Ergebnisse der Naturforschung für das Leben: Vorträge und Abhandlungen [Reprint 2019 ed.] 9783111465791, 9783111098913


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Ergebnisse der Naturforschung für das Leben: Vorträge und Abhandlungen [Reprint 2019 ed.]
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Ergebnisse der

Natur forschung für das Leben.

Vorträge und Abhandlungen von

I. van der Hoeven, Pb. nat. et Med. Doctor, ordentl. Professor der Naturwissenschaften zu Leiden, U. s. ID., U. s. w.

Aus

dem

Niederdeutschen.

Berlin, 1S4S. Verlag

von

G.

Reimer.

Borwort des Ueberfetzers. Das vorliegende Bändchen enthält eine Auswahl von Reden und Abhandlungen auö einer größeren Sammlung, welche der Verfasser unter dem Titel: „Redevoeringen en Verhandelingen etc.“*) vor einem Jahre in Holland herausgab. I. van der Hoeven ist als Naturforscher schon seit lange den Gelehrten, und durch eine Nebersetzung der zweiten Auflage seines Handbuches der Zoologie jetzt auch einem größeren Kreise in Deutschland zu rühmlich bekannt, als daß es hier nöthig wäre, seine Verdienste um die Wissenschaft noch weiter hervor­ zuheben. Ist die Zoologie jedoch wesentlich ein Handbuch für höhere Lehranstalten und für Solche bestimmt, welche eine wissenschaft­ liche Vorbildung genossen haben, so zeigt sich in dem vorlie­ genden Merkchen der Verfasser als populärer Redner und Schrift­ steller; und wie sehr ihm die richtige, allgemein verständliche Haltung gelungen, davon geben die Abhandlungen selbst den besten Beweis. Man erwarte und suche jedoch keine neue Entdeckungen oder unbekannte Wahrbeiten darin. Es sind Reden, durch­ drungen von ächter Lebensweisheit, in gewählter Form, und gehalten vor einem gemischten Zuhörerkreise mit der Absicht, auch den Laien mit dem Inhalte, der Richtung und den Ergeb­ nissen der Wissenschaft bekannt zu machen. Von diesem Stand­ punkte aus wollen und müssen dieselben betrachtet und beurtheilt werden. Der allgemeine Beifall, welchen diese Vorträge in der Heimath des Verfassers sanden, und das Vergnügen, welches sie dem Nebersetzer und seinen Freunden, welchen er sie ver­ ständlich machte, gewährten, veranlaßten den letzteren, die Mehr­ zahl derselben in ein hochdeutsches Gewand zu kleiden. Er wünschte damit zugleich einen Beitrag zu jener wahren Volks-

*) Te Amsterdam, bij de Wed. R. Sternvers.

1846. 810.

IV literatur zu liefern, zu welcher Liebig in Deutschland durch seine „Chemischen Briefe" so erfolgreich die Bahn brach und welche durch ihn so rühmlichst vertreten wird. Bei der Auswahl leiteten den Urbersetzer der Geschmack und das Interesse des deutschen Publikums. Die Abhaudlung „über den Kampf sürS Vaterland in Friedenszeit," welche hier eben­ falls fort bleibt, enthält zwar viel, nicht blos für Holland, Wahres und Beachtenöwerthcs; es sind jedoch auch Ansichten und unge­ rechte Vorwürfe, vielleicht durch Zeitverhältnisse erregt, in Bezug auf die Nachbarländer darin ausgesprochen, von denen der Ver­ fasser wohl schon zurückgekommen sein dürfte, oder doch hoffent­ lich zurückkommen wird. Was nun die Uebersetzung anbetrifft, so ging die Haupt­ absicht dabin, so wenig wie möglich, ohne der hochdeutschen Sprache Gewalt anzuthuen, von der ganzen Eigenthümlichkeit und dem Eindrücke deS niederdeutschen Originales zu verwischen. Hierzu gehörte außer der von dem Verfasser oft sorgfältig abgewägten Form auch daS Vermeiden fremder KunstauSdrücke. Sie wurden durch den niederdeutschen ganz entsprechende hoch­ deutsche wiederzugeben gesucht. Der Gelehrte wird sich daran stoßen, denn ihm sind die fremden geläufiger; der Laie aber, für den das Büchlein ja vorzüglich bestimmt ist, den Vortheil haben, dasselbe ohne Fremdwörterbuch lesen zu können. WaS sich nicht wiedergeben ließ, ist die ausgesprochene Quantität der Silben, welche die niederdeutsche Sprache so wohlklingend, für oratorische Zwecke so geschickt und für den Kenner derselben so anziehend macht. Zu bemerken wäre noch, daß der Ueberseher zwar in einigen Ansichten mit dem Verfasser nicht übereinstimmt, daß er es jedoch für kleinlich hielt, dieses jedesmal in einer besonderen Anmerkung selbstgefällig auszusprechen; er giebt das Glaubenöbekenntniß deS Verfassers, nicht seines. Möge daö hier Gebotene dieselbe freundliche Ausnahme finden bei dem hochdeutschen Publikum, welche dem niederdeutschen Original in so reichem Maaße in Holland zu Theil wurde.

F. B.

Inhalt. Seite I.

Ueber die Vortrefflichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre........................................................................

1

II. Die Lust. Eine populäreNaturbetrachtung......................................... 23 HI. Die Ergebnisse der Geologie.................................................................. 49 IV. Ueber das Lesen oder den Umgangmit Büchern.................................. 75 V. Ueber die Form........................................................................................ 99

Ueber die Vortrefflichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre.

Unter den Lieblingsideen der wahren Menschenfreunde nimmt

gewiß den ersten Platz ein die Vorstellung einer stufenweisen

Zunahme der Menschheit an wahrer Bildung und Erkenntniß, die sogenannte Vcrvollkommnungsfähigkcit deS menschlichen Ge­ schlechts.

Ein Band der gemeinschastlicheu Wirksamkeit ver­

bindet frühere und spätere Geschlechter; sogar die Irrthümer

deS Vorgcschlechtes dienen zur Warnung, und durch ein vor­ sichtigeres Nachgeschlecht wird ein Leuchtthurm aufgerichtet auf

denselben Klippen, an welchen frühere scheiterten. Ein Gebäude

steigt empor, woran Tausende arbeiten; und, was auch die Hand der Zeit zerbrechen möge, oder der Athem der Vergänglichkeit

zerstieben läßt, auf einem Felsen gegründet, steht daS Gebäude fest und sicher und gewinnt beständig an Umfang, an Ordnung

und an Schönheit. Aber ist dies nicht ein Traum,

Wunsch?

ein Wahn,

ein eiteler

Ist eS nicht vielleicht mit der Erfahrung, mit dem

Zeugnisse der Geschichte, mit heiligen Wahrheiten der Religion im Widerspruch? — Was Andere auch hiervon denken mögen,

wir können un- nicht davon überzeugen, daß daS menschliche 1»

4 Geschlecht dazu bestimmt sein sollte,

in einem fortwährenden

Kreise sich herum zu drehen, und nur erschaffen sollte, um zu

zerstören, und

zerstören,

um wieder hervorzubringen.

DaS

Zeugniß der Geschichte spricht hier laut; und, wenn auch hier

oder dort ein Stillstand oder Rückschritt stattfindet, wenn auch daS

Licht der Cultur bald von dem einen Erdstrich verschwindet, bald auf einem anderen wieder auftaucht, dieses Alles kann uns die all,

gemeine Wahrheit nicht in Zweifel ziehen lassen, welche indessen, daS erkennen wir gerne an, wenn man sie mißdeutet oder verkehrt an­ wendet, zu vielen ungegründeten Vorstellungen Anlaß geben kann. Über die Fortschritte des menschlichen Geschlechtes liefern

unS vorzüglich die Naturwissenschaften ein überzeugendes Beispiel.

Die

Niederländische

ökonomische

Gesellschaft,

vor

deren achtbaren hiesigen Abtheilung ich jetzt die Ehre habe, daS Wort zu führen*), stellt sich zum Ziele, diese Wissenschaften auf die Gewerbthätigkeit anzuwenden, und dadurch die allgemeine

Wohlfahrt zu befördern.

Ich halte diesen Ort daher nicht für

unpassend, um in dieser Stunde zu Ihnen über die Vortreff,

lichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre zu sprechen. — Wenn ich dabei Ihre Nachsicht anrufe, so ersuche ich Sie ernstlich, dieses nicht als eine gewöhnliche HöflichkeitS,

erweifung zu betrachten; ich fühle eS lebendig, wie sehr ich dersel­ ben bedarf. Nicht gewohnt, öffentlich sprechend aufzutreten, würde

ich auch jetzt die Scheu, welche ich davor habe, nicht zur Seite

setzen, hätte mich nicht Ihr ehrenvolles und eindringliches Ersuchen bewogen, Willen zu geben.

eine

Probe wenigstens

von

meinem

guten

Schenken Sie mir denn Ihre geneigte Auf,

•) Diese Red« wurde vorgetragen in einer öffentlichen Versammlung der Leydtnschen Abtheilung ter genannten Gesellschaft, die jetzt den Namen: „Niederländische Gesellschaft gut Beförderung der Industrie" trägt.

. 5

merksamkeit, die ich von meiner Seite durch keine langgedehnte Rede auf die Probe stellen werde. Betrachten wir die Naturlehre so wie sie jetzt auögeübt wird, in ihrer Grundlage, ihrer

Anwendung.

Lehrweise

und ihrer

In allen diesen drei Beziehungen wird unS

ihre hohe Vortrefflichkeit klar werden.

Der Brunnen, auö welchem unsere Kenntniß der Natur fließt, ist die Beobachtung.

Wie einfach diese Bemerkung

auch ist, so würde man sich doch irren, wenn mein glaubte, daß

ihre Wahrheit immer gleich lebendig wäre gefühlt worden, und

daß sie stetS den Untersuchungen der Naturforscher zur Richt­ schnur gedient hätte.

Es hat eine Zeit gegeben, wo man nicht

auS der Beobachtung, sondern aus dem Ansehen einzelner be­

rühmter Männer die Wissenschaft schöpfen wollte, gerade alS

wäre diesen

von der

Gottheit daS ausschließliche Recht ge­

geben worden, ihre Augen und übrigen Sinne zu gebrauchen,

und als wäre die übrige Menschheit nur mit Sinnesorganen begabt, um daS Werk von Menschen, nicht um die Werke deS

Schöpfers selbst zu untersuchen.

Von diesem verkehrten Wege

rief der unsterbliche Baco die Gelehrten zurück; und wahrlich, wie ist auf demselben ein Fortschritt möglich?

wie in

Eben so wenig,

einem abgeleiteten Springbrunnen daS Wasser höher

steigen kann, als eS in dem Hauptbrunnen steht, eben so wenig

kann ein solches entlehntes Wissen mehr umfassen, als daS, wa­ schen früher bekannt war.

Wir verkennen eS nicht, daß Viele

noch nicht ganz von diesem Irrwege zurückgekehrt sind; man findet noch Menschen, und man wird wohl immer solche finden,

für welche daS Licht, daS von der Natur wiederstrahlt, nicht so

reizend ist, als das, welche- von einem Blatte Papier, nachdem

eS unter der Druckerpresse gelegen hat, zurückgeworfen wird.

6 Aber diese find e- auch nicht, denen wir die gegenwärtige Blüte der Naturwissenschaften zu verdanken haben.

ES ist jedoch nicht genug, daß man die Natur in ihren Wirkungen

sollen unsere Wahrnehmungen in der

beobachte;

That belehrend werden, dann verlangen

wir von ihnen die

höchst mögliche Genauigkeit. Diese Genauigkeit der Beobachtung ist eS vorzüglich, durch welche die neuere Natnrlehre bedeutende Um eine Erscheinung genau zu kennen,

Fortschritte gemacht hat.

müssen wir sie von allem Zufälligen

entkleiden,

wir

müssen

trachten, sie nach Willkühr darzustellen, und daraus entstehen

die sogenannten Versuche.

Um diese bewerkstelligen zu können, hat man verschiedene Werkzeuge (Apparate) erdacht.

Durch diese Werkzeuge hat die

Wissenschaft Fortschritte gemacht, wovon die Alten, welche dieser

Hülfsmittel entbehrten,

sich

keine Vorstellung bilden konnten.

Gehen wir nur die Reihe der physikalischen Werkzeuge durch, dann stehen wir, bei einer geschichtlichen Betrachtung, erstaunt

über den neuen Ursprung von fast Allem.

Welchen Einfluß der

Druck deS Dunstkreises auf den Zustand der Körper auSübt, kann

man

aus

der Wahrnehmung

nicht

ableiten,

eS wäre

denn, daß man die Körper auch so viel als möglich von diesem Drucke befreien könnte; und erst in der Mitte deS siebzehnten

Jahrhunderts verfertigte Otto von Guerike die ersten Luft»

pumpen. —

Die Wahrnehmung lehrte zwar, daß die Körper

durch Wärme ausgedehnt werden; aber wie konnte diese Aus­

dehnung der Maaßstab

des Wärmegrades

werden

ohne die

Erfindung des Thermometers, welche erst zu Ende deS sechs­ zehnten Jahrhunderts staltfand, — ja selbst ohne

Werkzeug,

durch

die

daß dieses

gleichmäßige Eintheilung eines zwischen

zwei festen Punkten liegenden Raumes, allgemein vergleichbar geworden wäre? — eine Verbesserung, die nicht weiter al- zum

7 Beginne des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, und dir Diot glaubt dem Newton zuschreiben zu müssen.

Welchen Begriff

konnte man sich von dem wirklichen Gewebe der Pflanzen und

Thiere bilden; welche Entdeckungen machen in der Geschichte ihres Entstehens und Entwickelns, wenn nicht der Beschränktheit

unseres Gesichtes durch das Mikroskop abgeholfen würde, eben­ falls eine Erfindung der späteren Zeit, die aber selbst noch in

unseren Tagen fortwährend Verbesserungen erleidet; so daß sich die Grenzen

deö

Weltalls

nach

der Richtung

des

kleinsten

Raumes hin stets weiter und weiter vor dem Beobachter aus­ breiten? — Daß, um nichts Anderes zu erwähnen, geriebener Bernstein kleine Körperchen an

sich zieht, schien eine einzeln

stehende Wahrnehmung, die jedoch auf unsere physikalischen und chemischen Wissenschaften sicherlich ohne Einfluß geblieben sein

würde, hätte man nicht auf Werkzeuge gedacht, um diese Er­

scheinungen zu verstärken; und doch datirt sich die Einführung der sogenannten Elektrisirmaschinen als mechanisches Hülfsmittel

zur Physik erst von der Mitte deö vorigen Jahrhunderts.

Von chemischen Werkzeugen brauche ich nicht zu sprechen; denn daß diese Wissenschaft erst zu Ende des vorigen Jahr­

hunderts in ihren Grundlagen verbessert und wie von Neuem geschaffen ist, wissen Sie Alle. Wir

sehen

also

die

gegenwärtige Zustand der feit zu danken hat.

Ursachen

aufgedeckt,

welchen

der

Naturlehre seine hohe Vortrefflich,

Ist Beobachtung

die

einzig wahre und

sichere Grundlage unseres Wissens auf dem weit ausgedehnten Gebiete der Natur, dann wird sich diese Wissenschaft nothwendig in demselben Maaße erweitern müssen, als die Beobachtungen

genauer und mannigfaltiger werden. Die Anwendung der Werk­

zeuge eröffnet eine unerschöpfliche Quelle deö Wissens.

Man

macht sich von ihnen einen verkehrten Begriff, wenn man meint,

8 daß ihr Ratzen sich auf die Dersinnlichung

einzelner Natur,

erscheinungen beschränke, oder auf daS sogenannte Erperimente, machen, daS zur Derannehmlichung der physikalischen und chemi­

schen

Vorlesungen dienen

muß.

Wir verkennen

daß

nicht,

eS solche Werkzeuge giebt, und eS sei fern von unS, sie alle für unnütz und tändelhaft zu halten; aber zur Erweiterung deS

Wissens bei schon geübten Naturforschern dienen sie nicht, und sie zeigen und überdies oft die Erscheinungen mit einer, von

ihrer Einrichtung

abhängenden Unvollkommenheit,

welche

bei

jugendlichen Anfängern manchmal Mißtrauen in die Wahrheit,

zu deren Bestätigung sie dienen sollen, erwecken kann.

Man

kann eS sogar als ein Kennzeichen der heutigen Naturlehre be­ trachten, daß sie an dergleichen Werkzeugen ärmer ist, als die

deö vorigen Jahrhunderts,

und daß Modelle von Natur,

erscheinungen (erlauben Sie mir diesen Ausdruck!) mehr und

mehr zur Geschichte der Wissenschaft zu gehören beginnen. Wir aber meinen vorzüglich

die Werkzeuge der Beobachtung und

Prüfung, welche unS der Wirkung der Natur unter verschiedenen Umständen nachgehen lehren, und täglich zu neuen Entdeckungen

Anlaß geben, von welchen die ersten Erfinder dieser Werkzeuge ost keine Ahnung gehabt haben. —

Wo findet sich nur ein

Theil in dem weit ausgedehnten Gebiete der reinen und an­ gewandten Naturwissenschaft, wo man von dem Barometer und

Thermometer nicht

den vielseitigsten

begleiten den Naturforscher, dienen ihm,

wenige,

würde

in

Gebrauch machte?

der die Berggipfel besteigt, und

um deren Höhe zu bestimmen; einer Glasröhre

der Forscher

Sie

und,

ohne daS

eingeschlossene Quecksilber,

waS

von dem Leben in Betreff der eigenen

Wärme der Thiere, waS der Forscher von der Zusammensetzung unserer Erde, von der Wärme unter ihrer Oberfläche, von der

mittleren Wärme der verschiedenen Zonen wissen?

Hat nicht

s eine glückliche und sinnreiche Anwendung diese- Apparate- Anlaß gegeben zu einer höchst einfachen Weise, die größere oder ge,

ringere Menge de- WafferdampfeS zu bestimmen, womit der Dunstkreis unserer

geschwängert

ist? —

Naturwissenschaften

einfachen Werkzeugen,

und

Ganze

Hauptabtheilungen

verdanken ihren

Ursprung

diesen

au- den Sälen der naturwissen­

schaftlichen Schulen sind sie übergesiedelt in die zahlreichen Werk­

stätten von hundert verschiedenen Künstlern.

AIS das Zweite nannten wir die verbesserte Lehr weise, und wir denken hierbei vor Allem an die einfacheren Erklä­ rungen, die in den Naturwissenschaften mehr und mehr Feld

gewinnen.

Einfachheit, das war das treffliche Motto des un­

sterblichen Boerhaave, Wahrheit.

Einfachheit

ist das Kennzeichen der

Und wie das Wahre eigentlich allein ist, während

daS Falsche nur scheint, so ist auch jede unwahre Erklärung

nur Wahn und eine Scheingestalt, die bei hellerem Lickte ver­

schwindet.

Ich brauche auS der Geschichte der Scheidekunde nur

daS Phlogiston der Stahlianer zu nennen, von welchem man glaubte, daß eS bei der Verbrennung der Körper und der

sogenannten Verkalkung der Metalle entweiche, so daß dieser

Körper die sonderbare Eigenschaft besitzen müßte, die Substanzen, in denen er sich befindet, leichter zu machen, als sie ohne ihn

Doch der Irrthum, insofern er gelehrter Irr­

sein würden?

thum ist, hat noch ein wesentlichere- Übel im Gefolge al- bloße

Unkenntniß.

Er erstickt die Forschung, und wiegt den Geist in

Schlaf mit einer scheinbaren Befriedigung seine- Streben- nach

tieferer Einsicht.

Wo man glaubt, schon gefunden zu haben,

sucht man nicht; und ist eS Diesem nicht zuzuschreihen, daß die

ungereimtesten Begriffe Jahrhunderte lang

von Geschlecht zu

Geschlecht sind fortgepflanzt worden, al- wäre eS unS zur War,

nung, nicht Alles für lautere- Gold zu halten, wa- durch da-

10 Ansehen der Jahrhunderte alS solche-gestempelt worden? Wenn Shakespeare seinem Hamlet die Worte in den Mund legt: „ES giebt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als eure

Schulweisheit sich träumen läßt, Horatio," ach! dann dürfen

wir wohl seufzend hinzufügen, daß es in unserer Schulweisheit

auch viele Dinge giebt, wovon weder auf Erden noch im Himmel etwas zu finden ist.

Da gleichwohl, selbst in der fernsten Zu­

kunft, für den beschränkten Menschen die Kenntniß der Natur

wohl immer Stückwerk bleiben wird, so müssen wir uns darüber

beruhigen, daß unserer Philosophie viele Dinge unbekannt bleiben, die im Himmel und auf Erden bestehen, wenn sie sich auch nur

alles Dessen entäußern könnte, was im Himmel und auf Erden

nicht besteht. Während eS tausend Wege giebt, die zum Irrthume führen,

so giebt eS nur einen, der zur Wahrheit leitet.

Daher die

vielen Erklärungen der Alten, die bei dem Lichte späterer Tage

als Irrthümer erkannt sind.

Brauche ich hier an die Behauptung

des Aristoteles zu erinnern, daß es ebensowohl leichte Körper gebe, wie schwere, weil einige in die Höhe steigen?

Wenn es

Nereiden gäbe und sie eine Naturlehre nach diesem Grund­ sätze bearbeiteten, wie Torricelli

eS

sich vorstellte, dann

würden sie viele, welche wir zu den schweren Körpern zählen, leichte nennen, z. B. das Wachs, das Holz, daö Oel.

Der

Name Torricelli'S

erinnert

mich hier an den

Abscheu vor dem Leeren, wodurch die Alten sich die Wir­

kung der Säugpumpen und Heber erklärten, daß nämlich das

Wasser, obgleich sonst nicht geneigt, in die Höhe zu steigen, lieber aufsteige, als

einen leeren Raum über sich zu lassen.

Man hatte einmal in

einem Garten zu Florenz eine sehr

lange Pumpe verfertigt; als man jedoch mit Erstaunen sah, daß daS Wasser nur bis zur Höhe von 32 Fuß zu bringen

11 fei, verfügte man sich zu Galiläi, der, fei eS nun scherzend, fei eS, um sich der Frager zu entschlagen, zur Antwort gab,

daß die Natur nur bis zur Höhe von 32 Fuß Abscheu vor

dem Leeren habe!

ES war wenigstens dem Geiste seines großen

Schülers Torricelli vorbehalten, um nachzuweifen, daß Queck­

silber in einer, an dem einen Ende verschlossenen und mit dem­

selben angefüllten Glasröhre, wenn man diese mit dem offenen, unteren Ende in eine Queckstlberschale stelle, nicht höher steige, als ungefähr 28 Zoll; so daß man zugeben muß, daß in einer

mit Quecksilber gefüllten Röhre der Abscheu vor dem Leeren nur bis zu einer Höhe von 28 Zoll gehe; wenn man nicht mit Torricelli, den Druck der Luft für die Ursache

lieber,

beider Erscheinungen halten will, so daß die Höhe einer Wasser-

und Quecksilbersäule dem eigenthümlichen Gewicht einer jeden entspricht, d. h. richtiger gesprochen, in einem umgekehrten Ver­

hältnisse zu demselben steht.

Pascal kam auf den glücklichen

Gedanken, diesen Streit durch den Versuch zu schlichten, ob, bei

Verkürzung

der

drückenden

Säule der

atmosphärischen

Luft

auch die Quecksilbersäule herabsinke; und Perrier bestieg mit

Torricelli'S Röhre den Puy de Dome, und sah auf dessen Gipfel wirklich daS Quecksilber um ungefähr 3 Zoll niedriger

Von dieser Zeit an gab eS keinen Abscheu vor dem

stehen.

Leeren mehr in den Systemen der Naturforscher, und Torri­

celli'S Werkzeug, daS schon früher erwähnte Barometer, wurde allgemein eingeführt, um die Veränderungen deS Druckes

der atmosphärischen Luft auf eine leichte Weise beobachten zu können.

In seinen geistvollen Gesprächen über die Vielheit der

Welten stellt Fontenelle sich vor, daß die alten Philosophen einer

heutigen Schauspielaufführung beiwohnten und

in

der

Opera zu Paris den Faston in die Höhe steigen fähen,

und daß sie die Schnüre, mit welchen er hinaufgezogen wird,

12 nicht wahrnehmen könnten, noch mit der Einrichtung hinter den

Coulissen bekannt wären.

verborgene Eigenschaft,

Faeton machen.

besteht auS

Der Eine würde sagen, eS ist eine die FaSton emporhebt.

gewissen

Zahlen,

die ihn

Der Andere,

emporsteigen

Wiederum ein Anderer, Faeton hat eine gewisse Liebe

für den obersten Theil der Schaubühne; er fühlt sich nicht be­

haglich, wenn er nicht dort ist.

Ein Vierter, Fäeton ist nicht

gemacht, um zu fliegen; aber er will doch lieber fliegen, als den obersten Theil der Bühne leer lassen, und tausend andere Hirngespinste mehr; und eS ist nur zu verwundern, daß die

hochgepriesenen Alten deshalb nicht seit lange ihren guten Na­

men verloren haben.

Endlich kommen DeScarteS und einige

andere spätere Forscher, und sagen, Faeton steigt empor, weil

er mit Stricken gezogen wird, und weil ein Gewicht, schwerer alS er, hinuntersinkt.

So glaubt man jetzt nicht mehr, daß ein

todter Körper sich bewege, eS sei denn, daß er durch einen anderen gezogen oder sortgestoßen werde; und Der, welcher die Natur sähe, so wie sie ist, würde alS daS Wahre sehen —

die Einrichtung deS Schauspiels hinter den Coulissen.

Glauben Sie nicht, daß durch diese einfache Erklärung das

. Schauspiel der Natur irgend etwas von seiner Schönheit oder Annehmlichkeit verloren habe.

ES

verhält sich so: Bei einer

Schauspielaufführung würde eS die Illusion, wie man eS nennt, zerstören, wenn man Alles sähe, wie eS bewerkstelligt

wird, und obgleich man weiß, daß eS keine Wunder sind, so schöpft man doch Vergnügen auS der Täuschung und überläßt

eS dem geschickten Maschinenmeister, über daS Räderwerk und die verborgene Anordnung nachzudenken. ist eS ganz anders.

sucht Wahrheit.

Aber in der Natur

Hier will man keine Täuschung;

man

Und wenn unS nun die sorgfältigste Forschung

zu einer Sparsamkeit der Mittel leitet, von welcher man keine

13 Vorstellung hatte, Wessen Bewunderung wird dann nicht höher

steigen, wenn er die vielen und erstaunend verschiedenen Wirkungen sieht, welche durch diese einfachen Kräfte und Grundursachen

zuwege gebracht werden. In der That, nicht die Menge

einzelner Sachen allein

ist eS, ja diese sind es nicht einmal hauptsächlich, waS den

wahren Reichthum der Wissenschaften auSmacht.

Unser denken­

der Geist fragt nach Einheit; und eö ist keineswegs ein Kenn­ zeichen der Beschränktheit des Menschen, sondern vielmehr seiner vortrefflichen Anlage, daß er durch Entdeckung von Beziehungen

und durch vielfache Vergleichungen nach allgemeinen Begriffen

sucht.

Ist es dann ein Wunder, daß Erscheinungen, die im

Beginne

als

sammenhang

einzelne

mit

Eigenthümlichkeiten,

ohne

häufig

Zu­

allen anderen Naturerscheinungen auftreten,

oft der Saamen sind der

allerwichtigsten

und

auf die

schiedensten Ansichten Einfluß übenden Wahrheiten?

ver­

Wir haben

bereits erwähnt, daß geriebener Bernstein kleine, leichte Körper­ chen anzieht.

Jahrhunderte mußten verlaufen,

ehe man von

derselben Kraft, die diese Erscheinung verursachte, solche erstaun,

lichen Wirkungen sah, daß man sie mit dem Blitze verglich, bis Franklin'S kühne Hand den Blitzstrahl selbst aus den Wolken

herniederzog, um diese Uebereinstimmung zu beweisen.

Dieselbe

Elektricität war eS, welche wiederum als eine fremde, für sich selbst bestehende Erscheinung bei thierischen Körpern thätig zu

sein schien, bis Galvani seine ersten Entdeckungen machte; aber Volta'S

Scharfsinn

sonderte

das Zufällige

von dem

Wesentlichen ab, und lehrte, daß die Wirkung allein von der Berührung zweier ungleichartigen Metalle oder Stoffe abhange,

daß der Muskel dabei nur als Leiter müsse angesehen werden, und daß der Galvanismus nichts als Elektricität fei; di­

es ihm gelang, die berühmte Säule zu erfinden, wodurch diese

14 elektrischen Erscheinungen verstärkt «erden, und wodurch, gleich­

wie durch die in der Mitte deS vorigen Jahrhundert- erfundene

Leidner Flasche, die heftt'gstm Schläge hervorgebracht werden können, mit dem Unterschiede allein, daß die Schläge anhaltend sind, und nicht, wie die der Leidner Flasche, plötzlich vorüber,

gehen.

Mit der Erfindung der Voltaschen Säule eröffnete

das neunzehnte Jahrhundert die schöne Reihe der Entdeckungen, welche biö auf unsere Tage fortdauern.

Die Wirkungen dieser

Säule in der Scheidekunst gaben zu den

son'- Anlaß. Genie

Versuchen Nichol­

Sie bewiesen Davy, was schon Lavoisier'S

gemuthmaßt

daß

hatte,

Sauerstoff verbundene Metalle

Laugensalze seien.

und

Erden

mit

Oersted entdeckte nun

zuerst den merkwürdigen Einfluß, welcher durch einen leitenden

und die beiden Pole verbindenden Draht auf die Magnetnadel ausgeübt wird.

scheinungen

Eine Reihe von neuen elektromagnetischen Er­

wurde

bekannt;

eine

vorübergehende

magnetische

Kraft wurde wie durch einen Zauberschlag erweckt, so daß ein

Stück weiches Eisen, welches sonst durchaus kein Anziehungs­

vermögen auöübt, nun plötzlich erstaunliche Gewichte trägt; und in

unseren

Tagen

lehrte

Faraday,

umgekehrt, durch den

Magnet selbst elektrische Funken und andere Erscheinungen her­ vorbringen.

Wer steht nicht erstaunt,

wenn er dieser Reihe

von Entdeckungen nachgeht, die ich Ihnen in flüchtigen Zügen dargestellt habe? — Und nun kehren wir in unseren Gedanken

zurück zum Bernstein, dessen Anziehungsvermögen Thales, oder

wer eö denn auch sein mag, zuerst beobachtete, und wir sehen

hier das erste Glied einer unabsehbaren Kette. Lehrt dieses Beispiel uns überzeugend den gegenwärtigen

Fortschritt der Naturwissenschaften, so thut eS solches vorzüglich durch die Verbindung, welche spätere Entdeckungen in frühere,

unzusammenhängende Thatsachen gebracht

haben.

Und

diese

15 zwei Eigenschaften sind eS vornehmlich — einfachere Erklärungen der Erscheinungen und tiefere Einsicht in den Zusammenhang der verschiedenen Wirkungen der Natur —, wodurch sich die

Naturwissenschaften jetzt mehr als je auszeichnen.

Inzwischen

ist es nicht zu verkennen, daß man sich beim Zurückführen ver-

schiedener Erscheinungen

auf eine und dieselbe

Ursache vor

Übereilung hüten muß, und daß selbst die späteren Zeiten unS von dieser Übereilung warnende Beispiele liefern.

Wenn ge­

wichtige Entdeckungen den Zustand einer Wissenschaft gleichsam

verwandeln, dann entsteht ein neues Licht, welches ost so hell

erscheint,

als gäbe es nun keine Finsterniß mehr.

Entdeckungen lassen häufig Zweifel entstehen.

Licht etwa von seiner Helligkeit verloren?

Spätere

Hat das vorige

Insofern es wirklich

Licht der Wahrheit war, kann eS nicht verloren haben; aber

eS ist, als ob die Augen, allmählig an dasselbe gewöhnt, nun, mit Hülfe von diesem Lichte selbst, stetö schärfer und deutlicher sähen.

Ich brauche Denen, die mit der Geschichte der Wissen­

schaften bekannt sind, nur Lavoisier'S Entdeckung, die außer­ gewöhnliche

Klarheit

des

Systems

Gründer

der

der

phlogistischen Scheidekunde, in Erinnerung zu bringen.

eS nicht, als ob Alles entdeckt wäre?

anti­ War

Die Zusammensetzung

aller Säuren, die wahre Weise der Verbrennung, das Athmen, die thierische Wärme und was Alles mehr!

Oder wollen wir

ein Beispiel, das in unsere Tage fällt: schien eS nicht, als ob die Wirkung der Volta'schen Säule in der Scheidekunst über­ zeugend bewiese, daß chemische Verwandtschaft eins wäre mit

Elektricität, und war man nicht in einen neuen Zeitabschnitt, in den des Elektrochemismus, eingetreten, bis Faraday auch

hier Zweifel äußerte, die andeuteten, daß man das Ziel noch nicht erreicht habe.

16 Lassen wir uns durch diesen letzteren Gedanken, daß näm­

lich da- Ziel noch nicht

der Blüte

erreicht sei, zu

keinem Zweifel an

und hohen Vortrefflichkeit der Naturwissenschaften

in unseren Tagen hinreißen.

Vortrefflich nennen wir diesen

Zustand, m. H., aber dieS nur in Vergleichung mit früheren

Zeiten; denn auf dem ausgedehnten Gebiete der Naturwissen­

schaften sind wir nur erst einige Schritte vorwärts gegangen.

Entmuthigend mag dieser Gedanke für die Eitelkeit und Trägheit sein, die sich gerne im Besitz der Weisheit wähnen möchte; ermuthsgend ist er für den wahren Forscher, der, überzeugt von der Unvollkommenheit alles menschlichen Wissens, glaubt, daß

die höchste Bestimmung des Menschen hier aus Erden in Übung der Kräfte und Vermögen deS vernünftigen und unsterblichen Geistes gelegen sei.

Aber, sagt man vielleicht, die genaue Kenntniß ist nur für

den Gelehrten von Beruf; auf daS gemeine Leben und auf die allgemeine Wohlfahrt hat sie keinen Einfluß.

Daö Zeugniß

der Erfahrung würde diese Ansicht genugsam widerlegen, wäre ihre Unbegründetheit auch

Sache selbst

nicht

überzeugend

entlehnte Gründe zu beweisen.

durch

auö

der

Wenn doch die

Naturwissenschaften die Grundlage auSmachen von allen unseren

Künsten, wobei wir die Gegenstände der Natur unseren Be­

dürfnissen entsprechend anwenden, ihre Kräfte zu unseren Ar­ beiten benutzen — und eS ist überflüssig,

nutzlose Beweise für

eine unzweifelhafte Sache anzuführen —, wenn dann die Natur­ kunde auf Gewerbthätigkeit und Wohlfahrt im Allgemeinen Ein,

fluß hat, waS dünkt Ihnen, m. H., wird dieser Einfluß nicht um so umfassender, um so wohlthätiger sein, je vollkommener die Wissenschaft selbst ist, von welcher er ausgeht?

Aber auch

daS Zeugniß der Erfahrung spricht hier laut. Wenn unsere Väter, die vor vierzig oder nur vor dreißig Jahren gestorben sind, auS

' 17 ihren Gräbern heraus

sehen könnten oder noch einmal diese

Erde beträten, so würden sie vor Staunen kaum Worte finden, wenn sie nicht nur auf unseren Strömen die zahlreichen Schiffe sähen, welche die Alten vielleicht beseelt nennen würden, weil sie durch innere Bewegung fortgetrieben werden; sondern wenn sie dieselben, durch den Athem des WasserdampfeS fortbewegten,

Kiele auch daö Meer durchpflügen sähen, und, von dem Einfluß

der Winde unabhängig, den einen Welttheil mit dem anderen näher verbinden; Fabriken

wenn

jetzt Dasjenige

sie diesen selben Dampf in verrichten sähen,

was

unseren

zuvor

durch

hundert Menschenhände mit großem Zeitverluste geschehen mußte; wenn sie

aber ich will jetzt nicht wiederholen, waS die

Meisten von Ihnen sich erinnern werden gehört zu haben, als

eines unserer Mitglieder, mit reicher Auswahl der Gegenstände und in lebendigen Zügen, den vortheilhaften Einfluß der Natur­ wissenschaften auf die Gewerbthätigkeit darstellte, die von ihnen in

ihrem Wesen verändert, verbessert und ausgedehnt wurde, und welche zugleich neue Quellen für den Volkssleiß geöffnet haben.*)

Aber nicht auf die Beförderung der Gewerbthätigkeit allein beschränkt sich der Einfluß der Naturwissenschaften; sie finden

eine ausgedehntere Anwendung auf Alles, was zur Verannehmlichung des Lebens, zur Beschirmung unserer Besitzungen gehört.

Ist es nöthig, nochmals von dem Nutzen der Ableiter zu sprechen, die doch keiner bloßen Vermuthung, daß der Blitz eine elektrische

Erscheinung sein könne, sondern der thatsächlichen Wahrnehmung

ihren Ursprung zu verdanken haben?

Fehlte eS etwa noch an

Beweisen für ihre Nützlichkeit, die Kirchthürme vieler Städte

unseres Vaterlandes würden alle Zweifel hiuwegräumen kön-

*) Vertrag über btn Vortheils,asten Einguß der Natiirwiffenschaftcn aus die Industrie; von A. H. van r er Boon Mescb. Leiden, 1834. 8vo.

18 nm, die Thürme, worin früher zu wiederholten Malen der Blitz einschlug und großen Schaden anrichtete, aber die nun seit lange

durch solche Ableiter geschützt sind.

Und auch an diesem wichti­

gen Werkzeuge wurden in letzterer Zeit bedeutende Verbesserungen angebracht: so z. B. die Beschützung deS untersten, unter dem Boden verborgenen

und

dem Blicke

entzogenen Theiles

des

Leiter-, durch das Einmauern in einen steinernen, mit Holzkohle gefüllten Kanal, wodurch verhindert wird, daß eben das Schutz­

mittel, aus welches man sich verließ,

werde. —

betrüglich und gefährlich

Die Galvanische Elektricität gab Davy ein Mittel

an die Hand, um das Kupfer der Schiffe gegen die Wirkung deS MeerwasserS zu schützen, indem er eS mit Zink, Zinn oder

Eisen in Verbindung brachte; und eben dieses Mittel benutzte er auch mit gutem Erfolge, um die eisernen Dampfkessel vor

Rost und gefährlicher Abnutzung zu bewahren.

Was kann in Nicderland etwas, das auf die Seefahrt Bezug hat, anders als ein allgemeines Interesse erwecken? Un­

erwähnt mag denn auch die Entdeckung Barlow'S nicht blei­ ben, nämlich vermittelst einer eisernen Platte die Abirrung des Kompasses, welche durch den Einfluß deS Schiffseisens verursacht

wird, auszuheben, deren großer Nutzen, vorzüglich bei Reisen nach dem Nordpol, allgemein anerkannt worden ist.

Schiffe kann das Eisen, waS seine Wirkung

In jedem

welches sich ans demselben befindet,

auf die Magnetnadel anbetrifft,

als

in

Einem Punkte vereinigt gedacht werden, so daß man, wenn

man daselbst eine eiserne Kugel von hinreichender Größe auf­ stellte, dieselbe Wirkung auf den Kompaß bemerken würde, wie

durch die vereinigten Kräfte ausgeübt wird.

des SchiffseisenS

auf denselben

Durch eine, hinter dem Kompasse angebrachte

eiserne Platte wird nun die Magnetnadel zweien Kräften von

entgegengesetzter Richtung bloßgestellt, welche man durch Per-

19 suche von gleicher Stärke machen, und so die Anziehung deS

Schiffseisens nach allen Richtungen des Schiffes genügend auf­ heben kann. —

Welche Bedürfnisse endlich find allgemeiner,

als die, sich gegen die Kälte zu schützen und sich zn nähren!

Aber welche Verpflichtungen ist dann nicht die Menschheit den

Wissenschaften schuldig, welche nnS an Allem zu sparen lehren,

welche durch die Einführung nahrhafterer Pflanzen in den Acker­ bau den Boden

gleichsam

erweitern! — den Wissenschaften,

welche die Luft zu reinigen lehren, so daß die Verheerungen deS Krieges, bei Anhäufung von Verwundeten und Leichen in

großen Städten, keine pestartigen Krankheiten mehr nach sich ziehen; die das unreine Wasser trinkbar und hell machen, und

es auf langen Seereisen vor Verderb

zu bewahren lehren;

welche endlich die für die Gesundheit schädlichen Fälschungen

kennen lehren, womit die Habsucht sich nicht entblödet, sogar die ersten Lebensbedürfnisse zu vergiften? —

Wessen Bedarf ist

größer und allgemeiner in verfeinerten Ländern, als der des Feuers; aber welche Mittel hat man nicht erdacht, um seine

Wirkung

mit Ersparung von Brennstoff zu vermehren;

und

wie nützlich ist nicht in unseren Tagen die Erwärmung großer

Gebäude durch heißes Wasser, sowohl durch Ersparung von

Unkosten,

als

auch durch

Verminderung

der FeuerSgefahr?

Hätte man diese Art der Erwärmung allgemeiner eingeführt,

dann würde wahrscheinlich das Englische Parlament sich nicht eines Versammlungssaales beraubt gesehen haben, in welchem

alte Erinnerungen Liebe zu alten, ehrwürdigen Einrichtungen erwecken oder erzeugen konnten.

Doch wir können unsere Aufgabe für erfüllt halten.

Bemerkung noch zum Schluß.

Eine

Die Wohlthaten, welche die

Naturwissenschaften der Menschheit erweisen, sind allgemein und

bleibend.

Nicht auf ein einzelnes Volk beschränkt, breiten sie 2*

20 sich anS über alle Völker, ohne etwas an Werth zu verlieren, und, welche menschlichen Einrichtungen auch verschwinden mögen, sie bleiben bestehen bis zu den spätesten Nachkommen.

Was

menschliche Thorheit und Verirrung auch niederreißen mag, was die Wuth rasender Völker auch zerstöre, diese gute Saat wird

niemals erstickt, sondern trägt immer reichlichere und herrlichere Früchte. In welch schönem Lichte erscheint und bei einer solchen

Überzeugung die Kenntniß der Natur; und die Namen Frank, lin, Lavoisier, Berthollct, Davy und so viele andere,

sind eS nicht die Namen von Wohlthätern der Menschheit? ES ist so, m. H., die Ausübung der Wissenschaften fordert nicht

alS erstes Gebot, daß man sich um nützliche Ergebnisse be,

kümmere; sie erheischt Wahrheitsliebe, und eS ist ihr um Be­

friedigung deS Wissensdurstes, nicht um Vortheil zu thun.

Aber

wir dürfen deshalb nicht glauben, weder, daß eine besondere

Ausübung der Wissenschaften aus reiner Wahrheitsliebe, wenn sie glücklichen Erfolg hat, jemals unfruchtbar für das mensch­

liche Glück sein könne; noch, daß eine ächt wissenschaftliche An­ wendung derselben auf nützliche Künste und Gewerbe jemals dem

wahren Gelehrten zur Unehre gereichen würde. Gewöhnlich jedoch

giebt die Wissenschaft nur den ersten Wink, und die Ausführung der Sache überläßt sie Anderen; sie knüpft wahrlich das all­ gemeine Band, daS Menschen an Menschen bindet, stets enger

und fester.

So hat man eS gesehen, daß Deutsche Gelehrte,

die vielleicht nie ein Seeschiff zu Gesichte bekamen, die Seefahrt­ kunde verbesserten, und dafür durch seefahrende Mächte belohnt

wurden. In einer wohlgeordneten Gesellschaft hat der Mensch, bei

unserem Zustand der Cultur, verschiedene Kreise der Wirksamkeit. ES scheint wohl, als hätte Jeder nur seinen Acker zu bestellen, und alS wären die Kreise außer Berührung, so lange nicht

11

eigener Dortheil sie weiter au-dehnt und ineinander greifen läßt; aber eS ist nur Schein. Ohne sein Wollen und Wissen befördert Jeder, der mit wahrem Eifer und mit gutem Verstand nur sein eigene- Glück befördern will, gleichzeitig da- von Anderen. Durch Eifer und nützliche Wirksamkeit eine- jeden Bürger- blüht der ganze Staat. Glücklich Derjenige, der dieserecht fühlt, und der nicht nur ohne seinen Willen und gegen seine Absicht etwa- allgemein Gute- stiftet, sondern vielmehr, mit verständiger Ueberlegung und weiser Wahl, Alle- thut, waS Menschenglück um ihn befördern kann! Glücklich die Gesellschaft, wo Kenntniß und Wissenschaft, durch vereinigte Bemühungen Aller, das Bild darbieten der wohlthätigen Sonne, und, so wie sie, nicht Licht allein, nicht Wärme allein, sondern Licht und Wärme zugleich verbreiten!

II.

Die Lutt. Eine populäre

Naturbetrachtung.

Jhr Mensch bedarf,

gleich allen lebenden Wesen auf Erden,

Pflanzen und Thieren, zu seiner Erhaltung fortwährend äußer­

licher Reiz-

und

Nahrungsmittel, ohne

Leben bald erlöschen würde.

deren

Einfluß

daS

Aber unter allen den äußerlichen

Einflüssen, oder erregenden und wiederherstellenden Mitteln zum Lebensunterhalte,

giebt eS eines,

dessen Entziehung

oft nur

wenige Augenblicke zu währen braucht, um den Tod zu ver­ ursachen.

Beständig nehmen wir diesen Stoff in unS auf, von

dem die Erhaltung unseres Lebens so abhängig ist, daß der

Athem und die Lebenskraft in vielen Sprachen durch ein und dasselbe oder durch ein fast gleiches Wort ausgedrückt werden.

Wie eine unsichtbare Freundin umgiebt unö dieser Stoff und begleitet unS überall auf unserer LebenSreise, und die Dank­

barkeit fordert,

bleibe.

daß sie für unS

keine

Sie errathen, daß ich von der

unbekannte Freundin Luft spreche, und ich

gedenke, Sie in dieser Stunde mit derselben in einigen flüch,

tigen Darstellungen zu unterhalten.

Ich will eS versuchen, eine

populäre Naturanschauung von der Lust zu geben. diesen Gegenstand vor seltneren und ausgesuchteren.

Ich wähle

Denn um

26 z D. ein Naturgemälde der Vulkane zu entwerfen, die eS mir nie vergönnt war mit eigenen Augen zu sehen, oder über die Umwälzungen unseres Planeten mit Ihnen zu sprechen, wobei

ich Kenntnisse vorauösetzen müßte, die in einem gemischten Kreise

von Zuhörern doch wohl nicht allgemein verbreitet sein möchten, um über diese und ähnliche Gegenstände zu sprechen, dazu konnte ich

mich

sellschaft,

nicht

deren

gemeinen,

Ich

entschließen. Sinnspruch

und indem

ist:

rede

hier vor

Zum

Nutzen

einer

deS

Ge­ All­

ich vor dieser Gesellschaft rede,

ist

mein Gegenstand, obgleich die Lust, sicher nicht auö der Luft

gegriffen*).

Hören Sie mich mit Nachsicht an,

wenn ich

manchmal nur bekannte Sachen anführen werde, oder wenn ich

hier und da, gegen meinen Willen und meine Absicht, vielleicht

etwas tiefer aus dem Felde der Wissenschaft fortgehen sollte, als eS für einen allgemein faßlichen Vortrag passend ist.

Der wie­

derholten freundlichen Aufforderung, auch einmal in Ihrer Mitte die Rednerbühne zu betreten, hab' ich willfahrt.

Wie auch der

Erfolg fein möge, ich hoffe, daß Sie meinem guten Willen

Ihre Anerkennung

nicht

versagen werden.

Wir nennen die Luft einen Stoff.

Hier muß ich sogleich

bemerken, daß wir sie nicht sehen, und so einer allgemein ver­

breiteten Ansicht widersprechen, sichtbar wären.

als ob stosfliche Sachen immer

Sie sind diese- eben so wenig, als das Sicht­

bare immer stofflich ist.

Ein Bild im Spiegel oder im klaren

Fluß ist sichtbar; aber eS ist kein Stoff; eö sind zurückgewor,

fene Lichtstrahlen, welche dieses Bild verursachen; und will man

*) Diese Abhandlung wurde im December 1842 in der Leid en scheu Abtheilung der erwähnten Gesellschaft und mit einigen Veränderungen im Januar 1843 in der Gesellschaft Diligentia zu S'Gravenhage Vorgelesen.

27 auch da- Licht selbst einen Stoff nennen, so ist doch da- Licht

al- sichtbar und sichtbar machende Ursache allein für das Auge vorhanden. — Gab' eS keine Augen und Sehnerven, die Er, zitterungen des feinen LichtstoffeS würden gleichwohl bestehen,

aber nicht als Licht; als solches bestehen sie allein für daS

Auge, welches durch sein eigenthümliches Wesen jene bestimmte Empfindung in unS erweckt, welche wir Sehen nennen.

Zu den allgemeinsten Eigenschaften des Stoffes gehört die

Ausfüllung

Widerstand gegen andere Stoffe

Raum einnehmen wollen.

der Luft.

und dadurch erzeugter

eines bestimmten Raumes

welche diesen

oder Körper,

Diesen Widerstand bemerken wir bei

Obwohl nun durch die große Beweglichkeit und Ver­

schiebbarkeit der kleinen Theilchen, aus welchen die Luft besteht, dieser Widerstand in den meisten Fällen für uns unbemerkbar

bleibt, so brauchen wir nur die Luft in einen bestimmten Raum einzuschließen, um unS davon zu überzeugen.

Eine mit Lust

wohlgefüllte Blase setzt der Hand, welche sie zusammenzudrücken

versucht, Widerstand entgegen, und wie sehr auch der von ihr ein­ genommene Raum verkleinert werden kann, so widersetzt sie sich doch einer gänzlichen Zusammenpressung mit um so stärkerem Wider­

stand, je mehr sie bereits gedrückt ist.

Ohne diesen Widerstand

der Luft würden die Vögel nicht fliegen können, was man auch ein

Schwimmen

in der

Luft

nennen

könnte,

so

wie

daS

Schwimmen der Fische ein Fliegen im Wasser ist. Eine andere allgemeine Eigenschaft deS Stoffes, die wir weniger

aus vorhergehenden Schlüssen

nehmung ableiten,

ist seine Schwere.

als

aus

der Wahr­

Unsere Erdkugel zieht

alle Körper in ihrer Nähe an, so wie alle Körper ebenfalls

die Erde anziehen.

Aller Stoff hat Anziehungskraft.

Aber da

die Masse, d. h. die Menge der Stofftheilchen, unserer Erdkugel, die Masse aller Körper auf der Erde weit übertrifft, so über-

28 windet auch die Anziehungskraft der Erde alle Anziehung, die

andere irdische Körper auf sie ausüben und zwingt dieselben,

sich ihr zu nähern.

Dadurch wird die Schwere verursacht.

Ein Körper drückt auf einen anderen, der denselben unterstützt, durch die Schwere.

Daß nun auch die Lust schwer ist, kann

auf verschiedene Weise dargethan werden.

Man hat zu diesem

Zwecke sich der Luftpumpe bedient, eines Werkzeuges, vermittelst

dessen man die Luft in

einem begrenzten Raume

dünnen, jedoch nicht ganz wegnehmen kann.

sehr

ver­

Wenn man eine

große Glaskugel, mit Lust gefüllt, wiegt, und dann die Luft in der Kugel durch jenes Werkzeug verdünnt, oder, wie man sagt,

auspumpt, so bemerkt man bei einer zweiten Wägung, daß die Kugel leichter geworden ist.

Doch Sie verlangen andere Be­

weise, da nicht Jeder diese Versuche wiederholen kann.

Ich

muß hier von einem der nützlichsten naturwissenschaftlichen Werk­ zeuge sprechen, das in vielen Häusern zu finden ist, und daS

Sie Alle kennen.

Ich meine das Barometer.

Die Alten

erklärten die Wirkungen der Säugpumpen und Heber aus einer Furcht oder einem Abscheu vor dem Leeren, so daß daS Wasser, sonst nicht geneigt, in die Höhe zu steigen, lieber emporsteige,

alS einen leeren Raum über sich zu lassen.

Der Zufall lehrte,

daß daS Wasser nur bis zur Höhe von 32 Fuß zu bringen sei, und man glaubte, daß der Abscheu der Natur vor einem

leeren Raume seine Grenzen habe.

hundert

zeigte

Torricelli,

daß

Erst im siebzehnten Jahr­

in

einer

an

dem

einen

Ende verschlossenen und mit Quecksilber angefüllten Glasröhre, dieses,

Ende in

nachdem

man

die

Röhre

mit dem

unteren

offenen

eine Quecksilberschale gestellt hat, nicht höher stehe,

als ungefähr 28 oder 29 Zoll, so daß man sagen muß, daß

in mit Quecksilber gefüllten Röhren der Abscheu vor dem Leeren nur bis zu 28 Zoll oder etwas darüber gehe; es sei denn,

29

daß man lieber mit Torricelli den Druck der Luft für die Ursache beider Erscheinungen halten will, so daß daS Gewicht

der Luftsäule, welche auf die Oberfläche der Quecksilberschale

drückt,

gleich ist dem Gewichte der Quecksilbersäule

28 Zoll.

von

Denn da daS Quecksilber eine ungefähr dreizehn

Mal größere eigenthümliche Schwere hat, als das Wasser, so

muß die Wassersäule, die sich mit der Luft in Gleichgewicht stellt, auch ungefähr dreizehn Mal höher feilt, als die Queck­ silbersäule in dem Barometer.

DieS also ist die Torricellia-

nische Röhre, von der wir sprachen, und die Benennung Ba­ rometer deutet ein Werkzeug

an,

durch

welches

Schwere bestimmt, einen Messer der Lustschwere.

man die

Noch erman­

gelte Torricelli'S Ansicht einer vollkommenen Bestätigung, bis endlich Pascal im Jahre

1647 durch den Versuch erwieS,

daß bei Verkürzung der drückenden auch die Quecksilbersäule

niederfalle.

Säule der Dunstkreislust Diesen Versuch

machte

Pascal auf einem Kirchthurme zu Paris; doch um ein ent­

scheidenderes Ergebniß zu erhalten,

schrieb er an Perrier,

der in der Auvergne, in der Nähe deS hohen Berges Puy-

de-Dome, wohnte:

„Wenn die Höhe deS Quecksilbers auf

„der Spitze des Bergcö geringer sein sollte, als am Fuße, wie

„ich", schrieb er, „anS vielen Gründen vermuthe, dann folgt

„daraus, daß das Gewicht und der Druck der Luft die einzigen „Ursachen der Erscheinung

sein

müssen und

keineswegs

der

„sogenannte Abscheu vor dem Leeren, da es doch augenschein„lich ist,

daß am Fuße des Berges mehr Lust daS Gleich­

gewicht zu halten ist, als auf der Spitze, und da wir doch „unmöglich sagen können, daß die Lust am Fuße des BergeS

„einen größeren Abscheu vor dem Leeren haben sollte, alS auf „seinem Gipfel."

Perrier bestieg mit Torricelli'S Röhre

30 den Puy-de-Dome, und sah auf dessen Gipfel daS Queck­

silber ungefähr 3 Zoll tiefer stehen, alö am Fuße deS BergeS.

Es giebt jedoch einen anderen Beweis für die Schwere der Lust, welchen ich nicht mit Stillschweigen übergehen darf.

Eben so, wie im Wasser alle Körper von ihrem Gewichte ver­

lieren, so muß auch ein Körper in der Dunstkreisluft etwas von seinem wahren Gewichte verlieren.

Ist ein Körper von

derselben eigenthümlichen Schwere, wie das Wasser, daS ist, wiegt ein gleiches oder eben so großes Volumen des Körpers

und des Wassers gleich viel, dann bleibt er überall int Wasser

im Gleichgewicht hängen; ist die eigenthümliche Schwere des eingetauchten Körpers geringer,

als die des Wassers,

steigt er in die Höhe und treibt auf der Oberfläche.

dann

AuS der

Schwere der Luft erklärt es sich auch, warum manche Körper in der Lust umhertreiben oder emporsteigen, während eS keinen anderen Grund giebt, warum sie verhindert werden, sich der anziehenden Erde zu nähern.

Aristoteles

meinte,

nicht nur schwere, sondern auch leichte Körper gäbe.

daß eS

Doch daß

der Rauch in der Luft in die Höhe steigt, beweist nicht, daß

der Rauch leicht ist, sondern daß die Lust schwer und schwerer alS der Rauch ist.

Der Rauch steigt aus derselben Ursache in

der Lust empor, auö welcher ein Stück Holz auf dem Wasser schwimmt.

Auf dem Wasser zu treiben oder zu fahren, sei eS nun

blos vermittelst ausgehöhlter Baumstämme, wie, nach der Sage, die ersten Erfinder der Schifffahrt, oder mit Hülfe von Flö­ ßen,

wie,

nach Plinius,

der König Erythroö auf dem

Rothen Meere, ist eine sehr alte Erfindung, und wir treffen

wohl kein Volk auf Erden an, wie niedrig die Stufe der Bil­ dung auch sei, auf welcher es steht, welches nicht im Besitze

von Kanoos oder Piroguen ist, sofern eS nur in der Nähe

31 der See oder großer, nicht durchwatbarer Ströme wohnt, und

sobald das Bedürfniß, dieser große Wecker menschlicher Thätig­ keit, seine Stimme hören läßt.

Aber in der Lust zu treiben

und zu fahren, wenn man dieses Wort von einer nicht wohl zu

leitenden Bewegung gebrauchen darf, ist hingegen eine sehr neue Erfindung.

Der Mensch hatte die Lust den Vögeln überlassen.

Die erstaunliche Höhe, zu welcher der Adler und der Geier,

zu welcher vor Allein der Condor sich erhebt, weckt auch bei

den Meisten mehr Bewunderung als Neid. mit den Hülfsmitteln,

Auch ist das Fliegen

welche die Natur dem Vogel gegeben,

für den Menschen nicht möglich.

Künstliche Flügel

würden

sehr unsicher sein und wohl kein besseres Loos erwarten lassen,

als welches dem Icarus

zu Theil wurde.

Nachdem

man

durch WasserstoffgaS, welches viel leichter ist, als die Dunst­ kreisluft, Seifenblasen hatte aufsteigcn lassen, verfertigte man

im Jahre 1785 zu Paris einen Ballon von Taffet mit Firniß überstrichen, der 12 Fuß im Durchmesser groß war und 25 Psv. wog; dieser Ballon wurde mit dem genannten Gase angcfüllt,

stieg unter dem Zujauchzen einer Schaar von 40,000 Menschen

in zwei Minuten über 2900 Fuß hoch,

verschwand

in den

Wolken und fiel 5 Meilen von Paris, in Folge eines RisseS

wieder zu Boden.

Solche mit WasserstoffgaS gefüllte Ballons

nannte man CharliörcS, nach Charles, einem Naturforscher,

der über die Verfertigung dieses Ballons die Aufsicht führte.

Die Gebrüder Montgolfier, Papiersabrikanten zu Annonais, hatten schon einige Monate früher in demselben Jahre Ballons,

vermittelst darunter brennenden Papieres und Strohes, aufsteigen lassen. Diese durch erwärmte Luft aufsteigenden Ballons nannte man Montgolfieres, und glaubte, daß sie durch ein eigen­

thümliches GaS emporstiegen, welches einige Schriftsteller das

Montgolfierische Gas nannten.

ES ist jedoch allein die erwärmte

32 und verdünnte, und also weniger schwer gewordene Luft, welche diese

Ballons aufsteigen macht, wie wir auch schon sagten.

Mit solch

einer Montgolfisre wurde im Oktober 1783, von Pilatre de Rozier der erste Versuch einer Lustreise unternommen, doch

ließ er hierbei den Ballon noch durch Stricke festhalten.

Früher

hatte man nur Thiere, z. B., zu Versailles, einen Widder, eine Ente und

einen Hahn, zusammen in einem Verschlage

eingrsperrt, mit einem Luftballon in die Höhe steigen lassen. —

Durch diese ersten Versuche kühner gemacht, unternahm der gedachte Pilatre de Rozier mit dem Marquis D'Arlan-

deS im November desselben Jahres

der Ballon festgehalten wurde.

eine Lustreise, ohne daß

Sie blieben 25 Minuten in

der Lust, trieben über die Seine, und kamen unbeschädigt in in einer Entfernung von 2500 Ruthen vom Aufsteigungsplatze

wieder auf den Boden. Maschine zum Fliegen,

Blanchard, der früher an einer

einem Luftschiffe,

ohne Erfolg zwölf

Jahre lang gearbeitet hatte, vertauschte nun seine fruchtlosen

Bemühungen mit der neuen Erfindung, stieg in Paris und

Rouen zu wiederholten Malen mit Ballons auf, reiste nach

England, wiederholte dort seine Versuche und wagte eS endlich mit dem Amerikaner JeffrieS, am 7. Januar 1785, den

Canal von Dover nach Calais zu überschiffen.

Das GaS

entwich plötzlich aus dem Ballon, so daß sie balv ihre 30 Pfv.

Ballast, dann Alles, was sie mitgenommen hatten und selbst einen Theil ihrer Kleider über Bord werfen mußten.

Nahe an der

Küste stieg jedoch der Ballon wieder, und die Lnftfahrer kamen

wohlbehalten im Wald von GuienneS an.

Blanchard er­

hielt für diese Luftreise von Ludwig XVI. 12,000 Franken und ein Jahrgeld von 1200 Franken.

Später zog dieser Lust­

reisende durch verschiedene Länder Europa's, um

Versuchen das Publikum zu ergötzen

mit seinen

und Geld zu erwerben.

33 Pilatre de Rozier und Romain, die ebenfalls den Über, gang über den Kanal wagen wollten, wurden durch ein Um­ schlagen deS WindeS, nachdem sie schon eine Zeitlang über dem Meere geschwebt hatten, wieder zum Lande zurückgetriebcn, und

fielen, wie man glaubt von einer Höhe von 1200 Fuß, bei SBoiilogne nieder, ganz zerfetzt und kaum einer menschlichen Eie hatten einen mit WafserstoffgaS ge­

Gestalt mehr ähnlich.

füllten Ballon mit einer Montgolfiöre verbunden, und wahr­ scheinlich durch das, was ihnen Sicherheit geben sollte, ihren

Tod verursacht.

Das

zwischen

Gleichgewicht

beiden

mußte

schwer zu erhalten sein, daS Feuer der Montgolsisre brauchte

nur den anderen Ballon zu erreichen oder dieser brauchte nur zu

bersten, und dadurch den anderen zum Sinken zu bringen; wie eS auch sei, die Maschine war verbrannt.

TieseS Unglück gab An­

laß zur Erfindung der Fallschirme (Parachuten), wodurch

Blanchard die Gefahren der Luftreifen verminderte.

Von anderen Luftreifen zu sprechen, würde unnöthig sein

und uns zu weit abführen.

Aber wozu dienen diese Luftballons?

Man sagt, daß diese Frage an Franklin gerichtet wurde, der

sich damals zu Paris befand, und daß der berühmte Mann Wozu dient daS neuge-

hierauf mit der Frage antwortete:

borne Kind?

Man muß jedoch in der That bekennen, daß das Kind bei der ersten Entwickelung mehr versprochen hat, und nun ziemlich unfähig und zurück zu bleiben scheint. französische

Armee

österreichische Lager

durch Officiere bei FleuruS

in

ES ist wahr, daß die einem

Luftballon daS

im Jahre 1794 auSkund,

schäften ließ; aber die Erwartung, daß man fortan ein CorpS

Aeronauten bei den Heeren finden würde,

als eine neue

Art von Ingenieurs, ist nicht bestätigt worden.

Diese Luft­

reifen sind ferner auch in wissenschaftlicher Absicht unternommen 3

34 worden, von welchen die der berühmten französischen Natur­

forscher Biot und Gay-Lussac am 24. August 1804, und die von dem letztgenannten allein unternommene, am 15. Sep­

tember desselben Jahres, besondere Erwähnung verdienen.

Beide

wurden mit großer Sicherheit vollführt und gaben über viele

Gegenstände wichtige Aufklärungen.

Bei der zuletzt genannten

Reise stieg Gay-Lassac biö zu der erstaunlichen Höhe von mehr als 21,000 Fuß, höher also, als der Gipfel des Chimborazo,

in eine Region, worin vor ihm noch keine menschliche Brust

geathmet hatte. Ein wesentliches Hinderniß im Gebrauche der aerostatischen

Fahrzeuge,

wie man die Luftballons nennt,

liegt in den bis

jetzt dazu benutzten Stoffen, Taffet z. B., welcher, vorzüglich wenn er feucht ist, die Dunstkreisluft durchläßt; und eö läßt sich kein wesentlicher Nutzen von denselben erwarten, wenn man

nicht einen Stoff ausfindig macht, der das Wafferstoffgas fort­

dauernd vor Entweichung schützt und zugleich dem veränderlichen Drucke der Luft Widerstand leisten kann.

forscher hat dazu Metall vorgeschlagen

Ein bekannter Natur­

und berechnet, daß

man dazu selbst Platina, das schwerste aller Metalle, an­ wenden könne, wenn nur der Ballon von einer bedeutenden Größe wäre*); denn je größer der Umfang deS Ballons ist,

desto schwerer kann der Stoff sein, den man anwendet, wie Jeder,

der einige Einsicht in diese Sachen hat, ohne Mühe begreifen wird.

Kommt Ihnen ein metallener Luftballon gar zu aben­

teuerlich vor, so brauche ich nur zu erinnern, daß man jetzt nicht allein von treibendem Holz, sondern sogar von dem schweren

*) Munckt, dessen Artikel Akrostat in der neuen Aussage von Gehler'« physikalischem Wörterbuch I. ls25. S. 230—258, von un« bei dieser kurzen geschichtlichen Darstellung vorzüglich verglichen ist.

35 Eisen schnellfahrende Schiffe verfertigt, und schon eine eiserne Trekschuite (Postzugschiff) — wer hätte so etwa- je von einer

Trekschuite erwartet? — regelmäßig zwischen zweien der Süd­

holländischen Städte fährt. Wir

kehren

wieder zu unserer Luft

zurück.

Wie weit

breitet sie sich aus, auf welchem Abstand von der Oberfläche

unserer Erdkugel hört sie auf zu sein? Wäre die Luft eine Flüs­ sigkeit, die überall dieselbe Dichte oder eigenthümliche Schwere

hätte, dann könnte man die Höhe leicht berechnen.

Hier, nahe

an der Oberfläche der Erbe verhält sich ihre Schwere zu der

von reinem, destillirtem Wasser ungefähr wie 1 zu 770, d. h. ein Volumen Wasser wiegt 770 Mal mehr, als ein gleiches Volumen Dunstkreislust.

Nun kennt man die Höhe der Wasser­

säule, welche der drückenden Lus» das Gleichgewicht hält, und Inan würde »ach dieser Berechnung eine 770 Mal höhere Luft­

säule haben, und für die Luft eine Höhe finden von ungefähr 25,000 Fuß, so daß sie sich nur wenige tausend Fuß über die Gipfel der höchsten Berge erheben würde.

Luftschichten dünner seien,

und so auf

Aber daß die höheren

größeren Höhen

eine

Luftschicht, die eben so viel wiegt als eine niedrere, viel höher

sein müsse, folgt auS der Elasticität der Luft.

In diesem Sinne

würde also die Luft unendlich sein, d. h., sie würde wohl fort­

während feiner und dünner werden, aber dennoch nicht aufhören zu bestehen.

Daß dem jedoch nicht so ist, daß die Lust auf

einer sicheren Höhe ihre Eigenschaft als Lust verliert, erhellt aus Beobachtungen, und kann auch schon von vornherein durch

Schlußfolgerung bewiesen werden.

Unsere Erde befindet sich in

einer kreisförmigen Umdrehung um ihre Achse und theilt diese Bewegung dem

Dunstkreise

mit.

Je weiter die Lufttheilchen

von dem Mittelpunkte entfernt sind, desto mehr nimmt die, den Mittelpunkt fliehende (Centrifugal-) Kraft zu, welche sie durch 3*

36 die Umwälzung erhalten.

ES kommt also ein Punkt, auf welchem

diese Kraft gleich wird der Schwerkraft und die Wirkung derselben aufhebt, und höher kann wenigstens die Luft sich nicht ausdehnen.

Die auf diese Weise berechnete Höhe der Luft ist wohl viel bedeutender, als die wahre Höhe der Luft nach anderen Gründen;

aber diese Berechnung beweist doch,

unbegrenzt im Raume ausdehnt. weiter hierauf einzugehen.

daß die Luft sich nicht

Mein Plan

erlaubt nicht,

Wir begnügen uns mit der Schluß­

summe, daß der Dunstkreis, als Dunstkreis der Erde, seine

Eigenschaften verliert auf einem Abstand von 10 geographischen Meilen, das heißt auf

deS Halbmessers der Erdkugel. Sie bildet eine hohle

Die Luft gehört daher der Erde an.

Kugel um unseren Erdball, wovon dieser umschlossen wird, gleich

einem Kerne in einer losen, leichten, wolligen Schale. sich mit der Erde um ihre Achse und

Sie dreht

mit der Erde läuft sie

um die Sonne, und, gerade wie die Erde, hat sie an den Polen eine plattgedrückte Form und ist höher am Aequator.

Bis hierher betrachteten wir nur einige allgemeine Eigen,

schäften der Luft, jetzt müssen wir ihre Zusammensetzung betrachten. Bei den Alten war sie eine der vier Haupt- oder Grundstoffe.

Die Neueren nennen

können geschieden

Grundstoffe solche,

oder auS

die nicht in andere

anderen zusammengesetzt

werden.

AlS solch einen Grundstoff nun kann man die Luft nicht be­

trachten.

Sie ist zusammengesetzt.

Wie man dieses gefunden

hat, und welche Eigenschaften ihre Bestandtheile haben, wollen

wir jetzt kurz erwägen. Die Veränderungen, welche die Körper bei der Verbrennung erleiden, die sogenannte Verkalkung oder Calcination der Metalle, schrieb der scharfsinnige Stahl, ein deutscher Scheidekundiger, der zu Anfänge des 18ten Jahrhunderts lebte, dem Entweichen

37

eines Elementes aus diesen Stoffen zu, dem er den Namen Phlogiston gab.

Die Stoffe, welche verbrannt, die Metalle,

welche verkalkt sind, haben einige Eigenschaften verloren; was schien natürlicher,

als daß sie auch ein Element oder einen

Bestandtheil verloren hätten! Priestley bemerkte, daß die Lust,

Verbrennungen

worin diese

oder Verkalkungen

stattgefunden

hatten, verändert war; daß sie zur Verbrennung und zum Athemholen untauglich geworden war, und nannte sie phlogistisirte Lust: Lust,

beladen mit dem Stoffe, welcher, nach Stahl,

bei der Verbrennung und Verkalkung aus den Körpern entweicht. Schon hatte Cavendish verschiedene Luftarten kennen gelehrt, d. h. elastische Flüssigkeiten, der Luft ähnlich, aber von der ge­ wöhnlichen Luft durch eigenthümliche Schwere und andere Eigen,

schäften verschieden; jetzt nennt man dieselben: Gase.

Die Ver-

brennung von Holzkohle erzeugt diejenige Luft, welche man

damals fire Luft nannte, und welche in der neueren Scheide­ lehre den Namen kohlensaures GaS führt.

Eine andere Luft

war ebenfalls schon bekannt, die entzündbare Luft, das WasserstoffgaS, dessen Anwendung wir bereits erwähnt haben, welche

Charles davon beim Füllen der Luftballons machte.

Alles

war also vorbereitet für einen neuen Zustand der Scheidekunde, für eine Wissenschaft, der man, weil sie sich hauptsächlich mit

den

Luftarten

oder

den Gasen

beschäftigte und darin den

Schlüssel für viele Geheimnisse fand, auch wohl den Namen

der

pneumatischen

Scheidekunde,

Worte, welches Anblasung,

von

einem

griechischen

Athem oder Luft bezeichnet, ge­

geben hat.

Nachdem Priestley im Jahre 1774 auch die Luftart gefunden hatte, welche den athembaren Stoff enthält, welche

die Flamme der verbrennenden Körper unterhält und welche er auS calcinirtem Quecksilber durch die Hitze der Sonnenstrahlen

38

mit einem Brennspiegel abgeschieden hatte, war eigentlich die Zusammensetzung der Luft entdeckt. Er nannte diese Luft dephlogistisirte Lust; auS dieser und auS der phlogistisirte«, die nach der Verbrennung entsteht oder, besser, nach der Ver­ brennung übrig bleibt, auS diesen zweien ist die DunstkreiSluft zusammengesetzt. Ich sage, nach der Verbrennung übrig bleibt. Niemand hat jemals das Phlogiston gesehen, und Priestley war nicht im Stande gewesen, es als Lust darzustellen. Roch mehr; Priestley hatte schon bemerkt, daß die phlogistisirte Lust, daS ist die Lust, welche nach der Verbrennung entsteht, einen geringeren Raum einnimmt; das Phlogiston müßte also die Lust, zu der eS hinzuträte, vermindern; und wie dies geschehe, wußte Priestley nicht, eS sei denn, daß die ver­ minderte Luft selbst spezifisch schwerer geworden wäre, waS er jedoch nicht wahrnehmen konnte. Wie nahe war er doch der Wahrheit! Die neue Scheidelehre, die penumatische, die anttphlogistische, die Scheidelehre von Lavoisier entstand. Diese lehrt un-, daß die sogenannte phlogistisirte Lust nicht vermehrt ist mit einem unbekannten, nie gesehenen und vollkommen hypothetischen Stoffe, einem Stoffe, der leichter machen würde, wo er hinzuträte. Die Luft im Gegentheil, worin ein Metall calcinirt oder worin etwas verbrannt ist, hat einen Bestandtheil verloren, und gerade derjenige, welchen sie verloren hat, ist von dem verbrannten Körper verbraucht und hat sich mit demselben verbunden. Dieser Bestandtheil ist die sogenannte dephlogistisirte Lust, welche man jetzt Sauerstoffluft nennt; und derjenige, welcher übrig bleibt, die phlogistisirte Luft, wird, als untauglich zum Athmen, jetzt Sttckstofflust genannt. Der große Lavoisier beschrieb 1774 die Verkalkung von Zinn in geschloffenen Gefäßen; er fand, daß Zinn, nachdem

39 an Gewicht zugenommen hatte, und diese

es calcinirt war,

Vermehrung deS Gewichtes entsprach vollkommen der Vermin­ derung an Gewicht, welche die Luft in den Retorten erlitten

hatte,

worin Lavvisier diese

Verkalkung hatte

stattfinden

Er erklärte diesen Vorgang so, daß er eine Zersetzung

lassen.

der Luft sei, dadurch verursacht, daß das Zinn den athembaren

Theil davon wegnahm und den für das Athmen untauglichen darin zurückließ.

Einfachheit und Wahrheit sehen wir auch hier ver­ Von diesem Zeitpunkte an machte die Scheidekunde Riesen­

eint !

schritte und setzte die ganze Welt in Erstaunen durch die Um­ wälzungen, welche sie in den Naturwissenschaften hervorbrachte,

und welche nur die Unkunde verkennen und die größte Unwissen­ heit verachten kann.

Die Eigenschaften jener zwei Haupttheile deS Dunstkreises

können wir nur in einigen Zügen darstcllen.

Der eine Be­

standtheil der Luft, das Stickstoffgas, hat fast nur verneinende

Eigenschaften: es unterhält die Flamme und das Athmen nicht, es macht den brennbaren Stoff der Salpetersäure auS, und

eine seiner wichtigsten Verbindungen ist die mit dem Waffer-

stoffgas, womit es AmmoniakgaS bildet. —

Der andere Be­

standtheil, die Sauerstofflust, ist eine Gasart, in welcher die Verbrennung mit ungemeiner Lebendigkeit und Helle der Flamme

geschieht.

Während die Thiere in anderen GaSarten sterben,

leben sie in einem verschlossenen, mit dieser Luft gefüllten Raume länger, als in einem gleichen,

kreiSluft gefüllt ist.

der mit gewöhnlicher Dunst-

Man wähnte diese Lust ein Mittel zur Er­

höhung der Lebensthätigkeit, vielleicht zur Lebensverlängerung, oder doch heiten.

ein

sicheres Mittel gegen die meisten Brustkrank­

Diese Hoffnung wurde nicht verwirklicht.

Sauerstoffgas

ist

nichts destoweniger

eine

Aber daS

der glänzendsten

40 Entdeckungen des achtzehnten Jahrhunderts geblieben.

Durch

dasselbe geschieht die Verbrennung, die Verkalkung der Metalle; eS ist der Bestandtheil der meisten Säuren; es ist einer der

zwei Bestandtheile des Wassers.

Cavendish nämlich wie-

im Jahre 1784 nach, daß Wasser aus der Verbrennung von Wasserstoffgaö in Sauerstoffgas vermittelst des elektrischen Funken-

entstehe, und daß daö Gewicht des Wassers, welches man er­ halte, gleich sei dem Gewichte der zwei zur Verbrennung ver­

So war die Zusammensetzung deS WafferS

wendeten Gase.

gefunden, bevor man eS hatte zerlegen können.

Man kam jedoch

bald dahin, während der große Laplace sogleich bemerkte, daß,

wenn diese Gase zusammen Wasser bildeten, so müßten sie

auch auS dem Wasser dargestellt werden können.

ferner die

wichtigste

Rolle

Die Sauer­

beim Athmen der

stofflust

spielt

Thiere.

Die Pflanzen wachsen und entwickeln sich nur, während

sie fortdauernd

scheiden.

Sauerstoffgas aufnehmen, verbinden und ab­

„Mit einem Wort, eS giebt kaum eine Erscheinung

in der Natur- und Scheidekunde, in der thierischen und vegeta­ bilischen Welt, welche ohne den Sauerstoff vollkommen erklärt

werden kann."*) Diese zwei Bestandtheile (Stickstoff und Sauerstoff) sind die Hauptstoffe, aus welchen unsere

Dunstkreisluft zusammen­

gesetzt ist, und wozu noch eine kleine Menge Kohlensäure kömmt, nebst Wasserdampf in verschiedener Menge.

DaS Verhältniß

hingegen der zwei Hauptbestandtheile, der Sauerstoff- und Stick­

stofflust, ist beständig.

Man hat Luft zerlegt auS den höchsten

Gegenden und aus Thälern, unter dem Gleicher und an den Polen, und stets dasselbe Verhältniß gefunden.

•) Euvier, Eloge de Priestley.

Nach dem Um-

41 fange des Volumens enthalten 100 Theile Dunstkreisluft 79

Theile Stickstoffgas und 21 Theile Sauerstoffgas. Wie bleibt diese beständige Mischung erhalten? Priestley

glaubte die Ursache in den Pflanzen zu finden.

Wachsende,

grüne Pflanzen hauchen über Tag und vorzüglich beim Sonnen­

schein, SauerstoffgaS aus und zersetzen daS kohlensaure GaS. Ich brauche nicht zu sagen, wie schön diese Verbindung sein

Die Thiere entnehmen durch ihr Athmen dem Dunst­

würde.

kreise Sauerstoffluft

athmen kohlensaure Luft aus; die

und

Pflanzen dagegen zersetzen daS kohlensaure GaS und geben an

dessen Stelle klärung,

reine Sauerstoffluft.

so einfach

sie

Inzwischen hat diese Er­

auch scheinen mag, ihre Schwierig­

keiten, und da der erste Chemiker unseres Jahrhunderts sie ver­ wirft,

so dürfen wir sie nicht ohne Behutsamkeit annehmen.

Wir durchschauen in vielen anderen Fällen die Mittel nicht, wodurch das Gleichgewicht in der Natur erhalten wird, aber

die Instandhaltung

des

Ganzen, die Beständigkeit in allem

Wechsel, daS Nothwendige bei aller scheinbaren Zufälligkeit der Erscheinungen,

muß unS

mit ehrerbietiger Bewunderung für

den Urheber des Weltalls erfüllen.

Wenn jedoch die Sauerstoffluft allein zum Athmen und zur Verbrennung dient und die Stickstoffluft nur eine Beimengung ist von größtentheils verneinenden Eigenschaften, würde dann eine

Dunstkreisluft,

die

nichts als

SauerstoffgaS

enthielte,

nicht vollkommener sein, als eine, die zum größten Theile aus

einem zum Athmen untauglichen Bestandtheile besteht? — Ein Dunstkreis, der allein auS SauerstoffgaS bestände, würde eine

ganz andere Einrichtung der Natur voraussetzen; denn in diesem Falle würden die Thiere, bei ihrer jetzigen Organisation, schnell

durch

übermäßige Reizung

sterben, und der geringste Unfall

mit Feuer würde einen Brand verursachen, bei welchem gar

49 kein Löschen

würde.

möglich wäre

und der ganze Länder verwüsten

Welche Verwüstungen jetzt schon das Feuer, wenn eS

einmal seine Zügel abgeworfen hat, in unserer nur zum Theile die

begünstigenden

Verbrennung

diese- Jahr

Luft verursachen

entsetzlichen Beispielen

mit

kann, hat

bewiesen*).

Nein!

Eö ist die größte Weisheit und Güte, die Alles geordnet hat, und je tiefer wir in die Untersuchung der Natur eingehen, desto

Heller umstrahlt unS das Licht, in welchem fich die Weisheit

und Güte offenbaren. Das Athmen der Thiere, des Menschen sowohl alS des kleinsten Insektes, besteht in einer fortwährenden Veränderung

Die Sauerstoffluft wird auS dem Dunst­

gewisser Gasarten. kreis

ausgenommen und verbindet sich

kohlensaure Luft

mit Wafferdampf wird

mit dem Blute,

und

auSgeathmet.

Das

Blut, welches durch den Umlauf seine nährenden und erregen­ den Eigenschaften verloren hat und dunkelfarbig geworden ist,

wird nun wieder hochroth und aufS Neue erregt, verbessert und mit neuem Leben wie beseelt.

So kommen wir zurück zu Dem, waS wir im Anfänge

dieser Vorlesung bemerkten. Umhüllung

Ohne Luft, die unsichtbare, leichte

unseres Planeten,

Erden möglich.

ist kein organisches Leben auf

Das Bedürfniß des AthmenS ist jedoch nicht

bei allen Thieren gleich groß.

Warmblütige Thiere, vorzüglich

Vögel, sterben unter der Luftpumpe schon binnen einer Minute; kriechende Thiere,

Eidechsen, Schlangen, Schildkröten, können

länger leben ohne zu athmen.

Auch die Menge der Kohlen­

säure, welche durch das Athmen erzeugt wird, ist nicht bei allen

gleich groß.

Nach einer mittleren Berechnung athmet ein aus.

*) Ich deutete hier vorzüglich auf den bekannten Brand von Ham­

burg, im Mai 1842.

43 gewachsener Mensch in 24 Stunden 27,000 Kubikzoll kohlen,

saures GaS aus.

Hieraus kann man ungefähr berechnen, wie

bald ein enger Raum, wozu die äußere Luft keinen oder keinen hinreichend freien Zugang hat, durch das Athmen verdorben

werden muß.

In einem Saale, in welchem viele Menschen

vereinigt sind, fühlt man eine drückende Beklommenheit beim Athmen, während auch die brennenden Lichter mehr und mehr einen trüben, matten Glanz verbreiten.

wird für den Menschen,

DaS kohlensaure GaS

wenn eS in zu großer Menge im

Dunstkreise aufgehäuft ist, tödtlich; daher die Ungesundheit von

dergleichen Vereinigungen, wo kein freier Luststrom dieses GaS

vertreibt.

Ebenso ist auch die Luft tödtlich, die aus einigen

Grotten und unterirdischen Höhlen auSströmt, und die größten-

theilS auS kohlensaurem GaS besteht.

Bis hierher betrachten wir die Luft allein in ihren Eigen, schäften und ihrer Zusammensetzung, ohne auf ihre Bewegungen

Rücksicht zu nehmen.

Jede Ursache, die daS Gleichgewicht der

Luft stört, muß Strömungen im Dunstkreise erzeugen; zu diesen Ursachen gehört die ungleiche Erwärmung, und unter die Er­

scheinungen, die auf daS Entstehen der veränderlichen Winde Einfluß haben, gehört sicherlich auch besonders die plötzlich aus

dem Dampfzustände in Regentropfen übergehende, in der Luft

anwesende Feuchtigkeit.

Aber eine

Betrachtung der Winde

würde unS zu weit ableiten und könnte den Stoff zu einer besonderen Vorlesung

jedoch nicht

liefern.

unerwähnt bleiben.

Eine allgemeine Ursache darf

Die Luft unter dem Glei­

cher und zwischen den Wendekreisen ist stets sehr warm, wäh­

rend bleibt.

sie dagegen

an den

Polen unter

dem

Gefrierpunkte

Die dichtere und schwerere Luft an den Polen muß also

(ine Neigung haben, längs der Oberfläche unserer Erde von

44 den Polen nach der Linie

zu strömen,

während in höheren

Strichen, ein entgegengesetzter Luftstrom der leichten und war­ men Luft

zu den

Polen

man die

öffnet

stattfindet,

Thür

eines erwärmten Zimmers, dann dringt die kalte, äußere Luft

längs des Bodens nach Innen; daher kömmt es, daß der Zug am meisten an den Füßen gefühlt wird, während ein Strom

nach Außen

hinaustreibt.

am

oberen Theile

Die Flamme

der Thüre

die

warme

Luft

einer Kerze beweist dies, welche,

an die offene Thür gehalten,

am Boden nach Innen schlägt,

Wäre unsere Erde in

oben an der Thüre aber nach Außen.

Ruhe, dann würde diese Ursache also auf der nördlichen Halb­

kugel einen beständigen Nordwind, auf der südlichen Halbkugel einen anhaltenden Südwind zur Folge haben.

Aber da die

Erde sich um ihre Achse von Westen nach Osten dreht, und die von

den Polen

kommenden Lustströme

weniger

Schnelligkeit

haben, als die Oberfläche der Erde unter dem Gleicher, so müssen diese Lustströme zurückbleiben und so einen scheinbaren

Strom oder Wind in einer entgegengesetzten Richtung, nämlich

von Osten nach Westen, verursachen.

Dieses ist der Ursprung

von dem beständigen Ostwinde, dem Passatwind *), der auf dem

Atlantischen Ocean vom 28.0 N.-B. bis zum 28.0 S.-B. sich erstreckt.

Auf dem festen Lande ist seine Richtung einer grö­

ßeren Veränderung und Abwechselung durch örtliche Verhältnisse unterworfen, und er ist dicht am Gleicher schwächer, weil dort der Luftstrom schon mehr und mehr an der Schnelligkeit der

Umwälzung unserer Erdkugel theilnimmt.

Daß ferner in den­

selben Strichen, in höheren Gegenden unseres Dunstkreises, ein entgegengesetzter Strom stattfindet, wie auS der gegebenen Er-

klärung folgen muß,

hat die thatsächliche Wahrnehmung be-

•) Vent alise der Franzosen» Tradewind der Engländer.

45 (tätigt.

Leopold von Buch nahm die entgegengesetzte Rich­

tung von zwei über einander befindlichen Luftschichten auf dem Pic von Teneriffa wahr.

Der Nutzen der Winde fallt von selbst in die Augen.

Sie

mäßigen die zu große Hitze und Kälte, »ertheilen die Wolken,

vernichten schädliche Ausdünstungen, und reinigen den Dunst-

kreis.

Wie der Mensch, der alle Elemente seinen Zwecken

dienstbar zu machen weiß, die Kraft deS WindeS an die Stelle

von vielerlei Handarbeit fetzt; und vorzüglich von ihr Gebrauch macht, um die großen Meere zu befahren, ist zu bekannt, als

daß ich Sie daran zu erinnern brauchte. So haben wir also die Lust als Körper, als zusammen­ gesetzten Körper und als bewegten Körper betrachtet. Auf eine

Bewegung der Luft muß ich Sie jedoch noch aufmerksam machen;

ihre Erwähnung möge mein flüchtiges Gemälde beschließen. Ich meine die Mittheilung deS Schalles.

Wenn man einen Schall

vernimmt und zu gleicher Zeit die Ursache wahrnimmt, wodurch

er hervorgebracht wird, so sieht man, daß bei einiger Entfer­ nung die Ursache schon aufgehört hat, bevor der Schall unser Ohr trifft.

Ein Kanonenschuß wird gesehen, bevor man ihn

hört, und wenn verschiedene Menschen

auf verschiedenen und

bedeutenden Entfernungen in einer Reihe geschaart stehen, so hört der erste den Schall vor dem zweiten, der zweite vor

dem dritten und so fort, so daß der erste und zweite den Schall

schon nicht mehr hören würden, wenn eine entferntere Person, die vierte oder fünfte z. B., ihn noch nicht hörten.

Ein ein­

facher Versuch kann und lehren, daß der Schall von der Luft

mitgetheilt wird.

Eine Glocke giebt in einem, durch die Luft­

pumpe entleerten Raume keinen Schall mehr, oder besser, die

Erzitterungen der Glocke werden nicht zu unserem Gehörwerk­ zeuge gebracht; je nachdem man alsdann mehr und mehr Luft

46

in die Glocke bringen läßt, wird der Schall stärker, und endlich, wenn die Lust die Glocke ganz wieder füllt, nimmt der Schall wieder seine gewöhnliche und vorige Stärke an. So verliert das Geläut an Stärke, in dem Maaße, als es sich in den Dunstkreis erhebt: es vermindert sich sowohl weil der Abstand vermehrt, als auch weil die höhere Luft stetö dünner und dünner wird. „Die stärksten Töne", sagt ein französischer Naturforscher*), „die stärksten Töne, die auf unserer Erde wiederhalleu, können nicht außerhalb der Grenzen des Dunstkreises kommen; sie werden schwächer, je mehr sie sich denselben nähern, und er­ sticken, ohne sie überschreiten zu können. Umgekehrt kann kein Schall von de» Himmelskörpern zu unserer Erde gelangen. Die heftigsten Erplosionen dürsten auf dem Monde stattfinden, ohne daß wir den geringsten Nachhall davon verspürten." GayLussac sand auch, daß die Kraft seiner Stimme sehr vermin­ dert war in der dünnen Lust der erstaunlichen Höhe, zu welcher er sich bei seiner kühnen Luftreise, die wir früher erwähnten, erhoben hatte. Der Schall der menschlichen Stimme wird durch Erzitte­ rungen zweier kleinen, elastischen und gespannten Bänder ver­ ursacht, die an dem Eingänge der Athmungswerkzeuge ihren Sitz haben. Die bei der Ausathmung fortgestoßene Luft setzt diese Bänder in Bewegung, diese zitternde Bewegung wird der Luft mitgetheilt; durch die Luft erreicht sie das menschliche Ohr. Wie wichtig wird dadurch unsere Betrachtung der Luft, welch' ein hohes menschliches Interesse erhält sie dadurch! Ist es nicht so, m. H.! gerade so, wie die Luft unsere Erdkugel umgiebt und umfaßt, ebenso umfaßt ihr eigenthümliches Wesen fast die ganze Natur- und Menschenwelt! Unser thierisches Leben kann

47 nicht bestehen ohne den fortwährenden Reiz des Athmens, und

das Leben der Menschheit, die Erziehung unseres Geschlechtes

durch Sprache und Wort, ist nur durch die Luft möglich. — Und brauche ich hierbei an die hohen Genüsse zu erinnern, die eine edle Kunst uns verschafft, welche durch eine passende Zu-

sammenfügung und

Entgegensetzung

durch Maaß geregelt,

von Lauten

eine Dichlkunst

für

und Tönen,

das Ohr zu er­

schaffen weiß, deren erhabene Sprache daö Innerste deö Men­

schen trifft und rührt, und mit den Strömen ihrer Klänge bald

die ganze Seele in Bewegung setzt, bald wieder die ebene Ruhe herstellt in dem erschütterten menschlichen Gemüthe!

Doch unter

allen den Tönen, vermittelst welcher Instrumente auch hervor­ gebracht, giebt eS keinen reineren, helleren, reicheren, keinen,

welcher mit größerer Gewalt unsere Seele erschüttern oder mit lieblicherer Kraft erweichen kann, als den, welchen die mensch­

Wie weit hinter den vollen Tönen deS

liche Brust hervorbringt.

Bassisten und den Silbertönen einer Altstimme bleibt doch jedes musikalische Instrument zurück!

Und wenn der menschliche Ge­

sang sich nun erhebt zu großen menschlichen Gefühlen; wenn

er Liebe für das heilige Vaterland athmet; wenn er Menschen­

würde und Menschenbestimmung zum Gegenstände Gottverherrlichung und Anbetung:

hat,

oder

wer ist dann so kalt und

gefühllos, daß er nicht im Herzen mitsingt, und, ist ihm die

HimmelSgabe versagt,

auf

Seele sich erheben fühlt,

den

Flügeln des Gesanges seine

wenn auch die Stimme

in seinem

Busen stockt? Wie jeder Athemzug ein Geschenk der göttlichen Liebe ist, so muß auch jedes Wort eine Anerkennung dieser Liebe sein,

und eine Naturbetrachtung erreicht ihr höchstes Ziel nicht, wenn sie sich nicht in Verherrlichung deö Schöpfers auflöft.

48

Ich habe meine Aufgabe vollbracht. Sollte meine flüchtige Skizze Ihnen einige Augenblicke angenehm und nicht ganz ohne Nutzen haben hinbringen lassen, vergönnen Sie mit dann, diesedem Gegenstände selbst zuzuschreiben, wodurch ed mir mög­ lich wurde, zu Ihnen zu sprechen, und Ihnen möglich, mich zu hören!

III. Die Ergebnisse der Geologie.

Die Ergebnisse der Geologie.

Meweise mannigfaltiger Art ;cige», daß bie Oberfläche unserer Erdkugel einer fortdauernden Veränderung unterwerfen ist. Wir haben nicht nöthig, diese im hohen Alterthume zu suchen; selbst in den letzten Jahrhunderten sind durch unterirdisches Feuer an verschiedenen Orten Berge empor gestiegen; eine lang­ same Erhebung des BodenS ist anderc-wo bemerkt und hat noch nicht aufgehört, und die Anschlämmung größerer Ströme bildet fortwährend an vielen Stellen neue fruchtbare Gefilde, als Eroberungen auf dem weitausgedehnten Gebiete des OceanS. Noch größer und merkwürdiger sind die Veränderungen, die durch keine menschliche Geschichte ausgezeichnet sind. Die Steinkohlenminen des nördlichen Europa's enthalten Überreste baumartiger Farrenkräuter, welche jetzt nur an den niedrigsten Küsten der warmen Zonen und auf Inseln der tropischen Meere wachsen. Die Gebirge im Herzen des festen Landes zeigen, oft auf bedeutenden Höhen, einen reichen Schatz von vielerlei Seemuscheln, und.die Ebenen Sibiriens sind mit einer Menge Überbleibsel von Rhinocerossen und Elephanten bedeckt. Diese Wahrnehmungen mußten wohl die Aufmerksamkeit wecken, und sie brachten den Menschen zum Nachdenken über 4*

52 die Geschichte deS Planeten, der ihm zum Wohnorte angewiesen ist.

So entstand ein besonderes Feld der menschlichen Forschung,

eine Wissenschaft wag' ich es noch nicht zu nennen, das man mit

dem Namen Geologie zu bezeichnen pflegt.

Dieses Feld der

Untersuchung wurde in den letzten Jahren mit besonderer Vor,

liebe bearbeitet. Früchte.

Es trug daher auch viele schöne und reiche

Obwohl

es nun in dem Umfange

einer

einzelnen

Vorlesung nicht möglich ist, eine systematische Übersicht der Re­ sultate zu geben, welche diese Forschungen geliefert haben, so will

ich doch versuchen,

Sie

in einigen Zügen mit dem wahren

Inhalt der Geologie bekannt zu machen. dieses Gegenstandes

noch

eine

Ich habe zur Wahl

besondere Veranlassung.

sind ungefähr zwanzig Jahre verlausen,

ES

seit der verstorbene,

literaturkundige vanKampen einen Aufsatz von meiner Hand über den früheren Zustand der Erde und ihre Umwälzungen in eine damals von ihm herausgegebene Zeitschrift, Magazin

für Wissenschaft, Kunst und Literatur') aufnahm

und durch

den Druck veröffentlichte, indem er wohl seiner guten Meinung in Betreff eines jungen Freunde- zu

viel Gehör gab.

Ich

brauche nicht zu sagen, daß dieser Aufsatz, nach solch einem langen Zeitraume, für mich nur noch einen geschichtlichen Werth hat;

aber da ich seit jener Zeit Nichts habe bekannt gemacht, waS

auf diesen Gegenstand Bezug hätte, so würde eS mir in der

That leid thun, wenn der Eine oder Andere, welchem durch

Zufall etwa jene Arbeit in die Hände fiele, darin meine jetzigen Ansichten über die Geologie zu finden vermeinte.

ES wäre

vielleicht vorsichtiger, darüber zu schweigen; aber die Wahrheit

zu suchen ist nach meinem Urtheile nicht möglich, ohne die Er­

kenntniß früherer Irrthümer.

Es mag bei politischen Parteien,

wie z. B. in England, zur Schande gerechnet werden, wenn man von der einen zur andern übergeht, oder auch nur Dem

53 nicht unbedingt anhängt, was von der Partei

angenommen

wird, unter deren Fahnen man ausgeschrieben ist: unter Natur­

forschern ist eS glücklicher Weise anders, und hier darf man,

nach meinem Urtheil,

auf keine andere Consequenz Anspruch

machen, noch irgend einer anderen Unveränderlichkeit der Grund­ sätze huldigen, alö der, stekS die Wahrheit zu suchen und ihr

daS höchste Ansehen zuzuerkcnnen. Ich ersuche Sie deshalb um Ihre rücksichtsvolle Aufmerk­

samkeit bei der Betrachtung deS Inhalts der Geologie, welche ich Ihnen in einigen Hauptzügen näher zu entfalten wünsche*).

Geologie bezeichnet eigentlich: Kenntniß der Erde.

In

diesem weiten Sinne wird jedoch daS Wort nicht angewandt.

Es würde sonst eine Vereinigung aller Kenntnisse sein, die unsere Erde betreffen, sowohl in Bezug auf daS Planetensystem,

alS auch an sich selbst betrachtet, und auch die gewöhnliche Erd­ beschreibung, die Geographie, mit allen ihren Unterabtheilungen

würde nicht davon ausgeschlossen sein.

Der Gebrauch hat diesem

Worte eine andere, engere Bedeutung gegeben.

Man versteht

unter G e o l o g i e die Kenntniß von der Zusammensetzung der Erd­

rinde, insofern diese unS über die Weise, wodurch letztere zu ihrem gegenwärtigen Zustand gelangte, und über die früheren Verände­

rungen, die sie erlitten hat, Aufklärung geben kann.

Sie ist des­

halb eine Erfahrungöwissenschaft, die aus Ansammlung und Ver­ gleichung von Thatsachen entsteht und deren Ergebnisse dazu

♦) Diese Abhandlung wurde, durch Vorzeigung von Gegenständen und Abbildungen erläutert, int November 1844 in der Gesellschaft Dili­ gentia zu S'Gravenhage und im März 1845 in bcr 9la tu rroi fftn^ schaftlichen Gese lischast zu Utrecht vorgetragen.

54 dienen sollen, um uns eine Geschichte kennen zn lehren, welche in den Dergschichtrn und den Ueberbleibseln einer früheren orga­

nischen Schöpfung ihre Denkmale findet. Es ist in der Geschichte der Wiffenschaften eine nicht un­ gewohnte Erscheinung, daß die Einbildungskraft des Menschen

seinem Wissen vorauseilt.

Einige wenige Thatsachen sind hin­

reichend, um Anlaß zu geben zu tausenderlei Vermuthungen und Systemen, die auf jede Frage eine Antwort bereit haben, welche

aus dem Kreise der Möglichkeit entlehnt ist, ohne darum mit der Wirklichkeit irgend etwas gemein zu haben. Beispielen ist vorzüglich die Geologie reich.

An solchen

In dieser Wissen­

schaft entstand der theoretische Theil lange bevor die empirische

Basis gelegt war, aus welcher allein eine wahre Theorie ent­ In einem gewissen Sinne kann denn auch kaum

springen kann.

eine allgemeine theoretische Wahrheit in der Wissenschaft entdeckt

werden,

deren Spuren und

Andeutungen man nicht in den

Werken früherer Schriftsteller entdecken kann, wenn man sich

nur nicht die Mühe verdrießen läßt, sie zu vergleichen.

Man

würde jedoch späteren Beobachtern Unrecht thun, wenn man, auf diesen Grund hin, ihre Entdeckungen den früheren Schrift­ stellern zusprechen wollte; absichtlich würde man dabei übersehen, wie

groß und wesentlich der Unterschied ist zwischen bloßen

Einfällen und den auf Wahrnehmung und Beobachtung beruhenden

Folgerungen.

Neben derartigen Einfällen, wie glücklich sie auch

sein mögen, stehen hundert andere, die eben so wahr sein können;

der Maaßstab,

nach

welchem wir die Wahrheit beurtheilen

sollen, gebricht unS; aber die Wahrheit, welche, auf dem langen und beschwerlichen Wege der Untersuchung entsprossen, auf Jn-

duction beruht, ist ausschließend; und, während sie Gluth und Leben über die zerstreuten Thatsachen verbreitet, verzehrt sie

55 gleich einem läuternden Feuer die Meinungen, welche nur Er­ dichtungen der spielenden Einbildungskraft sind.

Eine genaue Kenntniß der verschiedenen Erdschichten und Felöarten, aus welchen die Erdrinde zusammengesetzt ist, muß daher als das

Fundament

der Geologie

betrachtet werden.

Jede wohlbegründcte Beobachtung, die dahin zielt, wird dann

auch einen bleibenden Werth besitzen, und muß früher oder spä­ ter, in Berbindung mit anderen Wahrnehmnngcn, daö Ihrige beitragen

zur

Erklärung

der Geschichte der Veränderungen,

die unser Planet durchlaufen hat.

In dieser Hinsicht hat der

berühmte Werner unverkennbare Verdienste.

Ausgerüstet mit

einem scharfen BeobachtungSgeistc, welchen langjährige Übung

noch verstärkt hatte, mit einem glücklichen Gedächtnisse begabt und beseelt von einer feurigen Liebe zu seiner Wissenschaft, ward er der Gründer einer beschreibenden Geologie, der man, zur Unterscheidung von naturwissenschaftlichen Romanen, die

gemeinlich Geologien genannt werden, auch den Namen Geognosie gegeben hat.

Bei dem gegenwärtigen Zustande der

Wissenschaft scheint es mir nicht, daß diese Unterscheidung noch

ferner nothwendig ist.

Geologie ohne Geognosie, eine Erklärung

der Bildung und Umbildung der Erde ohne Kenntniß der Ge­

birge und FelSarten, d. h. ohne Kenntniß der Thatsachen, auS

welchen wir auf solche Umbildungen schließen, ist ein Schatten­ bild ohne Wesen. Werner unterschied viel schärfer als es vor ihm geschehen

war, die in Schichten und Lagern gebildeten, und Überbleibsel früherer Pflanzen und Thiere enthaltenden Gebirge, von denen,

welche nicht in Schichten gebildet, aus krvstallisirten Bestand­

theilen zusammengesetzt sind und keine Versteinerungen in sich

schließen. Von diesen letzteren Gebirgen glaubte er, daß sie vor dem Entstehen der organischen Schöpfung ihr Dasein erhielten.

56 Daher rührt

denn auch der Name:

Urgebirge, primitive

Gebirge, der auch später in der Wissenschaft beibehalten wurde, selbst nachdem man von den Ansichten Werner'S in vielen

Die anderen nannte er Flötz-

Hinsichten zurückgekommen war.

gebirge; man hat sie auch secundäre genannt.

Zwischen beide

setzte er später noch andere Gebirge und Erdschichten, welchen er den Namen: Übergangsgebirge gab. Die Vulkane betrachtete

er als blos locale Formationen, die auf den allgemeinen Bil­ dungsgang unserer Erdrinde keinen oder doch nur einen geringen Einfluß hatten.

Wir

erwähnten

schon,

daß

Ueberreste von Seethieren,

Muscheln z. B., auf sehr hohen Bergen angetroffen werden,

unter anderen im Harzgebirge bei Clausthal, mehr als 2000 Fuß über dem Meeresspiegel; in der Schweiz fand Ebel Ammo.

niten auf der Spitze der Jungfrau, 12,872 Fuß hoch; ja

selbst auf einer Höhe von mehr als 14,000 Fuß hat man in Tibet ähnliche Überreste entdeckt.

AuS allem Diesen hat die

geologische Schule, an deren Spitze der Freiberger Professor Werner stand, die Annahme hergeleitet, daß früher das Meer

einen viel höheren Stand hatte.

Ja selbst die Gipfel der höchsten

Gebirge waren einst vom Wasser bedeckt, da, nach der Bor, stellung der Geologen, auch die primitiven Berge durch Krystalli­

sation auS einer Flüssigkeit entstanden sind.

Die Erklärung der

Ursachen, die eine so bedeutende Verminderung des Wassers

zur Folge hatten, erheischte einige Hypothesen, deren Kühnheit

selbst nicht immer hinreichend war, um der Größe der Sache zu entsprechen. Wir haben Ihnen, m. H.! in wenigen Zügen einen rohen

Entwurf desjenigen geologischen Systems gegeben, welches man

gewöhnlich das System der Neptunisten nennt; mit einigen Ver­ änderungen wird eö von verschiedenen Gelehrten und auch von

57 de Luc angenommen, dessen Theorie bei uns (Holland) in dem Wir dürfen

berühmten Bilderdijk einen Dolmetscher sand.

nicht übersehen, daß dieses System auf Erfahrung beruht; eS ist nur die Frage, ob diese Erfahrung vollständig genug ist'

und besonders, ob man derselben nicht eine Erklärung unter­ geschoben, die mit ihr nicht nothwendig und unzertrennlich ver­ bunden ist. Wenn

das

Nichtvorhandensein von

Ueberresten

lebender

Wesen in einigen Gebirgen und Bodenarten stets die Annahme

rechtfertigte, daß diese Berge entstanden seien, bevor noch unsere Erde mit lebenden Bewohnern bevölkert war, dann würde man die Lava, welche davon keine Spuren aufweist, und die, abge­

kühlt und verhärtet, sehr ansehnliche Schichten bildet, ebenfalls

primitiv nennen müssen, obgleich wir wissen, daß sie noch gegen, wärtig und gleichsam vor unseren Augen gebildet wird.

Der

Mangel an dergleichen Ueberbleibseln, die wir jetzt Kürze halber

Bersteinerungen nennen wollen, ist also an und für sich noch kein

vollständiger

Beweis

eines

höheren

Alters.

Eben

so

müssen wir bei dem Vorkommen von Seeversteinerungen auf

hohen Gebirgen die Frage aufwersen, ob es nicht eben so möglich sei, daß die Berge sich erhoben haben, als daß die See ge­ sunken sei; und bevor wir hierüber entscheiden, müssen wir alle

Umstände, die stattgefunden haben, in Uebereinstimmung mit den gegenwärtigen Erscheinungen untersuchen.

Ganz besonders ist seit den letzten Jahren die Geologie, in Folge dieser Bedenken, aus einem neuen und ungemein frucht­

baren Gesichtspunkte betrachtet worden.

Den Veränderungen,

die unsere Erde durch noch jetzt wirkende Ursachen erleidet, ist mit

mehr Aufmerksamkeit,

als

früher geschah,

nachgeforscht.

War man früher geneigt, zur Lösung dieser geologischen Fragen, gewaltsame und oft ganz willkührlich ersonnene Ursachen anzu-

58 nehmen und die gegenwärtige Periode in der Geschichte unserer

Erde als eine stille Ruhe zu betrachten, die auf den Streit der Elemente gefolgt sei, so ist man jeht mehr und mehr zu der

Ueberzeugung gelangt, daß diese strenge Trennung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen nicht bestehe, und daß, um zu erklären, waS früher geschehen ist, und welche Kräfte

früher gewirkt haben,

eingeschlagcn werden

kein sicherer Weg

könne, als jener der Beobachtung Dessen, waö noch geschieht

und der

noch jetzt wirkenden Kräfte,

welche die Oberfläche

Es ist besonders

unserer Erde noch fortwährend verändern.

der englische Geologe Lyell, welcher diesen Weg mit Ausdauer und glänzendem Erfolge eingeschlagen hat.

Befremden kann eS

unS jedoch nicht, daß man ohne Zweifel auch in dieser Richtung

wieder zu weit gegangen ist, und von Uebertreibung nicht frei blieb.

Hier sehen wir nur eine Erneuerung jener Erscheinung,

welche in der Geschichte der Menschheit und in der jeder Wissen­

schaft beständig vorkommt, eine Wiederholung von jenem Ueber« schlagen inS Äußerste, welches den Menschen beim Erkennen deS Irrthums in den Wahn bringt, daß die Wahrheit jetzt

am sichersten zu finden sei, wenn man so weit wie möglich nach

einer anderen Seite hinüber gehe.

früh

Solche Schwankungen endigen

oder spät mit einem Zwischenzustande,

in welchem der

Pendel ruht.

Daß viele Erhebungen

durch

vulkanische Kraft,

oft im

Verlaufe weniger Stunden, daö Entstehen von Bergen verur­ sachen, ist unleugbar.

So entstand, um nur ein Beispiel auS

Europa zu nennen, im Jahre 1538, zwischen dem 27. und 28. September, in dem Golfe von Bajae, unter wiederholten Erd­

stößen, ein Berg von 440 Fuß Höhe und 8000 Fuß Umfang

am Fuße, der Monte nuovo.

Daß überdies

anderwärts

langsam und beständig fortdauernde Erhebungen deS Bodens

59

stattfinden, wird durch das Beispiel Schwedens bewiesen,

über welches Berzelius vor zwei Jahren eine genaue und umständliche Mittheilung machte. Daß auS dem Wasser abgelagerte Schichten eine wage­

rechte Lage haben müssen, wenn sie in ihrem ursprünglichen

Zustande geblieben sind, sieht jeder bei einigem Nachdenken leicht ein. Aber viele auS Schichten bestehende Gebirge zeigen in ihren Lagern solch eine bedeutende Abschüssigkeit, daß diese Schichten nothwendig durch Senkung oder Erhebung aus ihrem ursprünglichen Zustande gebracht sein müssen.

Aus diesem Allen folgt, daß die Unterscheidung von primi­ tiven und secundären Gebirgen, wenn man mit diesen Worten

den Begriff einer Zeitfolge verbindet, nicht unbedingt gut zu

heißen ist, und daß ganz andere Erklärungen für diese großen

geologischen Erscheinungen möglich sind, wie jene, welche man von einem, mehrere tausend Fuß höheren Wasserstande des Oceans in der Vorwelt entlehnt hat. Primitive und sccnndäre Gebirge

entstanden zum Theil gleichzeitig; ja, einige primitive Berge

entstanden später, als andere sogenannte secundäre. Ohne auf ihr bezügliches Alter Rücksicht zu nehmen, kann

man die FelSarten ihrem Entstehen gemäß, nach Lyell, in vier große Klassen vertheilen.

In Bezug nämlich auf die Ur­

sachen, durch welche, und in Bezug auf die verschiedenen Um­ stände, unter denen sie entstanden, findet man: aus dem Wasser

abgelagerte, vulkanische, Plutonische und metamorphische For­ mationen. Die auS dem Wasser gebildeten Felsen bestehen auö Schichten

und Lagern, gerade so wie wir Ablagerungen bei Ueberströmungen und an den Mündungen der Flüsse entstehen sehen. Das strö­ mende Wasser, in seinem schnellen Laufe behindert, läßt die Theilchen fallen, mit welchen es angefüllt ist, und so entstehen

60 Anschlämmungen in Schichten.

So finden wir auch viele Berge,

gebildet aus Schichten von Sand, Kalk u. s. w.

In diesen

Schichten sehen wir Ueberbleibsel lebender Wesen,

besonder-

Muscheln und Korallen, welche ebenfalls die Entstehungsweise der genannten Schichten bestätigen.

Alle diese Erdlager, wie

verschieden auch in mineralogischer Zusammensetzung, in Farbe, in Zusammenfügung und anderen äußerlichen und innerlichen

Kennzeichen, bilden zusammen eine Gruppe, die einen gleichen Ursprung hat.

Sie sind alle auf dieselbe Weise unter Wasser

gebildet, wie Sand, Schlamm, Kiesellager, Muschel- und Korallen­ bänke, und charakterisiren sich durch ihre schichtweise Anhäufung

und oft auch zugleich durch organische Ueberbleibsel.

Eine zweite Klasse ist die der vulkanischen Felsen, die sich über weniger ausgedehnte Strecken verbreiten.

Sie zeigen keine

Fossilien und sind gewöhnlich ohne Schichten; sie sind in älttren

oder neueren Perioden nicht durch Wasser, sondern durch Feuer hervorgebracht.

Nicht allein die jetzt

noch thätigen Vulkane

gehören hieher, sondern auch viele Berge, die in historischen Zeiten nicht mehr thätig gewesen sind; so wie einige kegelför­

mige Berge im südlichen und mittleren Frankreich und am Rhein.

Zuweilen sind die Formen dieser ausgebrannten Vul­

kane noch ganz erhalten; oft aber auch sind die loseren Schichten

von Asche und Sand, von schaumartig gebildeten und porösen Steinen, durch Regen und Wasserströme sortgespült, und die festere Masse ist in Gestalt eines Dammes oder WalleS allein

zurückgeblieben.

Diese senkrechten Mauern sind gebildet auS

einer geschmolzenen Masse, welche sich durch die loseren Theile einen Weg gebahnt hat.

Zu diesen vulkanischen Felsen zählt

man auch die Basaltgebirge, die indessen keine Kegel und Krater zeigen, was man durch die Annahme erklärt, daß der ursprüng­

liche AuSbruch unter dem Meere stattfand.

61 Wir haben nun zwei verschiedene Klassen von mineralischen Massen kennen gelernt: die aus dem Wasser gebildeten und die

vulkanischen; aber

eine

genauere Untersuchuug,

besonders in

Gegenden, wo hohe Berge sind, lehrt uns noch zwei andere Klaffen kennen, die weder zu den Niederschlägen aus dem Wasser, noch zur gewöhnlichen vulkanischen Wirkung gerechnet werden

können.

Sie sind von einer krystallinischen

Zusammensetzung

und bieten keine Ueberreste lebender Wesen dar.

Die Felsen

der einen Abtheilung werden Pluto nische genannt, und um­ fassen alle Granitarten und einige Porphyrarten, welche durch

einige ihrer Eigenschaften sehr verwandt mit vulkanischen For­ mationen

sind.

der anderen Abtheilung

Die Felsen

sind in

Schichten gebildet, wie der Gneus, der Micaschist, der BildhauerMarmor, der Schiefer, u. s. w. Die Plutonischen Felsen zeigen viele Uebereinstimmung mit

den vulkanischen, ja man hat sogar Uebergänge derselben in

vulkanische FelSarten wahrgenommen, so daß wir beiden den­ selben Ursprung auS dem Feuer zuschreiben müssen.

Man sieht

ferner Adern und lothrechte Wälle dieser Felsmassen, welche, gerade wie eS bei der Lava der Fall ist, die darüber liegenden

Bergschichten durchdringen.

Von den vulkanischen Felsen unter­

scheiden sich jedoch die Plutonischen durch eine mehr krystallisirte Zusammensetzung und den Mangel an Poren und blasenartigen

Räumen, welche durch die eingeschlossenen gasförmigen Flüssig­

keiten

in der gewöhnlichen Lava

hervorgebracht sind.

Man

nimmt deshalb an, daß diese Plutonischen Felsen in großer Tiefe

unter dem Boden gebildet, langsam abgekühlt und krystallisirt sind bei einem großen Drucke.

Die Felsen der vierten oder letzten Abtheilung sind oft eben so sehr krystallisirt wie der Granit, aber sie zeigen Lager oder

Schichten.

Lyell glaubt ihr Entstehen ans ursprünglichen Ab-

62 lagerungen oder Niederschlägm auS dem Wasser erklären zu müssen, die später durch unterirdische Hitze verändert sind.

Diese

so verwandelten Felsarten nennt er deshalb metamorphische.

Die Zeit der Bildung kann bei der ersten Klasse der Fels­ arten am leichtesten durch die Weise bestimmt werden, in welcher

sie einander bedecken. Obgleich an verschiedenen Stellen unserer

Erdkugel einige Schichten mangeln, die an anderen Stellen ge­ funden werden, so hat doch im Allgemeinen eine große Gleich­

förmigkeit in dieser Aufeinanderfolge statt, und durch vielfache Beobachtungen in allen Welttheilen hat man eine allgemeine

Reihenfolge

dieser

Felsarten

erhalten.

ES sind

Abwechse­

lungen von Sandsteinen und Kalksteinen, von denen die ältesten

unter den Steinkohlenlagern anfangen, und die sich bis zu den Krcidebergen

erstrecken.

Ich

will Ihre Aufmerksamkeit

nicht

ermüden mit einer dürren Aufzählung von Namen, welche für

den Sachkenner nutzlos und für den, welcher mit der Wissen­

schaft nicht vertraut ist, unverständlich sein würden.

Hier vor

Allem kann nur allein eine genaue Kenntniß von Nutzen sein, weil die praktische Anwendung, die Auffindung einiger für den

Menschen und für seine gesellschaftlichen Bedürfnisse nützlichen

Schichten, die der Steinkohlenlager z. B., nur durch Hülfe dieser Kenntniß möglich ist.

Ueber den Kreideschichten findet man noch andere Schich­ ten von jüngerem Ursprünge, theils aus Meerwasser, theils aus

süßem Wasser

abgelagert.

gewöhnlich unter dem

Es

sind

diejenigen, welche

man

Namen der tertiären Formationen zu­

sammenfaßt, und worin man die Ueberbleibsel von ausgestorbe­

nen Säugcthieren antrifft, die in den früheren, unter der Kreide

liegenden (mit einer einzigen Ausnahme) noch nicht angctroffcn werden.

Es ist nämlich zwischen den Versteinerungen i» den

früheren

und

späteren Lagern

ein

merkwürdiger Unterschied.

63 Die ältesten Ueberbleibsel von organischen Wesen weichen von

den gegenwärtig lebenden am meisten ab, und gehören auch größtentheilS

zu

den

weniger

oder

ausgebildeten

vollkom­

menen Thierklassen.

Erst

Kreide gelegen und

nach der Kreidebildung entstanden

sängt

die Pflanzen-

in

den

Lagern,

die

oberhalb der

sind,

und Thierwelt an mehr Gleichheit mit

unseren gegenwärtigen Geschlechtern und Arten zu zeigen; und in diesen, von den Geologen gewöhnlich tertiäre genannten Lagern

ist wiederum eine stufenweise Aenderung der Formen

zu bemerken, und eine fortwährende Annäherung an die jetzt bestehende Ordnung der Dinge; so daß Ueberbleibsel von jetzt

noch lebenden Arten immer weniger sparsam

zu werden an­

fangen, je mehr man sich Schichten nähert, deren Entstehen auS

wissenschaftlichen Gründen in die letzten Perioden der Vorwelt

versetzt werden muß. Die Benennung „Versteinerung" (Petrificatio) nöthigt und, einen Augenblick bei ihr zu verweilen.

Gemeinlich braucht man

dieses Wort für dieselben Gegenstände, welche die Franzosen „Fossiles“ nennen.

Beide Benennungen können jevoch eigent­

lich nicht als gleichbedeutend betrachtet werden, und beide können

zu vielerlei Verwirrung Anlaß geben.

Fossilien sind, wie daS

Wort schon andeutet, auSgegrabene Sachen, worunter man also

auch Erze und andere Mineralien verstehen kann.

In diesem

Sinne gebraucht man jedoch das Wort gewöhnlich nicht, son­ dern beschränkt dessen Begriff auf die ausgegrabenen Ueberreste

organischer Wesen. Benennung

Auf der anderen Seite ist aber auch die

„Versteinerung"

in

der

allgemeinen Anwendung,

worin man sie gebraucht, eben so unpassend.

Eigentlich muß

man darunter jene Ueberreste organischer Wesen verstehen, welche auf eine ungewöhnliche Art verhärtet sind und eine chemische Veränderung erlitten haben, wodurch an die Stelle der weichen

64 Stofftheilchen des Psianzengewebes oder der thierischen Organe, irgend ein anderer Stoff aus dem Mineralreich getreten ist. Solche Versteinerungen nun können noch gegenwärtig an ver­

schiedenen Orten und unter verschiedenen Umständen entstehen, und in einigen Boden- und einigen Wafferarten werden sie

selbst in einem ziemlich kurzen Zeitverlauf erzeugt. es in Toscana,

So giebt

in Frankreich bei Clermont und

an

anderen Orten, Brunnen mit kohlensaurem Kalk, der sich auf

verschiedene darin getauchte Gegenstände ansetzt, und solcher Art sieht man in Sammlungen versteinerte Körbchen, Vogelnester

u. s. w.

Nicht jedes Petrefact ist also ein Fossil, und um­

gekehrt verdient nicht jeder Ueberrest eines organischen Wesens

den Namen „Petrefact".

Die

Knochen

und

Zähne

von

Elephanten, die man in diluvialen Bodenarten antrifft, und die

auch dann und wann in unserem Vaterlande gefunden werden,

verdienen wohl den Namen: fossile Knochen, eigentlich aber nicht die Benennung:

Versteinerungen.

Ihre

Zusammensetzung

ist

nicht verändert; nur die thierische Gallerte haben sie größtentheils verloren und sind spröder und leichter geworden. Manchmal

sogar besitzen die fossilen Ueberbleibsel noch weiche Theile, so wie man in Sibirien an einem Rhinoceros, das im Jahre 1771

auSgegraben wurde, noch Ueberbleibsel von Nerven, Muskeln, von Haut und Haaren sah. Von jetzt an

gebrauche ich

in dieser Rede

daS Wort

„Versteinerungen" in dem Sinne von fossilen Ueberresten orga­ nischer Wesen, ohne Rücksicht darauf, ob sie große oder fast

keine Veränderung

erlitten.

Einige Bemerkungen

über diese

Versteinerungen werden meine Rede beschließen. Zwei verkehrte Vorstellungen in Betreff dieser Ueberbleibsel

wurden srüher von verschiedenen Schriftstellern gehegt, und ob­ gleich sie jetzt in der Wissenschaft schon lange verworfen sind,

65 so üben sie doch, wie es gewöhnlich geht, noch fortwährend einen vielseitigen Einfluß auf diejenigen aus, welche mit der

Wissenschaft weniger vertrant sind.

Die eine Meinung ist die,

daß es Naturspiele wären, sonderbar geformte Steine, welche

wohl eine äußerliche Aehnlichkeit

mit Pflanzen

oder Thieren

hätten, die jedoch niemals wahre Thiere oder Pflanzen gewesen

wären.

Daß eS solche Steine giebt, worin eine üppige und

spielende Phantasie die verschiedensten Gegenstände der Natur und Kunst zu erkennen meint, ist unzweifelhaft.

Im Großen

findet man davon Beispiele in den Höhlen, die mit Tropfsteinen

oder Stalaktiten angefüllt

sind.

Geht

es Ihnen,

wie

mir,

in. H.! dann haben Sie oft bei stillen Abendwandlungen, wenn die Sonne unter den Horizont hinabsteigt, in den stets wechseln­

den Formen der Wolken ebenfalls allerlei Gestalten, nicht nur

von Bergen, sondern auch Gruppen von Menschen und Thieren erkannt, und befremden kann eS dann auch wohl nicht, daß

man in Grotten, die von Tropfstein bedeckt, bei dem unsicheren

Lichte der Fackeln allerhand phantastische Figuren unterscheidet, die jedoch viel mehr Spiele der Einbildungskraft, als Spiele der

Natur zu nennen sind.

Die Führer zeigen dem Besucher im­

mer mit besonderem Wohlgefallen diese Seltsamkeiten:

Stand­

bilder, Bäume, erstarrte Wasserfälle und Springbrunnen, Glocken,

Orgeln, Kanzeln u. s. w., und sie sparen keine Worte, um auch

ihn an ihrer Einbildung Theil nehmen zu lassen.

Selbst der

berühmte Pflanzenkenner Tournefort ließ sich bei dem Be­

suche der berühmten Grotte von AntiparoS durch die Wir­

kung seiner Phantasie dermaßen verführen, daß er dort eine neue Art von Garten zu sehen glaubte, wo Steine wüchsen,

wie anderöwo Pflanzen, und seitdem schrieb er selbst den Me­ tallen Wachsthum zu; gerade als wollte er, so viel nur möglich,

5

66 Alles in Pflanzen, die er über Alles liebte, verwandeln

Im

Kleinen sieht man Beispiele von eben solchen Naturspielen im Agat und in anderen Steinen, als baumförmige oder federför­ mige Verzweigungen; und der sogenannte Florentiner Marmor, mit den Bildern verfallener Städte und Trümmerhaufen von

Burgen und Thürmen ist ebenfalls ein merkwürdiges Natur­

spiel s).

Solchen Erzeugnissen der Natur hat man früher die

Versteinerungen gleich gestellt.

Man nannte sie Steinfiguren

und glaubte, daß die Bildungskraft der Erde sie hervorgebracht hätte, ich möchte fast sagen, in ihrem jugendlichen Uebermuth. Daraus läßt sich denn auch die Möglichkeit erklären, wie ein

Beringer, noch im Beginne des achtzehnten Jahrhunderts, das Schlachtopfer eines muthwilligen Betruges wurde, und aus einem Hügel bei Würzburg, worin Spottvögel allerlei auS

Thon gebackene Seltsamkeiten vergraben hatten, eine Litho-

graphia Wirceburgensis sammelte, worin Figuren von Blumen,

Schnecken,

Fischen und Insekten

nebst denen von

Sternen und Kometen, ja sogar von hebräischen Buchstaben ab­

gebildet sind-').

Selbst Voltaire war nicht frei von der Vor­

stellung, daß Austerschalen und andere Doubletten in den Stei­ ne» wachsen könnten, obwohl er meinte, daß die Muscheln, die

man auf den Mont Cenis gefunden hatte, wohl von den Hüten einiger der vielen frommen Pilger gefallen sein könnten, die

von allen Orten her eine Wallfahrt nach Rom unternähmens).

Eine andere Ansicht,

welche den Fortschritt der wissen­

schaftlichen llntersuchung sehr lange zurückgehalten hat, ist die,

daß alle diese Versteinerungen oder Ueberbleibsel von früheren Pflanzen und Thieren,

Zeugen einer gewaltigen allgemeinen

Fluth (Sündfluth) wären. und dem Beginne des

Viele Werke aus dem siebzehnten

achtzehnten Jahrhunderts tragen diese

67 Ansicht sogar auf dem Titel zur Schau •).

Nichtsdestoweniger

wird diese Meinung durch eine nähere Untersuchung leicht wider­ legt, und aus der einfachen Beobachtung der Thatsachen, wie

die Natur sie darbietet, würde sic sicherlich nimmer entsprungen seinEs sind viele Abstufungen thierischer und pflanzlicher

Formen, alle von einander verschieden, vorhergegangen, bevor

die gegenwärtige organische Schöpfung, mit dem Menschen an der Spitze,

auf der Oberfläche der Erde und wie auf dem „In den Schichten der

Grabe jener Urgescklechter entstand.

Gebirge liegen Pflanzen eingeschlossen, eine ganze Pflanzenwelt liegt dort begraben, die keine Frühlingswärme jemals wieder zum Keimen und Blühen bringen r.'irb.

Man sieht Holz, noch

erkennbar an seinen Fasern, mit Bergschichten abwechseln, bald noch tauglich zu Brennstoff,

bald verändert zu einem harten

Gestein, daS sogar, mit Stahl geschlagen, Funken giebt.

Im

Schiefer sieht man Blätter, die so wohl erhalten sind, daß man in denselben

die

Vcrtheilung

der

Adern

unterscheiden

kann.

Aber diese Beispiele gehören nicht alle zur gleichzeitigen Vegetationözeit; diese Ueberreste von Pflanzen gehören verschiedenen Perioden der Erdgeschichte an, während zwischenliegende Schich­

ten, angefüllt mit Seemuscheln und Fischen, beweisen, daß die

Pflanzen, welche in der älteren

oder unteren Schicht liegen,

vernichtet sein mußten, bevor diejenigen, welche in der jüngeren vorkommen, gebildet wurden •)."

Zur Kenntniß der Versteinerungen ist

eine ausgebreitete

Kenntniß der jetzt lebenden organischen Wesen nöthig.

Diese

allein kann uns die Mittel zur Vergleichung an die Hand geben,

uns auf dem dunkeln Weg der Untersuchung vorleuchten und auf eine sichere Spur führen, Bruchstücken

ein Ganzes

um auö

einzelnen

zusammenzusetzen.

Mit 5»

zerstreuten

dem

glän-

68 zendsten

Erfolge wurden in dieser Hinsicht

Cuvier'S gekrönt,

Ablagerungen in

die Forschungen

der aus den GyPSschichten der tertiären

der

Umgegend

von

Paris

eine

Menge

von Säugethierknochen untersuchte, und die ausgestorbenen Ge­

schlechter mit der Zauberruthe der Wissenschaft wieder in'S Da­ sein rief.

In demselben Geiste wurden die fossilen Pflanzen

von Brongniart und Göppert und die fossilen Fische von dem unermüdlichen Agassi; untersucht').

In der alten Flora

der Steinkohlenperiode findet man, im Schiefer und Sandstein, fast

nichts alö Farren, Lycopodiaceen und Equisetaceen. Jetzt machen

diese drei Familien vielleicht nur den dreißigsten Theil des Pflan­ zenwuchses aus, und das Pflanzenreich unserer gegenwärtigen

Schöpfung bietet hunderte von Familien und Hauptgruppen dar. Als den ersten Hauptzug des Pflanzenreiches jener erwähnten

Periode können wir also einen hohen Grad von Einförmig­

keit nennen.

Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, kann

die damals bestandene Pflanzenwelt mit unseren Tannenwäldern und Haiden verglichen werden, jedoch müssen wir unS dabei

vergegenwärtigen, daß es eine große Mannigfaltigkeit der Arten gab, ähnlich den Tannenwäldern in Nord-Amerika oder den

Haivekrautflächen auf dem Kap der guten Hoffnung, welche

ebenfalls viele Arten enthalten.

Die Einförmigkeit zeigt sich

auch in einer anderen Hinsicht; dieselben Pflanzenarten nämlich, welche in den Steinkohlenlagern Englands gefunden werden,

sind nicht allein in Belgien und am Rhein, sondern auch

in Nord-Amerika gefunden worden;

folglich in Ländern,

welche gegenwärtig eine sehr verschiedene Flora besitzen.

DaS

zweite hauptcharakteristische Zeichen des Pflanzenreiches in der

Steinkohlenperiode ist der Mangel an eigentlichen Blumen, ein

Zug, der um so merkwürdiger ist, als nicht nur unsere Pflan-

69 zen auf Feldern und in Sümpfen, sondern auch die Sträucher

in unseren Gebüschen und die Bäume in unseren Wäldern, alle DaS Vorhandensein von Blumen

zusammen Blumen haben.

wird bei den Pflanzen mit Recht für ein Zeichen höherer Ent, Wickelung

gehalten;

Pflanzen zu den

man

rechnet daher jetzt die blumenlosen

weniger

vollkommenen,

selbst

andere

wenn

Theile, z. B. die Blätter, eine größere Entwickelung erlangt

haben, welches gerade der Fall bei den Farrenkräutern ist.

Da

also die Steinkohlenperiode nur blumenlose Gewächse darbietet,

die jüngeren Perioden dagegen Gewächse mit Blumen, so haben wir hier eine neue Bestätigung der schönen Thatsache, zu welcher uns das Studium der Ueberreste der Thierwelt führt, lebenden Geschöpfe sich stufenweise zu größerer Voll­

daß die

kommenheit entwickelt haben.

Auch der Mangel an fleischigen,

sastreichen Früchten ist ein Zug, welcher die genannte Pflanzen­

welt von der gegenwärtigen wesentlich unterscheidet, so wie auch,

wie es

scheint,

der Mangel an grasartigen

Pflanzen;

denn die Spuren, welche man von dieser Familie gefunden zu habe» glaubt, kommen sparsam vor und sind zweifelhaft. eine Vegetation,

in

welcher

Ferner,

die Farrenkräuter einen großen

Theil der Flora auSmachen, trifft man heut zu Tage nur auf Inseln der warmen Zonen, und Dieses berechtigt uns zu der Annahme,

daß

auch

in der

Periode

der

Steinkohlen

diese

Vegetation sich auf Inseln befand und daß das Klima warm

war.

Dieses Letztere schließen wir auch daraus, weil es unter

den Farren der Vorwelt viele baumartige gab; in der gegen­ wärtigen Zeit aber finden wir baumartige Farren nur in wär­ meren Zonen.

Richten wir dann weiter

unsere Aufmerksamkeit auf die

Thierwelt in der ältesten Periode der lebenden Wesen, dann

70 finden wir eine

unzählbare Menge von Korallen und See-

molluSken (Seehörnern, Seemuscheln und Sepien); die Sepien

(Tintefische) viel zahlreicher und darunter Arten, welche, in Ver­ gleichung mit der jetzt eristirenden Ordnung, von einer riesen­

haften Größe sind. Fische.

Wir finden auch krebsartige Thiere und

Dahingegen vermissen wir durchaus Ueberreste

von

Säugethieren und Vögeln, ja sogar von kriechenden Thieren

(Reptilien).

Der Dunstkreis, reich an kohlensaurem GaS, war

wahrscheinlich untauglich zum Athmen für Wirbel- und noch mehr für warmblütige Thiere.

Die Wälder waren also ohne Vögel,

ohne die jetzt in heißen Ländern so

zahlreichen Affen,

ohne

Schlangen. Da es aber in dieser ersten Zeitperiode schon Arten

auS allen Hauptabtheilungen der wirbellosen Thiere gab, so

kann man hier zur Charakterisirung nur die Wirbelthiere be­ rücksichtigen, und diese Periode, insofern sic das Thierreich be­

trifft, mit Agassi; die der Fische nennen, so wie sie, in ®e;ug

auf daS Pflanzenreich, die der Farrenkräuter heißen kann.

Eine zweite Periode charakterisirt sich durch Eycadeen, die

mit Farrenkräutern und einigen Nadelgewächsen oder Coniferen die Vegetation ausmachen.

Sic

ist eine

Uebergangsperiode

zwischen der Flora der Inseln und der des festen Landes; eine

Vegetation, gleich jener der Küsten des festen Landes und jener der großen Inseln der tropischen Gegenden. Pflanzen fehlen noch.

Ticotyledonische

Unter den Ueberresten deS Thierreicheö

sind in dieser Periode vorzüglich die kriechenden

(Reptilien) merkwürdig.

Thiere

Riesige Eidechsen von fremder und

höchst merkwürdiger Gestalt und von der größten Verschiedenheit

bevölkerten die Gewässer und das feste Land — Ichthyosauren, Plesiosauren, Pterodaktylen u. s. w. Die dritte Periode, die der tertiären Formation, weist auch

71 dicotvledonische Pflanzen und eine größere Verschiedenheit der Formen auf; auch

findet sich hier schon ein größerer Unter,

schied, in Folge der Breitegrade und anderer Umstände, zwischen

der Flora des einen

und des anderen Himmelsstriches.

In

dieser Periode war also das Klima weniger gleichmäßig auf

der ganzen Oberfläche der Erde.

Einige Palmen und baum­

artige monocotylcdonische Pflanzen bezeugen jedoch, daß damals in dem gemäßigten Europa ein wärmeres Klima herrschte alS

jetzt.

Dasselbe lehren uns die ausgcstorbenen Geschlechter der

Säugcthicrc und die ausgestorbcnen Arten, die zu Geschlechtern gehören, welche noch Vorkommen, aber deren Arten gegenwärtig

In Betreff des ThierreichS

nur in wärmeren Gegenden leben.

kann man diese Periode als die der Säugethiere charakteri-

siren.

Der Mensch war noch nicht.

Erst nachdem diese Pflanzen-

und Thicrwelt vernichtet war, ward er mit den noch lebenden

Pflanzen-

und Thierarten

in'S Dasein

gerufen,

um GotteS

Schöpfung auf Erden zu krönen und zu vollenden. Ich mag Ihre Aufmerksamkeit nicht

länger in Anspruch

nehmen, m. H.! sondern ich will hier endigen.

Niemand kann

lebendiger als ich überzeugt sein, daß meine Rede nur einen

dürftigen Begriff der vielumsassenden Entdeckungen geben kann,

womit der Mensch das Gebiet seines Wissens in den letzten Jahren erweitert hat.

Wie ausgedehnt ist daS Feld der geolo­

gischen Forschung, wenn wir den Umfang der Erde mit der

Größe deS menschlichen Körpers messen!

Wie gering, wenn

wir bedenken, daß die Erdrinde, von welcher wir sprechen, kaum

den vierhundertsten Theil auSmachen

kann von dem Abstand

der Oberfläche bis zum Mittelpunkt der Erdkugel; wie klein, wenn wir bedenken, daß unsere ganze Erde nur ein Stern in

dem Planetensystem und nur

ein Stäubchen in dem großen

72

Weltall ist! Rach diesem Maaßstabe gemessen, ist alle mensch­ liche Wissenschaft klein, und der Gedanke: Gott allein ist groß, dessen Wink Weltkugeln hervorbrachte und dessen LebenSodem Millionen von Wesen ins Dasein rief, die, ungesehen von unS und für unser Auge unsichtbar, alle Freuden ihres Daseins in einem einzigen Wassertropfen genießen, dieser Gedanke durch­ bebt unseren Busen, und wir werfen uns in den Staub mit unserer stammelnden Weisheit!

Anmerkungen.

') III. Th. 2. Stück. Amsterdam 1824. S. 247 u. ff. *) Haüy, Trait£ de Mineralogie. See. edit. I. 1832. p. 368, und Fontenelle, Eloges des Academiciens, T. p. 210, wo eS angeführt wird. 3) Haüy a. a. O. p. 415. Marmor pictorium, regiones vel urbes desolatas representans. Wallerius, Syst. mineralog. I. 137. 4) Lithographiae Wirceburgensis Specimen primum, quod praeside D. J. B. A. Beringer pro suprema doctoratus medici laurea publicae disquisitioni submittit G. L. Hu eher. Wirceburgi 1726. Fol. *) Des singularit^s de la nature 1786, Ch. 12 —14 (Oeuvres completes en IV Vol. Paris 1833. III. p. 3884. 3885). •) So z. B.: M. D. 8. Büttners Rudera Diluvii Testes i. e. Zeichen und Zeugen der Sündstuth. Leipzig 1710. 4to.; Jos. Monti De Monumento diluviano nuper in agro Bononiensi detecto Dissertatio. Bononiae 1719. 4to. T) C. Linnai, Oratio de Teiluris habitabilis incremento. L. B. 1744. 8vo. „Qui baec omnia diluvio adscribit, quod cito ortum, cito transiit, is profecto peregrinus est in naturae cognitione et ipse coecus aliorum oculis videt, si quid videt.“ Vergl. auch Buckland, Geology ard Mineralogy (Bridgewater Treatise). London 1836. I. p. 16. 17. Ebenso muß man über die Hypothese de Lue'S urtheilen, nach welcher das antidiluvianische feste Land eingesunken wäre. ®) J. F. Schouw, Natur - Skildringer. Kjöbenhavn 1839. 8vo. p. 24. 25. Auch aus den zwei folgenden Seiten habe ich mich dann und wann der Worte dieses vortrefflichen dänischen Naturforschers bedient.

74 •) Ad. Brongniart setzt als zweite Periode die des bunten Sand­

steins zwischen die Steinkohlenformation und den Muschelkalk; Ueberreste von Pflanzen sind hier jedoch nur sparsam und nicht charakteristisch, weshalb wir seine dritte Periode als die zweite betrachten; sie erstreckt sich vom

bunten Sandstein bis zur Kreide cingeschlossen.

S. hierüber Ad. Bron­

gniart, Considerations generales sur la nature de la Vegetation qui couvrait la surface de la terre aux diverses epoques de formation de

son

ecorce.

Ann.

des

Sciences natur.

Tom.

XV.

Paris

1828.

p. 225—258; — L. Agassiz, De la Succession et du developpe-

ment des £tres organises ä la surface du globe terrestre dans les

Discours prononce ä l’inauguration de

difflrens ages de la nature. l’Acad^mie de Neuchätel.

1841.

8vo.

Schon früher hatte (5 u v i e r

in seinem bekannten Discours sur les Revolutions

globe, die Hauptzüge ausgestellt. Zieme Edition.

les conches.

Paris 1825.

de la surface du

Recherches sur les ossemens fossiles.

I. p. 54—58.

Rapport des especes avec

IV Ueber das Lesen cdcr

den Umgang mit Büchern.

Ueber das Lesen.

§60 wie unser Körper zur Erhaltung deS Lebens fortwährend

der Nahrung bedarf, so kann auch unser Geist ohne Nahrung

nicht leben, sondern welkt hin und stirbt ab.

Diese Nahrung

für unseren Geist ziehen wir ebenso aus dem, waS unS um#

giebt, wie die für unser körperliches Dasein aus der umgebenden Natur entlehnt wird.

Der Geist giebt Nahrung dem Geiste.

Umgang mit Anderen verschafft uns, die wir gesellige und keine selbstgenügsame,

auf sich

selbst

beschränkte

Wesen

sind,

daS

nährende Wort, welches eben so sehr zu unserem Leben nöthig ist, wie daö Brod für unsere niederen Bedürfnisse. Wir könnten, meine Zuhörer, diese Vergleichung leicht weiter

sortsetzen.

Eben so wie die körperliche Nahrung aufhört nützlich

zu sein, wenn sie nicht gehörig durch einen gesunden Magen verdaut und dann in die Lebenssäfte ausgenommen wird; ebenso

wie sie nicht verarbeitet werden kann, sondern Uebersättigung und Ekel verursacht,

wenn sie unmäßig oder ohne gehörige

Erholung beinahe unausgesetztgenoffen wird: ebenso kann auch die Nahrung des Geistes, wie gesund auch an sich selbst, nichts

nützen, wenn wir sie nicht gehörig verarbeiten, in unser eigenes

78 Wesen

ausnehmen und mit demselben

gleichsam

vereinigen,

oder wenn wir unmäßig darin schwelgen und ohne Erholung

daS Eine auf daö Andere folgen lassen.

Unmäßiger Hunger

ist schon eine krankhafte Erscheinung, und der vorsichtige Arzt fürchtet, daß ein innerlicher Fehler deS Organismus, welcher

verhindert,

daß das wirklich Nahrhafte aus den Nahrungs­

mitteln ausgenommen und angecignet werde, sich später als Ab­

zehrung und Schwindsucht offenbaren werde; ebenso ist zügel­ lose Wisssucht eine Krankheit,

die sich später immer an dem

welken, kränkelnden und gedrückten Geist offenbaren wird.

Es ist jedoch jetzt meine Absicht nicht, diesen Gegenstand

weiter fortzusetzen.

Ich wollte Sie nur auf eine bestimmte Art

der Geistesnahrung Hinweisen, von welcher wir Alle Gebrauch, und, wie ich fürchte, auch Alle hin und wieder Mißbrauch machen. Ich meine das Lesen.

Schenken Sie mir Ihre geneigte Auf­

merksamkeit, wenn ich zu Ihnen über denUmgangmitBüchern

spreche, so wie dieser wahrhaft nützlich für unS sein kann, wenn

wir denselben mit dem Umgänge mit Menschen verbinden und wenn wir beide abwechseln lassen mit der Einkehr zu und selbst, mit eigenem, selbstständigem Nachdenken, um dadurch unsern Geist

zu unterhalten, zn nähren und zu stärken. ES besteht in der That ein enger Verband zwischen unserem

Umgang mit Büchern und mit Menschen, zwischen unserem Lesen und unserem Verkehr mit Anderen; in der Wahl unserer Lectüre und unseres Umgangs drückt sich oft unser eigenthümlicher Charakter

deutlich auS.

Verhältnisse verschiedener Art können darin Ver­

änderungen hervorbringen, doch der Grundzug wird deshalb nicht verwischt.

Verhältnisse können verursachen, daß der Ge­

schäftsmann mehr auf den Umgang

mit Menschen beschränkt

wird und seinem Umgänge mit Büchern größtentheils Lebewohl sagen muß; aber er, der einmal Geschmack für höhere Geistes-

79 bildung erlangt hat, kehrt doch, und wenn auch nur heimlich und verstohlenerweise, zu seinen geliebten Büchern zurück, um dort eine kräftigere Nahrung für seinen Geist zu finden, als

ihm oft in jenem Umgänge mit Anderen geboten wird. ist

auch

keineswegs gleichgültig,

diesen Geschmack an

Es

guten

Büchern bei uns lebendig zu erhalten, erfreuten wir unS auch des Umganges der besten und edelsten und gebildetsten Freunde.

Sie können uns entrissen werde», diese Freunde; durch Ver­

änderung des Lebenölooses oder Wohnortes kann eS einsam um uns werden;

beim Fortschreiten aus der Lebensreise überleben

wir Vieles, das uns theuer war, und mehr als einmal habe ich aus dem Munde Derer, die sich bei dem Steigen der Jahre

den Arbeiten deS GeschästslebenS entzogen hatten, die fruchtlose Klage gehört, daß sie keinen Geschmack am Lesen fänden! Daher sehen wir kindische Greise, welche die Langeweile als ihren Be­ gleiter überall mit sich herumführen und in geselligen Kreisen und

Vereinigungen, die ost nichts anderes sind als die Begräbniß-

plätze aller wahren Geselligkeit, die schleppenden Stunden zwischen Kartenspiel und Tabackörauch verträumen.

Erschrecken Sie vor

solch einem Alter, meine Zuhörer: wohlan denn, eine gut ge­

leitete Wahl Ihrer Lectüre wird Ihnen ein Mittel an die Hand

geben, um davon befreit zu bleiben, und, wenn Ihr Leben sich ausdehnen wird, bis des Lebens Winter die silberne Krone deS

Greisenthums auf Ihr Haupt setzt, Ihnen diese Krone zu einem wahren Schmucke machen; so daß junge Freunde mit Ehrer­

bietung Ihren Worten lauschen und mit Eiser Ihren lehrreichen Umgang suchen werden.

Um bei diesem Gegenstände einer geregelten Ordnung zu folge», wollen wir aus vier Hauptsachen unsere Aufmerksamkeit

richten.

Was müssen wir lesen; Wie viel müssen wir lesen;

Wie müssen wir lesen; Um was muß es unS dabei vor Allem

80 zu thun sein? Die Wahl, daS Maaß, die Weise und der

Zweck unserer Lektüre, daS sind, mit anderen Worten, die vier Hauptgegenstände, bei welchen wir zu verweilen haben.

I.

Wenn

Kopenhagen

wir

in

London,

großen

die

Paris,

öffentlichen

Berlin

Bibliotheken

oder

betreten,

wo einige hunderttausend Bücher die weiten Säle auöfüllen,

dann fühlen wir uns gedrückt durch den Jahrhunderte hindurch angewachsenen Schatz menschlichen Wissens, und werden schwind-

lich von diesem Ueberfluß.

Nehmen wir eines jener Bücherver­

zeichnisse in die Hände, deren

uns Deutschland jährlich zwei

liefert, und sehen wir, welch' eine übergroße Mannigfaltigkeit

von Schriften ein einziges Halbjahr inS Dasein ruft, dann

entsinkt unS der Muth und die Lust, in diesen Irrgarten einzu­ treten.

Doch, wenn wir uns von diesem ersten verwirrenden

Eindruck einigermaßen wieder erholt haben, und unser Verstand

sein regelndes und ordnendes Vermögen wieder vorwalten läßt, dann überzeugen wir unS bald, daß hier Vieles wegfällt, was wir, als für einen anderen Leserkreis bestimmt, nach unserem besonderen Standpunkte nicht einzusehcn brauchen.

Auf diesen Standpunkt gebracht werden.

muß dann unsere Wahl zurück­

Dem eigentlichen Gelehrten von Beruf ist

durch sein bestimmtes Fach des Studiums und der Wissenschaft die Wahl angewiesen.

ES giebt bei vielen, vorzüglich bei jungen

Menschen von großem Talent, eine vorübergehende Sucht, Alles

zu wissen, um, wie man es ausgedrückt hat, die ganze intellektuelle Welt zu erobern.

Doch wir sagten es schon, cS ist bei ihnen

eine vorübergehende Sucht; denn, wofern sie ihnen bleibt, ent­ artet diese Wißbegierde bald in eine Vielwifferei von allerhand Sachen, die Wenige wissen, weil sie in der That die Beachtung

81 Wenig«! verdienen. Es entsteht eine Sucht, Bücher anzusammeln,

die kein Ende hat, und der gesammelte Schah ist zuletzt, wenn

der Sammler ihn nicht selbstsüchtig verschließt, für Jeden nützlich,

den Besitzer ausgenommen.

Er, der in das Wesen der Wissen­

schaft einzudringen wünscht, muß sich vor einer Bücherkenntniß hüten, welche verhindert, den Inhalt der Bücher kennen zu lernen. Die Anlockung zu dieser verkehrten Richtung ist jedoch groß, weil solch' eine Bücherkenntniß der Eitelkeit schmeichelt,

und,

wahrend sie unserer Trägheit zum Nachdenken Nahrung giebt, und die selbstständige Thätigkeit deS Geistes unterdrückt, unS

gleichwohl mit der Täuschung schmeichelt, daß wir thätig seien,

obgleich wir eigentlich mir beschäftigt genannt werden können. Doch es sind nicht die Gelehrten von Berus, von welchen

ich jetzt hauptsächlich sprechen will.

von

welchem Stande

Ich meine Männer, die,

und Range sie auch sein mögen,

Geistesbildung Werth legen.

Ihre

auf

Lectüre wird jedoch noch

verschieden sein, und kann bei Jedem von ihnen gleich gilt sein, wenn sie nur nach dem bestimmten Standpunkte seiner socialen

Stellung und seiner natürlichen Anlage eingerichtet ist.

So giebt

eö auch eine andere Lectüre für Frauen, eine andere für Männer,

eine andere für die Jugend, eine andere für die reifere Lebens­ zeit, eine andere für das Alter.

ES scheint also, daß hier keine

allgemeinen Regeln vorgeschrieben werden können, und daß ich auf die Frage:

WaS müssen wir lesen? meinen Zuhörern die

Antwort schuldig

bleiben

muß.

Inzwischen glaube ich,

daß

wirklich einige allgemeine Regeln für diese Wahl gegeben werden

können, und wäre eS denn auch nur, daß solche Regeln mehr

von verneinender alS von bestimmender Art wären, das heißt, mehr anweisen, was man nicht lesen,

soll.

als was man lesen

Will man seinen guten Geschmack für gesunde und kräftige

Nahrung nicht verderben, dann muß man sich nicht angewöhnen,

6

82 zu allen Stunden des TageS Näschereien zu sich zu nehmen. Kleine Erzählungen, Novellen, wie die Deutschen sie nennen, womit ihre Taschenbücher gewöhnlich angefüllt sind, und welche den gemischten Theil der meisten Journale einnehmen, welche in unseren Lesekreisen wöchentlich von dem einen Hause

zu dem anderen getragen werden, können, wenn sie mit Talent geschrieben und mit einem ächten Beobachtungsgeiste durchzogen sind, dann und wann eine leere halbe Stunde ausfüllen oder

eine Lectüre für den Theetisch abgeben; aber wer nichts Andereliest, als solche Kleinigkeiten, wird seine Zeit nutzlos vergeuden und allmälig alle Fähigkeit für bessere Nahrung verlieren. —

Auch würde ich diesem noch eine andere, mehr allgemeine und belangreichere Bestimmung hinzufügen

können.

Man braucht

nicht allein, man braucht nicht vor Allem neu erschienene Bücher

zu lesen.

Wir haben gesagt, daß in dem Umgänge mit Büchern

und mit Menschen oft derselbe Charakter sich offenbare, und wir dürfen jetzt auch wohl hinzufügen, daß bei der Wahl von

beiden, sowohl der Bücher, welche wir lesen, als der Menschen,

mit welchen wir gesellschaftlichen Verkehr suchen, oft dieselben Re­ geln gelten.

Mögen Sie auch eine Zeitlang Behagen finden an

dem witzigen Anekdotenerzähler, der in geselligen Kreisen Ihnen auch über daö hundert- und hundertmal Gesagte ein unwillkühr-

licheS Lächeln abzuzwingen weiß: wenn er nichts Anderes als

ein witziger Erzähler ist, werden Sie ihn, denk' ich, doch nicht zu Ihrem vertrauten Freunde wünschen.

Und was würden Sie

von den Bewohnern einer großen Stadt urtheilen, die vorzüglich unter Fremden oder Neuangekommenen Bürgern die Theilnehmer

ihres geselligen Umgangs suchten? Unter den neuen Stadtgenossen

können vortreffliche Menschen sein, und eS würde störrige Un­ freundlichkeit zeigen, wenn man der Gelegenheit, mit ihnen in

Berührung zu kommen, auSweichen wollte; aber sie vorzüglich

83 aufzusuchen,

als wäre erst mit ihrer Ankunft ein gesellschaft­

licher unser würdiger Verkehr für uns möglich geworden, würde Leichtsinnigkeit und leere Eitelkeit verrathen.

Und dieser Leicht­

sinnigkeit und hohlen Eitelkeit machen wir uns in unserem Um­

gänge mit Büchern nur gar zu oft schuldig.

Die alten Freunde

stehen vergessen, und wenn wir nur einen einzigen Blick auf

sie werfen wollten, so würden wir leicht einsehen, daß wir bei dem Tausche oft nichts gewonnen, und daß wir dabei oft viel,

sehr viel verloren haben. Brauche ich hier hinzuzufügen, wie wenig die allgemein in unserem Lande herrschende

Gewohnheit, in Lesecirkeln die

neu herausgckommencn Bücher hcrumgehen zu lassen, solch' einer guten Auswahl förderlich ist?

Ich verkenne den Nutzen nicht,

den solche Lesecirkel stiften können;

aber,

wie bei saft allen

Sachen der Nachtheil dem Nutzen gegenüber steht und der Miß­ brauch den Gebrauch verhindert, so fürchte ich, daß hier die Schale mehr zum Nachtheile als zum Vortheile hierüberschlägt.

Man stelle sich nur die bunte Reihe von Büchern vor, die auf

diese Weise wie durch die Launen deö Zufalls auf einander folgen.

Jetzt ein Heft Predigten, dann ein französischer Roman,

jetzt wieder Betrachtungen über eine Vereinfachung der Staatöhauöhaltung,

dann wieder eine Zuschrift an diese

religiöse Gemeinde.

oder jene

Man glaube nicht, daß wir damit diese

Gewohnheit, welche aus eine wenig kostbare Weise unS Kenntniß

nehmen läßt von dem, was in der denkenden oder wenigstens

in der schreibenden Welt so vor sich geht, abgeschafft zu sehen wünschen; aber den Rath würden wir doch Jedem geben, der auf die Gesundheit seiner Seele Werth legt, bei den meisten dieser Bücher eS beim Lesen deö Titels und der Vorrede zu

lassen, sich vorbehaltend, später auf daS zurückzukommen, was

6*

84 in der allgemeinen Zujauchzung der Zeitgenossen eine Borhersagung fand der bleibenden Gutheißung der Nachkommenschaft.

II.

Betrachten wir zweitens daS Maaß unserer Lektüre.

Wie viel müssen wir lesen? Hier scheint es beim ersten Anblick noch schwieriger, allgemein gültige Regeln festzustellen.

Einiger

Regeln jedoch könnte ich erwähnen, die meistens so einfach und überzeugend sind, daß sie keiner Auseinandersetzung bedürfen. Soll ich sagen, daß unsere Lektüre schädlich, ja daß sie tadelnswerth wird, wenn sic unö die Pflichten unseres Standes und Berufes

versäumen läßt?

Zuhörer. einer

Sie werden mir hier Alle beistimmen, meine

Es ist indessen eine große Verschiedenheit zwischen

allgemeinen Beistiminung

Ausübung einer Wahrheit.

und

zwischen

der

besonderen

Over würde es Moliere'n jetzt

an Vorbildern mangeln, um die Züge seiner Femmes savantes zu

skizziren, Schi ller'n, um seine berühmte Frau zu zeichnen? Frauen, die den bescheivenen Kreis, worin vie Natur sie setzte,

und

wo sie himmlische Rosen in das irdische Band flechten

können, für den Ruf einer Gelehrten oder Savanten aufopfern, und aus Ey therea'S goldenem Buche ihre Namen ausgetilgt

sehen, um starke Geister in schwachen Körpern zu sein?

Wir

erkennen jedoch gerne an, daß diese Frauen bei uns durch den

guten Geschmack und feinen Tact des schönen Geschlechts sehr selten

sind.

Aber

sind

sie eben so selten die Beispiele von

Männern, die sich in ihrem Bücherzimmcr so sehr abschließen,

daß sie allmälig allen Geschmack für geselligen Verkehr, ja sogar

alle Theilnahme für die Zeit, worin sie leben, und für die Gesellschaft, worin sie gestellt sind, verlieren?

Wir finden also

eine allgemeine Regel: man liest zu viel, wenn man durch daS Lesen mehr Gelehrter als Mensch wird.

So hört selbst der

Gelehrte auf, ein nützlicher Gelehrter zu fein' weil er aufhört

85 ein nützlicher Mensch ju sein.

Die Natur hat unS nicht zu

Stubengelehrten bestimmt; sondern die Bestimmung des Gelehrten ist, mit seinem Lichte Anderen vorzuleuchten, es überall scheinen zu lassen und zu verbreiten.

Stellen wir uns einen Geschichts­

schreiber vor, der sich der umgebenden Menschenwelt entzieht,

um Tage und Nächte, gebückt über seinem Schreibtisch, alte

Urkunden zu durchstöbern, Pergamente zu entziffern, Diplome

zu durchsuchen und all' den Gebräuchen alter Zeiten bis in die kleinsten Besonderheiten nachzuspüren.

dieser Mann

vielerlei

und

Ich läugne nicht, daß

brauchbare Kenntnisse

ansammeln

kann, aber ich fürchte, daß sie für ihn weniger als für Andere

brauchbar sein werden.

Wie soll solch' ein Stubengelehrter eine

Geschichte entwerfen können, die sich, ich will nicht sagen durch

angenehmen und einfachen und ungezwungenen Stil auszeichnet, sondern die uns den Menschen in der Geschichte zu betrachten

giebt, die und durch pragmatische Bemerkungen fesselt und in

den Ereignissen etwas mehr sehen läßt, als eine Aufeinander­ folge von unzusammenhängenden Schauspielen?

Das menschliche

Herz, die menschlichen Triebfedern bleiben sich stets gleich, und nur der scharfsichtige Kenner deö menschlichen Gemüthes kann Geschichtschreiber fein, weil uns in der Geschichte Nichts von

Werth ist, wenn wir das Leben der Menschheit nicht darin abgespieglt sehen.

Aber wie soll er, der immer unter Büchern

und nur unter Büchern sein Leben hinbringt, diese Menschen­ kenntniß erlangen?

Von daher eine der Ursachen der hohen

Bortrefflichkeit der alten Schriftsteller. ihrer Mitbürger;

sie nahmen,

Sie lebten im Kreise

oft in hohen Würden, an der

Leitung ihres Staates Antheil, sie stritten in den Reihen ihrer Mitbürger oder führten sie an

gegen den Feind;

sie unter­

nahmen lang' dauernde Reisen, um die Sitten und Gebräuche

der Völker kennen zu lernen, und in der Schule der Erfahrung

66 gereift, schrieben sie mit all' der Umsicht, die einen durch Um­

gang gebildeten Geist kennzeichnet, daS, waS sie selbst begriffen, mit der edelsten Einfachheit nieder. — Wir haben den Geschichts­ forscher genannt, weil bei ihm mehr noch als bei einigen an­

deren — und wir sind die Ersten, solches anzuerkennen — keine

Bortrefflichkeit ohne Gelehrsamkeit denkbar ist, aber wie viel mehr gilt das Gesagte

von

schaften obliegen?

Wenn ein Naturforscher mehr aus Büchern

welche den

denen,

Erfahrungswissen­

als auS der Natur lernen will; wenn er die vielen Bücher

nicht gebraucht, um daraus daö einzige, nicht mit menschlichen Buchstaben, sondern mit göttlicher Kraft geschriebene untrügliche Buch der Natur verstehen zu lernen; wenn die Wahrheit ihm lieber ist,

wie sie durch

menschliche Weisheit

zurückgeworfen

wird, als wie sie auö ihrem Brunnen unausgesetzt ausstrahlt; wenn er sich nicht mit Liebe und Begeisterung der Natur zu­

wendet und sich, so zu sagen, an ihren Busen wirft: dann ist

er unfähig, ein wahrer Naturforscher und vielleicht nur bestimmt, ein Münz-Sammler zu werden.

Aber es ist doch so nützlich, wird man sagen, die Geschichte

der Wissenschaft zu studiren!

Ich erkenne dies gerne an, aber

ich bezweifele nur, daß ihre Erlernung die Grundlage eines

naturwissenschaftlichen Studiums ausmachen müsse. setzt Kenntniß

deS

gegenwärtigen Zustandes

Geschichte

der Wissenschaft

voraus, und er, der seines Faches Meister ist, wird auS der

Geschichte viel lernen können, waS dem Anfänger unzugänglich ist.

Man vergesse daher, und hiermit können wir diese Be­

trachtung kurz zusammenfassen, man vergesse daher bei Allem

niemals, daß wir für das Leben lernen und nicht für die Schule, und daß alle Gelehrsamkeit, wie ausgebreitet sie auch sei, daS wahre Salz verliert, wenn sie sich dem Leben entzieht und entfremdet.

87 Wie sehr wird auch in dieser Hinsicht daS Lesen mißbraucht! Biele sammeln sich Jahre lang Aufzeichnungen,

7

wenn die Untersuchung zuletzt vollendet sein wird, zu gebrauchen

hoffen.

Dabschelim,

ein König

von Indien,

so erzählt

und Herder in seinen Palmblättern, hatte eine so zahl­ reiche Bibliothek, daß hundert Braminen nöthig waren, um sie

in Ordnung zu halten, und tausend Kameele, um sie zu tragen.

Aber da er keine Lust hatte, sie ganz zu durchlesen, so trug er den Braminen auf, daS Beste und Nützlichste, waS sie darin fänden, herauszuziehen und ihm zu übergeben.

Diese Gelehrten

arbeiteten mit solchem Eifer, daß sie, nach Verlauf von zwanzig

Jahren, aus den gesammelten Auszügen einen kurzen Inhalt aller Weisheit zusammen brachten, der in zweitausend Bänden bestand, und welchen dreißig Kameele nicht ohne viel Mühe

tragen konnten.

Sie boten diesen kurzen Inhalt dem Könige

an, aber zu ihrer Verwunderung mußten sie hören, daß er die

Ladung von dreißig Kamcelen noch zu stark fände. minderten daher diese Ladung bis auf fünfzehn,

Sie ver­ danach

auf

zehn, dann auf vier und endlich auf zwei Kameele; zuletzt blieb

sogar nur so viel übrig, als zum Beispiel ein Maulesel von mittelmäßiger Größe mit Anstand tragen kann.

Zum Unglück

war Dabschelim, während man seine Bibliothek so beschnitt, alt geworden, und er zweifelte, ob er noch wohl so lange leben

würde, um dieses Meisterstück einer kurzen Vollkommenheit zu sehen.

DaS Uebrige der Erzählung gehört nicht zu unserem

gegenwärtigen Gegenstände.

Wie Viele sind nicht nach ihm alt

geworden, ohne daß sie jemals den aufgespeicherten Schatz ihrer

Aufzeichnungen in Ordnung bringen und zu einem nützlichen

Zwecke verwenden konnten!

88 III.

Wir haben dritten- zu-achten auf die Weise, wie

gelesen wird, und

auf die Weise, wie gelesen werden muß,

wenn daS Lesen dem Geiste wirklich Nahrung geben soll. Auch

hier spiegelt sich der Charakter deS Menschen im Lesen oft eben so, wie in seinem Umgang ab.

mal angetroffen, m. H.!

Sie haben sie sicher wohl ein­

Leute, vorzüglich in höheren Kreisen,

die mit Höflichkeit ein Gespräch mit Ihnen anknüpften, und ehe die Antwort auf Ihren Lippen war, hörten sie schon nur halb, oder ihr umherschweisender Blick suchte in dem Kreise

einen

Anderen auf, an welchen sie sich nun wenden wollten. Aus eine

theilnehmende Frage, oder wenigstens aus eine, die durch Theil­ nahme eingegeben zu sein schien, folgt Ihre Antwort, die nicht

gehört wird, und einen Augenblick darauf ist Ihnen der feine Weltmann

schon

entschlüpft,

und

Sie

sehen

ihn, in einem

anderen Theile des Zimmers, mit neuen Höflichkeitserweisungen beschäftigt.

Solch eine

höfische Behandlung

widerfährt auch

oft den Büchern; doch ich brauche nicht zu sagen, daß solch ein aristokratisches Blättern in einem Buche kaum Lesen ge­ nannt werden kann. DaS Erste, was wir bei einem Gespräche verlangen, ist

Aufmerksamkeit auf das, waS gesprochen wird. auch

mit ungestörter Aufmerksamkeit

So müssen wir

diejenigen Bücher

lesen,

von welchen wir, zur Veredlung unseres Geschmackes oder Ver­ mehrung unserer Kenntnisse oder Schärsung unseres Denkver­

mögens, wirklichen Vortheil ziehen wollen.

Fühlen wir, daß

unsere Aufmerksamkeit ermüdet nachläßt, dann kann die Schuld an uns, an dem Schriftsteller, oder auch an Beiden liegen.

Der

Gang der Gedanken kann bei dem Schriftsteller für den Lauf

unserer Vorstellungen zu schnell sein, manchmal ist er auch zu langsam.

Wie ermüdet es nicht, wenn wir mit Jemand im

Gespräche sind, der uns die Sylben der Worte mit gemachter

89 Würde zuzählt, oder der durch einen oder anderen Fehler seiner

Stimmwerkzeuge genöthigt ist, diesen abgemessenen Gang seinen Worten zu geben?

ES kann ebenso mit einem Buche sein, und

wenn der Inhalt alsdann nicht so belangreich und nützlich ist,

daß wir dabei die Form vergessen, dann ist es rathsam, solch' ein Gespräch oder solch' eine Lectüre, so eilig als cs nnS mög­

lich ist, abzubrechen. — Liegt dagegen die Schuld an uns, und erheischt unser

ermüdeter Geist Erholung,

unser abgezogenes

Nachdenken Zerstreuung, dann thun wir sicher am besten, unseren

Körper nicht zu quälen, und uns vor einem gedankenlosen Fort­

lesen mit den Augen zu hüten, während der Geist abwesend ist. Aber soll der Umgang mit Menschen nns wahrhaft nützlich

sein, dann müssen wir unS in ihren Zustand so viel als möglich versetzen, und nicht blos den Wiederklang von uns selbst in dem hören wollen, was Andere

sagen.

Wie manches

Buch

bleibt nicht für unS ohne Frucht, blos weil wir unsere geliebten

Vorstellungen, unsere Meinungen und Systeme nicht darin an­ treffen, oder weil es aus einer Schule hervorgegangen ist, aus

welcher, wie wir einmal glauben, nichts Gutes kommen kann!

Dieser Einseitigkeit machen wir uns oft schuldig, und sie würde noch einigermaßen verzeihlich sein, wenn sie nicht häufig gepaart

ginge mit einer Aburtheilung über das nicht Untersuchte, welche

die Verdienste Anderer auch bei dem Publikum in den Schatten

zu stellen bemüht ist, sobald diese nicht zu unserer wissenschaftlichen oder gelehrten Partei gehören. Wenn ein verständiger Mann aus geselligen Umgang wirk­ lich Werth legt, dann darf er sich größeren Kreisen nicht ent­

ziehen, immer jedoch wird er die Zahl seiner vertranten Freunde nicht

zu

sehr auszubreiten suchen.

Vorsichtig

und

behutsam

wird er in seiner Wahl sein; aber hat er einmal in Wahrheit

sein Vertrauen auS guten Gründen in Jemand gesetzt, besteht

90 zwischen ihm und seinen Freunden eine Verwandtschaft, die, auS

der Seele entsprossen, das ganze Leben beherrscht, dann kehrt er aus größeren Kreisen stets zu seinen vertranten Freunden zurück, um mit neuem Behagen in ihrem Verkehre Nahrung

für Herz und Verstand zu finden. Lectüre sein.

So muß es auch mit unserer

Einige Lieblingsschriftsteller

deren fortwährendes Lesen und

müssen

wir haben,

mehr Vortheil bringen wird,

als der ansgebrcitetste Bücherschatz unö liefern kann.

Der ge­

lehrte Drost von Muiden, unser großer Hooft, hat seinen geliebten Tacitus zwei und fünfzig Mal durchgelesen.

So

oft wir den Versuch machen, werden wir finden, daß ein vor

Jahren von unö gelesenes Werk, wenn wir es wiederum lesen, nicht vollkommen denselben Eindruck auf uns macht, wie früher.

Dies ist auch natürlich.

Wir sind inzwischen verändert, und

wenn wir unser Leben nicht nutzlos verbringen, ist unser Urtheil

reifer, unsere Erfahrung reicher, unser Geschmack edler geworden. Entdecken wir, daß, Verstandes und

bei diesem veränderten Zustande unseres

Gemüthes,

eine derartige Schrift uns

noch

mehr behagt, als früher, daß wir neue Wahrheiten und unge­

kannte Schönheiten darin gewahren, die uns beim ersten Lesen entgangen waren, dann werden wir eS bei diesem zweiten Lesen

nicht lassen.

Ein solches Buch wird nnS endlich theuer, weil

eS für unö die Geschichte unseres Geistes umfaßt und wir bei einem wiederholten Lesen Nutzen alS zuvor

jedesmal bemerken, daß

daraus ziehen.

wir mehr

So werden wir mit dem

Geiste des Schriftstellers durchdrungen, und selbst unser Geist

durchdringt daö Werk deS Schriftstellers, so daß wir Sachen und Gedanken darin antreffen, von welchen es zweifelhaft sein

kann, ob sie ganz darin liegen, die wenigstens von Anderen

nicht so leicht darin bemerkt werden, aber die wir auch nicht ganz als die unsrigen betrachten können, weil wir sie unter der

91 Leitung unseres Lieblings - Schriftstellers gesunden und gebildet

haben.

Es ist gerade wie mit dem Umgang unter vertrauten

Freunden; an diesen kann ein diesem Kreise Fremder nicht das

Behagen finden, ja, er wird sie oft nicht einmal großer Beachtung

werth halten.

So wollen wir denn auch über die Wahl jener

Lieblingsschriftsteller mit einander nicht rechten; die Wahl des Eine» braucht nicht die eines Anderen nnd kann nicht die von

Allen fein; aber Alle, die aus einer Lectüre von gutem Geschmack und tüchtiger Wissenschaft wahre und dauerhafte Fruchte ziehen

wollen, müssen einzelne auserwählte Bücher haben, die sie nie­ mals bei Seite legen, als um sie nach kürzerer oder längerer

Zeit mit neuem Vergnügen und erhöhetem Interesse wieder in die Hand zu nehmen. Wir haben hier zugleich ein Kennzeichen des guten Ge­ schmackes.

gelernt,

Haben wir einmal die großen Schriftsteller kennen

die von dem späten Nachgeschlechte immer noch

als

Muster deS guten Geschmackes gerühmt werden und die mit unsterblichen Lorbeeren um ihre Stirnen prangen, und finden wir

unter diesen allen nicht einige oder auch nicht einen, dessen Schriften wir zwei- oder mehrmal oder fortwährend zu lesen und zu überdenken wünschen, dann bleibt für unö kein anderer

Rath übrig, als der, welchen der Greis in Gellert's Erzählung einem jungen Gelehrten gab, fortan nur Zeitungen zu lesen.

IV. umfaßt

Eine belangreiche Frage bleibt unS noch übrig.

gewissermaßen

alle

die übrigen,

die

auch

Sie

erst nach

ihrer Beantwortung eine bestimmte Lösung finden können; wir werden daher bei ihrer Betrachtung oft auf daS schon Ver­ handelte zurückgewiesen werden.

Lectüre?

WaS ist der Zweck unserer

Um waS muß eS unS dabei vorzüglich zu thun sein?

Das ist der vierte und letzte Gegenstand, bei dem wir zu ver-

92 weilen haben und zu dessen Betrachtung ich Ihre erneuerte Auf­

merksamkeit bescheiden anrufe. Manche

lesen

wie man es nennt.

zum Zeitvertreib

oder

zur Zeitabkürzung,

Es giebt Augenblicke selbst im Leben des

thätigsten Menschen, in welchen man Ruhe und Abspannung

nöthig hat; es giebt Umstände, in welchen der Geist durch andere Gegenstände nicht hinreichend beschäftigt erhalten wird, und in

welchen man gerne ein Buch in die Hand nimmt, dessen Lesen keine große Anspannung erheischt und daS uns durch launigen Stil

oder durch Mannigfaltigkeit der Gegenstände behagt und anzieht.

Wir sind weit davon entfernt, m. H., eine solche Lectüre geradehin

zu mißbilligen; rauhe Sittenlehrer mögen solch eine Abspannung

verurtheiken, der aber, der kein Fremdling ist im menschlichen

Gemüth,

er, der sich selbst unparteiisch beobachtet, kann solch

ein Urtheil nicht fällen.

Doch man halte wohl fest, es dürfen

nur Augenblicke und Zwischenstunden sein, und was, so genossen, verzeihlich und sogar heilsam sein kann, wird nachtheilig und

tadelnswerth, sobald eS nur eben diese Grenzen überschreitet.

Auch wünschte ich wohl, daß die Worte: Zeitkürzung und

Zeitvertreib aus unseren Wörterbüchern könnten gestrichen werden. Der Vater der Heilkunde, Hippokrates, nannte schon das Leben kurz und die Kunst lang;

und seine Nachfolger,

welche auch ihre Verdienste sein mögen, haben daS Geheimniß

noch nicht gefunden, um die Kunst kürzer zu machen.

Wohl

hat ein Arzt, der ein Menschenkenner und zugleich Menschenfreund war, der berühmte Hufe land, ein Buch geschrieben Ueber

die

Kunst,

das

menschliche

Leben

zu verlängern;

und Wer wird daS Bestehen einer solchen Kunst mit entschiedenem

Tone ganz abläugnen können,

wenn wir leider die täglichen

Proben sehen, die Viele von ihren Fortschritten in der Kunst geben, daS

menschliche Leben zu verkürzen? Aber wäre diese

93 Lebcnsvcrlängcrungs-Kunst auch noch so sehr gefördert, das Ergebniß der Befolgung ihrer Regeln, steht nicht in unserer Gewalt.

wir wissen eS Alle,

Es giebt hingegen eine andere

Lcbenskniist, die wir in unserer Macht haben: durch fortwährende Thätigkeit, durch den Gebrauch des und gegebenen Heute, daS morgen schon kein Heute mehr ist.

Nickt durchlebte Tage,

sondern vollbrachte Thaten sind der Maaßstab, wonach wir dann

die wahre Lebensdauer berechnen müssen; können wir die Flügel nicht verkürzen, womit die Zeit rastlos vorbeieilt, so müssen wir

keinen Augenblick ungenutzt vorübergehen lassen, und das Wort Zeitabkürzung bars nicht aus unsere Lippen kommen, weil unser

Gewissen uns

stets das große Losungswort des

Lebens ins

Gedächtniß rüst: Wirket während es Tag ist!

Andere lesen, und das ist sürwahr kein löblicherer Grund, anö Eitelkeit.

Ihn meinen wir hier nicht allein, der mit einer

vielseitigen Gelehrsamkeit zn glänzen und sich einen Namen zu

machen wünscht in der literarischen Welt, nicht dadurch, daß er selbst etwas GutcS, daS neu und ursprünglich wäre, hervor­ brächte , sondern dadurch, daß er weiß, was Andere vor ihm gedacht, gcmnthmaßt und geschrieben haben.

hat eine mehr allgemeine Beziehung.

Unsere Bemerkung

Es gehört nun einmal

in gewissen Kreisen zn den ersten Erfordernissen, daß man etwas Neues gesehen oder gehört habe; ohne dieses kann man darüber

nicht mitsprechen.

Die

meisten heutigen großen Städte sind,

gleich dem alten Athen, mit Bürgern und Fremden angefüllt, die für nichts mehr ihre Zeit übrig haben, alö um was Neues zu sagen und zu hören.

Kaum ist, um nur Eines zu erwähnen,

ein berühmter Virtuose angekommcn, und Alle, die zu diesen Kreisen gehören, und hätte auch die Natur ihnen allen Sinn

für Maaß und Ton stiefmütterlich versagt, strömen hin, und die

übertriebensten

Preise,

auf welche der reisende

Künstler

die

94 Prüfung seines Talentes setzt, können oft eben so wenig, als die erstickende Luft eines

mit Menschen überladenen SaaleS,

selbst den Bescheidensten zurückhalten. so mit Büchern?

Ist es nicht auch häufig

„Haben Sie eS schon gelesen?" sagt Ihnen

der Eine; — der Andere: „Sie müssen es lesen!" ein Dritter:

„Sie haben eS sicher schon gelesen"; und, wenn Ihnen Ihre Ruhe lieb ist, so müssen Sie das Buch lesen, blos weil Andere

es so wollen. Es können in der That nur drei Hauptabsichten gedacht wer­

den, mit welchen wir ein Buch lesen müssen: nämlich entweder um unseren Geschmack zu bilden, oder um unsere Kenntniß zu ver­

mehren, oder um unser Urtheil zu schärfen und unsere Denk­ kraft zu stärken; und alle diese verschiedenen Zwecke fließen in

einem zusammen: nämlich um fortzuschreiten in unserer Ent­

wickelung und Vervollkommnung. Wir sagten, eS ist, um unseren Geschmack zu bilden.

Die

Griechen riethen demjenigen, der bei dem Besitze aller übrigen

Vortrefflichkeiten der Anmuth ermangelte, den Grazien zu opfern. Anmuth ist eine Schönheit, die nicht durch die Natur gegeben, sondern

durch den Menschen selber

hervorgebracht wird;

sie

veredelt auch daö, was minder schön an sich selbst ist, und läßt

unsere Wahl oft auf daS minder Schöne fallen, während eine vollkommenere,

aber der Lieblichkeit der Grazien entbehrende

Schönheit und kalt läßt.

Nach dieser Anmuth müssen wir Alle

streben, weil sie uns angenehm macht bei unseren Mitmenschen, und ohne ihren Besitz unsere besten Bemühungen oft ganz fruchtlos

bleiben werden. Ein veredelter Geschmack, fern von aller Manierirt-

heit, lehrt unö, in Allem das rechte Maaß zu bewahren und stets

das Passende und Natürliche vor dem Uebertriebenen und Ge­ suchten

zu

wählen.

Durch

diesen

guten

Geschmack

geleitet,

streben wir nach Allem, waS schicklich und harmonisch ist, und

95 eine edle Einfachheit wird das Kennzeichen all' unseres Sprechens

und Handelns. Um unsere Kenntniß zu erweitern,

lesen

wir diejenigen

Schriftsteller vorzüglich, die über die Gegenstände, welche sie

behandeln,

durch eigene Untersuchung urtheilen

können,

und

keineswegs diejenigen, die von anderen entlehnen, waö sie uns mittheilen, und so durch fremde Augen sehen.

Alle selbstständigen

Schriftsteller verdienen also den Vorzug vor Kompilatoren, die auS neun und neunzig Büchern das hundertste zusammen­

gestellt haben.

Der Besitz der Wissenschaft wird und mehr und

mehr theuer, weil wir täglich einsehen, daß Kenntniß eine Macht

ist, welcher in der menschlichen Gesellschaft viel unterworfen ist, und welcher sich vorzüglich Diejenigen nicht ungestraft entziehen

können, die durch daö LooS der Geburt oder die Launen einer

grilligen Fortuna zu Führern oder Herschern ihrer Mitbürger

erhoben

sind.

Die Geschichte,

die

unerbittliche,

scheidet die

Wahrheit von dem Scheine und lehrt uns die Nichtigkeit aller

Größe, die nicht aus wahren Verdiensten entsprang.

Die Untersuchungen der Naturforscher lehren uns die einzigen und unveränderlichen Gesetze kennen, nach welchen die höchste Weisheit das große Weltall bis in die kleinsten Theile hinein

regelt und leitet.

Hier werden wir durch Männer eingeführt,

die als Wohlthäter nicht eines Volkes, sondern der ganzen

Menschheit, nicht ihrer Zeit, sondern aller Zeiten, mit unverwelklichen Kronen geziert sind.

Ein englischer Schriftsteller hatte

vielleicht nicht ganz Unrecht, alö er sagte, daß der Ruhm eines jeden Staatsmannes, den sein Land hervorgebracht habe, un­

bedeutend sei in Vergleich mit dem Lord Bacon'ö, Newton'S und Boyle'ö.

Um unser Urtheil zu schärfen, endlich, lesen wir philoso­

phische Schriften aller Völker und Zeiten; wir sehen selbst in

96 den Irrthümern des speculirenden Verstandes die nothwendige Entwickelung des Geistes der Philosophie, und der Streit der

Meinungen erschüttert unsere Ueberzeugung von dem Bestehen

einer

Philosophie

nicht,

von der alle Systeme

unvoll­

nur

kommene oder einseitige Versuche sein mögen, aber welche gleich­

wohl stets aus dieselben großen Gegenstände, auf den Ursprung,

den Werth und die Gewißheit der menschlichen Kenntniß zurück­ weisen. — Wir gehören sicher nicht zu Denen, m. H.! die, durch die Klagen über unser Jahrhundert ganz entinuthigt, srühcre

Zeiten über die erheben wollen, in welchen wir leben.

Aber

man braucht doch nur ein für Wahrheit und Recht fühlendes Herz im Busen zu tragen, um mit dem, waS geschieht und um uns vorfällt, ost in Widerspruch zu fein.

Wie Viele sieht man

nicht, die das Gute weder wollen, noch thun!

Wie Viele, die

es zwar wohl wollen, aber nickt thun, und wie Wenige giebt eS,

die mit dem Willen auch einen beharrlichen Eifer

paaren, um das Gute zu wirken und zu befördern.

Wie oft­

mals sieht man Unfähigkeit und leicktsinnige Selbstgefälligkeit sich voran drängen und bescheidene Verdienste

und Stillsitzen zwingen.

Wie sieht man

zum

Weichen

in unserem ganzen

Weltthcil fast einen Principien-Streit, in welchem das Edelste

oft unterliegen muß, weil eö durch Unwürdige mißbraucht wird

zum Deckmantel ihrer niedrigen Absicktcn; wie sieht man Willkühr

Alles

durcheinander mengen, so daß

Verwirrung fast genöthigt wird zu fragen,

man

bei

so viel

ob eine Vorsehung

wacht und sorgt für daö Geschick der Menschheit, und man bei

den Saaten der Zwietracht, die überall üppig auöschlagen, oft den bekümmerten Gedanken nicht unterdrücken kann: was wird doch das Loos unserer Kinder sein!

Drücken diese Beobach­

tungen Sie nieder, steigen diese Bekümmernisse in Ihnen auf

97 schlagen Sie dann, m. H.! das Buch der Geschichte auf.

Sehen

Sie, wie manchmal das Licht, wie auf höheren Befehl, auS der Finsterniß zum Vorschein kam; oder trösten Sie sich mit

den schönen Erwartungen und Aussichten,

welche die

Edlen

unseres Geschlechts in ihren unsterblichen Schriften zu unserer

Ermuthigung verkündigt haben. dem Kampf des Lebens,

Stärken Sie sich dadurch zu

zur unausgesetzten AuSharrung

im

Guten und zur unwandelbaren Ueberzeugung, daß ein höheres Wesen wacht und sorgt über der Menschen Treiben und Schicksal.

AIS der König von Indien, von dessen Geschichte wir Ihnen auö Herder's Palmblättern den Anfang mittheilten,

und die wir jetzt fortsehen wollen, als Dabschelim, die Hoff­ nung aufgegeben hatte,

noch vor seinem Sterben den kurzen

Auszug auS seiner Bibliothek vollendet zu sehen, frug er in dieser dunkelen Sache seinen weisen Vezier um Rath, der also

zu ihm sprach:

„Großer König,

obgleich

ich die Bibliothek

Eurer Majestät nicht genugsam kenne, so getraue ich mir doch wohl int Stande zu sein, davon einen sehr kurzen und ziemlich nützlichen Auszug machen zu können.

Sie können ihn in wenigen

Augenblicken lesen und Sie werden so viel darin finden, daß

Sie Ihr ganzes Leben genug haben werden, um darüber nach,

zndenken."

Er nahm ein Palmblatt und schrieb mit einem gol,

denen Griffel darauf:

„Die

meisten Wissenschaften

enthalten

allein das einzige Wort Vielleicht.— Liebe, was Wahr ist, und sage nicht Alles, was Du denkst. —

ES giebt kein Glück

ohne Tugend und keine Tugend ohne Gottesfurcht."

Die meisten Wissenschaften enthalten allein dieS eine Wort Vielleicht.

Wer erinnert sich hier nicht an SokrateS, der

darum durch das Delphische Orakel für weiser als alle Ande­

ren erklärt zu sein behauptete, weil alle Anderen vorgäben, zu

wissen, waS sie nicht wüßten, und er allein wisse, daß er Nichts

7

98 wisse!

halten.

Hüten wir uns, diese Worte für einen leeren Klang zu Ein scharfsinniger Philosoph der neueren Zeit hat mit

Recht gesagt, daß Der noch nicht weit fortgeschritten sei, vor

welchem sich daS Feld der Forschung nicht mit jedem Schritte, den er vorwärts thue, weiter auSdehne.

Und wenn nun der am

meisten in der Wissenschaft Fortgeschrittene seinen ganzen Schatz

vergleicht mit dem, was man wissen könnte; wenn er bedenkt, wie alles

das,

was Menschen wisse»,

nieder sinkt vor der

allgemeinen, Alles durchdringenden und mit einem Blick um­

fassenden Erkenntniß, die nur höheren Geistern gegeben ist und

in vollem Maaße nur bei der Goltheit wohnen kann, dann

wird die Erklärung: ich weiß Nichts, ihm auS voller Ueber« zeugung von den Lippen fließen, und ungeheuchclte Demuth und Bescheidenheit werden seine schönste Zierde sein.

V.

Ueber d i e Form.

Ueber die Form.

Hierin ein Redner den Gegenstand seiner Rede nicht zu suchen braucht, sondern ihm derselbe von vorne herein vorgeschrieben ist, wenn er spricht, weil es seine Pflicht ist, zu sprechen, sei eS zur Unterweisung, sei eS zur Handhabung der Gesetze oder zur

Vertheidigung eines Angeschuldigten,

oder

zur Verkündigung

höherer Wahrheiten; oder, wenn seine Rede durch die Veran­ lassung des TageS bestimmt ist, dann kommt eS mir vor, als

habe er viel voraus vor demjenigen, von welchem man nichts Anderes weiß, als daß er sprechen wird, und aus dessen Rede selbst man erst den Gegenstand kennen lernt, den er behandeln will.

Es scheint zwar beim ersten Anblick, alS ob der Letztere durch die größere Freiheit, welche ihm gegeben ist, im Vortheile sei.

Welch eine reiche Auswahl liegt vor ihm auf dem Gebiete deS menschlichen Wissens, die er sich von Niemand bestritten sieht,

und die nur allein beschränkt ist durch die Grenzen seiner eigenen Kenntnisse oder wissenschaftlichen Ausbildung!

Ja, scheint eS

nicht sogar, daß vielleicht diese Grenzen noch überschritten werden

können, und der Redner, mit einiger Krastanstrengung, durch

Lectüre sich auch

wohl mit einem Gegenstände,

welcher ihm

102 sonst fremd war, dermaßen vertraut machen kann, daß er vor

einem gemischten Publikum mit Selbstvertrauen und, sei eS nun zu größerer oder geringerer Genugthuung seiner Zuhörer, wenig,

stenS mit einiger Genugthuung für ihn selbst darüber verhandeln kann? Aber die reiche Wahl selbst ist hindernd!

Sprechen zu

dürfen, über waS man weiß oder wissen könnte, über daö was Anklang findet oder finden könnte, — waö soll man wählen?

Wie leicht entsteht der Wunsch, sich wieder einer Freiheit be­ raubt zu sehen, bei welcher man, auch wenn man gut gewählt hat, die Furcht nicht überwinden kann, daß doch noch eine bessere

Wahl möglich gewesen wäre. „ Wußt' ich nur einen Gegenstand! Haben Sie einen Stoff für mich?" so fragt man oft bei seinen Freunden und Bekannten herum, und so habe auch ich gefragt,

als ich, zu unvorsichtig vielleicht, dem Ersuchen Gehör gab,

vor dieser öffentlichen Versammlung als Redner aufzutreten*). Wenn Sie von mir erwarten, daß ich aus dem eigentlichen

Gebiete der Wissenschaft, der ich von meinen Kindcrjahren an mit besonderer Vorliebe zugethan war, und die ich nun schon viele Jahre hindurch lehren darf, einen Gegenstand für meinen

Vortrag auSwählte,

finden.

so werden

Sie

sich diesmal

getäuscht

ES ist mir durch langdauernde Gewohnheit fast un­

möglich geworden, über den einen oder anderen Gegenstand der

Naturgeschichte zu sprechen,

ohne mit flüchtigen Skizzen und

Zeichnungen daS Gesagte zu erläutern und zu ergänzen.

Solch

ein Vortrag würde hier ganz ungewöhnlich sein, und, da unser VersammlungSsaal zn ausgedehnt ist, um Allen ein deutliches

Sehen der Skizzen zu gestatten, seinen Zweck größtentheilS ver-

•) Dics« Vorlesung wurde im October 1845 in der Leidner Abtheilung der Gesellschaft „Zum Nutze» de« Allgemeinen" uud im Januar 1846 in der Rottcrdamnier Abtheilung der „Holländischen Gesellschaft für freie Künste und Wisse»schäften" gehalten.

103 fehlen.

Aber beim Suchen nach einem Stoffe fiel mir der

Gedanke ein, daß ich mich, auch wenn ich denselben gefunden hätte, noch um etwas Anderes bekümmern müsse.

dasjenige,

was wir gewöhnlich

Ich meine

dem Stoffe gegenüberstellen:

nämlich die Form. Ich folgte der Leitung meiner, durch diese-

Wort in mir erregten Gedanken; ich trachtete, sie in gehörige Ordnung zu bringen und zu Einem Ganzen zu vereinigen, und lade Sie jetzt ein, samkeit zu begleiten

mich

mit Ihrer wohlwollenden Aufmerk,

in der Behandlung eines Gegenstandes,

welchen ich keinen Stoff nennen kann, welcher aber, nach meiner innigen Ueberzeugung, so reich an Belehrung ist, daß eS allein meiner Darstellung zuzuschreiben sein wird, wenn ich Sie während dieser Augenblicke nicht von dessen Wichtigkeit überzeugen sollte.

Vergönnen Sie mir deshalb, m. H.! zu Ihnen zu sprechen über die Form, alö nicht minder wie der Stoff zum

Wesen der Sache gehörend.

I.

Stoff ohne Form können wir unö durchaus nicht

vorstellen; eher noch gelingt eö uns, die Form an und für sich als etwas Selbstständiges vor unseren Geist zu führen und darüber

nachzudenken.

Ein formloses Gemisch oder ChaoS möge dem

Entstehen der Welt vorhergegangen sein, aber es sind allein die Dichter, die davon sprechen, und sie würden sicherlich sehr

in die Enge gebracht werden, wenn sie unS diesen Mischmasch

durch ein klaren Begriff darstellen sollten.

Wir können unS

vom Stoff keine Vorstellung machen, ohne ihm eine bestimmte

Ausdehnung

zuzuschreiben,

und

eine bestimmte Weise bestehen.

diese

Ausdehnung

muß

auf

Die Weise nun, in welcher die

Ausdehnung besteht und welche durch die gegenseitige Lage ihrer

Grenzen bestimmt ist, nennt man ihre Form oder ihre Gestalt.

Daher ist der Begriff der Form nothwendig an den deö Stoffe-

m gebunden.

Diese Formen oder Gestalten (Figuren) stch an und

für sich, getrennt von ihrem Stoffe, vorzustellen und den merk­ würdigen

Eigenschaften der einfachsten

nachzuforschen,

macht

einen Haupttheil der Meßkunde aus. In der Schöpfung zeigt uns daö unorganische Reich, das

Reich der Mineralien, die regelmäßigsten Formen.

Wenn die

Bildung der unorganischen Körper durch keine äußeren Einflüsse gestört wird, sondern regelmäßig und langsam stattfindet, zeigen

sie Gestalten, deren genaue Symmetrie und glatte Oberfläche durch keine Kunst übertroffen werden kann.

Schon die Auf­

merksamkeit der Alten zogen sie ans sich '), und der Name, womit

wir sie noch jetzt gewohnt sind zu bezeichnen, nämlich Krystalle, ist

in

unsere

übergegangen.

gegenwärtigen

Sprachen

aus

der Griechischen

Die Gestalt nun der Mineralien ist nicht zu­

fällig, sondern ist mit mathematischer Genauigkeit bei allen be­

sonderen Arten der Mineralien bestimmt, so daß unsere Kenntniß deS Mineralrcichs sehr unvollständig sein würde,

die der Krystalle davon absondern wollte.

wenn man

Die rechten Linien

und ebenen Flächen sind keine wüllkührlichen Wirkungen deS Zufalls;

bestimmte Gesetze

haben

die Formen vorgeschrieben,

und, während unser Auge erfreut und unser Gefühl für Schönheit

befriedigt wird, sehen wir zugleich unseren Verstand durch die

Meßkunst der Natur angeregt, um nach einer höheren Einheit zu suchen. Aber nicht die ganze unbelebte Natur besitzt diesen festen

Zustand.

Auch Flüssigkeiten, tropfbar wie daö Wasser oder

elastisch wie die Luft, werden in und auf unserer Erdkugel an­

getroffen.

Hier, so scheint es in der That, besteht keine be­

stimmte Gestalt, während es vom Zufall oder der Willkühr ab­

hängt, in welcher Form diese oder jene Dämpfe, Gase und Flüssig­ keiten sich zeigen werden.

Doch wir sprechen hier, eben so wenig

165

wie bei den festen Körpern, von den möglichen Gestalten, die durch äußere Verhältnisse den Gegenständen gegeben werden

können.

Wir fragen allein, welche Form diese Stoffe, welche

aus lauter beweglichen Theilchen bestehen, annehmen, wenn das vollkommene Gleichgewicht zwischen allen festgestellt ist und un­

gestört bewahrt bleibt, und wir sehen, daß die Gestalt nothwendig

eine kugelförmige sein muß.

Besäße unser Erdball keine Un­

ebenheiten auf seiner Oberfläche, dann würde er gleichmäßig

durch eine kugelförmige Lage des Meeres umgeben sein, gerade

wie er jetzt von einer gleichförmigen, dünneren Außenlage, dem

Luftmeere, der Atmosphäre, umschlossen ist; »nd wäre unser Planet

ganz flüssig, auch dann noch würde er, wie jetzt, eine kugelför­ mige Gestalt besitzen; er besitzt diese, weil er einmal, wie auch aus anderen Gründen dargethan werden kann, ohne Zweifel flüssig war. Ich brauche nicht weiter fortzngehen aus diesem Gebiete

der unorganischen Schöpfung; daS Gesagte ist genügend.

Sie

sehen, m. H.! daß die Gestalt anch dort nicht zufällig, daß die Form mit dem Wesen der Dinge auf's Genaueste verbunden

ist.

Wenn man die Form dem Stoffe gegenüberstellt, so ist

man meistens geneigt, die erstere als dem Wechsel unterworfen,

als ein Zufälliges zu betrachten, wodurch das Wesen der Dinge

nicht verändert werde, von welchem man glaubt, daß eS allein

in ihrem Stoffe bestehe.

Diese Vorstellung scheint ihren Ursprung

in einer Vergleichung mit

weichen oder flüssigen Stoffen zu

haben, die der Mensch in verschiedene Formen gießen, oder

welchen er einen willkührlichen Stempel aufdrücken kann, den sie später bei Verhärtung behalten.

Solch ein weiches Wachs,

solch biegsamer Lehm fehlt zwar in der Natur nicht, aber die

Stoffe,

welche sich

in dieser

Weise vorsinden,

sind

sowohl

gering an Zahl als auch in einem Zustande deS UebergangeS

106 oder der Auflösung. Doch wo die Natur frei und unbehindert wirkt, dort schafft sie Stoff und Form, bestimmten Stoff und bestimmte Form mit einander; und da wir uns Stoff und Form nicht von einander getrennt denken können, so ist cS eine un­

wissenschaftliche Ansicht älterer und neuerer Philosophen, daß nämlich daS Wunder der Weltbildung begreiflich würde, wenn man eine Ewigkeit des Stoffes annchmc, dessen bestimmte Formung

durch die Gottheit — dann Schöpfung genannt werden könnte. Wie weit auch eine Schöpfung auö Nichts über unsere

beschränkte Einsicht gehen mag, wir müssen entweder sie oder die Ewigkeit der Welt annehmen.

Auch die Oberfläche der Erde zeigt unS die Macht der

Form.

Ich würbe hier von dem Verbände sprechen können,

welcher sich zwischen der natürlichen Lage, dem Klima und den Erzeugnissen der Wcltthcile und ihrer Gestalt findet.

Den

stärksten, sprechendsten Contrast bietet in dieser Hinsicht der Welt­ theil, welchen wir bewohnen, mit Afrika dar.

Betrachten wir

Afrika'S Begrenzung durch daS Meer, dann sehen wir eS

sehr zugerundct, mit wenigen Buchten und ohne Halbinseln;

Europa dagegen durch das Meer wie eingeschnitten, voll Ceebuchten und mit mannigsaltigcn Halbinseln. Afrika kann daher alS ein Körper ohne Gliedmaßen,

Europa «lS ein Körper

mit Gliedmaßen betrachtet werden.

Aber auch in Hinsicht der

Unebenheiten deS BodrnS zeigt Europa große Verschiedenheit,

Afrika große Einförmigkeit.

Während Europa eine nicht

unansehnliche Anzahl abgesonderter GebirgSmasscn besitzt, die

unter einander in Höhe, Form und Richtung sehr verschieden

sind, und zwischen welchen höhere und niedere Ebenen liegen von sehr verschiedener Ausdehnung und Gestalt, so bietet A frika,

zum mindesten in so weit unsere gegenwärtige Kenntniß reicht, ein sehr großes Hochland im Süden und ein sehr ausgedehntes

107 Flachland

int Norden dar.

Dürften wir das Gebäude der

Erde mit den Gebäuden menschlicher Kunst vergleichen, dann könnte

Afrika als

eine

einfache

Pyramide

Europa als eine gothische Kirche

den,

Schnörkeln, Thürmen und Perzierungen 2).

betrachtet wer,

mit mannigfaltigen

Diese Gestalt des

WelttheileS bestimmt nicht minder alö die Zone, in welcher er liegt, sein Klima; diese Gestalt bestimmt das Geschick der Be­ wohner und regelt deren größeren oder geringeren Einfluß auf

die Geschichte der ganzen Menschheit.

Ich würde Diesem hin-

zufügcn können, wie gewichtig die Gestalt auch für die Kenntniß der Gebirge ist.

Wie

verschieden

ist nicht der

kegelförmige,

abgesondert stehende Vulkan von den saust sich aneinander an­

schließenden, wellenförmigen Hügeln der anS dem Wasser an­ geschlämmten Bergarten;

wie sehr unterscheiden sich diese nicht

von den steilen und ost mit Säulen, wie Thurmspitzen, verzierten

hohen Gipfeln der Granitbergc? Hierin liegt zum Theile die Verschiedenheit in der Physiognomie der Erde.

Wie fremd unS

daS Wort auch klingen möge, eö giebt eine Physiognomie auch der Gebirge! ’)

Soll ich hier von der organischen Natur sprechen?

Wie

unvollkommen würde unsere Kenntniß der Pflanzen und Thiere sein, und wie wenig würde sie dem Wesen derselben entsprechen

und mit dem letzteren übereinstimmen, wenn sie nur ans den Stoff

beschränkt wäre?

Eine Rangordnung nach den chemischen Be­

standtheilen, oder, um mich vielleicht deutlicher auszudrücken, eine

Eintheilung gemäß der Verschiedenheit deS Stoffes, mag bei den Mineralien möglich sein, bei Pflanzen und Thieren ist sie

unausführbar, und wäre sie auch möglich, vollkommen unzu­ reichend.

gegen

Die unerschöpfliche Verschiedenheit der Formen hin­

macht ihre Betrachtung

zu

einer

reichen

Quelle deS

Cinnengenusses, während der aufmerksame Beobachter der Natur

108 in diesen Formen den Ausdruck des Lebens erkennt, welche- die

organische Schöpfung beseelt.

Der reichbegabte deutsche Dichter

Göthe beobachtete mit dem Auge des GeuieS die Entwickelung der Theile, die an der Pflanze, von dem ersten Keime ab, nach

einander

entstehen,

bis

die Bildung

einer neuen Saat den

Kreislauf deS Lebens beschließt, und entdeckte, daß alle Theile

der Blume, wie die übrigen Sprossen des Stengels, nichts als

veränderte Blätter sind.

Hier hat also eine Verwandlung oder

ein Formenwechsel statt, der, durch das Leben selber erzeugt, das Leben unterhält.

Und was die Thierwelt betrifft: kann nicht

der Charakter und die Lebensweise jeder Thierart auS der Form deS ganzen Körpers und aus der Gestalt der Theile abgeleitet

werden?

Das Band zwischen Form

und Wesen

giebt dem

Naturforscher den Faden in die Hand, längs welchem er auch

in dem düsteren Irrgarten einer ausgestorbenen Thierwelt, die

unter der Oberfläche unserer Erde begraben liegt, einen sicheren Ausweg finden kann. Aber wir müssen sogar weiter gehen, m. H.!

Der Stoff

ist bei den organischen Wesen minder wesentlich als die Form,

da er stets veränderlich und die Form beständiger ist. Entstehen

lebenden Wesen ist

und das Wachsthum der

Das mit

fortwährender Stoffveränderung verbunden, und die Instand­

haltung deS Gebildeten geht mit einem fortdauernden Wechsel der zusammensetzendcn Theile

gepaart.

Daö Blut der Thiere

empfängt stets neue Stoffe auS den Nahrungsmitteln, die sie

zu sich nehmen; der durch Abscheidung entbundene Stoff ver­

läßt den

organischen Körper,

Stoffe Platz zu machen.

um

nengebildetem

organischen

Selbst in den Knochen, den härtesten

Theilen deö Körpers, bemerkt man eine beständige Veränderung des Stoffes.

So ist das Leben einem Strome gleich und die

organischen Formen entlehnen ihren Stoff nur für eine Zeit

109 von der umgebenden Natur, um ihr denselben bald wieder zurück­ zugeben.

„Was in der Natur daS Beständigste, das am wenig­

sten dem Wechsel Bloßgestellte ist, das ist die Form, oder der

Abdruck jeder Art, sowohl der Pflanzen als der Thiere; was am meisten wechselt und vergeht, ist die Masse, aus welcher

diese Wesen zusammengesetzt sind4)."

II.

Nachdem ich Ihnen so, m. H., durch einige Beispiele,

der Natur entlehnt, den Werth

der Form auseinandergesetzt

habe, will ich ein anderes Gebiet betreten.

Auch in dem, worin

der Mensch etwas hervorbringt, ist man gewohnt, Form und Stoss zu unterscheiden, wenn auch hier Stoff in einem unei­

gentlichen Sinne genommen wird.

Sehen wir,

in wie fern

auch hier, auf diesem Gebiete der menschlichen Thätigkeit, die Form zum Wesen der Dinge gehört. Denken Sie sich, m. H., ein Meisterstück der Baukunst

durch wilde Gewaltthat niedergerissen.

Sind auch die Säulen

nicht zertrümmert und zermalmt, ist auch nichts von all' den

Theilen verloren gegangen, in diesen durcheinander geworfenen

Stücken werden Sie das schöne Gebäude nicht erkennen.

Der

Stoff ist geblieben, aber die Form ging verloren; daS Mannig­ faltige, die Theile sind übrig, aber die Einheit, das Ganze ging

zunichte.

Die Form ist daS

Band,

die daS Mannigfaltige

zu Einem Ganzen verbindet; nicht in dem Stoffe, sondern in der

Gestalt liegt die Schönheit. Schon die Betrachtung der einfachen Figuren kann unö

lehren, daß Schönheit

aus Ebenmaaß und Ordnung beruht.

Alle die mannigfaltigen Eigenschaften der regelmäßigen Figuren, die in unS den Eindruck des Schönen erregen, sind als noth­

wendige Entwickelung eines einzigen Gedankens darin vereinigt.

ES ist die Einheit in der Verschiedenheit, welche durch unseren

110 Verstand mir nach der kalten Zergliederung und stückweisen Be­ trachtung der Theile begriffen, aber durch unsere Anschauung als ein Ganzes aufgefaßt wird; eS ist diese Einheit, sage ich, welche

unseren

Schönheitstnn

allein

befriedigen

kann.

Und

so besteht denn auch ein engeS und unauflösbares Band zwi, schen dem Schönen und den Wahrnehmungen unserer verschie­ denen Sinne.

Wenn man auf dünne Glasplatten feinen und trockenen Sand streut, und, indem man einen Violinbogen längs dem

Rande dieser Platten senkrecht bewegt, einen Ton hervorbringt, so wird der Sand augenblicklich in Bewegung gerathen und

sich auf bestimmten Stellen der Glasplatte anhäufen und zur Ruhe kommen; aber die dadurch erzeugten Figuren, deren Kennt­

niß wir den unermüdlichen Forschungen Chladni'S hauptsäch­ lich zu danken haben, werden nur dann regelmäßig sein und dem

Auge gefallen, wenn eS reine Töne sind, die hervorgebracht

wurden.

Falsche Töne, die dem Ohre mißbehagen, geben auch

unregelmäßige Klangfiguren, die daS Auge nicht befriedigen.

Wenn Schönheit nicht in dem Stoffe, sondern in der Form gelegen ist, dann begreifen wir auch, warum Ursprünglichkeit nicht in der Neuheit deS Stoffes zu suchen ist.

Je natürlicher

die Gegenstände sind, je mehr auS dem Leben und der täglichen Anschauung gegriffen, desto mehr sind sie geschickt um allgemein

zu gefallen, weil sie bei Allen einen geöffneten Sinn und ein geöffnetes Gemüth

finden.

Die Vergleichungen und

Bilder,

deren die Dichter unserer Tage sich bedienen, können nicht alle neu sein; sie, die darin das Kennzeichen der Ursprünglichkeit suchen, werden auf daS Seltene und Gesuchte verfallen; daS Ursprüngliche liegt in der Form, in der höheren Einheit, in

welcher die Verschiedenheit aufgefaßt ist.

Der witzige und ge­

fühlvolle Claudius hat eines LandmannS Abendliedchen ge-

111 dichtet, dessen sich viele meiner Zuhörer wohl erinnern werden, wenn ich nur die ersten Strophen desselben anführe:

„Da kömmt die liebe Senne wieder, Da kömmt sie wieder her! Sie schlummert nicht und wird nicht müder, Und läuft doch immer sehr. Sie ist ein sonderliches Wesen; Wenn'S Morgens auf sie geht, Freut sich der Mensch und ist genesen Wie beim Altargerath."

Etwas Einfacheres, würde man sagen, giebt eS nicht, und

so ist der ganze Gang des Gedichtes; und doch ist kein Ausdruck

noch eine Wendung darin, welche nicht mit einer ähnlichen bei

früheren Dichtern oder Schriftstellern übereinstimmte.

Claudius

läßt seinen gelehrten Vetter unter dem Gedicht Vers für BerS auS Homer, auS Euripides, Sophokles, Pindar, ja selbst auS

Aristoteles erläutern.

„ES ist mir lieb, Vetter (so läßt er ihn

schreiben), daß Euch auch die Sonne das Herz einmal warm

gemacht hat; mit dem Monde habt Ihr genug geliebäugelt, und ihre Herrlichkeit ist doch größer.

gute Bauersmann

Vielleicht wird mancher andere

deS Morgens im Felde

oder vor seiner

Hütte» Thür, wenn er die Sonne sieht ausgchen, Euer Lied anstimmen, und daS laßt Euch nicht leid sein.

Aber

Ihr seid ein belesener Mann! oder Ihr seid auch tiefsinniger alS ich gewußt habe, und einer von den ’A/rcXXowiaxais i^X“1?,

davon die P.'atoniker schreiben.

Alles, was Ihr in Eurem

Liede sagt, daS haben die größten Männer, und die berühm­ testen PolyhistorcS deS Alterthums gesagt, haarklein und Wort

für Wort.

Ich bin erstaunt darüber, aber eS ist wahr: wo

112 ich aufschlage, in welcher Sprache und Zunge, da treffe ich

Euch.

Für diesmal nur eine kleine Probe aus den Griechen."

Wir haben früher von gesprochen.

einem niedergerissenen Gebäude

Wenn man die Kunstwerke der Dichter ebenfalls

aus einander risse und uns z. B. eine Liste all' der Vergleichungen gäbe, die Homer von Blättern und Bienen, von Heerden und Hirten gebraucht, alle in Reihenfolge geordnet, dann würde

unsere Bewunderung einer Langeweile Platz machen und einer Täuschung, nicht unähnlich der eines Knaben, der, um recht zu sehen, wie sein Spielzeug gemacht sei, die Theile desselben aus­

einander genommen hatte, und sie nun nicht wieder zusammen­ setzen konnte.

Einen deutlicheren Beweis, daß die Schönheit in der Form liege, können wir wohl nicht finden, als in den Schöpfungen

der Tonkunst. können

Die Zahl der Grundtöne ist sehr beschränkt; sie

auf eine

höchst verschiedene Weise

zusammengeordnet

werden; doch allein diese Reihenfolge und Zusammenfügung, ver­

bunden mit der Verschiedenheit des Maaßes, macht das Gebiet

aus, auf welchem sich die Schöpfungender Mozarts, Haydns

und Beethovens bewegen. Wenn wir den Werth der Aunstfchöpfungen

nicht nach

dem Stoffe bestimmen, dann hängt auch der Werth der Er­

zeugnisse der Dichtkunst und Malerkunft nicht von dem Gegen­ stände, sondern von der Behandlung ab; auch Gegenstand und Behandlung sind wir gewohnt,

in einem übertragenen, aber

darum sehr bezeichenden Sinne, Stoff und Form zu nennen.

Wenn der Kunstwerth hier abhängig wäre von der Wahl des

Gegenstandes, dann würde man, um das Schöne und Erhabene hervorzubringen, nur schöne und erhabene Gegenstände zu wäh­

len brauchen. Naiv und unnachahmbar vielleicht ist unser Jan Steen in der Darstellung von Bauerngesellschaften und Bauern-

113 Hochzeiten; aber, wenn et eS wagt, — ich habe diese- sonder» bare Gemälde gesehen, welche- in einer Kunstgallerie zu Brüssel

bewahrt wird, — wenn er eS wagt, die Hochzeit zu Canaan darzustellen, dann malt er un- wiederum nichts andere- al-

eine Bauernhochzeit, und der Glanz, der von den erhabenen Hauptpersonen wiederstrahlt, unvermögend, das Ganze zu veredlen, erregt nur unser Mißbehagen und unsere Mißbilligung. Wie deutlich auch an sich selbst das Gesagte sein mag, so

daß ich kaum für nöthig halte, es näher zu entwicklen, so ist es gleichwohl eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß man diese

Wahrheit bei der Beurtheilung von Kunstwerken gänzlich ver­

kennen sieht.

Oder woher anders als aus dieser gänzlichen

Verkennung entspringt daS Vergleichen von Sachen, die unter

einander keine Vergleichung zulassen? Kann nicht ein Blumen, oder Fruchtstück, eine Gruppe von todtem Wildpret, ein Portrait

denselben Werth haben, wie ein großes geschichtliches Gemälde?

Alles hängt hier von der Behandlungsweise ab; diese kann so, wohl daS Kleine großartig und edel, wie, leider! das Große

kleinlich und niedrig darstellen.

Daß der Eine mehr Behagen

findet an dem einen, der andere an dem anderen Genre ist

nicht zu mißbilligen, denn eS ist unvermeidlich bei der verschie­ denen Gemüthsstimmung, der verschiedenen Bildung und der

verschiedenen Uebung der Sinne für das Schöne; aber Miß­ billigung verdient eS, wenn man sich dabei durch die besondere Richtung dermaßen leiten läßt, daß man daS Schöne nur an eine einzige Reihe von Gegenständen gebunden glaubt.

Sind

etwa Raphael und Murillo nur allein Maler, Dow und

Terburg nicht?

Paul Veronese und Jan Steen, —

kann eS eine größere

Verschiedenheit geben? — sie

waren

sicherlich Beide Maler; aber die Hochzeit zu Canaan de-

Ersteren, in der Gallerte des Louvre, muß man nicht mit

8

114 dem Sankt Nikolausfeste des Letzteren, in dem Staats-Museum zu Amsterdam, vergleichen. Das Heldengedicht und das Trauer­

spiel dürfen uns die Idylle oder schätzen lassen.

das Lustspiel nicht gering­

Da die Schönheit in der Natur sich in Ver­

schiedenheit offenbart, warum sollten wir im Gebiete der Künste

Beschränkung wünschen? Auch dort kann das wahrhaft Schöne sich unter verschiedenen Formen offenbaren. Vermögen ist

Kunst als schaffendes

von Kenntniß

und

Wissenschaft eben so verschieden, wie können von kennen oder

wissen5)einander

In der Wirklichkeit jedoch können beide nicht von

getrennt

werden;

und,

giebt

es

keine Kunst

ohne

Kenntniß, so giebt es eben so wenig eine Wissenschaft ohne

Kunst.

Darum gehört die Form auch zum Wesen der Wissen­

schaft; ein wissenschaftliches Lehrgebäude kann nicht ohne Kunst

hervorgebracht

werden.

unter das Allgemeine,

Eine

ein

Unterordnung des

Besonderen

zusammenhängendes Ganze durch

Einen Geist beseelt, das ist es, was das Wesen jeder Wissen­ schaft ausmacht, welche in der That diesen Namen verdient. Kein Wörterbuch, wie ausgedehnt es auch sein möge, ist im

Stande,

uns auch

nur eine Wissenschaft

kennen

der Besitz einiger gesonderten Kenntnisse kann

zu lehren;

gepaart gehen

mit vollkommner Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der Wissen­

schaft, wozu diese Kenntnisse gehören.

Auch hier gilt es, daß

eine Sammlung von nebeneinander liegenden Baustoffen noch

kein Gebäude ausmacht.

Aber wir wollen von der Aufmerk­

samkeit unserer Zuhörer keinen Mißbrauch machen, und müssen

uns mit der bloßen Andeutung dieses Gegenstandes begnügen.

III.

Werthe

Wenn es mir gelungen ist, m. H.! der Form auf dem Gebiete

Sie von dem

deS Wahren

und

des

Schönen zu überzeugen, dann werde ich wenig Worte nöthig

115 haben, um Ihnen darzuthun, daß die Form eben so sehr herrschen

muß auf dem Gebiete des Guten.

Es ist nicht genug, das

Gute zu thun, sondern man muß es auch gut thun.

Verliert man dies aus dem Auge, dann ist das Gute,

wie das Salz, das seinen Geschmack verloren hat, unnütz.

Von

woher sonst die Lehren der höchsten Weisheit, keine Perlen den

Säuen vorzuwerfen, noch das Heilige den Hunden zu geben? Ein feines Gefühl für das Geziemende ist dann auch stets mit

wahrer Sittlichkeit verbunden;

Form.

das Gute

eine

erhält

schöne

Von daher, daß man, und mit Recht, von schönen

Thaten sprechen kann; von daher, daß die Griechen in ihrer

Sprache ein Wort besitzen, worin das Schöne und Gute zu einem einzigen Ganzen verschmolzen sind.

Haben wir in den Gegenständen der Sinnenwelt und in

den Erzeugnissen des Menschen, in Natur und Kunst den Werth der Form erkannt, dann dürfen wi? hier nickt stehen bleiben, sondern müssen auch auf uns selbst die Aufmerksamkeit richten. Der edelste Gegenstand, den der Mensch formen (bilden) kann, ist das menschliche Gemüth.

Sollte bei dem Menschen die Form

von geringerem Werthe fein, als bei all' dem Uebrigen?

Aber

wenn wir hier von Form und Formung sprechen, dann ist es

der wahre Mensch, den wir meinen, nicht seine äußerliche Gestalt; wir sprachen deshalb von dem Gemüth, und fügen

noch den Verstand hinzu. Sie fühlen, m. H.! daß ich von Verfeinerung (von Bil­

dung) spreche.

Ihren Werth zu beweisen, würde nutzlos sein.

Aber wir sehen hier dann einen neuen Beweis von dem Werthe der Form, auch in der sittlichen Welt. *) Zum

besseren Verständniß

Unser Wort Politur*)

des Folgenden bemerke

ich hier,

daß

der Holländer für unser Wort Bildung, in seiner eigentlichen Bedeutung, daS Wort Vorming (Formung) gebraucht, während er die figürliche Be-

8*

116 drückt jedoch, so wie eS mir vorkommt, den ganzen Umfang,

daS

eigentliche Wesen der Sache minder

genau aus.

Wir

können bei diesem Worte so leicht an eine Glätte der Ober­ fläche allein denken, die sorgfältig abgefeilt ist und zugerundet.

So scheinen denn auch Manche die Verfeinerung auszufassen: gefällige Manieren, im Umgänge mit Menschen erworben; eine

Geschliffenheit, die zu verbergen weiß, was Anderen mißfallen

könnte; eine geziemende Kleidung, in der man sich zeigt, um in guter Gesellschaft als Mann von Lebensart zugelassen zu

werden.

Wir würden sicherlich irren, wenn wir die äußerliche

Abgcschliffenheit glaubten mißbilligen zu müssen, oder urtheilten, daß sie immer und nothwendig unvereinbar wäre mit wahrer

Ursprünglichkeit und Selbstständigkeit.

Aber größer noch würde

unser Irrthum sein, wenn wir das Wesen der Verfeinerung nur in diesen Formen suchten.

Unsere Deutschen Nachbarn

gebrauchen für Politur (beschaving) das Wort Bildung, und sie nennen diejenigen gebildete Menschen, welche wir gewohnt sind, polirte (beschaafde) Menschen zu nennen. Diese Benennung

drückt, däucht mir, das Wesen der Sache besser aus, als das

unsrige.

Das

wahre

Wesen der

Verfeinerung

ist

Bildung

(vorming), und diese Bildung (vorming) besteht nicht in dem Besitze von Formen, sondern in dem Besitze einer Form.

Sie

ist Ein Ganzes, das all' die Mannigfaltigkeit unserer Wahr­

nehmungen, Gedanken und Thaten umfaßt, eine Einheit, die unser ganzes Leben beherrscht. Daö, was man in der körperlichen Natur Form nennt,

deutung desselben durch Beschaving (von Schaven = schaben, glätten u. s. w.) wiedergiebt. Um den Ideengang des Verfassers nicht ganz zu verwischen, so habe ich letzteres Wort durch Politur, Verfeinerung und Ab­ geschliffenheit wiederzugeben versucht.

A. d. Übers.

117 kann, auf Personen übertragen, Charakter geheißen werden.

Ein wahrhaft gebildeter Mensch besitzt einen Charakter.

Feste

Grundsätze, die das ganze Betragen leiten, Gleichmäßigkeit in Glück und Unglück, ein unausgesetztes Streben nach Veredelung

— dieses Alles, und waS noch

mehr zum Charakter gehört

kann der Mensch sich selbst geben.

Aeußcrliche und zufällige

Umstände, der Kreis, worin das Loos der Geburt uns setzte, der Umgang mit Anderen können uns gute Manieren, können

uns Formen geben: die wahre Form muß der Mensch sich selbst geben.

Man erzählt, daß, als die Amme König Jak ob's I.

ihn ersuchte, seinen Milchbruder zum Edelmann zu erheben, der König diese Antwort gab: „das kann ich nicht; zum Grafen kann ich ihn wohl machen, aber zum Gentleman muß er sich selbst machen."

In der gesammten Natur, so haben wir früher gesehen, herrscht die Form.

Was unser Denkvermögen als regelmäßig

denkt, was unser Gefühl durch innere Anschauung als schön er­ kennt, was unser Gemüth als wohllautend auffaßt, das gewahren

wir in der körperlichen Natur durch unsere äußeren Sinne als regelmäßig, schön und wohllautend.

Welt

mit einem Worte,

Schmuck ausdrückt.

Die Griechen nannten die

das ursprünglich Ordnung und

Zuerst wurde dieses Wort durch

eine

philosophische Schule gebraucht; später bedienten sich Dichter desselben, und endlich erhielt es in der gewöhnlichen Sprache das

Bürgerrecht«).

Die Aufnahme

dieses Wortes in die

Sprache ist nur zu erklären aus einem tiefen Gefühl,

daß

Alles, was unö umgiebt, die ganze Sinnenwelt, Ein Ganzes ausmache; gerade darum so schön, weil es wohlgeordnet ist,

gerade darum so wohlgeordnet, weil Ein einziger großer Ge­ danke es beherrscht.

kleine Welt genannt.

Dieselben Alten haben den Menschen eine Und dazu hatten sie wahrlich Recht.

Ist

118 nicht auch hier Alles mit Ordnung geschmückt?

Ist nicht auch

die Sinnenwelt der innerlichen Auffassung und Aneignung zu­

gänglich?

Nimmt nicht unser Auge, diese kleine Kugel, wie in

einem Spiegel, das ganze sichtbare Weltall in sich aus?

Durch

einen, alle Begriffe übersteigenden Abstand von uns geschieden,

blinken dort an dem Sternengewölbe andere Weltkugeln und Sonnen wie leuchtende Punkte —, aber, die Erzitterungen deS Lichtes erreichen unser Auge, und ungeachtet dieses weiten Ab­ standes, sind uns diese Kugeln nicht fremd, und wir begreifen,

daß wir Weltbürger sind.

Doch

es sind nicht die äußeren

Sinne allein, wodurch wir uns mit der großen Welt verbunden fühlen.

Unser Denkvermögen durchforscht diese Welt und ent­

deckt ihre Gesetze.

Man ergründet diese Tiefen,

diese Laufbahnen, man wiegt diese Kugeln.

man

mißt

Ist noch ein wei­

terer Beweis nöthig, daß der Mensch als kleine Welt in Har­ monie ist mit der großen?

Alles nach Maaß und Zahl ge­

ordnet, so daß die Wissenschaft den Lauf dieser Himmelslichter

vorab berechnen und genau bestimmen kann!

Muß nicht ein

Funken von ebendemselben Lichte, welches das Weltall beseelt, auch von der kleinen Welt ausgenommen worden sein?

Aber ist der'Mensch eine kleine Welt, dann muß auch bei ihm Ordnung und Schönheit die Grundidee seines Wesens sein.

Er muß Ein Ganzes werden, das alle Mannigfaltigkeit der Schönheit nicht wie zufällig, sondern nothwendig umfaßt, weil

sie in dem Begriffe seines Daseins liegt.

Dieses erst ist wahre

Bildung, die nicht, als oberflächliche Politur, nur das Aeußere reinigt, sondern die von innen nach außen wirkt.

Die Ober­

fläche wird dann darum so eben sein, weil das Innere wahr, und die Thaten darum schön, weil das Gemüth edel ist.

Die

Harmonie, die sein ganzes Wesen durchdringt, verklärt Alles,

was solch' einen gebildeten Menschen umgiebt; und wenn man

119 wahre „gute Lebensart^ nicht auf äußerliche Formen beschränkt,

sondern nach dem buchstäblichen Sinne auffaßt,

als die Kunst

gut zu leben, dann haben nur sie diese Kunst gefunden, die einen eigenen, selbstständigen und unabhängigen Charakter besitzen.

Alte Philosophen haben uns den wahren Weisen als allein

glücklich, und über das Schicksal erhaben, als immer glücklich dargestellt.

Daß er dies ist, m. H.! begreifen wir, aber auch

zugleich, daß

eS keinem Sterblichen jemals vergönnt ist, mit

vollem Rechte diesen Namen zu tragen.

Aber das Streben

nach dieser Vollkommenheit ist der einzige Weg, um sie zu er­ reichen, und die Liebe zur Weisheit das Kennzeichen Desjenigen,

den wir, weil wir das vollkommene Bild eines Weisen nicht anschauen, einen Weisen nennen.

Erst dann wird der Mensch

empfänglich für den hohen Genuß des erhabenen Schauspiels

der Welt.

Die kleine Bühne, auf welcher menschliche Leiden­

schaften und Verkehrtheiten ihr Spiel treiben, und die sie mit Mißklängen erfüllen,

entfremdet

sich seinem Auge; sein Ohr

fängt kaum das Getöse wie aus weiter Ferne auf, während es mit der Harmonie der Schöpfung, mit der himmlischen Musik der Sphären erfüllt ist.

Wir haben im Laufe dieser Rede sehr verschiedene Gegen­ stände in

sehen.

flüchtigen Bildern

vor unserem Geiste vorbeigehen

Von den einfachen, regelmäßigen, geometrischen Formen

der Krystalle in der sogenannten todten Natur gingen wir über

zu den runden, mit Lebenssäften durchdrungenen Formen der Pflanzen und Thiere; von den Formen in Kunst und Wissen­ schaft gingen wir über zu der Form in der höchsten Kunst, der

der wahren Humanität, und die menschliche Bildung (vorming) brachte uns wieder zu der Betrachtung des Weltalls, zu der Natur, zu ihrer Ordnung und Schönheit zurück.

verbunden durch die Form.

So ist Alles

So ist Ein einziger Gedanke in

120 der körperlichen und

geistigen Welt

herrschend.

So ist die

Natur die Offenbarung des ewigen, unendlichen Verstandes, von welchem der menschliche ein schwacher Wiederklang, aber doch

ein Wiederklang ist.

Wir stehen hier zwar noch in dem Vor­

hofe der Erkenntniß, aber ein heiliges Gefühl durchströmt uns. Ein

höheres Licht

Weltalls.

strahlt aus den entfernteren Sonnen des

Das ist fruchtbare Naturbetrachtung, die nicht zu

unserem Verrathe von angelernten Kenntnissen, noch einen Ge­

dächtniß beschwerenden Ballast von Namen hinzufügt, sondern die sich mit unserem ganzen Sein vereinigt, die uns hinauf­ leitet in die höheren Gebiete des Wahren, Schönen und Guten,

die uns mit unserem Dasein versöhnt, die unö lehrt, das Leben lieb zu gewinnen, und die uns den wahren Werth des Lebens

schätzen

lehrt.

betrachtung,

Wenn meine Darstellung solch' einer

welche

gezwungen entfloß,

überzeugt hat;

aus unserer Betrachtung

Natur­

der Form un­

Sie einigermaaßen von ihrer Wichtigkeit

wenn Sie

einsehen gelernt haben,

daß auch

Naturkenntniß ein Bildungsmittel im höheren Sinne des Wortes sein kann und sein muß: dann werde ich alles Lob, das ich be­ gehrte, oder besser allen Lohn, den ich wünschte, davon getragen

haben.

Möchten Sie bei meinem Vortrage einige Saiten Ihres

Gemüthes für das Wahre, Schöne und Gute haben erklingen hören, vergessen Sie dann die mangelhafte Form meiner Rede,

um allein auf die ewig wahre, schöne und gute Form zu sehen, die in der Ordnung der Welt herrscht!

121

Anmerkungen.

9 Plinius, Hist. Nat. Lib. 37. cap. 2. a) J. F. Scho uw, Natur-Skildringer. Kjöbenhavn, 1839. p. 94. 8) Siehe CaruS, Briefe über Landschaftsmalerei. 2te Ausgabe. Leipzig, 1835. 8vo. S. 169. ff. *) Buffon, Hist. nat. VI. 1756. 4to. p. 86, 87. Seneca, Epist. LVIII. Corpora nostra rapiuntur fluminum more; quidquid vides currit cum tempore; nihil ex bis quae videmus manet. Ego ipse dum loquor mutari ista, mutatus sum. „Une particule de matiere est une chose d’emprunt: eile doit servir tantöt Achille, tantöt Homere, tantöt Aristee, tantöt quelqu’ animal, quelque plante, ou quelque pierre.“ Hemsterhuis Aristee 1779. 8vo. p. 178, 179. Vergl. auch D. I. S. Doutrepont: Ueber den Wechsel der thierischen Materie. Reil'S Archiv. IV. 460—508. s) Kant, Kritik der Urtheilskraft. S. 172. *) A. von Humboldt, Kosmos 1845. S. 62. u. 76.

Druck von Carl Schultze in Berlin.