierungspunkte für die Regierungspolitik waren sie richtig formuliert. Das Gesetz schuf die rechtliche Grundlage für die sogenannte „konzertierte Aktion", die den Rahmen für eine freiwillige Zusammenarbeit zwischen Vertretern des Staates und der Sozialpartner bildete. Vor allem aber gab das Gesetz der Bundesregierung die Befugnis, globale Steuerungsmaßnahmen zur Belebung oder Dämpfung der wirtschaftlichen Konjunktur zu ergreifen. Bei übermäßig starker Nachfrage konnte die Regierung aus Haushaltsmitteln eine Konjunkturausgleichs-Rücklage bilden, die bei der Bundesbank anzulegen war und auf die bei nachlassender Konjunktur zurückgegriffen werden konnte. Das Einkommensteuergesetz wrurde dahin geändert, daß die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates und des Bundestages im Falle einer Rezession die Möglichkeit zu erhöhten Sonderabschreibungen bei der Anschaffung von Wirtschaftsgütem des Anlagevermögens erhielt, ja sogar die Einkommen-, Lohn- und Кофегschaftssteuer bis zu 10 Prozent senken konnte. Zur Konsolidierung des Haushalts wurde mit Wirkung vom I.Januar 1968 ein Zuschlag zur Einkommensteuer von 3 Prozent für Besserverdienende eingeführt (die sogenannte Ergänzungsabgabe)^®). Schließlich vnirde die Bundesregierung verpflichtet, einen fünfjährigen Finanzplan aufzustellen, der der Haushaltswirtschaft des Bundes zugrundegelegt werden sollte. Alle diese Maßnahmen zusammengenommen gaben der Wirtschaftspolitik der Regierung Kiesinger Solidität und Seriosität. Der wirtschaftliche Aufschwung, der im Jahre 1968 einsetzte, wirkte sich in einer beträchtlichen Steigerung der deutschen Exporte und in hohen Überschüssen der Leistungsbilanz aus. Die Finanzmärkte erwarteten unter diesen Umständen eine Aufwertung der Deutschen Mark, und „heiße Gelder", die von der
" ) Gesetz vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582). 2») Gesetz vom 21. Dez. 1967 (BGBl. I S. 1254).
364
Aufwertung profitieren wollten, strömten aus dem Ausland in die Bundesrepublik ein. In dieser Lage scMug die Bundesbank eine Aufwertung der Deutschen Mark vor. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hatte schon vorher die gleiche Anregung gegeben. Auch das Ausland forderte, in teilweise kategorischen Formulierungen, eine Änderung des Wechselkurses der Deutschen Mark. Aber die beiden zuständigen Minister, Karl Schiller und Franz Josef Strauß, waren entschieden gegen eine solche Maßnahme. Vor allem bei Strauß waren es prinzipielle Bedenken. Er wehrte sich gegen die Vorstellung, daß die Bundesrepublik Deutschland, die anerkanntermaßen eine erfolgreiche Stabilitätspolitik betrieben hatte, den risikoreichen und folgenschweren Schritt einer Aufwertung vollziehen sollte, während die für die Inflation in ihren Ländern verantwortlichen Regierungen untätig blieben. Auch sah er für den deutschen Export Gefahren, die er vermeiden wollte. Bei Schiller scheint hauptsächlich die Überlegung eine Rolle gespielt zu haben, daß in der damaligen Lage die konjunkturelle Entwicklung noch nicht genau zu übersehen war. Er war sich nicht sicher, ob die Rezession wirklich überwunden war und dachte daher eher an weitere Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur. Er gab in der damahgen Lage dem Ziel wirtschaftlichen Wachstums den Vorrang vor dem der Preisstabilität, weil er das Letztere als weniger gefährdet ansah. In seiner Sitzung vom 19. September 1968 folgte das Kabinett dem Votum der beiden Minister. Statt einer Aufwertung brachte die Bundesregierung ein Gesetz über Maßnahmen zur außenvdrtschaftlichen Absicherung im Bundestag ein, das am 28. November 1968 verabschiedet wurde^®). Danach konnten Exporte (außer landwirtschaftlichen Ausfuhren) mit einer Abgabe von maximal 4 Prozent belastet und auf Importe konnte eine Vergütung bis zu 4 Prozent gewährt werden. Schiller erläuterte die getroffene Entscheidung auf einer Konferenz der zehn vñchtigsten Industrienationen, die vom 20. bis 22. November 1968 in Bonn stattfand'"). Seine Ausführungen zeigten ein überlegenes volkswirtschaftliches Können und Wissen; allerdings woirden sie von den Partnern als recht anmaßend empfunden. Jedenfalls hörte der Druck auf eine Aufwertung der Deutschen Mark nicht auf. Die deutschen Exportüberschüsse wuchsen weiter, und die Symptome einer beginnenden Hochkonjunktur zeichneten sich immer deutlicher ab. Im Februar 1969 erklärte Bundesminister Schiller zum ersten Mal öffentlich, daß der kategorische Imperativ des Jahres 1969 Wahrung der Stabilität des Preisniveaus heiße. Kurz darauf kritisierte Professor Herbert Giersch, ein prominentes Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtvdrtschaftlichen 29) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 68 S. 1 0 7 1 9 D - 1 0 7 5 2 D . - Gesetz vom 29. Nov. 1968 (BGBl. I S. 1255). Siehe hierzu Archiv der Gegenwart 1968 S. 1438 f. und Karl Schiller, „Die internationale Währungslage nach der Bonner Konferenz der Zehnergruppe" in Europa-Archiv 1969 S. 1 - 4 .
365
Entwicklung, die Bundesregierang öffentlich, weil sie eine Änderang des Wechselkurses für die Dauer ihrer Amtszeit abgelehnt habe. Im Mai 1969 setzte eine zweite Spekulationswelle ein, durch die erneut Milliardenbeträge heißen Geldes aus dem Ausland nach Deutschland strömten. Wiederum wurde die Bundesbank bei der Bundesregierung vorstellig, wiederum befürwortete sie eine Aufwertung der Deutschen Mark und dieses Mal fand sie die eindeutige Unterstützung des Wirtschaftsministers. Damit begann in der Bundesrepublik eine der folgenschwersten innenpolitischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Da sich der Finanzminister Strauß einer einseitigen Aufwertung weiterhin entschieden widersetzte, lag diesmal die volle Verantwortung für die zu treffende Entscheidung bei Bundeskanzler Kiesinger, der die ihm zufallende Aufgabe unter Zuhilfenahme aller zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten zu lösen suchte. Er hielt ausführliche Beratungen mit den beiden Fachministern, mit der Bundesbank und mit dem Sachverständigenrat ab. Er hörte prominente Vertreter der Wirtschaft, darunter den Bankier Hermann Josef Abs. Er heß sich über die Lage der Landwirtschaft, als der durch eine etwaige Aufwertung am schwersten betroffenen Gruppe unterrichten; er sprach mit seinen politischen Freunden. Seine Entscheidung fiel schließlich gegen die Aufwertung. Dementsprechend lehnte das Kabinett in seiner Sitzung vom 9. Mai 1969, in der einzigen Kampfabstimmung während der Kanzlerschaft Kiesingers, mit den Stimmen der CDU/CSU-Minister gegen die Stimmen der SPD-Minister die Aufwertung der Deutschen Mark ab. Aber Schiller fügte sich der Kabinettsentscheidung nicht. Es zeigte sich auch bald, daß diese Frage einen hochbrisanten Konfliktstoff gegenüber der CDU/CSU bildete, „une grande querelle", wie de Gaulle zu sagen pflegte, und daß Schiller sich dabei glänzend profiHeren konnte. Er kritisierte die Entscheidung des Kabinetts in der Öffentlichkeit. Er berief sich dabei auf seinen Amtseid, der ihn veφflichte, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Wie immer argumentierte er brillant und machte in der Öffentlichkeit Eindruck. Kiesinger beschwor die SPD, auf Schiller mäßigend einzuwirken, dessen Verhalten völlig unakzeptabel sei; nach allen Regeln der Kabinettsdisziplin müsse er ihn entlassen, aber dann sei die Koalition geplatzt. Brandt versprach mit Schiller zu sprechen, aber Schiller blieb bei seiner Linie. Ich bin davon überzeugt, daß die Entscheidung gegen die Aufwertung die Unionsparteien bei der Bundestagswahl im September 1969 Stimmen gekostet hat. Da sie bei dieser Wahl 46,1 Prozent erreichten, haben sie dadurch vielleicht die Chance für die absolute Mehrheit zumindest der Mandate verpaßt. Schillers Argumente vWrkten überzeugender. Die Tatsache, daß der Bundesbankpräsident, also eine unabhängige Instanz, und viele prominente Vertreter der Wirtschaftswissenschaft ebenfalls für die Aufwertung eintraten, schwächte die Position der Unionsparteien. Die Entscheidung gegen die Aufwertung war also eine schicksalhafte Entscheidung. Ich habe diese Entscheidung damals aus innerer Überzeugung mitgetragen und sie überall, wo dazu Gelegenheit bestand, auch vertreten, allerdings aus einem anderen Grunde. Ich befürchtete, daß im Falle einer Aufwertung der 366
Deutschen Mark die NPD weitere Stimmengewinne erzielen würde. Sie befand sich damals im Aufwind und gewann Anhänger vor allem im ländlichen Raum. Und gerade hier hätte sich die Aufwertung negativ ausgevdrkt, denn die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte vkoirden in einer europäischen Währungseinheit festgesetzt, die durch eine Aufwertung der Deutschen Mark an Wert verloren hätte. Mit anderen Worten: die Bauern hätten weniger Geld für ihre Erzeugnisse bekommen. Die dadurch entstehende Unruhe bei den Bauern würde nach meiner Einschätzung die NPD ausnutzen und damit vielleicht ihren Einzug in den Bundestag schaffen. Das aber erschien mir im Hinblick auf die Haltung des Auslands, das in der NPD eine neonazistische Partei sah, politisch unerwünscht. Ich befürchtete eine Belastung der internationalen Beziehungen unseres Landes im Falle eines Wahlsieges der NPD, eine Einschätzung, die übrigens die sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts teilten. Daß diese Überlegungen nicht unbegründet waren, zeigt das Wahlergebnis vom 28. September 1969. Die NPD erhielt 4,3 Prozent der Stimmen. Es fehlten ihr 230 ООО Stimmen zum Einzug in den Bundestag. Ich lasse dahingestellt, wieweit diese Erwägungen für die Entscheidung der Unionsmitglieder im Kabinett und insbesondere des Bundeskanzlers maßgebend waren. In späteren Diskussionen habe ich mir entgegenhalten lassen müssen, daß der Einzug der NPD in den Bundestag vom Standpunkt der Union durchaus auch Vorteile gehabt hätte. Wäre die NPD mit 5 Prozent in den Bundestag gekommen, hätten ihr mindestens 25 Sitze zugestanden. Dann hätte eine Koalition aus SPD und ГОР keine Mehrheit der Sitze gehabt, es hätte keine Regierung gegen die Union gebildet werden können. Aber das sind Spekulationen, die an dem tatsächhchen Ablauf nichts ändern. Ich trage sie hier vor, um darzutun, daß auch diejenigen, die gegen die Aufwertung waren, bestrebt waren „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden", nicht nur Bundesminister Schiller, wenn er mit diesem Argument für die Aufwertung eintrat. Kaum war die neue Bundesregierung aus SPD und ГОР gebildet, wertete sie am 24. Oktober 1969 die Deutsche Mark um 8,5 Prozent auf. Der deutsche Export hat darunter nicht gelitten und für die deutsche Landwirtschaft vmrde der Schock gemildert, indem ihr für vier Jahre eine volle Entschädigung zugesagt wurde.
Änderungen der bundesstaatlichen Struktur und die gescheiterte Wahlrechtsreform Ebenso bedeutungsvoll wie ihre wirtschaftspolitischen und währungspolitischen Maßnahmen waren die Änderungen, die die Große Koalition an der Finanzverfassung der Bundesrepublik vornahm. Durch das 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8. Juni 1967^1) wurden Bund und Länder verpflichtet, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftli-
" ) BGBl. I S. 581.
367
chen Gleichgewichts Rechnung zu tragen; und durch das 21. Gesetz zur Änderang des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969'^) wurde das Finanzwesen des Bundes von Grund auf neu geordnet. Die Bundesregierung erhieU ein Vetorecht gegenüber Gesetzesbeschliissen des Bundestages, durch die die HaushaUsansätze überschritten wrurden (Artikel 113 GG). Die Verteilung der Steuererträge und der horizontale (zwischen den Ländern) und vertikale (zvwschen Bund und Ländern) Lastenausgleich vmrde neu geregelt. Die großen Steuern (Einkommensteuer, Lohnsteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer) wurden als Gemeinschaftssteuem in einem Verbund zusammengefaßt und in bestimmter Weise zwischen Bund und Ländern geteilt. Es handelt sich hier um eine außerordentlich komplizierte Regelung, die sich aber im großen und ganzen bewährt hat. Freilich hat die Bestimmung des Artikels 104a, Abs. 3, die die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" fordert, in der Praxis immer wieder Anlaß zu schwierigen Auseinandersetzungen gegeben. Gleichzeitig wurden dem Bund weitreichende neue Zuständigkeiten zur Mitwirkung bei Länderaufgaben eingeräumt, so insbesondere für den Ausbau und Neubau von Hochschulen, für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (sogenannte Gemeinschaftsaufgaben). In diesen Bereichen übernahm der Bund einen Teil der anfallenden Kosten. Die Regelung hat später viel Kritik gefunden, weil sie die Verantwortung verwischte und die Länder in Abhängigkeit vom Bund brachte. Im ganzen bewirkten die Gesetze der Jahre 1967 bis 1969 die größte Veränderung der bundesstaatlichen Struktur der Bundesrepublik Deutschland in ihrer gesamten bisherigen Geschichte. Die Koalitionsparteien hatten Ende 1966 eine Änderung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag vorgesehen. In der Regierangserklärung von Bundeskanzler Kiesinger vom 13. Dezember 1966 war dazu ausgeführt worden: „Während der Zusammenarbeit der Großen Koalition soll nach Auffassung der Bundesregierang ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das für die künftigen Wahlen zum Deutschen Bundestag, nach 1969, eine klare Mehrheit ermöglicht"^'). Dadurch wollte die Koalition deutlich machen, daß sie sich selbst als eine Übergangserscheinung ansah und daß sie die Voraussetzung für ein kraftvolles Gegenspiel von Regierang und Opposition in Zukunft schaffen wollte. Besonders nachdrücklich v^oirde dieses Projekt von Bundesinnenminister Paul Lücke vertreten. Ein von ihm berafener wissenschaftlicher Beirat unter Vorsitz von Professor Theodor Eschenburg legte schon am 12. Dezember 1967 einen Bericht vor, in dem die Einführang des relativen Mehrheitswahlrechts empfohlen wurde'^). Alle Abgeordneten sollten in Einzelwahlkreisen gewählt werden. Übrigens empfahl die Kommission außerdem, daß die Bundesvorstände
BGBl. I S. 359. Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 63 S. 3657A. Bericht des vom Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlkreisreform: Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts. Hrsg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1968. 368
der Parteien einen starken Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten erhalten sollten. Das ist eine Forderang, die auch zwanzig Jahre später noch höchst aktuell, freilich immer noch unerfüllt ist. Aber es zeigte sich bald, daß besonders in der SPD Widerstände gegen die Wahlrechtsreform vorhanden waren. Helmut Schmidt erklärte, daß erst ein SPD-Parteitag im Jahre 1970 die Sache würde behandeln können. Gegenüber Kiesinger sagte er, er halte das nicht für wünschenswert, aber es sei eine realistische Einschätzung der Situation. Auch der Parteitag der SPD vom März 1968 in Nürnberg entschied sich für eine Vertagung der Frage. Paul Lücke fühlte sich von der SPD, besonders von Wehner, aber auch von Bundeskanzler Kiesinger im Stich gelassen und trat am 26. März 1968 zurück. Mit Kiesinger war es zu einer Kontroverse in der CDU/CSU-Fraktion gekommen, als Lücke gesagt hatte, bei der Wahlrechtsreform gehe es um eine Frage, die für den künftigen Bestand der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend sei. Kiesinger hatte darauf geantwortet, dieses oder ein anderes Wahlrecht werde über das Schicksal des deutschen Volkes nicht entscheiden. Lücke habe zu wenig Zutrauen in die demokratische Kraft. Intem wurde zvñschen CDU/CSU und SPD das Wahlrechtsthema noch eine Zeit lang weiter erörtert. Die SPD gab zu verstehen, daß bei ihr eine Wahl in Vierer-Wahlkreisen oder auch in Dreier-Wahlkreisen mehrheitsfähig sein würde. Aber endgültig begraben wurde das Thema nach der Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im März 1969. Heinemann erhieh fast alle Stimmen der ГОР und dafür war ausschlaggebend, daß WUli Weyer, der ГОРInnenminister von Nordrhein-Westfalen, in der Fraktionssitzung der ГОР der Bundesversammlung am 4. März mitteilte, er habe die feste Zusage von Wehner und von Ministeφräsident Kühn, daß das Thema Wahlrechtsreform erledigt sei, wenn Heinemann mit Hilfe der ГОР gewählt würde'®). Heinemann v«irde im dritten Wahlgang mit 512 Stimmen gegen 506 Stimmen, die auf Gerhard Schröder, den Kandidaten der Unionsparteien, entfielen, gewählt'®). Die
Notstandsgesetze
Während also das Projekt einer Reform des Wahlrechts scheiterte, gelang der Großen Koalition die Verabschiedung einer umfangreichen Notstandsgesetzgebung''). Die Frage war seit 1955 anhängig. Damals, als die Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität wiedererlangte, hatten sich die drei Westmächte ihrer bisherigen Befugnisse in bezug auf den Schutz der Sicherheit ihrer in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte vorbehalten, bis „die zuständigen deut-
" ) Erich Mende, Von Wende zu Wende 1962-1982, München-Berlin 1986 S. 296. 5. Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland am 5. März 1969, STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 69 Anhang S. 3 A - 9 C . " ) Zur dritten Beratung im Deutschen Bundestag mit namentlicher Abstimmung siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 67 S. 9614C-9654D. - Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709). 369
sehen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch in den Stand gesetzt sind, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer emstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen" (Art. 5, Abs. 2 des Deutschlandvertrages)''). Seitdem hatten sich die verschiedenen Bundesregierungen mehrfach bemüht, eine Notstandsgesetzgebung, die eine Ergänzung des Grundgesetzes erforderlich machte, zustandezubringen - freilich vergeblich, da es an der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag fehlte. Die Große Koalition hatte sich diese Aufgabe gestellt und war dabei erfolgreich. Achtundzwanzig Verfassungsartikel wurden geändert oder gestrichen oder neu in das Grundgesetz eingefügt. Dazu kam die einfache Notstandsgesetzgebung mit mehreren hundert Paragraphen. Mit dem für die deutsche Politik charakteristischen Perfektionismus wurden alle denkbaren und voraussehbaren Fälle geregelt. Die Novelle zum Grundgesetz unterschied zwischen dem äußeren Notstand (Verteidigungsfall) und dem inneren Notstand (Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes). Wenn der Verteidigungsfall eintritt, geht die Befehls- und Kommandogewalt über die deutschen Streitkräfte auf den Bundeskanzler über. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes wird erweitert und das Gesetzgebungsverfahren stark vereinfacht. Ein gemeinsamer Ausschuß, der aus Vertretern des Bundestages und des Bundesrates besteht, übernimmt die Kompetenz dieser beiden Häuser. Das Verordnungsrecht der Regierung wird erweitert. In begrenztem Umfang können auch Grundrechte eingeschränkt werden, z. B. die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Dagegen bleibt die Pressefreiheit unangetastet, ebenso die Stellung und Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes. Bei Eintritt des inneren Notstandes kann die Bundesregierung die Polizei der Länder ihren Weisungen unterstellen. Sie kann den Bundesgrenzschutz einsetzen, und sie kann äußerstenfalls Streitkräfte zum Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und müitärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen (Art. 87a GG). Es war insbesondere die letzte Bestimmung, die den Widerstand der Gewerkschaften und von Teilen der SPD hervorrief. Sie erinnerten an die Niederwerfung der deutschen Freiheitsbewegung von 1848/49 durch preußisches MiUtär. Um ihren Bedenken Rechnung zu tragen, vioirde in Artikel 9 des Gesetzes eine Bestimmung eingeführt, wonach sich der Einsatz der Streitkräfte nicht gegen Streiks richten darf, die zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ausgerufen werden. Außerdem erhielt Artikel 20 GG einen Zusatz, wonach alle Deutschen das Recht zum Widerstand haben, wenn jemand es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen und andere Abhilfe nicht mögUch ist. Außer den Gewerkschaften nahmen Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen, der Wissenschaft und der Kirchen in zum Teil vehementer Form in
BGBl. 1955 I S. 308. 370
großen Demonstrationen gegen die Notstandsgesetzgebung Stellung. Daß es trotz aller dieser Widerstände gelang, für das Gesetzesvorhaben die Zustimmung von zwei Drittel der Abgeordneten des Bundestages zu gewinnen, ist eine besondere Leistung der beiden Fraktionsvorsitzenden Barzel und Helmut Schmidt, vor allem Helmut Schmidts, da naturgemäß der stärkere Widerstand aus den Reihen der SPD kam. Aber auch Barzel, der Schmidt bis an die Grenze des für die Union Vertretbaren entgegenkam, hatte keinen leichten Stand. Mehrfach wurde der Komplex im Kressbronner Kreis, den wöchentlich stattfindenden Koalitionsgesprächen unter Vorsitz des Bundeskanzlers, erörtert. Nach zum Teil schwierigen und langwierigen Debatten kam es jedes Mal zu einer Verständigung zwischen Union und SPD. Nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze erklärten die drei Westmächte ihre Vorbehaltsrechte nach Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages für erloschen. Seitdem hat sich die Diskussion beruhigt, um so mehr, als glücklicherweise die Bestimmungen über den Verteidigungsfall und über den inneren Notstand bisher nie haben angewendet werden müssen. FreiUch dauert die Kritik in der Wissenschaft an'®). Die Kompliziertheit der Regelung wird bemängeU. Sie sei zu wenig verständhch und übersichtlich. Diese Bedenken sind nicht ohne Gewicht. Aber die materiellen Regelungen, die 1968 getroffen wnrden, kann man auch heute noch vertreten. Die dagegen erhobenen Bedenken sind meines Erachtens nicht begründet. Daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn ihre Existenz oder die demokratische Ordnung durch einen Aufstand im Innern bedroht ist, auch ihre Streitkräfte einsetzen darf, halte ich für richtig, zumal es an der demokratischen Einstellung dieser Streitkräfte keinen vernünftigen Zweifel gibt. Die Aufständischen brauchen zahlenmäßig nicht stark zu sein, aber sie können über Waffen verfügen, gegen die die Polizei machtlos ist. Studentenunruhen
und APO
Die Regierungszeit der Großen Koalition war begleitet von schweren Unruhen, Demonstrationen und Gewalttätigkeiten, die besonders von Teilen der jungen Generation und hier vor allem von Teilen der Studentenschaft ausgingen. Diese Bewegung nannte sich „Außerparlamentarische Opposition (APO)". Ihr geistiges Zentrum lag beim Sozialistischen deutschen Studentenbund (SDS). Ihre Symbolfigur vimrde der SDS-Ideologe und Student der Soziologie an der Freien Universität Berlin Rudi Dutschke. Über ihre Ursachen gibt es bis heute verschiedene Ansichten. Sicher gab Amerika das VorbUd, aber die dortige Situation, nämUch der Kampf der Studenten gegen den Vietnamkrieg, in den sie unmittelbar verwickelt wmrden, hatte in Deutschland keine Parallele. War es ein allgemeiner Protest der Jungen gegen die Wohlstandsgesellschaft? Spielte das Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition im Bundestag eine Rolle? Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. Heidelberg 1977 S. 301 ff. 371
Waren die im Bundestag behandelten Notstandsgesetze Ursache, auslösender Faktor oder bloßer Vorwand für die Demonstrationen? Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Die geistige Grundlage der Studentenrevolte lieferte die sogenannte kritische Theorie der Frankfurter Schule, die freilich vereinfacht und vergröbert vnirde. Aber der Kampf gegen das „repressive System der Massengesellschaft", gegen die anonymen Mächte, gegen den Zwang des Marktes und gegen die konsumterroristische Warengesellschaft, wie die Schlagworte hießen, fand in der kritischen Theorie, vor allem bei Herbert Marcuse, eine Grundlage. Die APO forderte die Befreiung des Menschen von diesen Zwängen. Damit einher ging die Propagierung ungehemmter Sinnenlust als höchstes ethisches Prinzip. Die Bindungen zwischen Kindern und Eltern v^rurden vehement angegriffen. In einem Schulbuch stand der Satz: „Du sollst Vater und Mutter ehren, aber wenn sie um die Ecke glotzen, sollst du ihnen in die Fresse rotzen"^"). Gewahanwendung wTirde nicht nur praktiziert, sondern auch ideologisch begründet. Evangelische Theologen erklärten die Anwendung von Gewalt gegen Sachen für erlaubt (Helmut Gollwitzer). Dutschke hielt auch Gewah gegen Menschen im Kampf gegen die Repression für zulässig. Schlimme Szenen spielten sich an den Universitäten ab. Die Vorlesungen mancher Professoren wurden systematisch gestört, einige von ihnen wurden von Studenten brutal zusammengeschlagen. Zahlreiche Universitäten änderten ihre Verfassungen imd gaben den Studenten weitestgehende Mitspracherechte. Nur Köln und Bonn widersetzten sich dieser Tendenz erfolgreich. Die Demonstrationen der Studenten richteten sich gegen die USA, gegen den Vietnamkrieg und gegen den Springer-Konzem. Äußere Ereignisse führten zu einer weiteren Eskalation. Bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin im Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Und am 11. April 1968 wurde Dutschke von einem fanatischen Einzelgänger, der dem rechten politischen Spektrum zugerechnet wurde, schwer verletzt. Die APO reagierte darauf mit Ausschreitungen gegen den Springer-Konzem, wobei es zu regelrechten Straßenschlachten mit der PoHzei kam. Am 11. Mai 1968 war sie maßgeblich an einem Protestmarsch nach Bonn beteiligt, der sich gegen die Notstandsgesetze richtete. Bald darauf flauten die Unruhen ab, aber der von Dutschke propagierte Marsch der Linken durch die Institutionen der Repubhk hatte begonnen. In der Zeit schwerster Unruhen zeigte sich Kiesinger von großer Besonnenheit. Immer wiederholte er, daß die Meinungsfreiheit nicht angetastet, aber Rechtsbrüche geahndet werden müßten. Die Polizei müßte ermutigt werden, aber eine Eskalation sei, wenn irgend möglich, zu vermeiden. Er machte für die Gewalttaten linksextreme Gruppen verantwortlich, sprach aber auch von der Gefahr, daß „sie überhandnehmen und zugleich einen von diesen Gewalttätig-
Vgl. dazu Kap. IX S. 450. 372
keiten aufgeschreckten Teil unserer Bevölkerung in den Rechtsextremismus treiben"«). Der Bundestag befaßte sich in einer Sondersitzung am 30. April 1968 mit der Lage^^). Es sprachen Innenminister Benda und der Bundeskanzler sowie die drei Fraktionsvorsitzenden Walter Scheel (ГОР), Helmut Schmidt (SPD) und Rainer Barzel (CDU/CSU). Benda nannte das, was wir seit einem Jahr erlebten, eine Eskalation des Irrsinns. In dieser Zeit seien 960 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Die meisten gegen junge Menschen unter 25 Jahren. 280 Polizeibeamte seien verletzt worden. Benda zitierte einige Kampfparolen, die bei den Demonstrationen verwendet worden waren: „Bildet Greifertrupps, die besonders tatkräftige Polizisten zusammenschlagen!" oder „Das Werfen von Molotow-Cocktails ist ab sofort als Notwehr zu betrachten". Trotz dieser schrecklichen Auswüchse müßten die Konflikte ausschließlich mit den Mitteln des Rechtsstaates bewältigt werden. Es stellte sich die Frage, ob man den SDS gemäß Artikel 9, Absatz 2 des Grundgesetzes verbieten sollte. Aber Benda verwarf diesen Gedanken. Ein Verbot würde den Prozeß der Selbstbesinnung, der unter den Studenten begonnen habe, verhindern. Kiesinger sprach auch hier sehr maßvoll. Er kritisierte die jungen Menschen wegen ihrer Überheblichkeit und geistigen Anmaßung. Trotzdem zeigte er Verständnis für sie. Die Älteren hätten der jungen Generation nicht erklärt, daß die repräsentative parlamentarische Demokratie ein unvollkommenes System sei, aber eben immer noch viel besser als alle anderen bekannten Systeme. Er habe in den letzten Wochen Gespräche mit Studenten geführt. Wenn er von den konkreten Leistungen der Pohtiker z. B. bei der Entwicklungshilfe oder bei der Bewahrung des Friedens im Zuge unserer Entspannungspolitik gesprochen habe, hätten sie aufmerksam zugehört. Ganz entschieden erklärte Kiesinger, daß Gewalttaten abgewehrt werden müßten „ohne unnötige Opfer". Scheel nannte als eine der Ursachen der Unruhen den Autoritätsverlust der politischen Institutionen. Die Hochschulen hätten sich lange Zeit nicht reformbereit gezeigt; jetzt plötzlich käme man den Studenten entgegen, vielleicht gehe man auch hier schon zu weit. Er bescheinigte der Jugend, daß sie überwiegend demokratisch gesonnen sei. 1966 sei ein entscheidender Fehler begangen worden — statt einen Regierungswechsel zusammen mit der ГОР herbeizuführen, sei die SPD mit der Union zusammengegangen. Das sei aus demokratischer Sicht beunruhigend gewesen. Helmut Schmidt hielt Scheel entgegen, daß sich die ГОР 1966 der Forderung nach Neuwahlen widersetzt habe. Auch er kritisierte, wie Kiesinger, die elitäre Arroganz mancher Studentengruppen. Schmidt verteidigte die Große Koalition. Die parlamentarische Kontrolle gegenüber der Regierung, so sagte er, funktioniere in eindrucksvoller Weise.
" ) Siehe Bericht zur Lage der Nation am 17. Juni 1969 in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 70 S. 1 3 2 4 6 A - 1 3 2 5 4 C , hier 13253 D. « ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 67 S. 8 9 8 9 C - 9 0 5 0 A . 373
Barzel stimmte Schmidt zu. Die Große Koalition habe bedeutende Reformen verwirHicht, nach denen die unruhige Jugend ständig rufe. Aber bei aller Bereitschaft, über weitere Reformen zu sprechen, müsse man auch klar sagen, daß vieles in unserer Demokratie verteidigt und bewahrt werden müsse. In keinem Fall dürfe Gewalt hingenommen werden. Toleranz und Respekt vor der Meinung des anderen seien fundamentale Bedingungen unseres Zusammenlebens. Mehrere Redner dieser im ganzen eindrucksvollen Debatte, gingen auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg ein, die wenige Tage vorher stattgefunden hatte, und wo die NPD 9,8 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Man war sich einig, daß ein TeU dieser Stimmengewinne die Antwort der Wähler auf die Gewalttätigkeit linker Gruppen war. „So treiben die Linken den Rechten die Hasen in die Küche" (Helmut Schmidt). In dieser schvderigen Phase bewährte sich der Zusammenhalt der Regierung der Großen Koalition auch bei den internen Beratungen. Brandt forderte, ebenso wie Kiesinger, eine gerichtliche Verfolgung der festgestellten Gesetzesverletzungen. Mehrere sozialdemokratische Minister kritisierten, ebenso wie die führenden Unionspolitiker, das Femsehen, weil es den antiparlamentarischen Aktionen einer kleinen Gruppe einen unverhältnismäßig breiten Raum einräumte. Eine davon abweichende Haltung nahm der damalige Justizminister Gustav Heinemann ein. Er hielt der Gesellschaft ihre Fehler vor und machte sie für die Eskalation verantwortlich. In diesem Zusammenhang prägte er das Wort von den drei Fingern: „Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte auch daran denken, daß in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen"^'). Bedeutende Leistungen und Ereignisse im Innern Zu den wichtigen Gesetzesvorhaben der Großen Koalition, mit denen der Bundeskanzler und auch ich befaßt wurden, gehörte die Verlängerung der Verjährung bei Mord von 20 auf 30 Jahre und der Ausschluß der Verjährung bei Völkermord. Ein Versuch, die hier in der Koalition bestehenden Differenzen auszugleichen, mißlang. Der Bundestag beschloß die Vorlage mit den Stimmen von CDU und SPD gegen die Stimmen von CSU und ГОР"). Ebenfalls im Jahre 1969 wnrden zwei weitere Gesetze zur Reform des Strafrechtes verabschiedet^'). Sie berücksichtigten stärker als früher den Gedanken
" ) Archiv der Gegenwart 1968 (14. April 1968) S. 13886. **) Zweite und dritte Beratung mit namenüicher Abstimmung am 26. Juni 1969 in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 70 S. 1 3 5 5 4 B - 1 3 5 6 4 B . - Neuntes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. Aug. 1969 (BGBl. I S. 1065). Erstes und Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni und 4. JuU 1969 (BGBL I S. 645 und 717). 374
der Resozialisierung des Straftäters. Statt Zuchthaus, Gefängnis und Haft wurde eine einheitliche Freiheitsstrafe eingeführt. Damit wurde der mit der Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe verbundene Makel beseitigt. Die Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung wurden erweitert. Bedeutungsvoll im Bereich der Sozialpolitik war das Arbeitsförderungsgesetz vom 25. Juni 1969*®); dadurch woirde die berufliche Bildung gefördert. Die Rehabilitierung der Behinderten wurde verbessert, und die BundesanstaU für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurde in Bundesanstalt für Arbeit umbenannt - ein Vorgang von symbolischer Bedeutung, wie Kiesinger sagte*'). Ein sehr wichtiges sozialpolitisches Anliegen war femer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und damit die Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten. Sie wurde durch Gesetz vom 27. Juli 1969 eingeführt*®). Die Arbeiter erhielten damit einen Anspruch auf Weiterzahlung ihres Lohnes bei Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Schließlich billigte das Bundeskabinett das verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968-1972, den sogenannten Leberplan*'). Der Plan sah die Rationalisierung der Bundesbahn und die Umleitung von Schwerlasttransporten von der Straße auf die Schiene zur Entlastung des Straßenverkehrs vor. In den Jahren 1968 und 1969 traten wichtige Veränderungen auf dem äußersten rechten und dem äußersten hnken Flügel der politischen Parteiengruppierung ein. Die NPD, eine Partei, die neonazistische, aber auch andere mit der demokratischen Entwicklung unzufriedene Wählergruppen anzog, errang, wie schon gesagt, bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im April 1968 9,8 Prozent der Stimmen. Auf der anderen Seite wurde die kommunistische Partei im Oktober 1968 neu gegründet unter einem leicht veränderten Namen; Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Ihre Fühningskader waren weitgehend mit denen der ehemaligen und inzwischen verbotenen KPD identisch. Der Gründung war ein Gespräch führender Kommunisten mit Justizminister Heinemann und Staatssekretär Ehmke im Juli 1968 vorausgegangen, aus dem die kommunistischen Führer den Eindruck gewannen, daß die Bundesregierung die Neugründung tolerieren würde. Freilich bUeb der politische Erfolg gering. Bei den Wahlen lag der Stimmenanteil der DKP durchweg erheblich unter 1 Proi. int. In der Bundesregierung wurde mehrfach die Frage erörtert, ob gegen die NPD ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht nach Artikel 21 Grandgesetz gestellt werden soUte. Danach können Parteien für verfassungswadrig erklärt werden, die darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grandord« ) BGBl. I S. 582. " ) Im Bericht zur Lage der Nation am 17. Juni 1969 (STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 70 S. 13251C). BGBl. I S. 946. *') Der Beschluß der Bundesregierung vom 19. Jan. 1968 (BT-Drs. V/2494) wurde vom Deutschen Bundestag am 13. Febr. 1968 in erster Lesung beraten (STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 66 S. 7946D-8009A); später Verabschiedung zahlreicher Einzelgesetze. 375
nung zu beeinträchtigen. Innenminister Benda befürwortete die Einleitung eines solchen Verfahrens vor allem mit der Begründung, daß die NPD gegen das Prinzip der Völkerverständigung verstoße. Auch Herbert Wehner unterstützte diesen Vorschlag. Richard Stücklen sprach sich dagegen aus. Auch der Bundeskanzler riet zur Zurückhaltung. Er bevorzugte eine politische Auseinandersetzung mit der NPD. Kiesingers Taktik war sicherlich die richtigere. Weder 1969 noch bei irgendeiner späteren Bundestagswahl gelang der NPD der Einzug in den Bundestag. Es kam hinzu, daß bei einem Verbot der NPD sich die gleiche Frage für die soeben neu gegründete DKP stellen würde, bei der immer deutlicher wurde, daß sie eine Nachfolgeorganisation der ehemaligen KPD war. Ein solches Verbot aber erschien ganz unzweckmäßig, da man der DKP auf diese Weise zu einer Publizität verholfen hätte, die sie bisher nicht hatte. Die gleichen Erwägungen sprachen gegen ein Verbot des SDS, dessen Einfluß deutlich rückläufig war. Dagegen mußte in der Zeit der Großen Koalition die Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise (AdK) ihre Tätigkeit einstellen. Ziel dieser Organisation, die eine außerordentliche Breitenwirkung erzielt hatte, war die Festigung des demokratischen Gedankens - dazu erhielt sie Zuschüsse des Presse- und Informationsamtes - , tatsächlich unterstützte sie in sehr wirksamer Weise die Politik der Union. Ihre Auflösung war in den Koalitionsvereinbarungen von Ende 1966 beschlossen worden. Mehrfach drängte die SPD auf die Einhaltung dieser Vereinbarung. Am 19. April 1967 starb Konrad Adenauer. In einem Staatsakt im Bundestag würdigte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier den Verstorbenen in einer seiner großen Trauerreden'"), für die er eine von niemanden sonst erreichte Meisterschaft besaß. Anschließend fand im Kölner Dom das Pontifikal-Requiem statt, das Kardinal Frings zelebrierte. Und dann fuhr der Sarg an Bord eines Schnellbootes der Bundesmarine den Rhein herauf von Köln nach Rhöndorf. Tausende von Menschen säumten auf beiden Ufern diese letzte Fahrt des großen Staatsmannes. Zwei Staatsoberhäupter, Präsident Johnson und General de Gaulle, 25 Ministerpräsidenten, ehemalige Ministerpräsidenten und Parlamentspräsidenten sowie viele weitere hochrangige Persönlichkeiten aus dem Ausland nahmen an den Feierlichkeiten teil. Als das Gruppenfoto auf der Gartentreppe der Villa Hammerschmidt aufgenommen vmrde, nahm Bundespräsident Lübke, der zwischen de Gaulle und Johnson stand, deren Hände und fügte sie zusammen. Es war eine gutgemeinte Geste, die aber bei de Gaulle wenig Anklang fand. Bei dem anschheßenden Empfang, den der Bundeskanzler im Palais Schaumburg gab, erschien Macmillan als einer der ersten Gäste. Er sah gegenüber am Fenster Kiesinger stehend und dachte, daß dieser, der ihm irgendwie bekannt vorkam, auch einer der Gäste sei. Jedenfalls ging er auf Kiesinger zu und fragte ihn: „Wann sind Sie angekommen?" (When did you arrive?) Kiesinger fand das, im Gegensatz zu mir, nicht besonders komisch.
50) Siehe BULLETIN vom 26. April 1967 S. 359 f.
376
Ich hatte einige Jahre später ein ähnhches Erlebnis mit Macmillan. Ich war damals Bundespräsident und zur Hochzeit des Prinzen Charles und der Prinzessin Diana nach London gekommen. Bei einem Empfang begrüßte ich Macmillan und sagte, daß ich ihm in den sechziger Jahren häufig begegnet sei. Damals sei ich Staatssekretär im Außenministerium gewesen. Er guckte mich lange und intensiv an und fragte dann: „Und was sind Sie jetzt?" (And what are you now?) Die Kenner Macmillans waren sich nie darüber einig, ob er wirklich so zerstreut war, oder ob das eine von ihm praktizierte Spielart des britischen Understatement war. Im gleichen Jahr wie Adenauer starben mehrere andere hochverdiente Politiker der Anfangsphase der BundesrepubUk Deutschland: Fritz Erler, Fritz Schäffer, Maria Probst, Thomas Dehler, Paul Löbe, Hans-Christoph Seebohm. In den Jahren 1968 und 1969 mußte die Union einige schwierige Personalfragen lösen. Bundestagspräsident Gerstenmaier geriet unter Beschüß, weil er als Verfolgter des Naziregimes eine Wiedergutmachungszahlung dafür erhalten hatte, daß ihm aus politischen Gründen die Ernennung zum Professor versagt gebheben war®*). Die Sache war vollkommen korrekt. Ihm stand nach geltendem Recht ein solcher Anspruch zu. Die Behauptung, er habe das Gesetzgebungsverfahren in einem für ihn günstigen Sinne beeinflußt, wurde niemals bewiesen. Er war als Widerstandskämpfer nach dem 20. JuU 1944 verhaftet worden, hatte aber die Namen von Mitverschworenen nicht preisgegeben. Hätte er nicht dem Widerstand angehört, wäre er mit Sicherheit Professor geworden. Wenn es ein ehrenhaftes, ja bewundernswürdiges Verhalten in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gegeben hat, dann war es das von Gerstenmaier. Aber das alles trat plötzlich zurück. Die Kampagne, die sich gegen ihn richtete, ging vor allem von Blättern des linken politischen Spektrums aus. Dazu kühlten manche, die er in seiner bisweüen schroffen Art verletzt hatte, jetzt ihr Mütchen an ihm. Helmut Schmidt nahm ihn öffentlich in Schutz, was Schmidt zur Ehre gereicht, aber von den eigenen Freunden in der Union erhielt er wenig Unterstützung. So legte er am 31. Januar 1969 sein Amt als Bundestagspräsident nieder. Kai-Uwe von Hassel wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Als Gerstenmaier 1981 seinen 75. Geburtstag feierte, nahmen die Lobesreden auf ihn kein Ende. Ich saß neben ihm, und er sagte zu mir: „Ich verstehe die Welt nicht mehr. Vor zwölf Jahren wollte kein Mensch mehr ein Stück Brot von mir nehmen, und heute bin ich der große Staatsmann, dessen Verdienste nicht hoch genug gepriesen werden können." Eine bittere Erfahrung, die nicht nur er gemacht hat. Noch schwerer wog die Kampagne, die von der linken Tendenzpresse gegen den Bundespräsidenten geführt v^rurde. Sie veröffentlichte Material, das ihr aus der DDR zugespieh worden war und in dem behauptet wurde, Lübke sei nach 1933 am Bau von Konzentrationslagern beteiligt gewesen. Tatsächlich hatVgl. dazu auch Eugen Gerstenmaier, Streit und Frieden hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt 1981 S. 586 f.
377
te Lübke in der Zeit des Nationalsozialismus zu den Gegnern des Regimes gehört. Er hatte einige Zeit im Gefängnis gesessen unter dem Vorwand, eine nach allgemeinem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, in Wahrheit aber, weil das Regime ihn, den ehemaligen Zentrumspolitiker, ausschalten wollte. Im Kriege war Lübke in einem Ingenieurbüro tätig gewesen, welches in dem Raketenversuchsgelände Peenemünde Arbeiterunterkünfte gebaut hatte, die dann auch zur Unterbringung von KZ-Häftlingen verwendet wurden. Das wurde ihm jetzt zum Vorwurf gemacht. Jede Woche erschienen neue Meldungen, die ihn bei Licht besehen nicht belasteten, aber die in diesem Sinne ausgeschlachtet wurden. Ich fand den Ausspruch von Kiesinger in einem internen Gespräch im Februar 1968 zutreffend: „War es denn nicht besser, daß die Häftlinge in Barakken statt in Zelten wohnten?" Auch hier verhielt sich die Union merkvirürdig passiv, was Wehner einmal deutlich kritisierte. Allerdings stellte sich die Regierung in einer öffentlichen Erklärung vom 2. März 1968 hinter den Bundespräsidenten - er habe sich untadelig verhalten'2). FreUich war nicht zu übersehen, daß der Bundespräsident unter einer fortschreitenden Arteriosklerose litt. Das mache ihm selbst, wie er in einem Gespräch mit mir sagte, sehr zu schaffen. Vor allem ließ ihn sein Gedächtnis gelegentlich im Stich. So war es denn auch nach meiner Meinung richtig, daß Lübke im Oktober 1968 bekannt gab, er werde am 30. Juni 1969, also 2У2 Monate vor dem Ablauf seiner Amtszeit, aus dem Amt ausscheiden. Er begründete dies offiziell damit, daß die Bundestagswahlen im Herbst 1969 zeitlich nicht mit der Wahl des neuen Bundespräsidenten zusammenfallen sollten"). Lübke hat sich um unser Land große Verdienste erworben. Gewiß war er eigenwillig. Daß er Gerhard Schröder nicht zum Außenminister ernennen wollte, war ein Fehler, aber er gab ja dann doch schheßlich nach. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt er daran mit großer Hartnäckigkeit fest. Am Schluß seiner Amtszeit wollte er unbedingt noch einen Besuch in Dänemark machen. Wir hielten das nicht für gut, weil, wie die Dinge nun einmal lagen, mit Angriffen der dänischen Zeitungen zu rechnen war. Aber niemand von uns konnte bei ihm etwas ausrichten, bis schließlich der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Duckvdtz die Lösung fand. Er sagte zu Lübke, in Dänemark genieße er hohes Ansehen als der beste deutsche Landwirtschaftsminister seit 1949. Die Dänen würden ihn zu Konzessionen bei landwirtschaftlichen Importen aus Dänemark drängen, aber diesen Wunsch könne er nicht erfüllen, denn die Landwirtschaftspolitik mache die EWG. So würde der Besuch mit einem Mißklang enden. Das leuchtete Lübke ein. Er dankte Duckwitz und sagte zu ihm beim Abschied: „Sie sind mein einziger Freund." Das stimmte nun freiUch nicht; aber die Szene ist ein weiterer Beweis für das außerordentliche Geschick, das Duckvdtz in der Behandlung von Menschen besaß. Er heferte eine Begründung, die Lübke den Rückzug ohne Gesichtsverlust ermögUchte. " ) Erklärung in BULLErnN vom 2. März 1968 S. 221. Siehe BULLETIN vom 16. Okt. 1968 S. 1131. 378
Lübkes Verdienste sehe ich besonders in seinen ständigen Bemühungen, die Bindungen zwischen Beriin und dem Bund zu verstärken und in seinen Besuchen in vielen Entwacklungsländem, denen er gutgemeinte und auch wirklich gute Ratschläge für den Ausbau ihrer Landwirtschaft gab. In Enkhausen im Sauerland, seinem Geburtsort, ist eine Gedächtnisstätte zu seinen Ehren errichtet worden, wo viele Erinnerungsstücke aufbewahrt werden. Ich habe als Nachfolger Lübkes im Amt des Bundespräsidenten das Museum mit meiner Frau bei einer Wanderung im Sauerland besucht. Kaum hatte Lübke seinen Entschluß zum vorzeitigen Rücktritt bekanntgegeben, nominierten CDU/CSU und SPD ihre Kandidaten für das höchste Staatsamt, die Union Gerhard Schröder, die SPD Gustav Heinemann. Heinemann siegte mit knapper Mehrheit am 5. März 1969 in Berlin. Sehr selbstbevvTißt bezeichnete Heinemann seine Wahl als ein Stück Machtwechsel, als die sie sich dann später auch tatsächlich erweisen sollte. Schon am Tage nach seiner Wahl übte Heinemann nochmal scharfe Kritik an der PoUtik Adenauers und erklärte, wir müßten im Interesse der Wiedervereinigung aus der Blockbüdung (NATO im Westen, Warschauer Pakt im Osten) wieder herauskommen®^). Mich störten diese Bemerkungen damals, denn ich war der Meinung, der Bundespräsident sollte über der parteipolitischen Auseinandersetzung stehen. Tatsächlich hat Heinemann während seiner Amtszeit solche scharfen Äußerungen zur Außenpolitik nicht wiederholt. Außenpolitik Die Außenpolitik stand von jeher im Mittelpunkt des Interesses von Kurt Georg Kiesinger. Auch hier agierte er als Bundeskanzler, ebenso vde in der Innenpolitik, mit Behutsamkeit; aber er ließ auch die Bereitschaft zu Veränderungen erkennen. In seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966®=) bekannte er sich zu Frieden und Verständigung zwischen den Völkern, zur Beseitigung der politischen Spannungen und zur Eindämmung des Wettrüstens. Er sagte, das gähe auch für unser Verhältnis zur Sowjetunion, „obwohl unsere Beziehungen immer noch durch das ungelöste Problem der Wiedervereinigung unseres Volkes belastet sind."®®). Er knüpfte an die Friedensnote der letzten Bundesregierung von März 1966®') an und wiederholte das Angebot zum Austausch von Gewaltverzichtserklärungen. Darüber hinaus befürwortete er die Entvidcklung der wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Beziehungen mit den osteuropäischen Staaten: „Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen Hermann Schreiber, Frank Sommer, Gustav Heinemann, Bundespräsident, Frankfurt 1969 S. 49 ff. Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 63 S. 3656C-3665C. Zu den deutschlandpolitischen Teilen der Regierungserklärung Kiesingers und wichtigen Entscheidungen in der Deutschlandpolitik während der Regierung der Großen Koalition siehe Kap. ΧΙΠ S. 764 ff. ") Note vom 25. März 1966 in Dokumente zur Deutschlandpolitik IV/12 (1966) S. 381-385. 379
West und Ost, wir möchten diese Aufgabe auch in unserer Zeit gem erfüllen." Dieser Satz bezog sich, wie der Zusammenhang zeigt, auf die wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Beziehungen. Kiesinger fand versöhnliche Worte für Polen und die Tschechoslowakei. Er erklärte, daß das Münchener Abkommen von 1938 „nicht mehr güUig" sei. Die Worte, die er an die Vereinigten Staaten richtete, waren eher zurückhaltend. Wir hätten vielleicht in der Vergangenheit, so sagte er, zu sehr unsere eigenen Sorgen betont und dabei übersehen, daß die Vereinigten Staaten große Sorgen hätten, für die sie Verständnis ihrer Partner erwarteten. Wir soUten zu unserem Teil, entschiedener als bisher, Mitverantwortung für die Bewahrung des Weltfriedens übernehmen. Eingehend befaßte sich Kiesinger mit der Einigung Europas. Die EWG müsse Großbritannien und anderen EFTA-Staaten offenstehen. Entscheidend sei aber die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses. Die Interessen beider Völker stimmten in hohem Maße miteinander überein. Den Konflikt zwischen Frankreich und den USA suchte er durch folgende geschickte Formulierung zu entschärfen: „Gemeinsam mit Frankreich, dem ältesten Verbündeten Amerikas in Europa, halten wir ein solides Bündnis zvidschen den freien, sich einigenden Nationen Europas und den Vereinigten Staaten von Amerika für unerläßlich, wie immer auch die Struktur dieses Bündnisses angesichts einer sich wandelnden Welt künftig gestaltet werden wird." Die im deutsch-französischen Vertrag von 1963 enthaltene Chancen sollten so konkret wie möglich genutzt werden. Ein schwerer, wenn auch nur vorübergehender Rückschlag in den OstWest-Beziehungen trat durch den Einmarsch der Sowjetunion und anderer Ostblockstaaten, darunter der DDR, in die Tschechoslowakei und die Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Prag mit bewaffneten Streitkräften am 21. August 1968 ein=®). Kurz nach dem Einmarsch meldete sich der sowjetische Botschafter Semjon Zarapkin bei Kiesinger. Ich habe ihn selten so aufgeregt gesehen wie an diesem Tag. Er hatte die dringende Weisung aus Moskau erhalten, der Bundesregierung umgehend mitzuteilen, daß die sowjetischen Truppen die deutsche Grenze respektieren würden. Die Bundesregierung verurteilte die Besetzung der Tschechoslowakei als klare Verletzung ihrer Souveränität, erklärte aber, sie werde ihre bisherige realistische und illusionslose Arbeit für eine europäische Friedensordnung fortsetzen=®). So blieb sie auch mit der sowjetischen Botschaft im Gespräch über den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen, über den ich schon bei meinem Moskau-Besuch 1965 gesprochen hatte. Jetzt setzten meine Nachfolger im Auswärtigen Amt, zunächst Schütz und dann Duckwitz, diese Gespräche fort. Auch die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über den Abschluß eines Atomwaffensperrvertrages, der die Weitergabe von Atomwaffen an nichtAusführliche Dokumentation hierzu in Archiv der Gegenwart 1968 S. 1 4 1 2 5 - 1 4 1 6 0 und Europa-Archiv 1968 S. D 4 1 9 - D 4 5 2 . BULLETIN vom 22. Aug. 1968 S. 673.
380
nukleare Staaten verhindern sollte, gingen weiter. Die Bundesregierung fühlte sich durch diese Verhandlungen überfahren. Sie sah ihre wirtschaftlichen Interessen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie gefährdet. Außerdem beklagte sie, daß sie nicht genügend informiert worden sei. Kiesinger sprach in diesem Zusammenhang von einer atomaren Komplizenschaft zwischen den USA und der Sowjetunion®"). Er verlangte, daß die Sowjets auf ihren Interventionsanspruch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der UNO-Charter verzichteten, anderenfalls könne die Bundesregierung den Vertrag nicht unterzeichnen®^). Die Sowjetunion war in ihrer Politik gegenüber der öffentlichen Meinung im Westen recht erfolgreich. Nachdem die Erregung über den Einmarsch in die Tschechoslowakei abgeklungen war, verkündete sie weiter „friedhche Koexistenz" als ihr Ziel. Ein italienischer Freund sagte mir damals, daß schon allein dieses Wort eine große Suggestivkraft auf seine Landsleute ausübe — in Deutschland war es ähnlich. Ein Teil der Presse, darunter einflußreiche Blätter, warfen der Bundesregierung Starrheit und mangelnde Flexibilität in der Ostpolitik, vor allem auch bei der Behandlung des Atomwaffensperrvertrages vor. Dafür machten sie die Union verantwortlich, während die SPD es verstand, sich der Öffentlichkeit als fortschrittlicher und auf weitere Verbesserung im OstWest-Verhältnis drängende Partei zu präsentieren. Aus dem Auswärtigen Amt war immer wieder inoffiziell zu hören, daß man auch zu einer Anerkennung der DDR bereit wäre, aber die Union diesen Schritt mit allen Mitteln verhindere. Als Quelle dieser Informationen wnirde Egon Bahr genannt. In der deutschen Westpolitik änderte sich während der Regierungszeit Kiesingers nicht viel. Mit den USA blieb das Verhältnis schwierig. Die Amerikaner stellten weiter die Forderung nach einem Devisenausgleich im Hinblick auf ihre in der Bundesrepublik stationierten Truppen. Sie behandelten uns bei den Verhandlungen über den Atomwaffensperrvertrag nicht korrekt und schließlich verlangten sie einen deutschen Solidaritätsbeitrag in Vietnam. Hier lag zugleich ein besonders schwieriger Punkt im deutsch-französischen Verhältnis. Die Franzosen drängten uns, daß wir uns von der amerikanischen Vietnam-Politik klar distanzieren sollten. Der Krieg in Vietnam sei nicht zu gewinnen. Schon seit 1968 begannen auch die Amerikaner, die Aussichtslosigkeit des Kampfes zu erkennen. Es begannen Verhandlungen zwischen ihnen und Nordvietnam in Paris, die endlich 1973 zum WaffenstUlstand führten. Aber nicht nur in der Vietnam-Frage bestanden Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Position: de Gaulle verweigerte Großbritannien weüer den Beitritt zur EWG, während die Bundesregierung dafür eintrat.
Siehe die Ausführungen Kiesingers vor dem „Verein Union-Presse" in Bonn am 27. Febr. 1967 in Kurt Georg Kiesinger, Die Große Koalition 1966-1969. Reden und Erklärungen des Bundeskanzlers. Hrsg. von Dieter Oberndorfer, Stuttgart 1979 S. 3 6 - 3 8 . Ausführungen Kiesingers in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Febr. 1969 in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 69 S. 11578. 381
Der Besuch de Gaulies in Bonn im Oktober 1968 verlief demgemäß nach den Worten Kiesingers „nicht übermäßig erfreulich". Frankreich kritisierte die, wie es meinte, übermäßige Abhängigkeit der deutschen Politik von den USA. Zugleich war es besorgt, daß die Bundesrepublik allzu großes Gewicht in Europa erlangen könne. Vor allem drängte es uns auf einen völligen Verzicht im nuklearen Bereich. Bundeskanzler Kiesinger Kiesingers Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland sind bisher zu wenig gewürdigt worden. Seine Regierung, die Regierung der Großen Koalition, hat in der kurzen Zeit von weniger als drei Jahren viel geleistet, vor allem im Bereich der Innenpolitik. Über eine Notstandsverfassung war elf Jahre ohne Ergebnis diskutiert worden, unter der Regierung Kiesinger wurde sie vom Bundestag verabschiedet und das Grundgesetz entsprechend ergänzt. Sehr bedeutend und erfolgreich waren die gemeinsamen Anstrengungen beider Koalitionspartner zur Belebung der Wirtschaft. Die Regierung Kiesinger leitete einen Aufschvmng nach Maß ein und vermied bis zum Schluß ein Überschäumen der Konjunktur, wie sie die folgenden Jahre kennzeichnete. Ein gewaltiges Werk bildete die Finanzreform und die mit ihr einhergehende Neuverteilung der Aufgaben von Bund und Ländern. Hierzu wurde das Grundgesetz an vielen Punkten geändert und eine Reihe neuer Artikel eingefügt. Man kann rückblickend fragen, ob des Guten zuviel getan vnirde und vor allem, ob die Regelung, die in das Grundgesetz eingebaut wurde, nicht zu detailliert war. Keine Regierung vorher und nachher hat eine so tiefgreifende Umgestaltung des Grundgesetzes herbeigeführt wie die Regierung Kiesinger. Über fünfzig Artikel wurden geändert, gestrichen oder neu eingeführt. Einige Artikel wurden mehrfach geändert. Wenn man bedenkt, daß das Grundgesetz ursprünglich hundertsechsundvierzig Artikel hatte, wird das Ausmaß der Veränderung schon anhand dieser Zahlen deutlich. Dabei lasse ich dahingestellt, ob alle Änderungen notwendig waren, oder ob nicht auch hier zu viel Perfektionismus getrieben wurde. In der Zeit schwerer innenpolitischer Unruhen, vor allem bei Studenten und anderen Jugendgruppen, bewahrte die Regierung Kiesinger Ruhe und Augenmaß. Die Meinungsfreiheit wurde nicht beeinträchtigt. Der Gewaltanwendung aber trat der Staat im Bund und in den Ländern entschieden entgegen. In der Außenpolitik bewegte sich die Regierung mit Vorsicht und Bedacht. Es gelang ihr, in der Dreiecksbeziehung zwischen den USA, Frankreich und Deutschland eine Verschlechterung zu vermeiden und das Vertrauen dieser Partner wie auch Großbritanniens zu erhaben. Bei der Behandlung des innenpolitisch stark umstrittenen Atomwaffensperrvertrages wahrte die Regierung Kiesinger die deutschen Interessen, vermied es aber zu Recht, gegen den Vertragsschluß zu stimmen. In der Deutschlandpolitik lockerte sie die bisherigen starren Positionen der sogenannten Hallstein-Doktrin. Mit Zähigkeit verfolgte 382
sie die Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen. Zugleich war sie bemüht, die Gegensätze zu Polen und zur Tschechoslowakei vorsichtig abzubauen. Es ist dies eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz. Mit Recht konnte Kiesinger im Bericht zur Lage der Nation am 17. Juni 1969 feststellen: „In dieser Zeitspanne haben wir nicht nur das Regierungsprogramm — mit Ausnahme der Wahlrechtsreform — voll eifüllt, sondern darüber hinaus in der Außen- wie in der Innenpolitik eine Fülle wichtiger Aufgaben begonnen und bewältigt"^^]. Daß die Wahlrechtsreform scheiterte, war sicher ein Fehlschlag der Regierung Kiesinger, denn sie war in den Koalitionsverhandlungen ins Auge gefaßt worden. Aber die SPD verweigerte die Gefolgschaft. Was die Wahlrechtsreform bev\drkt hätte, wenn sie zustande gekommen wäre, ist Spekulation. SicherUch ermöghcht das Mehrheitswahlrecht ein entschiedeneres Regieren, da die Rücksicht auf Sonderinteressen und erst recht auf kleinere Parteien entfällt. Großbritannien ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Margaret Thatcher hat dreimal mit wenig mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen große Mehrheiten im Unterhaus gewonnen und dadurch ihre Vorstellungen von der Umgestaltung der britischen Gesellschaft verwdrklichen können, während in der gleichen Zeit der politische Entscheidungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend schwerfälliger wurde. Aber sicher würde man das Problem vereinfachen, wenn man die Unterschiede zwischen beiden Ländern auf das in ihnen praktizierte Wahlrecht reduzieren vnirde. Folgenschwer war das Auseinanderfallen der Koalition in der Frage der Aufwertung der Deutschen Mark. Mit Sicherheit hat ihre ablehnende Haltung die Unionsparteien Stimmen gekostet — wie viele kann niemand sagen. Allerdings haben sie dadurch auch vermutlich den Einzug der NPD in den Bundestag verhindert zu ihrem eigenen Schaden, aber möglicherweise zum Nutzen des Landes — wie ich dargestellt habe. Natürlich stellt sich die Frage, wie groß Kiesingers persönlicher Anteil an den Erfolgen seiner Regierung war. Hier hat sich eine gewisse Tendenz breitgemacht, Erfolge anderen zuzurechnen, z. B. Schiller und Strauß bei der Lösung der großen wirtschafts- und finanzpolitischen Aufgaben. Ohne Zweifel haben beide in den ersten Jahren, als sie eng und gut zusammenarbeiteten, einen großen Anteil an dem Erfolg gehabt. Brandt vertrat die Außenpolitik der Regierung ebenfalls erfolgreich, wenn auch immer wieder Spannungen zvidschen ihm und Kiesinger auftraten. Solche Spannungen entstanden auch zvdschen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt, gelegentlich auch zwischen Duckwitz und mir. Einen sehr großen Anteil am Erfolg der Regierung hatten die beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt, zwischen denen sich ein Vertrauensverhältnis entwickelte, die an einem Strange zogen und sich nicht gegenseitig zu übertrumpfen suchten.
Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 70 S. 13254A. 383
Kiesingers eigene Rolle in der Großen Koalition sehe ich in einer behutsamen aber doch konsequenten Führung der Regierung auf die vereinbarten Ziele hin. Er war ein glänzender Redner. Der Ausdruck „König Silberzunge" wird ihm nicht gerecht, denn er war weit mehr als ein Schönredner. Er erfaßte in seinen Reden die Tiefe der Problematik und gab darauf Antwort von großer gedanklicher und sprachlicher Kraft. Im Kressbronner Kreis, wo ich ihn anderthalb Jahre beobachten konnte, war er eindeutig die führende Figur. Nach der Mammutsitzung vom 2./S.Juni 1969, in der es um die Klärung mehrerer strittiger, die Existenz der Koalition berührende Fragen ging, habe ich mir damals notiert: „Kiesinger hat die Situation in der Hand". Es gibt zu der Frage des Anteils an einem Erfolg eine lehrreiche Anekdote: Als Hindenburg gefragt wurde, ob er oder Ludendorff die Schlacht bei Tannenberg im August 1914 gewonnen hätte, antwortete er, das wisse er nicht. Aber eines wisse er, wenn die Schlacht verloren gegangen wäre, hätte er sie verloren. Die Einsicht, die in dieser Antwort zum Ausdruck kommt, gilt auch für Kiesingers Rolle als Bundeskanzler der Großen Koalition, obwohl er sonst sicherlich keine Ähnlichkeit mit Hindenburg hatte. Kiesinger hatte einen noblen Charakter. Häßliche Tricks, Verleumdungen, Schläge unter die Gürtellinie, wie sie in der Politik leider häufig vorkommen, verabscheute er. Die Zusammenarbeit mit ihm war nicht immer einfach. Er war kein disziplinierter Arbeiter und nahm die einzelnen zu bewältigenden Aufgaben meist erst spät in Angriff. Das galt besonders für seine großen Reden, die häufig erst am Abend und in der Nacht vor seinem Auftritt sorgfältig durchgearbeitet und ausformuUert wurden. Mit den Entwürfen, die ihm geliefert wurden, war er fast immer unzufrieden und er sparte dann nicht mit z. T. verletzender Kritik an seinen Mitarbeitern. Als er mich einmal im Kreise der Mitarbeiter scharf kritisierte, habe ich ihn hinterher aufgesucht und ihm gesagt, daß das von ihm gewählte Verfahren meine Autorität im Amt untergrübe. Sollte es sich wiederholen, würde ich meinen Abschied nehmen. Dabei unterließ ich es nicht, wie schon bei früheren Gelegenheiten, darauf hinzuweisen, daß meine Lehrtätigkeit an der Universität zu Köln mir große Freude bereite. Sie gab mir in der Tat innere Freiheit und ließ meine Ankündigung glaubhaft erscheinen. In den Jahren nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers bin ich oft mit Kiesinger zusammengetroffen. Ich bewahre an diese Begegnungen eine sehr gute Erinnerung. Und es war Kiesinger, der mich 1973, nach dem Ausscheiden von Barzel, für den Posten des Fraktionsvorsitzenden der CDU/ CSU im Bundestag vorschlug, womit mein Leben noch einmal eine dramatische Wendung nahm. Mit einer noblen Geste verabschiedete sich Brandt von Kiesinger — durch einen handgeschriebenen Brief vom 9. Oktober 1969. Darin heißt es:
„Weder zurückliegende noch bevorstehende Kontroversen werden mich abhalten, zu dem zu stehen, MOS wir seit Ende 1966 miteinander geleistet haben; es ist unserem Vaterland nicht schlecht bekommen. Die künftige Regierung wird sich auf das zu stützen haben, was durch die Große Koalition
384
konzipiert, angepackt und zu einem nicht geringen Teil ja auch verwirklicht wurde. Wir stehen so oder so in gemeinsanier Verantwortung, auch deshalb kann dies kein politischer Abschiedsbrief sein. Aber ich wollte Ihren gestrigen Rückblick doch nicht ohne eine Antwort lassen, in die der persönliche Respekt vor Ihrer Kanzlerschaft einbezogen /si"®^).
Vollständiger Abdruck in Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser, Die vergessene Regierung. Die Große Koalition 1966 bis 1969 und ihre langfristigen Wirkungen, Bonn 1991 S. 373. Wiedergabe in Faksimile in Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1 9 6 3 - 1 9 6 9 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bd. 4), Stuttg a r t - W i e s b a d e n 1984 S. 407. 385
vili. Wissenschaftliches Zwischenspiel 1970-1972 1. Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
Ein interessantes
Angebot
Anfang 1970 übernahm ich die Leitung des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Der Posten war seit mehreren Jahren unbesetzt. Die Anregung zu meiner Berufung ging von Marion Gräfin Dönhoff, der Herausgeberin der „Zeit" aus, die dem Präsidium der DGAP angehörte. Ich kannte Gräfin Dönhoff seit Anfang der fünfziger Jahre. Wir lernten uns auf einer der deutsch-englischen Konferenzen in Königswinter kennen, wo jährlich englische und deutsche Politiker, Journalisten und Professoren zu Gesprächen zusammenkamen. Diese Konferenzen haben sich für die Entwicklung der deutsch-engUschen Beziehungen als außerordentlich wertvoll erwiesen. In ihrem Rahmen haben auch viele Teilnehmer aus beiden Ländern enge und freundschaftliche Beziehungen angeknüpft. Bei einer der ersten Konferenzen hatte ich, damals noch bremischer Bevollmächtigter beim Bund, einige deutsche und einige britische Teilnehmer zum Abendessen nach Unkel am Rhein eingeladen, darunter Gräfin Dönhoff. Es wurde ein fröhlicher Abend. Wir schrieben eine Postkarte an die Königin von England, obwohl wir nicht wußten, ob das protokollarisch in Ordnung war. Seitdem sind Gräfin Dönhoff und ich uns oft begegnet. Vielfach waren wir politisch nicht der gleichen Ansicht, aber die gegenseitige Achtung litt darunter nicht. Jedenfalls kam ihre Anregung, daß ich die Leistung des Forschungsinstituts der DGAP übernehmen sollte, mir sehr gelegen. Ich bleibe ihr dafür dankbar. Kurt Birrenbach, ebenfalls Mitglied des Präsidiums der Gesellschaft, unterstützte den Gedanken wärmstens und alles schien glattzulaufen, bis das Auswärtige Amt Einspruch erhob. Es hieß, daß Wehner gesagt hätte, man solle mich auf keinen Fall auf diesen Posten lassen. Ich würde von dort ein Gegenministerium gegen das Auswärtige Amt aufbauen. Vielleicht hätte ich mich über das Zutrauen, das Wehner in meine Fähigkeiten hatte, geschmeichelt fühlen sollen, aber ich war über das Auswärtige Amt empört und ging nach einer Methode, die ich in meinem Leben häufig mit Erfolg angewandt habe, direkt auf den Gegner zu. Zomgeladen meldete ich mich bei Duckvidtz, meinem Nachfolger im Amt des Staatssekretärs und sagte, wenn das Auswärtige Amt seinen Einspruch nicht fallen lassen vvoirde, würde ich mich an die Öffentlichkeit wenden und in Wor387
ten, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen würden, diesen Akt von Illoyalität des Amtes gegenüber seinem langjährigen Staatssekretär geißeln. Darauf lenkte das Auswärtige Amt ein. Die DGAP hatte im Jahre 1970 etwa elfhundert Mitglieder. Ihr Präsident war seit ihrer Gründung bis zum Jahre 1973 Günter Henle, der Chef des Klöckner-Konzems und frühere Bundestagsabgeordnete der CDU. 1973 wurde Kurt Birrenbach Präsident. Stellvertretende Präsidenten waren Helmut Schmidt und Fritz Berg, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Als geschäftsführender stellvertretender Präsident fungierte Gebhardt von Walther. Wir waren Kollegen im Auswärtigen Amt gewesen. Er begrüßte mich freundschaftlich und wir haben, von kleinen Reibungen abgesehen, während der nächsten drei Jahre gut zusammengearbeitet. Die Gesellschaft erfüllte mehrere wichtige Aufgaben. Sie gab und gibt das Europa-Archiv heraus, die führende deutschsprachige Zeitschrift für Fragen der internationalen, besonders der europäischen Politik*). Herausgeber war damals Wolfgang Wagner, langjähriger Chefredakteur Hermann Volle. Daneben tagten im Rahmen dieser Gesellschaft zwei wichtige Studiengruppen. Die erste war die für internationale Sicherheit, deren Vorsitzender zunächst Helmut Schmidt, dann der Abgeordnete Karl Mommer war, und eine weitere Studiengruppe befaßte sich mit den Beziehungen zur Sowjetunion und den übrigen kommunistischen Staaten (Vorsitzender Kurt Birrenbach). In diesen Gruppen wurden im Kreise hervorragender Fachleute über viele Jahre hinweg die wichtigsten Fragen aus beiden Bereichen erörtert. Die Studiengruppen leisteten mehrfach Beiträge zur Meinungsbildung auf der politischen Ebene von Bundesregierung und Bundestag^). Die Gesellschaft gab Jahrbücher zur internationalen Politik heraus, in denen von namhaften Autoren die wichtigsten Probleme des jeweiligen Jahrgangs behandelt wurden. Für zwei Bände dieser Reihe zeichnete ich als Herausgeber®). Schließlich untersuchte sie im Rahmen ihres Forschungsinstituts ausgewählte Fragen der internationalen Politik mit wissenschaftlichen Methoden. Diesem Forschungsinstitut widmete ich also nun ab Januar 1970 einen großen Teil meiner Zeit. Neben mir gehörte dem Forschungsinstitut seit vielen Jahren Eberhard Schulz als stellvertretender Leiter an. Er war ein besonders guter Kenner der sowjetischen Politik und der Politik der übrigen osteuropäischen Staaten, vor allem Polens. Alle Projekte des Forschungsinstituts wurden begutachtet, zum Teil auch initiiert und in ihrem weiteren Verlauf diskutiert von dem wissenschaftlichen Direktorium unter Vorsitz von Professor Ulrich Scheuner. Die Diskussion in die-
M Europa-Archiv, Zeitschrift für internationale Politik, begründet von Wilhelm Comides 1946 ff. Die Berichte dieser Studiengruppen sind nicht veröffentlicht. ') Die internationale Politik 1 9 6 4 - 1 9 6 5 und Die internationale Politik 1966-1967. Hrsg. von Karl Carstens, Dietrich Mende, Christiane Rajewski und Wolfgang Wagner, München 1972.
388
sem Direktorium war für das Forschungsinstitut und für mich persönhch von außerordentlichem Wert. Nicht nur wurden unsere Projekte auf Herz und Nieren durchleuchtet, sondern wir bekamen Anregungen, die für unsere Arbeit nützlich waren. Freihch waren mit der Diskussion im Forschungsdirektorium und seinem Plazet für ein bestimmtes Projekt die Schwierigkeiten keinesfalls gelöst; denn nun hieß es, das Geld für die Durchführung des Projektes zu beschaffen. Die jungen Mitarbeiter des Institutes standen nicht auf einer Gehaltsliste des Instituts, dafür hätten dessen Mittel nicht ausgereicht. Sondern sie wurden aus den Zuwendungen, die wir von privaten Stiftungen für bestimmte Projekte erhielten, bezahlt. So waren von Walther und ich ständig auf der Suche nach Geldgebern, eine nicht einfache Aufgabe, aber - wenn sie erfolgreich war - im Interesse des Projekts und der Mitarbeiter lohnend. Zu großem Dank für die uns gewährte Unterstützung bin ich, namens des Forschungsinstituts, insbesondere der Stiftung Volkswagenwerk, der Krupp-Stiftung, der Thyssen-Stiftung und der Ford-Foundation, verpflichtet. Beziehungen zu anderen Institutionen Das Forschungsinstitut der DGAP unterhielt seit langem enge Beziehungen zu vergleichbaren Instituten und Organisationen in anderen Ländern. Mit ihnen veranstalteten wir regelmäßige Treffen, auf denen nach vorheriger Vereinbarung bestimmte Themen diskutiert wurden. Die Anregungen, die ich dabei erhielt, und die Einsicht, die ich in die Denk- und Argumentationsweise unserer ausländischen Kollegen gewann, waren für meine Arbeit im Institut, ja für meine gesamte spätere Tätigkeit in der Politik, von sehr großem Wert. An den Kolloquien und Begegnungen, die entweder in Bonn oder am Sitz des ausländischen Instituts stattfanden^), nahm ich wärend der drei Jahre, in denen ich das Forschungsinstitut leitete, mehrfach teil. Nicht als Leiter des Instituts, sondern persönlich wurde ich im Frühjahr 1971 zu der „Bilderberg-Konferenz" in Woodstock (Vermont) eingeladen, die unter Leitung von Prinz Bernhard der Niederlande stand. Femer vioirde ich in das Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung berufen, die im Oktober 1970 auf Initiative von Bundespräsident Heinemann gegründet worden war. Mit einem faszinierenden Projekt wurde ich im Sommer 1972 befaßt: der Errichtung der sogenannten Trilateral Commission. David Rockefeller, ein bedeutender amerikanischer Bankier und engagierter Beobachter der internationalen Pohtik, hatte in mehreren Reden, zuletzt auf der Bilderberg-Konferenz im
Centre d'Etudes de Politique Etrangères, Paris; Atlantic Institute, Paris; Institute for Strategie Studies, London; Wilton Park, England; Center for Strategic and International Studies, Georgetown University Washington D. С. ; Europäisch-Amerikanische Konferenzen, Haus Lehrbach bei Bonn; Institut für Internationale Angelegenheiten, Warschau; Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen, Moskau.
389
April 1972, auf die fehlende Koordination der Politik, vor allem der Wirtschaftspolitik, zwischen den drei wichtigsten Gebieten der Weh, Nordamerika, Europa und Japan, hingewiesen. Er hatte vorgeschlagen, zunächst auf privater Grundlage eine Kommission zu bilden, die diese Fragen studieren und Vorschläge für ihre Lösung machen sollte. Ihr sollten Universitätslehrer, Geschäftsleute und Gewerkschaftler angehören. Das Ergebnis dieser Arbeit sollte den beteiligten Regierungen zugeleitet werden. Es war eine jener großzügigen, kühnen privaten Initiativen, die in der amerikanischen Politik von jeher eine so bedeutende Rolle gespieh haben. David Rockefeiler lud zu einer Besprechung über dieses Projekt im Juli 1972 in sein Haus in Pocantino Hills in der Nähe von New York ein. Ich war der einzige Deutsche in diesem Kreis, dem viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den USA, Kanada, Japan und Westeuropa angehörten. Die Besprechungen führten zu einer Einigung in einer Reihe wesentlicher Fragen. Wir schlugen die Bildung einer Kommission vor, die den Namen „Trilateral Commission" erhalten sollte. Wir stellten übereinstimmend fest, daß das bestehende internationale System zu schwach sei, um die riesigen Probleme zu lösen, vor die die W e h damals gestellt war. Das galt besonders für den wirtschaftlichen Bereich. Der von uns vorgesehenen Kommission sollten Mitglieder aus den USA, Kanada, den zehn Staaten der Europäischen Gemeinschaft und Japan angehören. Weitere Mitglieder sollten von Fall zu Fall hinzugezogen werden. Jedoch fand der Vorschlag, auch kommunistische Staaten zu beteiligen, keine Unterstützung. Ebenso blieben wir gegenüber dem Gedanken skeptisch, Vertreter von Entwicklungsländern aufzunehmen. Welche Länder sollten dabei berücksichtigt werden? Aber wir waren uns einig, daß mit den Entwicklungsländern Kontakte hergesteUt werden müßten. Zum Leiter der Arbeiten wurde Zbigniew Brzezinski, der spätere Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, zu seinem Vertreter George Franklin berufen. Wir schlugen die Bildung eines 30köpfigen Exekutivkomitees und, um keine Empfindlichkeiten aufkommen zu lassen, die Berufung von drei Vorsitzenden der Commission vor, die in gegenseitigem Einvernehmen die notwendigen Grundsatzentscheidungen treffen sollten. Die Wahl fiel später auf Gerard Smith (USA), Max Kohnstamm (Europa) und T. Watanabe (Japan). Die Trilateral Commission hat eine sehr umfangreiche und wichtige Arbeit geleistet. 1974 hatte sie Arbeitsgruppen für folgende Themen gebildet: Krise der internationalen Kooperation; Währungsfragen; Fragen des internationalen Handels; Beziehungen zu den Entwricklungsländem; die BUdung einer weiteren Arbeitsgruppe über die Regierbarkeit der Demokratien vmrde ins Auge gefaßt. Zu meinem größten Bedauern mußte ich im Frühjahr 1973, nach meiner Wahl zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, aus der aktiven Mitarbeit in der Trilateral Commission ausscheiden. Im Exekutivkomitee engagierte sich mein Freund Kurt Birrenbach (CDU). Ebenso gehörte dem Komitee der Bundestagsabgeordnete Herbert Ehrenberg (SPD) an. 390
Ich bekam weiter die Berichte der Kommission, die eine große Bedeutung für die internationalen Beziehungen gewonnen haben®). Die sogenannten Wehwirtschaftsgipfel, das heißt die regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs von USA, Kanada, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Italien sowie Japan, gehen auf eine Anregung der Trilateral Commission zurück. Ich verdanke der Mitarbeit in dieser Kommission wichtige Einsichten. Auch bewahre ich David Rockefeiler, dem klugen und liebensMÖirdigen engagierten Verfechter einer Kooperation zwischen den Staaten der freien Welt, eine sehr gute Erinnerung. Als ich später Bundespräsident wurde, habe ich zu meiner Freude die Mitglieder der Trilateral Commission bei einem Besuch in Berlin im Schloß Bellevue empfangen können. Forsch ungsprojekte Während meiner Tätigkeit als Institutsdirektor wurden dort fünf oder sechs Forschungsprojekte bearbeitet. Ich erwähne davon drei, die aus meiner Sicht besonders wichtig waren. Das umfangreichste Projekt unter dem Obertitel „Außenpolitische Perspektiven des Westdeutschen Staates" behandelte vorwiegend Fragen der Deutschlandpolitik®). Die zweite Studie trug den Titel „Westeuropäische Verteidigungskooperation". Mit ihr behandehe das Forschungsinstitut der DCA? eine der damals und auch heute noch brennenden Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und ihrer westlichen Partner. Die Anregung zu Untersuchungen dieses Komplexes war von der Studiengruppe für internationale Sicherheit der DGAP ausgegangen. Anfang 1971 wurde eine 13köpfige Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, deren Mitglieder Beiträge für dieses Werk verfaßten. Ich faßte die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen und gab die gesammelten Beiträge zusammen mit Dieter Mahncke heraus'). Helmut Schmidt, inzwischen Bundesminister der Verteidigung, schrieb ein Vorwort, in dem er „die Impulse, die von dieser dankenswerten Arbeit ausgehen könnten" begrüßte. Die Mittel für Erarbeitung dieser Studie stellte die Thyssen-Stiftung zur Verfügung, der dafür Dank gebührt. Die Studie ging von einer Reihe von Prämissen aus, die z. T. auch heute noch, nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, von Bedeutung sind.
Die Berichte erscheinen seit 1974 laufend unter dem Titel „The Triangle Commission - Task Force Reports" (Brüssel, New York, Tokio). Bis 1992 sind 42 Berichte erschienen, β) Siehe dazu Kap. XIII S. 771 ff. Westeuropäische Verteidungskooperation. Hrsg. von Karl Carstens und Dieter Mahnke, München 1972 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. Bonn, Band 31). Zusammenfassung und Ausblick von Karl Carstens S. 2 3 6 - 2 5 6 .
391
-
Militärische Verteidigungsanstrengungen sind zur Erhaltung der freiheitlichen Existenz Westeuropas notwendig. Sie müssen ausreichend sein, um einen potentiellen Gegner abzuschrecken. - Für die Verteidigung gelten die in der NATO vereinbarten Grundsätze, insbesondere: Vomeverteidigung, Flexibilität der Abwehr, Verzahnung der konventionellen und der nuklearen Verteidigung, Unkalkulierbarkeit des Risikos für den Gegner. - Die militärische Verteidigung sollte mit Entspannungsbemühungen im OstWest-Verhältnis gekoppelt werden. - Die politische Einigung Westeuropas ist ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Ziel; gleichrangig damit ist die Erhahung der integrierten Struktur des Atlantischen Bündnisses unter Einbeziehung der USA. Unter Beachtung dieses Grundsatzes ist eine größere westeuropäische Identität im Rahmen des Bündnisses erstrebenswert. Die Untersuchung kam zu einem relativ optimistischen Ergebnis hinsichtlich der Zukunft der NATO. Das sogenannte europäische Verstärkungsprogramm, das im Dezember 1970 von der Eurogroup der NATO beschlossen wurde und das zusätzliche Verteidigungsanstrengungen von einer Milliarde Dollar vorsah, wurde dafür als Indiz angesehen. Andererseits zeigte sich die Studie besorgt wegen inneramerikanischer Bestrebungen in Richtung auf eine Verminderung der in Europa stationierten amerikanischen Streitkräfte und vor allem wegen der Frage, ob der Einsatz strategischer Nuklearwaffen der USA, angesichts der zunehmenden Stärke sowjetischer strategischer Waffen, in Zukunft sicher sei. Die Studie empfahl eine bessere Rationalisierung der westeuropäischen Verteidigungsanstrengungen, vor allem eine verstärkte Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion. Als Instrumente wurden dafür genannt: die Eurogroup in der NATO, die Westeuropäische Union und die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rahmen des Elysée-Vertrages von 1963. In bezug auf die Möglichkeit einer Verstärkung der Zusammenarbeit in der WEU zeigte sich die Studie freilich skeptisch, obwohl der Vertragstext dafür gute Ansätze bietet. Sie vertrat die Auffassung, daß die WEU zu Recht keine eigene miUtärische Rolle gespielt, sondern diesen Teil ihrer Aufgaben der NATO überlassen habe. Eingehend befaßte sich die Untersuchung sodann mit der besonderen Situation Frankreichs, das sich 1966 aus der Organisation des Bündnisses, nicht aus dem Bündnis selbst, zurückgezogen hatte und für dessen nukleare Streitkräfte ausschließlich nationale Einsatzgrundsätze galten. Sie regte an, zusammen mit Frankreich nach einem gemeinsamen Strategiekonzept zu suchen und sah dafür positive Ansätze in der deutsch-französischen Zusammenarbeit nach 1966, das heißt nach dem Rücktritt de Gaulies und der CSSR-Krise. In der Praxis sei die Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Truppen „besonders gut". Ganz allgemein sah die Studie bescheidene Möglichkeiten einer Verstärkung der westeuropäischen Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Planung. Die europäischen Mitglieder der Nuclear Planning Group der NATO sollten sich stärker als bisher untereinander abstimmen, doch stieß jeder Gedanke, eine ge392
meinsame westeuropäische Streitmacht zu schaffen, auf starke Bedenken. Weder Frankreich noch England seien bereit, ihre nationalen nuklearen Streitkräfte zu poolen. Auch wäre ein solcher Zusammenschluß vom Standpunkt der BundesrepubUk Deutschland nur dann akzeptabel, wenn zufriedenstellende Vereinbarungen über den Einsatz dieser Streitkräfte zum Schutz der Bundesrepublik getroffen würden. Jede etwaige Beteiligung der Bundesrepubhk Deutschland an einer gemeinsamen europäischen nuklearen Streitmacht würde auf stärksten Widerstand der Sowjetunion stoßen und würde auch rechtlich nach dem Atomwaffensperrvertrag nur möglich sein, wenn die teilnehmenden Staaten sich zu einem QuasiBundesstaat zusammenschließen würden. Dies war jedenfalls die amerikanische und die sowjetische Interpretation des Vertrages. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Studie über die Möghchkeiten einer westlichen Verteidigungskooperation an keiner Stelle sensationelle oder auch nur grundlegend neue Auffassungen vertrat; sie setzte sich eher für eine behutsame Weiterentwicklung der bestehenden Zusammenarbeit ein. Dabei legte sie besonderen Wert auf die Erhaltung des Zusammenhalts aller Bündnispartner, d. h. der Europäer mit den USA in der NATO. Mit der dritten Untersuchung, die wir zunächst die Gastarbeiterstudie nannten, beschritt das Forschungsinstitut neue Wege. Ich war an ihrem Zustandekommen insofern beteiligt, als ich bei einem Besuch in New York meinem Freund McGeorge Bundy, der inzwischen Präsident der Ford-Foundation geworden war, überredete, für diese Studie Mittel seiner Stiftung zur Verfügung zu stellen, da sie weit über die außenpolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland von allgemeinem grundsätzlichen Interesse sei. Die Besonderheit der Studie lag darin, daß sie nicht nur die Probleme untersuchte, die durch die Aufnahme ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik Deutschland, also im Aufnahmeland, entstehen, sondern auch die Probleme, die sich durch die Abwanderung für die Herkunftsländer ergaben. Exemplarisch wTirden die Gastarbeiter aus Italien, einem Mitgliedsstaat der EG, der Türkei, einem Bündnispartner der NATO und Jugoslawien, einem bündnisfreien Land, untersucht. Betreut v^nirde die Studie von den Mitarbeitern des Forschungsinstituts Reinhard Lohrmann und Klaus Manfrass. Sie stellten umfangreiche Untersuchungen vor Ort an — in Deutschland bei der Bundesanstalt für Arbeit, bei der IG-Metall und bei Wohlfahrtsverbänden, im Ausland bei den Deutschen Botschaften und durch deren Vermittlung bei den mit den Problemen befaßten Behörden des Herkunftslandes. Sie gewannen in allen drei Ländern Mitarbeiter, die Beiträge für die Studie aus der Sicht ihres jeweiligen Landes schrieben. Zwischendurch diskutierten sie mit uns die gewonnenen Ergebnisse im Forschungsinstitut. Wir waren alle fasziniert von dem Fortschritt der Arbeit, deren Abschluß ich leider nicht mehr erlebte, weil ich 1973 aus dem Institut ausschied. Die Studie untersuchte die Motive der Abwanderung (Kinderreichtum, soziale Notlage, Umstellung der Volkswirtschaften von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft), die Geschichte der Auswanderung (aus Italien wan393
derten zwischen 1902 und 1910 jährlich durchschnittlich 600000 Menschen aus) und die Motive für die Wahl eines bestimmten Aufnahmelandes. Sie stellte die im Aufnahmeland entstehenden Wohnungsprobleme, Schul- und Ausbildungsprobleme dar und fragte: Welches ist das Ziel? Integration in die deutsche Gesellschaft oder Rückkehr in die Heimat? Welche Rolle spielen Arbeitgeber und Gewerkschaften? Welche Grundsätze gelten für die politische Betätigung und eventuell später für die Integration der Gastarbeiter? Wie vñrken sich die Wanderungsbewegungen in den Herkunftsländern aus (Devisenzufluß, Abbau der Arbeitslosigkeit aber auch Entvölkerung in bestimmten Gebieten, Trennung von der Familie, politische Auswirkungen)? Die Studie hat wichtige Vorarbeiten für spätere Untersuchungen geleistet und ist noch heute lesenswert®). Aufsätze und Vorträge Während der Jahre meiner Zugehörigkeit zum Forschungsinstitut der DGAP hielt ich viele Vorträge und schrieb zahlreiche Aufsätze zu Fragen der internationalen Politik, mit denen ich die poUtische Entwicklung der Jahre 1970 bis 1973 begleitete. Viele davon befaßten sich mit der Deutschlandpolitik und werden später erwähnt®). Häufig befaßte ich mich aber auch mit dem Verhältnis zwischen Ostpolitik und westeuropäischer Integration. Ich wandte mich gegen die Stimmen, die der Ostpolitik den Vorrang vor der westeuropäischen Integration einräumen wollten. Diese letztere sei kein Produkt des kalten Krieges und verliere daher mit der fortschreitenden Ost-West-Entspannung nicht ihre Bedeutung. In der berühmten Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950, in der er die Bildung einer europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft vorschlug"), kämen die Worte Sowjetunion und Kommunismus nicht vor. Zentrales Motiv der westeuropäischen Integration sei vielmehr von Anfang an die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes, die Stärkung der europäischen Wirtschaftskraft und die Verstärkung des Einflusses Europa auf die weltpolitische Entwicklung gewesen. Freilich war, so sagte ich weiter, die europäische Idee von Anfang an untreimbar mit der politischen Idee der Freiheit verbunden, der persönlichen Freiheit sowie freien demokratischen Wahlen und rechtsstaatlichen Garantien für die Bürger. Hier unterscheide sich in der Tat die westeuropäische Integration von der kommunistischen Ideologie der osteuropäischen Staaten. Aber die Idee der Freiheit würde doch wohl niemand der Entspannungspolitik opfern. Abschließend vertrat ich den Standpunkt, daß der westlichen Integration im Verhältnis zur Ostpolitik die Priorität einzuräumen sei. Dabei bezog ich mich
Ausländerbeschäftigung und internationale Politik. Hrsg. von Reinhard Lohmann und Klaus Manfrass, München 1974 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. Bonn, Band 35). Siehe Kap. XIII S. 775 ff. ') Siehe Europa-Archiv 1950 S. 3091.
394
auch auf einen Satz aus der Rede von Bundeskanzler Brandt, der im Dezember 1971 bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo gesagt hatte: „Die westliche Einigung, an der wir aktiven Anteil haben, behäh für uns Priorität""). Im gleichen Zusammenhang hatte der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, Rainer Barzel, am 21. Juni 1972 gesagt: „Der Ausbau der westhchen Gemeinschaft über die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus zu einer politischen Union hat daher Vorrang. In der Gemeinschaft der freien Völker Europas sehen v«r den Ansatz zu einer Friedensordnung für ganz Europa""). Diese klare Politik der Bundesrepublik Deutschland, wie ich sie 1972 beschrieb, trug Früchte. Ich empfand eine große Genugtuung, als fünfzehn Jahre später, Ende der achtziger Jahre, die Sowjetunion und ihre Partner im COMECON ihren Widerstand gegen die Europäische Gemeinschaft aufgaben und ihr die Herstellung vertraglicher Beziehungen vorschlugen. In mehreren Vorträgen behandelte ich die Perspektiven der bevorstehenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und ihre voraussichtliche Rückwirkung auf die westeuropäische Integration. Ich wies darauf hin, daß die Sowjetunion sich seit 1954/55 um eine gesamteuropäische Konferenz bemühe, auf der ein Sicherheitspakt für Europa ausgearbeitet werden soUte, welcher NATO und Warschauer Pakt ersetzen sollte. In eine konkrete Phase seien diese Bemühungen auf der Bukarester Konferenz der Warschauer-Pakt-Staaten im Juli 1966 getreten. Mit dem Vorschlag der Einberufung einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz hätte der Warschauer Pakt eine Reihe von Forderungen vor allem an die Bundesrepublik Deutschland verbunden: — Anerkennung der Unantastbarkeit der zwischen den europäischen Staaten bestehenden Grenzen, einschließlich der Grenzen der souveränen DDR, Polens und der CSSR; — Anerkennung der realen Lage in Europa, nämlich des Bestehens zweier deutscher Staaten; — Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches der Bundesrepublik für alle Deutschen; — Völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Diese Ziele habe die Sowjetimion seither unbeirrt verfolgt und bis 1972 durch Konzessionen des Westens ohne östliche Gegenleistungen zum großen Teil erreicht. Wenn die Sovifjetunion das Ziel der europäischen Sicherheitskonferenz weiter anstrebe, so verfolge sie damit vor allem folgende, über das bisher Erreichte hinausgehende Ziele: Konsolidierung des Status quo in Europa; Schwächung der NATO; Reduzierung des Einflusses der USA auf Westeuropa, insbesondere Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa; Hemmimg des europäischen Einigujigsprozesses; Teilhabe an dem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt des Westens sowie kulturelle Zusammenarbeit. " ) Vortrag Brandts in der Universität Oslo am 11. Dez. 1971 in BULLETIN vom 13. Dez. 1971 S. 1988-1994, hier 1992. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 80 S. 11366 D. 395
An dem letzten Punkt sei auch der Westen interessiert. Aber vor allem müsse der Westen Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen zwischen Ost- und Westeuropa fordern. In dieser Lage sei es entscheidend, daß der Westen bei der Vorbereitung der Konferenz und auf der Konferenz selbst zusammenstehe. Dies gelte vor allem für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Keinesfalls dürfe der gelegentlich zu beobachtende Wettlauf der westlichen Staaten in der Konzessionsbereitschaft gegenüber der Sowjetunion weitergehen. Gelänge es, den Westen zusammenzuhalten, so liege darin sogar eine Chance für die westeuropäische Gemeinschaft. Sollte es auf der Konferenz zu einem Konflikt zvñschen der Politik der westlichen Integration und der Politik gesamteuropäischer Entspannung kommen, sollte der ersteren der Vorrang eingeräumt werden. Reisen Während meiner dreijährigen Zugehörigkeit zum Forschungsinstitut der DGAP habe ich viele Auslandsreisen unternommen. Drei davon verdienen es, besonders erwähnt zu werden. Ich fuhr im Januar 1971 nach Warschau, um einen Vortrag vor dem polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten zu halten. Dort vrarde ich freundlich aufgenommen. Nach meinem Vortrag fand ein langes Gespräch im Kreise der Institutsmitglieder unter Leitung von Ryszard Frelek statt, an das ich eine gute Erinnerung habe. Am nächsten Tag besichtigte ich Warschau, das im Kriege fast vollständig zerstört, aber inzwischen, dank der weltberühmten Restaurationskunst der Polen, weitgehend wieder aufgebaut war. Von Warschau reiste ich nach Krakau, begleitet von einem Mitarbeiter des Instituts, einem offenbar linientreuen Mitglied der kommunistischen Partei. Durch Krakau führte uns eine Kunsthistorikerin der Universität, die sehr gut Deutsch sprach und mir die reichen Kunstschätze der Stadt zeigte. Mir v^mrde klar, wie eng früher die Beziehungen zwischen Krakau und Nürnberg gewesen waren. Veit Stoß hat in beiden Städten gelebt und in beiden Städten unvergleichliche Kunstwerke geschaffen. Nie ist mir so deutlich geworden, wie bei diesem Besuch in Krakau, daß die polnische Kultur Teil der europäischen Kultur und die polnische Geschichte Teil der europäischen Geschichte ist. Die Wechselbeziehungen, vor allem zwischen Polen und Deutschland, zeigen sich auf Schritt und Tritt. Meine Führerin erinnerte daran, daß die sächsischen Kurfürsten August II. und Augustin, von 1697 bis 1763 zugleich Könige von Polen gewesen waren. Der Besuch in Kraukau ist mir noch aus einem anderen Grunde unvergeßlich. Mein Begleiter zeigte sich gegenüber der Krakauer Kunsthistorikerin, die uns führte, und die offenbar aus einer alten, angesehenen polnischen FamUie stammte, zunächst äußerst reserviert. Fast könnte man sagen, daß er ihr durch sein Verhalten seine Mißbilligung zu verstehen gab. Bis sie eines Abends beim Essen beiläufig erwähnte, daß ihr Urgroßvater der Dichter des Liedes „Noch ist Polen nicht verloren", der polnischen Nationalhymne, war. Darauf änderte sich 396
das Verhalten meines Begleiters schlagartig. Er behandelte unsere Kunsthistorikerin mit äußerster Höflichkeit, küßte ihr beim Abschied die Hand und ließ sie seine Bewunderung fühlen. Die Szene hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Ob Kommunist oder Bourgeois oder Arbeiter, ob Katholik oder religionslos - alle Polen eint die Liebe zur Heimat und ein starkes Nationalbewußtsein und der Stolz auf die große Tradition ihres Landes. Im April 1971 hielt ich mich zwei Wochen in den USA auf. Ich besuchte McCloy und aß mit George Ball zusammen zu Mittag. Außenminister Henry Kissinger empfing mich zu einem einstündigen Gespräch. Ich empfand das als eine noble Geste des vielbeschäftigten Mannes, wenn man bedenkt, daß ich damals kein Amt mehr hatte und niemand vorhersehen konnte, daß ich noch einmal eine politische Rolle in Deutschland spielen würde. Ich bat Kissinger, bei den Berlin-Verhandlungen mit den Sowjets fest zu bleiben. Als er anwortete: „Wir können nicht deutscher sein als die Deutschen", erinnerte ich daran, daß die USA eigene Rechte und Pfhchten in Berlin hätten. Auf keinen Fall dürften sie, nach meiner Ansicht, ihr originäres Recht auf freien Zugang nach Berlin in Frage stellen lassen. Dieses Recht müsse die Sowjetunion eindeutig anerkennen. Die Regelung der Zugangsfrage dürfe nicht einem etwaigen Abkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland überlassen bleiben. Ich besuchte meine alte Universität Yale und sah zu meinem Erstaunen, daß die Situation dort nach den unruhigen Jahren 1968/69/70 wieder nahezu normal war. McDougal sagte zu mir, die Studenten der Law School seien in erster Linie an guten Examensnoten interessiert. Im wirtschaftlichen Bereich stieß ich in Amerika auf einen verbreiteten Optimismus. Trotz einer nach vde vor hohen Arbeitslosigkeit und einem großen Zahlungsbilanzdefizit glaubten meine Gesprächspartner, daß die Auftriebskräfte sich durchsetzen würden. Als eine Ursache dieser politischen Tendenz erschien mir die günstige Entwicklung, die sich in Vietnam anbahnte. Nixons Plan, amerikanische Landstreitkräfte aus Vietnam abzuziehen, ohne daß es sofort zu einem völligen Zusammenbruch des südvietnamesischen Systems komme, erschien vielen Amerikanern realisierbar. Dabei spielte die Annäherung zwischen den USA und China die zentrale Rolle. Obwohl Nixon die Richtlinien der Außenpolitik bestimmte, war mein Eindruck, daß Kissingers Einfluß auf ihre Konzeption und Durchführung außerordentlich groß war. Freilich wurde für mich auch deutlich, daß die inneren Probleme der USA nach wie vor eine schwere Belastung darstellten, so das Rassenproblem, die Armut eines Teils der schwarzen Bevölkerung, Gewaltverbrechen vor allem in den großen Städten, zunehmende Rauschgiftsucht und schließlich die ungebrochene Herrschaft der Mafia in einigen Teilen des Landes. Die Administration hatte die Sorge, daß sich die Aufmerksamkeit der amerikanischen Bevölkerung mehr und mehr diesen inneren Problemen zuwenden und darüber die außenpolitischen Notwendigkeiten, vor allem das Engagement in Europa, in den Hintergrand treten könnten. Dazu, so sagte man mir, trage auch natürlich die neue deutsche Ostpolitik bei, die die sowjetische Bedrohung geringer erscheinen lasse, als sie wirklich sei. Trotzdem beurteilte die Mehrzahl 397
meiner amerikanischen Gesprächspartner die OstpoHtik der Regierung Brandt positiv. Ich kehrte auch von dieser Amerika-Reise, wie von so vielen anderen, in einer optimistischen Grundstimmung nach Deutschland zurück. Das ist vielleicht die größte geistige Leistung der Amerikaner, daß sie auch angesichts großer Schwierigkeiten nicht verzagen, sondern an die Chance einer Lösung glauben. Eine der faszinierendsten Reisen, die ich in meinem Leben unternommen habe, war die Reise nach Moskau und der Besuch des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO)") im Oktober 1972. Der Besuch war ein Jahr vorher zwischen dessen Leiter Professor Nikolai Inosemzew und mir verabredet worden, als die IMEMO die DGAP besuchte. Wir Deutschen begrüßten die Intensität des Gedankenaustausches um so mehr, als IMEMO im Vergleich zu uns ein Riese war. Es war personell etwa 70mal größer als wir und verfügte über bedeutende Geldmittel. Als besonders erfreulich sind mir meine Begegnungen mit Prof. Inosemzew selbst in Erinnerung. Er war ein bedeutender Wissenschaftler, Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften, dabei aber zugleich ein durchaus praktisch denkender Kenner der Außenpolitik. Sehr selten habe ich ihn ideologisch argumentieren hören. Bei einem Abendessen auf einer internationalen Konferenz saß ein schwedischer Friedensforscher mit - wie ich fand - vollständig abwegigen Ideen zur Friedenspolitik an dem Tisch, an dem auch Inosemzew und ich saßen, und ich fand mich in der merkwürdigen Lage, daß wir beide dem Schweden mit nahezu den gleichen Argumenten klarzumachen versuchten, daß er sich auf einem Irrweg befand. Ich fühlte mich seitdem Inosemzew freundschaftlich verbunden und habe es sehr bedauert, daß er früh starb. Innerhalb der DGAP bereiteten wir uns intensiv auf die Reise nach Moskau vor. Schnell war eine Einigung über die Zusammensetzung unserer Delegation erzielt. Unter meiner Leitung sollten ihr General a. D. Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Prof. Norbert Kloten, der Bundestagsabgeordnete Kurt Mattick, Prof. Klaus Ritter, Eberhard Schulz und Botschafter a. D. Gebhardt von Walther angehören. Eine kurze Auseinandersetzung gab es bei uns über die Teilnahme von Kielmannsegg. Er hatte im Zweiten Weltkrieg als Offizier gegen Rußland gekämpft. Die Russen könnten, so wurde auf deutscher Seite gesagt, seine Teilnahme als einen Affront betrachten. Ich entschied mich, übrigens im vollen Einvernehmen mit von Walther, für seine TeUnahme, da Kielmannsegg der beste Kenner der internationalen Sicherheitsprobleme war, der uns zur Verfügung stand. Die Geschichte ist lehrreich, weil sie die völlige Fehlkalkulation unserer besorgten deutschen Freunde zeigte. In den Gesprächen mit den Mitgliedern des IMEMO genoß Kielmannsegg eine besondere, durch große Höflichkeit gekennzeichnete Beachtung. Sie wollten wissen, wo er im Kriege gekämpft hatte, und als er sagte, daß er zu der Vorausabteilung gehört habe, die bis 40 km vor Moskau gelangt
" ) Institut Mirovoj Ekonomiki i Mezdunarodnych Otnosenij.
398
war, wurde er fast wie ein Held geehrt. Die Russen brachten Karten mit, anhand derer er den genauen Verlauf der Operation, an der er teilgenommen hatte, schildern mußte. Es ist wichtig, sich diese Episode vor Augen zu halten. Die Sowjets werden selbstverständlich niemals die furchtbaren Leiden vergessen, die der Krieg, und das heißt, der von Deutschland begonnene Krieg, ihrem Volk zugefügt hat; aber sie — jedenfalls die Russen, mit denen wir es zu tun hatten — können davon sehr wohl die Rolle des einzelnen Deutschen, der tapfer und ehrenhaft gekämpft hat, unterscheiden. Die Gespräche mit dem IMEMO dauerten drei volle Tage. Außer Inosemzew gehörten der sowjetischen Delegation Prof. Primakow, stellvertretender Direktor des sowjetischen Instituts, Frau Prof. Maximowa, Abteilungsleiterin für wirtschafthche Fragen und Ehefrau von Inosemzew sowie 13 weitere Mitglieder an. Die wichtigsten von uns erörterten Themen waren die weltpoUtische Lage, die bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR, die europäische Sicherheit und Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Ost und West. Die Sowjets wiesen auf bedeutende Ansätze zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen aus der jüngsten Zeit hin (Deutsch-Sowjetischer Vertrag von 1970, sowjetisch-amerikanische Vereinbarungen, Besuch Nixons in der UdSSR, Besuch Breschnews in Frankreich). Sie bezeichneten die außenpolitischen Schritte der Regierung Brandt als einen positiven Prozeß, dem allerdings als negative Prozesse der Krieg in Vietnam, die gefährliche Situation im Nahen Osten, die Fortsetzung des Kalten Krieges durch einige Dogmatiker im Westen und die Politik Chinas gegenüberständen. Ich nannte in meiner Entgegnung als ein wichtiges Ziel der Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa verstärkte Kontakte zwischen den Menschen. Sodann ging ich auf die unnatürhche Lage in Deutschland, die Teilung des Landes und auf das Ziel der friedlichen Wiedervereinigung ein. Dies führte zu einigen kritischen Fragen von sowjetischer Seite. Man hielt mir u. a. die im Moskauer Vertrag vereinbarte Unverletzlichkeit der Grenzen entgegen. In diesem Punkte gab es keine Annäherung der beiderseitigen Standpunkte. Aber meiner persönlichen Beziehung zu Inosemzew tat dieses Zwischenspiel keinerlei Abbruch. Er behandelte mich mit großer Höflichkeit, und ich hatte den freilich nicht beweisbaren - Eindruck, daß er meine Haltung, als die eines Deutschen mit nationalem Selbstbewußtsein, schätzte. Zur europäischen Sicherheitsfrage in Zusammenhang mit KSZE und MB F R " ) gaben auf deutscher Seite Ritter und Kielmannsegg ausführhche Erklärungen ab. Auf eine Frage von Mattick sagten die Sowjets, das System der kollektiven Sicherheit in Europa gehe von der Beibehaltung der derzeitigen unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme aus, womit sie jede Art einer ideologischen Annäherung deutlich verwarfen. Im Schlußkommuni-
" ) Mutual Balanced Force Reductions.
399
qué sprachen wir und die Sowjets uns für die Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit aus^®). Die Sowjets zeigten sich sehr an der Frage interessiert, wie sich die westeuropäische Integration weiterentwickeln würde. Werde sie zu einer verstärkten militärischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft führen? Das würde eine gefährliche Entwicklung einleiten. Ich sagte, die militärische Integration Westeuropas sei zur Zeit keine aktuelle Frage. Die Gründe für das Scheitern der EVG im Jahre 1954 beständen auch jetzt noch. Aber die Sowjets kamen mehrfach auf diese Frage zurück, und wir gewannen den Eindruck, daß sie darüber beunruhigt waren. Ausführlich wurden Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erörtert. Frau Maximowa sprach sich für deutsch-sowjetische Vereinbarungen über wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit aus. Diese hätten auch für die kapitalistischen Länder Vorteile, da die sowjetischen Länder ihnen stabile Märkte böten. Wir wiesen darauf hin, daß ab 1973 die EWG, nicht mehr die einzelnen Mitgliedsstaaten, für die Handelsbeziehungen mit den osteuropäischen Ländern verantwortlich sein v^irden. Auch die Möglichkeit sogenannter Joint ventures, das heißt, die Zusammenarbeit zwischen westlichen Unternehmen und sowjetischen Stellen durch gemeinsame Inbetriebnahme industrieller Anlagen auf sowjetischem Territorium, wurde erörtert. Aber auf unsere Frage, welche Mitgestaltungsrechte in diesem Fall die wesüichen Firmen hätten, gaben die Sowjets wenig ermutigende Antworten. Lange wurde über das Prinzip des militärischen Gleichgewichts zwischen Ost und West diskutiert. Ist es ein Element der Stabilität? Was heißt überhaupt Gleichgevwcht? Nicht nur die Waffen, auch ihre Dislozierung und ihre MobUität seien Bestandteile des Gleichgewichts. Die Sowjets bezweifelten, daß es eine wissenschaftlich brauchbare Definition des Gleichgewichts gäbe. Weil dies so sei, führe das Konzept des Kräftegleichgewichts leider zu immer neuen Runden im Rüstungswettlauf. Dabei argumentierten sie dialektisch geschickt und umgingen auf diese Weise eine Antwort auf unsere immer wiederholte besorgte Frage nach dem Grund für das konventionelle Übergewicht der sowjetischen Streitkräfte in Europa. Das dreitägige Gespräch verlief in einer sehr guten Atmosphäre. Ein sowjetischer Teilnehmer sagte: „Der Verlauf des Symposions hat gezeigt, daß zwischen uns tiefes Vertrauen herrscht." In meinem Schlußwort begrüßte ich es, daß das Gespräch ruhig und sachlich verlaufen sei. Alle politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, so sagte ich, sähen ein sehr wichtiges politisches Ziel darin, mehr Verständnis und mehr Vertrauen zwischen uns und den Völkern Osteuropas herzustellen. Inosemzew bezeichnete die deutsch-sowjetischen Beziehungen als ein wichtiges Element der Weltpolitik. Vom Grad und von der Art dieser Beziehungen hänge die politische Atmosphäre in Europa und weit über Europa hinaus ab.
Das Kommuniqué ist unveröffentlicht. 400
Am letzten Abend trafen sich einige Mitglieder des Symposions in der Privatwohnung von Inosemzew. Wir genossen die berühmte russische Gastfreundschaft in vollen Zügen. Die Russen sprachen sehr freimütig. Auch vnirde deutlich, daß zwischen ihnen unterschiedUche Auffassungen bestanden, die sie nicht vor uns zu verheimlichen suchten. Lange Zeit drehte sich das Gespräch um China. Die Sowjets suchten uns klarzumachen, daß China eine wachsende Gefahr bilde. Die Sowjetunion befände sich, so sagten sie, in einer Zwei-Fronten-Situation. Sie hätten vor einigen Jahren überlegt, ob sie die chinesischen Anlagen, in denen die Atomwaffen hergestellt vrärden, durch einen Luftangriff zerstören sollten. Aber sie hätten diesen Plan verworfen. Er hätte ihnen die Todfeindschaft und vielleicht einen langen Krieg mit 800 Millionen Chinesen eingebracht. Immer wieder kamen wir auf die Situation in Europa zurück. Wir empfänden, so sagten vwr, die enorme Überlegenheit der sowjetischen Streitkräfte im konventionellen Bereich als eine Bedrohung. Einmal klang auf sowjetischer Seite sehr vorsichtig das Argument an, daß die sowjetischen Truppen in den anderen osteuropäischen Staaten auch eine politische Funktion erfüllten. Aber das entscheidende Gegenargument auf sowjetischer Seite war der Hinweis auf die taktischen nuklearen Waffen, die in Westeuropa stationiert seien und die Sowjetunion bedrohten. Viele Fragen, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Politiker in Ost und West beschäftigten, klangen in diesem abendlichen Gespräch am 26. Oktober 1972 an. Wir konnten sie nicht lösen. Aber wir diskutierten sie in einer Atmosphäre, die ich fast freundschaftlich nennen möchte. Und vdr halfen dadurch mit, daß mehr gegenseitiges Vertrauen zwischen Deutschen und Russen entstand. Abschied von der DGAP Anfang 1973 endete meine Tätigkeit als Leiter des Forschungsinstituts der DGAP. Ich hatte bei der Bundestagswahl im Herbst 1972 für ein Mandat im Deutschen Bundestag kandidiert und war gewählt worden»®). Von Walther hatte mir dringend von diesem Schritt abgeraten. Daraus vrärde nichts werden; um eine parlamentarische Karriere zu beginnen, sei ich zu alt. Als es dann aber schließlich doch zu meiner Wahl kam, vertrat er — sicherlich mit Recht — den Standpunkt, daß ich meine Tätigkeit im Forschungsinstitut beenden müßte. So schied ich schweren Herzens aus dem Kreise von Menschen wieder aus, die mir in einer fast dreijährigen Tätigkeit nahegekommen waren. Mein Nachfolger wurde Professor Karl Kaiser, ein angesehener Politologe, der zunächst an der Universität Saarbrücken, später an der Universität Köln lehrte und 1991 an die Universität Bonn berufen wurde.
Siehe dazu Kap. IX S. 415 ff.
401
2. Weitere wissenschaftliche Arbeiten Das Recht der Europäischen
Gemeinschaften
Während der Jahre 1970 bis 1972 nahm ich meine Vorlesungstätigkeit mit wöchentlich zwei Stunden über das Recht der Europäischen Gemeinschaften an der Universität Köln wieder auf. Ich verfeinerte meine Analyse dieses in der Welt einzigartigen Rechtsystems, und gab einen möglichst genauen Überblick über die deutsche Rechtsprechung zu den Fragen des Gemeinschaftsrechts und über die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes. Störungen ereigneten sich in meiner Vorlesung nicht. Dies hing vor allem damit zusammen, daß die Zahl meiner Hörer relativ klein war (40 bis 50) und es sich um Hörer handelte, die an dem Stoff, der damals noch nicht zu den Examensfächem gehörte, besonders interessiert waren. Für den 6. Internationalen Kongreß für Europarecht im Mai 1973, der in Luxemburg stattfand, bereitete ich den deutschen Beitrag zu dem Thema „Rechtsprechung zu den allgemeinen Problemen der Integration" vor"). Ich beschrieb zunächst die deutsche Gerichtsverfassung und Kompetenzverteilung und erläuterte für den nichtdeutschen Leser die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts und der fünf Zweige der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Sodann untersuchte ich den politischen und sozioökonomischen Rahmen der deutschen Rechtsprechung. Die deutsche Bevölkerung und ebenso die politischen Parteien hätten eine sehr positive Grundeinstellung zur westeuropäischen Integration, übten aber starke Kritik an der Agrarpolitik der EWG. Die Agrarpolitik sei daher, neben den steuerlichen Vorschriften des EWG-Vertrages, Anlaß für das starke Anschwellen der europarechtlichen Streitigkeiten vor deutschen Gerichten. Mitte der sechziger Jahre seien bis zu 23 000 solcher Verfahren anhängig gewesen. Sehr viele Streitigkeiten würden, so führte ich weiter aus, vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt a./M. geführt, das am Sitz der landwirtschaftlichen Einfuhr- und Vorratsstellen für Klagen gegen Entscheidungen dieser Behörden zuständig war. Dabei kam es zu einer dramatischen Zuspitzung zwischen dem Frankfurter Gericht und dem Europäischen Gerichtshof. Das Frankfurter Gericht sah in einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes eine Verletzung von Strukturprinzipien des Grundgesetzes und rief das Bundesverfassungsgericht an. Es venvies dabei u. a. auch auf meinen Aufsatz in der Festschrift für Otto Riese").
") Veröffentlicht in: Die europäische Rechtsprechung nach zwanzig Jahren Gemeinschaftsleben. VI. Internationaler Kongreß für Europarecht vom 24. bis 26. Mai 1973 in Luxemburg, veranstaltet von der Fédération internationale pour le droit européen (F.I.D.E.), Köln 1976 (Kölner Schriften zum Europarecht Bd. 24) S. 129-194. Karl Carstens, Der Rang europäischer Verordnungen gegenüber deutschen Rechtsnormen, in: Festschrift für Otto Riese aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstages. Hrsg. von Bernhard Aubin u. a., Karlsruhe 1964 S. 65—81. Das Gericht verwies auf S. 76 dieses Aufsatzes. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist abgedruckt in Außen-Wirtschaftsdienst des Betriebsberaters 1971 S. 541. 402
Als dramatisch könnte man auch die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof bezeichnen. Am 18. Oktober 1967 hatte das Bundesverfassungsgericht noch entschieden, daß die von den Organen der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassenen Akte nicht Akte der deutschen öffentlichen Gewalt seien und daher eine Verfassungsbeschwerde gegen sie unzulässig sei'®). Das Bundesverfassungsgericht war von Anfang an bestrebt, dem europäischen Recht ein Höchstmaß an Wirksamkeit zu verschaffen. Aber das Bundesverfassungsgericht machte in der gleichen Entscheidung einen Vorbehalt. Es ließ die Frage offen, ob es genötigt sein könnte, europäisches Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes zu messen. Es sei die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 24, Absatz 1 Grandgesetz die Gemeinschaftsorgane von einer Bindung an die Grandrechtsordnung der Bundesrepublik freistellen könnte. Noch deutlicher äußerte sich das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 29. Mai 1974^"), die erst nach Abschluß meines Berichtes erging, und die ich daher nur in einem Nachwort berücksichtigen konnte. In der Entscheidung von 1974 nahm das Bundesverfassungsgericht bis zur Verabschiedung eines europäischen Grandrechtskatalogs für sich das Recht in Ansprach, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts an den Grandrechtsartikeln des Grandgesetzes zu messen, soweit diese Vorschriften von deutschen staatlichen Organen angewendet Verden. Die Entscheidung rief bei vielen europäischen Juristen einen Sturm der Entrüstung hervor. Man befürchtete eine Durchlöcherang des Gemeinschaftsrechts. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht sei durch diese Entscheidung gefährdet. Mir schien diese Reaktion übertrieben. Ich meinte, daß das Bundesverfassungsgericht befugt sein müsse, europäisches Gemeinschaftsrecht daran zu messen, ob es den KemgehaU eines Grandrechts nach dem Grandgesetz verletze, zumal dieser Kemgehalt jeder Abänderang durch den deutschen Verfassungsgeber entzogen sei. Allerdings dürfe sich die Prüfung nicht auf jede Einzelheit des deutschen Grandrechtskatalogs beziehen. Heute kann man feststellen, daß die so lebhaft umstrittene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1974 eine heilsame Wirkung auf die europäische Rechtsentwicklung gehabt hat. Der Europäische Gerichtshof hatte schon 1970 anerkannt, daß die Grandrechte zu den allgemeinen Rechtsgrandsätzen gehören, die er zu sichern hat, freilich nur Grandrechte allgemeiner Natur und nicht jedes Grandrecht jeder Verfassung jedes Mitghedstaates^'). Nach 1974 haben die Organe der Europäischen Gemeinschaft: Europäisches Parlament, Rat und Kommission in gleichlautenden Beschlüssen erklärt, daß für die Europäischen Gemeinschaften die Grandrechte vorrangige Bedeutung haben. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 22 S. 2 9 3 - 2 9 9 . Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 37 S. 2 7 1 - 3 0 5 . " ) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Bd. 16 S. 1125.
403
wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen. Die Organe haben erklärt, daß sie diese Grundrechte bei der Ausübung ihrer Befugnisse beachten würden. Dieser Beschluß der Organe der Europäischen Gemeinschaften datiert aus dem Jahre 1977^2). In Anbetracht dieser Entwicklung hat das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 1986 seine früheren Bedenken zurückgestellt und wörtlich folgendes erklärt: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Gemeinschaften, einen wirL·amen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewah der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen. Entsprechende Vorlagen nach Artikel 100, Absatz 1 Grundgesetz sind somit unzulässig^^)." Man kann hier von einem vollen Sieg des europäischen Rechts über das deutsche nationale Recht sprechen; aber es ist ein Sieg, zu dem das Bundesverfassungsgericht selbst einen wesentUchen Beitrag geleistet hat. Damit hat eine dramatische Entwicklung ihren Abschluß gefunden. Ich halte die Entscheidung von 1986 für richtig. Unbefriedigend bleibt freilich die mangelnde demokratische Legitimation des Europäischen Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Verordnungen, die der Ministerrat erläßt. Alle Versuche der deutschen Regierung, hier eine Änderung herbeizuführen, sind leider am Widerstand der anderen MitgUedstaaten gescheitert. Weder Frankreich noch Großbritannien sind bereit, so weit zu gehen, wie wir es für richtig halten. Föderalismus
und Neugliederung
des
Bundesgebietes
Vor dem Club zu Bremen hielt ich am 23. Oktober 1970 einen Vortrag zu dem Thema „Fortentwicklung des deutschen Föderalismus"^^). Ich kritisierte, daß das gegenwärtige föderative System zu kompliziert sei. Dies gälte besonders für die Finanzordnung und für die Aufteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Kompliziert und unbefriedigend sei die Frage geregelt, welche Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürften. Bei jedem siebten Gesetz sei streitig, ob es zustimmungsbedürftig sei. Grandrechtserklärung der Organe der Europäischen Gemeinschaften vom 5. April 1977 in Europa-Archiv 1977 S. D 234. Beschluß vom 22. Oktober 1986 in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 73 S. 3 3 9 - 3 8 8 , hier 340. Nicht veröffentlicht, Manuskript nicht ermitteh.
404
Ich beklagte weiter, daß die Kompetenz des Bundes in Fragen der Hochschul- und Bildungspolitik und ebenso in Fragen des Umweltschutzes zu gering sei. Schließlich sei das gegenwärtige System zu wenig elastisch. Daher seien häufige Änderungen des Grundgesetzes nötig, um die Rechtslage an die fortschreitende wirtschaftliche und soziale Entwicklung anzupassen. Diese Tendenz werde leider durch das Bundesverfassungsgericht unterstützt, das einer engen Interpretation der Bundeskompetenzen zuneige und Zuständigkeiten aus der Natur der Sache oder kraft Sachzusammenhangs nur unter Anlegung engster Maßstäbe anerkenne. Ich appellierte an das Bundesverfassungsgericht, seine Rechtsprechung zu überprüfen. Diese Gefahren, so sagte ich, v^irden sich noch vergrößern, wenn im Zuge der geplanten Neugliederung des Bundesgebietes die Zahl der Länder drastisch eventuell auf fünf oder sechs vermindert werden sollte. Die wenigen großen Länder würden ihre Rechte gegenüber dem Bund mit besonderem Nachdruck vertreten. Vor dieser Entwicklung glaubte ich warnen zu müssen. Im Januar 1971 legte ich dem bremischen Senat ein Gutachten zur Frage der Neugliederung des Bundesgebietes vor „Die Freie Hansestadt Bremen - ein Land der Bundesrepublik Deutschland"^'). Einen entsprechenden Auftrag dazu hatte mir Bürgermeister Hans Koschnick im Frühjahr 1970 erteilt. Es handelte sich um eine Arbeit, an der unter anderen auch die Herren Bodo Stephan, Hans Schepp und Hartwin Meyer-Amdt beteiligt waren. Mit ihnen und anderen bremischen Beamten wurde der Entwurf des Gutachtens mehrfach diskutiert. Besonders Staatsrat Gerhard Kählitz bin ich für seine kritische Durchsicht zu Dank verpflichtet. Die abschließende Verantwortung für das Gutachten lag jedoch allein bei mir. Der mir erteilte Auftrag wurde durch eine 1969 neu einsetzende lebhafte Diskussion über die Neugliederung des Bundesgebietes ausgelöst. Das Grundgesetz enthielt zunächst eine Bestimmung, durch die dem Bundesgesetzgeber der Auftrag erteilt wurde, im Wege der Neugliederung des Bundesgebietes Länder zu schaffen, „die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obUegenden Aufgaben v«rksam erfüllen können" (Artikel 29, Absatz 1). Für diese Gesetze genügte eine einfache Mehrheit. Sie konnten ohne Zustimmung des Bundesrates ergehen. Diese, für ein föderatives Staatssystem absolut einmalige Möglichkeit des Eingriffs der ZentralgewaU in die föderale Grundstruktur, nämlich die Zusammenlegung und Neubildung von Gliedstaaten durch den Gesetzgeber des Bundes, erklärt sich daraus, daß nach 1945, durch Entscheidung der Besatzungsmächte, Länder ohne gemeinsame historische Grundlage und ohne Rücksicht auf ihre Leistungskraft zum Teil willkürlich geschaffen worden waren. Die politischen Parteien und die öffentliche Meinung waren 1969 noch nicht bereit, diese Entscheidungen als endgültig zu akzeptieren. Die Wissenschaft sprach von einem „labilen Bundesstaat".
Zum Inhalt des selbst nicht veröffentlichten Gutachtens vgl. später bei Anmerkung 29 dieses Kapitels.
405
Es kam 1969 zu einer lebhaften Erörterung, die besonders den nördlichen und den mittleren Teil des Bundesgebietes betraf, während Bayern und das gerade geschaffene neue Land Baden-Württemberg sowie Nordrhein-Westfalen außerhalb der Diskussion blieben. Besonders von Nordrhein-Westfalen gingen wiederholt Anstöße zur Zusammenlegung der Länder im nördlichen Bundesgebiet aus. Ministerpräsident Franz Meyers hatte 1965 die Bildung zweier Länder (Hamburg-Schleswig-Holstein und Bremen-Niedersachsen) vorgeschlagen^®). Ministeφräsident Heinz Kühn ging noch einen Schritt weiter. Er schlug die Zusammenlegung aller vier norddeutschen Länder zu einem Bundesland vor^'). Bürgermeister Koschnick hatte beide Vorschläge eindeutig abgelehnt. Die anderen norddeutschen Regierungschefs hatten sich weniger entschieden geäußert. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission unter Vorsitz von Staatssekretär a. D. Wemer Emst arbeitete gleichfalls Pläne für die Neugliederung des Bundesgebietes aus. In einem von ihr 1972 erstatteten Bericht schlug diese Kommission für den Norden der Bundesrepublik zwei Lösungen alternativ vor, nämlich die Bildung eines Landes oder die Bildung zweier Länder (Schleswig-Holstein-Hamburg und Niedersachsen-Bremen)^®). Ich ging in meinem Gutachten auf eine Reihe von Gründen ein, die für die Erhaltung der bremischen Selbständigkeit sowohl aus bremischer Sicht als auch aus der Sicht der Allgemeinheit sprachen. Wörtlich sagte ich: „Für die Lösung der spezifischen Aufgaben auf dem Gebiet der Seeschiffahrt, des Außenhandels und der Häfen erscheint die Organisationsform der staatlichen Selbständigkeit als die optimale Vorbedingung. [.. .1 Die Organe keines größeren Landes würden ihre Kraft in solchem Maße auf diese Aufgabe konzentrieren wie der Bremische Senat. Die Eigenschaft als Stadtstaat schafft zudem besonders günstige Voraussetzungen, um die notwendigen Entscheidungen schnell und unbürokratisch, ohne lange Instanzenwege, treffen zu können. Städtische und Landesbehörden werden teilweise in Personalunionen geleitet. Eine Mittelinstanz zwischen Stadtgemeinde und Landesregierung gibt es nicht. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, daß die Landesregierung ihren Sitz in Bremen hat und dadurch jeder Senator in seinem persönlichen Lebensbereich die besonderen Eigenschaften und Probleme von Handel, Häfen und Schiffahrt täglich erfährt." Und weiter führte ich aus: „Die stadtstaatliche Struktur ermöglicht schließlich die direkten Kontakte zu den obersten Bundesorganen und zu den anderen deutschen Ländern und damit die wirksamste Wahrnehmung der Schiffahrts-, Hafen- und Außenhandelsinteressen im überregionalen Bereich. "
Franz Meyers, Sind unsere Ländergrenzen sinnvoll? Vortrag, veröffentlicht in DAGHefte für Sozial-, Wirtschafts- und Ки11ифо1111к 1966 S. 4 8 - 5 2 . " ) Heinz Kühn, Haben die Länder noch eine Zukunft? Vortrag, veröffentlicht vom Presseamt der Landesregierung, Düsseldorf 1970. Bericht der Sachverständigenkommission für die Neugliederung des Bundesgebiets, vorgelegt im November 1972, veröffentlicht vom Bundesministerium des Innern.
406
Indessen, so gab ich zu bedenken, müsse man sich fragen, ob die spezifischen bremischen Aufgaben, nämhch Häfen, Schiffahrt und Außenhandel noch die zentrale Rolle unter den Aufgaben des Stadtstaates spielten, die sie früher gehabt hätten, oder ob sich nicht andere Aufgaben, die Bremen mit den übrigen Ländern gemeinsam habe, immer mehr in den Vordergrund schöben. Zum anderen müsse man fragen, ob die bremische Finanzkraft in Zukunft ausreichen werde, um die besonderen Aufgaben des Stadtstaates ausreichend wahrzunehmen. Ich erwähnte besonders die steigenden Ausgaben für die bremische Universität und für den Umweltschutz. Ich empfahl eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, um Bremen von den nichtspezifischen Aufgaben zu entlasten und erwähnte als Beispiele ein gemeinsames Oberlandesgericht mit Hamburg, ein gemeinsames Oberverwaltungsgericht mit Niedersachsen sowie die gemeinsame Unterhaltung der Universität mit einem der Nachbarländer. Ich untersuchte auch mehrere Alternativen zur Erhaltung der bremischen Selbständigkeit, die damals in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, u. a. die BUdung eines Küstenlandes aus allen vier bisherigen Küstenländern und die Bildung zweier Küstenländer, nämlich Schleswig-Holstein-Hamburg und Niedersachsen-Bremen. Die Nachteile beider Lösungen lagen auf der Hand. Bei der Bildung nur eines Küstenstaates würde Hamburg voraussichtlich die Hauptstadt werden und eine sehr starke Stellung im Verhältnis zu Bremen erhalten. Ein Land Niedersachsen-Bremen wäre aller Voraussicht nach finanzschwach und könnte die für den Ausbau der Häfen erforderlichen Mittel nur schwer aufbringen. Mit Schreiben vom 4. August 1971 dankte mir Bürgermeister Koschnick für das Gutachten. Ich hätte es dem Senat nicht leicht gemacht und ihm manche bittere Pille zu schlucken gegeben. Mit meinem Gutachten glaube ich auf eine Gefahr hingewiesen zu haben, die Bremen auch in Zukunft droht: es muß seine finanziellen Kräfte mehr und mehr für die aus dem Selbstverständnis des Stadtstaates sekundären Zwecke einsetzen, wodurch die eigentlichen Grandlagen der bremischen Selbständigkeit, nämhch Häfen, Schiffahrt und Außenhandel in den Hintergrand treten. Uber das Thema „Die Neugliederang der Bundesrepublik Deutschland aus bremischer Sicht" hielt ich am 5. November 1971 einen Vortrag vor der Wittheit zu Bremen^®). Darin setzte ich mich eindeutiger als in meinem Gutachten für die Erhaltung der bremischen Selbständigkeit, allerdings unter der Voraussetzung der Kooperation mit anderen benachbarten Ländern, vor allem mit Niedersachsen, ein. Bald danach ebbte die Diskussion über die Neugliederang des Bundesgebietes wieder ab. Durch eine weitere Änderang des Artikels 29 GG wurde das
Veröffentlicht in den Schriften der Wittheit zu Bremen, Neue Folge Bd. 4, Bremen 1972. 407
Mandat an den Bundesgesetzgeber neu formuliert'"). Seitdem heißt es, daß das Bundesgebiet neu gegliedert werden kann; ein entsprechender bindender Auftrag an den Gesetzgeber ist entfallen. „PoJitische Führung" In den Jahren 1970/71 entstand das aus meiner Sicht wichtigste Buch, welches ich geschrieben habe: „Politische Führung"'*)· Ich versuchte eine systematische Darstellung der Erfahrungen zu geben, die ich von 1949 bis 1954 als bremischer Bevollmächtigter beim Bund und danach, von 1954 bis 1969, im Dienste der verschiedenen Bundesregierungen gesammelt hatte. Den Titel verdanke ich Wolfgang Wagner, der mir auch darüber hinaus einige wertvolle Anregungen für das Buch gab. Das Buch handelt von der Führangsrolle der Bundesregierung, wobei mit Führung zweierlei gemeint ist: das Setzen von Zielen und die Beeinflussung von Menschen, damit sie auf diese Ziele hinarbeiten. Besonders ausführlich ging ich auf die Führangsrolle der Bundesregierang im Bereich der Außenpolitik und der Konjunkturpolitik ein, weU diese beiden Gebiete, nach meiner Überzeugung, jede Bundesregierang mit Vorrang beschäftigt hatten und auch in Zukunft beschäftigen würden. Das Buch ist lange vergriffen. Ich bin mehrfach gebeten worden, eine neue Auflage zu überarbeiten, habe mich aber dazu nicht entschließen können, weil andere Arbeiten den Vorrang hatten. Mein Buch wurde in der Presse und in Fachzeitschriften ausführlich besprochen. Neben positiven Urteilen wurde es auch scharf kritisiert. Sehr positiv äußerte sich Emst A. StUler. Meine Ausführangen seien eine verdienstvolle Lektion nicht nur über politische Führang, sondern auch über die Kunst der Darstellung komplizierter Faktoren und Zusammenhänge'^). Dagegen warf mir Wilfried von Bredow vor, daß ich mit einem undifferenzierten Führangsbegriff arbeite. Alle oppositionellen Regungen würden als verantwortungslos gebrandmarkt"). Rolf Zundel bescheinigte mir Solidität und Sachkenntnis, Übersicht und lÜarheit, distanzierte sich aber von meinen Schlußfolgerangen, vor allem in der Außenpolitik"). Alois Rummel, der gleichfalls λάβΙβ Teile des Buches anerkannte, fand es indes erstaunlich, daß ich nur so wenig über die Funktion von Presse, Funk und Femsehen zu sagen hatte"). Ein Kommentar im Bayerischen Rundfunk bemängelte, daß ich die Verbreitung von Unwahrheiten vorwiegend den
") ") ") ")
408
Dreiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Aug. 1976 (BGBl. I S. 2381). Karl Carstens, Politische Führung - Erfahrungen im Dienst der Bundesregierung, Stuttgart 1971. Stuttgarter Zeitung vom 19. Okt. 1971. Blätter für deutsche und internationale Politik 1/1973. Die Zeit vom 15. Okt. 1971. Publik vom 24. Sept. 1971.
Magazinen „Stem" und „Spiegel" sowie dem Femsehen angelastet hatte, nicht aber „dem Mammutverlag, dem der Vorwurf der Nachrichtenmanipulation seit Jahren gemacht wird". Meine These, daß die Wissenschaft berufen sei, Presse, Rundfunk und Femsehen zu kontrollieren, wurde von ihm mit Entrüstung zurückgewiesen. Das Buch sei nach einem Schwarz-Weiß-Schema geschrieben worden. Einige Kapitel jedoch, wie „Das föderale System", „Die Außenpolitik" und „Die Konjunktuφolitik" seien objektiv ausgezeichnet^®). Erwähnen möchte ich femer die positiven, wissenschaftlichen Rezensionen von Ferdinand Friedensburg^'), Gurt Gasteyger^®) und F. Mälscher^®). Wilhelm Kaisen schrieb mir am 13. Juni 1971 : „Mein Urteil geht dahin, daß es Ihnen gelungen ist, eine sachlich gehaltene, wertvolle Arbeit der Öffentlichkeit zu übergeben." Das Buch sei für jeden, der sich mit den politischen Problemen der Nachkriegszeit emsthaft befasse, unentbehrlich. Helmut Schmidt, Bundesverteidigungsminister, ging in einer Rede vor dem Bundestag vom 12. Mai 1971 auf das Buch ein. Er sprach von dem Prinzip der Diskussion als einem Fühmngsgmndsatz in der Armee und sagte dazu unter anderem: „Ich habe zunächst einmal einen unverdächtigen Zeugen vor mir, einen von mir geschätzten Spitzenbeamten der Bundesrepublik, der sich im Augenblick im Wartestand befindet, Karl Carstens. Vor wenigen Tagen ist ein Buch erschienen, in dem der ehemalige Staatssekretär des Auswärtigen Amts, später des Verteidigungsministeriums, schließlich des Bundeskanzleramts die Summe seiner Erfahrungen als einer der höchsten politischen Beamten zieht; und da er auch ein Jahr lang Staatssekretär im Verteidigungsministerium war, steht ihm durchaus ein Urteil auch auf diesem Sachgebiet zu. Er ßhrt aus, daß der Verteidigungsminister es bei der Bewältigung seiner Führungsaufgaben leichter habe als die anderen Minister, weil er durch Befehls- und Kommandogewalt höchster Vorgesetzter aller Soldaten sei. Jedenfalls so lange Frieden ist — und das ist ja so lange, wie wir leben, weil wir die richtige Sicherheitspolitik machen —, ist er der höchste Vorgesetzte. Insofern habe er es leichter als die anderen Minister. Aber auch der Verteidigungsminister wird gut daran tun — sagt Carstens —, seine Weisungen und Befehle durch eine vorangehende Diskussion mit den Adressaten vorzubereiten. Noch weniger als andere Minister kann er den gesamten, teilweise technisch höchst komplizierten Bereich seiner Verantwortung selbst überschauen und sich aufgrund eigener Kenntnis ein Urteil bilden"*"). Besonders gefreut hat es mich, daß bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Hochschule für Verwaltungsvñssenschaften in Speyer, dreizehn Jahre Bayerischer Rundfunk, Manuskript der Sendung vom 6. Okt. 1971. Das Historisch-Politische Buch vom 27. Dez. 1971. Schweizer Monatshefte 1/1972. österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Bd. 27 (1971) S. 238. « ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 76 S. 7096 В und C.
409
später, am 11. Juli 1984, der Rektor der Hochschule, Professor Heinrich Siedentopf, das Buch ausführlich würdigte. Er sagte unter anderem: „Es ist ein Beleg für Ihr abgewogenes, durch präzises und nicht an momentanen Opportunitäten und modischen Trends orientiertes Urteil"**). Nach meiner Meinung ist das Buch auch heute noch lesenswert. Ich möchte hier nur drei Bereiche hervorheben: Die Kritik des föderalistischen Systems, das Kapitel über den Bundespräsidenten und den Abschnitt über die verschiedenen Führungsstile der Bundesregierung, insbesondere der Bundeskanzler. Als ich den Abschnitt über den Bundespräsidenten schrieb, konnte ich nicht ahnen, daß ich dreizehn Jahre später selbst in dieses Amt gewählt werden woirde. Eingehend befaßte ich mich mit dem Prüfungsrecht des Bundespräsidenten gegenüber den vom Bundestag beschlossenen und ihm zur Unterzeichnung vorgelegten Gesetzen. Ich sprach mich für eine restriküve Handhabung dieses Prüfungsrechts aus und kritisierte die Entscheidung von Bundespräsident Heinemann, der im April 1970 die Verkündung des von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Architekten-Gesetzes ablehnte, weil das Bundesverfassungsgericht in einem ähnlich gelagerten Fall, nämlich beim Ingenieur-Gesetz, ein Jahr zuvor, die Bundeszuständigkeit verneint hatte. Das Ingenieur-Urteil war mit 5 zu 3 Stimmen ergangen. Der Bundespräsident hätte, schrieb ich, dem Verfassungsgericht die Chance geben müssen, seine Haltung zu übeφrüfen und ihm die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Architekten-Gesetzes überlassen müssen. An diese restriktive Inteφгetation des Prüfungsrechts des Bundespräsidenten habe ich mich auch gehalten, als ich selbst Bundespräsident woirde. Sehr ausführlich setzte ich mich in meinem Buch über die politische Führung mit den Schwächen unseres föderativen Systems auseinander. Ich knüpfte hier besonders an meine Erfahrungen als bremischer Bevollmächtigter und als Chef des Bundeskanzleramts an. Ich bejahte das föderalistische System, beklagte aber seinen Mangel an Elastizität und Anpassungsfähigkeit, der durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch verstärkt vrärde. Als Beleg zitierte ich zwei Entscheidungen des Gerichts: das Wasserstraßenurteil von 1962*2) und die Ingenieur-Entscheidung vom 25. Juni 1969*^). Ein längeres Kapitel widmete ich dem Bundeskanzler, den ich als die wichtigste FührungspersönUchkeit in unserer Demokratie ansah. Ich untersuchte den Führungsstil der verschiedenen Kanzler und unterschied zwischen dem voranschreitenden und dem abwartenden Führangsstil. Den voranschreitenden Führungsstil sah ich dadurch charakterisiert, daß der Bundeskanzler in einer wichtigen politischen Frage den Kurs selbst frühzeitig festlegte. Er berate sich mit den engsten Mitarbeitern, vielleicht mit einigen ihm nahestehenden Abgeordneten Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.), Ehrenpromotion Professor Dr. Karl Gartens, Speyer 1984 (Sonderdruck) S. 12 f. Urteil vom 30. Okt. 1962 in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 15 S. 1 - 2 5 . Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 26 S. 246-259. 410
der eigenen Fraktion; sobald er für sich selbst eine Entscheidung getroffen habe, setzten die Bemühungen um ihre Durchsetzung ein. Die wichtigsten Persönlichkeiten der eigenen Partei, darunter auch die Rivalen des Bundeskanzlers, müßten gewonnen werden. Wann das Kabinett befaßt werde, sei eine taktische Frage. Die hänge damit zusammen, wann der Regierungschef vor die Öffentlichkeit treten wolle, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Besonders wichtig sei die Auseinandersetzung mit der Opposition. Könne man sie gewinnen, oder müsse die Entscheidung im Kampf gegen sie durchgesetzt werden? Der große Vorteil dieses Führungsstils liege im folgenden: Der Kanzler könne von Anfang an eine klare, kraftvolle Sprache sprechen. Jedermann wisse daher frühzeitig, woran er sei. Dieser Führungsstil stärke die Autorität des Kanzlers und den Respekt vor ihm. Er wirke einigend auf die Beamtenschaft, die auf den Kanzler als ihren obersten Chef blicke. Er stärke die Stellung des Kanzlers im Kabinett und in der eigenen Partei. Ein Kanzler, der auf diese Weise zweioder dreimal eine von ihm getroffene Entscheidung durchgesetzt habe, werde es beim vierten oder fünften Mal wesentlich leichter haben. Man weiß: er meine, was er sagt und hat die Kraft, das von ihm angestrebte Ziel zu erreichen. In kritischen Situationen, in denen die Lage sich schnell ändere, sei dies der einzig adäquate Führungsstil. Es sei klar, daß ein solcher Führungsstil nur von kraftvollen Naturen angewandt werden könne, die zu kämpfen bereit seien. Die Anwendung dieses Führungsstils setze zugleich voraus, daß der Kanzler bereit sei, Risiken und jedenfalls zeitweilige Unpopularität in Kauf zu nehmen. Es war offenkundig, ohne daß ich dies sagte, daß ich mit diesem Führungsstil Adenauers Regierungskunst bezeichnete. Aber ich beschrieb auch den „abwartenden Führungsstil", bei dem der Kanzler so lange wie möglich versucht, in einer wichtigen Frage eine eigene Festlegung zu vermeiden und sich die Diskussion entwickeln läßt. Erst wenn sich zeige, vde das politische Kräfteverhältnis aussehe, trete der Kanzler mit seiner Meinung hervor. Auch dieser Führangsstil habe VorteUe. Der Kanzler könne hoffen, von dem Zeitpunkt an, von dem er eine Entscheidung trifft, mehr Zustimmung zu finden, als bei dem voranschreitenden FührangsstU; aber ich wies auch auf die Nachteile und Gefahren der abwartenden Methode hin. Mit ihr sei ein hohes Maß an Ungewißheit über die endgültige Entscheidung verbunden. Das wirke sich negativ auf den Zusammenhalt der Regierung und noch mehr der Beamtenschaft aus. Schon ein Jahr bevor ich mit der Niederschrift meines Buches begann, hatte ich in Hamburg vor dem Übersee-Club einen Vortrag zu dem Thema „Politische Führungskunst" gehalten (23. Juni 1969)^*). Damals wurde Bundeskanzler Kiesinger kritisiert, weil er seine Entscheidungen zu lange hinauszögerte. Ohne seinen Namen zu nennen, verteidigte ich ihn. Ich sagte : „In bestimmten Situationen kann das Abwarten eine durchaus vertretbare Verhaltensweise sein. Cunctator, der Zauderer, war im alten Rom ein Ehren-
" ) Nicht veröffenüicht, Manuskript nicht ermittelt.
411
пате, der Fabius Maximus verliehen wurde, weil er mit Recht die von Hannibal gesuchte Schlacht jahrelang nicht annahm. Übermäßiger Tatendrang ist häufig kein Zeichen ßr Kraft und noch weniger ein solches für Verstand. " Am Schluß meines Hamburger Vertrags faßte ich meine Auffassung von der politischen Führung wie folgt zusammen:
„Ich glaube, es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß die Bewältigung dieser Aufgaben von den leitenden Staatsmännern ein außergewöhnliches Maß an physischer Gesundheit, Willenskraft, geistiger Aufnahmefähigkeit und analytischer Begabung erfordert. Aber es kommt noch etwas hinzu. Die Führung eines großen Staates ist auch eine Kunst in dem Sinne, — daß sie schöpferische Begabung voraussetzt — daß sie sich einer rationellen Betrachtung entzieht — daß bei ihr die intuitive Erfassung von Zusammenhängen eine wichtige Rolle spielt und — daß sie in ihrer Vollendung nicht erlernbar ist. [.. .1 Die Uneigennützigkeit des Staatsmannes wird bei uns — wie ich glaube mit vollem Recht — als eine unverzichtbare Eigenschaft gefordert, ebenso wie seine Wahrhaftigkeit. Parlament und Öffentlichkeit vertragen es nicht, wenn sie belogen werden. Aber so möchte ich fragen: Vertragen Parlament und Öffentlichkeit eigentlich die volle Wahrheit? Ich habe daran manchmal Zweifel. Die Tatsache, daß es im Leben — und natürlich auch in der Politik — tragische Konflikte, unlösbare Probleme gibt, wird in unserer Zeit mehr und mehr aus dem Bewußtsein der Menschen verdrängt, man will davon nicht viel hören. Dadurch wird derßhrende Staatsmann auch heute wie eh und je zugleich zu einer einsamen Figur. Ihm zeigt sich das wirkliche Bild der Lage ungeschminkt mit seinen oft häßlichen und düsteren Zügen. Aber er tut gut daran, manches von dem, was er sieht, ßr sich zu behalten. Alles in allem muß man sagen, daß diejenigen, die in unserem heutigen Staat die politische Führung verantwortlich ausüben, eine schwere Last tragen. Nach meiner Auffassung haben wir Anlaß, mit dem Resultat ihrer Führung zufrieden zu sein. Nicht die kräftigen Worte und die lautstarken Gesten sind entscheidend, sondern die systematische Bewältigung der gestellten Aufgaben in ruhiger, zäher, zielbewußter und geduldiger Arbeit. "
412
IX. Bundestagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender 1972-1976 1. Mein Weg ins Parlament
Die politische Entwicklung im Jahre 1972 Das Jahr 1972 begann mit einem sehr wichtigen europäischen Ereignis. Am 22. Januar unterzeichneten Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen die Verträge über ihren Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften^). Damit fand ein elfjähriges Ringen seinen Abschluß. Am 10. August 1961 hatte Großbritannien zum erstenmal die Aufnahme in die EWG beantragt. Vor allem aufgrund des französischen Vetos mußten die Verhandlungen mehrfach abgebrochen werden. Immer erneute Anläufe der Briten, die von den anderen EG-Partnern, vor allem von Deutschland, unterstützt wurden, führten schließlich nach de Gaulies Rücktritt zum Erfolgt). Im Deutschen Bundestag wurde die Beitrittserklärung am 21. Juni 1972 einstimmig gebilligt'). Mit wesentlich knapperer Mehrheit (301 zu 284 Stimmen) stimmte das Unterhaus in London zu^). Auch in Irland und Dänemark vmrde der Beitritt akzeptiert. Lediglich die norwegische Bevölkerung sprach sich in einer Abstimmung gegen den Beitritt aus^). Für die übrigen drei Länder wurde der Beitritt am 1. Januar 1973 wirksam. Damit begann ein neues Kapitel der europäischen Geschichte. So einmütig die deutschen Parteien in der Beitrittsfrage waren, so heftig waren die Auseinandersetzungen über die Behandlung der Ostverträge, den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970®) und den Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970'). Am 24. Januar 1972 sprach sich der Bundesausschuß der CDU, das oberste Organ der Partei zwischen den Parteitagen, einstimmig gegen die Annahme der beiden Verträge aus. Nach Auffassung der CDU enthielten sie einseitige deutsche Zugeständnisse, denen keine vergleichbaren Zugeständnisse seitens der Sowjetunion oder Polens gegenüberstanden. Dennoch gab es
>) Siehe dazu die Dokumentation in Europa-Archiv 1972 D S. 1 2 3 - 1 3 4 . 2) Siehe dazu Kap. VI S. 278. ') STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 80 S. 11369D (Abstimmung). Am 13. Juli 1972 (Europa-Archiv 1972 Ζ S. 155). ') Zu den Ergebnissen der Vollcsabstimmungen in Irland (10. Mai), Norwegen (24. und 25. Sept.) und Dänemark (2. Okt.) siehe Europa-Archiv 1972 Ζ S. 114, 202, 209. ») Wortlaut in Archiv der Gegenwart 1970 S. 15649. ') Wortlaut ebenda S. 15872 f.
413
während der Debatte über die Verträge im Deutschen Bundestag, die im Februar 1972 begann, Bemühungen um eine Annäherung der Standpunkte der Regierang und der Opposition. Die Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU Barzel, die mit den Worten „so nicht" endete, ließ Hoffnung über eine Verständigung aufkommen®). Diesen Bemühungen diente auch ein Entschluß des Deutschen Bundestages über die Grundlagen und Ziele der Außen- und Deutschlandpolitik, auf die sich RegierungskoaHtion und Opposition Anfang Mai 1972 einigten. Trotzdem ging der Kampf um die Verträge in voller Schärfe v^reiter. Am 15. Mai verabschiedete der Bundesvorstand der CDU eine Erklärung®), derzufolge die Abgeordneten der Union nach ihrem Gewassen entscheiden sollten, ob sie die Verträge wollten oder nicht. In der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion vom 16. Mai sprach sich Barzel für eine Zustimmung zu den Verträgen aus, Strauß dagegen für eine Ablehnung. Um einen Ausweg aus dieser verfahrenen Lage zu finden, entschied sich, unter maßgebender Mitwirkung der Abgeordneten Hallstein, Birrenbach und Marx, die Fraktion am 17. Mai 1972 für Stimmenthaltung. In der Abstimmung vom gleichen Tage verabschiedete der Bundestag den Vertrag mit der Sowjetunion mit 248 gegen 10 Stimmen bei 238 Enthaltungen und den Vertrag mit Polen mit 248 zu 17 Stimmen bei 231 Enthaltungen. Die gemeinsame Entschließung zu den Ostverträgen woirde anschließend mit 491 Stimmen bei 5 Enthaltungen, d. h. einstimmig gebilligt'"). Während dieser dramatisch verlaufenden Wochen unternahm die Union den Versuch, Bundeskanzler Brandt im Wege des konstmktiven Mißtrauensvotums zu stürzen und an seiner Stelle Barzel zum Bundeskanzler zu wählen. Grundlage dieser Bemühungen war die Tatsache, daß wegen der neuen Ostpolitik eine Reihe von Abgeordneten der ГОР und der SPD aus ihren Fraktionen ausgetreten waren und sich teils der CDU/CSU angeschlossen hatten, teils fraktionslos geblieben waren. Aber bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage vom 27. April 1972 fehlten Barzel zwei Stimmen an der absoluten Mehrheit"). Der Versuch der Regierangsübemahme durch die Union war damit gescheitert. Er war in großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung gestoßen. In einer sehr eindracksvollen Rede, einer seiner besten Bundestagsreden, hatte sich Walter Scheel, der Parteivorsitzende der ГОР und Außenminister, gegen den Versuch gewehrt, die Regierang vorzeitig, wde er sagte „auf kaltem Wege, ohne Appell an die Wähler", zu stürzen"). Trotz dieses Erfolges der Regierang Brandt blieb ihre parlamentarische Unterstützung weiterhin unsicher. Bei der Abstimmung über den Kanzleretat in 8) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 79 S. 9 7 5 2 C - 9 7 6 4 B (23. Febr. 1972). Wortlaut in Archiv der Gegenwart 1972 S. 17095. 1») Zu den Abstimmungen siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 80 S. 10939 B 10945 B; Text der gemeinsamen Entschließung vom 10. Mai 1972 ebenda S. 1 0 9 6 0 B 10961 B. " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 79 S. 10714D. Sinngemäß in der Rede Scheels am 27. April 1972, STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 79 S. 10704 A - 1 0 7 0 6 A.
414
zweiter Lesung entstand eine Pattsituation, d. h. Stimmengleichheit"). Brandt entschloß sich nunmehr seinerseits zu Neuwahlen. Er stellte selbst die Vertrauensfrage mit der erklärten Absicht, sich das Vertrauen verweigern zu lassen und daraufhin den Antrag auf Auflösung des Bundestages zu stellen. Am 22. September 1972 wurde abgestimmt. 248 Abgeordnete der Opposition stimmten mit Nein, 233 der Koalition mit Ja, ein Abgeordneter enthieh sich. Die Mitglieder der Bundesregierung nahmen an der Abstimmung nicht teil. Damit war die Vertrauensfrage gescheitert^*). Am selben Tage löste Bundespräsident Heinemann den 6. Bundestag auf und setzte Neuwahlen für den 19. November 1972 fest"). Niemand äußerte Zweifel an der Korrektheit dieser Entscheidung, obwohl die Nichtteilnahme der Kabinettsmitglieder an der Vertrauensabstimmung auf ein kalkuliertes Ergebnis abzielte und daher eine gewisse Manipulation bedeutete. Als ich zehn Jahre später als Bundespräsident den Bundestag auflöste, sollte diese Frage wieder eine große Rolle spielen^®). Durch ihre parlamentarischen Schwierigkeiten ließ sich die Bundesregierung jedoch nicht von einer zügigen Fortsetzung ihrer Ostpolitik abhalten. Am 3. Juni 1972 ratifizierte sie den Moskauer und den Warschauer Vertrag"). Schon im Mai hatte sie Staatssekretär Bahr beauftragt, Gespräche über einen Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepubhk Deutschland und der DDR aufzunehmen. Am 8. November 1972 paraphierten Bahr und sein Verhandlungspartner Michael Kohl diesen Vertrag"). Kandidatur im Wahlkreis 7 (Plön/Oldenburg in Holstein) Lange bevor der Bundestag 1972 aufgelöst wurde, hatte mich der Kreisvorsitzende der CDU Oldenburg in Holstein, Dr. Rolf Olderog, der aus einer Fehmaraner Familie stammte und mich von Fehmarn her kannte, gefragt, ob ich Neigung hätte, bei der nächsten Bundestagswahl im Wahlkreis 7 für die CDU zu kandidieren. Der Wahlkreis umfaßte die schlesvwg-holsteinischen Landkreise Plön und Oldenburg in Holstein. Anlaß dieser Frage war die Tatsache, daß der langjährige Abgeordnete des Wahlkreises, Friedrich Karl Storm, nicht wieder kandidieren wollte. Storm war Heimatvertriebener aus Pommem, hatte sich am Ende des Krieges im Kreise Oldenburg niedergelassen und betrieb dort eine Landwirtschaft. Er gehörte dem Bundestag seit 1957 an und hatte das Mandat im Wahlkreis mehrere Male direkt gewonnen. Ich sagte Olderog, daß ich eine parlamentarische Laufbahn nicht ins Auge fassen möchte. Ich sei nach meiner ") ") ") ") ")
STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 79 S. 10787 В (28. April 1972). STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 80 S. 11814 D. Siehe ΒΌΙ,ΙΕΉΝ vom 26. Sept. 1972 S. 1613. Siehe hierzu Kap. XI S. 559 f. Zum Austausch der Ratifikationsurkunden am 3. Juni 1972 siehe BULLEΉN vom 6. Juni 1972 S. 1130 f. und 1135 f. - Gesetze vom 23. Mai 1972 zu den Verträgen vom 12. Aug. und 7. Dez. 1970 (BGBl. II S. 353 und 361). Wortlaut in Βυΐ,ίΕΉΝ vom 8. Nov. 1972 S. 1 8 4 1 - 1 8 5 3 .
415
Auffassung dazu zu alt. Mit 57 Jahren fange man keine neue berufliche Karriere an. Einige Zeit später richtete der schleswig-holsteinische Ministerpräsident und Landesvorsitzende der CDU, Dr. Gerhard Stoltenberg, an mich die gleiche Frage. Stoltenberg kannte ich gut aus der Zeit, als ich Chef des Bundeskanzleramtes und er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft gewesen war. Aber auch Stoltenberg gab ich die gleiche negative Antwort, die ich Olderog gegeben hatte. Ein drittes Gespräch mit gleichem Inhalt führte ich mit Kai-Uwe von Hassel, der 1972 Präsident des Bundestages war. Auch von Hassel gab ich zunächst die gleiche Antwort. Aber er gab sich damit nicht zufrieden. Er bat mich noch zwei weitere Male zu sich und es gelang mir nicht, ihn davon zu überzeugen, daß ich im Bundestag nicht erfolgreich sein würde. Dazu, so sagte ich, fehle mir jede parlamentarische Erfahrung. Ich verwies auch auf Walter Hallstein, der als ehemaliger Präsident der Kommission der EWG eine hohe internationale Stellung innegehabt und weltweites Ansehen genossen hatte, trotzdem aber nicht zu wirklichem Einfluß im Bundestag gekommen sei. Hassel blieb unerbittlich. Er appellierte an meine Loyalität. Schließlich sei ich durch die CDU in die höchsten Ämter des Staates gelangt. Ich widersprach auch dieser Argumentation und sagte, daß meine Parteizugehörigkeit bei meinem Aufstieg im Auswärtigen Amt die geringste Rolle gespielt hätte. Im Gegenteil, ich hätte dort lange als Sozialdemokrat gegolten, weil ich aus meiner Verehrung für Wilhelm Kaisen nie ein Hehl gemacht hätte. Aber das alles ließ Hassel nicht gelten, und schließlich gab ich nach. „Auf Ihre Verantwortung" sagte ich. Aber nun begann das nächste schwierige Kapitel. Wo sollte ich kandidieren? Hassel meinte, als Hanseat wäre ich der geeignete Kandidat für Lübeck. Aber in Lübeck war die Vorentscheidung längst getroffen. Ein Mitglied der Jungen Union, Heiner Möller, sollte der Kandidat sein. So versuchte Hassel es im Wahlkreis 7, wo ich aufgrund meiner Abstammung von Fehmarn in der Tat persönUche Beziehungen hatte. Aber auch da war die Lage schwierig. Im Kreise Oldenburg, dem einen Teil des Wahlkreises 7, hatte Olderog nach meiner Absage den Landtagsabgeordneten Heiko Hoffmann für die Bundestagskandidatur gewonnen, und er sagte mir mit einem gewissen Recht, er sei nun Hoffmann gegenüber im Wort. Auch im Kreise Plön, dem anderen Teil des Wahlkreises 7, sah es nicht günstig aus. Ein Kreisparteitag hatte sich im Juli für Dr. von Storch als Bundestagskandidat entschieden. Freüich geschah dies ohne die Zustimmung des Kreisvorsitzenden der CDU Günter Röhl. Und Röhl, der Vorbehalte gegen Storch hatte, rollte die Frage der Nominierung erneut auf. Wir lernten uns im Sommer 1972 in Plön kennen und fanden Vertrauen zueinander. Röhl entschied sich für mich, brachte mich mit vielen Freunden der CDU im Kreise Plön zusammen, und offensichtUch stieß auch bei ihnen meine Kandidatur auf wohlwollendes Interesse. Die Tatsache, daß ich unter Adenauer, Erhard und Kiesinger hohe Staatsämter im Auswärtigen Amt, im Bundesverteidigungsministerium und im Bundeskanzleramt bekleidet hatte, sprach zu meinen Gunsten. 416
Im anderen Teil des Wahlkreises, in Oldenburg in Holstein, beriet mich Hans Hahn, ein Lehrer, der einen guten EinbUck in die inneren Verhältnisse der CDU hatte. Er machte mich mit vielen CDU-Repräsentanten auf Fehmarn, in Großenbrode und vor allem in Neustadt in Holstein bekannt, wo sich Rechtsanwah Fritz Wittrock, der aus einer alten Fehmaraner Familie stammte, wärmstens für mich einsetzte. Auch hier fand ich Resonanz und so sah ich der Entscheidung, die auf einer Versammlung von Delegierten aus beiden Kreisen in Oldenburg in Holstein getroffen werden sollte, mit einigem Interesse entgegen. Gleichzeitig blieb von Hassel unentwegt aktiv. Wie mir seine Frau Monika später mit freundlichem Vorwurf erzählt hat, litt ihre Hochzeitsreise erheblich unter der Tatsache, daß ihr Mann von morgens bis abends Freunde in Schleswig-Holstein anrief, um sie für meine Kandidatur zu gewinnen. Auf der Delegiertenversammlung in Oldenburg am 22. August 1972 hielt jeder der Kandidaten eine kurze Ansprache in alphabetischer Reihenfolge: Carstens, Hoffmann, von Storch. In der anschließenden geheimen Abstimmung gewann ich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen. Nun begann der zweite Akt, die Aufstellung der Landesliste für die CDU Schlesvdg-Holstein. Auf einer Versammlung der Landesdelegierten in Kiel wurde darüber entschieden. Der Landesvorsitzende Stoltenberg und sein Vorgänger, der immer noch einflußreiche ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident von Hassel, hatten für mich Platz 3 der Landesliste hinter v. Hassel und Karl-Heinz Narjes vorgesehen und so kandidierte ich brav für Platz 3, wurde aber geschlagen, kandidierte dann für Platz 4, wurde aber wieder geschlagen. Ebenso erging es mir bei Platz 5, 6 und 7, aber schließlich schaffte ich es bei Platz 8. Ich wurde hier ohne Gegenstimmen nominiert. Aber darüber stellte sich bei mir keine reine Freude ein, denn noch nie seit 1949 war ein so tiefplazierter Abgeordneter in Schlesvwg-Holstein über die Landesliste der CDU in den Bundestag gewählt worden. Wahlkampf Ich tat mich schwer in meinem ersten Wahlkampf, der nun begann. Meine Art zu sprechen war nicht volkstümlich. Gelegentlich gebrauchte ich lateinische Floskeln. Als ich einmal sagte, ein bestimmtes Projekt der Bundesregierung werde die Steuerzahler praeter propter 500 Millionen DM kosten, fragte ein Zuhörer in der ersten Reihe seinen Nachbarn, „wat is dat denn?" Auch fehlten mir die örtlichen Kenntnisse. Als ich in Kalübbe, einem kleinen Ort bei Plön, sprach, sagte ich natürlich „ich freue mich, heute in Kalübbe zu sprechen". Da rief ein Einheimischer dazwischen, „wi seggt Klüf dorto!" Die Einwohner von Kalübbe sprachen ihren Ortsnamen so aus, aber woher sollte ich das wissen? Ganz rührend half mir Röhl. Er fuhr mit mir zu fast allen Veranstaltungen in seinem Kreis, führte mich ein und sagte mir auch hinterher, was ich falsch gemacht hatte. Einmal hatte ich ein großes Erfolgserlebnis, denn mehrfach klatschten meine zwanzig Zuhörer kräftig - allerdings wußte ich nicht recht warum, denn an 417
meiner Rede konnte ich an der betreffenden Stelle nichts besonderes finden. Schließlich stellte sich heraus, daß die Köchin mehrfach den Kopf durch eine Tür hinter mir steckte und den Stand des Fußballspiels Deutschland gegen Rußland in Moskau bekanntgab. Zunächst „1 zu 0 - Müller" und dann nach einiger Zeit „2 zu 0 — wieder Müller". Das riß meine Zuhörer vom Stuhl und nicht etwa meine Rede. Sehr tatkräftig wurde ich im Kreis Oldenburg von Hans Hahn und einem jungen Jurastudenten, Thomas B. Stehling, unterstützt, der in Timmendorfer Strand wohnte und schon in jungen Jahren Mitglied des Kreisausschusses geworden war. Er konnte besonders gut mit der Presse umgehen und half mir dadurch sehr. Freilich blieb die Haltung der wichtigsten Zeitung meines Wahlkreises, der Lübecker Nachrichten, mir gegenüber ziemlich negativ. Einmal schrieb sie, es sei völlig abwegig, daß ich in den Bundestag gewählt werden wollte, da ich überhaupt keine parlamentarische Erfahrung hätte. Ich sollte mich lieber zunächst einmal um ein Mandat in einer Gemeindevertretung bewerben. Das war an sich gar nicht falsch, schmerzte mich aber um so mehr. Mehrfach verlor ich wegen der ungewohnten Anstrengung meine Stimme. Mit Hilfe der homöopathischen Mittel meiner Frau gewann ich sie zurück. Auf dem Marktplatz von Neustadt verteilte ich Rosen an die Frauen, die dort einkauften. Kurz, ich tat alles, was man von mir erwarten konnte. Röhl brachte mich auch in ein Heim für gestrauchelte Mädchen am Sehlenter See. Ich führte mit den etwa 20 Insassinnen ein sehr nettes Gespräch, aber am Schluß stellte ich fest, daß keine von ihnen wahlberechtigt war. Alle waren sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Das machte mich ärgerlich. Enttäuschend verliefen auch einige meiner Auftritte auf Fehmarn. Als ich in Petersdorf am Dorfteich sprach, hatte ich zwar viele Zuhörer, aber es stellte sich heraus, daß es alles Badegäste waren, die im Wahlkreis 7 nicht wahlberechtigt waren. Die Einheimischen blieben zu Hause und guckten vorsichtig durch die Gardinen auf den Mann, der sich anschickte, die traditionelle SPD-Hochburg in Petersdorf zu brechen, was mir natürlich auch nicht gelang. Wann immer ich auf Fehmarn sprach, erwähnte ich meine Großmutter Margarethe Mackeprang, die mich seit meiner frühesten Jugend in Liebe zu der Insel aufgezogen hätte. Bis mir ein Parteifreund sagte: „Hören Sie bloß mit Ihrer Großmutter auf, die kostet uns jedesmal hundert Stimmen!" Da fiel mir wie Schuppen von den Augen, daß meine geliebte Familie, der ich so viel verdankte, keineswegs bei allen Fehmaranem behebt war. Das war die Folge eines Standesdünkels, durch den sich einige Mackeprangs in der Vergangenheit ausgezeichnet hatten. Auch mein Gegner, der SPD-Kandidat Lauritz Lauritzen, hatte mir gegenüber manche Vorteile. Er war ein erfahrener Parlamentarier. In der Regierung Kiesinger war er Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau gewesen. In der Regierung Brandt behielt er sein Amt und wurde im Juli 1972 außerdem noch Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Femmeldewesen. Besonders die letztere Position gab ihm im Wahlkampf viele Trümpfe. Bei jedem Postamt, auf jeder Bahnstation wurde er als oberster Chef mit hohen Ehren 418
empfangen. Ich mochte ihn persönlich gern, und wir griffen uns auch nicht direkt an, aber ich beurteihe meine Chancen ihm gegenüber skeptisch. Davon woUte allerdings Röhl nichts wissen. Er war überzeugt, daß ich das Mandat im Wahlkreis direkt holen würde. Um so tiefer war die Enttäuschung, als am Wahltag, dem 19. November 1972, die ersten Resultate eingingen. Sie zeigten Lauritzen klar in Führung. Meine Frau und ich verbrachten den Abend zunächst im Hause von Röhl in Plön und fuhren dann nach Oldenburg, wo die Ergebnisse, die aus dem Kreise Oldenburg eingingen, keineswegs besser waren. Die Stimmung war sehr gedrückt. Die Frauen von der Frauen-Union, die sich im Wahlkreis sehr große Mühe gegeben hatten, weinten, und ich wußte nicht, wie ich sie trösten sollte. Schließlich sagte meine Frau zu mir: „Laß uns nach Meeschendorf fahren (dort wohnten wir), du hast dein Bestes gegeben." Wir verabschiedeten uns von den Freunden, aber als wir an der Tür waren, kam Olderog hinter uns her. „Herr Professor, die meisten Wahlkreise in Schleswig-Holstein sind verloren gegangen, vielleicht kommen Sie über die Landesliste in den Bundestag." Und so geschah es. Im Wahlkreis 7 verlor ich gegen Lauritzen, der 52,6 Prozent der Stimmen bekam. Ich erhielt 43,8 Prozent. Ähnlich erging es der CDU im ganzen Lande. Sie verlor 9 von 11 Wahlkreisen, in denen bei der vorausgehenden Wahl Kandidaten der CDU direkt gewählt worden waren. Dadurch erhielt die CDU als Ausgleich sieben Mandate auf der Landesliste, was in allen früheren Bundestagswahlen in Schleswig-Holstein nicht notwendig gewesen war. Mein Platz, Nummer 8 der Landesliste, war der letzte, der zum Zuge kam. Auch im übrigen Bundesgebiet, vor allem im Norden, war das Ergebnis für die CDU enttäuschend. 1969 hatten CDU und CSU zusammen 46,1 Prozent der Stimmen bekommen, 1972 noch 44,9 Prozent. Die SPD verbesserte ihr Ergebnis von 42,7 auf 45,8 Prozent. Sie wurde zum ersten und bisher einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag. Mitglied des Bundestages Ich zog also nicht in besonders gehobener Stimmung in den Deutschen Bundestag ein. Als Neuling erhielt ich völlig zu Recht einen Platz in der vorletzten Reihe des Sitzungssaales neben Frau Ursula Benedix, einer Abgeordneten aus Niedersachsen, die sich besonders für Fragen der Bildungspolitik interessierte. Wir verstanden uns gut. Der siebte Bundestag konstituierte sich am 13. Dezember 1972. Gemäß einer ungeschriebenen, aber seit Jahrzehnten befolgten Regel schlug die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten vor. Das war 1972 zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die SPD. Sie schlug Frau Annemarie Renger vor, die 438 von 516 Stimmen erhielt, also auch die Mehrheit der Stimmen von CDU/CSU"). Frau Renger war eine gute Präsidentin, die die Sitzungen STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 81 S. 3B.
419
unparteiisch leitete und das Haus nach außen eindracksvoll vertrat. Ich habe es ihr hoch angerechnet, daß sie am 26. November 1975 dem spanischen Volk die Anteilnahme des Deutschen Bundestages zum Tode des spanischen Staatschefs, Francisco Franco, aussprach^®), was ihr manchen Vorwurf aus dem Kreise ihrer eigenen Partei einbrachte. Ich meldete mich zur Mitarbeit im Auswärtigen Ausschuß, in dem Gerhard Schröder den Vorsitz führte und im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen (Vorsitzender Gerhard Reddemann). Hier arbeitete ich mich schnell in die Problematik des sogenannten Grundlagenvertrages ein, also des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der am 8. November 1972 paraphiert worden war und am 21. Dezember 1972 von Bundesminister Egon Bahr und Staatssekretär Michael Kohl in Ostberlin unterzeichnet vmrde^M· Die erste Lesung des Vertrages im Deutschen Bundestag fand am 15. Februar 1973 statt^^). In dieser Sitzung gelang mir durch eine Reihe von günstigen Umständen der Durchbruch in die Spitzengruppe der Fraktion der CDU/CSU. Ich sprach als zweiter Redner der Fraktion. Eigentlich war ich erst als dritter Redner eingeteilt. Barzel, der Fraktionsvorsitzende, soUte zuerst sprechen. Nach ihm sollte, aufgrund einer seit jeher bestehenden Absprache, ein Vertreter der CSU, in diesem Fall Dr. Richard Jaeger, und danach ich als dritter Redner der Fraktion sprechen. Dritter Redner der Fraktion zu sein, bedeutete neunter Redner in der Reihenfolge aller Fraktionen und das hieß, daß ich voraussichtlich vor einem leeren oder nur knapp gefüUten Hause sprechen vmrde. Da erreichte mich die Nachricht des amtierenden Vizepräsidenten, Richard Jaeger, der mich wissen ließ, er würde zu dem Zeitpunkt, zu dem er als Redner eingeteilt sei, noch die Sitzung leiten müssen. Ich möchte an seiner Stelle als zweiter Redner der Fraktion sprechen. Das war eine außerordentlich noble Geste des Kollegen Jaeger. In einer so wichtigen Debatte den zweiten Platz abzugeben, bedeutet für jeden Parlamentarier ein großes Opfer. Und natürlich hätte Jaeger, wenn er gewollt hätte, sich vorzeitig als Präsident ablösen lassen können; aber er wollte mir, wie er später sagte, die Chance geben. Er sei auch überzeugt gewesen, daß ich es gut machen würde. So nahm ich also, in einem noch nahezu vollbesetzten Hause, zu meiner ersten Bundestagsrede das Wort^'), in einer Debatte, von der ich selbst sagte, daß sie zu den wichtigsten Debatten im Bundestag seit seiner Konstituierung im Jahre 1949 gehörte. Es gelang mir, meine Fraktion mitzureißen. Dreißigmal wurde meine Rede durch ihren Beifall unterbrochen. Mehrfach verzeichnet das Protokoll: anhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. Gegen Ende der Rede wurde die SPD-Fraktion nervös, was sich in einigen
STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 95 S. 13931D. " ) Siehe dazu BULLETIN vom 22. Dez. 1972 S. 2 0 0 9 - 2 0 1 2 . STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 81 S. 534 A - 6 3 8 C. " ) Ebenda S. 549 C - 5 5 4 D . 420
bissigen Zwischenrufen des Abgeordneten Wehner, z. B. „das sagen Sie Bankrotteur" äußerte^*). Nach Ende meiner Rede sagte der Bundesgeschäftsführer der ГОР, KarlHermann Flach, zu einem neben ihm sitzenden Abgeordneten der CSU: „Das wäre doch ein Fraktionsvorsitzender für euch." FreiUch dachte in diesem Zeitpunkt noch niemand daran, daß der Posten des Fraktionsvorsitzenden drei Monate später frei werden wdirde. Auch viele Bürger im Lande hörten meine Rede im Radio. Noch viele Jahre später haben mir einige, mir bis dahin ganz unbekannte Menschen berichtet, sie seien von der Rede so fasziniert gewesen, daß sie auf den nächsten Parkplatz gefahren wären, um sie dort in Ruhe anzuhören. Die Wirkung meiner Rede hatte mehrere Gründe. Ich beherrschte die Materie und sprach weitgehend frei. Ich vermittelte den Eindruck von Entschlossenheit. Die Fraktion und viele Bürger im Lande litten noch unter dem Trauma der Ostverträge, bei dem die Fraktion in Befürworter und Gegner auseinandergefallen war und sich schließlich auf Stimmenthaltung geeinigt hatte. Ich empfahl dagegen eindeutig, den Grundvertrag abzulehnen und führte dafür starke Gründe ins Feld. Nachdem ich dargelegt hatte, daß die deutsche Nation trotz ihrer unnatürlichen Teilung weiterhin bestehe, kritisierte ich, daß der Vertrag mit der DDR kein Wort über das Ziel der Wiedervereinigung oder der Überwindung dieser Teilung sage. Die Worte: Deutschland, Deutsche Nation und Deutsche Einheit kämen in dem Vertrag nicht vor. Zwar habe die Bundesregierung, ähnUch wie in Moskau, an die DDR einen Brief zur Deutschen Einheit gerichtet, in dem von dem Ziel der Wiedervereinigung die Rede sei, aber der Unterhändler der DDR, Michael Kohl, habe es abgelehnt, diesen Brief entgegenzunehmen und so sei er, während der Unterzeichnung des Vertrages, durch einen Boten in seinem Büro zugestellt worden. Dies sei ein unglaublicher Mangel an Sorgfalt im Umgang mit einem wichtigen Vertragsdokument. Gewiß seien menschliche Erleichterungen, von denen die Bundesregierung immer spräche, im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten wichtig, aber der Vertrag enthalte darüber keine präzisen Aussagen. Die bisherigen deutschlandpolitischen Positionen der Bundesrepubhk Deutschland, die übrigens auch von der SPD jahrzehntelang mitvertreten worden seien, seien ohne entsprechende Gegenleistungen preisgegeben worden. In den Wochen nach dieser Rede wurde ich vielfach zu Reden im Lande aufgefordert. Ich sprach auf Bitten meiner Fraktionskollegen auf Veranstaltungen der CDU. Die Versammlungen waren durchweg gut besucht und ich gewann unter meinen Fraktionskollegen dadurch viele Freunde. So war ich kein ganz Unbekannter mehr, als Barzel am 9. Mai 1973 den Vorsitz der CDU/CSU-Fraktion niederlegte. Anlaß dazu waren Meinungsverschiedenheiten über die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland der Charta der Vereinten Nationen beitreten sollte, wobei davon auszugehen war, daß gleichzeitig die DDR beitreten würde. Barzel befürwortete unseren Beitritt, Strauß lehnte ihn ab. Es vdederholte sich so die Situation von 1972, als die Frak-
Ebenda S. 552 B. 421
tion bei der Abstimmung über die Ostverträge auseinanderfiel. Ich setzte mich in den Fraktionssitzungen für den UNO-Beitritt ein. Ich warnte davor, den zu erwartenden sowjetischen Widerspruch gegen die Einbeziehung Westberlins in unserer Beitrittserklärung zum Anlaß für die Ablehnung des Beitritts durch die CDU/CSU zu nehmen. Die Westmächte ständen in dieser Frage auf unserer Seite, das sei entscheidend. Wir dürften uns in unserem außenpolitischen Verhalten nicht von der Haltung der Sowjetunion abhängig machen. Mit großer Sorge erfüllte mich die Aussicht, daß die Fraktion wieder auseinanderfallen könnte. Ich bat daher die überstimmte Minderheit, sich in dieser Frage der Mehrheit anzuschließen. Aber was hieß hier Mehrheit und was Minderheit? Bei der Abstimmung in der Fraktion stimmten 93 Mitglieder der Fraktion für den UNO-Beitritt und 101 dagegen. Darauf legte am nächsten Morgel Barzel den Fraktionsvorsitz nieder, da die Fraktion in einer wichtigen, grundsätzlichen Frage gegen seinen Rat gestimmt hätte. Dieser Rat sei übrigens auch vom Präsidium der CDU und von allen Ministerpräsidenten von CDU und CSU gegeben worden. Am gleichen Tage, dem 9. Mai 1973, sprach ich als Mitberichterstatter des Auswärtigen Ausschusses zur Frage des UNO-Beitritts im Plenum^®). Ich teilte dem Hohen Hause mit, daß ein Teil meiner Fraktion, darunter ich selbst, für den UNO-Beitritt, ein anderer Teil dagegen stimmen wóirde. In meiner Rede vrärdigte ich zunächst die Rolle der Vereinten Nationen. Ich legte dar, wo sie versagt hatte, erkannte aber auch an, daß sie in bestimmten, begrenzten Bereichen, z. B. bei der Fortentwicklung des Völkerrechts und der Menschenrechte, in Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und im Umweltschutz bedeutende Beiträge geleistet habe. Die unterschiedliche Haltung der CDU/CSU-Fraktion resultiere aus einer unterschiedlichen Bewertung der Deutschland und Berlin betreffenden Fragen. Die Mitglieder der Fraktion, die den Beitritt ablehnten, befürchteten, daß die Welt in dem gleichzeitigen Beitritt der beiden deutschen Staaten zur UNO den Schlußstrich unter alle Bemühungen zur Überwindung der deutschen Teilung erblicken würden. Auch sähen sie die Einbeziehung Westberlins in die Beitrittserklärung der Bundesrepublik als nicht genügend gesichert an. Der andere Teil der Fraktion wollte durch seine Zustimmung die Bundesregierung und jede künftige Bundesregierung verpflichten, vor dem Forum der Vereinten Nationen immer wieder die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an das deutsche Volk anzumahnen. Auch müsse die Bundesregierung in den Vereinten Nationen darauf hinweisen, daß in der DDR die von der UNO-Charta garantierten Menschenrechte tatsächlich nicht gewährt würden. Der zustimmende Teil der CDU/CSU-Fraktion halte das von der Bundesregierung und den drei Westmächten ausgearbeitete Verfahren, das die Einbeziehung Westberlins sicherstellen sollte, für ausreichend. Es war eine höchst merkwürdige Rede, in der ich zwei entgegengesetzte Standpunkte nebeneinander vorzutragen und jeden der beiden Standpunkte zu begründen versuchte. " ) STENOGRAPHISCHE REDEN S. 2 7 - 3 6 . 422
BERICHTE
Bd. 82
S. 1 4 3 9 B - 1 4 4 2 A und
BUNDESTAGS-
Nach dem Rücktritt von Rainer Barzel übernahm Kurt Georg Kiesinger kommissarisch die Fraktionsfühning. Alsbald begann die Suche nach einem neuen Fraktionsvorsitzenden. Viele Kollegen der Fraktion waren für Gerhard Schröder, auch Franz Josef Strauß unterstützte ihn zunächst. Aber es gab auch Widerstände gegen Schröder. Viele Abgeordnete kamen auf mich zu und forderten mich auf zu kandidieren. Wieder zögerte ich. Mein Einwand lag auf der Hand. Ich hatte zu wenig parlamentarische Erfahrung, um diese Funktion erfolgreich ausüben zu können. Außerdem widerstrebte es mir, gegen Schröder zu kandidieren, mit dem ich jahrelang gut zusammengearbeitet hatte und der, im Vergleich zu mir, die weit größere parlamentarische Erfahrung besaß. Aber ich wurde weiter bedrängt. Besonders erinnere ich mich an ein Gespräch mit Philipp von Bismarck. Er sagte, ich hätte eine sichere Chance zu gewinnen. Man böte mir auf einem silbernen Tablett die wichtigste Funktion an, die CDU und CSU zum jetzigen Zeitpunkt zu vergeben hätten. Wenn ich diese Chance ausschlüge, sei ich im Bundestag fehl am Platze. Dann sollte ich auf meinen Lehrstuhl in Köln zurückkehren, für die Politik tauge ich nicht. Das Gespräch machte mir Eindruck und als Kiesinger mich kurz danach fragte, ob ich bereit sei zu kandidieren, sagte ich zu. Inzwischen waren die Vorklärungen in den einzelnen Landesgruppen weitergegangen. Ich führte ein Gespräch mit Strauß und Stücklen von der CSU, die mir die Unterstützung ihrer Landesgruppe in Aussicht stellten. Sie forderten von mir, daß ich die seit 1949 bestehende Fraktionsvereinbarung zwischen den beiden Fraktionsteilen akzeptierte, die der CSU eine Reihe von Rechten innerhalb der gemeinsamen Fraktion einräumte. So hatte in einer Plenardebatte die CSU einen Anspruch darauf, den zweiten Redner nach dem Fraktionsvorsitzenden zu stellen. In Fragen, die die föderative Struktur der Bundesrepublik berührten, konnte die CSU in der Fraktion nicht überstimmt werden. Ich erklärte mich mit der bisherigen Regelung einverstanden und sagte, ich würde sie befolgen, falls ich zum Vorsitzenden der Fraktion gewählt würde. Von entscheidender Bedeutung war die Haltung der Landesgruppe Rheinland, nicht nur weil sie die zahlenmäßig stärkste war, sondern auch weil Gerhard Schröder ihr seit seiner Zugehörigkeit zum Bundestag, also seit über zwanzig Jahren, angehörte. Wie ich später hörte, entschied sich die Landesgruppe mit knapper Mehrheit für mich. Starke Unterstützung fand ich von Anfang an in der Landesgruppe von Baden-Württemberg, wo Kiesinger für mich warb und natürhch in meiner eigenen Landesgruppe von Schleswig-Holstein. 2. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraküon Wahl zum Fraktionsvorsitzenden Die Entscheidung fiel am 17. Mai 1973. Kiesinger leitete die Sitzung. Er führte zunächst einige Vorentscheidungen herbei. Auf seinen Vorschlag beschloß die Fraktion mit großer Mehrheit (gegen sieben Stimmen), daß der Vorsit423
zende für die gesamte restliche Dauer der Legislaturperiode gewählt werden sollte. Die Frage war insofern von Bedeutung, als die Geschäftsordnung der Fraktion vorsah, daß der Fraktionsvorsitzende zu Beginn der Legislatuφeriode zunächst für die Dauer eines Jahres und danach für den Rest der Legislaturperiode gewählt werden sollte. Die jetzt entstandene Situation, daß nämlich eine Wahl ein halbes Jahr nach Beginn der Legislaturperiode notwendig wurde, war in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen. Femer schlug Kiesinger vor, die Wahl ohne Aussprache vorzunehmen. Die Fraktion stimmte ohne Gegenstimmen zu. Dann bat Kiesinger um Vorschläge. Horst Waffenschmidt schlug Richard von Weizsäcker vor, Georg Kliesing Gerhard Schröder und von Hassel mich. An der Wahl beteiligten sich 215 Abgeordnete. Ich erhielt 131, von Weizsäcker 58 und Schröder 26 Stimmen. Damit war ich im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt. Das Protokoll verzeichnet Beifall. Kiesinger gratulierte „Karl Carstens" („Er hat mich gebeten, künftig alle Titel wegzulassen") mit sehr herzlichen Worten. Ich dankte der Fraktion und sagte, niemals habe es eine bessere Fraktion als die jetzige gegeben. 16 Millionen Wähler hätten uns ihre Stimme gegeben. Worauf es jetzt ankomme, sei Solidarität und Geschlossenheit der gesamten Fraktion. Ich dankte Barzel für seine große Leistung als Fraktionsvorsitzender von 1964 bis 1973. Unter großem Beifall für die überlegene Führung der Fraktion in der Interimszeit dankte ich Kiesinger und bat Schröder und von Weizsäcker um eine gute Zusammenarbeit. Der Tag endete in großer Harmonie. Was die Titel betrifft, so habe ich in der Tat seit 1973 meine akademischen Titel im Parlament nicht mehr geführt. Aber es gelang mir nicht, diese Regel für den Bundestag allgemein durchzusetzen. Auch als ich Bundestagspräsident war, gelang es mir nicht. Die meisten Kollegen, die den Doktortitel führten, verlangten, daß er, wie es alter deutscher Brauch ist, in den Protokollen des Bundestages erscheinen müsse. Meine Wahl zum Fraktionsvorsitzenden hatte, wegen meiner kurzen Zugehörigkeit zum Parlament, sensationellen Charakter. WahrscheinHch gibt es in der jüngeren Parlamentsgeschichte dafür keine Parallele. Am Abend meiner Wahl war ich bei dem amerikanischen Botschafter eingeladen und traf dort den amtierenden amerikanischen Verteidigungsminister Melvin Laird an, dem ich als der neugewählte Vorsitzende der Opposition im Deutschen Bundestag vorgestellt wurde. Er fragte mich, wie lange ich schon Mitglied des Bundestages sei und als ich antwortete, sechs Monate, sah er mich sehr erstaunt an, und ich konnte seinem Blick ansehen, daß er entweder mich oder die Abgeordneten, die mich gewählt hatten, für politisch urteilsschwach hielt. Das sagte er natürlich nicht, aber er sagte, daß er selbst zwanzig Jahre lang dem Repräsentantenhaus in Washington angehört habe, aber wegen des dort geltenden Anciennitätsprinzips niemals die Chance gehabt habe, der Führer der republikanischen Gruppe zu werden. Für mich begann mit dem 17. Mai 1973 der spannendste und aufregendste Abschnitt meines bisherigen Lebens. Ich war in den großen Teich geworfen und mußte nun schwimmen. 424
Die Führung der Fraktion Das Ziel der Arbeit der CDU/CSU-Fraktion im Jahre 1973 war durch die politische Situation vorgezeichnet. Wir mußten versuchen, nach der nächsten Bundestagswahl wieder die Regierung zu stellen. Dazu mußten wir uns kritisch mit der Koahtionsregierung von SPD und ГОР auseinandersetzen. Und wir mußten zeigen, welches unsere besseren Alternativen waren. Unser Hauptgegner war naturgemäß die SPD als die größte Regierungspartei, die den Bundeskanzler, zunächst Willy Brandt und dann Helmut Schmidt, stellte. Die Felder, in denen wir sie angriffen, betrafen die Außenpolitik, besonders die Ostpolitik, die Wirtschafts- und FinanzpoUtik, die durch hohe Inflationsraten und zunehmende Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war. Felder der Auseinandersetzung bildeten auch die neomarxistischen Tendenzen in Teilen der SPD, so vor allem in der Bildungspolitik in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie die Öffnung des Staatsdienstes für Mitglieder der kommunistischen Partei. Dazu kamen unvermeidlicherweise die persönlichen Auseinandersetzungen mit Brandt, Schmidt, Wehner und Bahr sovwe anderen führenden Sozialdemokraten. Brandt bezeichnete uns in einer Rede außerhalb des Bundestages als nicht regierungsfähig und dazu als Sicherheitsrisiko, was mich zu einer scharfen Erwiderung veranlaßte. Wehner hatte uns eine nationale Staatsstreichspartei genannt. Schmidt warf uns vor, im Namen Jesu Christi Lügen zu verbreiten. Es war also schon ein ziemhch geharnischter Stil der Auseinandersetzung. Am unangenehmsten wirkten die Zwischenrufe Wehners. Er hatte sich dabei einen vulgären Ton angewöhnt und scheute auch vor Fäkalausdrücken nicht zurück^®). Mich nannte er gelegentlich Bankrotteur oder auch Buchhalter. Beide Ausdrücke bezogen sich auf meine deutschlandpolitische Tätigkeit bis 1969. Schließlich versuchte er, mir das unsinnige Attribut „Papenverschnitt" anzuhängen, was aber bei anderen, auch seinen eigenen Parteifreunden, kaum Resonanz fand. Ich replizierte scharf, aber in einer anderen Tonlage: „Wenn das deutsche Sprichwort ,Benehmen ist Glückssache' richtig ist, dann sind Sie, Herr Kollege Wehner, von einer permanenten Pechsträhne verfolgt" oder „Sie wählen Ihre Vergleiche mit Vorliebe aus dem Bereich des menschlichen Unterleibs. Schlagen Sie sich doch mal an die Brust. Vielleicht kommen dann bessere Töne." Andererseits konnte Wehner höfhch, ja empfindsam sein. Einer der schönsten Kondolenzbriefe, die ich beim Tode unseres Kollegen Dr. Berthold Martin erhielt, war der Brief Wehners. Geradezu vorbildlich war Wehners Präsenz in den Sitzungen des Bundestages. Er blieb von der ersten bis zur letzten Minute auf seinem Platz. Anders als bei Wehner waren Brandts persönliche Attacken gegen mich oder andere Mitglieder unserer Fraktion weniger berechnend, eher polternd, auch wütend, oft menschlich verständlich. Helmut Schmidt war ein unangenehmer Debattenredner. Seine Pfeile waren giftig, manche trafen ins Ziel. Alle Vgl. hierzu Worte des Abg. Wehner. ZusammengesteUt von Günter Pursch, Mainz 1976.
425
Sozialdemokraten benutzten die Taktik, wenn sie einen Fehler gemacht oder etwas Unpopuläres getan hatten, dafür die Opposition verantwortlich zu machen. Mir bereitete es großes Vergnügen, ihnen das mit Schärfe und unter Verwendung unbestreitbarer Beweise vorzuhalten, z. B. bei der Frage, wer für den Sturz Brandts als Bundeskanzler im Jahre 1974 verantwortlich war. Ein Schlüsselbegriff in der Auseinandersetzung mit der SPD wurde der Wahlkampfslogan der CDU/CSU für die Bundestagswahl 1976 „Freiheit statt Sozialismus". Die SPD wies diese These mit Empörung zurück. Sozialismus verkörpere Freiheit, so argumentierte sie. Wir aber konnten vor allem in der Tätigkeit der neomarxistischen Linken in der SPD nachweisen, daß durch sie die Freiheit der Bürger eingeschränkt v\mrde. In dieser Zielsetzung war sich die Fraktion und waren sich die beiden Unionsparteien einig. Besonders stark vertraten Strauß und Dregger die gleiche Linie wie ich. Helmut Schmidt quittierte das in einem Pressegespräch mit der Bemerkung, eine Koalition der SPD mit Politikern vde Strauß, Filbinger und Carstens sei ausgeschlossen. Schwieriger war die Frage unserer Einstellung gegenüber der ГОР. Ich war dafür, die ГОР gleichfalls anzugreifen. Sie trug die volle Mitverantwortung für die Politik der Bundesregierung und für die Politik der Landesregierungen, in denen sie zusammen mit der SPD vertreten war. Die Versäumnisse in der Ostpolitik gingen voll auch zu Lasten der ГОР. Eine, wie ich zugeben muß, besonders provozierende Formulierung brachte SPD und ГОР gegen mich auf. In einem Aufsatz hatte ich gesagt, CDU und CSU seien die einzige politische Kraft, die entschlossen und geschlossen für die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Ordnung, gegen das Vordringen radikaler Kräfte einträten. Der ГОР warf ich vor, daß sie in Fragen der Beschäftigung von Kommunisten im Staatsdienst eine unklare Haltung einnähme. Nach einer scharfen Rede im Bundestag, die ich 1976 hielt^'), sagte die ГОР, ich hätte dadurch die Koalition zwischen SPD und ГОР gefestigt. Mich erschütterte das nicht, denn ich sah voraus, daß die ГОР noch lange an der Seite der SPD marschieren würde. Tatsächlich war dies bis zum Oktober 1982 der Fall. Aber in dieser Frage gab es Unterschiede zwischen Helmut Kohl, der seit 1973 Parteivorsitzender der CDU war, und mir. In einer Rede vor der Fraktion, am 10. Juni 1974, warnte Kohl davor, Positionen aufzubauen, die ein vernünftiges Gespräch mit der ГОР in Zukunft umöglich machen würden. Eine ganz neue Lage entstand für die Fraktion durch den Rücktritt von Brandt im April 1974. Die SPD versuchte, die Schuld daran der Union anzulasten und erzielte damit einen gewissen propagandistischen Erfolg in Gestalt einer Mitleidswelle für Brandt. Dabei stand für jeden, der die Lage genauer kannte, fest, daß die SPD selbst, vor allem Wehner, den Sturz Brandts herbeigeführt hatte.
" ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 98 S. 1 6 8 0 1 - 1 6 8 1 2 D, hier 1611D (11. Mai 1976).
426
In gewisser Weise wiederholte sich die Szene beim Rücktritt von Helmut Schmidt im Jahre 1982. Auch ihm gelang es, von der Rolle seiner eigenen Partei abzulenken und darzutun, daß sein Rücktritt durch einen angeblichen Verrat der FDP, an dem sich die CDU/CSU beteiligt habe, erzwungen worden sei. Rückblickend kann ich sagen, daß die Zeit von 1973 bis 1976, als ich Fraktionsvorsitzender war, für die CDU/CSU sehr erfolgreich war. Die beiden Parteien wuchsen immer stärker zusammen. In den meisten Fragen kam es zu einvemehmlichen Entscheidungen auf einer breiten Mehrheitsbasis. Während dieser Jahre erzielten die Unionsparteien sehr gute Erfolge bei den Landtagswahlen und bei der Bundestagswahl 1976. Natürlich kann ich nicht behaupten, daß diese Erfolge auf mich zurückzuführen waren, aber nach einer weit verbreiteten Ansicht hatte ich einen erhebUchen Anteil daran. Ich war ein sehr gefragter Wahlkämpfer sowohl in den Landtagswahlkämpfen als auch im Bundestagswahlkampf 1976. Übrigens gewann ich 1976 auch meinen eigenen inzwischen neu geschnittenen Wahlkreis 9 (Ostholstein) in direkter Wahl. Ich war dort von den Delegierten in Malente in geheimer Abstimmung einstimmig nominiert worden. Auf der Landesliste vmrde ich, hinter Stoltenberg an zweiter Stelle mit der weitaus höchsten Zahl von Stimmen nominiert. Ich hätte meine Aufgabe als Fraktionsvorsitzender nicht erfüllen können, wenn ich nicht die hervorragende und loyale Unterstützung vieler Kollegen aus meiner Fraktion gehabt hätte. Als ersten nenne ich meinen Stellvertreter, den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe Richard Stücklen. Er besaß alles, was mir fehlte: eine über zwanzigjährige parlamentarische Erfahrung, genaue Kenntnis der persönlichen Eigenschaften und Eigenheiten der Kollegen aus unserer Fraktion und den anderen Fraktionen. Er hat mich uneigennützig und außerordentlich wirkungsvoll unterstützt. Ich bin ihm dafür bleibend dankbar. Kurze Zeit nach meiner Wahl ereignete sich ein Zwdschenfall im Parlament, der mich in große Verlegenheit versetzte. Unser Kollege Hansjörg Häfele hatte sich in einer finanzpolitischen Debatte zur Geschäftsordnung gemeldet, sprach aber, wie das häufig geschah, auch zur Sache. Die amtierende Präsidentin, Frau Liselotte Funcke, ermahnte ihn zweimal und entzog ihm nach der dritten Ermahnung das Wort. Häfele, blaß vor Zorn, kam auf mich zu und sagte: „Herr Fraktionsvorsitzender, Sie müssen jetzt herausgehen", in der Erwartung, daß die Fraktion mir dann folgen würde. Ich zögerte, zumal ich nicht recht sah, wie wir hinterher mit Anstand vdeder in den Saal zurückkommen konnten. Da kam Stücklen auf mich zu und riet ebenfalls vom Auszug ab. Als Protest gegen die amtierende Präsidentin wäre die Sache nicht dick genug. Nach Häfele sprach der SPD-Abgeordnete Rainer Offergeid. Auch er hatte sich zur Geschäftsordnung gemeldet. Auch er machte, freilich nur kurz, Ausführungen zur Sache und die Präsidentin rügte ihn nicht. Wie ich fand, war das ein eklatanter Verstoß gegen das Gebot der Unparteilichkeit. Nun war ich entschlossen, den Saal zu verlassen. Stücklen stimmte zu und die Fraktion ging mit uns hinaus. Ein Beobachter blieb zurück und als Frau Funcke turnusmäßig abgelöst worden war, zogen wir wieder in den Saal ein. 427
Stücklen hatte viel Humor. Er bemängelte mein mangelndes Interesse für Fußball. „Solange Sie die Abseitsregeln nicht kennen, können Sie in der Politik nichts werden." Als ich ihn einmal zum Mittagessen einlud, bekam er einen Becher mit Joghurt vorgesetzt und als er mich fragte, ob es noch mehr gäbe, soll ich gesagt haben: „Sie können noch einen Joghurt bekommen." Das erschütterte ihn so, daß er die Geschichte der Bildzeitung weitergab. Er war und ist ein ausgezeichneter Skatspieler und mein größter Stolz war, daß ich ihm, nach drei Stunden beim Skatspiel, einmal 30 Pfennig abgenommen habe. Mein Führungsstil Als Fraktionsvorsitzender stand ich vor einem für mich neuen Führungsproblem. Wohl hatte ich an der Spitze sehr großer Apparate im öffentlichen Dienst gestanden und dabei bestimmte Führungsmethoden erfolgreich erprobt, aber das nützte mir nichts angesichts der Aufgabe, 230 Bundestagsabgeordnete in möglichst großer Geschlossenheit zu führen. Es entsprach meinem Temperament, daß ich dabei versuchte, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Das war nicht immer ganz leicht. Die Fraktion erregte sich schnell. Und dann schlugen die Wogen hoch. Ein Fraktionsvorsitzender, der dabei gelassen blieb, irritierte die Fraktion. Ich empfand das selbst und sah auch deutlich, daß sowohl mein Vorgänger Rainer Barzel als auch Helmut Kohl, wenn er von Zeit zu Zeit in die Fraktion kam, mir in dieser Hinsicht überlegen waren. Sie konnten die Fraktion emotional stärker ansprechen, während meine Stärke wohl in der Auseinandersetzung mit SPD und ГОР im Plenum des Bundestages lag, was die Fraktion auch durchweg anerkannte. In allen Entscheidungen bemühte ich mich um möglichste Klarheit und Transparenz. Ich vermied Tricks und hielt mich streng an den Grandsatz, die Kollegen der Fraktion untereinander und mir gegenüber als gleichberechtigt zu behandeln. Oft heß ich in den Debatten anderen Kollegen den Vortritt, so regelmäßig Strauß bei den Haushahsdebatten, Dregger in Fragen der inneren Sicherheit, Werner Marx in der Außenpolitik, Anton Pfeifer und Georg Gölter in Fragen der Bildungspolitik. Immer wieder appellierte ich in den Fraktionssitzungen an Solidarität, Einigkeit und Geschlossenheit der Kollegen. Ich erhielt dann jedes Mal großen Beifall. Aber das änderte nichts daran, daß einzelne Mitglieder der Fraktion sich immer wieder auf Kosten der Fraktion zu profilieren versuchten. Wegen meiner Fraktionsführang wurde auch ich in der Öffentlichkeit angegriffen. Und es gab Anhaltspunkte dafür, daß negative Informationen über mich aus der Fraktion stammten. Mehrfach beklagte ich mich in den Fraktionssitzungen über eine übermäßige Arbeitslast. Mehr als fünfzehn Stunden am Tage könnte ich nicht arbeiten: „Die letzten drei Tage wünsche ich meinem schlimmsten Feinde nicht" (29. März 1974). Ich tadelte scharf die mangelnde Präsenz der Fraktion in den Plenarsitzungen. Häufig ergäbe sich die Situation, daß Fragesteller bei der Beantwortung ihrer Fragen durch die Bundesregierang nicht anwesend seien. Das mache einen miserablen Eindrack. Ich schlug vor, in diesem Fall den betreffen428
den Kollegen einen Teil des Tagegeldes abzuziehen. Die Fraktion spendete mir dazu Beifall, aber es änderte sich nichts. Die mangelnde Präsenz blieb ein Ärgernis während der ganzen Legislaturperiode, ja noch weit darüber hinaus. Gelegentlich mußte ich Kollegen rügen, die ohne Abstimmung mit mir Auslandsreisen oder Reisen in die DDR unternommen hatten. Das hatte großes Aufsehen in der Öffentlichkeit hervorgerufen, und die Fraktion wußte von nichts. Walther Leisler Kiep und Gerhard Schröder nannte ich namentlich. Umgekehrt gab mir Schröders 65. Geburtstag Gelegenheit, unter starkem Beifall der Fraktion seine Leistungen als Innen-, Außen- und Verteidigungsminister sowie insbesondere aus jüngster Zeit als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses zu würdigen. Seine Reise nach Peking hatte den Anstoß zur Aufnahme der deutsch-chinesischen diplomatischen Beziehungen gegeben. Vielfach hatte ich Gelegenheit, einzelne Fraktionskollegen persönlich Dank zu sagen. Ich sprach Heinrich Krone, meinem großen Vorgänger im Amt des Fraktionsvorsitzenden, herzliche Glückwünsche zum 80. Geburtstag aus. Ich gedachte Heinrichs von Brentano, gleichfalls langjähriger Vorsitzender der Fraktion, anläßlich seines 10. Todestages. Ich sprach unser Beileid zum Tode unseres früheren Kollegen Anton Storch und zum Tode unseres hochgeschätzten Kollegen Berthold Martin aus. Dieser war mitten aus der Arbeit im Bundestag abgerufen worden. Ich vrärdigte sein soziales Engagement. Unter anderem hatte er ein Heim für behinderte Kinder gegründet. „Was ihr getan habt dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan", sagte ich, treffe auf Martin in besonderer Weise zu. Den Kollegen Stücklen und von Weizsäcker dankte ich dafür, daß sie an der Reise einer Bundestagsdelegation im Frühjahr 1974 nach Moskau teilgenommen hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte sich nach Presseberichten Herbert Wehner sehr kritisch über Bundeskanzler Brandt geäußert - „die Regierung hat keinen Kopf", „da badet einer lau" — und damit das Ende der Amtszeit Brandts eingeleitet. Richard von Weizsäcker war unser Kandidat bei der Wahl des Bundespräsidenten im Mai 1974, was die Fraktion mit großem Beifall aufgenommen hatte. Ich dankte ihm dafür, daß er sich als Kandidat zur Verfügung gesteUt hatte. Er war knapp unterlegen (530 Stimmen für Scheel, 498 Stimmen für von Weizsäkker), hatte aber in der Öffentlichkeit einen hervorragenden Eindruck gemacht. Von Weizsäcker dankte ich auch mehrfach für seine Debatten im Bundestag. Insbesondere trat er dem Pragmatismus von Helmut Schmidt entgegen und forderte die Bindung der Politik an bestimmte Grundwerte. Sehr wichtig war naturgemäß mein Verhältnis zu Franz Josef Strauß. W i r stimmten in vielen Sachfragen und in der Grundkonzeption unserer Rolle als Opposition miteinander überein, hatten aber auch Meinungsverschiedenheiten. In einer der ersten Sitzungen, die ich als Fraktionsvorsitzender leitete, bat ich Strauß, der nach meiner Meinung zu lange sprach, zum Ende zu kommen. Dies löste eine scharfe Replik von Strauß aus, die wiederum seitens der Fraktion mit lautem Murren quittiert v ^ r d e . Sie wollte nicht, daß meine Autorität in Zweifel gezogen wTirde. Aber es gab auch Sachfragen, in denen Strauß und ich verschie429
dener Meinung waren. Ich stimmte für den UNO-Beitritt und für die Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung nuklearer Waffen. Er war in beiden Fällen entgegengesetzter Ansicht. Ich lehnte die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Er setzte durch, daß die bayerische Staatsregierung Klage erhob und ein unserer Sache günstiges UrteiP®) erstritt. So blieb mein Verhältnis zu Strauß, trotz vieler Übereinstimmung, auch immer leicht gespannt. Helmut Kohl erschien nicht oft in den Fraktionssitzungen. Er war seit 1973 Bundesvorsitzender der CDU, aber gleichzeitig Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Immer waren seine Auftritte außerordentlich eindrucksvoll, staatsmännisch und ohne übertriebene Schärfe. Eine große Rede hielt er am 10. Juni 1974. Er definierte die Rolle der Opposition als kritisch-konstruktiv. Wir seien für Autorität, so sagte er, aber gegen autoritäre Gesinnung. Wir seien gegen Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst, aber auch gegen jede Hexenjagd. Unser Ziel bleibe die Einheit der Nation und ein einiges Europa. Kohl endete mit einem dringenden Appell an ein geschlossenes Auftreten der Opposition. Die Fraktion dankte ihm mit lang anhaltendem Beifall. Auch Kurt Biedenkopf, seit 1973 Generalsekretär der CDU, kam häufig in die Fraktion und leistete wertvolle Hilfe bei der Meinungsbildung zu einer Reihe von Sachfragen, vor allem zur Mitbestimmung. Gelegentlich nahmen Freunde aus dem Ausland an unseren Fraktionssitzungen teü. So konnte ich im März 1975 den Club-Obmann der österreichischen ÖVP im Wiener Parlament, Stephan Koren, begrüßen, der sich für eine engere Zusammenarbeit der beiden Fraktionen im Bonner und im Wiener Parlament einsetzte. Interna der Fraktion Mein wichtigster Beitrag zur internen Arbeit der Fraktion bestand in der Bildung einer Planungsgruppe von fünfzehn Abgeordneten. Die Fraktion verfügte bereits über einen Planungsstab, der aus Mitarbeitern der Fraktion gebildet worden war und um dessen Einrichtung sich Hans Katzer, der frühere Bundesarbeitsminister, große Verdienste erworben hatte. Leiter des Planungsstabes war der frühere Mitarbeiter von Katzer, Ministerialdirektor a. D. Dr. Johann Frank, der der Fraktion ausgezeichnete Grundsatzarbeiten zu Fragen der Sozial- und Gesellschaftspolitik lieferte. Nun ging es darum, daneben eine Planungsgruppe aus Abgeordneten zu bilden, um deren Ausgestaltung sich besonders Elmar Pieroth bemühte. Er stand auf dem Standpunkt, daß die Fraktion, neben der Behandlung der laufenden Vorhaben in den Arbeitsgruppen, über ein Gremium verfügen müsse, das in Fragen der Wirtschafts-, Finanz-, Konjunktur-, Gesellschafts- und Sozialpohtik langfristige, grundsätzliche Überlegungen anstellen sollte. Die Fraktion stimmte zu. Die Planungsgruppe wählte aus ihrer Mitte drei Vorsitzende: Elmar Pieroth, Peter Schmidhuber und Wolf gang Vogt, die sich in der Leitung der Sitzungen ablösten. Vgl. dazu später S. 432 f.
430
Unter den Parlamentarischen Geschäftsführern nahm zunächst Leo Wagner (CSU) die erste Stelle ein. Ihm oblag insbesondere die notwendige Abstimmung mit den anderen Fraktionen zur Vorbereitung der Plenarsitzungen. Er hat diese Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst. Anfang 1975 bat er darum, ihn aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen von dieser Funktion zu entbinden. Zu seinem Nachfolger berief ich Phüipp Jenninger, einen jungen Kollegen aus Baden-Württemberg, der sich wegen seines ruhigen abgewogenen Urteils und seiner unbedingten Vertrauenswürdigkeit sehr hohes Ansehen erworben hatte. Auch bei der SPD fand ein Wechsel auf dem Posten des Parlamentarischen Geschäftsführers statt. Anstelle von Karl Wienand, mit dem Leo Wagner zusammen gearbeitet hatte, trat Konrad Porzner, mit dem nun Jenninger gleichfalls in einem nie getrübten Vertrauensverhältnis zusammenarbeitete. Weitere Parlamentarische Geschäftsführer in der CDU/CSU-Fraktion waren Paul Röhner, der von der CSU anstelle von Wagner nominiert wurde, Rudolf Seiters, Wilhelm Rawe, Olaf von Wrangel und Gerhard Reddemann. Dazu traten Paul Mikat und Reinhold Kreile als Justiziare. Alle leisteten hervorragende Arbeit.'Sie entlasteten mich, wo immer dies möglich war. Ich vertraute ihnen und wurde darin nie enttäuscht. Im Oktober 1973 wurden nach Ablauf des ersten Jahres der Legislatuφeriode die Kollegen Hans Katzer, Burkard Ritz, Richard von Weizsäcker, Frau Helga Wex und Heinrich Windelen als Stellvertretende Fraktionsvorsitzende wiedergewählt. Die meisten Stimmen erhieh Ritz, mit dem mich, ebenso wie mit Windelen, eine besonders enge und freundschaftliche Zusammenarbeit verband. Die Fraktion gliederte sich in sechs Arbeitskreise, die von den Kollegen Friedrich Vogel (Innen- und Rechtspoliük), Ernst Müller-Hermann (Wirtschaft und Ernährung), Hermann Höcherl (Haushalt, Steuern, Geld, Kredit), Hermann Götz (Sozial- und Gesellschaftspolitik), Werner Marx (Außen-, Deutschland-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik) sowie Anton Pfeifer (Bildung, Wissenschaft und Forschung) geleitet und in denen die Entscheidungen der Fraktion vorbereitet wurden. Es waren erfahrene Kollegen sowohl im Parlamentsbetrieb als auch in den besonderen Bereichen ihres jeweiligen Arbeitskreises. Ihr Votum war für die Fraktion, besonders für mich, von sehr großem Wert. In einigen Fragen waren die Arbeitskreisvorsitzenden zugleich die Sprecher der Fraktion. Sie vertraten unseren Standpunkt in eindrucksvoller Weise. Das galt in besonderem Maße für Werner Marx sowie für Anton Pfeifer und Georg Gölter, mit denen ich in einem, wie ich meine, erfolgreichen Kampf gegen die im Grundsatz verfehlte BUdungspolitik von SPD und ГОР zusammenstand. Von großer Bedeutung für mich war die Auswahl meiner persönlichen Mitarbeiter. Ich bat Kiesinger, mir Hans Neusei, den Leiter seines persönlichen Büros zu überlassen. Kiesinger sagte das, wenn auch schweren Herzens, zu. Für mich war es eine entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit. Neusei wurde der Leiter meines Büros und blieb mein erster Mitarbeiter während der folgenden elf Jahre. Er ist einer der fähigsten und zuverlässigsten Beamten, die ich kennengelernt habe. Dazu kommen großartige charakterliche Eigenschaften: Mut, Verantwortungsbereitschaft, Loyalität und eine ausgepräg431
te Neigung seinem jeweiligen Vorgesetzten, wenn er dies für nötig hielt, zu widersprechen, dafür aber die ihm unterstellten Mitarbeiter in Schutz zu nehmen. Also das Gegenteil von dem so oft glossifizierten Radfahrertyp im öffentlichen Dienst. Ihm verdanke ich auch in den mich persönlich betreffenden Fragen manchen guten Rat. Er woirde ein guter Freund. Von Barzel übernahm ich Gisela Scheben, eine immer hilfsbereite und absolut zuverlässige Mitarbeiterin und den sicheren, verständigen und verschwiegenen Fahrer Willi Wolter. Unentbehrlich war für mich die Unterstützung durch Dr. Eduard Ackermann, den Pressesprecher der Fraktion. Er hatte diese Funktion schon zu Zeiten meiner Vorgänger ausgeübt und hat ebenso loyal wie mich später meinen Nachfolger Helmut Kohl unterstützt, der ihn 1982 als Ministerialdirektor mit ins Bundeskanzleramt nahm. Ackermann hatte ein sicheres Urteilsvermögen, hielt engen Kontakt zur Presse und war dabei außerordentlich liebensvrärdig. Er gehörte zu den bestinformierten Menschen in Bonn. Ich verdanke ihm sehr viel. Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts
Mehrfach diskutierte die Fraktion die Frage, ob wir gegen eine nach unserer Auffassung falsche Entscheidung der Bundestagsmehrheit das Bundesverfassungsgericht anrufen sollten. Zuerst wurde das Problem nach der Verabschiedung des Grundlagenvertrages mit der DDR akut. Ich sprach mich aus grundsätzlichen Erwägungen gegen die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aus. Ich war dabei durch meine Erfahrungen mit dem amerikanischen Supreme Court beeinflußt und vertrat die Meinung, daß außenpoUtische und deutschlandpolitische Auseinandersetzungen mit politischen Mitteln ausgefochten werden sollten. In den ihrer Natur nach starren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sah ich, von extremen Fällen abgesehen, ein ungeeignetes Instrument der Außen- und DeutschlandpoUtik. Die Fraktion folgte mir in dieser Frage mit Mehrheit. Die Klage gegen den Grundlagenvertrag wurde seitens der bayerischen Staatsregierung erhoben. Mit dem Urteil erzielte Bayern, und mit Bayern die Union, einen beachtlichen politischen Erfolg.^®) Einige Zeit später erhob sich die Frage, ob wir gegen die in einer Vereinbarung mit der DDR vorgesehene Akkreditierung des Ständigen Vertreters der DDR beim Bundespräsidenten^") das Bundesverfassungsgericht anrufen soUten. Die Befürworter dieses Schrittes vertraten die Ansicht, daß die vorgesehene Regelung einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR gleichkomme und daher grundgesetzwidrig sei. Ich widersprach und warnte davor, gegen unsere eigenen Interessen zu argumentieren. Es komme darauf an, die DDR völkerrechtlich
Urteil vom 31. Juli 1973 in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 36 S. 1 - 3 7 . Siehe Punkt 3 des Protokolls zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über die Errichtung der Ständigen Vertretungen vom 14. März 1974 (BGBl. II S. 933). 432
nicht anzuerkennen. Das sei unser Ziel. In der Begründung der vorgeschlagenen Verfassungsklage müßten wir aber den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, nämlich daß die DDR völkerrechtlich anerkannt vrärde. Das sei prinzipiell falsch. Strauß unterstützte meinen Standpunkt in diesem Fall. Er bezweifelte, daß wir uns in Karlsrahe durchsetzen vrärden. Wir liefen auch Gefahr, das positive Urteil, das das Bundesverfassungsgericht auf die bayerische Klage in der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages gefällt habe, wieder abzuschwächen. Ich setzte mich mit meinem Standpunkt durch. Außerdem erreichten wir, daß die Bundesregierang eine öffentliche Erlärung abgab, wonach die Akkreditierang des DDR-Vertreters beim Bundespräsidenten keine völkerrechtliche Anerkennung bedeutete.'^) Keinen Zweifel hatte ich, daß die erste vom Bundestag beschlossene Regelung zur Frage der Schwangerschaftsunterbrechung - die sogenannte Fristenlösung — verfassungswidrig war. Ich sprach mich hier für die Anmfung des Bundesverfassungsgerichts aus, und wir waren erfolgreich. Die Fristenlösung wurde als verfassungswidrig verworfen.'^) Landtagswahlen Mit großer Befriedigung nahm die Fraktion die erfolgreichen Wahlen in den Ländern auf. Zu dem Erfolg bei der Hamburger Wahl, am 3. März 1974, gratulierte ich den Hamburger Kollegen Erik Blumenfeld und Dieter Rollmann. Der Abstand zwischen der SPD und CDU war von 22,5 Prozent auf 4 Prozent geschrampft. Die CDU hatte mehr als 40 Prozent der Stimmen erzielt. Blumenfeld dankte mir für meinen, wie er sagte, unglaublich erfolgreichen Einsatz im Wahlkampf. Hauptthema des Wahlkampfes sei die Bundespolitik gewesen. Eine Gmndwelle habe sich gegen die SPD und ГОР gewendet. 50 Prozent der Jungwähler hätten CDU gewählt. Geradezu triumphal verlief die Kommunalwahl in Schleswig-Holstein am 24. März 1974. Gegenüber der Bundestagswahl von 1972 fiel die SPD von 53 auf 35 Prozent zurück. Die CDU errang 53 Prozent der Stimmen gegenüber 43 Prozent bei der Bundestagswahl. Auch hier war der allgemeine Bundestrend entscheidend. Dregger berichtete am 26. März 1974 über das erfolgreiche Abschneiden der CDU bei den Kommunalwahlen in Hessen-Nord. Dort habe die CDU mit 42,8 Prozent 9,3 Prozent hinzugewonnen, während die SPD 11 Prozent verloren habe. Großartig waren auch die Erfolge der CDU in Baden-Württemberg. Bei der Landtagswahl im April 1976 gewann sie 69 Wahlkreise von insgesamt 70 Wahlkreisen direkt, 61 davon mit mehr als 50 Prozent, 22 mit mehr als 60 Prozent (Wangen 79 Prozent, Biberach 76 Prozent). Die jungen Arbeiter hatten in großer Zahl CDU gewählt. Hans Filbinger war der überragende Gewinner im Siehe das Schreiben von Bundesinnenminister Genscher an Karl Carstens vom 15. März 1974, abgedrackt in BULLETIN vom 19. März 1974 S. 354 f. " ) Siehe dazu später S. 456. 433
Wahlkampf. Entscheidend war das geschlossene Auftreten der Union. Der Wahlkampfspot „Freiheit statt Sozalismus" hatte hervorragend eingeschlagen. Mit tiefer Erschütterung sprach ich vor der Fraktion über eine Wahlversammlung der CDU auf dem Römerberg in Frankfurt am Main, die kurz vor der hessischen Landtagswahl im Oktober 1974 stattgefunden hatte. Zwölftausend Menschen waren dort versammelt. Am Schluß sangen wir gemeinsam das Deutschlandlied. Eine Gruppe von vier- bis fünfhundert Störem gröhlte und johlte und bewarf uns mit Farbbeuteln. Sie schwenken dabei, was mich besonders empörte, ein Kruzifix, auf dem der Gekreuzigte mit einer Militärmütze auf dem Kopf abgebildet war. In meiner Ansprache, nach Kohl, Strauß und Dregger, ließ ich darüber meinem Zorn freien Lauf. Ich erinnerte an die Aufführung von Goethes Götz, die ich 1933 auf eben diesem Römerberg erlebt hatte und zitierte die Verse des sterbenden Götz: „Es kommen die Zeiten des Betruges, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List und der Edle wird in ihre Netze fallen." Ich bat die versammelten Frankfurter Bürger, Alfred Dregger, ihren großartigen Spitzenkandidaten, zu untersützen. Nach der Wahl gratulierte ich Dregger zu seinem großartigen Erfolg. Als er den Landesvorsitz der CDU übernahm, betrug der Stimmenanteil der CDU 25 oder 26 Prozent und jetzt, bei der Wahl vom 27. Oktober 1974, lag er bei 47,3 Prozent. Franz Josef Strauß berichtete der Fraktion über die Landtagswahl in Bayern vom 27. Oktober 1974. Sensationell sei der Stimmungsumschwung in den Großstädten. Elf Münchner Wahlkreise seien an die CSU gefallen. Insgesamt erzielte die CSU ein Ergebnis von 62,1 Prozent und damit einen Zuwachs von 5,7 Prozent gegenüber der Wahl 1970. Ich berichtete über eine Wahlversammlung in einem Münchner Arbeiterviertel, auf der ich gesprochen hatte. Die Münchner SPD hatte die Enteignung von Grund und Boden gefordert und auf eine entsprechende Frage erklärt, das beziehe sich auch auf die Eigenheime. Die Reaktion der Arbeiter, von denen viele ein eigenes Haus besaßen, war naturgemäß außerordentlich negativ. Bei meinen Auftritten in Bayern erntete ich überall großen Beifall. Häufig sprach ich in überfüllten Zelten mit musikalischer Umrahmung — unvergeßliche Erlebnisse. Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 13. April 1975 verlor zwar die CDU 1,5 Prozent, behielt aber mit 50,4 Prozent die absolute Mehrheit. Ich sprach in Rendsburg vor 3000 Menschen, die aus der Umgebung zusammengekommen waren. Es war eine der Wahlversammlungen, in denen ich die stärkste Resonanz fand. Gegen Ende meiner Rede mäßigte ich meinen Ton, weil ich befürchtete, daß sich meine Zuhörer zu unbesonnenen Aktionen hinreißen lassen könnten. Auch die übrigen Landtagswahlen in diesen Jahren brachten der CDU gute Erfolge: - Niedersachsen, 3. Juni 1974, 48,6 Prozent (-1- 3,1 Prozent) - Berlin, 2. März 1975, 43,9 Prozent (-1- 5,7 Prozent) - Rheinland-Pfalz, 9. März 1975, 53,9 Prozent (-1- 3,9 Prozent) - Saarland, 4. Mai 1975, 49,1 Prozent (-1- 1,3 Prozent) - Nordrhein-Westfalen, 4. Mai 1975, 47,1 Prozent (-f- 0,8 Prozent) 434
-
Bremen, 28. September 1975, 33,8 Prozent ( + 2,2 Prozent). In allen diesen Ländern, außer im Saarland, verlor die SPD an Stimmen, in Hamburg sogar 10,4 Prozent.
3. Außenpolitische Fragen Außenpolitik In meinen Reden vor der Fraktion zur Außenpolitik gab ich meiner großen Sorge wegen der Entwicklung in den USA Ausdruck. Nach einer Amerika-Reise im Juli 1974 erkannte ich, wie tief die Folgen des verlorenen Indochina-Krieges und des Watergate-Skandals, in den Präsident Richard Nixon verwickelt war, für die amerikanische Politik waren. Das Vertrauen in die Politiker ihres Landes war verloren gegangen. Das wirkte sich, nach meiner Meinung, auch auf die amerikanische Haltung in den Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion aus. Außenminister Henry Kissinger, den ich seit Jahren kannte, hatte ich bei einer Begegnung Anfang 1974 in glänzender Verfassung erlebt. Er fühlte sich, wie ich vor der Fraktion am 12. März 1974 sagte, auf dem Zenit seines Lebens, da er bei seinen Vermittlungsbemühungen um eine Lösung des Nahost-Konfliktes in Ägypten erfolgreich gewesen war und dabei den sowjetischen Einfluß stark zurückgedrängt hatte. Zu den Genfer Verhandlungen über Zusammenarbeit und Entspannung in Europa hatte ich in Amerika verlangt, daß eine friedUche Änderung der Grenzen in Europa möglich bleiben müßte. Die Amerikaner hatten das zugesagt. In meinen Reden vor der Fraktion entwarf ich auch ein schonungsloses Bild von der Entvdcklung in Europa. Ich sah, daß die Lage in Portugal auf des Messers Schneide stand. Zum Glück gelang es dann doch, die Machtübernahme durch die kommunistische Partei abzuwenden. In ItaUen waren Tendenzen zum sogenannten „historischen Kompromiß", das heißt zu einer Koalition zvdschen Christdemokraten und Kommunisten, zu erkennen. Auch dazu kam es dann freilich nicht. Eine zentrale Frage, mit der sich Fraktion und Plenum des Bundestages mehrfach beschäftigten, betraf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Nach jahrelangen Verhandlungen fand Ende Juli 1975 die Unterzeichnung der Schlußakte durch 35 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, in Helsinki statt"). Auf meinen Vorschlag erhob die CDU/CSU-Fraktion dagegen Bedenken. Wir argumentierten, daß die Sowjetunion mit diesem Instrument entgegengesetzte Ziele wie der Westen verfolge. Während der Westen Entspannung an-
Dokumentation der Schlußphase der Konferenz vom 30. Juli bis 1. Aug. 1975 in Europa-Archiv 1975 D S. 5 3 9 - 5 7 4 . Wortlaut der Schlußakte vom I.Aug. 1975 ebenda S. 4 3 7 - 4 8 4 .
435
strebe, setze die Sowjetunion ihre offensive und expansive Politik fort. Das gälte vor allem für Angola, vvro mit sowjetischer Hilfe ein kommunistischer Putsch vorbereitet würde. Unsere Warnungen an die sowjetische Adresse wirkten unglaubhaft, so sagten wir, wenn wir gleichzeitig das Dokument von Helsinki unterzeichneten, das auf sowjetisches Betreiben, freilich unter erheblichen Verbesserungen durch westliche Einschübe, zustande gekommen sei. Die Regierung hielt uns entgegen, wenn sie unserem Rat folgte, wäre die Bundesrepublik Deutschland das einzge Land, das sich an der KSZE nicht beteiligte. Die weitere Entwicklung bestätigte unsere Sorgen. Zunächst hatte ich ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Gerald Ford, der auf dem Wege nach Helsinki in Bonn Station machte. Ich legte ihm unsere Bedenken ausführlich dar, insbesondere was die Entwicklung in Angola betraf. Zu meiner Überraschung stimmte er mir zu, deutete aber an, daß die laufende Entwicklung in Richtung auf die Unterzeichnung der Schlußdokumente in Helsinki nicht mehr aufgehalten werden könnte. Später äußerte sich Ford und dann auch Präsident Jimmy Carter zu dem Komplex. Sie warfen der Sowjetunion wegen ihres Verhahens in Angola eine Verletzung des Geistes von Helsinki vor. Ford forderte die Rückkehr zur Pohtik der Stärke und Carter erklärte, die USA seien düpiert worden. Ganz allgemein kritisierte ich in der Außenpolitik der Bundesregierung eine ungenügende Wahrnehmung deutscher Interessen. Das gehe vor allem für das Ziel der Wiedervereinigung durch Selbstbestimmung'^). Aber meine Einlassungen gegenüber der Bundesregierung im Bereich der auswärtigen Politik waren keineswegs nur negativ. Ich erkannte an, daß sowohl Brandt als auch Scheel ihre ersten Reden vor der UNO dazu benutzt hatten, unsem Standpunkt in der deutschen Frage eindrucksvoll darzustellen. Nichtverbreitungsvertrag Jahrelang beschäftigten uns die Verhandlungen über den Vertrag über die Nichtverbreitung von nuklearen Waffen (NV-Vertrag)'®). Die Bedenken der Union lagen auf der Hand. Der Vertrag, das zeichnete sich deutlich ab, würde ein ungleicher Vertrag sein. Die Nuklearmächte übernahmen einige nur vage Verpflichtungen, ihr nukleares Potential zu reduzieren, während die nichtnuklearen Staaten zu tiefgreifenden Beschränkungen ihrer Rüstung und zu entsprechenden internationalen Kontrollen verpflichtet werden sollten. Für uns bedeutete der Vertragsinhalt nichts Neues, da wir schon im WEU-Vertrag von 1954 auf die Herstellung von Kernwaffen und in späteren Erklärungen auch auf den eigenen Besitz dieser Waffen verzichtet hatten. Neu war — und das wog schwer —, daß wir diese Verpflichtung auch gegenüber der Sowjetunion eingingen. Belastend war für uns der Kontrollmechanismus, der mit dem Nichtverbreitungsvertrag verbunden war. Vor allem befürchteten wir, in unseren Aktivitäten auf dem GeZu dieser Frage siehe ausführlich Kap. XIII S. 780 ff. Vgl. dazu Kap. VII S. 341 f.
436
biet der friedlichen Nutzung der Kernenergie behindert zu werden. Schheßlich befürchteten wir, daß ein politisch geeintes Europa gehindert sein könnte, Nuklearwaffen zu besitzen. Durch zähe Verhandlungen, die noch auf die Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger zurückgingen, und die später in sehr wirkungsvoller Weise durch Kurt Birrenbach fortgesetzt vmrden, gelangen uns einige Verbesserungen. Vor allem erklärte die Bundesregierung sich bereit, bei der Unterzeichnung des NV-Vertrages zu erklären, daß keine Bestimmung des Vertrages so ausgelegt werden könne, als behindere sie die weitere Entwicklung der europäischen Einigung, insbesondere die Schaffung einer europäischen Union mit entsprechenden Kompetenzen. Ich entschloß mich darauf, der Fraktion die Annahme des Vertrages zu empfehlen. Anders als bei der Erklärung von Helsinki, sah ich eine Isolierung der CDU/CSU bei der Abstimmung über den NV-Vertrag mit Sorge. Sie würde das latente Mißtrauen im Ausland über geheime militärische Pläne der Bundesrepublik wecken. Auch würden wir Schwierigkeiten bekommen, wenn wir spaltbares Material aus dem Ausland beziehen wollten. Ich geriet allerdings in dieser Frage wieder einmal mit Strauß aneinander und konnte nicht verhindern, daß die Fraktion in zwei annähernd gleiche Teile auseinanderfiel. In einer großen Debatte in der Fraktion am 12. Februar 1974 sprach sich die CSU und ein TeU der Kollegen aus der CDU gegen den Vertrag, der größere Teil der CDU aber dafür aus. Zu dieser Gruppe gehörten von Weizsäcker, Schröder, Marx, Biedenkopf, Kiesinger, von Hassel, dieser unter Hinweis auf die anderen christdemokratischen Parteien in Europa, und ich. Dagegen waren Alfred Dregger, Manfred Wömer, Herbert Czaja und Alois Mertes. Ich argumentierte vor allem damit, daß wir die europäische Option durchgesetzt hätten. Das sei unser Erfolg als Oppositionspartei und damit müßten wir wuchern. Bei der Abstimmung stimmten 57 Kollegen mit Ja, 63 mit Nein. Ich übernahm es wieder, für beide Seiten im Plenum zu sprechen'®). Nach meiner Rede im Plenum sprach mir Franz Amrehn unter großem Beifall der Fraktion seine Anerkennung aus. Es war eine ziemlich verrückte Situation, aber die Fraktion zerbrach zum Glück an diesem Konflikt nicht. Deutsch-polnische
Vereinbarungen
Zu einer weiteren Auseinandersetzung innerhalb der Fraktion der CDU/ CSU führte der Abschluß von deutsch-polnischen Vereinbarungen aus dem Jahre 1975 über die Ablösung von Rentenansprüchen (1,3 Milliarden DM), einen Finanzierangskredit (1 Milliarde DM), einem Rentenabkommen über die An-
'β) Rede von Karl Carstens am 20. Febr. 1974 in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 86 S. 5 2 8 0 A - 5 2 8 3 C und BUNDESTAGSREDEN S. 1 2 0 - 1 2 8 . Vertragstext vom I.Juli 1968 siehe VERTRÄGE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Bd. 48 S. 3 - 1 7 , Vertragsgesetz vom 4. Juni 1974 (BGBl. II S. 785). 437
rechnung von Erwerbszeiten auf die Renten und über die Ausreise von Deutschen aus Polen"). Wir erklärten, daß wir grundsätzlich für die Aussöhnung mit Polen einträten. Die Heimatvertriebenen hatten schon in ihrer Charta von 1950'®) dazu den ersten Schritt getan. Adenauer hatte die Aussöhnung mit Frankreich, Israel und Polen als die wichtigsten Aufgaben bezeichnet. Die evangeUsche und die katholische Kirche hatten bedeutende Vorarbeiten auf diesem Gebiet geleistet. Was uns, insbesondere mich, an den deutsch-polnischen Vereinbarungen von 1975 störte, war die dilettantische Art des Vorgehens. 1970 hatten wir mit Polen den Warschauer Vertrag abgeschlossen und dabei die wesentlichsten Forderungen der Polen erfüllt. Aber über unser nationales Anliegen der Wiedervereinigung aufgrund des Selbstbestimmungsrechts enthielt der Vertrag kein Wort. Über die Volksgruppen und die deutschen Minderheitenrechte in Polen wurde nichts vereinbart. Und eine vage polnische Zusage über die Gewährung der Ausreise von Deutschen erwies sich als völlig unzulänglich. Jetzt, 1975, sollten 120000 Deutsche innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren die Genehmigung zur Ausreise erhalten, und wir sollten dafür zum zweiten Mal einen Preis zahlen. Auch müßten wir fragen, was aus weiteren 160000 Deutschen wrürde, die nach den Unterlagen des Deutschen Roten Kreuzes ihre Ausreise verlangten. Außerdem störte mich in der Argumentation der Bundesregierung, daß zwar immer von dem schweren Unrecht die Rede war, das Deutschland Polen zugefügt hatte, aber die Schreckenstaten, die unter sowjetischer Herrschaft in Polen begangen worden waren, diskret behandelt und unerwähnt blieben. Man sollte, sagte ich, in diesem Zusammenhang auch das Leid der deutschen Heimatvertriebenen wenigstens erwähnen. Schließlich stellte ich die Frage, warum eigentlich nur die Bundesrepublik Deutschland und nicht auch die DDR einen Beitrag zur Ablösung polnischer Rentenansprüche aus der Zeit vor 1945 leisteten. Die Debatte in der Fraktion wogte hin und her. Gerhard Schröder teihe mit, daß die außenpolitische Kommission der CDU sich für die Annahme der Vereinbarungen mit Polen ausgesprochen habe. Strauß sprach entschieden dagegen. Ich entschied mich gleichfalls für eine Ablehnung der Vereinbarungen. Die Abstimmung in der Fraktion ergab 174 Stimmen für Ablehnung, 11 Stimmen für Zustimmung zu den Vereinbarungen (4. November 1975). Bei der namentlichen Abstimmung im Plenum'®) stimmten 15 Abgeordnete von CDU/CSU für die Vereinbarungen, darunter Barzel, Blüm, Blumenfeld, Breidbach, Katzer, Kiep, Kliesing, Mikat, Schulze-Vorberg und von Weizsäcker. Es kam danach zu einer Auseinandersetzung zwdschen von Weizsäcker und mir, übrigens der einzigen " ) Wortlaut der am 9. Okt. 1975 in Warschau unterzeichneten Abkommen in BULLETIN vom 10. Okt. 1975 S. 1 1 9 3 - 1 1 9 9 . Charta vom 5. Aug. 1950, Wortlaut in Archiv der Gegenwart 1950 S. 2521. Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 97 S. 1 5 6 3 2 Л - 1 5 6 3 3 С (19. Febr. 1976).
438
gravierenden Auseinandersetzung in der Zeit unserer gemeinsamen Zugehörigkeit zur CDU/CSU-Fraktion. Ich respektierte Weizsäckers Gewissensentscheidung bei der Abstimmung, stelhe ihm aber doch die Frage, ob er nicht das Vertrauen der Mehrheit der Fraktion verloren hätte, die ihn vor drei Jahren zum Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gevirählt habe. Weiter trieb ich die Auseinandersetzung jedoch nicht. Einige Monate später trat eine deutliche Entspannung der Situation ein. Nachdem Bundeskanzler Schmidt mehrfach erklärt hatte, daß eine Nachbesserung der getroffenen Vereinbarungen nicht möglich sei, gelang es Genscher durch einen Briefwechsel mit dem polnischen Außenminister, eine Verbesserung für Anträge von Deutschen auf Ausreise zu erreichen^"). Solche Anträge konnten danach auch nach Ablauf der ursprünglich vorgesehenen vier Jahre noch gesteht werden und vnirden dann genehmigt werden. Diese Situation veranlaßte die unionsregierten Länder im Bundesrat der deutsch-polnischen Vereinbarung zuzustimmen^*). Die Fraktion gab dazu ihr Einverständnis. Dreizehn Jahre später erlebte dann freilich die deutsche öffenthchkeit in der Frage der deutsch-polnischen Vereinbarungen von 1975 eine weitere Überraschung. Der Ministerpräsident der Volksrepubhk Polen Mieczyslaw Rakowski machte bei einem Besuch in Bonn*^) ziemlich unverblümt der Bundesrepublik den Vorwurf, daß sie Polen durch die Gewährung eines Milliardenkredites, der nicht für bestimmte Projekte vorgesehen worden sei, in eine sehr schwderige Lage gebracht habe, denn nunmehr drückten Polen die in der damaligen Vereinbarung übernommenen RückZahlungsverpflichtungen. Auslandskontakte Während der Jahre 1973 bis 1976 war ich mehrfach in Amerika. Jedes Jahr nahm ich an einer Sitzung des Center for Strategie and International Studies (CSIS) der Georgetovra Universität in Washington teil. Ein Kreis politisch interessierter Persönlichkeiten fand sich dort unter der Leitung des klugen und kenntnisreichen Walter Laqueur zusammen, eines Londoner Politologen, der ursprünglich aus Deutschland stammte und seine Verfolgung und seine Flucht in einem bewegenden Buch dargestellt hat^^). Präsident der ganzen O. ganisation war David Abshire. Ich habe selten an so anregenden und fruchtbaren Diskussionen über die internationale Politik wie beim CSIS teilgenommen. Während meiner Besuche in Washington führte ich regelmäßig auch politische Gespräche mit Mitgliedern der Administration und des Kongresses. Außenminister Henry Kissinger empfing mich mehrfach, ebenso sprach ich mit Helmut Sonnenfeldt, George McGhee und mit Kenneth Rush, dem späteren Bot-
"») Briefwechsel vom 9. und 15. März 1976 in BULLETIN vom 11. und 26. März 1976 S. 250 f. und 318 f. " ) BR-SITZUNGSBERICHTE vom 12. März 1976 S. 105 C. " ) Zu dem Besuch vom 20. bis 23. Jan. 1989 vgl Archiv der Gegenwart 1989 S. 33145. " ) Walter Laqueur, Heimkehr — Reisen in die Vergangenheit, Beriin 1964.
439
schafter in Bonn. Ich führte Gespräche mit dem Verteidigungsminister EUiot Richardson, einem ahen persönlichen Freund, ebenso wie mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Robert Ellsworth und dem Abriistungsbeauftragten Paul Nitze. Mehreren Senatoren und Abgeordneten des Repräsentantenhauses legte ich die Auffassung der CDU/CSU zu den Problemen des Bündnisses und der Ost-West-Beziehungen dar. Mein Eindruck während dieser Jahre war, daß der Vietnamkrieg, obwohl er für die USA im Jahre 1973 beendet wurde, weiter als eine schwere seelische Last, als ein Trauma auf dem amerikanischen Volke lag. Zudem beunruhigte der Watergate-Skandal die amerikanische Öffentlichkeit. Seit 1973 wurden schwere Beschuldigungen gegen Präsident Nixon erhoben, die im August 1974 zu seinem Rücktritt führten. Auch die wirtschaftliche Lage erschien mir nicht stabil. Die Inflationsrate stieg und ebenso die Lücke in der amerikanischen Zahlungsbilanz. Am ergiebigsten waren meine Gespräche mit Kissinger. Er entwarf ein für mich faszinierendes und für die USA verhältnismäßig günstiges Bild der internationalen Lage. Er berichtete, daß sowohl die Sowjetunion als auch China Kontakte zu den USA suchten, nachdem die Amerikaner ihre Teilnahme am Vietnamkrieg endlich beendet hatten. Bei den SALT-Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Nuklear-Waffen verlangten die Sowjets, daß die Amerikaner ihnen eine gewisse Überlegenheit konzedierten, da sie es mit zwei nuklearen Gegnern, den USA und China, zu tun hätten. Kissinger schien darauf eingehen zu wollen und sich mit nuklearer „sufficiency" begnügen zu wollen, das heißt mit der Fähigkeit zu einem ausreichenden nuklearen Gegenschlag, falls die Sowjetunion einen nuklearen Angriff gegen die USA unternehmen sollte. Dagegen wandte sich jedoch der Verteidigungsminister James Schlesinger. Er vertrat den Standpunkt, daß die Sowjets im Bewußtsein ihrer nuklearen Überlegenheit eine rücksichtslose Expansionspolitik auch gegen amerikanische Interessen führen würden. Mit großer Sorge sprach Kissinger über die Entwicklung in Angola. Hier hatte der Kongreß die Regierung an einem stärkeren Engagement gehindert. Auch die Entwicklung in Italien verfolgten die Amerikaner mit Sorge, wo sich ein Regierungsbündnis mit der kommunistischen Partei abzeichnete. Ich benutzte die Gelegenheit meiner Gespräche in den USA, um die Forderungen der CDU/CSU mit Bezug auf die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vorzutragen. Es müsse ein Maximum im Bereich der Menschenrechte gefordert werden, nämlich Freizügigkeit für Menschen, Meinungen und Informationen. Femer müsse eine friedliche Veränderung der Grenzen durch Vereinbarung der Beteiligten möglich bleiben, und schließlich müsse die deutsche Frage offengehalten werden. Kissinger hörte sich das alles an, aber gab mir dann zuverstehen, daß die Bundesrepublik Deutschland in ihren Vereinbarungen mit dem Osten diese Forderungen nicht gestellt hatte. „You gave a lot for nothing in an earlier stage." Das entsprach genau meiner Kritik an der Ostpolitik von Brandt und Scheel. Zu Egon Bahr äußerten sich die Amerikaner skeptisch. Der Bericht über ein Gespräch zwischen Bahr und Professor Hahn aus dem Jahre 1969, den dieser 1973 in 440
der amerikanischen Zeitschrift „Orbis" veröffentlicht hatte*^), hatte das ahe Mißtrauen wiederbelebt, daß nämlich Bahrs Politik eine Neutralisierung Deutschlands zum Ziel habe. Dagegen sagten mir mehrere amerikanische Gesprächspartner bei meinem Besuch 1973 und Anfang 1974, daß sie Vertrauen zu Bundeskanzler Brandt hätten. In der Frage der Reduzierung der amerikanischen Trappen in Europa versicherten mir alle Regierangssprecher, daß sie gegen einseitige Schritte in dieser Frage seien, aber im Kongreß würden nachdrücklich weitergehende Forderangen erhoben. Intensiv waren auch meine Kontakte mit den französischen Freunden. Am 9. Juli 1974 nahm ich an einem Essen teil, das der im Mai 1974 gewähUe französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing bei seinem Besuch in Bonn auf Schloß Emich gab. Der enge persönliche Kontakt zwischen ihm, Helmut Schmidt, Brandt und Scheel war deuthch auch in den Tischreden zu spüren*'). Ich unterhielt mich ebenfalls länger mit Giscard und sagte, die CDU/CSU sei der Meinung, daß zwischen ihr und den Parteien der französischen Regierangskoalition ein engerer Kontakt hergestellt werden sollte. Giscard begrüßte diesen Gedanken und empfahl, daß ich mit den Ministem seiner Regierang Michel Poniatowski und Jean Lecanuet Verbindung aufnehmen sollte. Im Jahre 1975 unternahm ich zwei Reisen nach Paris. Im Januar führte ich Gespräche mit Politikern der Regierangskoalition. Am 24. Januar empfing mich Staatspräsident Giscard d'Estaing. Ich erläuterte ihm die Lage in Deutschland. Die Union, sagte ich, erziele in den Landtagswahlen einen Wahlsieg nach dem anderen. Zwischen Schmidt und Brandt beständen erhebliche Gegensätze: der linke Flügel der SPD, der hinter Brandt stehe, wolle eine andere Politik als Bundeskanzler Schmidt sie verträte. Die ГОР binde sich fest an die SPD. So seien wir genötigt, den Kampf gegen beide zu führen. Hauptthemen der Auseinandersetzung seien die Wirtschaftspolitik, die Haushaltspolitik und die Bildungspohtik. Auch in der Außenpolitik setzten wir eigene Akzente. Wir seien für Entspannung. Ich nähme für mich in Ansprach, bei meinem Besuch in Moskau im Jahr 1965 die Voraussetzungen für die deutsch-sowjetischen Verhandlungen über einen Gewaltverzichtsvertrag gelegt zu haben. Allerdings wollten wir in sich ausgewogene Verträge, bei denen Leistungen und Gegenleistungen in einem adäquaten Verhältnis zueinander ständen. Danach führte ich ein langes Gespräch mit Innenminister Poniatowski, der einen entscheidenden Beitrag zu dem Wahlerfolg Giscard d'Estaings im Mai 1974 geleistet hatte. Er war der Vorsitzende der Républicains Independents, der Partei, aus der Giscard d'Estaing hervorgegangen war. Poniatowski berichtete von den außerordentlich erfolgreichen Kamingesprächen, die Giscard jede Woche vor dem Femsehen veranstaltete.
Walter F. Hahn, West Germany's Ostpolitik: The Grand Design of Egon Bahr, in: ORBIS Bd. 16 (1973) S. 8 5 9 - 8 8 0 . « ) Siehe dazu BULLETIN vom 11. JuU 1974 S. 8 4 1 - 8 4 3 . 441
Auch mit Lecanuet sprach ich lange. Er war der Vorsitzende der früheren MRP*®) gewesen, also der Partei, die der CDU/CSU weltanschaulich am nächsten stand. Die Freunde dieser Partei, die jetzt Centre Démocrate hieß, befanden sich in einer schwierigen Lage. Lecanuet hatte als Justizminister ein Gesetz über die Schwangerschaftsunterbrechung vorlegen müssen, was ihm große Kopfschmerzen bereitete. Er definierte den Standpunkt seiner Partei als den der Mitte. Solange die SoziaUsten mit den Kommunisten zusammengingen, komme eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten für das Centre nicht infrage. Ein weiteres Gespräch hatte ich mit Außenminister Jean Sauvagnargues, vor allem über die europäische Einigung. Ich fand, daß Frankreich sich in dieser Frage wieder stärker zu engagieren begann. Auch sah Sauvagnargues einen Ausgleich mit Amerika als notwendig an. Schließlich zeigte er sich enttäuscht über die Haltung des britischen Premierministers Harold Wilson. In allen Punkten konnte ich ihm zustimmen. Zur deutschen Frage sagte er, für Frankreich sei klar, daß die deutsche Nation fortbestehe. Aber könne man, so fragte er, deswegen sagen, daß die Bürger der DDR keine eigene Staatsangehörigkeit besäßen? Ich erläuterte die Rechtslage nach unserer Verfassung. Auch mit dem Vorsitzenden der UDR^'), also der gaullistischen Fraktion in der Nationalversammlung, Claude Labbé, führte ich ein langes und durchaus befriedigendes Gespräch. In der Bewertung der NATO bestanden Meinungsunterschiede, aber in vielen anderen Fragen, insbesondere auch der Ost-West-Beziehungen, stimmten wir überein. Ich suchte Alain Poher auf, den Präsidenten des Senats seit 1968, den ruhenden Pol in der bewegten französischen Nachkriegspolitik. Zweimal war er interimistischer Staatspräsident nach der Abdankung de Gaulles und nach dem Tode von Pompidou gewesen, einer der großen alten Männer Frankreichs und ein zuverlässiger politischer Freund von uns. In meinem Bericht über die Gespräche, den ich vor der Fraktion erstattete, empfahl ich, daß wir mit allen drei bürgerlichen Gruppen in Frankreich einen engen Kontakt pflegen und einen regelmäßigen Meinungsaustausch organisieren sollten. Am 23. Januar 1975 hielt ich in Paris eine Rede vor der Union Interallié über das Thema „Die Einigung Westeuropas und die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten"^'). Mein Leitgedanke war, daß die westeuropäische Einigung den Vorrang vor der Entwicklung der Beziehungen zur Sovvfjetunion und zu anderen osteuropäischen Ländern haben müsse. Die westeuropäische Einigung sei das große historische Ereignis der Nachkriegszeit, von ihr würden mit Sicherheit positive Wirkungen auch auf die Beziehungen zu Osteuropa ausgehen. Mein zweiter Besuch in Paris fand im Mai 1975 zusammen mit Richard Stücklen statt. Diesmal standen Kontakte mit den Freunden von der UDR im Mittelpunkt. Ich führte ein freundschaftliches Gespräch mit Couve der Murville, der jetzt Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses der Nationalversammlung Mouvement Républicain Populaire. Union Démocratique Républicaine. " ) Siehe BUNDESTAGSREDEN S. 1 8 6 - 1 9 6 . 442
war, und wieder ein langes Gespräch mit Labbé. Er wünschte, daß die Europäer gegenüber den USA eine selbständigere und unabhängigere Rolle spielen sollten. Ich sagte, auch ich hielte das im Prinzip für erstrebenswert, allerdings möge Labbé unsere besondere Lage bedenken. Wir hätten, anders als Frankreich, keine eigenen Atomwaffen, dafür ständen — auch anders als in Frankreich — sowjetische Truppen an der innerdeutschen Grenze und Berlin sei von ihnen eingeschlossen. Dies mache ein enges Zusammengehen mit Amerika für uns nötig. Labbé und ich vereinbarten engere Kontakte zwischen unseren Parteien. Wir wollten uns zweimal im Jahr treffen und unsere Parteitage wechselseitig besuchen. Poher, den ich anschUeßend aufsuchte und davon unterrichtete, zeigte sich mit diesem Arrangement voll einverstanden. Den Höhepunkt dieses Parisbesuches bildete ein Empfang des Premierministers Jaques Chirac, bei dem es zu einem freundschaftlichen Meinungsaustausch und zur Bestätigung meiner Absprachen mit Labbé über die Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien kam. Ebenso wie mit den französischen Freunden pflegte ich die Kontakte mit den britischen Freunden. Hier war die Lage einfacher. Mit der britischen Labour Party gab es wenige Berührungspunkte, dafür um so mehr mit den Konservativen. Gleich nach meiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden im Mai 1974 hatte ich an meinen guten Freund Edward Heath geschrieben. Er hatte sich größte Verdienste um das Zusammenkommen des britischen EWG-Beitritts erworben, und wir waren uns aus diesem Anlaß häufig begegnet. Seit 1970 war er britischer Premierminister (bis 1974). Ich schrieb ihm, daß ich zum Oppositionsführer im Deutschen Bundestag gewählt worden sei und bat ihn, angesichts seiner langen Erfahrungen, auch in der Opposition, um gute Ratschläge. Er schrieb mir einen sehr freundlichen Brief und begann ihn mit dem Satz, sein erster Ratschlag sei, gehe niemals in die Opposition (never get into opposition). Ein Jahr später war freilich auch seine Regierungszeit zu Ende. Die Konservativen verloren die Wahlen 1974 und gingen, zunächst unter seiner Führung, und vom Februar 1975 an unter Führung von Margaret Thatcher, in die Opposition, was zu einem fast tragischen, über ein Jahrzehnt andauerndem, persönlichen Zerwürfnis zwischen Heath und Margaret Thatcher führte. Im November 1975 besuchte ich, begleitet von Hans Neusei und Eduard Ackermann, London. Ich führte ein langes Gespräch mit Mrs. Thatcher, die ich als eine kluge, versierte und vor allem als eine tatkräftige, kämpferische Politikerin kennen und schätzen lernte. Bei einem Abendessen hielt ich eine längere Rede über mein Verständnis von der Oppositionsrolle in der parlamentarischen Demokratie, die meinen britischen Gastgebern gut gefiel^®). In der Ablehnung des Sozialismus, der den Menschen zu einem Werkzeug des staatlichen und gesellschaftlichen Systems mache und ihm daher die versprochene Freiheit nicht gewähre, waren vnr uns einig.
Text der unveröffentlichten Rede nicht ermittelt.
443
Zugleich lernte ich viel über die Organisation der Konservativen Partei im Unterhaus. Der Chief Whip Humphrey Atkins erläuterte sie mir. Vierzehn sogenannte Whips (Einpeitscher) sorgen dafür, daß die Fraktion im Sinne der Parteiführung abstimmt. Die Whips werden gut bezahlt. Jeder betreut zwischen zwanzig und vierzig Abgeordnete. Gelingt es einem Whip mehrfach hintereinander nicht, seine Abgeordneten bei der Stange zu halten, verliert er seinen Job. Es ist eine geniale, freilich auf die deutschen Verhältnisse nicht übertragbare Konstruktion. Auch mit führenden Mitgliedern der Regierung führte ich Gespräche. Schatzkanzler Denis Healey, den ich von vielen Königswinterer Konferenzen gut kannte und mit dem ich seitdem befreundet war, und Außenminister James Callaghan empfingen mich. Ich erläuterte den Standpunkt der Union zur Außenpolitik, ähnlich wie ich es in Amerika und in Frankreich getan hatte. Die außerordentlich höfliche, fast herzliche Atmosphäre, die bei diesen Gesprächen herrschte, ist mir in bester Erinnerung geblieben. Callaghan wairde nach dem Rücktritt Wilsons, im März 1976, britischer Premierminister. Ich habe seine Umsicht, seine Stetigkeit und Standfestigkeit mehrfach bewoindert. Kurz nach meiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU wurde ich aufgefordert, dem Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa, dem sogenannten Monnet-Komitee, beizutreten. Es handelte sich um einen inoffzielllen Zusammenschluß führender Politiker und Gewerkschaftler aus den sechs EWG-Staaten, den Jean Monnet nach dem Scheitern der EVG 1955 ins Leben gerufen hatte®"). An dem Zustandekommen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft im Jahre 1957 hatte das Komitee einen wichtigen Anteil, ebenso wie an der weiteren Entwicklung des Integrationsprozesses nach 1957. Immer wenn Schwierigkeiten auftraten, suchte Jean Monnet die maßgebenden Politiker in den sechs Mitgliedsstaaten auf und entvwckelte, gestützt auf das Votum seines Komitees, einen Lösungsvorschlag. Monnets Stärke lag in seiner überragenden UrteUskraft, seinem Engagement für Europa, seiner Beharrlichkeit und Geduld und seinem Weitblick. Er konnte, wie wenige Menschen, andere Menschen überzeugen. Dabei blieb er persönlich bescheiden und drängte sich nicht in den Vordergrund. Sein Mitarbeiter, dem ein entscheidender Anteil an Jean Monnets Lebenswerk zukommt, war der Holländer Max Kohnstamm, der später in den achtziger Jahren das Monnet-Komitee erneut ins Leben rief, nachdem es jahrelang seine Tätigkeit eingestellt hatte. Ich kannte Jean Monnet schon aus der Zeit, als ich Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war. Einige seiner Aussprüche haben sich mir tief eingeprägt: „Wir haben nichts zu fürchten — außer der Furcht." Oder: „Die Menschen akzeptieren den Wechsel nur unter dem Zwang der Notwendigkeit, und nur in der Krise sehen sie das Notwendige." Immer wieder kam er auf die Bedeutung der Institutionen zu sprechen: „Die Menschen kommen und vergehen, aber die InVgl. dazu und zum folgenden Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, Münc h e n - W i e n 1978 S. 513 ff. 444
stitutionen bleiben. Auf ihnen beruht der Fortschritt der Zivihsation." So trat er mit Nachdruck für starke europäische Institutionen ein. Entscheidend war dabei seine Überzeugung, daß die Einigung Europas dem Frieden diente. „Europa zu schaffen, das heißt den Frieden schaffen", sagte er. Ich habe es mir als große Ehre angerechnet, daß ich dem Monnet-Komitee von 1973 bis zu seinem Ende 1976 angehören durfte und den großen ahen Mann in seinem unermüdlichen Einsatz für Europa unterstützen konnte. Monnet starb 1979 im Alter von neunzig Jahren. Drei Jahre zuvor hatte der Europäische Rat ihm den bisher einmaligen Titel „Ehrenbürger von Europa" übertragen. 1988 wurden seine Gebeine in das Pantheon in Paris überführt. Frankreich ehrte damit einen großen Staatsmann unserer Zeit. Im Oktober 1974 stattete ich der Kommission der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel einen offiziellen Besuch ab. Ich führte Gespräche mit dem Präsidenten der Kommission François-Xavier Ortoli und mit den Kommissionsmitgliedem Sir Christopher Soames und Wilhelm Haverkamp. In Brüssel setzte ich mich, ebenso wie bei vielen anderen Gelegenheiten, dafür ein, daß die Kommission bei den EG-Gipfelkonferenzen eine aktivere Rolle spielen konnte. Außerdem forderte ich die Direktwahl des Europäischen Parlaments. Die öffentliche Kritik von Bundeskanzler Schmidt an der Brüsseler Kommission vdes ich zurück. Ein weiterer, wichtiger Bereich, in dem sich ein europäischer Zusammenschluß vollzog, betraf die politischen Parteien. Im Juh 1976 berichtete von Hassel der Fraktion über die Gründung der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der sich Parteien aus sieben der EWG angehörenden Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Irland) zusammengeschlossen hatten^^). Von Hassel selbst hatte daran einen großen Anteil, wofür ich ihm den Dank der Fraktion aussprach. Von Hassel erläuterte ausführlich die Probleme: In den Niederlanden gäbe es allein drei christliche Parteien, die schwer unter einen Hut zu bringen seien. Für andere Länder sei das Wort christlich im Parteinamen nicht akzeptabel, um so mehr verdienten die Bemühungen um die Gründung der EVP Dank und Anerkennung. Den Vorsitz hatte der belgische Christdemokrat Leo Tindemans übernommen. Kurze Zeit nachdem ich zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion gewählt worden war, fand der Besuch des damaligen Generalsekretärs der KPdSU Leonid Breschnew in Bonn statt (18. Mai bis 22. Mai 1973)®^). Auf unsere Bitte empfing Breschnew eine Delegation unserer Fraktion, der außer mir Gerhard Schröder und, soweit ich erinnere, Strauß, Stücklen und Marx angehörten. Die Unterredung verlief in ruhiger und sachlicher Atmosphäre. Breschnew begann damit, daß er scherzhaft sagte, ein Gespräch mit einer Oppositionspartei sei für ihn ein neuartiges Erlebnis. Er hätte darin keine Erfahrung. Worauf Schröder geistesgegenwärtig antwortete: „Herr Generalsekretär, Sie sollten davon ausgehen, daß Zum Gründungsbeschluß auf der Tagung der Parteienvertreter am 12. und 13. Juni 1976 vgl. Archiv der Gegenwart 1976 S. 20289. η Vgl. dazu BULLETIN vom 22. Mai 1973 S. 5 6 1 - 5 8 0 .
445
die Opposition von heute die Regierang von morgen sein wird." Breschnew vertiefte das Thema dann nicht weiter. Ich legte dar, daß die CDU/CSU den Moskauer-Vertrag und die übrigen Ostverträge, die die Bundesregierang geschlossen habe, als völkerrechtlich verbindliche Verträge ansähe, obwohl wir gegen sie gestimmt hätten. Auch unterstützten wir die Bemühungen um Entspannung im Ost-West-Verhältnis, sei es im politischen, militärischen, wirtschaftlichen und vor allem auch humanitären Bereich. Im Rahmen dieser Entspannungspolitik suchten wir nach einer Lösung der Deutschen Frage. Mit der Teilung Deutschlands könnten wir uns auf Dauer nicht abfinden. Wir stimmten in dieser Beziehung mit der Bundesregierang überein, die beim Abschluß des MoskauerVertrages im Jahre 1970 bekanntlich erklärt habe, es sei das Ziel der Politik der Bundesrepublik Deutschland, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiederfinde. Soweit ich mich erinnere, erklärte Breschnew, diese Frage müßten die beiden deutschen Staaten miteinander erörtern. Breschnew, der damals 67 Jahre alt war, machte einen frischen, vitalen Eindrack. Er führte das Gespräch in einer verhältnismäßig lockeren, durchaus unverkrampften Form. Drei Jahre später, im Januar 1976, führte ich ein weiteres Gespräch mit den sowjetischen Politikern Alexej Schitikow und Leonid Samjatin. Es verlief völlig negativ. Meine Forderang nach Einbeziehung Berlins in die deutsch-sowjetischen Vereinbarangen lehnten sie ab. Als ich ihnen vorhielt, daß die Unterstützung kommunistischer Kräfte in Angola durch die Sowjetunion gegen den Geist der Entspannung verstoße, wie er in der Erklämng von Helsinki niedergelegt worden sei, reagierten sie wütend. 4. Innenpolitische Auseinandersetzungen Wirtschafts- und Finanzpolitik Die Hauptlast der Auseinandersetzung mit der Regierang in Fragen der Wirtschafts-, Finanzen- und Haushaltspolitik trag innerhalb der CDU/CSUFraktion Franz Josef Strauß. Aber auch ich habe in zahlreichen Reden zwischen 1973 und 1976 zu diesem Komplex Stellung genommen. Wir warfen der Regierang vor, sie habe eine Inflationspolitik betrieben und damit die „bratalste und unsozialste Besteuerang des kleinen Mannes vorgenommen". Allein 30 Millionen Sparer hätten 1974 infolge der Geldentwertung Verluste in einer Höhe von 40 Milliarden DM erlitten. Auch die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen müßten inflationsbedingte (sogenannte „heimliche") Steuererhöhungen auf sich nehmen, da sie mit steigendem Nominaleinkommen infolge der Steuerprogression höher besteuert würden, ohne daß ihr Realeinkommen entsprechend steige. Die CDU/CSU verlangte daher den Abbau der inflationsbedingten Steuererhöhungen. Statt dessen erklärte die Bundesregierang 1975, daß eine Erhöhung der Mehrwertsteuer notwendig sein würde und das, obwohl Helmut Schmidt noch ein Jahr zuvor erklärt hatte, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre Betrag am kleinen Mann. 446
Wir pflegten die Zahlen des Jahres 1969, als die Union die Regierung an die sozial-liberale Koalition abgab, mit den Zahlen des Jahres 1974 zu vergleichen und kamen dabei zu folgenden Feststellungen: Der Bundeshaushalt 1969 wies einen Überschuß von 1,7 Milliarden DM auf, der von 1974 hatte ein Defizit von 22 Milliarden DM. 1969 lag die Preissteigerungsrate bei 2 Prozent, 1974 bei 7 Prozent. Das Bruttosozialprodukt stieg 1969 real um 8 Prozent, 1974 um 0,4 Prozent. Die Arbeitslosenquote lag 1969 bei 1 Prozent, 1974 bei über 5 Prozent. Im Mai 1976 überschritt die Zahl der Arbeitslosen 1 Million. Die Bundesregierung verwies zu ihrer Entlastung auf die weltweite Rezession und Inflation als Folge der Ölkrise, aber wir hielten ihr die hausgemachten Ursachen der Inflation in der Bundesrepublik Deutschland entgegen. Dazu gehörte vor allem die Aufblähung der öffentlichen Haushalte. Den Rücktritt ihrer beiden Finanzminister Alex Möller (1971) und Karl Schiller (1972) - sie wollten die übermäßigen Steigerungen der Haushalte nicht mittragen —, hatte sich die SPD/roP-Regierung nicht zur Warnung dienen lassen. Die Haushalte stiegen weiter überproportional an. Allein 1971 wuchs der Bundeshaushalt um 13 Prozent, 1974 nahm er um weitere 9 Prozent bei stagnierendem Bruttosozialprodukt zu. Die Staatsquote, d. h. der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt, erhöhte sich zwischen 1970 und 1975 ständig. Die Zahl der Bediensteten im öffentlichen Dienst stieg in der gleichen Zeit um 16 Prozent, die Zahl der Beschäftigten in der Wirtschaft dagegen nur um 4 Prozent. „Je mehr Staat, desto besser" lautete, so sagten wir, die sozialistische Parole. In Wahrheit sei das Gegenteil richtig. Bei unserer Argumentation konnten wir uns auf den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stützen, der die Mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung im Jahre 1973 kritisiert hatte®'). Alle diese hausgemachten Ursachen unserer vwrtschaftlichen Schwierigkeiten hätten mit der Weltviartschaftskrise nicht das geringste zu tun. Als besonders gravierendes Beispiel einer unverantwortlichen Inflationsmentalität erwähnten wir die Tatsache, daß die öffentlichen Hände in den Tarifverhandlungen mit der ÖTV im Jahre 1971 einer Lohnerhöhung von 11 Prozent zugestimmt hätten und damit zum Schrittmacher der Lohnerhöhungen in den übrigen Wirtschaftszweigen geworden seien. Die von der Regierung betriebene Politik der Aufblähung der öffentlichen Haushalte ging einher mit einer Verteufelung der Unternehmertätigkeit durch die neomarxistische Linke. In zahlreichen Schulbüchern wurden die Unternehmer als Ausbeuter diffamiert. Jochen Steffen, ein führender Sozialdemokrat in Schleswig-Holstein, hatte gefordert, die Belastbarkeit der Wirtschaft zu testen. Hier allerdings mußte positiv angemerkt werden, daß Helmut Schmidt im Bereich der beruflichen Ausbildung die großen Leistungen der ausbildenden Wirtschaft anerkannte, im eindeutigen Gegensatz zu vielen seiner Parteifreunde, die heftige Angriffe gegen das System der dualen Ausbildung richteten.
Jahresgutachten 1973 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschafüichen Entwicklung (BT-Drs. 7/1273 vom 22. Nov. 1973 S. 1 - 2 7 6 , hier S. 77 ff.). 447
In unserer Auseinandersetzung mit der Regierung forderten wir eine sparsame Haushaltspolitik und den Abbau der inflationsbedingten Steuer. Wir erklärten dabei unsere Bereitschaft eigene Anträge, die Mehrausgaben zur Folge hatten, zurückzuziehen. Wir legten auch dar, daß die steigende Arbeitslosigkeit inflationsbedingt sei. Das Argument von Schmidt „lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit" habe sich als grundfalsch erwiesen. Tatsächlich habe, so sagten wir, eine längere Phase der Inflation Arbeitslosigkeit zur Folge. Auch in dieser Frage hatten wir den Sachverständigenrat auf unserer Seite. Er sagte im November 1975 sinngemäß, es sei falsch zu glauben, man könnte einem Beschäftigungsrisiko ausweichen, wenn man der Inflation ihren Lauf Ueß®^). Indessen verhielten wir uns in der wirtschafts- und haushaltspolitischen Auseinandersetzung mit der Regierung nicht nur ablehnend. Wir stimmten dem 17. Rentenanpassungsgesetz zu, durch das die jährliche Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung vollzogen wurde'®) und erhoben auch keine Einwendungen gegen das Sonntagsfahrverbot, das die Regierung erlassen hatte®®), um Einsparungen auf dem Mineralölsektor durchzusetzen. Auch erkannten wir an, daß vom Frühjahr 1976 an eine Besserung der Konjunktur festzustellen war, beharrten jedoch darauf, daß diese Aufschwungstendenz infolge einer viel zu spät einsetzenden Inflationsbekämpfung verzögert worden sei.
Fragen der Bildungspolitik und Auseinandersetzung mit der neomarxistischen Linken In die Debatten im Plenum zu Fragen der Bildungspolitik griff ich sehen selbst ein. Die Vertretung des Standpunktes der Unionsparteien lag in den Händen unserer Kollegen Pfeifer und Gölter, die ihre Aufgabe hervorragend bewältigten. Das galt vor allem für die Diskussion über das Hochschulrahmengesetz®'). Wohl nahm ich im Mai 1976 zu den Zielvorstellungen der sozialdemokratischen Bildungspolitiker insgesamt Stellung®®). Danach sollten bis 1980 50 Prozent der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs das Abitur machen und 25 Prozent studieren. Ich warnte vor einer derartigen Entwicklung. Es sei eine Illusion
Jahresgutachten 1975 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (BT-Drs. 7/4326 vom 24. Nov. 1975 S. 1 - 2 9 6 , hier S. 153). " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 86 S. 5346B (20. Febr. 1974). - Gesetz vom 1. April 1974 (BGBl. I S. 821). Siehe „Verordnung über Fahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen für Motorfahrzeuge" vom 19. Nov. 1973 (BGBl. I S. 1676). " ) Zur zweiten und dritten Beratung am 12. Dez. 1974 siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 90 S. 9 2 9 1 A - 9 3 3 5 A und 9 3 3 6 A - 9 3 6 5 C . - Gesetz vom 26. Jan. 1976 (BGBl. I S. 185). '") Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 98 S. 1 6 8 0 5 C - 1 6 8 0 6 B (11. Mai 1976). 448
zu glauben, daß nur Akademiker dafür bestimmt seien, führende Stellungen im Staat und in der Gesellschaft einzunehmen. Absolventen der in unserem Lande vorbildlichen berufhchen Bildung seien dazu gleichfalls in der Lage. Vor allem aber warnte ich davor, den jungen Menschen einzureden, daß ihr Glück und ihre Selbstentfaltung nur durch ein akademisches Studium verwirklicht werden könnte. Ich stellte den jungen Handwerker oder Kaufmann, der mit Anfang 20 seine Ausbildung abgeschlossen hatte, der im Selbstgefühl des erlernten Berufes daran gehen könne, sich eine Existenz aufzubauen, dem jungen Akademiker gegenüber, der mit 30 noch keinen Abschluß seiner Ausbildung zustande gebracht habe und dessen Berufsaussichten ungewiß seien. Keinesfalls sei das eine erstrebenswerte Lösung. In diesem Zusammenhang plädierte ich nachdrücklich für die Förderung der beruflichen Bildung. Mein stärkster persönhcher Einsatz als Fraktionsvorsitzender der CDU/ CSU galt der Auseinandersetzung mit der neomandstischen Linken, die sich ebenfalls zum großen Teil im Bildungsbereich abspielte. Die Linke erstrebte mit ihren Thesen, daß der Bürger manipuliert würde und einem permanenten Konsumterror ausgesetzt sei, eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft. In vielen Reden zur Lage der Nation, zur Regierungspolitik, im Rahmen der Haushaltsdebatten und bei anderen Gelegenheiten habe ich das Thema aufgegriffen. Ich sah in der Aktivität der neomarxistischen Linken eine Gefahr für unser Land. Eingehend setzte ich mich mit der sogenannten kritischen oder emanzipatorischen Erziehungstheorie auseinander, deren Ziel die Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaft sei. Dazu unternähme sie den Versuch, die bestehenden Strukturen unserer Gesellschaft aufzubrechen und sie als Formen der Ausbeutung zu verteufeln. Kinder sollten schon dazu gebracht werden, die Zwänge zu nennen, denen sie täglich ausgesetzt seien, und daraus zu folgern, wie groß die Diskrepanz zwischen dem freiheitlichen Bekenntnis unserer Gesellschaft und der wirklichen Lage sei. Jeder Hinweis auf den freien Charakter unserer Verfassungsordnung fehle. Mit anderen Worten, die Kinder würden zu Gegnern unserer freiheithchen Demokratie erzogen. Meine Kritik richtete sich besonders gegen die sogenannten Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach Gesellschaftskunde, die in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen (hier hießen sie Handreichungen) von den zuständigen Kultusministerien erlassen worden waren. Sie zeichneten sich eindeutig durch eine neomarxistische Handschrift aus. Konflikt wurde als das Grundmuster des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sei es in der Familie, im Betrieb oder in der Gesellschaft insgesamt, bezeichnet. Als Mittel zur Lösung dieser Konflikte wurde die Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen genannt. Die freiheitliche Grundordnung unserer Verfassung vnirde ignoriert. Unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft vioirde als System der Monopolkapitalisten, die Unternehmer wurden als Ausbeuter angeprangert. Die Professoren Thomas Nipperdey und Hermann Lübbe, beide Sozialdemokraten, die die Richtlinien begutachtet hatten, kamen zu dem Ergebnis, daß sie in Teilen verfassungswidrig seien. Ihr 449
Ziel sei die Ablösung unserer staatlichen Ordnung durch ein spätmarxistisches System®®). Über die familienpolitischen Abschnitte der Richtlinien sagte Nipperdey: „Solche politpädagogischen Eingriffe in die Eltem-Kind-Beziehung waren bisher nur von Nationalsozialisten und den Kommunisten bekannt®")." In diesem Zusammenhang zitierte ich mehrfach im Bundestag ein in Niedersachsen zugelassenes Schulbuch®^), welches folgendes Gedicht enthielt: Du sollst Deine Eltern lieben. Wenn sie um die Ecke glotzen, sollst sie in die Fresse rotzen. Die SPD rief mir zu, ich hätte dasselbe Gedicht schon mehrfach vorgetragen. Ich antwortete, ich würde es solange wiederholen, bis jeder Bürger im Lande gehört habe, wie hier in schamloser Weise das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern vergiftet würde. Übrigens änderte der Verlag das betreffende Buch und strich das von mir beanstandete Gedicht. Zugleich schrieb er mir einen empörten Brief, meine Kritik an dem Gedicht beweise, daß ich von moderner Pädagogik keine Ahnung hätte. So waren die Zeiten in der Bundesrepublik Deutschland in der Mitte der siebziger Jahre. In den hessischen Rahmenrichtlinien stand folgender Satz: „Erkennen, daß es Situationen gibt, in denen geklärt werden muß, ob es zur Sicherung oder Verbesserung demokratischer Verhältnisse notwendig ist, formaldemokratische Spielregeln/Rechte vorübergehend außer Kraft zu setzen®^)." Hier wurde also zum Bruch der Gesetze, zu einem Verhalten, das später ziviler Ungehorsam genannt wurde, aufgerufen. In Niedersachsen wmrde ein siebzehnstündiger Grundkurs über Marxismus angeboten. Das dafür vorgeschlagene Lehrmaterial berücksichtigte ausschließUch marxistische und neomarxistische Schriften, angefangen mit dem kommunistischen Manifest von 1848. Nicht ein einziges Buch, das sich kritisch mit dem Marxismus auseinandersetzte, fand sich in dem Literaturverzeichnis. Was da dem Schüler dargeboten wurde, machte ich in einer Rede deutlich, indem ich Passagen aus dem kommunistischen Manifest vorlas®'): „Die Arbeiter haben kein Vaterland," hieß es da. Das sei, so sagte ich, eine ungeheuerliche Beleidigung des Arbeiters. In unqualifizierten Formulierungen würde das Institut der Ehe herabgesetzt. Die Lektüre wirkte so schockierend auf einige Abgeordnete
Thomas Nipperdey, Hermann Lübbe, Gutachten zu den Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I Gesellschaftslehre des hessischen Kultusministers (1972), in: Thomas Nipperdey, Konflikt - einzige Wahrheit der Gesellschaft? Texte Thesen Bd. 48, Osnabrück 1974 S. 112 ff. «·) Ebenda S. 69 f. „Drucksache", Lesebuch für die 8. Klasse der Gymnasien, Pro-Schule-Verlag, Düsseldorf 1974. Rahmenrichtlinien Sekundarstufe! Gesellschaftslehre des hessischen Kultusministers, Wiesbaden 1972 Lemziel 26. " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 86 S. 5171В (15. Febr. 1974) und BUNDESTAGSREDEN S. 109.
450
Abb. 24: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bei seiner Regierungserklärung im Bundestag am 13. Dezember 1966. Karl Carstens als neuer Staatssekretär des Bundesministeriums der Verteidigung auf der Regierungsbank, 2. Reihe, über Willy Brandt. - Vgl. S. 333. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 25; Besuch bei Bundesverteidigungsminister Gerhard Schröder während seines Kuraufenthaltes in Tegernsee, September 1967. — Siehe S. 350. (Foto: Privat)
Abb. 26: Als Chef des Bundeskanzleramtes am Kabinettstisch: von hnks Bundesaußenminister Willy Brandt (SPD), Bundeskanzler K. G. Kiesinger (CDU), Karl Carstens, Bundesinnenminister Ernst Benda (CDU), Sommer 1968. - Vgl. S. 356. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 27: Mit Bundeskanzler Kiesinger beim amerikanischen Präsidenten Richard Nixon (rechts) vor dem Weißen Haus in Washington, August 1969. — Vgl. S. 381. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 28: Als Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn im Gespräch mit dem Geschäftsführenden Stellvertretenden Präsidenten der Gesellschaft, Botschafter a. D. Gebhardt von Waither, Sommer 1970. - Siehe S. 388. (Foto: Privat)
Abb. 29: Als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag während der außenpohtischen Debatte am 3. Oktober 1973, im Hintergrund Willy Brandt, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher. - Vgl. S. 435. (Foto; Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 30: Bei der Rede im Bundestag am 9. Oktober 1975 über die deutsch-polnischen Vereinbarungen. — Siehe S. 438. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 31; Bei der Rede vor dem CDU-Bundesparteitag in Mannheim am 23. Juni 1975. — Vgl. S. 427. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 32: Bundespräsident Gustav Heinemann empfängt am 19. Juni 1973 den neugewählten Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages. — Vgl. S. 424. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 33: Bundestagspräsidentin Annemarie Renger überreicht Karl Carstens am S.Juni 1976 das Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes. (Foto: Privat)
Abb. 34: Als Gast beim CSU-Parteitag in München am 29. September 1973, daneben Marianne Strauß, Franz Josef Strauß. - Vgl. auch S. 429. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 35: Bundeskanzler Helmut Schmidt im Gespräch mit dem Oppositionsführer; im Vordergrund Altbundeskanzler Ludwig Erhard mit Bundesminister a. D. Heinrich Windelen, im Hintergrund Bundesminister a. D. Hans Katzer. — Vgl. S. 425. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
тЗсйип •Sc
Abb. 36: Die drei Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag bei einer Dikussionsveranstaltung des ZDF 1974; von links W o l f g a n g Mischnick (ГОР), Karl Carstens (CDU/CSU), Herbert W e h n e r (SPD). (Foto: Privat)
Abb. 37: Im Landtagswahlkampf in Niedersachsen im Mai 1974. Privat)
Vgl. S. 434. (Foto:
Abb. 38: Im Gespräch mit d e m a m e r i k a n i s c h e n Präsidenten Gerald Ford bei e i n e m Besuch in Bonn im Juli 1975. - Siehe S. 436. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 39: Als Präsident des Deutschen Bundestages im Herbst 1976. - Vgl. S. 476. (Foto: Deutscher Bundestag)
Abb. 40: Karl Carstens unterzeichnet zusammen mit dem Generalsekretär der Interparlamentarischen Union (IPU), Pio Carlo Terencio, das offizielle Protokoll der IPUTagung vom 5. bis 14. September 1978 in Bonn. - Siehe S. 493. (Foto: Privat)
Abb. 41 : Empfang des Bundespräsidenten im Schloß Augustusburg in Brühl anläßlich des Staatsbesuchs der britischen Königin am 22. Mai 1978. Von links: Bundestagspräsident Carstens, Frau Carstens, Bundespräsident Walter Scheel, Königin Elisabeth II., Prinz Philip. (Foto: Bundesbildstelle Bonn)
Abb. 42: Auf der „Fair Play", 1973. - Vgl. S. 331. (Foto: Privat)
Abb. 43: Im Gespräch mit Schülern, 1977. (Foto: Deutscher Bundestag)
Abb. 44: Beim Besuch in Munsterlager am 24. November 1978. — Vgl. S. 514. (Foto: Bundesarchiv)
Abb. 45: Bei der Podiumsdiskussion über die „Demokratie in unserem Lande" am 1. Oktober 1978. - Siehe S. 516. (Foto: Bundesarchiv)
Abb. 46: Mit Ehefrau Veronica auf dem Hof des Vetters Fritz Mackeprang auf Fehmarn, 1973. - Siehe S. 324. (Foto: Privat)
Abb. 47: An der Ruderpinne mit seinem Vetter Richard Henneberg, Sommer 1978. — Vgl. S. 656. (Foto: Privat)
der SPD, daß mir mein Kollege Schäfer zurief, ich sollte mich doch an den Originaltext halten. Er hatte gar nicht gemerkt, daß alles Originaltext kommunistisches Manifest war, was ich vorgelesen hatte. Bei einer Debatte im Bundestag, an der auch mehrere Kultusminister der Länder beteiligt waren, sprach sich von Oertzen (Niedersachsen) für eine Verstaatlichung der Banken aus"). Er bezog sich dabei auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der unter anderem die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vorsieht und vertrat den Standpunkt, daß Banken Produktionsmittel im Sinne dieses Artikels seien. Darauf kam prompt ein Zwischenruf des witzigen und scharfzüngigen CDU-Abgeordneten Lothar Haase (Kassel): „Bei Ihnen ist die Heilsarmee auch eine Armee, nicht?" Sehr wirkungsvoll unterstützte mich in den Debatten über die Rahmenrichtlinien meine Kollegin Frau Ursula Benedix. Sie sagte, diese Richtlinien leisteten der Erziehung revolutionärer Fanatiker oder revolutionärer Träumer Vorschub. Mit Sorge verfolgte ich auch die zunehmenden antiamerikanischen und Anti-NATO-Tendenzen in Teilen der SPD. Als Brandt in einer Rede die NATO lobte, hielt ich ihm die Ausführungen der Vorsitzenden der Jusos, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, vor. Diese habe gesagt: „Wir sind der Meinung, daß das NATO-Bündnis 1. einer Absicherung von Kapitalinteressen speziell der USA dient und 2. eine ständige Bedrohung für sozialisüsche Entvdcklungen in Westeuropa darstellt." Brandt verzichtete auf eine Erwiderung in der Sache, sondern nannte meine Rede „mies demagogisch"®^). Als ein Jahr später Bundeskanzler Schmidt in einer Rede am 13. März 1975 sagte, daß es noch nie auf deutschem Boden so viel Freiheit für uns Deutsche gegeben habe®®), rief ich ihm zu, das solle er doch einmal seinen sozialdemokratischen Freunden in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sagen, die für die Gestaltung des Unterrichtsfachs Gesellschaftskunde verantwortlich seien®'). Große Sorge bereiteten mir die Verhältnisse an manchen Universitäten und ich sprach darüber im Bundestag®®). Ich bezog mich auf den Bremer Professor Imanuel Geiss, der über die Situation an seiner Universität sagte, viele Professoren und auch Studenten hätten Angst, gegen die linken Gruppen Stellung zu beziehen. Er selbst, der 1970 den Ruf nach Bremen angenommen hätte, komme sich wie ein nützlicher Idiot für Kräfte vor, von denen er vorher nichts gewußt habe. Von Kennern der Situation wurde die Universität Bremen damals als eine marxistisch-leninistische Kaderschule bezeichnet. Das führte mich zu einem weiteren zentralen Thema der Auseinandersetzung, nämlich der Beschäftigung
" ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE STENOGRAPHISCHE BERICHTE STENOGRAPHISCHE BERICHTE «') Ebenda S. 10833 С und D. " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE DESTAGSREDEN S. 1 0 6 - 1 1 9 .
Bd. 86 S. 5106 С (14. Febr. 1974). Bd. 87 S. 6246 С und D (2. April 1974). Bd. 92 S. 10732 C. Bd. 86 S. 5 1 6 9 D - 5 1 7 5 C (15. Febr. 1974) und BUN-
451
von Mitgliedern der DKP im Staatsdienst. Ich vertrat den Standpunkt, daß Angehörige von Organisationen, die den freiheitlichen Rechtsstaat ablehnten, nicht Beamte werden dürften. Die DKP wolle nach ihrem Programm den Sozialismus nach dem Muster der DDR in der Bundesrepublik Deutschland einführen. Das sei mit den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Ordnung unseres Staates unvereinbar. Angehörige der DKP könnten daher nicht Beamte werden. Demgegenüber nahm der Bundesminister des Inneren, Werner Maihof er, eine merkwürdige, und wie ich fand, gespaltene Position ein. Er gab zu, daß die Ziele der DKP mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, aber das bedeute nicht, daß auch jedes Mitglied der DKP solche Ziele verfolge. Auf der Grundlage dieser Argumentation gingen einige Bundesländer, so Hessen und Bremen, dazu über, Kommunisten als Lehrer einzustellen. Hier konnte ich auf den Leiter des Hamburgischen Amtes für Verfassungsschutz, Hans-Josef Horchem, einen sozialdemokratischen Beamten, verweisen, der diese Praxis als besonders gefährlich bezeichnet hatte. An die SPD stellte ich die Frage, wie sie ihr Verhältnis zu den Kommunisten sähe. Offiziell untersagte sie ihren Mitgliedern die Zusammenarbeit mit den Kommunisten, aber in der Praxis geschehe laufend das Gegenteil. An der Bremer Universität gäbe es eine Gemeinschaftsliste der Hochschullehrer, in der Mitglieder der SPD, der DKP und der Stamokap nebeneinander kandidierten. Der schon erwähnte Jochen Steffen habe ein Zusammengehen mit der DKP im Kampf gegen den Hauptfeind, die kapitalistischen Monopolherren, gefordert. Femer fragte ich die SPD auch geradeheraus, ob sich Mitglieder als Sozialdemokraten oder als Sozialisten ansähen. Dabei konnte ich auf merkwürdige Widersprüche hinweisen. Während Helmut Schmidt erklärt hatte, er sei Sozialdemokrat und nicht Sozialist, hatten sich andere Sozialdemokraten ohne Einschränkung als Sozialisten bezeichnet. Die Politik der Unionsparteien sei es, entsprechend den liberalen Grundsätzen unserer Verfassung, auch den Verfassungsgegnem Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Teilnahme an den Wahlen zu garantieren, aber gleichzeitig mit allen rechtsstaatlich zulässigen Mitteln die Meinungsfreiheit der anderen gegenüber denjenigen zu verteidigen, die sie uns wegnehmen wollten. Ich erinnerte die Kollegen im Bundestag daran, daß unser Grundgesetz nicht nur als eine liberale, sondern auch, anders als die Weimarer Republik, als eine wehrhafte Demokratie konzipiert worden sei. Bei dieser Auseinandersetzung ging ich auch auf die Rolle der ГОР ein. Sie trage eine klare Mitverantwortung für die neomarxistischen Rahmenrichtlinien in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, da sie in diesen Ländern, ebenso wie im Bund und in anderen Ländern, Seite an Seite neben den Sozialdemokraten stände. Auch in der Frage der Übernahme von Kommunisten in den Staatsdienst näherten sich Teile der ГОР dem Standpunkt der SPD an. Die Hamburger ГОР habe Kommunisten als kritische Demokraten bezeichnet. Die Jungdemokraten in Dortmund hätten sogar eine Volksfront aller Gegner der kapitalistischen Kräfte gefordert. Diese Feststellung führte mich zu der Schlußfolgerung, daß CDU und CSU die einzige politische Kraft seien, die entschlossen und geschlossen dem Vor452
dringen freiheitsfeindlicher Kräfte entgegenträte. Ich wurde wegen dieser Äußerung heftig angegriffen, aber ich fand, daß ich den Beweis für ihre Richtigkeit erbracht hatte. Auch der Wahlkampf slogan der Unionsparteien für 1976 „Freiheit statt Sozialismus" fand, wie ich meinte, in der politischen Situation jener Zeit seine Berechtigung. Terrorismus In den Jahren nach 1973 machte sich der Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal als Phänomen bemerkbar. Am 10. November 1974 wurde der Präsident des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann, von Terroristen erschossen. Am 27. Februar 1975 entführten Terroristen den Vorsitzenden der Berliner CDU Peter Lorenz. Am 5. März wTirde er wieder freigelassen, nachdem seine Entführer die Freilassung von fünf zu Haftstrafen verurteilten Terroristen durchgesetzt hatten. Die Entführer und die Freigelassenen wurden in Begleitung des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Heinrich Albertz in den Jemen ausgeflogen®®). Junge Menschen, durch einen fanatischen Haß gegen die Gesellschaftsordnung der BundesrepubUk geeint, versuchten, mit Hilfe von Geiselnahme und Mord, durch Sprengstoffanschläge und andere Gewaltakte, die bestehende Ordnung zu erschüttern. Sie gingen dabei mit den klassischen Mitteln der Konspiration äußerst geschickt und erfolgreich vor. Einige von ihnen waren offenbar im Ausland geschult worden. Immer wieder woirde die Frage gestellt, ob der Nährboden für den Terrorismus durch die sich ausbreitende Agitation der neomarxistischen Linken bereitet worden sei. Immerhin gab es Hinweise, die in diese Richtung deuteten. Wieder war es Jochen Steffen, der das Stichwort lieferte. Er hatte einmal gesagt, daß die Zielvorstellungen der Anarchisten sympathisch seien. Auch die Bemerkung in den Rahmenrichtlinien für Gesellschaftskunde des Landes Nordrhein-Westfalen, die unter bestimmten Bedingungen die vorübergehende Außerkraftsetzung formaldemokratischer Spielregeln gefordert hatten, konnten als Aufforderung zur Gewaltanwendung 1п1ефге11ей werden. Dennoch klaffte zwischen diesen Äußerungen und den brutalen Gewalttaten der Terroristen ein großer Unterschied. Ich habe mich daher nicht entschließen können, die neomarxistische Linke für die Terrorgruppen direkt verantwortlich zu machen, auch wenn es zwischen ihnen gleitende Übergänge in der sogenannten Sympathisantenszene gab. Der bis dahin schwerste Schlag des Terrors gegen die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ereignete sich im April 1975 in Stockholm. Eine Gruppe von deutschen Terroristen besetzte die Deutsche Botschaft, ermordete zwei Botschaftsangehörige, nahm die übrigen als Geiseln und verlangte die
Dokumentation hierzu in Archiv der Gegenwart 1975 S. 19288-19290.
453
Freilassung von 26 Terroristen aus Gefängnissen der Bundesrepublik, darunter des Kerns der Bader-Meinhoff-Bande'"). Bundeskanzler Schmidt bezeichnete in einer Rede im Bundestag den Anschlag als den schwersten Angriff auf unsere freiheitliche Ordnung seit dem Bestehen der Bundesrepublik'*). Wir hätten, so sagte er, den Angriff abgewehrt, sechs Terroristen seien im Gewahrsam, einer sei tot. Die Aktion war durch ein gemeinschaftliches Handeln aller demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland und durch die hervorragende Unterstützung der schwedischen Regierung möglich geworden. Helmut Schmidt selbst hatte sich in dieser Lage wieder einmal als Meister bei der Bewältigung schwerer Krisen bewährt. Ich sprach in der gleichen Sitzung für die CDU/CSU'^). Ich bezeugte den toten Botschaftsangehörigen unsere Ehrerbietung, den Angehörigen unser Mitgefühl und der schwedischen Regierung unseren Dank. Aber ich konnte nicht umhin, auf einige offensichtliche Schwächen in der Behandlung des Terrors in unserem Lande hinzuweisen. Zvwschen allen verhafteten Terroristen bestehe, so sagte ich, ein ausgezeichnet funktionierendes System der Kommunikation, obwohl sie in verschiedenen Haftanstalten untergebracht seien. Alle seien gleichzeitig in den Hungerstreik getreten, um ihre Zusammenlegung zu erzwingen. Urplötzlich hätten alle den Hungerstreik gleichzeitig abgebrochen und mit einem Fitnesstraining begonnen. Offenbar seien sie über den geplanten Anschlag auf die Botschaft in Stockholm unterrichtet worden und hätten sich auf die erhoffte Freilassung vorbereitet. Ja, es sei möglich, daß das Unternehmen Stockholm von den inhaftierten Terroristen initiiert worden sei. Jedenfalls habe einer der Sachverständigen gesagt, daß der sicherste Ort, um in der Bundesrepublik Deutschland eine Terrororganisation zu lenken, eine Gefängniszelle sei. Die Verbindung zwischen den Inhaftierten und die Verbindung zwischen ihnen und der Außenwelt werde offenbar durch Anwälte hergestellt. Ich erklärte, daß dieser Zustand nicht länger hingenommen werden könnte. In einem Femsehinterview, das etwa zur gleichen Zeit stattfand, befaßte ich mich mit dem Phänomen des Hungerstreiks von Häftlingen''). Ich wandte mich dabei gegen die künstliche Zwangsemährung von Häftlingen im Hungerstreik. Die dabei angewandten Zwangsmaßnahmen seien unmenschlich und mit der Würde des Gefangenen nicht vereinbar. Gelegentlich, so sei ich von Beamten der Gefängnisverwaltung unterrichtet worden, komme es bei der künstlichen Zwangsernährung, gegen die sich der Häftling nach Kräften wehre, zu Verletzungen der Nasen- oder Rachenschleimhäute, so daß der Häftling stark blute. Ich sagte, man solle dem Häftling dreimal am Tag eine Mahlzeit anbieten. Weise er sie zurück, solle man seinen Willen respektieren, jedenfalls solange der Häftling bei vollem Bewußtsein sei.
™) Dokumentation hierzu in Archiv der Gegenwart 1975 S. 19421-19424. " ) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 93 S. 1 1 7 8 1 D - 1 1 7 8 4 C (25. April 1975).
" ) Ebenda S. 11784 C-11786A und BUNDESTAGSREDEN S. 201-214.
" ) Am 24. Nov. 1974. Vgl. dazu auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Nov. 1974 S. 3 („Carstens erläutert seine Aussagen über Hungerstreikende").
454
Diese meine Äußerang wurde von einigen, auch einigen Freunden in der CDU, als eine unmenschliche Haltung abgelehnt. Aber in der breiten Bevölkerung fand sie große Zustimmung'^). Auf einer Wahlversammlung von tausenden von Menschen in Duisburg sagte mir ein Bergarbeiter, der sich in der Diskussion meldete, „namens der Nachtschicht" volle Unterstützung meines Standpunktes zu. Übrigens wurden in der Folgezeit diese Vorschläge in die offiziellen Richtlinien für die Behandlung von hungerstreikenden Häftlingen übernommen.
Paragraph 218 Das Thema Schwangerschaftsabbruch zog sich fast durch die ganze 7. Legislaturperiode von 1973 bis 1976 hin. Zunächst versuchte die SPD/roP-Koalition die sogenannte Fristenlösung zu verwirklichen, d. h., die Schwangere sollte während der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft frei entscheiden können, ob sie das Kind austragen oder ob sie die Schwangerschaft unterbrechen wollte. Wenn der Eingriff durch einen Arzt vorgenommen wurde, sollten Arzt und Schwangere straffrei bleiben'®). Die CDU/CSU-Fraktion brachte demgegenüber von Anfang an klar zum Ausdruck, daß sie diese Lösung ablehnte. Statt dessen legte sie zwei eigene Entwürfe vor — einen, den die Arbeitsgruppe Innen- und Rechtspolitik erarbeitet hatte und den die Mehrheit der Fraktion unterstützte. Er sah die Möglichkeit der Schwangerschaftsunterbrechung vor im Falle der Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren, oder wenn die Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung eingetreten war'®). Dazu kam ein weiterer Entwurf, der die Voraussetzungen noch enger zog. Er vnirde von den Kollegen Bruno Heck, Gottfried Köster, Norbert Blüm und anderen vorgelegt und fand die Unterstützung von etwa 60 Kollegen der Fraktion"). In der Debatte im Plenum traten die Beiträge der Kollegen Heinz Eyrich, Paul Mikat und Friedrich Vogel sowie des Innenministers Werner Maihofer hervor'®). Es war eine Auseinandersetzung, die in ruhiger, sachlicher Form geführt wurde und die Tiefe der ethischen Problematik erkennen ließ. In Maihofer und Mikat standen sich zwei Professoren der Rechtsphilosophie gegenüber. Mikat sprach von einem tragischen Wertkonfhkt im Bereich elementarer Rechtsgüter. Aber das Selbstbestimmungsrecht der Frau gebe ihr nicht das Recht zu töten. Tief bewegend war für mich eine kurze Rede des Abgeordneten Scheu (SPD). Er legte dar, daß er der Fristenlösung nicht zustimmen könnte und sagte dazu unter anderem folgendes: '*] Vgl. hierzu u. a. den Leserbrief von Karl Carstens in Der Spiegel Nr. 3 vom 13. Jan. 1975 S. 7. '5) BT-Drs. 7 / 3 7 5 vom 21. März 1973. '«) BT-Drs. 7 / 5 5 4 vom 11. Mai 1973. " ) BT-Drs. 7 / 5 6 1 vom 15. Mai 1973. Zu den Beratungen im Plenum am 17. Mai 1973 sowie am 25. und 26. April 1974 siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 83 S. 1 7 6 1 Л - 1 8 4 0 С , Bd. 87 S. 6 3 3 1 B - 6 3 6 1 D , 6 3 8 2 C - 6 4 4 5 C und Bd. 88 S. 6 4 7 0 A - 6 5 0 1 C .
455
„Meine verstorbene und von mir sehr geliebte Mutter war nicht nur ledig, sondern sie war 16 Jahre und 23 Tage alt, als ich zur Welt kam. Meine eigenen 9 Kinder aus erster Ehe sind alle verheiratet und haben mir zusammen 18 Enkelkinder beschert. Über 30 Jahre habe ich viele Ehepaare und ledige werdende Mütter beraten. Ich habe niemals zu einem Abortus raten können. Ich habe allerdings zugleich die innere Verpflichtung auf mich genommen, den Weg solcher Menschen mit Rat und Tat zu begleiten. In allen diesen Fällen ist das, mit einer einzigen Ausnahme, gutgegangen^^)." Aber auch dieser ergreifende Appell konnte nicht verhindern, daß die Fristenlösung in der dritten Beratung im Bundestag die notwendige Mehrheit fand»»). Die CDU/CSU-Fraktion rief dagegen alsbald das Bundesverfassungsgericht an, ebenso wie die Länder Baden-Württemberg, Saarland, Bayern, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein. Das Gericht setzte zunächst in einer einstweiligen Anordnung den Vollzug des Gesetzes aus und erklärte dann durch Urteil vom 25. Februar 1975 die Fristenlösung für verfassungsvwdrig®*). Es handelt sich um eines der bedeutendsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht bUligte dem ungeborenen menschlichen Leben im Mutterleib den Schutz des Artikel 2, Abs. 2, Satz 1 des Grundgesetzes zu („jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit"). Es verpflichtete den Staat, den Ungeborenen vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren. Die Rechtsordnung dürfe nicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur alleinigen Richtschnur in dieser Frage machen, vielmehr müsse sie auch die Mittel des Strafrechts zum Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen. Freilich könne der Gesetzgeber von der Bestrafung absehen, wenn Umstände von erheblichem Gewicht, wie eine schwere soziale Notlage der Mutter, vorlägen. Zwei Bundesrichter, Frau Wiltraut Rupp-von Brünneck und Dr. Helmut Simon, votierten abweichend. Auch sie erkannten die Pflicht des Staates zum Schutz des ungeborenen Lebens an, doch vertraten sie, anders als die Mehrheit des Senats, die Meinung, daß die Verfassung zwar gestatte, zu diesem Zweck das Strafrecht einzusetzen, dies aber nicht zwingend vorschreibe. Vielmehr könne das Schwergewicht auf Maßnahmen im sozialen und gesellschaftlichen Bereich (Aufklärung über Empfängnisverhütung, Hilfe für die Mutter) liegen. Die beiden dissentierenden Richter verwiesen auf eine Reihe anderer Rechtsstaaten, wie Österreich, Frankreich, Dänemark, Schweden, auch Großbritannien, Niederlande und USA, wo ähnliche Regelungen wie die vom Bundestag beschlossene Fristenlösung gelten®^). Nach dem Erfolg, den wir beim Bundesverfassungsgericht erzielt hatten, versuchte die CDU/CSU-Fraktion, mit SPD und FDP eine gemeinsame Basis für einen neuen Entvnirf zu finden. Dieser Versuch scheiterte jedoch. Die Koalition STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 88 S. 6500A (26. April 1974). Ergebnis der namentlichen Abstimmung ebenda S. 6503 D. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 39 S. 1—68. Ebenda S. 6 8 - 9 5 .
456
legte vielmehr eine neue Fassung der §§ 218 ff. StGB vor®'), die schließlich im Bundestag angenommen wurde®*) und bis heute®®) in Geltung ist. Sie sieht vier „Indikationen" vor, das heißt Fälle, in denen ein Schwangerschaftsabbruch angezeigt ist. Dies sind neben der medizinischen, eugenischen und kriminologischen auch die sogenannte soziale Indikation. Danach bleibt der von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch straffrei, wenn dadurch von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abgewendet wird, die so schwerwiegend ist, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann. Freilich schrieb der Entvrarf eine Beratung der Schwangeren vor dem Eingriff zvdngend vor. Die Fraktion der CDU/CSU entschloß sich, einen eigenen Entvmrf einzubringen»®). Er sah in der sozialen Notlage einen Unterfall der medizinischen Indikation. Die soziale Notlage sollte demnach nur berücksichtigt werden, wenn sie eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Gesundheit der Schwangeren erwarten ließ, die auf andere, für sie zumutbare Weise, nicht abgewendet werden konnte. Erst kurz vor Ende der Legislaturperiode, am 6. Mai 1976, fand die Schlußabstimmung im Bundestag statt, nachdem der Bundesrat mit der Mehrheit der von der CDU/CSU regierten Länder Einspruch gegen den Koalitionsentwurf von SPD und ГОР eingelegt hatte®'). Die Koalition setzte ihren Entwoirf durch und lehnte unseren Entwurf ab®®). Die Unions-Fraktion hat ihr Möglichstes getan, um die schließlich getroffene Regelung zu verhindern. Meine Aufgabe war es dabei, eine einheitliche Willensbildung in der Fraktion herbeizuführen. Die eigentliche geistige Leistung in dieser Auseinandersetzung brachten andere Kollegen, deren Engagement und Sachverstand ich rückblickend mit hoher Achtung anerkenne. Ob die Abgeordneten der Koalition, die für ihren Gesetzentwurf stimmten, sich vorgestellt haben, daß mit Hilfe der von ihnen beschlossenen Regelung jährlich etwa 200000 Schwangerschaftsunterbrechungen vorgenommen werden würden, daß also in den nächsten zehn Jahren etwa zwei Millionen ungeborener Menschen getötet werden vdirden, davon die ganz überwiegende Zahl aufgrund einer angenommenen sozialen Notlage der Mütter und das in einem der wohlhabendsten Länder der Welt? Eine wirkliche Tragödie spiegelt sich in diesen Zahlen wieder, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß in der Bevölkerung unseres Landes die Erkenntnis wächst: der menschliche Embryo ist ein mit menschlichen Empfindungen, wie zum Beispiel dem Gefühl der Geborgenheit oder der Angst, ausgestatteter ungeborener Mensch, der unseres Schutzes und unserer Fürsorge bedarf. BT-Drs. 7 / 4 1 2 8 vom 8. Okt. 1975. " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 97 S. 15358B (12. Febr. 1976). - Gesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I S. 1213). Geschrieben 1991. »«) BT-Drs. 7/4211 vom 23. Okt. 1975. " ) BT-SITZUNGSBERICHTE vom 9. April 1976 S. 128 C. ββ) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 98 S. 1 6 6 6 0 C (6. Mai 1976). 457
5. Politischer Kampf mit juristischen Mitteln Aussage vor dem
GuiUaume-Untersuchungsausschuß
Am 10. Oktober 1974 hatte ich vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages, der zur Aufklärung der Spionagetätigkeit von Günter Guillaume eingesetzt worden v*rar, als Zeuge auszusagen. GuiUaume war längere Zeit Persönlicher Referent Bundeskanzler Brandts gewesen, bis er als Angehöriger des DDR-Staatssicherheitsdienstes entlarvt und verhaftet worden war. Das hatte im April 1974 den Rücktritt Brandts ausgelöst. Im Rahmen meiner Aussage führte ich einen Angriff gegen Egon Bahr, der jedoch wegen einer Reihe unglücklicher, zum Teil von mir selbst verursachter Umstände mißlang und der mich in der Folgezeit selbst in große Schwierigkeiten brachte. Seit Jahren hatte ich ein tiefes Mißtrauen gegen Bahr. Ich stellte sein Motiv, die deutsche Teilung zu überwinden, damals nicht in Frage; aber die Wege, die er zu diesem Ziel hin einschlug, hielt ich für gefährlich. Auch zweifelte ich an seiner Aufrichtigkeit. Immer wieder alarmierten mich seine unpräzisen und, wie ich meinte, absichtlich verschwommenen Erklärungen zu deutschlandpolitischen Fragen. Sehr beunruhigt hatte mich ein Gespräch, das Bahr im Jahre 1969 als damaliger Chef des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, also noch in der Zeit der Regierung Kiesinger, mit dem amerikanischen Professor Walter F. Hahn geführt hatte, und über das dieser später berichtete. Dabei hatte Bahr nach meiner Ansicht äußerst bedenkliche und mit der Politik der damaligen Bundesregierung in klarem Widerspruch stehende Vorstellungen entwackelt. Als einen Schritt auf dem Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands hatte er ein europäisches Sicherheitssystem empfohlen, dessen Mitgheder im Osten die DDR, Polen, GSSR und Ungarn, und im Westen die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark und die Beneluxländer sein sollten. Frankreich und Großbritannien sollten dem System nicht angehören. Die territoriale Integrität aller Mitgliedstaaten des Systems sollte von den USA und der Sowjetunion garantiert, jedoch sollten alle amerikanischen und sowjetischen Truppen aus dem Gebiet abgezogen und die NATO sowie der Warschauer Pakt aufgelöst werden. Einen Bericht über dieses Gespräch veröffentUchte Hahn Anfang 1973 in der Zeitschrift „Orbis"®®). Der Bericht wirbelte sehr viel Staub auf. Die Regierung Brandt distanzierte sich zwar von den Vorstellungen Bahrs, aber Hahn insistierte, daß er über sein Gespräch mit Bahr wahrheitsgetreu berichtet hätte. Die CDU/CSU und auch ich selbst sahen sich in ihrem Mißtrauen gegenüber der Ostpolitik Bahrs bestätigt. Wie ein Schlüsselerlebnis hatte auf mich und viele Freunde in der Union eine Bemerkung Bahrs in einer Rede im Bundestag am 24. Januar 1973 gewirkt, in der er gesagt hatte: „Nach den Wahlen war eine politische Entscheidung gefallen, die es ermöglichte, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung zu tragen, daß, wenn möglich, in der Demokratie und in der Politik die Wahrheit gesagt werden Siehe oben S. 440 f. 458
soll. Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelassen hätten, die Wahrheit zu sagen®")." Sollte das ein Freibrief für die politische Lüge sein? Mag sein, daß Bahr sich unglücklich ausgedrückt hatte - es ging um die Frage, ob die DDR ein Staat sei —, aber seine Bemerkung wirkte auf viele — auch auf mich — alarmierend. Schließlich glaubte ich zu wissen, daß Bahr Ostkontakte, die er während seiner Berliner Zeit, also in den sechziger Jahren®^, unterhalten hatte, nicht angegeben hatte, als er während der Großen Koalition 1968/69 von Bundeskanzler Kiesinger nach seinen Ostkontakten gefragt wurde. Diese meine Bedenken gegen Bahr hatte ich im Jahre 1974 in einem kleinen Kreis von Mitgliedern meiner Fraktion geäußert. Dabei war auch die Frage erörtert worden, ob ich darüber im Untersuchungsausschuß Guillaume eine Aussage machen sollte. Ich hatte mich dazu aber nicht abschließend geäußert. Ohne daß ich vorher nochmal verständigt vvoirde, lud mich der Ausschuß auf Antrag seiner CDU-Mitglieder am 10. Oktober 1974 als Zeugen. Das war der erste Fehler, der in dieser Angelegenheit gemacht wurde. Rückblickend hätte ich als Fraktionsvorsitzender, der sich in einer Auseinandersetzung mit dem Bundeskanzler und der Bundesregierung über die Grundfragen der Politik befand, auf einem Nebenschauplatz, nämlich in der Frage, ob Bahr Ostkontakte verschwiegen hatte, selbst nicht aktiv werden sollen. Bei meiner Vernehmung im Ausschuß erklärte ich, daß Bahr Ostkontakte nicht affengelegt habe, als er dazu 1968/69 befragt wurde. Dabei unterlief mir eine gravierende Ungenauigkeit. Die anwesenden Pressevertreter verstanden meine Aussage so, als ob die Ostkontakte Bahrs, über die er keine Angaben gemacht hatte, in jener Zeit 1968/69, also zur Zeit der Großen Koalition stattgefunden hätten. Tatsächlich lagen sie fünf Jahre früher, was ich im Verlauf meiner Vernehmung klarstellte. Aber da war der Schaden schon eingetreten. Als Schlag ins Wasser erwies sich meine Aussage vollends dadurch, daß nach mir Bundeskanzler a. D. Kiesinger befragt wurde. Er erklärte, daß Bahr ihn mündlich über die in Frage kommenden Ostkontakte unterrichtet habe. Natürlich habe er darüber keine schriftlichen Angaben gemacht, da es sich um Kontakte zu einem Angehörigen des sowjetischen Nachrichtendienstes gehandelt habe. Er, Kiesinger, habe sich mit dieser Erklärung zufriedengegeben. Mich befriedigte die Antwort Bahrs zwar nicht, aber Kiesingers Entscheidung als Bundeskanzler war maßgebend. Inzwischen hatten jedoch die SPD-Mitglieder im Untersuchungsausschuß zu einem Gegenschlag gegen mich ausgeholt. Sie befragten mich nach meinen Kenntnissen über Waffengeschäfte des Bundesnachrichtendienstes, der 1968/69 meiner Dienstauf sieht unterstand. Ich antwortete, ich wüßte von solchen Waffengeschäften nichts. Zusammenfassend sagte ich, daß ich keinerlei STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 81 S. 221D. Egon Bahr war von 1960 bis 1966 Leiter des Presse- und Informationsamtes des Berliner Senats und damit einer der engsten politischen Mitarbeiter des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt. 459
Anhaltspunkte dafür hätte, daß in der Zeit, als ich die Aufsicht führte, vom BND Waffenhandel betrieben worden sei. Man solle doch darüber den draußen wartenden Präsidenten des BND, General a. D. Wessel, befragen. Tatsächlich hatte ich im Zeitpunkt meiner Befragung keinerlei Erinnerung an Waffengeschäfte des BND oder an eine Beteiligung des BND daran. Ich wurde völlig unvorbereitet nach Vorgängen gefragt, die zeitlich fünf bis sechs Jahre zurücklagen. Dennoch unterlief mir in dieser Phase meiner Vernehmung ein weiterer Fehler. Als vorsichtiger Mann, der den Angriff der SPD hätte erkennen müssen, hätte ich nicht zur Sache antworten, sondern sagen sollen, daß die Frage nach Waffengeschäften des BND nicht durch den für den Untersuchungsausschuß maßgebenden Beweisbeschluß des Deutschen Bundestages gedeckt sei, und daß ich, wenn ich darüber Aussagen machen sollte, diese auch nur nach einer entsprechend erweiterten Aussagegenehmigung der Bundesregierung in einer nicht öffentlichen Sitzung tun könne. An diese Möglichkeit habe ich nicht gedacht, was ich mir als früherem versierten Rechtsanwalt vorwerfen muß. Ich war allerdings meiner Sache so sicher, daß ich es bei der summarischen Antwort beließ, ich hätte keine Kenntnis von Waffengeschäften des BND gehabt. Diese Aussage, die auch nach meiner heutigen Beurteilung nicht falsch war, brachte mich später in Bedrängnis. Alles in allem war also der 10. Oktober 1974 ein schlechter Tag für mich. Obwohl ich in langen Passagen meiner etwa sechsstündigen Vernehmung Ausführungen machte, die mich noch heute beeindrucken, gelang es mir nicht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß mein Mißtrauen gegen Bahr berechtigt war. Statt dessen brachte ich mich selbst in Schwierigkeiten. Übrigens fuhr Bahr auch später fort, verwirrende Äußerungen über seine politischen Vorstellungen zur deutschen Frage zu machen. Nach Pressemeldungen bezeichnete er in einem Vortrag in München am 27. November 1988 das Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als Lüge, Heuchelei und politische Umweltverschmutzung®^). Prozeß gegen Metzger Der SPD-Abgeordnete Günther Metzger warf mir im März 1975®'), also ein halbes Jahr nach meiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuß, vor, ich hätte zu dem Thema Waffengeschäfte des BND „die Unwahrheit gesagt". Bei einer andern Gelegenheit sagte er, die Staatsanwaltschaft solle sich der Sache annehmen. Strafanzeige gegen mich erstattete er jedoch nicht. Ich erhob daraufhin am 11. April 1975 Klage gegen Metzger, in der ich beantragte, ihm die Wiederholung der gegen mich aufgestellten Behauptung zu untersagen. Den Prozeß gewann ich in zwei Instanzen vor dem Landgericht Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. März 1989 S. 11 f. („Der Abschied der SPD von Deutschland"). " ) Tagesdienst 247 der Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag vom 27. März 1975.
460
Bonn am 18. Dezember 1975 und vor dem Oberlandesgericht Köln am 15. Juli 1976. Diese beiden Prozeßerfolge waren für mich zunächst von großem Wert. Hätte ich die Behauptung, daß ich unwahr ausgesagt hätte, auf mir sitzen lassen, wäre damit sicher ein Verlust an Ansehen in der Öffentlichkeit verbunden gewesen. So war ich voll rehabilitiert. Der Erfolg war besonders wichtig im Hinbhck auf die Bundestagswahl von 1976, für die ich kandidieren wollte. Im Vorfeld der Wahl nominierte mich die CDU Ostholsteins in geheimer Abstimmung mit 220 Stimmen ohne Enthaltung oder Gegenstimme zu ihrem Kandidaten. Danach gewann ich bei der Wahl das Direktmandat im Wahlkreis Ostholstein zwar knapp, aber immerhin insofern beeindruckend, als ich vier Jahre vorher in einem etwas anders geschnittenen Wahlkreis (Oldenburg in Holstein, Plön) zehn Prozent hinter meinem sozialdemokratischen Gegner zurückgelegen hatte. Und schließlich wählte mich der Deutsche Bundestag am 14. Dezember 1976 zu seinem Präsidenten®*). Auch zeichnete sich im Laufe des Jahres 1978 ab, daß die CDU/CSU mich zu ihrem Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten im Frühjahr 1979 benennen würde. Diese Erfolge wären ohne den gewonnenen Prozeß kaum ohne Schviaerigkeiten erreichbar gewesen. Aber das dicke Ende kam hinterher. Mein Prozeßgegner Günther Metzger gab sich mit dem für ihn negativen Urteil des Oberlandesgerichts nicht zufrieden und legte Revision ein. Mit Urteil vom 3. Oktober 1978, also nach über zweijähriger Verhandlungsdauer in der Revisionsinstanz, hob der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil des Oberlandesgerichts Köln auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an einen anderen Senat dieses Gerichts zurück®^). Zwar entschied der Bundesgerichtshof in der Sache nicht selbst. Aber die Begründung des Urteils vdrkte sich für mich eindeutig negativ aus. Nachdem das Urteil ergangen war, erhieU ich die Information, daß der Berichterstatter des Senats Mitglied der SPD sei. Ich bin dieser Frage damals nicht nachgegangen, sondern habe im Gegenteil auf jede UrteUsschehe verzichtet. Auffällig war allerdings, daß einzelne Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion schon etwa zwei Wochen, bevor das Urteil erging, Kenntnis von der Entscheidung hatten und in vertraulichen Pressegesprächen sagten, ich würde den Prozeß verlieren und dann politisch erledigt sein. Gegen das Urteü, das Prozeßgeschichte gemacht hat und später für die Beurteilung von Aussagen vor Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen immer wieder herangezogen worden ist, habe ich auch heute noch, im zeitlichen Abstand von mehr als zehn Jahren, im wesentlichen fünf grundsätzliche Einwendungen: a) Das Gericht meinte, ehrenrührige Beschuldigungen seien erlaubt, auch wenn sie nicht voll bewiesen werden könnten, sofem es sich um Fragen Siehe dazu Kap. X S. 475. Das Urteil ist in Auszügen veröffentlicht in Neue )uristische Wochenschrift 1979 S. 2 6 6 - 2 6 8 .
461
von politischer Relevanz handele, an deren Erörterung die Allgemeinheit ein Interesse haben müsse. Damit gibt das Gericht den Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung weitgehend preis. b) Daß die an mich gerichtete Frage nicht von dem Beweisbeschluß gedeckt war und ich zu ihrer Beantwortung keine Aussagegenehmigung hatte, hält der Bundesgerichtshof im Gegensatz zu der Auffassung des Oberlandesgerichts für unerheblich. c) Das Gericht meinte dem Sinne nach, ich hätte die an mich gerichteten Fragen objektiv wahrheitsgemäß und umfassend beantworten müssen, auch wenn ich mich nicht an den Sachverhalt, nach dem ich gefragt wurde, erinnerte. Auch hätte ich die Frage nicht so beantworten dürfen, wie ich sie verstand, sondern wie sie andere Außenstehende verstehen konnten. Gab ich die vom Bundesgerichtshof geforderte Antwort nicht, so durfte mir nach Meinung des Gerichts vorgeworfen werden, daß ich die Unwahrheit mit dem Unterton „schuldhaft" gesagt hätte. Das Gericht fügte hierbei allerdings ausdrücklich hinzu, es habe nur die zivilrechtliche Seite des Falles, nicht etwa strafrechtliche Aspekte zu prüfen. d) Ein konkreter Punkt, um den es sich in meiner Aussage gehandeh hatte (Beurlaubung eines Beamten des BND zur Einschleusung in eine Waffenhandelsfirma), ist nach Meinung des Gerichts ein „außergewöhnlicher Vorgang", der „als solcher nicht ohne weiteres dem Gedächtnis entschwindet". Diese Feststellung traf das Gericht selbstherriich, ohne auch nur den Versuch zu machen, das von mir in den Jahren 1968/69 als Chef des Bundeskanzleramtes und Staatssekretär der Bundesregierung zu bewältigende Arbeitsvolumen und das Gewicht der von mir laufend zu treffenden Entscheidungen abzuschätzen und ohne zu berücksichtigen, daß ich unstreitig mit der Frage nach Waffengeschäften des BND überrascht wurde. Ich meine, das ist so, als wenn ein Gericht den Kassenbeamten einer Bank, der täglich hunderttausende von DM auszahlt, vorhalten würde, er müsse sich, ohne daß er seine Unterlagen einsehen kann, an die Auszahlung eines Betrages von 3000 DM vor fünf Jahren erinnern, weil 3000 DM doch ein Betrag sei, „der nicht ohne weiteres dem Gedächtnis entschwindet". Hier würde das Gericht über einen Sachverhalt urteilen, von dem es in Wahrheit keine Ahnung hat. So ähnlich verhielt sich der Bundesgerichtshof in meinem Fall. e) Als besonders gravierend sah ich und sehe ich noch heute schHeßlich den Umstand an, daß der Bundesgerichtshof das Oberlandesgericht anwies, eine schriftliche Auskunft des Bundeskanzleramtes zu dem Prozeßthema einzuholen. Zu einer solchen Auskunftserteilung hatte sich das Bundeskanzleramt bereiterklärt, während es seinen Beamten keine Genehmigung zu einer mündUchen Zeugenaussage gegeben hatte. Durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs verlor ich die Möglichkeit, eine Auskunft, die für mich schädlich war, im Kreuzverhör zu erschüttern. Der Bundesgerichtshof bezog sich dabei auf frühere Entscheidungen, die jedoch mit der besonders empfindlichen Situation meines Prozesses überhaupt nicht vergleichbar 462
waren. In meinem Fall ging es um eine hochpolitische Auseinandersetzung zwischen mir als Führer der Opposition im Bundestag und einem Abgeordneten der Regierungskoalition, einer Auseinandersetzung, in der das Bundeskanzleramt offensichtlich nicht unparteiisch war. Daher war eine schriftUche Auskunft des Bundeskanzleramtes hier kein geeignetes Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts. Die Sache wurde also an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen. Dieses holte, wie angeordnet, eine schriftliche Auskunft des Chefs des Bundeskanzleramtes ein, die, wie zu erwarten, für mich ungünstig war. Kurzum, es sah so aus, als ob ich diesen Prozeß verlieren würde. Da trat ein wichtiges und hilfreiches Ereignis ein. Die Staatsanwaltschaft Bonn, bei der inzwischen mehrere Strafanzeigen gegen mich eingegangen waren, erklärte am 11. Januar 1979, sie sehe sich nicht veranlaßt, gegen mich ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. Ihre Untersuchungen hätten „keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Falschaussage von Carstens ergeben". Damit war ich offenbar voll rehabilitiert und der ganze von mir in Gang gesetzte Zivilprozeß gegen Metzger aus meiner Sicht überflüssig. Aber aus diesem Prozeß konnte ich ohne Mitwirkung Metzgers nicht wieder herauskommen. Dafür bestanden zunächst wenig Chancen. Denn inzwischen hatte Metzger durch Fragen, die seine Fraktion an die Bundesregierung richtete, weitere Munition gegen mich gesammelt. Der Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Manfred Schüler, also mein Nachfolger im Amt, beantwortete diese Fragen zunächst zurückhaltend. Am 17. April 1975 erklärte er, daß der BND in der Zeit, als ich Chef des Bundeskanzleramtes war, an Waffengeschäften beteiligt gewesen sei, daß sich aber aus den Akten des Amtes nach vorläufiger Durchsicht nicht ergebe, daß ich davon Kenntnis gehabt hätte®®). Aber in einer späteren Fragestunde vom 2. Oktober 1975 ergänzte Staatssekretär Schüler seine Antwort dahin gehend, daß er an seiner am 17. April 1975 getroffenen Feststellung nicht festhalten möchte. Vielmehr habe der Präsident des BND mich mündlich darüber unterrichtet, daß ein Mitarbeiter des Dienstes für eine Tätigkeit in einer Gesellschaft beurlaubt werden sollte, die sich mit Waffenhandel befaßte. Diese Mitteilung habe der Präsident des BND „in der Zwischenzeit gemacht"®'). Das Verhalten des Chefs des Bundeskanzleramtes war nach meiner Ansicht zu beanstanden. Er lieferte meinem Prozeßgegner Material, ohne daß dazu irgendeine sachliche Notwendigkeit bestand. Kein Mensch hat mir Vorwürfe wegen meines Verhaltens in den Jahren 1968/69 gemacht. Das Gegenteil war der Fall. Selbst Bundeskanzler Schmidt bescheinigte mir korrektes Verhalten. Die Auskünfte des Bundeskanzleramtes waren nicht etwa vom Untersuchungsausschuß oder einer Behörde angefordert worden. Sie dienten vielmehr ausschließlich dem Zweck, den Verdacht einer Falschaussage vor dem UntersuchungsausSTENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 93 S. 11522 D - 1 1 5 2 8 A . STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 95 S. 1 3 2 4 7 B - 1 3 2 5 1 B, hier 13248B. 463
Schuß des Bundestages im Jahre 1974 unter Benutzung der zu meiner Amtszeit entstandenen Akten auf mich zu lenken. Damit verletzte der Chef des Bundeskanzleramtes nach meiner Meinung die Fürsorgepflicht, die ihm mir gegenüber als einem früheren Beamten des Amtes oblag. Ich schildere die Sache deswegen so ausführlich, weil hier nach meiner Auffassung ein grundsätzliches Mißverständnis über die Pflichten der leitenden Beamten der Bundesregierung sichtbar wird. In Großbritannien wäre etwas derartiges undenkbar. Dort bleibt in der Regel der höchste Beamte der Regierung, der Permanent Secretary, im Falle eines Regierungswechsels im Amt, ein großartiges Beispiel für das hohe Ethos der britischen Beamten. Er nimmt die Akten der Regierung, die aus dem Amt ausgeschieden ist, unter seinen persönlichen Verschluß und gibt sie nur heraus, wenn er dies im Interesse Großbritanniens für erforderlich hält. Auf diese Weise wird verhindert, daß eine Regierung aus der Kenntnis interner Akten politisches Kapital gegen ihre Vorgängerin schlägt. In meinem Fall wäre es korrekt gewesen, wenn das Bundeskanzleramt wegen der Notwendigkeit der Geheimhaltung der Arbeit des BND mündliche und schriftliche Erklärungen zu dem Sachverhalt abgelehnt hätte. Im Januar 1979 wandte ich mich schriftlich an den Bundeskanzler selbst. Ich erklärte, daß der Chef des Bundeskanzleramtes durch unvollständige Antworten in Fragestunden des Bundestages dazu beigetragen habe, daß ein einseitiges, ungünstiges Bild von mir vor der Öffentlichkeit entstanden sei. Ich erinnerte den Bundeskanzler daran, daß auch er mir gegenüber als dem früheren Chef des Bundeskanzleramtes eine Schutz- und Fürsorgefunktion habe. Am 25. Januar 1979 führte ich mit Bundeskanzler Schmidt ein Gespräch, das in angenehmen Formen verlief. Wir sprachen zunächst über die gesundheitlichen Anforderungen, die unsere Ämter an uns stellten und sprachen lange über den von uns gemeinsam verehrten bremischen Bürgermeister Wilhelm Kaisen und über andere Politiker. Schmidt sagte dann, er sei sich seiner Fürsorgepflicht mir gegenüber voll bewußt. Er nahm Staatssekretär Schüler in Schutz, der sich um äußerste Korrektheit bemühte, aber in einer sehr schwierigen Lage sei. Mir bestätigte Bundeskanzler Schmidt, daß ich mich als Chef des Bundeskanzleramtes 1968/69 völlig korrekt verhalten hätte. Wenn mir bei meiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuß nicht alle damaUgen Vorgänge in Erinnerung gewesen seien, so sei das absolut verständlich. Er sei bereit, eine entsprechende öffentliche Erklärung abzugeben. Er werde auch mit Metzger wegen einer Beendigung unseres Prozesses sprechen. Am 27. Februar 1979 unterrichtete mich Bundeskanzler Schmidt, daß Metzger zu einem Vergleich bereit sei. Zu diesem Vergleich kam es zur großen Enttäuschung der zahlreichen anwesenden Journalisten am 7. März 1979 bei einem Termin vor dem Oberlandesgericht Köln. Metzger erklärte, daß seine Behauptung, ich hätte vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuß die Unwahrheit gesagt, nicht den Vorwurf der „schuldhaften Falschaussage" enthahe. Er mache sich und werde sich diesen Vorwurf nicht zueigen machen. Daraufhin nahm ich die Klage zurück mit der Folge, daß ich die Prozeßkosten zu tragen hatte. 464
Rückblickend muß ich sagen, daß ich Metzger keinen Vorwurf machen kann. Ich hatte versucht, mit harter Bandage zu kämpfen. Metzger kämpfte seinerseits mit harter Bandage gegen mich. Dies ist Teil des politischen Kampfes in einer demokratischen Staatsordnung. Am 9. März 1979 gab Bundeskanzler Schmidt schließlich vor dem Deutschen Bundestag folgende Erklärung ab®°): „Ich habe [...] im Januar einen Brief von Herrn Professor Carstens empfangen, der mich veranlaßt hat, ein Gespräch mit dem Kollegen Carstens zu führen, bei dem ich ihm gesagt habe, daß ich den von ihm angestrengten Rechtsstreit gegen den früheren Bundestagskollegen Metzger nicht für glücklich halte. Ich habe — und ich zitiere hier auf Grund der Aufzeichnungen, die während des Gesprächs gemacht worden sind, natürlich nur meine Seite des Gesprächs, Herr Kohl — bei der Gelegenheit Herrn Kollegen Professor Carstens gesagt, daß ich nicht der Meinung sei, daß er vor dem Ausschuß eine absichtliche Falschaussage gemacht habe, sondern sowohl Staatssekretär Schüler als einer seiner Amtsnachfolger im Kanzleramt wie auch ich seien der Ansicht, daß er subjektiv bona fide ausgesagt habe. Jedoch hätte Herr Professor Carstens, nachdem er nach seiner Aussage Einsicht in die amtlichen Akten gehabt habe, seine Aussage besser ergänzen oder aber den von ihm angestrengten Rechtsstreit beenden sollen. Ich habe bei dem Gespräch auch ausgeßhrt, daß ich keinen Anlaß sähe, an der korrekten Amtsßhrung von Professor Carstens während seiner Zeit als Staatssekretär im Bundeskanzleramt zu zweifeln. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung habe ich skizziert: Wenn es dazu kommen sollte, daß der Bundeskanzler quasi von Amts wegen öffentlich zu dem ganzen Komplex würde Stellung nehmen müssen, dann könnte ich mir vorstellen, mich wie folgt zu äußern - ich zitiere jetzt und äußere mich damit in dem Sinn, der schon damals, am 25. Januar, skizziert worden ist - : ,Der Bundeskanzler könne und wolle sich nicht zu der Frage äußern, ob der BND Waffenhandel betrieben habe oder ob er am Waffenhandel beteiligt worden sei.' - Es liegt eine gewisse semantische Bedeutung in diesen beiden Ausdrükken ,betrieben' und ,beteiligt'. ,Ich wolle mich nicht darauf einlassen. Für mich sei aber offensichtlich, daß der BND in früheren Zeiten mit Waffenhändlern zu tun gehabt habe und möglicherweise auch einmal ein oder zwei Personen zu einem solchen Waffengeschäft abgestellt habe. Schon in seiner Amtszeit als Bundesminister der Verteidigung sei dem Bundeskanzler klargeworden, daß solche Waffengeschäfte höchst zweifelhaft seien. Er habe damals strikte Order gegeben, daß das Bundesministerium der Verteidigung sich an solchen Geschäften in keiner Form beteilige. Aus Erkenntnissen von Amts wegen wisse er in dieser
9») STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 1 1 2 3 6 A - D .
465
Beziehung von keinerlei Verstößen gegen Gesetz und Ordnung seitens des damaligen Chefs des Bundeskanzleramts, des damaligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, des damaligen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, Prof. Carstens. Der Bundeskanzler habe Verständnis daßr, daß Prof Carstens bei der Befragung im Untersuchungsausschuß nicht alle Tatsachen aus seiner ehemaligen Amtszeit im Gedächtnis präsent gehabt habe. Aber er sei überzeugt, daß Herr Carstens jetzt, nach späterer Akteneinsicht, über ein präziseres Wissen über Vorgänge der damaligen Zeit verfüge als zur Zeit seiner Aussage vor dem Ausschuß. Er sei der Meinung, daß Prof Carstens vor dem Ausschuß keine absichtliche Falschaussage getan habe. Er halte die lange Dauer des Rechtsstreits Carstens gegen Metzger wegen der Bewerbung von Prof Carstens um das Amt des Bundespräsidenten für unglücklich. Es sei nicht für Prof Carstens, sondern ßr den Staat insgesamt schädlich, wenn bei der Wahl des Bundespräsidenten möglicherweise ein anstehender ziviler Rechtsstreit noch nicht geklärt und noch nicht beendet sei. Auf das Beispiel des Reichspräsidenten Ebert in der Weimarer Republik sei mahnend hinzuweisen. Er — also der Bundeskanzler — werde seine ganze politische Autorität einsetzen, um im Fall einer Wahl von Prof Carstens den Rechtsstreit zu beenden. [.. .1" Mir erschien damals und erscheint auch heute das Verhalten von Bundeskanzler Schmidt staatsmännisch und verantwortungsvoll. Wir hatten uns gegenseitig in der politischen Auseinandersetzung nicht geschont. Aber er wog realistisch und nüchtern die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab, als er zu der Überzeugung gelangte, daß die CDU/CSU, die in der Bundesversammlung über die absolute Mehrheit verfügte, mich zum Bundespräsidenten wählen würde. Vom 1. Juli 1979, dem Amtsbeginn des neuen Bundespräsidenten, würden er und ich auf Zusammenarbeit angewiesen sein. Ich würde Anspruch auf vollständige Unterrichtung über die Politik der Regierung haben. Auch würde meine Mitwirkung bei allen Emennungen von Bundesministem, hohen Beamten, Richtem und Soldaten unerläßlich sein. Es konnte in niemandes Interesse liegen, daß während dieser Zeit ein Zivilprozeß weiterlief, in dem das Bundeskanzleramt entscheidend mitbeteiligt war. Unter diesen Umständen kam Schmidt, wie er in seiner Erklämng vom 9. März 1979 darlegte, zu dem Ergebnis, daß eine Beendigung meines Prozesses gegen Metzger im allgemeinen Interesse liege und setzte sich tatkräftig dafür ein. Er legte damit zugleich die Grandlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, die sich zwischen ihm und mir in den folgenden Jahren entwickelte. Probleme parlamentarischer
Untersuchungsausschüsse
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind ein notwendiger Bestandteil einer demokratischen Ordnung. Zusammen mit der freien Presse und der unabhängigen Justiz sind sie ein wichtiges und unersetzliches Instmment, das undurchsichtige Vorgänge und Mißstände aufklären und eine Gesetzgebung vorbereiten soll, um solche Mißstände zu beseitigen. 466
Trotzdem zeigen meine eigenen Erfahrungen mit dem sogenannten Guillaume-Untersuchungsausschuß im Jahre 1974 und spätere Erfahrungen, die andere Politiker mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gemacht haben, daß die deutschen Untersuchungsausschüsse an einem inneren Widerspruch leiden. Nach dem Gesetz (Art. 44 CG) finden auf das Verfahren vor dem Untersuchungsausschuß, insbesondere auf die Beweiserhebung, die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß Anwendung. So kann ein Untersuchungsausschuß Zeugen imter Zwang vorladen und beeidigen. Das Grundgesetz geht also davon aus, daß die Untersuchungsausschüsse eine ähnliche Stellung wie Strafgerichte haben. Aber welche Unterschiede bestehen hier in Wirklichkeit! In einem Strafverfahren bemüht sich ein unabhängiges und unparteiisches Gericht unter dem Vorsitz eines Berufsrichters um objektive Wahrheitsfindung unter genauer Beachtung der einschlägigen Verfahrensregeln, weil jeder Verstoß dagegen das spätere Urteil anfechtbar machen v^ürde. Demgegenüber ist ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eher eine politische Kampfarena. Die parlamentarische Auseinandersetzung v«rd hier mit aller Schärfe fortgesetzt. Unparteiisch ist der Natur der Sache nach niemand. Die Mitglieder des Ausschusses sind vielmehr an der Erforschung der Wahrheit vorwiegend unter dem Gesichtspunkt interessiert, ob sie dem politischen Gegner schadet. Eine unparteiische Verhandlung ist daher nicht gewährleistet. Dabei erkenne ich an, daß diese Beschreibung nicht für jedes Mitglied eines solchen Ausschusses, und insbesondere nicht für jeden Vorsitzenden, zutrifft. Es gibt Vorsitzende, die sich große Mühe um eine objektive Verhandlungsführung geben. Aber das ändert nichts an der Grundsituation, in der sich die Mitglieder des Untersuchungsausschusses, auch der Vorsitzende, befinden. Trotz dieses Unterschieds im Verhältnis zu einem gerichtlichen Verfahren werden uneidliche Falschaussagen vor einem Untersuchungsausschuß genauso bestraft wie entsprechende Aussagen vor einem Gericht. Und das gleiche gilt für falsche eidliche Aussagen. Allerdings sind, soweit ich weiß, Zeugen vor Untersuchungsausschüssen seit Jahren nicht mehr vereidigt worden. Der Zeuge ist in einem Untersuchungsausschuß weitgehend schutzlos. Äußerst selten werden Fragen, die an ihn gerichtet werden, als nicht zur Sache gehörig oder als schon beantwortet zurückgevdesen. Stundenlang wird derselbe Zeuge von MitgUedem des Ausschusses mit zum Teil wörtlich gleichen Fragen bedrängt. Auch bemühen sich die Ausschüsse nicht genügend um die Aufklärung von Widersprüchen oder Unklarheiten in den Aussagen der Zeugen. Kurz, es fehlt die Fürsorge für den Zeugen, die in der politisch brisanten Atmosphäre, in der er seine Aussage in Gegenwart von Presseberichterstattem macht, besonders notwendig wäre. Diesen Mängeln könnte nach meiner Meinung am ehesten dadurch abgeholfen werden, daß ein erfahrener Richter, der selbst keiner politischen Partei angehört, etwa der Präsident eines Oberlandesgerichts oder ein Gerichtspräsident im Ruhestand, den Vorsitz im Untersuchungsausschuß führt. Er braucht 467
kein Stimmrecht zu haben, aber er müßte rigoros darauf achten, daß die Grundsätze eines fairen Verfahrens eingehahen werden. Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquête-Kommission für Verfassungsreform, die in den Jahren 1973 bis 1976 gearbeitet hat, machte seinerzeit einen ähnhchen Vorschlag, der freilich weniger weit ging. Danach sollte der Vorsitzende im Ausschuß von einem Abgeordneten, der selbst kein Stimmrecht haben sollte, ausgeübt werden. Aber dieser Vorschlag bleibt auf halbem Wege stecken. Ein Abgeordneter bleibt Partei. Er kann sich, nach aller Erfahrung, von seiner Fraktion nicht vollständig lösen. Auch ist er unter Umständen dem Druck seiner Fraktionskollegen ausgesetzt. Er ist im Regelfall nicht wirklich unparteiisch. Die Enquête-Kommission hat übrigens auch vorgeschlagen, daß dem Untersuchungsausschuß das Recht zur Beeidigung von Zeugen genommen werden sollte, eine, wie ich finde, sehr berechtigte Forderung. Bis zu einer etwaigen Änderung der für Untersuchungsausschüsse geltenden Bestimmungen kann man einem Zeugen, der vor einem Untersuchungsausschuß aussagen soll, nur raten, sich durch einen Rechtsbeistand unterstützen zu lassen, der wie ein Sekundant den Vorsitzenden auf unzulässige Fragen hinweist und notfalls dem Zeugen rät, die Aussage zu verweigern. Dann müssen die ordentlichen Gerichte in letzter Instanz, eventuell das Bundesverfassungsgericht, prüfen, ob die Aussageverweigerung berechtigt ist. Ein Politiker, der sich von einem Rechtsbeistand begleiten und beraten läßt, vdrd deshalb sicherlich kritisiert werden. Man wird ihm vorwerfen, daß er offenbar ein schlechtes Gewissen habe. Ich rate trotzdem, so zu verfahren. Der Ärger, wenn dem Zeugen hinterher von politischen Gegnern ein gerichtliches Verfahren angehängt wird, ist weit größer. Vielleicht könnte, um dem Vorgang jedes Odium zu nehmen, der Zeuge in der Ladung des Untersuchungsausschusses darauf hingevdesen werden, daß ihm gestattet sei, sich von einem Rechtsbeistand begleiten zu lassen. Im Jahre 1988 hat sich Wolf-Rüdiger Schenke eingehend mit dem Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse befaßt®®). Ich finde in seinem Aufsatz viele bedenkenswerte Anregungen. Aber die meines Erachtens entscheidende Problematik, wie nämlich der Zeuge davor bewahrt werden kann, in die Mühlen der parteipolitischen Auseinandersetzungen im Ausschuß zu geraten, kommt bei ihm zu kurz. Immerhin hält auch er das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes für „unabdingbar"*®").
Wolf-Rüdiger Schenke, Empfiehlt sich eine gesetzliche Neuordnung der Rechte und Pflichten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse? In: Juristenzeitung 1988 S. 8 0 5 - 8 2 0 . «") Ebenda S. 815.
468
6. Vor und nach der BundestagswaM 1976 Kanzlerkandidatur
Lange bevor im Sommer 1975 die Entscheidung über den Kanzlerkandidaten der Unionsparteien für die Bundestagswahl 1976 fiel, fanden zwischen Franz Josef Strauß, Gerold Tandler und mir mehrere Gespräche statt. Die beiden CSU-Politiker suchten mich zu überreden, die Nominierung als Kanzlerkandidat beider Unionsparteien anzustreben. Sie sagten mir für diesen Fall die volle Unterstützung der CSU zu. Die Argumente, die Strauß und Tandler vortrugen, waren durchaus plausibel. Sie meinten, ich hätte für viele Wähler, vor allem im norddeutschen Raum, eine stärkere Anziehungskraft als Helmut Kohl. Umgekehrt würde ich in Süddeutschland sicher ebenso viele Stimmen wie Kohl erhalten. Ich habe mir die Sache einige Tage durch den Kopf gehen lassen und dann schließlich doch abgelehnt, aus dem einfachen Grunde, weil ich glaubte, ich würde in der CDU gegen Kohl keine Mehrheit finden. Die CDU hatte Kohl kurz vorher (1973) mit großer Mehrheit zu ihrem Parteivorsitzenden gewählt^·"). Es erschien mir undenkbar, daß die Partei zwei Jahre später ihren ersten Mann brüskieren würde, indem sie ihn nicht zum Kanzlerkandidaten machte, zumal die CDU bei den Landtagswahlen nach 1973 große Erfolge erzielt hatte. Gewiß hatten an diesen Wahlerfolgen viele einen Anteil, aber eben sicher auch Kohl. Auch rückblickend halte ich meine damalige Entscheidung für richtig, obwohl ein Element der Unsicherheit bestehen bleibt. Es gab — ich habe darüber berichtet — zwischen Kohl und mir eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit. Sie betraf die FDP. Kohl sah in ihr einen künftigen Koalitionspartner und behandelte sie schonend. Nach meiner Ansicht trug die FDP erhebliche Mitverantwortung für die Entwicklung der Politik seit 1969. Sie wurde von den Unionsparteien mit Recht angegriffen^"^). Diese Differenz zvWschen Kohl und mir hätte, im Falle meiner Kandidatur für das Kanzleramt, innerhalb der CDU ausgetragen werden müssen, und ich hätte dabei sicher Unterstützung gefunden, aber, so nahm ich damals und so nehme ich auch heute noch an, nicht bei der Mehrheit der CDU. Kohls Stellung in der Partei war dafür zu stark. Immerhin hatte ich bei den CDU/CSU-Wählern eine gute Position. In einer Umfrage des Allensbacher Instituts vom November 1976 erhielt ich bei der Gesamtheit der Befragten die Note 0,57, d. h. etwa die Mitte der möglichen Bewertungen von -1-5 b i s - 5 . Ich lag damit weit hinter Helmut Schmidt (-1-2,21), Helmut Kohl (-1-1,70), Hans-Dietrich Genscher (-1-1,97), Gerhard Stoltenberg (-1-1,11); aber noch vor Willy Brandt (-f-0,21), Franz Josef Strauß ( - 0 , 0 4 ) und Alfred Dregger ( - 0 , 0 5 ) . Bei den CDU/CSU-Wählern erhieh ich die Note 2,42. Ich habe diese Umfrageergebnisse nie überbewertet. Sie geben jedoch die Schwankungen in der öffentlichen Meinung mehr oder minder korrekt wieder.
Auf dem Bundesparteitag der CDU in Bonn am 12. Juni 1973. Vgl. dazu Archiv der Gegenwart 1973 S. 17960. Vgl. oben S. 426 und 452.
469
Freilich wäre, um diesen Gedankengang noch etwas weiterzuspinnen, die Bundestagswahl 1976 möglicherweise anders ausgegangen, wenn wir die FDP voll angegriffen hätten. Wir hätten dann wahrscheinlich das eine Prozent der Wählerstimmen, die uns zur absoluten Mehrheit fehlten, auf ims gezogen und eine Bundesregierung aus CDU und CSU bilden können. Aber für wie lange? Noch über die Wahlen von 1980 hinaus? Und mit welchen inneren Auseinandersetzungen und Reibungsverlusten z. B. auch zwischen Strauß und mir? Kohls Rechnung ging nach sechs Jahren auf. 1982 kam eine Koalition von CDU/CSU und ГОР zustande, die seit langem besteht und Bedeutendes geleistet hat. Sechzigster Geburtstag Während die internen Überlegungen über die Kanzlerkandidatur im vollen Gange waren, feierte ich am 14. Dezember 1974 meinen sechzigsten Geburtstag. Es war ein glanzvoller Tag. Über hundert Gäste versammelten sich zum Abendessen im Königshof. Darunter sicher auch manche, die es für möglich hielten, daß ich der nächste Bundeskanzler sein vWirde. Ich konnte Kohl, Strauß, Stücklen, Dregger, von Weizsäcker, dazu viele Mitglieder meiner Familie und der Familie meiner Frau und viele persönliche Freunde begrüßen. Die Fehmaraner hatten einen eigenen Eisenbahnwagen von Puttgarden auf Fehmarn bis Bonn gemietet, so zahlreich waren sie. Sie machten auf die Geburtstagsgesellschaft einen tiefen Eindruck. Als ich sie in meiner Begrüßungsrede bat aufzustehen, erhoben sich 20 kräftige und stattliche Männer und ebenso viele schöne und strahlende Frauen. Einer der ältesten Gäste war mein verehrter Lehrer Hermann Jahrreiss. Es wurden viele Reden gehalten. Sie waren alle freundlich und taten mir wohl. Nach dem Essen blieben wir noch lange fröhlich beisammen. Strauß war umringt von den Fehmaranem und Fehmaranerinnen und machte einen hervorragenden Eindruck auf sie. Kreuth Bei der Bundestagswahl am 3. Oktober 1976 erzielte die Union mit 48,6 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen einen stolzen Erfolg. Das waren 3,7 Prozent mehr als bei der vorangegangenen Wahl von 1972. Die SPD fiel auf 42,6 Prozent zurück, das waren 3,2 Prozent weniger als 1972. Die Union war vweder stärkste Partei, aber zur Mehrheit im Bundestag reichte es nicht. Es fehlten ca. 1 Prozent der Stimmen und 8 Sitze. Die ГОР verlor 0,5 Prozent gegenüber 1972. Sie kam auf 7,9 Prozent. In dieser Lage entschloß sich die CSU, sich von der CDU zu trennen. Die Entscheidung fiel auf einer Sitzung der CSU-Landesgruppe am 19. November 1976 in Wildbad Kreuth. Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt, zusammen mit Richard von Weizsäkker, auf einem Symposion des Chicago Council on Foreign Relations in dem sehr reizvollen Badeort Sea Island an der Küste von Georgia. Von Weizsäcker und ich entschlossen uns, sofort nach Deutschland zurückzukehren. Hier began470
nen alsbald Gespräche über das weitere Vorgehen. Wir in der CDU hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß es zu einer Verständigung mit der CSU kommen könnte. Darin bestätigten uns einige vertrauliche Hinweise aus der CSU selbst. Die Verhandlungen führten auf unserer Seite: Kohl, ich, Filbinger, Biedenkopf, Katzer und auf Seiten der CSU Strauß, Stücklen, Dollinger, Zimmermann, Tandler. Es begann mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen. Strauß trug eine lange Liste von Beschwerden vor. Er kritisierte, daß die CDU sich nicht zu einer Ablehnung der Ostverträge im Jahre 1972, des UNO-Beitritts und des Nichtverbreitungsvertrages im Jahre 1973/74 habe durchringen können. Er beanstandete auch, daß die CDU, und damit die Mehrheit der Fraktion, es abgelehnt habe, gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Er kritisierte, daß eine Anzahl von CDU-Abgeordneten gegen das Votum der Mehrheit der Fraktion für die Vereinbarungen mit Polen gestimmt hätten. Schließlich monierte Strauß, daß keiner der führenden Politiker der CDU ihn gegen diffamierende Angriffe im nördlichen Teil der Bundesrepublik in Schutz genommen hätte. Als Ziel des Trennungsbeschlusses bezeichnete es Strauß, daß die CSU dadurch zusätzliche Wählerstimmen, vor allem in Norddeutschland auf sich ziehen und mit ihrer Hilfe 1980 die absolute Mehrheit für die Union gewinnen sollte. Kohl kritisierte seinerseits das Vorgehen der CSU. Diese hätte uns ohne vorherige Ankündigung den Fehdehandschuh hingeworfen. Die Behauptung, daß vwr der CSU nicht das nötige Entgegenkommen gezeigt hätte, sei absurd. Wir seien bereit gewesen, bei der Wahl des Bundespräsidenten einen CSU-Kandidaten zu unterstützen, wenn die CSU dies gewollt hätte. Wir seien auch bereit, einen CSU-Kandidaten für das Amt des Bundestagspräsidenten vorzuschlagen. Ich, der sonst sicher vorgeschlagen werden würde, sei damit einverstanden. Was die CSU vorhabe, laufe auf einen Bruderkrieg in den Ländern hinaus, in denen beide Parteien nebeneinander kandidieren würden. In der Weimarer Republik hätte es in der Pfalz ein solches Nebeneinander von Zentrum und Bayerischer Volkspartei mit verheerenden Wirkungen und einer völligen Verunsicherung der Wähler gegeben. Wenn aber die CSU auf der Trennung beharre und eigene Landesverbände außerhalb Bayerns gründen sollte, dann würde die CDU einen bayerischen Landesverband gründen. Dies sei zwingend nötig, da anderenfalls die CDU eine Regionalpartei werden würde und den Anspruch verlöre, eine bundesweite Partei zu sein. Kohl warf dabei Strauß vor, er habe in einem Spiegel-Interview*"') massive Angriffe gegen seine Politik gerichtet. Ich setzte mich mit einigen Vorwürfen auseinander, die Strauß der Fraktion gemacht hatte. Den UNO-Beitritt und die Unterstützung des NichtverbreitungsSiehe Der Spiegel Nr. 43 vom 18. Okt. 1976 S. 2 9 - 3 1 („Eine bundesweite CSU ist keine Ideallösung"). 471
Vertrages hielt ich nach wie vor für richtig. Dagegen räumte ich ein, daß die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegen den Grundlagenvertrag durch die Bayerische Staatsregierung ein politischer Erfolg für die Union gevirorden sei. Meine Bedenken dagegen w^irkten rückblickend nicht mehr überzeugend. In den Gesprächen nahm übrigens Stücklen gegen Strauß die Arbeit der Fraktion in Schutz. Es sei vieles Ausgezeichnete geleistet worden. Auch entschuldigte sich die CSU dafür, daß sie den Trennungsbeschluß in Kreuth gefaßt habe, ohne die CDU vorher zu unterrichten. Mehrere Gesprächsrunden erbrachten zunächst kein Einvernehmen zwischen den beiden Parteien. In der Zwischenzeit hatte sich der CDU-TeU der Fraktion notgedrungen vorläufig als eigene Fraktion konstituiert. Kohl hatte anfangs gezögert, das Bundestagsmandat anzunehmen und sein einflußreiches Amt als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz gegen die harte Bank des Oppositionsführers im Bundestag einzutauschen. Aber ich drang auf ihn ein, daß er diesen Schritt tun müsse. Er sei der Kanzlerkandidat der Union. Zwar sei er knapp geschlagen, aber die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner werde weitergehen. Dazu müsse er in Zukunft einen entscheidenden Beitrag leisten und das könne er nur als Oppositionsführer im Bundestag. In den Beratungen im Präsidium der CDU unterstützte mich vor allem der Generalsekretär der Partei, Kurt Biedenkopf. Kohl ließ sich überzeugen und nahm das Mandat an. In der Sitzung der CDU-Fraktion (ohne CSU) vom 1. Dezember 1976, die ich eröffnete, schlug ich Kohl als Fraktionsvorsitzenden vor. Er erreichte mit 184 von 189 Stimmen ein großartiges Ergebnis. Kohl dankte mir für die Art und Weise, wie ich die Fraktion fast \aer Jahre lang geführt hätte: pflichtgetreu, geistig überlegen und mit dem Sinn für Kameradschaft, wie er sagte. Kohl schlug mich und außerdem Alfred Dregger, Hans Katzer, Burkard Ritz, Heinrich Windelen, Walter Wallmaim und Frau Helga Wex zu stellvertretenden Vorsitzenden vor. Bei der Abstimmung erhielt ich die weitaus höchste Stimmenzahl. SchUeßlich kam es in letzter Minute doch noch zu einer Einigung. Am 12. Dezember 1976, zwei Tage vor der konstituierenden Sitzung des 8. Bundestages, trafen die beiden Parteien eine Vereinbarung, die die Fortsetzung der gemeinsamen Fraktion und damit den Verzicht beider Parteien auf Ausdehnung ihrer Aktivitäten in das Gebiet der anderen Partei vorsah. Grundlage der Zusammenarbeit sollte das gemeinsam erstellte Wahlprogramm für die Bundestagswahlen 1976 sein. Außerdem Verden finanzielle und technische Fragen, die die gemeinsame Fraktion betrafen, geregelt. Man kam überein, mich für das Amt des Bundestagspräsidenten und Stücklen für das Amt des Vizepräsidenten vorzuschlagen. Was letzten Endes den Umschwung in der CSU bewirkt hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Doch glaube ich, daß ein Argument auf Strauß Eindruck gemacht hat, das ich ihm in einem Gespräch unter vier Augen vortrug. Ich sagte, wenn die CSU Landesverbände außerhalb Bayerns gründen würde, z. B. in Nordrhein-Westfalen, und dort vermutlich viele Mitglieder gewinnen vWirde, vrärde sie aufhören, eine bayerische Partei zu sein. Das v\dirde mit Sicherheit 472
zur Folge haben, daß in Bayern eine neue Bayempartei entstehen würde, die die bayerischen Interessen auf ihre Fahnen schreiben würde. Die CSU würde ihre absolute Mehrheit in Bayern verlieren und zwar auch dann, wenn die CDU darauf verzichten würde, einen bayerischen Landesverband zu gründen. Dies waren meines Erachtens unwiderlegbare Argumente. Am 13. Dezember 1976 fand die erste Sitzung der neuen, nun doch wieder gemeinsamen Fraktion statt, die ich satzungsgemäß als Vorsitzender der früheren gemeinsamen Fraktion eröffnete. Ich schlug wiederum Kohl als Fraktionsvorsitzenden vor, der erneut mit großer Mehrheit gewählt wurde. Kohl schlug darauf mich für das Amt des Bundestagspräsidenten und Stücklen für das Amt des Vizepräsidenten vor. Beide Vorschläge wurden einstimmig gebilligt. Am 14. Dezember 1976, dem Tag der konstituierenden Sitzung des Bundestages wurden wir beide gewählt. Als Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden wählte die CDU/CSU-Fraktion an meiner Stelle Richard von Weizsäcker.
473
χ . Präsident des Deutschen Bundestages 1976-1979 1. Bundestag, Präsident, Präsidium Die Wahl zum Präsidenten Bei der Wahl zum Bundestagspräsidenten am 14. Dezember 1976 erhielt ich von 516 abgegebenen Stimmen 346, 110 Abgeordnete stimmten mit Nein, 24 enthielten sich, 36 Stimmzettel waren ungültig^). Ich stand damit etwas über dem Durchschnitt der Stimmergebnisse meiner Vorgänger bei ihrer jeweils ersten Wahl. Deutlich besser hatte nur Frau Renger 1972 abgeschnitten (438 von 516 Stimmen). Darin zeigte sich die hohe Wertschätzung, die sie genoß, aber auch die Bereitschaft der CDU/CSU-Fraktion, sich an den alten Parlamentsbrauch zu haken, wonach die stärkste Fraktion den Präsidenten stellt. Dazu war bei meiner Wahl ein Teil der SPD-Fraktion nicht bereit. Nach mir erhieUen Richard Stücklen 1979 410 sowie Rainer Barzel 1983 407 Stimmen und erziehen damit deutlich bessere Ergebnisse als ich. Nach der Übernahme des Amtes hielt ich eine kurze Ansprache^). Ich dankte zunächst Ludwig Erhard, der die Sitzung als Alterspräsident geleitet hatte, und ich dankte unter dem lebhaften Beifall aller Fraktionen meiner Vorgängerin Frau Annemarie Renger, der ersten Frau im Amt des Präsidenten eines deutschen Parlaments. Sie hatte sich besonders um verstärkte Kontakte zwischen den Mitbürgern und dem Deutschen Bundestag durch Einführung der sogenannten Bürgergespräche verdient gemacht. Auch den scheidenden Vizepräsidenten, Kai-Uwe von Hassel, dem früheren Präsidenten des Hauses, und Richard Jaeger, der 21 Jahre Vizepräsident des Deutschen Bundestages gewesen war, sprach ich den Dank des Hauses aus. Schließlich gedachte ich der drei großen Präsidenten der deutschen Parlamentsgeschichte: Paul Löbe, Hermann Ehlers und Eugen Gerstenmaier. Löbe hatte 12 Jahre lang das Ansehen des Deutschen Reichstages уегкофеЛ, Ehlers und Gerstenmaier hatten durch souveräne Amtsführung, vor allem aber durch große richtungweisende Reden zu grundsätzUchen Fragen auf die geistig-politische Entwicklung der BundesrepubUk Deutschland eingewirkt. Der Deutsche Bundestag verträte, so sagte ich weiter, das ganze deutsche Volk. Er sollte sich immer der Tatsache bewußt sein, daß seine Debatten im an>) Siehe STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 100 S. 4 B. Ebenda S. 4 C - 5 D und BUNDESTAGSREDEN S. 2 6 4 - 2 6 7 . 475
deren Teil Deutschlands gehört und mit großer Anteilnahme verfolgt würden. Wir sollten uns bemühen zu erreichen, daß unsere Debatten den Willen des deutschen Volkes stärkten, seine Einheit in Frieden wieder herzustellen. Ich sprach von unserer Verbundenheit mit Berlin; unser gemeinsames Ziel müsse es sein, Freiheit, Gerechtigkeit, insbesondere soziale Gerechtigkeit, Einheit und Frieden für unser Vaterland zu verwirklichen. Leitung der Sitzungen Die wichtigste Aufgabe des Bundestagspräsidenten ist die Leitung der Sitzungen des Hauses. Er teilt sich in dieser Funktion mit den Vizepräsidenten, zu meiner Zeit mit vier Vizepräsidenten, so daß ich faktisch nur etwa während eines Fünftels der Sitzungszeit das Präsidium ausübte. Trotzdem ist der Stil der Amtsführung des jeweiligen Präsidenten von Bedeutung, da von ihm eine indirekte Wirkung auf die Amtsführung der Vizepräsidenten ausgeht. Der Präsident muß sein Augenmerk besonders auf vier Vorgänge richten: Er muß dafür sorgen, daß die Redner die nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen festgelegte Redezeit einhalten, er muß darauf achten, daß die Redner den parlamentarischen Stil wahren, insbesondere Beleidigungen gegen andere Mitglieder des Hauses, aber auch Beleidigungen Dritter unterlassen. Bei Debatten zur Geschäftsordnung muß der Präsident darauf achten, daß der Redner wirklich nur zur Geschäftsordnung und nicht zur Sache spricht. Und schUeßlich muß der Präsident dem Redner Gehör verschaffen. Er muß eine übermäßige Unruhe oder Störungen durch Abgeordnete des Hauses zu verhindern suchen. Am leichtesten war die erste Aufgabe zu erfüllen. Meist genügten einige freundhche Ermahnungen, um den Redner zur Einhaltung der vereinbarten Redezeit zu bewegen. Im schlimmsten Fall konnte und mußte ich dem Redner das Wort entziehen, aber von diesem Mittel habe ich während meiner Amtszeit als Bundestagspräsident niemals Gebrauch machen müssen. Schwieriger ist dagegen die Aufgabe zu lösen, den Redner zur EinhaUung der parlamentarischen Regeln für den Gebrauch des gesprochenen Wortes zu veranlassen. Wenn die Debatte hitzig wird, sind Entgleisungen häufig — bei manchen Rednern mehr als bei anderen. Schwere verbale Beleidigungen, die der Redner ausspricht, darf der Präsident nicht hinnehmen. Er muß sie rügen oder sogar einen Ordnungsruf erteilen. Ich bin während meiner Amtszeit selten genötigt gewesen, einem Redner einen Ordnungsruf zu erteilen. Kritische Situationen entstanden einige Male, als Redner andere Mitglieder des Hauses oder die Bundesregierung einer unwahren Aussage bezichtigten. Die Ausdrücke unrichtig und selbst unwahr sind parlamentarisch zulässig, aber gegen den Gebrauch der Worte Lüge, Lügen oder Lügner habe ich mich jeweils gewandt. Ich sah und ich sehe weiter darin eine unnötige Verschärfung der an sich zulässigen Kritik. Lüge enthält im deutschen Sprachgebrauch den Vorvnirf einer absichtlichen Falschaussage wider besseres Wissen. Natürlich kann auch dieser Vorwurf erhoben werden, aber durch den Gebrauch der Worte Lüge oder Lügner enthält er eine zusätzliche, verächtlich476
machende Schärfe, die ich im parlamentarischen Sprachgebrauch für unzulässig halte. Die Unterscheidung ist nicht immer leicht und erfordert viel Fingerspitzengefühl. Ein großes Problem stellt für jeden Präsidenten die Wahrung der äußeren Ordnung der Bundestagssitzungen dar. Hierbei habe ich mehrfach Ordnungsrufe verhängt. Zum Beispiel bei Zwischenrufen, die dem Redner galten, wie: „Sie haben die Hose gestrichen voll", oder, „Schamloser Demagoge!", oder bei Zwischenrufen, die Mitglieder einer Fraktion gegen Mitglieder anderer Fraktionen richteten, wie zum Beispiel „Pöbel". Ein Ordnungsruf hat mir damals zu schaffen gemacht. Am 29. März 1979 wurde über die Unverjährbarkeit von Mord debattiert'). Dem Hause lag ein Antrag einer Gruppe von Abgeordneten der CDU/CSU, ein Gesetzentvrarf von Abgeordneten der SPD und FDP sowie eine Entschließung des Europäischen Parlaments vor. Der CDU-Abgeordnete Benno Erhard (Bad Schwalbach) sprach sich entgegen dem Antrag von Mitgliedern seiner Fraktion dafür aus, daß für Mordtaten, auch für Mordtaten aus der NS-Zeit, die Verjährungsfrist von dreißig Jahren gelten sollte^). Er führte die Gründe an, die von jeher für die Verjährung von Mordtaten ins Feld geführt wurden, nämlich die großen Schwierigkeiten nach mehr als dreißig Jahren einen Täter zu überführen. Er verwahrte sich auch dagegen, die Bewältigung der schrecklichen deutschen Vergangenheit, die er schonungslos verurteilte, der Justiz zu übertragen. Er sprach von seiner brennenden Sorge, daß wir die Lehren aus dem ideologischen Zwangsstaat unserer jungen Generation nicht deutlich machen könnten. Die Rede hatte ein hohes ethisches Niveau. An einer Stelle machte der Abgeordnete Wehner den Zwischenruf „Nein, so nicht!", der die CDU/CSU in höchste Erregung versetzte. Burkard Ritz (CDU/CSU), nannte Wehners Äußerung abenteuerlich, andere Mitglieder der CDU/CSU riefen „Der Mann ist schamlos!". Und der Abgeordnete Heinrich Franke (CDU/CSU), rief „Einer, der Stalin gedient hat!". Darauf rief ich Franke zur Ordnung®). Mir ist danach der Vorwurf einer übermäßigen Reaktion gemacht worden, und ich kann diesem Vorwoirf eine gewisse Berechtigung nicht absprechen, denn Wehner war während seines Aufenthalts in Moskau, in den dreißiger Jahren, Mitglied der Kommunistischen Partei, von der er sich später löste. In jener Zeit wurden die Kommunistischen Parteien, nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der meisten anderen Staaten, zweifellos von Stalin regiert. Insofern enthielt der Zwischenruf eine richtige historische Feststellung. Freilich lag in ihm auch der nicht ausdrücklich ausgesprochene, aber im Zusammenhang erkennbare Vorwurf einer Beteiligung an den Verbrechen Stalins. Dies war ein Vonvurf, für den weder der Zwischenrufer noch irgendein anderer einen Beweis beibringen konnte. Gegen diesen Vorwurf mußte ich, nach meiner Auffassung, Wehner in Schutz nehmen. Aber eine Rüge, die den Zusammenhang verständlich STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 1151 D - 1 1 6 5 0 D. Ebenda S. 11569 D - 1 1 5 7 5 B. Ebenda S. 11575 A. 477
machte, wäre vielleicht eher am Platze gewesen als ein Ordnungsruf. Der Fall zeigt die Schwierigkeiten, vor denen der Präsident bei einer erregten Debatte steht. In Sekundenschnelle muß er reagieren. Zu subtilen Abwägimgen bleibt ihm kaum Zeit. Eine weitere wichtige Aufgabe des Präsidenten bei der Leitung der Sitzungen des Hauses besteht darin, Kritik an dem eigenen Verhalten, die während der Sitzungen von Mitgliedern des Hauses an ihm geübt wird, zurückzuweisen. Eine solche Kritik ist nach einhelliger Meinung unzulässig und ordnungsviddrig. Allerdings ist der Präsident gut beraten, wenn er nicht auf jedes gegen ihn gerichtete kritische Wort reagiert. Die Kunst, etwas zu überhören, von der der britische Sprecher des Unterhauses, Selwyn Lloyd, so eindrucksvoll unter der Überschrift „Selected deafness" (ausgewählte Taubheit) berichtet hat®), gilt es auch hier zu üben. Allerdings gibt es Grenzen. So sah ich mich genötigt, den Abgeordneten Wehner am 15. März 1979 zur Ordnung zu rufen. Während der Debatte hatte ich die Abgeordnete Frau Dr. Renate Lepsius mehrfach gebeten, ihre Ausdrucksweise zu mäßigen. Einmal rügte ich eine Äußerung von ihr. Sie hatte davon gesprochen, daß CDU und CSU die Hausfrauen mit Gleichheitsparolen gegen die erwerbstätigen Frauen aufhetzten; sie machten im gewissen Sinne eine neue Art von Klassenkampf. Sie wollten den mühsam erkämpften Stand der Gleichberechtigung der Frauen wieder zurückdrehen. Die alten Parolen „familienfeindlich", „männerfeindlich", „frauenfeindlich", ja sogar „volksfeindlich", kämen wieder zum Vorschein. Sie denunzierten Sozialdemokraten und Freie Demokraten und würfen ihnen Verstaatlichung und Zerstörung der Familie vor'). Nach meiner Rüge rief mir Wehner viermal hintereinander „unglaublich, Herr Präsident" zu. Gegen diese lautstarke Kritik an meiner Amtsführung glaubte ich mich zur Wehr setzen zu müssen. Wehner quittierte den Ordnungsruf mit einem weiteren Zvdschenruf: „Ich danke Ihnen dafür! Ich danke Ihnen dafür! Sie Kavalier"®). Diesen Zwischenruf überhörte ich. Auch in diesem Fall kann man nachträglich fragen, ob statt eines Ordnungsrufs eine Rüge gegenüber dem Abgeordneten Wehner ausgereicht hätte. In anderen Fällen habe ich mit weniger schwerem Geschütz geschossen. Auf den gegen einen Redner gerichteten Zwischenruf „Sie quatschen" sagte ich: „Der Ausdruck quatschen ist unparlamentarisch, ich rüge ihn"®). Auch den Ъшschenruf „Das ist gelogen" habe ich gerügt, ohne einen Ordnungsruf zu erteilen. Dagegen habe ich die Wendung „Der Staat straft sich selbst Lügen" passieren lassen, da sich der Vorwurf gegen niemanden bestimmtes richtete. Andererseits habe ich den Abgeordneten gerügt, der dem Bundeskanzler Feigheit vorwarf>'').
Selwyn Lloyd, Mister Speaker, Sir, London 1976 S. 69. η Siehe hierzu STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 11389 sowie 11392 С undD. ») Ebenda S. 11393 A. ') STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 103 S. 3945 В (26. Okt. 1977). 1") STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 11387 С (15. März 1979). 478
Den Zwischenruf „Das ist pure Heuchelei", während einer Rede des Bundeskanzlers, habe ich zurückgewiesen, da er nicht parlamentarischen Gepflogenheiten entspräche. Als ein Abgeordneter sagte, eine bestimmte Behauptung sei eine Lüge, ohne damit eine bestimmte Person zu bezichtigen, habe ich den Ausdruck als imparlamentarisch zurückgewiesen"). Auf den Zwischenruf eines Abgeordneten „Quatsch" sagte ich: „Der Zwischenruf Quatsch gehört nicht zu den Glanzleistungen des Parlamentarismus, ich bitte davon abzusehen." Auch den Ausdruck „Unverschämtes Geschwätz" habe ich als unparlamentarisch zurückgewiesen. Zwei Bundesminister, die den Ausdruck „verlogen" mit Bezug auf die Oppositionsfraktion benutzten, habe ich darüber belehrt, daß dies den parlamentarischen Übungen nicht entspreche"). Ein Staatsminister hatte gesagt, daß er bestimmten Vorstellungen nur zustimmen könnte, wenn er sich die Hose mit der Kneifzange zumachen würde. Darauf sagte ich: „Herr Staatsminister, nach deutschem Parlamentsbrauch kritisiert der Präsident die Äußerungen von Vertretern der Bundesregierung nicht. Ich möchte Sie aber doch darauf hinweisen, daß Ihre letzte Bemerkung an der Grenze des parlamentarisch Üblichen liegt"*'). In der Sitzung vom 16. Februar 1978 habe ich grundsätzliche Ausführungen über die sitzungsleitende Funktion des Präsidenten gemacht: Was die sitzungsleitende Funktion des Präsidenten anlangt, so wie ich sie sehe, so kann ich nur das wiederholen, was ich schon bei früheren Gelegenheiten gesagt habe: Es kann nicht die Aufgabe des Präsidenten sein, zu dem Inhalt der hier gehaltenen Reden Stellung zu nehmen und zu prüfen, ob die Ausführungen des Redners richtig oder falsch sind. Das würde unvermeidlich zu einer subjektiven Bewertung durch den Präsidenten führen und die Freiheit der Rede im Bundestag beeinträchtigen. Der Präsident kann und soll mit sitzungsleitenden Maßnahmen eingreifen, wenn die Würde des Bundestages beeinträchtigt oder die Ordnung im Hause — etwa durch formale Beleidigungen oder in anderer Weise — gestört wird. Ich möchte aber diese Gelegenheit benutzen, um das Haus eindringlich zu bitten, sich bei aller notwendigen Deutlichkeit und Härte der Auseinandersetzung in der Sache größere Zurückhaltung in der Sprache aufzuerlegen. Die Schärfe der Sprache, auch wenn sie nicht ordnungswidrig ist, ßhrt zu einer unnötigen Emotionalisierung. Sie verleiht dem, was der Redner sagen will, einen zusätzlichen und verletzenden Nachdruck. Eine übermäßige Heftigkeit der Debatten schadet dem Ansehen des Deutschen Bundestages bei den Bürgern im Lande und - das darf ich hinzußgen — auch bei den Deutschen im anderen Teil Deutschlands, von denen wir wissen, daß viele unseren Debatten folgen. Der Deutsche Bundestag sollte
") STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 104 S. 5161 С (24. Ian. 1978). STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 103 S. 3661 С (7. Okt. 1977) und S. 3943 (26. Okt. 1977). ") STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 10687 В und C. 479
sich bemühen, nach außen ein solches Bild zu bieten, daß diejenigen, die seine Debatten mithören, ihm mit Achtung begegnen können"^*). Bedeutung und Arbeitsweise
des
Bundestages
Am 21. Juni 1977 hielt ich im Bundestag eine Rede zum Einzelplan 02 (Haushalt des Deutschen Bundestages) des Haushaltsgesetzes 1977*®). Ich versuchte in dieser Rede eine grundsätzliche Standortbestimmung des Bundestages in unserer Verfassungsordnung. Zunächst nahm ich die Fraktionen gegen den Vorwurf in Schutz, sie seien nur organisatorisch-technische Zwischenglieder für die in den Parteien getroffenen Entscheidungen. Das Parlament, so sagte ich, habe in Wahrheit nach unserer Verfassung die zentrale Funktion. Es sei Gesetzgebungsorgan, es wähle den Bundeskanzler und es kontrolliere die Regierung. Es sei der wichtigste Garant unserer freiheitlichen Ordnung. Ich wies darauf hin, daß die Abgeordneten in eigener Verantwortung zu entscheiden hätten und daß es auch eine Reihe von Beispielen gäbe, wo die Fraktionen von Beschlüssen ihrer Parteien abgewichen seien. Andererseits müsse man bedenken, daß eine politische Gruppe, die mit vielen unterschiedlichen Stimmen spräche, hier und dort Sympathie erwerben möge, „ihre politische Wirkung steigert sie dadurch gewiß nicht. Und so ist es nicht, wie oft zu Unrecht behauptet worden ist, ein Zeichen der Schwäche oder Abhängigkeit der Abgeordneten gegenüber Fraktion oder Partei, wenn sie sich einer in der Fraktion mit Mehrheit beschlossenen Haltung anschließen, sondern es ist Ausdruck der ftindamentalen politischen Einsicht, daß Geschlossenheit ein wichtiges Element in der Auseinandersetzung um das Vertrauen der Wähler ist. [.. .1 In einem modernen, demokratischen Staatswesen von der Größe der Bundesrepublik Deutschland und angesichts der Vielfalt von Fragen, die auf uns zukommen, ist eine kontinuierliche, stetige politische Willensbildung ohne politische Parteien schlechterdings unmöglich. " Ich wies darauf hin, daß der Bundestag sich einer außerordentlichen Akzeptanz unter der Bevölkerung der Bundesrepublik erfreue. An der Bundestagswahl im Oktober 1976 hätten sich 90,7 Prozent der wahlberechtigten Bürger beteiligt. Von den abgegebenen gültigen Stimmen entfielen 99 Prozent auf die im Bundestag vertretenen, zu drei Fraktionen zusammengeschlossenen Parteien. „Einen überzeugenderen Legitimations- und Legitimitätsbeweis als diesen gibt es nicht, und er kann auch nicht durch einige wenige, wenn auch lautstark vorgetragene Stimmen erschüttert werden." Sodann ging ich auf die internationalen Kontakte des Bundestages ein. 72 Abgeordnete des Hauses hätten an Sitzungen des Europäischen Parlaments, der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und der WEU teilgenommen. Bei dieser Gelegenheit gratulierte ich Kai-Uwe von Hassel, der gerade zum Präsidenten der Versammlung der Westeuropäischen Union gewählt worden » ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 105 S. 5648 B - C . " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 102 S. 2 5 1 7 A - 2 5 1 9 C und BUNDESTAGSREDEN S. 2 8 5 - 2 9 0 .
480
war. Die internationalen Kontakte bildeten einen wertvollen Beitrag zur Stärkung des Vertrauens zwischen den Völkern und ihren Parlamenten. Künftig werde der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament eine sehr große Rolle zufallen, zumal ein großer Teil der Abgeordneten des Europäischen Parlaments dem Bundestag nicht mehr angehören würde. Ich schlug vor, wichtige Vorlagen des Europäischen Parlaments im Bundestag zu diskutieren, um das parlamentarische Defizit der Europäischen Gemeinschaften in gewissen Grenzen auszugleichen. Wenn schon das Europäische Parlament in vielen Fragen keine Entscheidungsbefugnis habe, so könne der Bundestag im Rahmen seiner Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung wenigstens auf die Abgabe der deutschen Stimme im Rat der Europäischen Gemeinschaft Einfluß nehmen. Freilich, so sagte ich auch, könnten wir nicht in jeder Hinsicht mit der Arbeit unseres Parlaments zufrieden sein. Oft stünden die Entscheidungen der Fraktionen, der Ausschüsse und des Plenums unter einem zu großen Zeitdruck. Andererseits seien manche unserer Debatten zu langatmig und zu wenig lebendig. Zu der Stellung der Abgeordneten sagte ich, daß ihre Bezüge zwar erhöht worden seien, aber dadurch, daß sie künftig der Besteuerung unterlägen und die Beamten unter den Abgeordneten künftig keine Beamtenpensionen mehr erhielten, entstünde der öffentlichen Hand durch die Neuregelung keine zusätzliche Belastung. Die Bundestagsverwaltung habe mit 1500 Mitarbeitern eine vertretbare Größe. Hinzu kämen freilich 400 Mitarbeiter der Fraktionen und etwa 1000 Mitarbeiter der einzelnen Abgeordneten. Aber bei diesen Zahlen müsse man berücksichtigen, daß der Bundestag die Bundesregierung und die gesamte Bundesverwaltung kontrollieren müsse und dies ohne entsprechende quahfizierte Hilfskräfte nicht bewältigen könne. Die Rede wurde im Plenum gut aufgenommen und wiederholt durch den Beifall aller Fraktionen unterbrochen. In meiner Rede kündigte ich Vorschläge zur Verbesserang der Arbeitsweise des Bundestages an. Nach mehreren Beratungen einigte sich der Ältestenrat auf ein Verfahren, das ich am 5. Oktober 1978 im Plenum erläuterte*®). Danach sollte es künftig möglich sein, die Debatten im Bundestag als Regelaussprache oder als Aussprache mit Kurzbeiträgen zu führen. Im Rahmen der Regelaussprache soUte der erste Redner einer Fraktion höchstens 30 Minuten, die übrigen Redner höchstens 15 Minuten sprechen. Wenn allerdings die Regierung in die Debatte eingriff, stand der Opposition eine gleichlange Redezeit zu, ohne Anrechnung auf die den Fraktionen zustehende Redezeit. In der Aussprache mit Kurzbeiträgen durfte der einzelne Redner nicht länger als 10 Minuten sprechen. Der Präsident durfte die Redezeit nicht verlängern. Welche Art von Debatte geführt woirde, sollte vorher im Ältestenrat festgelegt werden. Das Haus billigte den Vorschlag. In der Folgezeit wurden die beiden neuen Debattentypen mehrfach praktiziert, wodurch eine gewisse Straffung der Beratungen des Hohen Hauses erreicht wurde.
STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 107 S. 8541 B-8542 A. 481
Präsidium
und
Ältestenrat
Der Präsident des Deutschen Bundestages ist der Repräsentant des obersten Verfassungsorgans und hat als solcher eine starke rechtliche und politische Stellung. Er vertritt den Bundestag nach außen; nach innen hat er das Hausrecht und die Polizeigewalt in allen Gebäuden des Bundestages. Er ist zugleich die oberste Dienstbehörde aller Bundestagsbeamten, Angestellten und Lohnempfänger. Er wahrt die Würde des Hauses. In der Wahrnehmung seiner Aufgaben wird der Präsident durch das Präsidium und den Ältestenrat unterstützt. Das Präsidium besteht aus dem Präsidenten und den Stellvertretenden Präsidenten. In meiner Zeit waren dies Richard Stücklen (CSU), Aimemarie Renger, Hermann Schmitt-Vockenhausen (beide SPD) und Liselotte Funcke (ГОР). Ich habe mit allen vier Kollegen vertrauensvoll zusammengearbeitet. Nach den von mir in allen meinen Ämtern vertretenen Grundsätzen, habe ich meine Position zu den anstehenden Fragen stets offen dargelegt. Ich habe auch dankbar manchen Rat der Kollegen entgegengenommen. Alle vier gehörten dem Bundestag länger an als ich imd hatten daher eine größere Erfahrung als ich, insbesondere Frau Renger, die meine Vorgängerin im Amt des Präsidenten gewesen war. In einer Reihe von Fragen hatte das Präsidium mir gegenüber eigene Rechte. Bei Verträgen von erheblicher Bedeutung war ich gehalten, das „Benehmen" mit meinen Stellvertretern herzustellen. Dieser merkwürdige Ausdruck des deutschen Verwaltungsrechts besagt, daß ich meine Stellvertreter vor meiner Entscheidung konsultieren mußte. Aber ich war, zumindest rechtlich, an ihr Votum nicht gebunden. Das gleiche Benehmen mußte ich herstellen, bevor ich höhere Beamte einstellte oder in den Ruhestand versetzte. Entsprechendes galt für Angestellte im Range von höheren Beamten. Seit 1969 besaß darüber hinaus das Präsidium ein echtes Zustimmungsrecht bei der Einstellung oder Beförderung von Leitenden Beamten (Besoldungsgruppe А 16 und höher) oder entsprechend eingestuften Angestellten. Diese Änderung der Geschäftsordnung") hatte die Koalition von SPD und ГОР gegenüber dem Bundestagspräsidenten von Hassel durchgesetzt, der der CDU und damit zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einer Partei angehörte, die in der Opposition zur Regierung stand. Hassels Vorgänger, Eugen Gerstenmaier, hat mir gegenüber mehrfach das Nachgeben von Hassels in dieser Frage als schweren Fehler bezeichnet; aber Gerstenmaier hat mich nicht überzeugt. Einmal weiß ich nicht, vrie von Hassel, als ein von der Minderheit gestellter Präsident, diese Entwicklung hätte verhindern können, und zum anderen habe ich die 1969 getroffene Regelung, zu meiner Amtszeit von 1976 bis 1979, durchaus als sinnvoll empfunden. Daß in einer Verwaltimg wie der des Deutschen Bundestages die parteipoliUsche Zugehörigkeit der Beamten und Angestellten eine Rolle spieh, ist unvermeidlich. Sie darf nur nicht an Stelle der fachlichen Quali-
" ) Bekanntmachung über die Änderang der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 10. Nov. 1969 (BGBl. I S. 2110).
482
fikation treten. Aber sie zu ignorieren, wäre unrealistisch. Die jetzt geltende Regelung stellt sicher, daß die Leitenden Beamten und Angestellten im Konsens zwischen den Fraktionen berufen werden. Ich erinnere mich nicht, daß ich im Präsidium bei der Durchsetzung meiner Vorschläge auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen bin. Meistens versuchte ich, Pakete zu bilden, bei denen jede Seite auf ihre Kosten kam. Das Präsidium traf sich in jeder Sitzungswoche zum Mittagessen in dem alten Präsidialflügel des Bundestages. Der Direktor beim Deutschen Bundestag, Helmut Schellknecht, nahm an unseren Sitzungen teil und protokoUierte die Ergebnisse. Der Ältestenrat hat die Aufgabe, bestimmte Entscheidungen des Bundestages vorzubereiten, insbesondere die Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter und die Verteilung der Räumlichkeiten. Er stellt den Entwmrf für den Einzelplan 02 (Deutscher Bundestag) des BundeshaushaUs auf. Allerdings folgte der mächtige Haushaltsausschuß diesem Entwurf gelegentUch nicht, sondern entschied nach eigenem Ermessen. Das führte 1980 zu einer Änderung der Geschäftsordnung, wonach der Haushaltsausschuß nur im Benehmen mit dem Ältestenrat von dem Voranschlag abweichen darf"). Die wichtigste Aufgabe des Ältestenrates sehe ich darin, daß er Zeitpunkt und Tagesordnung jeder Sitzung festlegt. Er macht auch Vorschläge für die Art der zu führenden Debatte und die Dauer der Redezeit. Endgültig beschließt der Bundestag. Der Ältestenrat besteht aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und 23 Mitgliedern, die die Fraktionen nach ihrer Stärke berufen. Zu meiner Zeit war Philipp Jenninger Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Ältestenrat, Paul Röhner war sein Stellvertreter. Obmann der SPD-Fraktion war Konrad Porzner. Da sich Jenninger und Porzner gut verstanden und Vertrauen zueinander hatten, verliefen die meisten Sitzungen des Ältestenrates undramatisch. Es kam meistens, in verhältnismäßig kurzer Zeit, zu einer Verständigung. Bundestagsverwaltung
und Bautätigkeit
des
Bundestages
Neben meinen übrigen vielfältigen Aufgaben war ich auch der Chef der Bundestagsverwaltung, eines großen Apparates von etwa 1500 Menschen. Dabei wurde ich sehr wirksam vom Direktor beim Deutschen Bundestag, Helmut Schellknecht, unterstützt. Schellknecht war ein umsichtiger, verläßlicher Beamter, dem die schwere Aufgabe zufiel, die ständig an ihn herangetragenen, zum Teil in massiver Form vorgebrachten Wünsche von über 500 Abgeordneten und 1500 Mitarbeitern miteinander in Einklang zu bringen, sie zu erfüllen und auch abzulehnen. Ich habe sehr gut mit ihm zusammengearbeitet. Sein Vorgänger war der beinahe schon legendäre Direktor Hans Trossmann gewesen, der, in der Zeit der Präsidentschaft von Eugen Gerstenmaier und mit seiner Unterstützung, ein straffes Regiment im Hause führte. Es galt als unklug, sich mit ihm anzulegen. Bekanntmachung der Neufassung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 2. Juh 1980 (BGBl. I S. 1237), hier § 6 Abs. 3.
483
Die Bundestagsverwaltung gliederte sich in zwei Hauptabteilungen, die für Verwaltung und die für den Wissenschaftlichen Dienst. An ihrer Spitze standen die Ministerialdirektoren Heribert Roeskens und Gerhard Zwoch. Roeskens löste die delikate Aufgabe der Personalführung des großen Hauses behutsam und im ganzen störungsfrei. Zwoch war ein engagierter Geisteswissenschaftler, der sich um den Ausbau des Wissenschaftlichen Dienstes verdient gemacht hat. Er starb 1982. Sein Nachfolger wurde Dr. Rupert Schick, der früher das Organisationsreferat geleitet hatte. Mit allen dreien, Roeskens, Zwoch und Schick, arbeitete ich gut zusammen. Daß sie aus verschiedenen Parteien kamen, die teils miteinander die Regierung bildeten, teils als Regierung und Opposition in scharfer Auseinandersetzung miteinander standen, vwrkte sich nicht negativ aus, solange alle Beteiligten mit offenen Karten spielten. Ärger gab es jedesmal, wenn sich herausstellte, daß eine Seite einen ihr nahestehenden Mitarbeiter, hinter dem Rücken der anderen, zu fördern versuchte. Ein sehr wichtiges Element in der Verwaltung des Bundestages bildete der Personalrat, dessen Mitglieder in geheimer Wahl von allen Mitarbeitern gewähh Würden. Vorsitzender war Hermann Ilaender. Ich legte großen Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Personalrat und konsultierte ihn auch dann, wenn nach dem Gesetz seine Zustimmung nicht vorgeschrieben war. Ein Thema, das mir hier, wie auch schon in anderen Verwaltungen, an deren Spitze ich gestanden hatte, sehr am Herzen lag, war der Aufstieg von Beamten und Angestellten in die nächsthöhere Stufe der Hierarchie. Wie schon in der Armee Unteroffiziere, die wegen ihrer besonderen Leistungen zu Offizieren befördert wurden, durchweg eine hervorragende Rolle spielten, erwiesen sich auch in der Verwaltung Beamte und Angestellte, die aus dem sogenannten gehobenen Dienst in den höheren Dienst aufstiegen, als besonders effizient. Ich war ein entschiedener Gegner einer einseitigen Bevorzugung von Hochschulabsolventen und suchte die tüchtigen Beamten und Angestellten, die nicht studiert hatten, wo ich konnte, zu fördern. Ihre praktische Erfahrung war oft ebenso wichtig, ja manchmal wichtiger, als das theoretische Wissen der Universitätsabsolventen. Ich bewahre an die gemeinsamen Sitzungen mit dem Personalrat eine sehr gute Erinnerung. Bei der Abschiedsrede, im Mai 1979, schloß ich mit folgenden Worten: „Die Mitbestimmung, auch im öffentlichen Dienst, ist einer der Eckpfeiler unserer demokratischen Staatsführung. Wenn sie funktioniert, wirkt sie sich überaus segensreich für die Verwaltung und für die Angehörigen der Verwaltung aus. Ich möchte Sie bitten, die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages fortzusetzen — wer auch immer in Zukunft der Präsident dieses Hauses sein wird"'®).
" ) Vgl. dazu auch die Rede von Karl Carstens im Deutschen Bundestag am 31. Mai 1979 aus Anlaß der Niederlegung des Amtes des Bundestagspräsidenten in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 110 S. 12501 A-12503 C, hier 12502 A. 484
Zu den Aufgaben, die mir im Rahmen der Bundestagsverwaltung zufielen, gehörten die Neubaupläne für das Bundeshaus, insbesondere für den Plenarsaal. Die Vizepräsidenten Frau Renger und Stücklen hatten sich dieser Thematik mit großer Hingabe und viel Sachverstand angenommen. Es war ein unendlich mühsamer, langsamer, von ständigen Rückschlägen begleiteter Prozeß. Einmal versuchte ich, die geleisteten Vorarbeiten zu einem Abschluß zu bringen. Ich lud den Bundeskanzler, den Präsidenten des Bundesrates, die Vizepräsidenten des Bundestages und die Fraktionsvorsitzenden zu einer abendlichen Besprechung in das Amtshaus des Bundestagspräsidenten in Godesberg ein. Und es gelang mir, so glaubte ich wenigstens, alle Beteiligten unter einen Hut zu bringen: Der neue Plenarsaal sollte rund sein, so daß die Abgeordneten einander in einer ansteigenden Sitzordnung gegenübersaßen. Ein Sektor des Kreises sollte dem Präsidenten mit den Schriftführern und Stenographen und rechts von ihm der Bundesregierung, sowie links von ihm dem Bundesrat vorbehalten sein. Dieses Gespräch fand 1978 statt. Aber sein Ergebnis wurde in der Folgezeit mehrfach umgestoßen, und es hat mehrere Jahre, bis zur Präsidentschaft meines dritten Nachfolgers, Philipp Jenninger, gedauert, bevor der Neubau des Plenarsaales begonnen werden konnte. Etwas schneller kamen die Pläne für den Neubau eines Treppen- und Aufzugturmes neben dem Abgeordnetenhochhaus, dem sogenannten „Langen Eugen", zum Abschluß. Die für den Feuerschutz zuständigen Behörden hatten darauf hingewiesen, daß nach den Erfahrungen mit einem Großbrand in Frankfurt das Treppenhaus und die Fahrstühle im Hochhaus des Bundestages bei einem Brand nicht benutzbar sein würden, so daß ein Teil des 29stöckigen Gebäudes durch das Feuer eingeschlossen werden würde. Sie hatten den Bau eines feuersicheren Turmes mit Fahrstühlen und Treppenhaus außerhalb des „Langen Eugens" gefordert. Architekten hatten die nicht ganz einfache Aufgabe zu meiner Zufriedenheit gelöst, und ich beantragte im Haushaltsausschuß, die Mittel für den Anbau zu bewilligen. Aber der Haushaltsausschuß machte Schwierigkeiten. In dem Bewußtsein seiner großen Machtfülle wollte er sich mit den vorgelegten Plänen nicht zufriedengeben. Da platzte mir der Kragen. Ich teilte dem Haushaltsausschuß mit, daß ich, nicht der Haushaltsausschuß, die Verantwortung für die feuersichere Unterbringung der Abgeordneten hätte. Ich könnte eine weitere Verzögerung nicht verantworten. Die Folgen eines Großbrandes wären verheerend. In der Zeit starker Terrortätigkeit müßte man mit einer solchen Situation rechnen. Ich würde nunmehr die Aufträge zum Bau des Treppenhauses aufgrund der vorgelegten Pläne, gegebenenfalls ohne Zustimmung des Haushaltsausschusses, vergeben. Der Bund würde dann für mein Verhalten haften, und die Firmen vimrden einen Ansprach auf Zahlung ihrer Rechnungen gegen den Bund haben. Der Bund könne dann zwar bei mir Regreß nehmen, weU ich ohne Zustimmung des Haushaltsausschusses gehandeh hätte, aber ich möchte das Gericht sehen, das mich in einer solchen Lage verarteilen würde. Diese massive Drohung wirkte. Der Haushaltsausschuß genehmigte den Anbau. Es ist übrigens das einzige öffentliche Gebäude, für dessen Errichtung 485
ich die Verantwortung habe. Es ist vielleicht kein Schmuckstück, aber es fügt sich doch insgesamt harmonisch in den Hochhauskomplex ein — jedenfalls ist die Feuersicherheit dadurch entscheidend verbessert worden. Rede zur Enquête-Kommission
„Verfassungsreform"
Als Bundestagspräsident war ich der Adressat des Schlußberichts, den die 1970 vom Bundestag eingesetzte Enquête-Kommission „Verfassungsreform" im Jahr 1976 der Öffentlichkeit vorgelegt hatte^®). Aus Anlaß der bevorstehenden Debatte ihres Schlußberichts im Bundestag würdigte ich in einer kurzen Ansprache am 17. Februar 1978 die Bedeutung und die wichtigsten Vorschläge der Kommission^^). Ich gebe hier einige Passagen aus dieser Ansprache wieder: „[...] Der Auftrag [der Kommission] lautete zu prüfen, ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — anzupassen. [.. .1 Nicht erst mit ihrem Schlußbericht, sondern auch während ihrer ¡angjährigen Tätigkeit hat sich die Enquête-Kommission zunehmend zu einem wichtigen Faktor in der Diskussion der Verfassungspolitik in Wissenschaft und Pubhzistik entwickelt. Es war richtig, daß die Kommission von Anfang an Wert daraufgelegt hat, ihre Reformüberlegungen in engem Kontakt mit der interessierten Öffentlichkeit anzustellen. Vor allem der Schlußbericht der Kommission hat ein lebhaftes publizistisches und wissenschaftliches Echo ausgelöst und auch Eingang in die Lehrveranstaltungen der Hochschulen und Akademien gefunden. [...] Der Föderalismus war ein zentrales Thema der Enquête-Kommission. In der Plenardebatte, die dem Einsetzungsbeschluß vorausging, wurden auch die Grenzen der Aufgaben der Enquête-Kommission klar abgesteckt. Eine Totalrevision des Grundgesetzes wurde ausgeschlossen, und die Grundprinzipien der Verfassung, wie Föderalismus, parlamentarisches Prinzip, Volkssouveränität und Grundrechtsbestand, sollten gewahrt bleiben. Übereinstimmend wurde die Notwendigkeit eines breiten politischen Konsenses für die Annahme der Reformempfehlungen betont. Mit der Einsetzung der Enquête-Kommission Verfassungsreform hat der Deutsche Bundestag von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die die kleine Parlamentsreform mit der Einfügung des § 74a der Geschäftsordnung bereitgestelh hat. Das hier verankerte Institut der Enquête-Kommission soll dazu dienen, Entscheidungen des Bundestages auf bedeutsamen Gebieten langfristig vorzuBeratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform, Schlußbericht der Enquetekommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil 1 und 2, veröffentlicht vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn 1976 und 1977. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 105 S. 5757 D - 5 7 5 8 D.
486
bereiten. Enquête-Kommissionen sind gewissermaßen parlamentarische Planungsstäbe. Unabhängig von laufenden Gesetzgebungsverfahren erfüllen sie ihren vom Parlament erteilten Auftrag durch die Vorlage eines Berichts mit Bestandsaufnahme, Analyse, Vorschlägen und Empfehlungen. Die Besonderheit dieser Enquête-Kommissionen besteht in ihrer personellen Zusammensetzung, die über den Bereich des Parlaments hinausgreift und es so dem Parlament ermöglicht, sich Sachverstand von außerhalb institutionell zunutze zu machen. Bei der Zusammensetzung der Enquête-Kommission Verfassungsreform waren wohl die Regierungen der Länder, aber nicht die Länderparlamente berücksichtigt worden. Dies führte zur Schaffung einer zusätzlichen Institution, der Länderkommission Verfassungsreform. Sie brachte vor allem die Vorstellungen der Länderparlamente in die Überlegungen zur Verfassungsreform ein und hat ßr die Tätigkeit der Enquête-Kommission einen wertvollen Beitrag geleistet. [.. .1 Neben dem weiten Feld der bundesstaatlichen Ordnung war das andere Arbeitsgebiet der Kommission die Stellung des Parlaments im Staat. Die Kommission setzt sich für eine stärkere Position des Parlaments im Veifassungsorganismus ein. Sie schlägt außerdem vor, dem Bürger verbesserte Möglichkeiten der Einwirkung auf die Auswahl der Kandidaten zu geben. Begrüßenswert sind auch die Folgerungen, die die Kommission aus der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages gezogen hat. Ihre Empfehlung, die Wahlperioden nahtlos ineinander übergehen zu lassen, ist inzwischen verwirklicht worden. Zur Daueraufgabe der Parlamentsreform hat die Enquête-Kommission ebenfalls einen Beitrag geleistet. Über die Ausgestaltung der Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren werden wir ebenso zu reden haben wie über die Vorschläge zur Gestaltung der Gesetzgebung. In zahlreichen Fragen hat die Kommission Änderungsvorschläge geprüft und sie schließlich doch verworfen, weil sie die grundsätzlichen Lösungen des Parlamentarischen Rates auch heute noch als richtig ansah. Dies gilt u. a. für das entschlossene Bekenntnis der Kommission zum freien Mandat als einem notwendigen Strukturelement der parteienstaatlichen repräsentativen Demokratie. Das gilt auch für den Bundesrat, das „Gelenkstück" zwischen parlamentarischem System und bundesstaatlicher Ordnung. Auch soweit die Beratungen der Kommission dazu geßhrt haben, von einer Empfehlung zur Verfassungsreform abzusehen, erscheinen die Ergebnisse bedeutsam, zeigen sie doch, daß die vor 30 Jahren getroffenen Entscheidungen des Parlamentarischen Rates noch heute als gültig angesehen werden. Í.. .1" Auch rückblickend, nach Ablauf von mehr als 10 Jahren, erscheint die Arbeit der Enquête-Kommission Verfassungsreform überaus bedeutsam. Einige ihrer Vorschläge, z. B. dem Bürger einen größeren Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten bei Bundestagswahlen zu geben, harren immer noch der Verwirklichung. 487
Wahlkreisarbeit Auch als Bundestagspräsident besuchte ich regelmäßig meinen Wahlkreis. Ich woUte natürlich bei der nächsten Bundestagswahl 1980 wieder als Kandidat aufgestellt und nach MögUchkeit wieder direkt gewähU werden. Für den Bundestagspräsidenten, der sein Amt йЬефаг1е1исЬ ausüben soll, entsteht dabei eine gewisse Schwierigkeit. Natürlich kann er keine überparteilichen Reden im Wahlkampf halten. Da muß er die eigene Position kraftvoll vertreten und wird auch nicht darum herumkommen, die politischen Gegner anzugreifen. Aber in den Jahren, in denen kein Wahlkampf stattfand, legte ich mir in allen politischen Reden eine gewisse Zurückhaltung auf. Wieder ist das englische System dem unseren voraus. Der Speaker des Unterhauses muß sich natürlich bei einer Neuwahl des Parlaments in einem Wahlkreis zur Wiederwahl stellen. Aber traditionsgemäß stellt dann keine andere Partei einen Gegenkandidaten gegen ihn auf. Dann kann sich der Speaker, wenn er um die Stimmen der Wähler wirbt, auch im Wahlkampf йЬефаг1е1ИсЬ präsentieren. Freilich gibt es in England auch Ausnahmen von dieser Regel. Und dann muß der Speaker notgedrungen die Auffassung seiner Partei kämpferisch vertreten. Ich besuchte regelmäßig die größeren Orte in meinem Wahlkreis. In vielen von ihnen war die CDU die stärkste Partei. Regelmäßig traf ich auch mit dem Kreisvorsitzenden der CDU, Dr. Rolf Olderog, zusammen. Häufig arbeitete ich mit dem Landrat des Kreises Ostholstein, Wolfgang Claussen, und dem Kreispräsidenten Emst-Günther Prühs sowie mit Fritz Latendorf, einem der drei Landtagsabgeordneten des Kreises, zusammen. Latendorf ist einer der populärsten Politiker Schleswig-Holsteins. Seine Wortprägungen und Vergleiche sind bestes politisches Vokabular. Mit Heiko Hoffmann, einem anderen Landtagsabgeordneten, blieb ich befreundet. Ich schätzte ihn hoch wegen seines ausgewogenen, wohlbegründeten Urteils. Von den sozialdemokratischen Politikern, mit denen ich gelegentlich zusammenkam, nenne ich Günther Jansen, den Bürgermeister von Süsel und späteren schleswig-holsteinischen Landesminister. Jansen besuchte meine Veranstaltungen und meldete sich in der Diskussion zu Wort. Seine Beiträge waren fundiert und höflich vorgebracht. Wir sind niemals aneinandergeraten. Natürlich versuchte ich, seine Ansichten zu widerlegen. Aus der langen Liste der Veranstaltungen, die ich auch als Bundestagspräsident im Wahlkreis wahrnahm, nenne ich als Beispiele eine Rassegeflügelschau in Ahrensbök, den Kreisverbandstag der Kleingärtner in Stockelsdorf, ein Orgelkonzert in Bosau und eine „Wildwasserfahrt" im Ferienpark Hansaland. Hier traf ich mit vielen Bürgern zusammen, die ich als Abgeordneter im Bundestag vertrat. Als besonders erfreulich habe ich meine Begegnungen mit einer Reihe von Geistlichen meines Wahlkreises in Erinnerung: Bischof Wilhelm Kieckbusch, Eutin, war der letzte Bischof der EvangeUschen Landeskirche Lübeck, die später in der Nordelbischen Kirche aufging. Kieckbusch war damals schon weit über 488
70, aber von ungebrochener Vitalität, ein großartiger Prediger, konservativ durch und durch, Sohn eines Hamburger Kutschers, der zu keinem Zeitpunkt seine Herkunft und seine nationale Gesinnung verleugnete und dabei von allen, auch den „Linken" respektiert wurde. Wichtig waren für mich auch die regelmäßigen Kontakte mit der Handelskammer Lübeck, zu deren Bezirk Ostholstein gehört. Präses Klaus Richter, der spätere Präsident des Gesamtverbandes Groß- und Außenhandel, und der tüchtige Geschäftsführer Jürgen Pratje setzten sich für die wirtschaftliche Entvdcklung meines Wahlkreises - besonders für den Bau der Vogelfluglinie - ein. Schließlich erwähne ich auch die Presse. Zu den Lübecker Nachrichten besserten sich meine Beziehungen. Aus der Feder von Bernd Brügge las ich manches anerkennende Wort über mich. Bei meinen Auftritten im Wahlkreis entstanden gelegentlich Spannungen zu meinem Gegenkandidaten von der SPD, Klaus Konrad, den ich bei der Wahl vom Oktober 1976 knapp geschlagen hatte. Er war verständlicherweise daran interessiert, daß ihn der Wahlkreis 7 ebenfalls als einen seiner Bundestagsabgeordneten betrachtete und fühlte sich zurückgesetzt, wenn er zu bestimmten Veranstaltungen, z. B. zum Hafentag in Heiligenhafen, an dem ich teilgenommen hatte, nicht eingeladen worden war. In einem Leserbrief an eine lokale Zeitung griff er mich an, indem er von meiner „gespreizten und gestelzten Würde" sprach. Ich antwortete in der Regel nicht. W e n n nötig schrieb Thomas Stehling einen Leserbrief. Erfreulicherweise besserte sich mein Verhältnis zu Konrad mit der Zeit. Zum Jahreswechsel 1978/79 wechselten wir freundliche Briefe. Stark beeindruckte mich eine Rede, die Konrad als Berichterstatter seines Ausschusses bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Stiftung BundeskanzlerAdenauer-Haus in Rhöndorf im Deutschen Bundestag hielt"). Er vnirde Adenauer, wie ich fand, dabei voll gerecht. Als ich Bundespräsident geworden war, sprach er öfter mit Hochachtung von mir. Auch rechnete ich es ihm hoch an, daß er meine Frau und mich, trotz einer Gehbehinderung, auf unserer Deutschlandwanderung im Jahre 1979^') ein Stück begleitete. Von Zeit zu Zeit gab ich einen Überblick über meine Tätigkeit im Wahlkreis. Die hier nur als Stichworte erwähnten Punkte aus meinem Jahresbericht für 1978 vermitteln einen Eindruck von der Fülle der kleinen Probleme eines Wahlkreises, mit denen sich der zuständige Bundestagsabgeordnete beschäftigen muß: Kutterfischer - Bundesbahn (Streckenstillegungen) - Zonenrandförderung — Lärmbelästigung — Autobahn A 1. Nach meiner Wahl zum Bundespräsidenten legte ich das Bundestagsmandat nieder. Auf einer Veranstaltung der CDU am 22. Juni 1979 in Neustadt/Holstein, neun Tage vor meinem Amtsantritt, hielt Dr. Olderog die Abschiedsrede. Er schilderte die Schwierigkeiten, die ich zu Anfang gehabt hatte. Der Kreisvorsitzende der Jungen Union hatte erklärt, daß ich den Ansprüchen der STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. (BGBl. I S. 1 8 2 1 ) . " ) Vgl. dazu Kap. XI S. 644.
107
S.
8426 Β-Θ427
D. -
Gesetz vom
24.
Nov.
1978
489
Jungen Union nicht genüge. Ein Redakteur der Lübecker Nachrichten hatte gesagt: „Dieser Mann, der noch nicht einmal Gemeindevertreter gewesen ist, will jetzt in den Bundestag." Das war 1972. Vier Jahre später gab es, so Olderog, keine Zweifel mehr. „ Wir freuten uns, daß unser Abgeordneter Oppositionsführer in Bonn geworden war. Nie habe ich erlebt, daß einem Politiker bei uns so viel Sympathie, so viel Freundschaft, Bewunderung, ja mehr noch, so viel Verehrung und Liebe entgegengebracht wurde wie Ihnen, Herr Professor Carstens. Bei der Nominierung als Kandidatur die 76er Wahl erreichten Sie dann, wovon Politiker eigentlich nur träumen können, und was vielleicht sogar einmalig im Bundesgebiet war: über dreihundert Vertreter der ostholsteinischen CDU wählten Sie in Malente in geheimer Wahl einstimmig zu ihrem Kandidaten. Jubel und Beifall wollten nicht enden. Ich habe so etwas noch nie in Ostholstein erlebt." Sieben Jahre sei ich der Gesprächspartner der Bürger Ostholsteins gewesen, dafür dankte mir Olderog. Auf mein Wort hätte man sich verlassen können.
2. Internationale Kontakte Eine wichtige Aufgabe des Bundestagspräsidenten bildet die Pflege der internationalen Kontakte. Längst gehören die Zeiten der Vergangenheit an, in denen diese Aufgaben allein von den Staatsoberhäuptern, den Regierungen und den diplomatischen Diensten der Staaten wahrgenommen vmrden. Heute spielen die internationalen Kontakte der Parlamente für die Herstellung besserer, ja für die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern eine große Rolle. Abgeordnete, die jahrelang dem Europäischen Parlament oder den Parlamentarischen Versammlungen des Europarats und der Westeuropäischen Union oder der Interparlamentarischen Union angehört haben, verfügen über ein festes, verläßliches Netz von internationalen Beziehungen. Der Bundestagspräsident wirkt dabei in dreifacher Weise mit. Einmal ist er der Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland auf internationalen Konferenzen von Parlamentspräsidenten, zum anderen besucht er auf Einladung ausländischer Parlamente, meist zusammen mit einer Delegation von Abgeordneten des Bundestages, die Gastländer, und schließlich nimmt er als Politiker seines Landes ad personam an zahlreichen internationalen Begegnungen und Diskussionsforen teil. Ich gebe im folgenden eine kleine Auswahl meiner internationalen Begegnungen wieder: Konferenz der Europäischen
Parlamentspräsidenten
Im Juni 1977 nahm ich, auf Einladung des Präsidenten des österreichischen Nationalrats Anton Benya und des Präsidenten des österreichischen Bundesrates Hans Bürkle, an einer Konferenz der Parlamentspräsidenten aus den Mit490
gliedstaaten des Europarates teiP*). Dreizehn Staaten waren vertreten, einige durch zwei Präsidenten, so Großbritannien (Unterhaus, House of Lords), ItaHen (Abgeordnetenhaus, Senat), Bundesrepublik Deutschland (Bundestag und Bundesrat). Dazu nahmen die Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und des Europäischen Parlaments der EG teil. Neben einem glanzvollen gesellschaftlichen Programm, mit einem Empfang in der Hofburg und einem Besuch der Oper, stand im Mittelpunkt der Erörterung das Projekt einer Europäischen Politischen Union. Dazu nahm sowohl der Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident Bernhard Vogel, als auch ich Stellung. Vogel sagte, es werde aus vielen Gründen unmöglich sein, der Europäischen Union eine zentraUstische Struktur zu geben. Er forderte eine föderative Ordnung; dazu soUte das künftige europäische Parlament aus zwei Kammern zusammengesetzt sein, einem direkt gewählten Abgeordnetenhaus und einem von den nationalen Regierungen bestellten Staatenhaus nach Art des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland. Ich stimmte dem Vorschlag Vogels zu und hob meinerseits besonders die Bedeutung der Menschenrechte für die Einigung Europas hervor. Die Europäische Politische Union müsse die im Rahmen des Europarats erarbeitete und seit 25 Jahren geltende Menschenrechtskonvention übernehmen, die weltweit vorbildliche Regelungen enthalte. Aus der Diskussion ist mir ein kleiner Vorfall in unvergeßlicher Erinnerung. Zu einem Diskussionsbeitrag eines anderen Parlamentspräsidenten, dem Präsident Benya nicht zustimmen wollte, sagte er, indem er sich plötzlich zu mir wandte: „Ich glaube, Herr Bundestagspräsident, wir Deutsche sehen das etwas anders." Mich hat diese Bemerkung sehr erfreut. Sie zeigte, wie stark doch das in Jahrhunderten, fast einem Jahrtausend gewachsene und erst nach 1938 mutwillig zerstörte Band zwischen Österreichern und Deutschen ist.
Zu Gast in Wien Im Februar 1978 hielt ich vor der Österreichisch-Deutschen Kulturgesellschaft auf Einladung meines langjährigen guten Freundes, Professor Herbert Schambeck, der zugleich Stellvertretender Vorsitzender des österreichischen Bundesrates war, einen Vortrag über das Thema „Politik für den Frieden als gemeinsame Aufgabe"^'). Ich unterschied zwischen dem negativen Frieden, das heißt einem Zustand ohne Krieg und Gewaltanwendung, und dem positiven Frieden, in dem Freiheit und Gerechtigkeit, auch die Freiheit von Not, Furcht und Unwissenheit für Völker und Menschen verwirklicht sei. Natürlich sei der positive Frieden als Endziel erstrebenswert, aber man solle sich hüten, über den negativen Frieden geringschätzig zu sprechen. Schon die Abwesenheit von Krieg und Gewalt in allen Zu der Konferenz in Wien am 10. und 11. Juni 1977 vgl. Archiv der Gegenwart 1977 S. 21073 f. " ) Vortrag vom 1. Febr. 1978, veröffentlicht in ZUSAMMENLEBEN S. 2 9 4 - 3 1 5 .
491
Teilen der Welt würde einen großen Fortschritt darstellen. Als Instrumente zur Bewahrang des Friedens bezeichnete ich die Europäische Gemeinschaft und das Nordatlantische Bündnis, das ein reines Verteidigungsbündnis sei, femer den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Gewaltanwendung und die Politik der Entspannung gegenüber dem Osten, das Bemühen um Abrüstung und Rüstungskontrolle. Eingehend würdigte ich die KSZE-Schlußakte vom I.August 1975. Sie sei für beide Seiten ein Erfolg gewesen. Die Sowjetunion habe erreicht, daß der territoriale und politische Status quo in Europa festgeschrieben wurde. Nach ihrem Verständnis habe sie auch erreicht, daß der Westen ihre Expansionspolitik, z. B. in Angola, tolerierte. Der Westen habe die Erklärung über die Menschenrechte (Korb 3) durchgesetzt, auf die sich jetzt die Dissidenten in der Sowjetunion, in der DDR und in der CSSR beriefen. Das Eintreten für die Menschenrechte überall auf der Welt sei ein unverzichtbarer Teil der westlichen Friedenspolitik. Am Schluß setzte ich mich mit dem Problem der Gewaltanwendung zur Beseitigung eines ungerechten Zustandes auseinander. Als äußerstes Mittel gegen eine menschenverachtende Diktatur sei sie denen, die unter der Diktatur litten, erlaubt. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Verschwörung der Widerstandskämpfer zur Beseitigung Hitlers sei ein solches Beispiel gewesen. Aber Gewalt dürfe nur das letzte Mittel sein. Oft bringe Gewaltanwendung zur Beseitigung eines ungerechten Zustandes wesentUch mehr Unglück und Leid über die Menschen als sie vorher erduldet hätten. Keinesfalls sei Gewahanwendung zur Beseitigung eines ungerechten Zustandes in den internationalen Beziehungen erlaubt. Die Lehre vom gerechten Krieg sei überholt. Nur zur Selbstverteidigung und in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen sei Gewaltanwendung erlaubt. Völlig absurd sei die Theorie, daß in demokratischen Staaten strukturelle Gewalt herrsche, zu deren Beseitigung Gewalt gegen Sachen und Menschen erlaubt sei. Ein solches Verhalten sei kriminell. Am Schluß rief ich meine Hörer zur Hilfsbereitschaft und Zuwendung gegenüber den leidenden Menschen auf. Auf ihr ruhe letztlich der Friede. Anläßlich meines Wiener Besuches stattete ich dem Präsidenten des Nationalrates Anton Benya und seinem Stellvertreter Roland Minkowitsch Besuche ab. Der letztere lud mich zu einem festlichen Essen auf seinen Hof außerhalb Wiens ein. Wir tafelten und redeten lange in fröhhcher Runde. Auch den Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger suchte ich auf. Er empfing mich überaus freundlich. Es war die erste von zahlreichen weiteren Begegnungen, die zu einer freundschaftlichen Verbindung zwischen uns führten. Tagung der Interparlamentarischen Union in Bonn Vom 5. bis 14. September 1978 war der Deutsche Bundestag Gastgeber der Interparlamentarischen Union (IPU). Die IPU war Ende des neunzehnten Jahrhunderts gegründet worden. Ihr wichtigstes Ziel war es, den Parlamenten einen größeren Einfluß bei der Erhaltung des Friedens in der Welt und der Verständigung unter den Völkern zu verschaffen. Die erste Konferenz trat 1889 in Paris 492
zusammen. Es folgten weitere Konferenzen in London, Rom und Bern. Seit 1890 nahmen auch Vertreter des Deutschen Reichstages an ihnen teil. Um die Jahrhundertwende hatte die IPU einen wichtigen Anteil an dem Zustandekommen der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Im Jahre 1908 war der Reichstag in Berlin zum erstenmal Gastgeber der IPU. Die zweite Interparlamentarische Konferenz auf deutschem Boden fand 1928 wieder in BerUn statt. Und 50 Jahre später konnten wir die IPU in Bonn empfangen. Es war die 65. Konferenz in ihrer Geschichte. Von 76 Mitgliedsstaaten erschienen 71. Wir konnten über 1200 Delegierte und Gäste begrüßen^®). Die Konferenz wählte mich zu ihrem Präsidenten. In der für mich ungewohnten Funktion wurde ich von dem ständigen Präsidenten des IPU-Rates, Sir Thomas Williams und von dem Generalsekretär, Pio Carlo Terenzio, hervorragend unterstützt. Der gesellschaftUche Rahmen der Konferenz war glanzvoll. Bundespräsident Scheel empfing die Mitglieder auf Schloß Augustusburg in Brühl. Bundeskanzler Schmidt gab für die Delegationsleiter ein Essen im Palais Schaumburg. Und auf meine Anregung veranstalteten die Bundesländer ein reichhaltiges kulturelles Programm mit vielen folkloristischen Einlagen in der Beethovenhalle. Der deutsche Föderalismus zeigte sich von seiner besten Seite. An drei Tagen unternahmen die Delegierten auf meine Einladung Ausflüge ins Ruhrgebiet, in das Maintal und nach Trier, von denen sie begeistert zurückkamen. Kurz vor Beginn der Konferenz kam es zu einem kleinen diplomatischen Zwischenfall. Der sowjetische Delegierte protestierte dagegen, daß die Delegation der Bundesrepublik Deutschland den Berliner Abgeordneten Franz Amrehn als ihren Vorsitzenden benannt hatte. Ich wies den Protest zurück, und damit war der Vorgang erledigt. Nach einer Generaldebatte über die weltweite politische, vdrtschaftliche und soziale Lage, darunter den arabisch-israelischen Konflikt, die Westsahara-Frage und die Lage auf Zypern, wandte sich die Konferenz sieben Themen zu, zu denen Resolutionen verabschiedet v^oirden. Sie betrafen: die Abrüstung, die Nahostfrage, die Rohstoff preise, die Verschuldung der Entwicklungsländer, den Analphabetismus, den internationalen Terror, die Beseitigung des Kolonialismus (mit einer Verurteilung der Apartheid in Südafrika) und das Internationale Jahr des Kindes. Die Debatten verliefen ruhig. Wenn die Redner, z. B. bei der Behandlung des israelischen-arabischen Konflikts, sich zu stark engagierten, mahnte ich alle Mitglieder der Konferenz, sich einer moderaten Sprache zu bedienen. Ich verhängte keinen Ordnungsruf, aber ich achtete strikt auf die Einhaltung der jeweils vorher durch Beschluß der Konferenz festgelegten Redezeit. Die höchste Überschreitung der Redezeit betrug während meiner Amtsführung 50 Sekunden. Das wurde von allen erfahrenen Konferenzteilnehmern als sensationeller Erfolg gewertet. Veröffentlichung der Debatten in Inter-Parliamentary Bulletin — Official Organ of the Bureau of the Inter-Parliamentary Union Nr. 58, Genf 1978.
493
Offizielle Sprachen waren Englisch und Französisch, doch wurde simultan in fünf weitere Sprachen (Spanisch, Russisch, Japanisch, Arabisch, Deutsch) gedolmetscht. Auffallend war, wie viele Delegierte Deutsch sprachen. Außer den Teilnehmern aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Österreich und der Schweiz auch Tschechoslowaken, Rumänen und Israelis. Der Delegierte der CSSR dankte mir für meine Amtsführung in deutscher Sprache. In meinen Schlußworten würdigte ich besonders die Tatsache, daß wir einander in Ruhe zugehört hätten. Dadurch sei eine Atmosphäre des Vertrauens entstanden, die für unsere Arbeit jetzt und in Zukunft von entscheidender Bedeutung sei. Ich Schloß mit einem Hinweis auf die deutsche Teilung. Wir litten darunter, so sagte ich, und hofften auf eine Wiedervereinigung mit friedlichen Mitteln. Die Resolutionen der IPU wurden von den einzelnen Delegationen ihren jeweiligen Parlamenten zugeleitet. Sie zeichnen sich durch den umständlichen und schwer lesbaren Stil der meisten internationalen Resolutionen aus und zeigen, daß die Themen der Konferenz die gleichen waren wie die der vorangehenden und der folgenden Konferenzen. Fortschritte wurden nur mühsam und in kleinen Etappen erzieh, aber der Appell an das Weltgewissen verhallte nicht ungehört^'). Reise in die USA Bei einem Besuch in Washington, im Februar 1978, führte ich Gespräche mit Vizepräsident Walter Mondale, Außenminister Cyrus Vance und Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski sowie mit dem früheren Außenminister Henry Kissinger. Vance war, ebenso wie ich, Student an der Yale Law School gewesen. Wir beide verehrten Professor Myres McDougal. Im Senat wurde ich mit einer stehenden Ovation offiziell begrüßt. Anschließend sprach ich mit dem Führer der Mehrheitsfraktion, Senator Robert C. Byrd, und weiteren Abgeordneten. Ich behandelte eingehend das Phänomen des Terrorismus in Deutschland. Er sei der schreckliche Auswuchs einer philosophischen Lehre, die unsere freiheitliche Ordnung als ein Gewaltsystem bezeichne, gegen das „Gegengewalt" erlaubt, ja geboten sei. Die deutschen Terroristen würden zum Teil im Ausland, so z. B. im Südjemen, ausgebildet. Zur Lage in Deutschland sagte ich, das Bewußtsein der Einheit der Nation sei immer noch vorhanden, aber die Machthaber in Ostberlin setzten ihre Politik kleinlicher Schikanen fort. Vor kurzem hätten sie dem Führer der Opposition, Helmut Kohl, die Einreise verweigert. Die Amerikaner berichteten über die Situation im Nahen Osten. Israel und die arabischen Staaten seien sehr nervös, beide hofften, daß die USA, insbesondere Präsident Jimmy Carter, helfen würden. Der Präsident sei persönlich engagiert. " ) Siehe Resolutions, Nominations, Elections: 65. Inter-Parliamentary Conference, Bonn, September 5 - 1 3 , 1978. Hrsg. vom Büro der Inter-Parliamentary Union, Genf 1978; für den Bundestag siehe BT-Drs. 8/2344 vom 4. Dez. 1978. 494
Uns drängten die Amerikaner, verstärkte Anstrengungen zur Belebung der Weltwirtschaft zu unternehmen. Ich wies auf unsere begrenzten Möglichkeiten hin. Vor allem miißten wir an der Politik einer stabilen Währung festhalten. Ich erörterte auch die Frage der Einführung von Neutronen-Waffen bei den amerikanischen Streitkräften in Europa und wies auf unsere Bedenken hin. Die Amerikaner sagten dazu, sie würden diese Waffe nicht gegen den Willen ihrer europäischen Partner einführen. Meinen allgemeinen Eindruck faßte ich nach meiner Rückkehr so zusammen, daß trotz gewisser Probleme die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Grunde intakt seien. „Jede Seite sieht in dem anderen ihren wichtigsten Bundesgenossen." Obwohl auch in Amerika manche Enttäuschung über Carter geäußert wurde, zeigten sich meine Gesprächspartner irritiert über die von ihnen als übertrieben empfundene deutsche Kritik, die sie als kränkend ansahen. Sie verwiesen besonders auf die Aufsätze von Theo Sommer in News Week, der als Sprachrohr von Bundeskanzler Schmidt galt, aber auch vertrauliche Äußerungen von Schmidt selbst über Carter, die in Washington die Runde machten, trugen zur Irritation bei. In meinen Gesprächen mit den Mitgliedern des Kongresses ging es in der Hauptsache um die Intensivierung der deutsch-amerikanischen parlamentarischen Kontakte. Ich schlug die Bildung einer bilateralen Gruppe in beiden Parlamenten vor, drang damit aber nicht durch. Senator Byrd antwortete mir, daß er Bedenken gegen die Herstellung institutioneller Kontaktgruppen habe, weil sie die Abgeordneten zwängen, regelmäßig außerhalb Amerikas zu tagen. Informelle Kontakte sollten aber so oft wie möglich gepflegt werden. Mit Brzezinski erörterte ich den bevorstehenden Besuch von Helmut Kohl in Washington. Es ging um die Frage, ob der Präsident ihn empfangen würde. Brzezinski sagte dazu, daß der Präsident Oppositionspolitiker grundsätzlich nicht empfinge. Eine Ausnahme sei bei Mrs. Thatcher gemacht worden, weU Carter ihr in London versprochen habe, sie zu empfangen. Aber der Präsident benutze Besuche ausländischer Politiker bei Vizepräsident Mondale gelegenthch, um „hereinzuschauen". Das sei auch bei einem Besuch von Kohl durchaus denkbar. Nur könnten darüber im voraus keine Zusagen gemacht werden. Im Anschluß an meinen Besuch in Washington sprach ich in New York vor dem Council on Foreign Relations und dem American Council on Germany über die Lage in Deutschland^®). Ich schilderte die demokratische Ordnung als sehr stabil. An der Bundestagswahl von 1976 hätten sich 90 Prozent der Wahlberechtigten beteihgt, von denen 99 Prozent ihre Stimme den vier im Bundestag vertretenen Parteien CDU, CSU, SPD und FDP gegeben hätten. Freilich hätten wir Probleme mit einem Teil der jungen Generation. Er sähe unsere derzeitige Gesellschaft als ein System der Ausbeutung und Unterdrückung an und fordere die Zerstörung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Nur eine kleine, freilich militante Minderheit denke so. Die Einigung Europas sei
Manuskript der Rede am 9. Febr. 1978 in Nachlaß Carstens/81 Blatt 97-116. 495
nach wie vor ein vorrangiges Ziel unserer Politik. Die schicksalhafte Verbundenheit mit Amerika sei fest verankert. Die Sowjetunion habe nicht aufgehört, ihre expansiven und hegemonistischen Ziele zu verfolgen, vor allem in Asien und Afrika. Wir müßten dagegen die Gewährung der Menschenrechte in der Sowjetunion und in den von ihr beherrschten Ländern, vor allem auch in der DDR, fordern. Besuche in Portugal, Marokko, Spanien und Ungarn Während meiner Amtszeit als Bundestagspräsident war ich zweimal in Portugal. Einmal verbrachte ich im Frühjahr 1977, zusammen mit meiner Frau, einen unvergeßlich schönen Urlaub auf der Insel Madeira. Meine zweite Reise nach Portugal fand vom 30. Oktober bis 3. November 1978 statt. An der Spitze einer Delegation von sieben Abgeordneten stattete ich dem portugiesischen Parlament einen Besuch ab. Wir wurden von dem Präsidenten des portugiesischen Parlaments, Carvalho dos Santos empfangen, führten mit ihm und weiteren Parlamentariern ausgedehnte Gespräche. Auch der Ministerpräsident Alfredo Nobre da Costa und Staatspräsident General Antonio Eanes empfingen uns. Unser Besuch wurde gefeiert als die ranghöchste Begegnung mit einer deutschen Delegation, seitdem Kaiser Wilhelm II. 1905 dem Land einen Besuch abgestattet hatte. Unsere Gespräche betrafen in der Hauptsache wirtschaftliche Fragen. Die Portugiesen erstrebten ihre Aufnahme in die EWG, wozu wir ihnen unsere volle Unterstützung zusagten. Schon jetzt, so sagten wir, bildeten die hunderttausend portugiesischen Gastarbeiter in Deutschland, die sich hoher Wertschätzung erfreuten, ein verbindendes Element - ebenso wie die vielen deutschen Urlauber, die Portugal jedes Jahr besuchten. Die Portugiesen wünschten deutsche Investitionen. Wir wiesen darauf hin, daß zuvor die Frage des im Kriege enteigneten deutschen Vermögens geklärt werden müsse. Hierzu schlugen wir entweder die Rückgabe oder eine Entschädigung vor. Das, so sagten wir, würde die Investitionsbereitschaft der deutschen Wirtschaft sicher günstig beeinflussen. Ebenfalls zweimal während der Amtszeit als Bundestagspräsident war ich in Marokko. Im Oktober 1977 nahm ich an der Eröffnung des ersten demokratisch gewählten Parlaments seit vierzehn Jahren in Rabat teil. Hans Neusei begleitete mich. Außer mir war von allen Parlamenten Europas nur Edgar Faure, der Präsident der Französischen Nationalversammlung, erschienen. Er vrarde mit hohen Ehren am Flugplatz empfangen. Unsere Botschaft fand, daß mein Empfang weniger glanzvoll gewesen sei und rügte das gegenüber dem marokkanischen Protokoll. Die Anregung dazu war nicht von mir ausgegangen, zumal ich den Unterschied gar nicht bemerkt hatte. Aber das Protokoll bat um Verständnis. Edgar Faure sei ein alter Freund des Königs Hassan II. und sei schon ein Freund des Vaters des jetzigen Königs, des Königs Mohammed, gewesen. Die ihm zuteil gewordenen Ehren hätten rein persönlichen Charakter gehabt. Immerhin hatte die Intervention unserer Botschaft die Wirkung, daß ich von da an mit außerordentlicher Höflichkeit behandelt wurde. Unter anderem führte 496
ich lange Gespräche mit Premierminister Ahmed Osman und Außenminister Mohammed Boucetta. Die verfassungsmäßige Situation des Landes war kompliziert. Der König herrschte als Monarch. Er war, entsprechend der islamischen Tradition, zugleich weltliches und religiöses Oberhaupt. Erst bei den ihm nachgeordneten Staatsorganen konnte von einer Gewaltenteilung gesprochen werden. Aber auch hier blieb der Einfluß des Königs beherrschend. Das Parlament, in dem jahrelang nur eine Partei, die Istiqlal, vertreten gewesen war, zeigte nach den Wahlen von 1977 ein leicht verändertes Bild. Von 264 Abgeordneten bezeichneten sich 140 als unabhängig. In Wirklichkeit identifizierten sie sich voll mit dem König, der sich also weiter auf einen gesicherten Einfluß im Parlament stützen konnte. Ich führte auch einige Gespräche mit Abgeordneten der Oppositionsparteien, die sich über den erreichten Zustand nicht befriedigt zeigten, aber doch zur Mitarbeit bereit waren, da sie auf weitere Fortschritte in Richtung auf eine Demokratie hofften. Der König eröffnete das Parlament mit einer moderaten Rede. Er appellierte an die Abgeordneten, sich für den gerechten Weg der Mitte einzusetzen. Am Abend gab er ein offizielles Essen, an dem auch ich teilnahm. Er bezeichnete meinen Besuch als Ausdruck der traditionellen marokkanisch-deutschen Freundschaft, und ich erwiderte, genau das sei meine Absicht gewesen. Sehr ausführlich unterhielt ich mich mit Außenminister Boucetta. Ich fand alles, was er sagte, vernünftig und abgewogen. Er dramatisierte die Spannungen zwischen Marokko und Algerien in der Westsaharafrage nicht und nahm in dem israelisch-arabischen Konflikt eine auf Ausgleich gerichtete Position ein. Ende Dezember 1977 besuchte ich nochmals Marokko, diesmal mit meiner Frau. Wir verbrachten einige Urlaubstage im Atlasgebirge und sahen die alten, ruhmreichen Städte, Fez, Meknès und Marrakesch, deren farbige, orientalische Pracht uns faszinierte. Auch bei diesem Besuch empfing mich der König. Ihm lag sehr daran, daß die Bundesrepublik Deutschland den ägyptischen Staatspräsidenten Sadat bei seinen Friedensbemühungen mit Israel unterstützte. Komme es, so sagte der König, nicht zu dem erhofften Friedensschluß, bestehe die Gefahr einer Radikalisierung der Bevölkerung in den arabischen Staaten - vor allem in den Emiraten am Golf. Der König bat mich, dem Bundeskanzler eine Einladung zum Besuch Marokkos zu übermitteln. Ich erwiderte, daß die Bundesregierung im israelisch-arabischen Konflikt die vom König empfohlene Haltung einnähme und daß sie insbesondere Sadat unterstütze. Das gehe schon daraus hervor, daß Bundeskanzler Schmidt gerade in der Zeit, in der ich in Marokko war, einen Besuch in Ägypten abstattete. Unvergeßlich ist mir die Atmosphäre im Palast, in dem der König mich empfing. Der König verspätete sich etwas. Als er vor dem Palast eintraf, wurde er durch lange, etwas monotone Gesänge der Palastdiener begrüßt, die dadurch seine Ankunft allen Bewohnern des Hauses mitteilten. Sie eilten herbei und warfen sich dem König in einer verehrungsvollen Geste zu Füßen. Eine für uns fremde Welt, aber auch ein eindrucksvoller Beweis der Machtstellung des Königs, der sich in seiner langen Regierungszeit, trotz gelegentlicher Krisen, als der von der großen Mehrheit des Volkes anerkannte Führer erwiesen hat. 497
Im November 1977 besuchte ich mit einer Delegation des Bundestages das spanische Parlament. Wir führten Gespräche mit dem spanischen Parlamentspräsidenten Fernando Alvarez de Miranda und anderen führenden Parlamentariern. M^nisteφräsident Adolfo Suárez erläuterte uns die innenpolitische Lage des Landes. Außenminister Marcellino Oreja behandelte die außenpolitischen Probleme Spaniens. Der König Juan Carlos empfing uns. Wir genossen die vielen Beweise der Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern. Spanien hatte seit dem Tode Francos eine atemberaubende Entл^ickIμng durchlaufen. Mehrere politische Parteien hatten sich gebildet, die aber, einschließlich der kommunistischen Partei, in Existenzfragen der Nation zusammenstanden. Die wirtschaftliche Lage war freilich noch unbefriedigend. Hochgeschätzt wurde von allen Parteien die Rolle des Königs, der die Gegensätze auszugleichen versuchte und zum Symbol für die Einheit der Nation und den demokratischen Neubeginn geworden war. In den Parlamentswahlen im Juni 1977 war bei einer Wahlbeteiligung von 78 Prozent die USD, ein von Ministerpräsident Suárez ins Leben gerufenes Wahlbündnis von Parlamentariern der Mitte, ohne feste Konturen einer politischen Partei, mit 33,8 Prozent als Sieger hervorgegangen, gefolgt von den Sozialisten unter Felipe Gonzales mit 28 Prozent. Die Kommunisten hatten 9 Prozent, die konservative Alliance Populare unter Manuel Frage Iribame hatte 8 Prozent der Stimmen errungen. Die Christdemokraten, die in den früheren Parlamenten noch eine starke Stellung bekleidet hatten, hatten eine vernichtende Niederlage erlitten. In allen Gesprächen kam der Dank an die deutschen Parteien für die Hilfe beim Aufbau des spanischen Parteiwesens und der Dank an die Bundesrepublik Deutschland für die umfangreiche wirtschaftliche Unterstützung des Landes zum Ausdruck. Suárez bat um Unterstützung des spanischen Wunsches auf Beitritt zur EG. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch um der politischen Stärkung Europas willen, sei Spanien daran brennend interessiert. Wir sagten jede uns mögliche Hilfe zu. Oreja erläuterte uns das Problem der westlichen Sahara und der gerade stattfindenden Kämpfe zwischen Marokko und Algerien. Spanien habe den Wunsch, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Mit großer Herzlichkeit empfing uns der König. Er sah in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ein in vieler Hinsicht auch für Spanien brauchbares Modell. Mit einer Delegation des Bundestages besuchte ich im Juli 1978 auch Ungarn. Wir waren Gäste des ungarischen Parlaments, seines Präsidenten Antal Apro und seines Vizepräsidenten Janos Peter. Dabei erfuhren wir, daß 28 Prozent der Abgeordneten Frauen waren. Hier zeigte sich uns der fortschrittliche Charakter der ungarischen Entwicklung, der sich in den folgenden Jahren immer mehr verstärkte. Der Vorsitzende des Präsidialrates der ungarischen Volksrepublik, Pal Losonczi, empfing uns. Mit ihm und dem Außenminister Frigyes Puja führten wir ein langes Gespräch. Zu einer Begegnung mit dem Parteivorsitzenden Janos Kádár kam es jedoch nicht. 498
Wir besuchten die Sehenswürdigkeiten in der Hauptstadt Budapest. Besonders beeindruckte uns das Parlamentsgebäude, an dessen Wänden die Statuen der ungarischen Könige standen. Im Plenarsaal war eine Wand von einem Gemälde bedeckt, das die Krönung des Kaisers Franz Josef zum ungarischen König darstellte. Überall begegneten wir den Zeugnissen der großen ungarischen Geschichte. Gerade hatten die USA die Stephanskrone, die Krone König Stephans I., des Heiligen, an Ungarn zurückgegeben. Sie galt vielen Ungarn als das höchste Symbol des Landes. Täglich besuchten über tausend Menschen das Museum, in dem sie aufgestellt war. Wir sahen auch das alt-ehrwürdige Kloster Tihany. Außerordentlich eindrucksvoll war der Besuch des Staatsgutes Bábolna, eines Betriebes von 22 ООО Hektar mit beachtlichen Erträgen. Ungarn hatte nach 1945 zunächst das Land der ehemaligen Großgrundbesitzer an die Bauern verteilt. Als darauf die Erträge drastisch zurückgingen, beschritt man den umgekehrten Weg und schuf eine größere Zahl von Staatsgütern von 10 ООО Hektar und mehr. Und alsbald verbesserte sich die Ertragslage deutlich. Sehr beeindruckte uns die deutsch-ungarische wirtschaftliche Zusammenarbeit. 260 deutsche Firmen hatten mit ungarischen Unternehmen Kooperationsabkommen geschlossen. Die Raba-Werke in Györ, eine Waggon- und Maschinenfabrik mit 25 ООО Arbeitern, die wir besuchten, arbeitete mit MAN, Siemens und Bosch zusammen. Erstaunlich war schon damals, 1978, das Ausmaß der Freiheit, das die Ungarn genossen. 4,6 Millionen von ihnen waren 1977 ins Ausland gereist, das waren fast 50 Prozent der Bevölkerung. Umgekehrt besuchten 7,5 Millionen ausländische Touristen das Land, darunter viele Deutsche aus der Bundesrepublik. Als wir den Plattensee besuchten, wurden wir von ihnen freudig begrüßt. Besonders intensiv waren schon damals die Beziehungen zu Österreich. Man sprach scherzhaft von der neuen K. u. K.-Monarchie — K. für den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky und K. für Kádár. Sehr interessant war es für uns zu erfahren, was die Ungarn auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik taten. Als die Geburtenzahlen immer mehr zurückgingen, führten sie einen dreijährigen Erziehungsurlaub für Mütter ein, die auf eine berufliche Tätigkeit verzichteten, um ihre Kinder großzuziehen. Sie erhielten während dieser Zeit eine staatliche Entschädigung. Noch erfolgreicher war ein neues Wohnungsprogramm. Junge Eheleute konnten Eigentumswohnungen zu günstigen Bedingungen erwerben unter der Voraussetzung, daß sie innerhalb von sechs Jahren zwei Kinder bekamen. Bekamen sie nur ein Kind, mußten sie die Hälfte des gewährten Kredites zurückzahlen und den ganzen Kredit, wenn die Ehe kinderlos blieb. In den politischen Gesprächen stellten wir fest, daß die ungarische Regierung in der Außenpolitik strikt der sowjetischen Linie folgte. So richteten unsere Gesprächspartner scharfe Angriffe gegen China. Sie verteidigten vehement die Anwesenheit kubanischer Truppen in Angola. Dagegen hörten wir keine Haßtiraden gegen irgendein westliches Land. Als wir vom Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und von der Notwendigkeit sprachen, die deutsche Teilung zu überwinden, widersprachen die Ungarn nicht, sondern schwiegen. Die ungari499
sehe Seite zeigte ein großes Interesse an einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland, an kultureller Zusammenarbeit und an Steigerung des Fremdenverkehrs. Die ungarischen Medien berichteten ausführlich und positiv über unseren Besuch. Auch die deutsche Presse vermittelte durchweg einen guten Eindruck. Aber natürlich ereigneten sich auch Pannen. Eine deutsche Zeitung schrieb, ich hätte gesagt, zur jetzigen Regierung in Ungarn gäbe es keine Alternative. Nie war ein solcher Satz über meine Lippen gekommen. Der Journalist entschuldigte sich mit einem Übermittlungsfehler, aber es blieb ein ärgerlicher Eindruck zurück. Nach meiner Rückkehr erhielt ich einige Briefe, in denen beanstandet wurde, daß die Delegation keinen deutschen Soldatenfriedhof besucht habe. Wir mußten leider antworten, daß wir uns vergeblich darum bemüht hätten. Reise nach Israel
Vom 23. bis 28. Mai 1978 unternahm ich mit sieben Kollegen aus dem Bundestag eine Reise nach IsraeP®), die in der Presse als historische Reise gefeiert wurde. Das war sicher eine Übertreibung - aber eine bedeutsame Reise war es, da mit unserer Bundestagsdelegation Verbindung zu dem neuen Ministerpräsident Menachem Begin aufgenommen wurde. Er hatte nach dem Wahlsieg seiner Likud-Partei im Mai 1977 sein Amt angetreten und war als ein besonders scharfer Gegner der Deutschen bekannt. Auf dieser Reise begleitete mich auch meine Frau. Der äußere Ablauf war gut vorbereitet. Wir wurden vom Präsidenten der Knesseth, Yitzhak Shamir, am Flugplatz empfangen und anschließend mit einer Rede im Parlament begrüßt. Am Abend gab er ein Essen für die Delegation. Ich besuchte Yad Vashem, die erschütternde Gedenkstätte für die ermordeten Juden und legte am Ehrenmal für die Toten der israelischen Befreiungskriege einen Kranz nieder. Ministerpräsident Begin empfing uns und ebenso der Staatspräsident Ephraim Katzir. Es war eine seiner letzten Amtshandlungen. Vier Tage später trat der neue Staatspräsident Yitzhak Navon sein Amt an. Wir diskutierten zweimal mit israelischen Parlamentariern, einmal mit einer Gruppe unter Vorsitz von Moshe Arens, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Verteidigung und Auswärtige Angelegenheiten. Ein weiteres Gespräch führten wir mit Moshe Menon, dem Vizepräsidenten der Knesseth, der zugleich der Vorsitzende der israelisch-deutschen Parlamentariergruppe war, übrigens der einzigen Gruppe dieser Art, die es in der Knesseth gab. Für den erkrankten Außenminister Moshe Dayan — ob es sich um eine diplomatische Erkrankung handelte, blieb unklar — sprachen wir mit dem Generaldirektor des Außenministeriums Ephraim Evron. Ein äußerst interessantes und lebhaftes Gespräch führten wir mit Verteidigungsminister Ezer Weizmann. Oppositionsführer Shimon Peres, der Vorsitzende der Arbeiterpartei, den ich von seinem Bonner Besuch, Anfang der sechZur Vorbereitung der Reise vgl. auch Karl Carstens, „30 Jahre Staat Israel. Weg der Verständigung" in: Das Parlament Nr. 19 vom 13. Mai 1978 S. 12. 500
ziger Jahre, kannte, gab ein Essen für unsere Delegation. Der deutsche Botschafter in Israel, Klaus Schütz, lud zu einem Empfang ein, an dem etwa tausend Gäste teilnahmen. Mein eigenes Essen gab ich im Hotel König David. Unsere Delegation besuchte die ehrwürdigen Plätze des alten Jerusalem, wo die Gedenkstätten jüdischer, christlicher und moslemischer Religionen zusammentreffen. Schließlich unternahmen wir eine Busfahrt in den Norden des Landes. Wir fuhren bis an die sogenannte friedliche Grenze zum Libanon, ebenso zu den heiligen Stätten in Nazareth und am See Genezareth sowie zu einem Kibbuz, wo uns viele deutsche Besucher freundlich begrüßten. Die Gespräche kreisten um mehrere Schwerpunkte. Mit großer Eindringlichkeit vkoirde uns die prekäre Sicherheitslage Israels vor Augen geführt. Ein Rückzug auf die Grenzen von 1967, also die Räumung der Golanhöhen, des Westufers des Jordans und des Gaza-Streifens, ohne Sicherheitsgarantien für Israel, würde, so wurde uns überzeugend gesagt, eine wirksame Verteidigung des Landes, das an einer Stelle nur vierzehn Kilometer breit ist, außerordenthch erschweren, ja unmöglich machen. Mehrere israelische Gesprächspartner gingen auf die deutsch-jüdische Vergangenheit ein. Ohne die Ermordung von 6 Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime hätte Israel, so sagten sie, heute mindestens 3 Millionen Einwohner mehr und vnirde daher in der Lage sein, sein Gebiet auszubauen und wirksam zu schützen. Daraus ergäbe sich eine fortdauernde deutsche Verantwortung für die Sicherheit Israels. Eingehend wurde uns die Geschichte des Staates Israel vor Augen geführt, der unter ungeheuren Schwierigkeiten und Kämpfen 1948 als souveräner Staat errichtet v^rurde. Auch die folgenden Jahrzehnte waren durch Krieg und fortdauernde Kämpfe gekennzeichnet. „Wir leben seit dreißig Jahren im Kriegszustand", sagte Shamir. Den ersten Hoffnungsschimmer auf Frieden brachte der Besuch des ägyptischen Staatspräsidenten Sadat im November 1977 in der Knesseth. Aber bis zu einem stabilen Friedensschluß mit allen arabischen Nachbarn sei es immer noch ein weiter Weg. Israel brauche Verständnis und die Hilfe der zivilisierten Welt. Durch die Erklärung der neun EG-Staaten fühle es sich auf die Anklagebank gesetzt. Sie hofften auf deutsche Unterstützung bei ihren Bemühungen um eine gerechte Stellungnahme der europäischen Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang erwähnten sie die Lieferung von MUan-Raketen aus Frankreich an Syrien. Diese Raketen würden von Deutschland und Frankreich gemeinsam produziert, so daß die Deutschen hier eine Mitverantwortung treffe. Wirtschaftliche Fragen vioirden mehrfach berührt. Das Land befand sich in einer sehr schwierigen Lage. Die Inflationsrate lag bei 40 Prozent. Sorgen hatten die Israelis wegen des Beitritts Griechenlands, Spaniens und Portugals zur EG, wodurch die israelischen Importe in die EG, insbesondere bei Südfrüchten, betroffen werden vvoirden. In meinen Antworten habe ich stets unser Verständnis für die außerordentlichen Schwierigkeiten und die seine Existenz gefährdende Lage, in der Israel sich befinde, betont. Zweck unseres Besuches sei es, uns zu informieren. Die 501
große Mehrheit der Deutschen habe Sympathie für die Lage Israels, sie bewundere die großartigen Aufbauleistungen des jüdischen Volkes. Durch unsere Wiedergutmachungsleistungen hätten wir dazu beigetragen. Ich begrüßte die vielen Reisen von Deutschen nach Israel und vor allem den Jugendaustausch zvdschen beiden Ländern. Zur politischen Lage sagte ich mehrfach, Israel habe ein Anrecht auf eine gesicherte staatliche Existenz und auf anerkannte gesicherte Grenzen. Das gelte für alle Staaten dieser Region. Wir Deutschen bemühten uns um gute Beziehungen zu beiden Seiten. Gegen die französischen Milan-Lieferungen an Syrien hätten wir keine unmittelbare Handhabe, da nach dem deutsch-französischen Kooperationsabkommen jedes Land autonom über den Export der Raketen entscheide. Aber wir wöirden die Bundesregierung bitten, ein Gespräch darüber mit der französischen Regierung aufzunehmen, mit dem Ziel, die Lieferung dieser Waffen auslaufen zu lassen. In einigen Gesprächen bin ich auch auf ein Thema eingegangen, das mir immer besonders am Herzen gelegen hat: den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur. Ich erläuterte diesen Gedanken anhand von Beispielen. Ich erwähnte den Philosophen Moses Mendelssohn, den Freund Lessings und das Vorbild für Lessings „Nathan der Weise", die Romantiker Rahel Vamhagen von Ense und Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn und dann später, während der Weimarer Epoche, die Schriftsteller Franz Werfel, Arnold und Stefan Zweig, Jakob Wassermann und Alfred Döblin, die Schauspieler Fritz Kortner und Elisabeth Bergner, den Maler Max Liebermann, den Außenminister Walther Rathenau und den Schöpfer der Weimarer Verfassung Hugo Preuß. Die wichtigsten Gespräche führte ich mit Ministerpräsident Begin und Parlamentspräsident Shamir. Von Begin vnirde gesagt, daß er bisher jedem Gespräch mit einem Deutschen aus dem Wege gegangen sei. Die Tatsache, daß er uns in korrekter und höflicher Form empfing und daß das Gespräch in entspannter Atmosphäre stattfand, hatte für manche Beobachter einen sensationellen Charakter. Begin schilderte die Lage seines Landes ausführlich. Die PLO fordere die Vernichtung Israels. Israel sei das einzige Land der Welt, das einer solchen Drohung ausgesetzt sei. Auch Begin sprach von der Ermordung von sechs Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime. Diese Menschen und ihre Kinder fehlten jetzt, wo das Land um seine Existenz kämpfen müsse. Ich antwortete, der Besuch meiner Delegation sei Ausdruck des Mitgefühls aller Parteien des Bundestages und der großen Mehrheit der Deutschen für die Situation, in der Israel sich befinde. Die Schrecken der dreißiger und vierziger Jahre dürften nicht vergessen werden. Die jetzt heranwachsende junge Generation in Deutschland sei ohne moralische Schuld, aber sie müßte die Aufgabe erkennen, für eine bessere Welt des Friedens und der Menschlichkeit zu arbeiten. Diesem Ziel diente auch der deutsch-israelische Jugendaustausch. Begin sprach sich klar für die Fortsetzung der Friedensgespräche aus. Israel wünsche Frieden. Er und Sadat hätten sich verpflichtet, den Frieden zu bewahren. In der Grenzfrage verwendete Begin die Sicherheitsargumente, die wir aus 502
anderen Gesprächen kannten. Er unterließ jeden Hinweis auf ideologische und rehgiöse Motive als Argument für die neue Regelung der Grenzfrage. Bekanntlich forderten andere jüdische Gruppen die Rückgliederung von Judäa und Samaria als der alten Heimat des israelischen Volkes. Mit Shamir freundete ich mich während meines Israel-Besuches an, ebenso war meine Frau von der fürsorglichen Gastfreundschaft von Frau Shamir angetan. Ich sprach mit Shamir sehr offen über die Lage. Dabei zeigte ich Verständnis für die ungeheuren Probleme, die Israel lösen mußte, plädierte aber zugleich auch nachdrücklich für die Fortsetzung der Friedenspolitik, die durch den Besuch Sadats einen so verheißungsvollen Anfang gemacht habe. Ich lud Shamir zu einem Gegenbesuch in Deutschland ein. Eine Einladung, die er sofort annahm. Shamir vnirde später israelischer Ministerpräsident. Besuch in Japan Einen Höhepunkt und zugleich den Abschluß meiner Auslandsreisen als Bundestagspräsident bildete meine Reise mit mehreren Mitgliedern des Bundestages nach Japan vom 18. bis 24. Februar 1979. Ich erwiderte damit den Besuch des japanischen Parlamentspräsidenten Shigeru Hori in der Bundesrepublik Deutschland vom Jahre 1977. Der letzte Besuch eines Bundestagspräsidenten in Tokio lag 14 Jahre zurück. Damals war Eugen Gerstenmaier Gast des japanischen Parlaments gewesen. Ich setzte mit meinem Besuch die Serie der deutschen Besucher von 1978 fort. In diesem Jahr hatten Bundespräsident Scheel und Bundeskanzler Schmidt Japan besucht. Unsere Delegation führte Gespräche mit dem Präsidenten des Unterhauses Nadao sowie des Oberhauses Ken Yasui, mit Ministerpräsident Masayoshi Ohira und Außenminister Sunao Sonoda. Es kam zu einer Begegnung mit Spitzenfunktionären der japanischen Gewerkschaften. Kaiser Hirohito empfing mich in Audienz. Die Sophia-Universität in Tokio verlieh mir die Ehrendoktorwürde. Ihren krönenden Abschluß fand die Reise durch den Besuch der Städte Kioto und Nara mit ihren berühmten Tempeln und der Hafenstadt Kobe, die unter den Welthäfen, nach Rotterdam, an zweiter Stelle stand. Mit Hilfe einer auf dem deutschen Kapitalmarkt aufgelegten Anleihe nahu Kobe gerade ein weiteres riesiges Ausbauprojekt für den Hafen in Angriff. Meine Gespräche berührten alle Fragen von gemeinsamem deutschem und japanischem Interesse. Bei der Erörterung wirtschaftspolitischer Probleme standen die deutschen und die japanischen Bemühungen um ein stabiles Wachstum sowie ein ausgewogenes internationales Handelsgleichgewicht im Vordergrund. Die Japaner berichteten über die Schwierigkeiten ihrer Ölversorgung nach dem Umsturz im Iran. Der Besuch bestätigte die traditionelle Freundschaft zwischen beiden Ländern und gab der parlamentarischen Zusammenarbeit neue Impulse, hieß es in dem Abschlußbericht der Botschaft. Während unserer Japanreise brach der kriegerische Konflikt zvwschen China und Vietnam aus. Dieses Thema stand daher im Mittelpunkt unserer außen503
politischen Gespräche. Unsere japanischen Gesprächspartner bezeichneten es als Ziel der chinesischen Operation, die Pol-Pot-Truppen in Kambodscha gegenüber dem zunehmenden vietnamesischen Druck zu unterstützen. Sie wiesen aber auch auf die außerordentlichen Schwierigkeiten hin, die die Chinesen zu bewältigen hätten. Das Gelände sei unzugänglich. Im April würden infolge der Regenzeit militärische Operationen schwierig. Immer wieder erörterten wir die Frage, wie sich die Sowjets verhalten würden. Außenminister Sonoda vermutete, daß sie wohl weiter Waffen an Hanoi liefern, aber ein direktes Eingreifen vermeiden würden, weil dann die Gefahr eines Eingreifens der USA auf der anderen Seite entstände. Japan versuche, auf beide Seiten mäßigend einzuwirken. Die weitere Entwicklung gab der japanischen skeptischen Einstellung recht. China zog sich nach einigen Monaten und nach schweren Verlusten wieder aus Vietnam zurück, ohne seine Ziele erreicht zu haben. Sehr interessant war das Gespräch mit Ministerpräsident Ohira, einem der bedeutendsten Staatsmänner, denen ich begegnet bin, der die weltpolitischen Zusammenhänge klar erkannte und darstellte. Er sagte, zwischen den japanischen Parteien, einschließhch der Sozialisten und der Kommunisten, bestehe Konsens über die parlamentarische Demokratie, über den Grundsatz der freien Marktwirtschaft und - hier freilich mit Einschränkungen - über das Verteidigungskonzept aufgrund des Sicherheitsvertrages mit den USA. Japan selbst wolle nicht wieder eine militärische Macht werden. Es wolle Atomwaffen weder selbst herstellen noch deren Stationierung auf seinem Territorium dulden. Auch werde Japan niemals Truppen ins Ausland senden. Das Verhältnis zur Sowjetunion sei durch die Weigerung der Sowjets, die vier nördlichen Inseln an Japan zurückzugeben, weiterhin belastet. Trotzdem entwickele sich der Handel mit der Sowjetunion günstig. Das Gespräch mit dem Kaiser machte auf uns einen tiefen Eindruck. Der Kaiser wirkte schon damals gebrechlich, zeigte sich aber an den Themen, die wir erörterten, lebhaft interessiert. Ich berichtete über die Parallelen der deutschen und der japanischen Politik in den großen weltpolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart und sagte, ich freute mich über das Maß an Übereinstimmung, das ich bei meinem Besuch festgestellt hätte. Lange sprachen wir über den Besuch des Kaiseφaares in Deutschland, an den der Kaiser gute Erinnerungen bewahrte. Außerdem hielt ich eine größere Anzahl von Reden. In der Sophia-Universität sprach ich über die Beziehungen zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Europäischen Parlament'"). Ich schilderte die Entwicklung der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg, die starken, ja zwingenden Gründe für dieses große politische Ziel. Sodann versuchte ich, die Problematik zu erklären, die sich aus dem Nebeneinander mehrerer parlamentarischer Organe auf europäischer und nationaler Ebene ergäben. Besonders wichtig sei die Tatsache, daß sich im Europäischen Parlament politische Fraktionen gebildet hät-
">) Manuskript der Rede am 20. Febr. 1979 in Nachlaß Carstens/87 Blatt 4 2 - 6 3 . 504
ten. Dadurch sei eine Zusammenarbeit der Parlamentarier aus den verschiedenen Mitgliedstaaten erreicht, die für den weiteren Fortgang der europäischen Einigung von großer Bedeutung sei. In meinen Tischreden würdigte ich die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern in der Gegenwart und die engen kulturellen Beziehungen in der Vergangenheit. Viele Japaner hätten in Deutschland studiert. Das Schuldrecht des BGB sei in das japanische Zivilgesetzbuch übernommen worden. Der deutsche Dichter Max Dauthendey sei stark durch die japanische Kultur beeinflußt worden. Der Zen-Buddhismus, mit seiner Anleitung zur Meditation, finde in Deutschland zunehmende Resonanz. Vor allem würdigte ich natürlich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern und die enorme Bedeutung, die japanische Produkte, wie Automobile, Schiffe, Uhren und Rechengeräte, auf dem deutschen Markt gewonnen hätten. Der Besuch war erfolgreich. Die deutsche Presse berichtete durchweg positiv^i). Mich beeindruckte besonders die Festigkeit, die die Japaner in der Verfolgung ihrer friedlichen politischen Ziele zeigten. In einem Gespräch sagte ich, der japanische Ministerpräsident würde wohl nicht den Friedensnobelpreis erhalten, aber Japan werde eines Tages die Kurilen-Inseln zurückbekommen.
3. Ansprachen im Bundestag zu besonderen Anlässen Zu den Aufgaben des Bundestagspräsidenten als erster Repräsentant des deutschen Parlaments gehört es auch, an besonderen Gedenktagen wichtige historische Ereignisse zu würdigen, aber auch verdienter Verstorbener zu gedenken. Einige meiner Reden zu solchen Anlässen, die mir auch heute noch von Bedeutung erscheinen, folgen hier in Auszügen. Zur Frankfurter Reichsverfassung von 1849 In einer Rede vom 29. März 1979^^) erinnerte ich daran, daß die Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt vor 130 Jahren, am 28. März 1849, nach zehnmonatiger Beratung, die Verfassung des Deutschen Reiches'') verkündet habe. Es sei ein großer Tag und ein Ruhmesblatt in unserer Geschichte gewesen. Die Verfassung sei eine demokratische, rechtsstaatliche Ordnung auf föderativer Grundlage gewesen. Ich gedachte ihrer beiden Präsidenten, Heinrich von Gagem und Eduard Simson. Eine besondere Bedeutung habe die Garantie bestimmter Grundrechte gehabt. Dazu hätten gehört: Das Recht jedes Deutschen, an jedem Ort des Reichsgebiets seinen Aufenthalt zu nehmen. Die Freiheit der Person sei unverletzlich garantiert worden. Die Todesstrafe sei abgeschafft worden. Auch die Wohnung sei unverletzlich gewesen. Weiter habe es geheißen: " ) Vgl. Pressedokumentation des Deutschen Bundestages 0 2 1 - 5 / 7 und 0 5 0 - 2 4 . STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 109 S. 1 1 5 5 9 A - 1 1 5 6 0 B . " ) Verkündet im Reichs-Gesetz-Blatt vom 28. April 1849 (16. Stück) S. 101.
505
Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. " Weitere Grandrechte lauteten: „Die Pressefreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise [.. .1 beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werden." — „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. " — „Das Eigentum ist unverletzlich. " — „Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten ausgeübt. " Als erste Verfassung der Welt habe die Frankfurter Reichsverfassung eine Verfassungsbeschwerde eingeführt, danach konnte jeder Bürger, der sich in seinen Grandrechten verletzt fühlte, das oberste Gericht, das Reichsgericht, anrafen. Aus der Begründung, die der Verfassungsausschuß zur Frankfurter Verfassung beschlossen hatte, las ich einige, wie mir schien, klassische Sätze über die Gerichtsbarkeit vor: Denn nicht darin ist die Vollkommenheit eines entwickelten Verfassungslebens zu suchen, daß alle Reibungen, alle Differenzen gemieden werden sie sind, wo Leben ist, unvermeidlich - , sondern darin, daß den Streit weder Gewalt noch Willkür noch Sonderinteresse entscheide, sondern das Recht; und Recht zu sprechen, wenn Stände und Regierung, wenn Staat und Staat streiten, ja gegen die Reichsgewalt selbst, wenn sie, ihre Befugnisse überschreitend, über das Recht die Interessen und über die Verfassung die Allgewalt parlamentarischer Majoritäten sollte stellen wollen, ein Hort des Rechts und der Verfassung zu sein, das ist der Beruf dieses Tribunals, eines Staatsgerichtshofes im höchsten Sinne des Wortes;'*). 20 Jahre Römische
Verträge
Am 24. März 1977 gedachte ich des Inkrafttretens der Römischen Verträge vor 20 Jahren®'). Mit ihnen sei die Grandlage, nicht nur für eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch für einen immer engeren politischen Zusammenschluß der europäischen Völker geschaffen worden. Auf zahlreichen Gebieten seien große Fortschritte erzielt worden, Großbritannien, Dänemark und Irland seien der Gemeinschaft beigetreten, weitere Staaten bemühten sich um die Vollmitgliedschaft. Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments, die für 1978 vorgesehen sei, sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem demokratisch kontrollierten europäischen Entscheidungszentram. Freilich sei Europa von dem Ziel einer politischen Union noch weit entfernt. Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) sei nur ein Schritt auf diesem Wege. Die europäische Idee sei für uns Deutsche weiterhin von großer Bedeutung. Wir erblickten in der friedlichen Einigung Europas zugleich den Weg zur Überwindung der Teilung unseres Landes. Siehe Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main Bd. 5 S. 3596. STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 101 S. 1 2 5 7 A - D .
506
9. November, ΑηΙαβ zu zweifachem
Gedenken
Am 9. November 1978 hielt ich im Bundestag eine Ansprache:'®) „Ich möchte [.. .1 heute, am 9. November, des Tages gedenken, an dem vor 60 Jahren durch einen revolutionären Akt die repubUkanische Staatsform in Deutschland eingeführt und die Grundlagen ßr die Weimarer Republik gelegt wurden. Zwei Tage später, am 11. November, endete der Erste Weltkrieg. Schon Monate vorher war deutlich geworden, daß die deutsche Sache militärisch verloren war. Nicht der „Dolchstoß" revolutionärer Kräfte hat - wie später behauptet wurde - die Niederlage bewirkt, sondern das erschöpfte deutsche Heer wich vor der gewaltigen Überlegenheit der Alliierten, auf deren Seite zuletzt fast 2 Millionen amerikanische Soldaten kämpften, unaufhaltsam zurück. Auch die Heimat, deren Kräfte vier Jahre lang überfordert worden waren und in der schwere Not herrschte, war erschöpft. An vielen Stellen kam es zu Unruhen. Am 29. Oktober weigerten sich die Matrosen der in Wilhelmshaven und in Kiel liegenden Hochseeflotte, zu einem letzten Seegefecht auszulaufen. Seit dem 3. November breitete sich eine nicht zentral gelenkte Revolution in mehreren deutschen Städten aus. Die Entscheidung fällt am 9. November in Berlin: Um 12 Uhr mittags verkündet der letzte vom Kaiser ernannte Reichskanzler, Prinz Max von Baden, daß Wilhelm II. als Deutscher Kaiser und König von Preußen abgedankt habe, obwohl dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Fall war. Gegen 13 Uhr legt Max von Baden das Amt des Reichskanzlers in die Hände des Reichstagsabgeordneten Friedrich Ebert, des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei und der mehrheitssozialistischen Reichstagsfraktion. Um 14 Uhr ruft der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann in einer Rede an eine vieltausendköpfige Menge von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die deutsche Republik aus, weil er, wie er später berichtet hat, glaubte, der Ausrufung einer deutschen Sowjetrepublik durch Karl Liebknecht zuvorkommen zu müssen [.. .1. Am 10. November übernimmt ein aus Mehrheitssozialisten und links von ihnen stehenden sogenannten Unabhängigen Sozialdemokraten bestehender Rat der Volksbeauftragten die Regierungsgewalt. Am 11. November um 5 Uhr morgens wird in Compiègne das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Am 30. November erläßt der Rat der Volksbeauftragten die Verordnung zur Wahl der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, die im Februar 1919 in Weimar zusammentritt und Ebert zum ersten Reichspräsidenten wählt. Damit endet die revolutionäre Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Hauptverdienst bei der Bewältigung der kritischen Lage im November 1918 kommt, rückblickend betrachtet, Friedrich Ebert zu. Er verfolgte eine STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 107 S. 8 8 8 3 A - 8 8 8 4 B .
507
maßvolle Linie. Ihm gelang es wenigstens für einige Wochen während der besonders gefährlichen Periode, die linksradikale USPD anzubinden; anschließend bezog er ebenso klar gegen die die Demokratie gefährdenden Aktionen der äußersten Linken Stellung. Er arbeitete mit Kräften des bürgerlichen Lagers, vor allem dem Zentrum und der Fortschrittlichen Volkspartei zusammen. Durch das Bündnis mit der Obersten Heeresleitung verhinderte er ein Aufeinanderprallen größten Ausmaßes zwischen den alten und den neuen Kräften. Aber einen unblutigen Übergang zu der neuen Staatsordnung erreichte auch er nicht. Die Zeit nach dem 9. November 1918 ist von Kämpfen zwischen den der Reichsleitung unterstehenden Truppen und revolutionären Gruppen in Berlin und anderen deutschen Großstädten erßllt. Mehrere tausend Menschen fanden dabei den Tod. Auch blieb die republikanisch-parlamentarische Staatsform in der Bevölkerung, zumal in Teilen der Beamtenschaft, umstritten. Sie hat sich erst nach den furchtbaren Erfahrungen mit der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Heute bejaht die überwältigende Mehrheit unserer Bürger den freien, demokratischen und sozialen Rechtsstaat unseres Grundgesetzes. Unser Staat schuldet den Männern aus der Anfangszeit der Weimarer Republik Respekt, Anerkennung und ein ehrendes Angedenken. Gerade Ebert wurde in der schlimmsten Weise von rechten und linken Gegnern verunglimpft. Als Reichspräsident ßhrte er über 170 Prozesse zur Wiederherstellung seiner Ehre. Wir sollten aus den Ereignissen jener Zeit noch eine weitere Lehre ziehen: Wir sollten behutsamer miteinander umgehen und auf eine Verunglimpfung von Männern, die sich um unseren Staat verdient gemacht haben, verzichten. Wir gedenken am heutigen Tag noch eines weiteren Ereignisses aus unserer jüngeren Geschichte. Vor 40 Jahren, am 9. November 1938, setzte die erste systematische und umfassende Judenverfolgung in Deutschland ein. Ein junger deutsch-polnischer Jude hatte einen Gesandtschaftsrat an der deutschen Botschaft in Paris erschossen. Diese Tat eines einzelnen ßhrte zu einer brutalen Reaktion der nationalsozialistischen Machthaber. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden Einheiten der mobilisiert. Eine schreckliche Zerstörung von jüdischem Eigentum setzte ein, der niemand Einhalt gebot. Über 200 Synagogen gingen in Flammen auf Jüdische Geschäfte, Altersheime, Wohnungen und Friedhöfe wurden verwüstet. Tausende jüdischer Bürger wurden verhaftet, die meisten in Konzentrationslager verschleppt. Hunderte fanden den Tod - ermordet im Verlauf des Pogroms, im Lager umgekommen oder in den Selbstmord getrieben. Gemessen an dem, was die jüdischen Mitbürger in Deutschland und die Juden in Europa in den folgenden Jahren erlitten, war der 9. November 1938 nur ein Anfang. Aber es ist ein Tag tiefster Schmach in unserer Geschichte. Er mahnt uns, des unendlichen Leides zu gedenken, welches die nationalsozialistische Herrschaft Millionen von Juden in der Folgezeit zugeßgt hat. Er mahnt uns, diese Ereignisse nicht aus unserer Erinnerung zu löschen und sie auch der jüngeren, heranwachsenden Generation mitzuteilen [.. .J". 508
Staatsakt für Ludwig Erhard Bei einem Staatsakt für Ludwig Erhard, der im Deutschen Bundestag stattfand, hielt ich am 11. Mai 1977 die Ansprache''). Ich würdigte seine außerordenthche Leistung bei dem Wiederaufbau unseres Landes nach dem Zweiten Wehkrieg. Er setzte, sagte ich, die Währungsreform durch und beseitigte, übrigens gegen große Widerstände, die seit 15 Jahren in Deutschland bestehende Zwangswirtschaft. Mit seinem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft machte er Kräfte frei, an die kaum jemand mehr zu glauben gewagt hätte. 12 Millionen Heimatvertriebene konnten integriert werden. Wettbewerbsregeln sicherten die Funktionsfähigkeit der Märkte. Auch international kämpfte er für den Abbau der Handelsschranken. Das Geheimnis seines Erfolges war, daß Leistung sich plötzlich wieder lohnte. Die zweite Säule seiner Gesamtkonzeption war die Forderung nach sozialer Sicherheit der Bürger, vor allem der Arbeitnehmer.
„Лш Ende seines Lebens konnte er mit Stolz feststellen, daß sich seine Wirtschaftspolitik, die „Soziale Marktwirtschaft", durchgesetzt hatte: in der Bundesrepublik Deutschland, in weiten Teilen Europas und der übrigen Welt. Es ist eine epochale Idee, die Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts überwunden hat. Es ist die überzeugendste Antwort auf die Probleme unserer Zeit, die wir kennen. [.. .1 Erhard spürte, daß seine Mitbürger arbeiten wollten, daß sie Leistung nicht als Bürde oder gar Schande, sondern als einen Teil der menschlichen Selbstverwirklichung ansahen, daß sie frei sein wollten, frei von staatlicher Bevormundung, frei von der Beherrschung durch wirtschaftliche Macht, frei aber auch von Sorgen vor Krankheit und Not, Invalidität und Alter. Er gab dem Verbraucher, dem Konsumenten und damit jedem Bürger, jedem Arbeitnehmer die zentrale Stellung in unserer Wirtschaftsordnung. Er gab dem Menschen der modernen Industriegesellschaft das Leitbild, in dem sie sich selbst wiedererkannten. Er überwand den Klassenkampfgedanken, der das neunzehnte Jahrhundert beherrscht hatte und der heute so blutleer geworden ist. Soziale Marktwirtschaft und freiheitliche Demokratie gehörten für ihn zusammen. In der einen sah er die Grundlage der anderen. [...] Seine Politik hatte moralische Qualität. Nicht nur, daß er ßr sein eigenes Handeln moralische Grundsätze als verbindlich ansah, er forderte ihre Beachtung von allen verantwortlichen Politikern. Ihr Verhalten müsse glaubhaft, ihre Aussagen müßten wahr sein — so sagte er. Auch seiner Wirtschaftspolitik lag letztlich eine moralische Zielvorstellung zugrunde. Er wollte den Menschen ein menschenwürdiges Dasein in Freiheit sichern. Sein politischer Kampf war ein Kampf um Grundsätze. In seiner Weigerung, Grundsatzpositionen preiszugeben, war der sonst gutmütige Mann unerbittlich. Jeder derartigen Versuchung widerstand er. Pragmatismus war nicht seine Sache. Opportunismus und Konformismus verachtete er [...]. Er streb-
" ) BULLETIN vom 12. Mai 1977 S. 4 5 5 - 4 5 7 .
509
te nicht nach Macht, es ging ihm um die große Sache, nicht um Macht, schon gar nicht um die persönhche Macht [...]. Er genoß ein Vertrauen, wie wenige Menschen in der Geschichte es genossen haben. Die Menschen vertrauten ihm, weil sie ihn als das erkannten, was er war: einen leidenschaftlichen, mutigen und ehrlichen Vorkämpfer für eine humane und freiheitliche Ordnung [...]. Er war ein überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie. Dem Deutschen Bundestag gehörte er seit 1949 an. Hier hat er seine großen Reden in dem Ringen um den richtigen wirtschaftspolitischen Weg gehalten. Im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, im Zweiten Weltkrieg ein aktiver Gegner der nationalsozialistischen Herrschaft, war er davon überzeugt, daß die parlamentarische Demokratie nicht nur die beste Gewähr für die Freiheit, sondern auch für den Frieden biete [...]. Erhard war 14 Jahre lang ein Weggenosse, der wichtigste Weggenosse Adenauers. Beide haben entscheidenden Anteil an der Gestaltung des politischen Weges der Bundesrepublik Deutschland. Das Eintreten für die Freiheit und für die Wiedereingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Völker war das Werk beider. Als Menschen waren sie verschieden. Auch hat es Spannungen zwischen ihnen gegeben. Erhards Leistung wird als eine selbständige und ebenbürtige, neben der Adenauers, in die deutsche Geschichte eingehen [...]. " Nachrufe Am 19. Januar 1977 gedachte ich des früheren Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm. Er hatte dem Bundestag 16 Jahre angehört. Ich bat alle, die ihn gekannt hätten, die Erinnerung an diesen hervorragenden Mann hochzuhalten'»). Ich selbst war mit ihm befreundet gewesen und hatte viele vertrauliche Gespräche mit ihm geführt. In den frühen siebziger Jahren wrollte er mich für eine verantwortliche Tätigkeit im Rahmen des Stumm-Konzems gewinnen. Zum Glück, muß ich nachträglich sagen, wurde daraus nichts. Für eine leitende Tätigkeit in der Wirtschaft brachte ich nicht genügende Voraussetzungen mit. Am 20. April 1977 sprach ich W^orte ehrenden Gedenkens auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer Wolfgang Göbel und den Justizhauptwachtmeister Georg Wurster, die von Terroristen ermordet worden waren'®). Buback, sagte ich, habe sich, wie kaum ein anderer, für die erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus eingesetzt und deshalb in besonderer Weise den Haß fanatischer Gewaltverbrecher auf sich gezogen. Die Kugeln der Mörder hätten uns alle getroffen, die wir entschlossen seien, unsere freiheitliche
3») STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 100 S. 201 C. Am 7. April 1977. Siehe dazu Archiv der Gegenwart 1977 S. 20967. 510
Rechtsordnung zu verteidigen. Die Deutschen, daran soUte niemand zweifeln, würden die Kraft aufbringen, den Staat gegen seine Feinde zu schützen^"). Weiterer Opfer des Terrorismus mußte ich am 8. September 1977 gedenken*i). Am 30. Juh 1977 war der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, erschossen worden^^). Er sei, sagte ich, in Deutschland und außerhalb Deutschlands, ein hochangesehener Repräsentant der deutschen Wirtschaft gewesen, ein Mann, der seine Pflichten ernst nahm und ein aktiver Teilnehmer am kulturellen Leben unseres Landes. Ich war Ponto freundschaftlich verbunden gewesen und empfand tiefe Trauer über seinen Tod. Auch er hatte mich für eine wirtschaftliche Tätigkeit im Vorstand von Hapag-Lloyd gewinnen wollen. Auch daraus wurde - wie ich rückblickend sagen muß - zum Glück nichts. Nur wenige Tage vor meiner Ansprache im Bundestag, am 5. September 1977, war der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hanns-Martin Schleyer, in Köln von Terroristen entführt worden. Dabei erschossen sie seinen Fahrer Heinz Marcisz sowie die PoUzeibeamten Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler^^). Ich sagte, Schleyer sei ein Mann gewesen, der wohl Gegner, aber keine Feinde gehabt hätte und der sich große Verdienste um den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft nach dem Kriege erworben habe. Die Mordanschläge richteten sich gegen unsere freiheitliche Ordnung, ja gegen jede menschliche Ordnung überhaupt. Ich Schloß mit der Bitte, die Abgeordneten möchten der Opfer eine Minute lang schweigend gedenken und Hanns-Martin Schleyer in ihre Fürbitte einbeziehen. Es sollte eine Einladung zu einem Gebet sein und wurde auch so verstanden. Es ist wohl das einzige Mal gewesen, daß im Bundestag gebetet wiirde. Der Berliner Bischof Kurt Scharf hat es so verstanden und mir dafür brieflich gedankt. Aber unsere Gebete wurden nicht erhört. Am 19. Oktober 1977 ermordeten die Terroristen Hanns-Martin Schleyer, einen Mann, der, so sagte ich am 20. Oktober 1977*^), wesentlich dazu beigetragen habe, tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen und mehr soziale Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern zu verwirklichen. Freiheit, Toleranz und Leistung seien seine Leitmotive gewesen. Wir alle hätten an seinen Leiden in den Wochen, während derer er sich in den Händen der Terroristen befand, innerlich Anteil genommen. Am gleichen Tage gedachte ich des Flugkapitäns Jürgen Schumann, der in seiner von Terroristen entführten Maschine in Mogadischu ermordet worden war, eines vorbildlichen Piloten, der sich bis zuletzt ruhig und besonnen um die Rettung seiner Passagiere bemüht habe. Er sei in Ausübung seiner Pflicht für die Sache der Freiheit gestorben. Л STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 101 S. 1 4 4 4 A - D . « ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 102 S. 2987 A - D . " ) Dokumentation hierzu in Archiv der Gegenwart 1977 S. 21164 f. Dokumentation hierzu ebenda S. 21300 ff. " ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 103 S. 3755 A - D . 511
Ich dankte den Beamten des Bundesgrenzschutzes, die wenige Stunden nach seinem Tode 86 Passagiere und Besatzungsmitgheder aus der entführten Maschine befreit hatten. Es war für mich schwer, angesichts dieser kahblütigen Schreckenstaten der Terroristen, meine äußere Ruhe zu bewahren. Aber Ausbrüche des Zorns und der Ruf nach Vergeltung halfen nicht weiter. Nur durch konsequente Verfolgung der Terroristen mit den rechtsstaatlich zulässigen Mitteln ließ sich eine Überwindung der schweren Krise unserer Republik erhoffen. Kurze Zeit danach, am Volkstrauertag, dem 13. November 1977, ging ich noch einmal auf die Terroranschläge ein^'). Ich sagte: „Das Bewußtsein der Bürger, in einer Gemeinschaft zu leben, ist durch die Terroranschläge ungemein gestärkt worden. [...] Wir empfinden uns in diesen Wochen nicht nur als eine pluralistische Gesellschaft, in der jeder einzelne oder jede Gruppe für sich einen möglichst großen Vorteil zu erlangen versucht, sondern wir empfinden uns als Partner, als eine Notgemeinschaft, die aufgerufen ist, die höchsten Werte - die Unversehrtheit des Lebens jedes Bürgers, seine menschliche Würde, seine Freiheit - zu schützen. Wir sind uns bewußt geworden, daß die Terroranschläge nicht nur dem Leben und der Freiheit einzelner unter uns gelten, sondern unserer Lebensordnung selbst, unserem Gemeinwesen, das eine bestimmte Wertordnung verkörpert. Der tiefe Schock hat uns plötzlich wieder daran erinnnert, was es bedeutet, wenn eine Gemeinschaft von ihren Gliedern Opfer, bis zur Aufopferung des Lebens fordert. Daß es danach nicht einfach so weitergehen kann wie vorher, sondern daß diejenigen, die das Opfer angenommen, ja verlangt haben, gefordert sind, die Verpflichtung einzulösen, die sie übernahmen, als sie sich außerstande erklären mußten, das Opfer abzuwenden. So haben die Terroristen etwas erreicht, was sie wohl am allerwenigsten bezweckt haben. Sie haben nämlich die guten Kräfte in unserem Volke, die Kräfte, die die Grundwerte bewahren und verteidigen wollen, mobilisiert und verstärkt. Und noch etwas weiteres haben die jüngsten Ereignisse bewirkt. In dem Gefühl, trotz besten Willens, nicht alle Ziele erreichen zu können, die wir erreichen wollen, in einem qualvollen Konflikt, der bis in die Tiefe jeder einzelnen menschlichen Seele, die an dem Geschehen teilnahm, reichte, haben viele von uns den Weg eingeschlagen, den Menschen seit Jahrtausenden in ähnlichen Lagen gegangen sind. Sie haben gebetet. Im Deutschen Bundestag ist eine Minute still für Hanns-Martin Schleyer gebetet worden. So sind wir denn auch hier, trotz allen Fortschritts, trotz des immensen Umfangs unseres gesicherten Wissens über uns selbst und die Welt, in der wir leben, zurückgeworfen in die Ursituation des Menschen, der nicht alles erreichen kann, was er sich, in noch so berechtigter Weise, vornimmt. Der schuldig wird, obwohl er das Richtige, ja das Gute tun will. Und der schließlich keinen anderen Weg sieht, als sein Schicksal und das der ihm anvertrauten Menschen, in die Hand einer höheren Macht zu legen, an deren Existenz er glaubt. " In der Feierstunde zum Volkstrauertag 1977 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Ansprache in BULLETIN vom 15. Nov. 1977 S. 1 0 5 3 - 1 0 5 6 .
512
Am 18. Januar 1979 gedachte ich des verstorbenen Kollegen, des SPD-Abgeordneten Adolf Scheu*®). Er wurde während der nationalsozialistischen Epoche von der Gestapo verfolgt. Seit 1969 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Sein Wirken sei, sagte ich, von christlichem Verantwortungsbewußtsein geleitet gewesen. Oft habe er Brücken zwischen den Fraktionen geschlagen. Ich selbst sei selten von einer Rede im Bundestag menschlich so tief berührt worden, wie von Scheue Rede zum Schwangerschaftsabbruch im Jahre 1975*'). Ich sprach seiner Witwe und seinen zwölf Kindern die herzliche Anteilnahme des Bundestages aus.
4. Politische Reden außerhalb des Parlaments In vielen Reden außerhalb des Parlaments vertrat ich weiter die Auffassungen, die ich vorher als Fraktionsvorsitzender vertreten hatte. Freilich vermied ich eine aggressive Sprache gegen irgendeine der im Bundestag vertretenen Parteien; dafür sprach ich mit einer überparteilichen Autorität, was viele Mitbürger zu schätzen wußten. Ich gebe nachstehend einige Reden in Auszügen wieder. Soldaten und Beamte Im April 1977 sprach ich vor der 21. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Sindelfingen über „Die Bundeswehr aus der Sicht des Parlaments"*®). Ich ging zunächst auf die Entstehung der Bundeswehr und die Einfügung der Wehrpflichtsartikel in das Grundgesetz in den fünfziger Jahren ein. 1956 sei eine Einigung zvdschen Regierung und Opposition in den grundsätzlichen Fragen der Wehrverfassung erzielt worden, die mit 390 zu 20 Stimmen im Bundestag angenommen worden sei. Auf die weitere Entwicklung habe der Bundestag einen großen Einfluß genommen. Seit Ende der fünfziger Jahre werde die Bundeswehr von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen. Die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung im Rahmen des Atlantischen Bündnisses werde nicht mehr in Frage gestellt. Die Übereinstimmung der Parteien finde ihren Ausdruck in den jährlichen Abstimmungen über den Haushalt des Bundesministers der Verteidigung: 1973 einstimmig bei 9 Enthaltungen, 1974 einstimmig bei 5 Enthaltungen, 1975 und 1976 einstimmig. In anderen Fragen beständen Meinungsverschiedenheiten. Bei den Kriegsdienstverweigerern wollten SPD und ГОР das Prüfungsverfahren abschaffen. CDU und CSU wollten daran festhaken. Der Wehrbeauftragte habe darauf hingewiesen, daß von einigen jungen Bürgern das Grundrecht der Wehrdienstverweigerung zum Kampf gegen Staat und Streitkräfte mißbraucht würde.
« ) STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 108 S. 9947 A - D . Vgl. Kap. IX S. 455 f. « ) Vortrag vom 21. April 1977, veröffentlicht in ZUSAMMENLEBEN S. 1 5 4 - 1 6 6 . 513
Ausführlich sprach ich über das Leitbild des Soldaten, des Bürgers in Uniform, das durch die Begriffe Menschenwürde, Pflichterfüllung, Tapferkeit und Kameradschaft geprägt sei. Dafür gäbe es in der deutschen Geschichte Vorbilder. Kein geringerer als Staatspräsident de Gaulle habe das anerkannt, als er 1961 gesagt habe, „die Wertschätzung, welche die Tapferen einander entgegenbringen, gehört zum sittlichen Erbe der Menschheit". Als Beispiel für Tapferkeit erwähnte ich den Feldwebel Erich Boldt, der sich 1961 für die ihm anvertrauten Soldaten geopfert hatte. Er hatte plötzlich erkannt, daß bei einer Übung eine Handgranate zu nah bei seiner Gruppe zu Boden fiel und im Falle ihrer Explosion Leben und Gesundheit der ihm unterstellten Soldaten gefährdet hätte. Der Feldwebel warf sich mit seinem Körper auf die Handgranate, die ihn zerriß und tötete. Von den übrigen Soldaten wurde niemand verletzt*®). Ich habe dieses Beispiel seitdem oft erwähnt als einen Beweis für außergewöhnliche Tapferkeit auch und gerade in der Zeit des Friedens, dessen wir uns seit über 40 Jahren erfreuen. Pflichterfüllung, Tapferkeit und Kameradschaft seien Tugenden, die für alle Menschen wertvoll seien, aber sie hätten besondere Bedeutung für den Beruf des Soldaten. „Kameradschaft ist eine Verbindung zwischen Menschen, die einander vertrauen, einander helfen und beistehen." Auch auf den militärischen Gehorsam ging ich ein und verlangte als Gegenstück das Eintreten der Vorgesetzten für die ihnen anvertrauten Soldaten. Der Soldat müsse das Gefühl haben, daß sein Vorgesetzter für ihn einstehe, auch wenn er Fehler gemacht habe, solange er sich ehrenhaft verhalte. Dies sei nach meiner Meinung ein wesentliches Element der Führung im militärischen und übrigens auch im zivilen Bereich. Ich zitierte Bismarck, der in seinen Gedanken und Erinnerungen über den preußischen König Wilhelm I. schrieb: „Er stützte und deckte seine Diener, auch wenn sie unglücklich oder ungeschickt waren vielleicht über das Maß des Nützlichen hinaus und hatte infolgedessen Diener, die ihm über das Maß des für sie Nützlichen hinaus anhingen^®)." Am Schluß behandelte ich das Verhältnis vom Soldaten zu seinem Vaterland. Wir müßten nach den schrecklichen Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre zu einem geläuterten Begriff des Vaterlandes zurückfinden; auch dafür gäbe es Vorbilder in unserer Geschichte. Die preußischen Heeresreformer Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hätten dazu die Grundlage gelegt. Für sie war der Begriff des Vaterlandes geprägt durch die neue Lebensordnung, in der sich jeder Bürger für das Ganze mitverantwortlich fühlen sollte. In einer Ansprache auf der Tagung des Deutschen Beamtenbundes in Bad Kissingen am 9. Januar 1978 legte ich ein eindeutiges Bekenntnis zum Berufsbeamtentum ab^i). Die gesamte staatliche Verwaltungstätigkeit sollte in der Regel
Zu seiner Würdigung vgl. auch die Gedenkworte von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier am 6. Dez. 1961 in STENOGRAPHISCHE BERICHTE Bd. 50 S. 5 3 A - B . Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Reden und Briefe. Mit einer Einführung von Theodor Heuss, Berlin 1951 S. 589. In Auszügen gedruckt in ZUSAMMENLEBEN S. 1 4 1 - 1 5 3 . 514
von Berufsbeamten ausgeübt werden. Ausnahmen seien in Einzelfällen möglich. Der Berufsbeamte solhe: in der Regel auf Lebenszeit berufen werden; zur Verschwiegenheit, Unbestechlichkeit und zur unparteiischen Verwaltung seines Amtes verpflichtet sein; zum Gehorsam gegenüber den, in rechtsstaatlichen Verfahren zustande gekommenen, Gesetzen erzogen werden; dem Dienstherm Treue schulden; umgekehrt habe der Dienstherr ihm gegenüber eine umfassende Fürsorgepflicht. Zur Ausweitung des öffentlichen Dienstes trage, sagte ich, der Gesetzgeber selbst durch die ständig zunehmende Zahl der von ihm verabschiedeten Gesetze wesentlich bei. Ich nannte dafür einige groteske Beispiele: allein zum Umsatzsteuergesetz seien über 500 Ausführungsverordnungen, Erlasse und erläuternde Schreiben ergangen. Ein Industrieller, der eine wichtige Investition vornehmen, nämlich eine Maschine im Werte von einer Million DM installieren wollte, mußte Anträge ausfüllen, die insgesamt 3 kg wogen und 119 Unterschriften erforderten. Um den gesetzlichen Erfordernissen zu entsprechen, mußten vor einiger Zeit tausende von Briefen an Studenten geschrieben und verschickt werden, weil der Bundeszuschuß zur privaten Krankenversicherung der Studenten von monatlich DM 1 5 , - auf DM 15,11 erhöht wurde. Ich forderte eine Durchforstung der Gesetze. Aber ich kritisierte auch das mangelnde Kostenbevtrußtsein des öffentliche Dienstes. Ein im öffentlichen Dienst verbreitetes Prestigedenken führe zu der falschen Schlußfolgerung, daß die Bedeutung einer Behörde durch die Zahl der Mitarbeiter bestimmt werde. Zum Problem des parteipolitischen Einflusses auf den öffentlichen Dienst wies ich auf Einstellungen und Beförderungen hin, bei denen die fachliche Eignung gefehlt, aber die Parteizugehörigkeit den Ausschlag gegeben habe. Ich wandte mich nachdrücklich gegen diese Entwicklung. Wörtlich sagte ich: „Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß parteipolitisch gebundene Beamte eingestellt und befördert werden, wenn sie tüchtig sind und die Einstellungsvoraussetzungen erfüllen, aber das Parteibuch darf unter keinen Umständen die fachliche Qualifikation ersetzen." Schließlich forderte ich, daß wir uns auf die 1949 von den Vätem unserer Verfassung beschlossenen Grundsätze der wehrhaften Demokratie besinnen und das Eindringen von Verfassungsfeinden in den öffentlichen Dienst verhindern sollten. Die Kampagne unter dem Stichwort „Berufsverbot" sei ebenso absurd wie die These von der „Isolationsfolter" bei terroristischen Gewaltverbrechen. Hier würde die Rechtslage auf den Kopf gestellt. Verantwortung für die freiheitliche Ordnung Immer wieder mahnte ich meine Zuhörer, bei der Verteidigung unserer freiheitlichen Ordnung zusammenzustehen. In einer Rede vor der Bremischen Bürgerschaft am 28. September 1977"), sagte ich:
" ) Plenarprotokoll S. 2 8 6 8 - 2 8 7 0 .
der
Bremischen
Bürgerschaft,
9.
Wahlperiode,
44.
Sitzung,
515
„Nicht nur die Terroristen bekämpfen unsere freiheitliche Ordnung, andere bedienen sich nichtgewalttätiger Mittel, um das gleiche Ziel zu erreichen so die Kommunisten und die Rechtsextremisten. Wir dürften sie nicht in den Staatsdienst übernehmen. [...} Und hier knüpfe ich an die Erfahrung an, die ich und viele andere Altersgenossen im Jahre 1933 gemacht haben. Damals brach eine freiheitliche deutsche Staats- und Rechtsordnung zusammen, weil diejenigen, denen die Verteidigung dieser Rechtsordnung anvertraut war, die verfassungsmäßigen Organe des Reiches und der Länder, zu schwach waren, um sich ihrer Gegner zu erwehren. Vor einigen Wochen ist eine Biographie des preußischen Ministerpräsidenten, Otto Braun, erschienene^). Ich möchte sie jedem politisch Interessierten zur Lektüre empfehlen. Sie ist ein erschütternder Beweis dafür, daß ein freiheitlicher Staat zusammenbrach, weil seine Repräsentanten zu einem Zeitpunkt, als sie es noch hätten tun können, versäumten, die entschiedenen Gegner der ft'eiheitlichen Ordnung von der Einflußnahme auf die staatliche Gewah auszuschalten. Möchten wir die Lehre von Weimar beherzigen. Es ist nicht leicht für einen freiheitlichen Staat, sich mit denjenigen auseinanderzusetzen, die ihn mit Mitteln der ideologischen Kampfführung beseitigen wollen; denn er darf seine freiheitlichen Grundprinzipien nicht preisgeben. Aber er braucht diejenigen, die ihn bekämpfen, auch nicht in seinen eigenen Dienst zu übernehmen und ihnen eine lebenslängliche, mit Pensionsberechtigung versehene Plattform zur Fortsetzung ihres Kampfes verschaffen. " Ich sprach mich gegen die Übernahme von Kommunisten in den Staatsdienst aus, und sagte, wir sollten uns nicht durch diejenigen irre machen lassen, die uns Hexenjagd, Kreuzzugsmentalität, Intoleranz und primitiven Antikommunismus vorwürfen. Und dann fuhr ich wörtlich fort: „Ich will nicht bestreiten, daß es auch eine primitive, weil nicht unterscheidende Form des Antikommunismus gibt. Aber die geistige Auseinandersetzung selbst, die ja der Kommunismus seinerseits mit voller Schärfe führt, müssen wir aufnehmen, und im Zentrum dieser Auseinandersetzung muß unsere These stehen, daß jedes uns bisher bekannt gewordene kommunistische System entscheidende Freiheitsräume des Menschen, trotz unentwegter verbaler Beteuerung des Gegenteils, beseitigt. " Am 1. Oktober 1978 veranstaltete die Theodor-Heuss-Stiftung in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Podiums-Diskussion zwischen Bundespräsident, Bundestagspräsident, Bundeskanzler und Präsident des Bundesverfassungsgerichts — also zvdschen Walter Scheel, mir, Helmut Schmidt und Emst Benda über die Demokratie in unserem Lande. Wir alle vier äußerten uns über den Stand der demokratischen Entwicklung befriedigt®^).
") Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977. ") Gedruckt in: Die Zukunft unserer Demokratie - Die Tagung 1978 der Stiftung Theodor-Heuss-Preis und der Evangelischen Akademie Tutzing. Hrsg. von Norbert Schreiber, München 1979. 516
Scheel appellierte an alle Demokraten, die Demokratie laufend zu verbessern. Viele Bürger seien über den Staat, die Parteien und die Politiker verdrossen. Aber die große Zahl unserer Mitbürger sei trotzdem mit der Demokratie, wie sie sich bei uns entwickelt habe, zufrieden. Sie hielten unseren Staat für funktionsfähig. Sie woißten auch, daß es der beste Staat sei, den es bisher in Deutschland gegeben habe. Ich plädierte für mehr Zurückhaltung bei dem Erlaß von Gesetzen. Man müsse fragen, welche Belastung ein Gesetz für den Bürger, für die Verwaltung, für das Gemeinwesen insgesamt mit sich bringe. Sei die Belastung größer als der Nutzen, solle man auf das Gesetz verzichten. Wir sollten auch häufiger statt vom Staat von dem Gemeinwesen sprechen, dessen Glieder wir seien. Unser Handeln sollte sich am Gemeinwohl, das heißt an ethischen Grundsätzen orientieren. Dazu gehöre Achtung vor der Würde des Menschen, Toleranz, ja sogar ein wenig Nächstenliebe. Schmidt sagte, die Demokratie leide an mehreren, freilich unvermeidhchen. Geburtsfehlem. Nicht der bekomme Recht, der Recht habe, sondern der, der die Mehrheit habe. Zum anderen vrärde nicht der jeweils Beste in die führenden Ämter berufen, sondern der, den die anderen für den Geeignetsten hielten. Damit sie ihn dafür hielten, mache er sich ihnen angenehm. Schmidt appelherte an die anderen Verfassungsorgane, in Sonderheit an das Bundesverfassungsgericht, ihre Kompetenzen nicht bis an den Rand auszuüben. Er akzeptierte meine These vom Gemeinwohl. Aber zur Demokratie gehöre auch die Bereitschaft zum Konflikt und Vertrauen in die Technik der Konfliktregelung. Viele Deutsche gingen von der Vorstellung einer falschen Harmonie in der Demokratie aus. Benda widersprach Schmidt. Einmal verwahrte er sich gegen die Kritik am Bundesverfassungsgericht. Es habe nach der Verfassung Rechte und Pflichten und müsse sie ausüben. Zum anderen müßten die Konflikte, die notwendig seien, auf der Basis eines Grundkonsenses ausgetragen werden. Insoweit bedürfe Schmidts These einer Ergänzung. Im ganzen konnte man sagen, daß es eine gelungene Veranstaltung war. Der Saal, in dem wir sprachen, war bis zum Bersten voll. Alle vier Teilnehmer stimmten in wesentlichen Fragen miteinander überein. Die Medien gaben der Veranstaltung weite Verbreitung. Grundsätze der Erziehung Mehrfach äußerte ich mich zu Erziehungsfragen. In meiner Rede beim Kramermahl in Münster am 27. Januar 1978'^), forderte ich, daß die jungen Menschen an den Schulen zu verantwortlichen Staatsbürgern erzogen würden. Ziel der Erziehung müsse es sein, ehtische Grundwerte, wie Pflichterfüllung, Verläßhchkeit, Unbestechlichkeit zu vermitteln und den Schülern die Einsicht in das Funktionieren unserer politischen Institutionen zu verschaffen. „ Unsere freiheit-
Handschriftliches Redemanuskript im Nachlaß Carstens/89 Bl. 470-174. 517
liehe Demokratie weist gewiß Mängel auf, aber sie ist die beste Verfassungsform, die das deutsche Volk jemals gehabt hat und eine der besten Verfassungen der Welt." Gewalt zerstöre die Grundlagen der freiheitlichen Ordnung. Das Geschichtsbewußtsein müßte wieder stärker belebt werden. Und in den Schulen müsse das Bewußtsein geweckt werden, daß das deutsche Volk als eine lebendige Einheit fortbestehe. Es sei die Aufgabe der Schulen, den resignierenden Tendenzen entgegenzutreten, die das deutsche Problem als gelöst und die Einheit des deutschen Volkes als endgültig verloren ansähen. Am Schluß wandte ich mich an die Bürger. „Es liegt an den Bürgern, daß das Bewußtsein wieder entsteht, daß wir nicht bloß eine pluralistische Gesellschaft sind, in der jede Gruppe gegen jede andere Gruppe kämpft, um einen möglichst großen Anteil an dem gemeinsam Erarbeiteten zu bekommen, sondern daß wir auch eine Gemeinschaft von Menschen sind, die gemeinsame und zwar vitale gemeinsame Interessen haben, z. B. das Interesse an der Erhaltung des äußeren und des inneren Friedens und das Interesse an Freiheit und an sozialer Gerechtigkeit. " Anläßlich der 450-]ahr-Feier meiner alten Schule, des Alten Gymnasiums zu Bremen, sprach ich am 17. November 1978 über die Bedeutung der humanistischen Bildung in unserer Zeit®®). Man könne, so sagte ich, die deutsche Geistesgeschichte und die deutsche politische Geschichte nicht verstehen, wenn man nicht ihre Bezüge zur Antike darstelle. In der karolingischen, der ottonischen und der humanistischen Renaissance, der deutschen Klassik, dem Klassizismus, dem Neuhumanismus sei die Antike wieder entdeckt und ihre geistigen Früchte in das deutsche Geistesleben rezipiert worden. Auch in der Gegenwart vermittle die humanistische Bildung Einsichten und ethische Grundwerte, die den Menschen in den Stand setzten, sich zu entfalten und als ein Glied der Gemeinschaft in moralischer und staatsbürgeriicher Verantwortung seine Rolle im Leben zu übernehmen. Das geschehe in dreifacher Hinsicht: Die humanistische Bildung vermittle Eindrücke von außerordentlicher Schönheit und beflügele die Phantasie. Sie lehre die Bedeutung der Pflichterfüllung, aber auch die Ausweglosigkeit eines tragischen Schicksals erkennen. Sie zwinge zu logischem Denken und zu unerbittlichem und zu unermüdlichem Suchen nach der Wahrheit. Ich führte dafür viele Beispiele an: Das Höhlengleichnis über die Idee des Guten in Piatos Lehre vom Staat, die platonischen Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, die bis heute Geltung beanspruchten, die Bereitschaft des Sokrates, den Tod auf sich zu nehmen, weil die Gesetze Athens es so wollten. Die Suche des Sokrates nach der Wahrheit sei die schärfste Absage gegen jede Art von Ideologie. Der Kampf des Sokrates gegen die Sophisten sei heute so aktuell vde vor 2000 Jahren. Sokrates lehre uns, alle The-
Gedruckt in ZUSAMMENLEBEN S. 1 2 4 - 1 3 6 .
518
sen und Behauptungen kritisch zu hinterfragen, auch diejenigen, die die kritische Hinterfragung anderer Lehrmeinungen zum Gegenstand ihrer eigenen philosophischen Betätigung machten und besonders diejenigen, die mit dem Anspruch aufträten, die absolute Wahrheit zu verkünden. Freihch fehle der antiken Welt die christliche Komponente, das Gebot der Nächstenliebe und der Glaube an einen gütigen Gott. Besorgt fragte ich nach der Zukunft der Schule. Würde sie in einer Gesamtschule aufgehen und damit ihre Identität verlieren? Ich appellierte eindringlich an die Bremische Schulverwaltung, den alten Sprachen Griechisch und Lateinisch einen angemessenen Platz einzuräumen, eine Schule w^eiterhin unter dem Namen „Altes Gymnasium" bestehen zu lassen und an dieser Schule in einem Zusammenklang der Fächer Lateinisch, Griechisch, Deutsch und Geschichte die Bildungswrerte mit Schvirerpunkt zu vermitteln, die ich als die entscheidenden Bildungswerte der antiken Welt für unsere Gegenwart darzustellen versucht hätte. Ich schloß mit einem Zitat des griechischen Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis: „Die europäische Zivilisation ist aus der Synthese des griechischen, des römischen und des christlichen Geistes hervorgegangen, einer Synthese, zu der der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen hat, der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und das Christentum den Glauben und die Liebe. " Familienpolitik 1977 hieh ich in Bamberg ein Referat vor dem Familienbund der Deutschen Katholiken über das Thema „Familie - Schwerpunkt der Politik"''). Dabei bat ich um das Zusammenwirken von katholischen und evangelischen Christen bei der Lösung der großen familienpolitischen Aufgaben. Ich sprach mich für den Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe aus und beklagte die Entwicklung zu einer immer häufigeren Scheidung von Ehen. Erziehung der Kinder sei das ursprüngliche Recht der Eltern und nicht, wie es von manchen Soziologen formuliert würde, eine Aufgabe, die der Familie von der Gesellschaft übertragen sei. „Die Familie ist eine gegenüber dem Staat und der Gesellschaft eigenständige Gemeinschaft. Sie ist äUer als beide - sie ist gewässermaßen ihre Urzelle." Aber die Familie sei heute gefährdet. Im Wohnungsbau, bei der Stadtplanung würde auf Familien mit föndem nicht ausreichend Rücksicht genommen. Die schulische Erziehung verfolge an vielen Schulen die Tendenz, die Kinder aus den Bindungen an ihre Eltern zu lösen. Vor allem seien die Familien mit föndem starker finanzieller Benachteüigung ausgesetzt. Auch werde die Tätigkeit der Hausfrau und Mutter nicht genügend gewürdigt. Ihre Rentenversorgung sei ungenügend. Die Folge sei ein starker Rückgang der Geburten. Ich forderte:
") Gedruckt ebenda S. 109-122. 519
— mehr Achtung vor jungen Familien, die Kinder in die Weh setzten, — Vermehrung der Zahl der Kindergärten, — vermehrte Möglichkeiten für Teilzeitbeschäftigung im Öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft, — Schule und Familie sollten sich in der Erziehung ergänzen und in Harmonie zueinanderstehen, — eine bessere finanzielle Stellung der Familie mit Kindern, vor allem ein Erziehungsgeld für Mütter, die während der drei ersten Lebensjahre des Kindes auf eine berufliche Tätigkeit verzichteten. Allerdings betonte ich auch:
„Ich möchte übrigens, um das ganz deutlich zu sagen, nicht in dem Sinne verstanden werden, als wenn ich den Verzicht einer Hausfrau und Mutter auf eigene berufliche Tätigkeit als das allein richtige Rezept bezeichnen würde. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß beide Möglichkeiten nebeneinander bestehen sollten. Die Möglichkeit der Hausfrauen und Mütter, sich ihren Kindern ganztägig zu widmen, aber auch die Möglichkeit, daß beide Eltern berufstätig sind und dafür das Angebot an familienergänzenden Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen entsprechend erweitert wird. " Ich wandte mich gegen die weitverbreitete Angst vor der Zukunft und rief meine Zuhörer zu mehr Zuversicht auf. Die Probleme, auch die schwerwiegenden Umweltprobleme, seien lösbar. Die Lage sei nicht hoffnungslos :
„Eine Generation wird es nicht schaffen. Schon deswegen ist es notwendig, einer neuen Generation die Chance zu geben, das begonnene aber unvollendet gebliebene Werk fortzusetzen. Sicherlich, gerade der Christ wird auch auf das Ende der Zeiten blicken. Es wird uns in der Bibel angekündigt, und wissenschaftliche Erkenntnisse weisen uns in die gleiche Richtung, nämlich daß das Ende dieser Welt unausweichlich ist. Aber wann das Ende eintritt, wissen wir nicht, und es herbeizuführen ist nicht unsere Sache. Ja, wir würden uns versündigen, wenn wir es täten. Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Wort Luthers zu zitieren: ,Wenn ich wüßte, daß morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. ' Dies, scheint mir, ist die christliche Einstellung gegenüber den uns bedrohenden Gefahren. "
520
XI. Bundespräsident 1979-1984 1. Von der Wahl bis zum Abschied vom Amt Auseinandersetzungen
vor der
Wahl
Gegen Ende des Jahres 1978 zeichnete sich deutlich die Möghchkeit ab, daß ich der nächste Kandidat der CDU und CSU für das Amt des Bundespräsidenten sein würde. Dafür gab es mehrere objektive Gründe. Zunächst einmal hatten CDU und CSU zusammen die absolute Mehrheit der Stimmen in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt. Das war vorher nie der Fall gewesen. Die neue Konstellation war die Folge der guten Wahlergebnisse, die CDU und CSU bei den Landtagswahlen seit 1973 und bei der Bundestagswahl von 1976 erzielt hatten^. Es war unbestritten, daß ich daran einen erheblichen Anteil als Vorsitzender der gemeinsamen Bundestagsfraktion gehabt hatte. Zum anderen hatten CDU und CSU mich 1976 für das höchste Amt, das sie zu vergeben hatten, für das Amt des Bundestagspräsidenten vorgeschlagen, das ich nach der überwiegenden Ansicht meiner Parteifreunde und auch vieler anderer Mitglieder des Bundestags korrekt und effizient ausfüllte. Es sprachen also gute Gründe dafür, mich für das 1979 zu besetzende Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Natürlich gab es auch andere Überlegungen. Manche in der CDU meinten, wir sollten Walter Scheel für eine zweite Amtsperiode wählen. Er war ein außerordentlich beliebter und erfolgreicher Bundespräsident. Stand es uns daher nicht gut an, seine Leistung dadurch zu würdigen, daß wir ihm unsere Stimme gaben? Manche sahen darin auch die Chance für einen Koalitionswechsel der ГОР, deren Spannungen zur SPD unverkennbar waren. Aber diese Tendenzen setzten sich in der Union nicht durch, und man muß zugeben, daß man einer Partei, die die absolute Mehrheit der Stimmen hat, zu viel zumutet, wenn man von ihr verlangt, daß sie den Kandidaten einer anderen Partei unterstützt, zumal ein Koalitionswechsel der ГОР völlig ungewiß war. Manche in der CDU und besonders in der CSU kreideten Scheel auch weiterhin Fehler an, die ihm bei der Konzeption und Durchführung der neuen Ostpolitik nach 1969 unterlaufen waren. Die CSU sprach sich frühzeitig für meine Kandidatur aus, und Anfang Dezember 1978 faßten der Bundesvorstand der CDU und dann die Bundestagsfraktion der CDU/CSU den Beschluß, mich für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Siehe Kap. IX S. 433 ff., 470. 521
Damit begann für mich eine schwierige Zeit. Zunächst konzentrierten sich die politischen Angriffe wieder auf mich. Ich sei ein erzkonservativer, ja reaktionärer Politiker, so hieß es. Als solchen suchte mich ein Teil der Presse abzustempeln. Und auch Bundeskanzler Schmidt machte eine Äußerung in dieser Richtung. Aber diese Angriffe zeigten bei der CDU und CSU, auf deren Haltung es ankam, keine Wirkung und wurden bald nicht mehr wiederholt. Schwerer wog eine Kampagne - anders kann ich es nicht bezeichnen - , die im Zusammenhang mit meiner Aussage über den BND vor dem Untersuchungsausschuß Guillaume aus dem Jahre 1974 wieder auflebte. Wie berichtet, hatte der Bundesgerichtshof am 3. Oktober 1978 eine mir ungünstige Entscheidung gefällt^), und es sah so aus, als wenn ich den Prozeß gegen Metzger, den ich selbst angestrengt und den ich in zwei Instanzen gewonnen hatte, verlieren würde. Daß es sich um einen Zivilprozeß handelte, störte meine Gegner nicht. Ebensowenig störte sie, daß der Bundesgerichtshof selbst gesagt hatte, strafrechtlich müsse der Vorgang anders beurteilt werden. Plötzlich mehrten sich die Stimmen, die verlangten, daß gegen mich wegen einer wissentlichen Falschaussage ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren eingeleitet würde. Der Präsident des Landgerichts Verden, Heinrich Beckmann, den ich persönlich nicht kannte, schrieb in einem Brief an den „Spiegel", die Unionschristen wären gut beraten, wenn sie nicht an einem Kandidaten festhalten würden, dessen mangelnde Eignung jedenfalls für diejenigen Bürger unseres Staates offensichtlich sei, die an den Inhaber hoher Staatsämter hohe Eignungsanforderungen stellten'). Nach mehr als zehn Jahren fällt es mir immer noch schwer, diese Stellungnahme mit meinen Vorstellungen über die Objektivität eines Richters in Einklang zu bringen. Bald darauf stellte sich heraus, daß mit meiner Aussage über den BND keine wirksame Munition gegen mich zu gevkdnnen war. Mit einleuchtenden Gründen beharrte ich auf dem Standpunkt, daß meine Aussage objektiv wahr gewesen sei. Die ausführliche Erklärung von Bundeskanzler Schmidt im Deutschen Bundestag vom 9. März 1979 entlastete mich*). In meinem Prozeß gegen Metzger erklärte der Beklagte, er habe nicht den Vorwurf einer schuldhaften Falschaussage gegen mich erheben wollen. Schließlich erklärte die Staatsanwaltschaft in Bonn aus eigener Initiative und ohne mein Zutun, daß sie von den infrage kommenden Vorgängen aus anderen Akten, die ihr zur Bearbeitung eines anderen Falles vorlägen, Kenntnis habe und keine Veranlassung sehe, gegen mich ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Es gebe keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Falschaussage durch mich. Damit war auch die Luft aus diesem Komplex heraus. Aber es blieb eine weitere schwierige Auseinandersetzung zu bestehen. Ein früherer Wehrmachtssoldat der Flakartillerieschule III in Berlin-Heiligensee berichtete in der Berliner Presse, ich sei Mitglied der NSDAP gewesen und hätte Siehe dazu Kap. IX S. 461. Der Spiegel Nr. 12 vom 19. März 1979 S. 8 f. („Über den Kandidaten darf geflüstert werden").