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German Pages 125 [128] Year 1848
Ergebnisse der
Natur forschung für das Leben.
Vorträge und Abhandlungen von
I. van der Hoeven, Pb. nat. et Med. Doctor, ordentl. Professor der Naturwissenschaften zu Leiden, U. s. ID., U. s. w.
Aus
dem
Niederdeutschen.
Berlin, 1S4S. Verlag
von
G.
Reimer.
Borwort des Ueberfetzers. Das vorliegende Bändchen enthält eine Auswahl von Reden und Abhandlungen auö einer größeren Sammlung, welche der Verfasser unter dem Titel: „Redevoeringen en Verhandelingen etc.“*) vor einem Jahre in Holland herausgab. I. van der Hoeven ist als Naturforscher schon seit lange den Gelehrten, und durch eine Nebersetzung der zweiten Auflage seines Handbuches der Zoologie jetzt auch einem größeren Kreise in Deutschland zu rühmlich bekannt, als daß es hier nöthig wäre, seine Verdienste um die Wissenschaft noch weiter hervor zuheben. Ist die Zoologie jedoch wesentlich ein Handbuch für höhere Lehranstalten und für Solche bestimmt, welche eine wissenschaft liche Vorbildung genossen haben, so zeigt sich in dem vorlie genden Merkchen der Verfasser als populärer Redner und Schrift steller; und wie sehr ihm die richtige, allgemein verständliche Haltung gelungen, davon geben die Abhandlungen selbst den besten Beweis. Man erwarte und suche jedoch keine neue Entdeckungen oder unbekannte Wahrbeiten darin. Es sind Reden, durch drungen von ächter Lebensweisheit, in gewählter Form, und gehalten vor einem gemischten Zuhörerkreise mit der Absicht, auch den Laien mit dem Inhalte, der Richtung und den Ergeb nissen der Wissenschaft bekannt zu machen. Von diesem Stand punkte aus wollen und müssen dieselben betrachtet und beurtheilt werden. Der allgemeine Beifall, welchen diese Vorträge in der Heimath des Verfassers sanden, und das Vergnügen, welches sie dem Nebersetzer und seinen Freunden, welchen er sie ver ständlich machte, gewährten, veranlaßten den letzteren, die Mehr zahl derselben in ein hochdeutsches Gewand zu kleiden. Er wünschte damit zugleich einen Beitrag zu jener wahren Volks-
*) Te Amsterdam, bij de Wed. R. Sternvers.
1846. 810.
IV literatur zu liefern, zu welcher Liebig in Deutschland durch seine „Chemischen Briefe" so erfolgreich die Bahn brach und welche durch ihn so rühmlichst vertreten wird. Bei der Auswahl leiteten den Urbersetzer der Geschmack und das Interesse des deutschen Publikums. Die Abhaudlung „über den Kampf sürS Vaterland in Friedenszeit," welche hier eben falls fort bleibt, enthält zwar viel, nicht blos für Holland, Wahres und Beachtenöwerthcs; es sind jedoch auch Ansichten und unge rechte Vorwürfe, vielleicht durch Zeitverhältnisse erregt, in Bezug auf die Nachbarländer darin ausgesprochen, von denen der Ver fasser wohl schon zurückgekommen sein dürfte, oder doch hoffent lich zurückkommen wird. Was nun die Uebersetzung anbetrifft, so ging die Haupt absicht dabin, so wenig wie möglich, ohne der hochdeutschen Sprache Gewalt anzuthuen, von der ganzen Eigenthümlichkeit und dem Eindrücke deS niederdeutschen Originales zu verwischen. Hierzu gehörte außer der von dem Verfasser oft sorgfältig abgewägten Form auch daS Vermeiden fremder KunstauSdrücke. Sie wurden durch den niederdeutschen ganz entsprechende hoch deutsche wiederzugeben gesucht. Der Gelehrte wird sich daran stoßen, denn ihm sind die fremden geläufiger; der Laie aber, für den das Büchlein ja vorzüglich bestimmt ist, den Vortheil haben, dasselbe ohne Fremdwörterbuch lesen zu können. WaS sich nicht wiedergeben ließ, ist die ausgesprochene Quantität der Silben, welche die niederdeutsche Sprache so wohlklingend, für oratorische Zwecke so geschickt und für den Kenner derselben so anziehend macht. Zu bemerken wäre noch, daß der Ueberseher zwar in einigen Ansichten mit dem Verfasser nicht übereinstimmt, daß er es jedoch für kleinlich hielt, dieses jedesmal in einer besonderen Anmerkung selbstgefällig auszusprechen; er giebt das Glaubenöbekenntniß deS Verfassers, nicht seines. Möge daö hier Gebotene dieselbe freundliche Ausnahme finden bei dem hochdeutschen Publikum, welche dem niederdeutschen Original in so reichem Maaße in Holland zu Theil wurde.
F. B.
Inhalt. Seite I.
Ueber die Vortrefflichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre........................................................................
1
II. Die Lust. Eine populäreNaturbetrachtung......................................... 23 HI. Die Ergebnisse der Geologie.................................................................. 49 IV. Ueber das Lesen oder den Umgangmit Büchern.................................. 75 V. Ueber die Form........................................................................................ 99
Ueber die Vortrefflichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre.
Unter den Lieblingsideen der wahren Menschenfreunde nimmt
gewiß den ersten Platz ein die Vorstellung einer stufenweisen
Zunahme der Menschheit an wahrer Bildung und Erkenntniß, die sogenannte Vcrvollkommnungsfähigkcit deS menschlichen Ge schlechts.
Ein Band der gemeinschastlicheu Wirksamkeit ver
bindet frühere und spätere Geschlechter; sogar die Irrthümer
deS Vorgcschlechtes dienen zur Warnung, und durch ein vor sichtigeres Nachgeschlecht wird ein Leuchtthurm aufgerichtet auf
denselben Klippen, an welchen frühere scheiterten. Ein Gebäude
steigt empor, woran Tausende arbeiten; und, was auch die Hand der Zeit zerbrechen möge, oder der Athem der Vergänglichkeit
zerstieben läßt, auf einem Felsen gegründet, steht daS Gebäude fest und sicher und gewinnt beständig an Umfang, an Ordnung
und an Schönheit. Aber ist dies nicht ein Traum,
Wunsch?
ein Wahn,
ein eiteler
Ist eS nicht vielleicht mit der Erfahrung, mit dem
Zeugnisse der Geschichte, mit heiligen Wahrheiten der Religion im Widerspruch? — Was Andere auch hiervon denken mögen,
wir können un- nicht davon überzeugen, daß daS menschliche 1»
4 Geschlecht dazu bestimmt sein sollte,
in einem fortwährenden
Kreise sich herum zu drehen, und nur erschaffen sollte, um zu
zerstören, und
zerstören,
um wieder hervorzubringen.
DaS
Zeugniß der Geschichte spricht hier laut; und, wenn auch hier
oder dort ein Stillstand oder Rückschritt stattfindet, wenn auch daS
Licht der Cultur bald von dem einen Erdstrich verschwindet, bald auf einem anderen wieder auftaucht, dieses Alles kann uns die all,
gemeine Wahrheit nicht in Zweifel ziehen lassen, welche indessen, daS erkennen wir gerne an, wenn man sie mißdeutet oder verkehrt an wendet, zu vielen ungegründeten Vorstellungen Anlaß geben kann. Über die Fortschritte des menschlichen Geschlechtes liefern
unS vorzüglich die Naturwissenschaften ein überzeugendes Beispiel.
Die
Niederländische
ökonomische
Gesellschaft,
vor
deren achtbaren hiesigen Abtheilung ich jetzt die Ehre habe, daS Wort zu führen*), stellt sich zum Ziele, diese Wissenschaften auf die Gewerbthätigkeit anzuwenden, und dadurch die allgemeine
Wohlfahrt zu befördern.
Ich halte diesen Ort daher nicht für
unpassend, um in dieser Stunde zu Ihnen über die Vortreff,
lichkeit der gegenwärtigen Richtung der Naturlehre zu sprechen. — Wenn ich dabei Ihre Nachsicht anrufe, so ersuche ich Sie ernstlich, dieses nicht als eine gewöhnliche HöflichkeitS,
erweifung zu betrachten; ich fühle eS lebendig, wie sehr ich dersel ben bedarf. Nicht gewohnt, öffentlich sprechend aufzutreten, würde
ich auch jetzt die Scheu, welche ich davor habe, nicht zur Seite
setzen, hätte mich nicht Ihr ehrenvolles und eindringliches Ersuchen bewogen, Willen zu geben.
eine
Probe wenigstens
von
meinem
guten
Schenken Sie mir denn Ihre geneigte Auf,
•) Diese Red« wurde vorgetragen in einer öffentlichen Versammlung der Leydtnschen Abtheilung ter genannten Gesellschaft, die jetzt den Namen: „Niederländische Gesellschaft gut Beförderung der Industrie" trägt.
. 5
merksamkeit, die ich von meiner Seite durch keine langgedehnte Rede auf die Probe stellen werde. Betrachten wir die Naturlehre so wie sie jetzt auögeübt wird, in ihrer Grundlage, ihrer
Anwendung.
Lehrweise
und ihrer
In allen diesen drei Beziehungen wird unS
ihre hohe Vortrefflichkeit klar werden.
Der Brunnen, auö welchem unsere Kenntniß der Natur fließt, ist die Beobachtung.
Wie einfach diese Bemerkung
auch ist, so würde man sich doch irren, wenn mein glaubte, daß
ihre Wahrheit immer gleich lebendig wäre gefühlt worden, und
daß sie stetS den Untersuchungen der Naturforscher zur Richt schnur gedient hätte.
Es hat eine Zeit gegeben, wo man nicht
auS der Beobachtung, sondern aus dem Ansehen einzelner be
rühmter Männer die Wissenschaft schöpfen wollte, gerade alS
wäre diesen
von der
Gottheit daS ausschließliche Recht ge
geben worden, ihre Augen und übrigen Sinne zu gebrauchen,
und als wäre die übrige Menschheit nur mit Sinnesorganen begabt, um daS Werk von Menschen, nicht um die Werke deS
Schöpfers selbst zu untersuchen.
Von diesem verkehrten Wege
rief der unsterbliche Baco die Gelehrten zurück; und wahrlich, wie ist auf demselben ein Fortschritt möglich?
wie in
Eben so wenig,
einem abgeleiteten Springbrunnen daS Wasser höher
steigen kann, als eS in dem Hauptbrunnen steht, eben so wenig
kann ein solches entlehntes Wissen mehr umfassen, als daS, wa schen früher bekannt war.
Wir verkennen eS nicht, daß Viele
noch nicht ganz von diesem Irrwege zurückgekehrt sind; man findet noch Menschen, und man wird wohl immer solche finden,
für welche daS Licht, daS von der Natur wiederstrahlt, nicht so
reizend ist, als das, welche- von einem Blatte Papier, nachdem
eS unter der Druckerpresse gelegen hat, zurückgeworfen wird.
6 Aber diese find e- auch nicht, denen wir die gegenwärtige Blüte der Naturwissenschaften zu verdanken haben.
ES ist jedoch nicht genug, daß man die Natur in ihren Wirkungen
sollen unsere Wahrnehmungen in der
beobachte;
That belehrend werden, dann verlangen
wir von ihnen die
höchst mögliche Genauigkeit. Diese Genauigkeit der Beobachtung ist eS vorzüglich, durch welche die neuere Natnrlehre bedeutende Um eine Erscheinung genau zu kennen,
Fortschritte gemacht hat.
müssen wir sie von allem Zufälligen
entkleiden,
wir
müssen
trachten, sie nach Willkühr darzustellen, und daraus entstehen
die sogenannten Versuche.
Um diese bewerkstelligen zu können, hat man verschiedene Werkzeuge (Apparate) erdacht.
Durch diese Werkzeuge hat die
Wissenschaft Fortschritte gemacht, wovon die Alten, welche dieser
Hülfsmittel entbehrten,
sich
keine Vorstellung bilden konnten.
Gehen wir nur die Reihe der physikalischen Werkzeuge durch, dann stehen wir, bei einer geschichtlichen Betrachtung, erstaunt
über den neuen Ursprung von fast Allem.
Welchen Einfluß der
Druck deS Dunstkreises auf den Zustand der Körper auSübt, kann
man
aus
der Wahrnehmung
nicht
ableiten,
eS wäre
denn, daß man die Körper auch so viel als möglich von diesem Drucke befreien könnte; und erst in der Mitte deS siebzehnten
Jahrhunderts verfertigte Otto von Guerike die ersten Luft»
pumpen. —
Die Wahrnehmung lehrte zwar, daß die Körper
durch Wärme ausgedehnt werden; aber wie konnte diese Aus
dehnung der Maaßstab
des Wärmegrades
werden
ohne die
Erfindung des Thermometers, welche erst zu Ende deS sechs zehnten Jahrhunderts staltfand, — ja selbst ohne
Werkzeug,
durch
die
daß dieses
gleichmäßige Eintheilung eines zwischen
zwei festen Punkten liegenden Raumes, allgemein vergleichbar geworden wäre? — eine Verbesserung, die nicht weiter al- zum
7 Beginne des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, und dir Diot glaubt dem Newton zuschreiben zu müssen.
Welchen Begriff
konnte man sich von dem wirklichen Gewebe der Pflanzen und
Thiere bilden; welche Entdeckungen machen in der Geschichte ihres Entstehens und Entwickelns, wenn nicht der Beschränktheit
unseres Gesichtes durch das Mikroskop abgeholfen würde, eben falls eine Erfindung der späteren Zeit, die aber selbst noch in
unseren Tagen fortwährend Verbesserungen erleidet; so daß sich die Grenzen
deö
Weltalls
nach
der Richtung
des
kleinsten
Raumes hin stets weiter und weiter vor dem Beobachter aus breiten? — Daß, um nichts Anderes zu erwähnen, geriebener Bernstein kleine Körperchen an
sich zieht, schien eine einzeln
stehende Wahrnehmung, die jedoch auf unsere physikalischen und chemischen Wissenschaften sicherlich ohne Einfluß geblieben sein
würde, hätte man nicht auf Werkzeuge gedacht, um diese Er
scheinungen zu verstärken; und doch datirt sich die Einführung der sogenannten Elektrisirmaschinen als mechanisches Hülfsmittel
zur Physik erst von der Mitte deö vorigen Jahrhunderts.
Von chemischen Werkzeugen brauche ich nicht zu sprechen; denn daß diese Wissenschaft erst zu Ende des vorigen Jahr
hunderts in ihren Grundlagen verbessert und wie von Neuem geschaffen ist, wissen Sie Alle. Wir
sehen
also
die
gegenwärtige Zustand der feit zu danken hat.
Ursachen
aufgedeckt,
welchen
der
Naturlehre seine hohe Vortrefflich,
Ist Beobachtung
die
einzig wahre und
sichere Grundlage unseres Wissens auf dem weit ausgedehnten Gebiete der Natur, dann wird sich diese Wissenschaft nothwendig in demselben Maaße erweitern müssen, als die Beobachtungen
genauer und mannigfaltiger werden. Die Anwendung der Werk
zeuge eröffnet eine unerschöpfliche Quelle deö Wissens.
Man
macht sich von ihnen einen verkehrten Begriff, wenn man meint,
8 daß ihr Ratzen sich auf die Dersinnlichung
einzelner Natur,
erscheinungen beschränke, oder auf daS sogenannte Erperimente, machen, daS zur Derannehmlichung der physikalischen und chemi
schen
Vorlesungen dienen
muß.
Wir verkennen
daß
nicht,
eS solche Werkzeuge giebt, und eS sei fern von unS, sie alle für unnütz und tändelhaft zu halten; aber zur Erweiterung deS
Wissens bei schon geübten Naturforschern dienen sie nicht, und sie zeigen und überdies oft die Erscheinungen mit einer, von
ihrer Einrichtung
abhängenden Unvollkommenheit,
welche
bei
jugendlichen Anfängern manchmal Mißtrauen in die Wahrheit,
zu deren Bestätigung sie dienen sollen, erwecken kann.
Man
kann eS sogar als ein Kennzeichen der heutigen Naturlehre be trachten, daß sie an dergleichen Werkzeugen ärmer ist, als die
deö vorigen Jahrhunderts,
und daß Modelle von Natur,
erscheinungen (erlauben Sie mir diesen Ausdruck!) mehr und
mehr zur Geschichte der Wissenschaft zu gehören beginnen. Wir aber meinen vorzüglich
die Werkzeuge der Beobachtung und
Prüfung, welche unS der Wirkung der Natur unter verschiedenen Umständen nachgehen lehren, und täglich zu neuen Entdeckungen
Anlaß geben, von welchen die ersten Erfinder dieser Werkzeuge ost keine Ahnung gehabt haben. —
Wo findet sich nur ein
Theil in dem weit ausgedehnten Gebiete der reinen und an gewandten Naturwissenschaft, wo man von dem Barometer und
Thermometer nicht
den vielseitigsten
begleiten den Naturforscher, dienen ihm,
wenige,
würde
in
Gebrauch machte?
der die Berggipfel besteigt, und
um deren Höhe zu bestimmen; einer Glasröhre
der Forscher
Sie
und,
ohne daS
eingeschlossene Quecksilber,
waS
von dem Leben in Betreff der eigenen
Wärme der Thiere, waS der Forscher von der Zusammensetzung unserer Erde, von der Wärme unter ihrer Oberfläche, von der
mittleren Wärme der verschiedenen Zonen wissen?
Hat nicht
s eine glückliche und sinnreiche Anwendung diese- Apparate- Anlaß gegeben zu einer höchst einfachen Weise, die größere oder ge,
ringere Menge de- WafferdampfeS zu bestimmen, womit der Dunstkreis unserer
geschwängert
ist? —
Naturwissenschaften
einfachen Werkzeugen,
und
Ganze
Hauptabtheilungen
verdanken ihren
Ursprung
diesen
au- den Sälen der naturwissen
schaftlichen Schulen sind sie übergesiedelt in die zahlreichen Werk
stätten von hundert verschiedenen Künstlern.
AIS das Zweite nannten wir die verbesserte Lehr weise, und wir denken hierbei vor Allem an die einfacheren Erklä rungen, die in den Naturwissenschaften mehr und mehr Feld
gewinnen.
Einfachheit, das war das treffliche Motto des un
sterblichen Boerhaave, Wahrheit.
Einfachheit
ist das Kennzeichen der
Und wie das Wahre eigentlich allein ist, während
daS Falsche nur scheint, so ist auch jede unwahre Erklärung
nur Wahn und eine Scheingestalt, die bei hellerem Lickte ver
schwindet.
Ich brauche auS der Geschichte der Scheidekunde nur
daS Phlogiston der Stahlianer zu nennen, von welchem man glaubte, daß eS bei der Verbrennung der Körper und der
sogenannten Verkalkung der Metalle entweiche, so daß dieser
Körper die sonderbare Eigenschaft besitzen müßte, die Substanzen, in denen er sich befindet, leichter zu machen, als sie ohne ihn
Doch der Irrthum, insofern er gelehrter Irr
sein würden?
thum ist, hat noch ein wesentlichere- Übel im Gefolge al- bloße
Unkenntniß.
Er erstickt die Forschung, und wiegt den Geist in
Schlaf mit einer scheinbaren Befriedigung seine- Streben- nach
tieferer Einsicht.
Wo man glaubt, schon gefunden zu haben,
sucht man nicht; und ist eS Diesem nicht zuzuschreihen, daß die
ungereimtesten Begriffe Jahrhunderte lang
von Geschlecht zu
Geschlecht sind fortgepflanzt worden, al- wäre eS unS zur War,
nung, nicht Alles für lautere- Gold zu halten, wa- durch da-
10 Ansehen der Jahrhunderte alS solche-gestempelt worden? Wenn Shakespeare seinem Hamlet die Worte in den Mund legt: „ES giebt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als eure
Schulweisheit sich träumen läßt, Horatio," ach! dann dürfen
wir wohl seufzend hinzufügen, daß es in unserer Schulweisheit
auch viele Dinge giebt, wovon weder auf Erden noch im Himmel etwas zu finden ist.
Da gleichwohl, selbst in der fernsten Zu
kunft, für den beschränkten Menschen die Kenntniß der Natur
wohl immer Stückwerk bleiben wird, so müssen wir uns darüber
beruhigen, daß unserer Philosophie viele Dinge unbekannt bleiben, die im Himmel und auf Erden bestehen, wenn sie sich auch nur
alles Dessen entäußern könnte, was im Himmel und auf Erden
nicht besteht. Während eS tausend Wege giebt, die zum Irrthume führen,
so giebt eS nur einen, der zur Wahrheit leitet.
Daher die
vielen Erklärungen der Alten, die bei dem Lichte späterer Tage
als Irrthümer erkannt sind.
Brauche ich hier an die Behauptung
des Aristoteles zu erinnern, daß es ebensowohl leichte Körper gebe, wie schwere, weil einige in die Höhe steigen?
Wenn es
Nereiden gäbe und sie eine Naturlehre nach diesem Grund sätze bearbeiteten, wie Torricelli
eS
sich vorstellte, dann
würden sie viele, welche wir zu den schweren Körpern zählen, leichte nennen, z. B. das Wachs, das Holz, daö Oel.
Der
Name Torricelli'S
erinnert
mich hier an den
Abscheu vor dem Leeren, wodurch die Alten sich die Wir
kung der Säugpumpen und Heber erklärten, daß nämlich das
Wasser, obgleich sonst nicht geneigt, in die Höhe zu steigen, lieber aufsteige, als
einen leeren Raum über sich zu lassen.
Man hatte einmal in
einem Garten zu Florenz eine sehr
lange Pumpe verfertigt; als man jedoch mit Erstaunen sah, daß daS Wasser nur bis zur Höhe von 32 Fuß zu bringen
11 fei, verfügte man sich zu Galiläi, der, fei eS nun scherzend, fei eS, um sich der Frager zu entschlagen, zur Antwort gab,
daß die Natur nur bis zur Höhe von 32 Fuß Abscheu vor
dem Leeren habe!
ES war wenigstens dem Geiste seines großen
Schülers Torricelli vorbehalten, um nachzuweifen, daß Queck
silber in einer, an dem einen Ende verschlossenen und mit dem
selben angefüllten Glasröhre, wenn man diese mit dem offenen, unteren Ende in eine Queckstlberschale stelle, nicht höher steige, als ungefähr 28 Zoll; so daß man zugeben muß, daß in einer
mit Quecksilber gefüllten Röhre der Abscheu vor dem Leeren nur bis zu einer Höhe von 28 Zoll gehe; wenn man nicht mit Torricelli, den Druck der Luft für die Ursache
lieber,
beider Erscheinungen halten will, so daß die Höhe einer Wasser-
und Quecksilbersäule dem eigenthümlichen Gewicht einer jeden entspricht, d. h. richtiger gesprochen, in einem umgekehrten Ver
hältnisse zu demselben steht.
Pascal kam auf den glücklichen
Gedanken, diesen Streit durch den Versuch zu schlichten, ob, bei
Verkürzung
der
drückenden
Säule der
atmosphärischen
Luft
auch die Quecksilbersäule herabsinke; und Perrier bestieg mit
Torricelli'S Röhre den Puy de Dome, und sah auf dessen Gipfel wirklich daS Quecksilber um ungefähr 3 Zoll niedriger
Von dieser Zeit an gab eS keinen Abscheu vor dem
stehen.
Leeren mehr in den Systemen der Naturforscher, und Torri
celli'S Werkzeug, daS schon früher erwähnte Barometer, wurde allgemein eingeführt, um die Veränderungen deS Druckes
der atmosphärischen Luft auf eine leichte Weise beobachten zu können.
In seinen geistvollen Gesprächen über die Vielheit der
Welten stellt Fontenelle sich vor, daß die alten Philosophen einer
heutigen Schauspielaufführung beiwohnten und
in
der
Opera zu Paris den Faston in die Höhe steigen fähen,
und daß sie die Schnüre, mit welchen er hinaufgezogen wird,
12 nicht wahrnehmen könnten, noch mit der Einrichtung hinter den
Coulissen bekannt wären.
verborgene Eigenschaft,
Faeton machen.
besteht auS
Der Eine würde sagen, eS ist eine die FaSton emporhebt.
gewissen
Zahlen,
die ihn
Der Andere,
emporsteigen
Wiederum ein Anderer, Faeton hat eine gewisse Liebe
für den obersten Theil der Schaubühne; er fühlt sich nicht be
haglich, wenn er nicht dort ist.
Ein Vierter, Fäeton ist nicht
gemacht, um zu fliegen; aber er will doch lieber fliegen, als den obersten Theil der Bühne leer lassen, und tausend andere Hirngespinste mehr; und eS ist nur zu verwundern, daß die
hochgepriesenen Alten deshalb nicht seit lange ihren guten Na
men verloren haben.
Endlich kommen DeScarteS und einige
andere spätere Forscher, und sagen, Faeton steigt empor, weil
er mit Stricken gezogen wird, und weil ein Gewicht, schwerer alS er, hinuntersinkt.
So glaubt man jetzt nicht mehr, daß ein
todter Körper sich bewege, eS sei denn, daß er durch einen anderen gezogen oder sortgestoßen werde; und Der, welcher die Natur sähe, so wie sie ist, würde alS daS Wahre sehen —
die Einrichtung deS Schauspiels hinter den Coulissen.
Glauben Sie nicht, daß durch diese einfache Erklärung das
. Schauspiel der Natur irgend etwas von seiner Schönheit oder Annehmlichkeit verloren habe.
ES
verhält sich so: Bei einer
Schauspielaufführung würde eS die Illusion, wie man eS nennt, zerstören, wenn man Alles sähe, wie eS bewerkstelligt
wird, und obgleich man weiß, daß eS keine Wunder sind, so schöpft man doch Vergnügen auS der Täuschung und überläßt
eS dem geschickten Maschinenmeister, über daS Räderwerk und die verborgene Anordnung nachzudenken. ist eS ganz anders.
sucht Wahrheit.
Aber in der Natur
Hier will man keine Täuschung;
man
Und wenn unS nun die sorgfältigste Forschung
zu einer Sparsamkeit der Mittel leitet, von welcher man keine
13 Vorstellung hatte, Wessen Bewunderung wird dann nicht höher
steigen, wenn er die vielen und erstaunend verschiedenen Wirkungen sieht, welche durch diese einfachen Kräfte und Grundursachen
zuwege gebracht werden. In der That, nicht die Menge
einzelner Sachen allein
ist eS, ja diese sind es nicht einmal hauptsächlich, waS den
wahren Reichthum der Wissenschaften auSmacht.
Unser denken
der Geist fragt nach Einheit; und eö ist keineswegs ein Kenn zeichen der Beschränktheit des Menschen, sondern vielmehr seiner vortrefflichen Anlage, daß er durch Entdeckung von Beziehungen
und durch vielfache Vergleichungen nach allgemeinen Begriffen
sucht.
Ist es dann ein Wunder, daß Erscheinungen, die im
Beginne
als
sammenhang
einzelne
mit
Eigenthümlichkeiten,
ohne
häufig
Zu
allen anderen Naturerscheinungen auftreten,
oft der Saamen sind der
allerwichtigsten
und
auf die
schiedensten Ansichten Einfluß übenden Wahrheiten?
ver
Wir haben
bereits erwähnt, daß geriebener Bernstein kleine, leichte Körper chen anzieht.
Jahrhunderte mußten verlaufen,
ehe man von
derselben Kraft, die diese Erscheinung verursachte, solche erstaun,
lichen Wirkungen sah, daß man sie mit dem Blitze verglich, bis Franklin'S kühne Hand den Blitzstrahl selbst aus den Wolken
herniederzog, um diese Uebereinstimmung zu beweisen.
Dieselbe
Elektricität war eS, welche wiederum als eine fremde, für sich selbst bestehende Erscheinung bei thierischen Körpern thätig zu
sein schien, bis Galvani seine ersten Entdeckungen machte; aber Volta'S
Scharfsinn
sonderte
das Zufällige
von dem
Wesentlichen ab, und lehrte, daß die Wirkung allein von der Berührung zweier ungleichartigen Metalle oder Stoffe abhange,
daß der Muskel dabei nur als Leiter müsse angesehen werden, und daß der Galvanismus nichts als Elektricität fei; di
es ihm gelang, die berühmte Säule zu erfinden, wodurch diese
14 elektrischen Erscheinungen verstärkt «erden, und wodurch, gleich
wie durch die in der Mitte deS vorigen Jahrhundert- erfundene
Leidner Flasche, die heftt'gstm Schläge hervorgebracht werden können, mit dem Unterschiede allein, daß die Schläge anhaltend sind, und nicht, wie die der Leidner Flasche, plötzlich vorüber,
gehen.
Mit der Erfindung der Voltaschen Säule eröffnete
das neunzehnte Jahrhundert die schöne Reihe der Entdeckungen, welche biö auf unsere Tage fortdauern.
Die Wirkungen dieser
Säule in der Scheidekunst gaben zu den
son'- Anlaß. Genie
Versuchen Nichol
Sie bewiesen Davy, was schon Lavoisier'S
gemuthmaßt
daß
hatte,
Sauerstoff verbundene Metalle
Laugensalze seien.
und
Erden
mit
Oersted entdeckte nun
zuerst den merkwürdigen Einfluß, welcher durch einen leitenden
und die beiden Pole verbindenden Draht auf die Magnetnadel ausgeübt wird.
scheinungen
Eine Reihe von neuen elektromagnetischen Er
wurde
bekannt;
eine
vorübergehende
magnetische
Kraft wurde wie durch einen Zauberschlag erweckt, so daß ein
Stück weiches Eisen, welches sonst durchaus kein Anziehungs
vermögen auöübt, nun plötzlich erstaunliche Gewichte trägt; und in
unseren
Tagen
lehrte
Faraday,
umgekehrt, durch den
Magnet selbst elektrische Funken und andere Erscheinungen her vorbringen.
Wer steht nicht erstaunt,
wenn er dieser Reihe
von Entdeckungen nachgeht, die ich Ihnen in flüchtigen Zügen dargestellt habe? — Und nun kehren wir in unseren Gedanken
zurück zum Bernstein, dessen Anziehungsvermögen Thales, oder
wer eö denn auch sein mag, zuerst beobachtete, und wir sehen
hier das erste Glied einer unabsehbaren Kette. Lehrt dieses Beispiel uns überzeugend den gegenwärtigen
Fortschritt der Naturwissenschaften, so thut eS solches vorzüglich durch die Verbindung, welche spätere Entdeckungen in frühere,
unzusammenhängende Thatsachen gebracht
haben.
Und
diese
15 zwei Eigenschaften sind eS vornehmlich — einfachere Erklärungen der Erscheinungen und tiefere Einsicht in den Zusammenhang der verschiedenen Wirkungen der Natur —, wodurch sich die
Naturwissenschaften jetzt mehr als je auszeichnen.
Inzwischen
ist es nicht zu verkennen, daß man sich beim Zurückführen ver-
schiedener Erscheinungen
auf eine und dieselbe
Ursache vor
Übereilung hüten muß, und daß selbst die späteren Zeiten unS von dieser Übereilung warnende Beispiele liefern.
Wenn ge
wichtige Entdeckungen den Zustand einer Wissenschaft gleichsam
verwandeln, dann entsteht ein neues Licht, welches ost so hell
erscheint,
als gäbe es nun keine Finsterniß mehr.
Entdeckungen lassen häufig Zweifel entstehen.
Licht etwa von seiner Helligkeit verloren?
Spätere
Hat das vorige
Insofern es wirklich
Licht der Wahrheit war, kann eS nicht verloren haben; aber
eS ist, als ob die Augen, allmählig an dasselbe gewöhnt, nun, mit Hülfe von diesem Lichte selbst, stetö schärfer und deutlicher sähen.
Ich brauche Denen, die mit der Geschichte der Wissen
schaften bekannt sind, nur Lavoisier'S Entdeckung, die außer gewöhnliche
Klarheit
des
Systems
Gründer
der
der
phlogistischen Scheidekunde, in Erinnerung zu bringen.
eS nicht, als ob Alles entdeckt wäre?
anti War
Die Zusammensetzung
aller Säuren, die wahre Weise der Verbrennung, das Athmen, die thierische Wärme und was Alles mehr!
Oder wollen wir
ein Beispiel, das in unsere Tage fällt: schien eS nicht, als ob die Wirkung der Volta'schen Säule in der Scheidekunst über zeugend bewiese, daß chemische Verwandtschaft eins wäre mit
Elektricität, und war man nicht in einen neuen Zeitabschnitt, in den des Elektrochemismus, eingetreten, bis Faraday auch
hier Zweifel äußerte, die andeuteten, daß man das Ziel noch nicht erreicht habe.
16 Lassen wir uns durch diesen letzteren Gedanken, daß näm
lich da- Ziel noch nicht
der Blüte
erreicht sei, zu
keinem Zweifel an
und hohen Vortrefflichkeit der Naturwissenschaften
in unseren Tagen hinreißen.
Vortrefflich nennen wir diesen
Zustand, m. H., aber dieS nur in Vergleichung mit früheren
Zeiten; denn auf dem ausgedehnten Gebiete der Naturwissen
schaften sind wir nur erst einige Schritte vorwärts gegangen.
Entmuthigend mag dieser Gedanke für die Eitelkeit und Trägheit sein, die sich gerne im Besitz der Weisheit wähnen möchte; ermuthsgend ist er für den wahren Forscher, der, überzeugt von der Unvollkommenheit alles menschlichen Wissens, glaubt, daß
die höchste Bestimmung des Menschen hier aus Erden in Übung der Kräfte und Vermögen deS vernünftigen und unsterblichen Geistes gelegen sei.
Aber, sagt man vielleicht, die genaue Kenntniß ist nur für
den Gelehrten von Beruf; auf daS gemeine Leben und auf die allgemeine Wohlfahrt hat sie keinen Einfluß.
Daö Zeugniß
der Erfahrung würde diese Ansicht genugsam widerlegen, wäre ihre Unbegründetheit auch
Sache selbst
nicht
überzeugend
entlehnte Gründe zu beweisen.
durch
auö
der
Wenn doch die
Naturwissenschaften die Grundlage auSmachen von allen unseren
Künsten, wobei wir die Gegenstände der Natur unseren Be
dürfnissen entsprechend anwenden, ihre Kräfte zu unseren Ar beiten benutzen — und eS ist überflüssig,
nutzlose Beweise für
eine unzweifelhafte Sache anzuführen —, wenn dann die Natur kunde auf Gewerbthätigkeit und Wohlfahrt im Allgemeinen Ein,
fluß hat, waS dünkt Ihnen, m. H., wird dieser Einfluß nicht um so umfassender, um so wohlthätiger sein, je vollkommener die Wissenschaft selbst ist, von welcher er ausgeht?
Aber auch
daS Zeugniß der Erfahrung spricht hier laut. Wenn unsere Väter, die vor vierzig oder nur vor dreißig Jahren gestorben sind, auS
' 17 ihren Gräbern heraus
sehen könnten oder noch einmal diese
Erde beträten, so würden sie vor Staunen kaum Worte finden, wenn sie nicht nur auf unseren Strömen die zahlreichen Schiffe sähen, welche die Alten vielleicht beseelt nennen würden, weil sie durch innere Bewegung fortgetrieben werden; sondern wenn sie dieselben, durch den Athem des WasserdampfeS fortbewegten,
Kiele auch daö Meer durchpflügen sähen, und, von dem Einfluß
der Winde unabhängig, den einen Welttheil mit dem anderen näher verbinden; Fabriken
wenn
jetzt Dasjenige
sie diesen selben Dampf in verrichten sähen,
was
unseren
zuvor
durch
hundert Menschenhände mit großem Zeitverluste geschehen mußte; wenn sie
aber ich will jetzt nicht wiederholen, waS die
Meisten von Ihnen sich erinnern werden gehört zu haben, als
eines unserer Mitglieder, mit reicher Auswahl der Gegenstände und in lebendigen Zügen, den vortheilhaften Einfluß der Natur wissenschaften auf die Gewerbthätigkeit darstellte, die von ihnen in
ihrem Wesen verändert, verbessert und ausgedehnt wurde, und welche zugleich neue Quellen für den Volkssleiß geöffnet haben.*)
Aber nicht auf die Beförderung der Gewerbthätigkeit allein beschränkt sich der Einfluß der Naturwissenschaften; sie finden
eine ausgedehntere Anwendung auf Alles, was zur Verannehmlichung des Lebens, zur Beschirmung unserer Besitzungen gehört.
Ist es nöthig, nochmals von dem Nutzen der Ableiter zu sprechen, die doch keiner bloßen Vermuthung, daß der Blitz eine elektrische
Erscheinung sein könne, sondern der thatsächlichen Wahrnehmung
ihren Ursprung zu verdanken haben?
Fehlte eS etwa noch an
Beweisen für ihre Nützlichkeit, die Kirchthürme vieler Städte
unseres Vaterlandes würden alle Zweifel hiuwegräumen kön-
*) Vertrag über btn Vortheils,asten Einguß der Natiirwiffenschaftcn aus die Industrie; von A. H. van r er Boon Mescb. Leiden, 1834. 8vo.
18 nm, die Thürme, worin früher zu wiederholten Malen der Blitz einschlug und großen Schaden anrichtete, aber die nun seit lange
durch solche Ableiter geschützt sind.
Und auch an diesem wichti
gen Werkzeuge wurden in letzterer Zeit bedeutende Verbesserungen angebracht: so z. B. die Beschützung deS untersten, unter dem Boden verborgenen
und
dem Blicke
entzogenen Theiles
des
Leiter-, durch das Einmauern in einen steinernen, mit Holzkohle gefüllten Kanal, wodurch verhindert wird, daß eben das Schutz
mittel, aus welches man sich verließ,
werde. —
betrüglich und gefährlich
Die Galvanische Elektricität gab Davy ein Mittel
an die Hand, um das Kupfer der Schiffe gegen die Wirkung deS MeerwasserS zu schützen, indem er eS mit Zink, Zinn oder
Eisen in Verbindung brachte; und eben dieses Mittel benutzte er auch mit gutem Erfolge, um die eisernen Dampfkessel vor
Rost und gefährlicher Abnutzung zu bewahren.
Was kann in Nicderland etwas, das auf die Seefahrt Bezug hat, anders als ein allgemeines Interesse erwecken? Un
erwähnt mag denn auch die Entdeckung Barlow'S nicht blei ben, nämlich vermittelst einer eisernen Platte die Abirrung des Kompasses, welche durch den Einfluß deS Schiffseisens verursacht
wird, auszuheben, deren großer Nutzen, vorzüglich bei Reisen nach dem Nordpol, allgemein anerkannt worden ist.
Schiffe kann das Eisen, waS seine Wirkung
In jedem
welches sich ans demselben befindet,
auf die Magnetnadel anbetrifft,
als
in
Einem Punkte vereinigt gedacht werden, so daß man, wenn
man daselbst eine eiserne Kugel von hinreichender Größe auf stellte, dieselbe Wirkung auf den Kompaß bemerken würde, wie
durch die vereinigten Kräfte ausgeübt wird.
des SchiffseisenS
auf denselben
Durch eine, hinter dem Kompasse angebrachte
eiserne Platte wird nun die Magnetnadel zweien Kräften von
entgegengesetzter Richtung bloßgestellt, welche man durch Per-
19 suche von gleicher Stärke machen, und so die Anziehung deS
Schiffseisens nach allen Richtungen des Schiffes genügend auf heben kann. —
Welche Bedürfnisse endlich find allgemeiner,
als die, sich gegen die Kälte zu schützen und sich zn nähren!
Aber welche Verpflichtungen ist dann nicht die Menschheit den
Wissenschaften schuldig, welche nnS an Allem zu sparen lehren,
welche durch die Einführung nahrhafterer Pflanzen in den Acker bau den Boden
gleichsam
erweitern! — den Wissenschaften,
welche die Luft zu reinigen lehren, so daß die Verheerungen deS Krieges, bei Anhäufung von Verwundeten und Leichen in
großen Städten, keine pestartigen Krankheiten mehr nach sich ziehen; die das unreine Wasser trinkbar und hell machen, und
es auf langen Seereisen vor Verderb
zu bewahren lehren;
welche endlich die für die Gesundheit schädlichen Fälschungen
kennen lehren, womit die Habsucht sich nicht entblödet, sogar die ersten Lebensbedürfnisse zu vergiften? —
Wessen Bedarf ist
größer und allgemeiner in verfeinerten Ländern, als der des Feuers; aber welche Mittel hat man nicht erdacht, um seine
Wirkung
mit Ersparung von Brennstoff zu vermehren;
und
wie nützlich ist nicht in unseren Tagen die Erwärmung großer
Gebäude durch heißes Wasser, sowohl durch Ersparung von
Unkosten,
als
auch durch
Verminderung
der FeuerSgefahr?
Hätte man diese Art der Erwärmung allgemeiner eingeführt,
dann würde wahrscheinlich das Englische Parlament sich nicht eines Versammlungssaales beraubt gesehen haben, in welchem
alte Erinnerungen Liebe zu alten, ehrwürdigen Einrichtungen erwecken oder erzeugen konnten.
Doch wir können unsere Aufgabe für erfüllt halten.
Bemerkung noch zum Schluß.
Eine
Die Wohlthaten, welche die
Naturwissenschaften der Menschheit erweisen, sind allgemein und
bleibend.
Nicht auf ein einzelnes Volk beschränkt, breiten sie 2*
20 sich anS über alle Völker, ohne etwas an Werth zu verlieren, und, welche menschlichen Einrichtungen auch verschwinden mögen, sie bleiben bestehen bis zu den spätesten Nachkommen.
Was
menschliche Thorheit und Verirrung auch niederreißen mag, was die Wuth rasender Völker auch zerstöre, diese gute Saat wird
niemals erstickt, sondern trägt immer reichlichere und herrlichere Früchte. In welch schönem Lichte erscheint und bei einer solchen
Überzeugung die Kenntniß der Natur; und die Namen Frank, lin, Lavoisier, Berthollct, Davy und so viele andere,
sind eS nicht die Namen von Wohlthätern der Menschheit? ES ist so, m. H., die Ausübung der Wissenschaften fordert nicht
alS erstes Gebot, daß man sich um nützliche Ergebnisse be,
kümmere; sie erheischt Wahrheitsliebe, und eS ist ihr um Be
friedigung deS Wissensdurstes, nicht um Vortheil zu thun.
Aber
wir dürfen deshalb nicht glauben, weder, daß eine besondere
Ausübung der Wissenschaften aus reiner Wahrheitsliebe, wenn sie glücklichen Erfolg hat, jemals unfruchtbar für das mensch
liche Glück sein könne; noch, daß eine ächt wissenschaftliche An wendung derselben auf nützliche Künste und Gewerbe jemals dem
wahren Gelehrten zur Unehre gereichen würde. Gewöhnlich jedoch
giebt die Wissenschaft nur den ersten Wink, und die Ausführung der Sache überläßt sie Anderen; sie knüpft wahrlich das all gemeine Band, daS Menschen an Menschen bindet, stets enger
und fester.
So hat man eS gesehen, daß Deutsche Gelehrte,
die vielleicht nie ein Seeschiff zu Gesichte bekamen, die Seefahrt kunde verbesserten, und dafür durch seefahrende Mächte belohnt
wurden. In einer wohlgeordneten Gesellschaft hat der Mensch, bei
unserem Zustand der Cultur, verschiedene Kreise der Wirksamkeit. ES scheint wohl, als hätte Jeder nur seinen Acker zu bestellen, und alS wären die Kreise außer Berührung, so lange nicht
11
eigener Dortheil sie weiter au-dehnt und ineinander greifen läßt; aber eS ist nur Schein. Ohne sein Wollen und Wissen befördert Jeder, der mit wahrem Eifer und mit gutem Verstand nur sein eigene- Glück befördern will, gleichzeitig da- von Anderen. Durch Eifer und nützliche Wirksamkeit eine- jeden Bürger- blüht der ganze Staat. Glücklich Derjenige, der dieserecht fühlt, und der nicht nur ohne seinen Willen und gegen seine Absicht etwa- allgemein Gute- stiftet, sondern vielmehr, mit verständiger Ueberlegung und weiser Wahl, Alle- thut, waS Menschenglück um ihn befördern kann! Glücklich die Gesellschaft, wo Kenntniß und Wissenschaft, durch vereinigte Bemühungen Aller, das Bild darbieten der wohlthätigen Sonne, und, so wie sie, nicht Licht allein, nicht Wärme allein, sondern Licht und Wärme zugleich verbreiten!
II.
Die Lutt. Eine populäre
Naturbetrachtung.
Jhr Mensch bedarf,
gleich allen lebenden Wesen auf Erden,
Pflanzen und Thieren, zu seiner Erhaltung fortwährend äußer
licher Reiz-
und
Nahrungsmittel, ohne
Leben bald erlöschen würde.
deren
Einfluß
daS
Aber unter allen den äußerlichen
Einflüssen, oder erregenden und wiederherstellenden Mitteln zum Lebensunterhalte,
giebt eS eines,
dessen Entziehung
oft nur
wenige Augenblicke zu währen braucht, um den Tod zu ver ursachen.
Beständig nehmen wir diesen Stoff in unS auf, von
dem die Erhaltung unseres Lebens so abhängig ist, daß der
Athem und die Lebenskraft in vielen Sprachen durch ein und dasselbe oder durch ein fast gleiches Wort ausgedrückt werden.
Wie eine unsichtbare Freundin umgiebt unö dieser Stoff und begleitet unS überall auf unserer LebenSreise, und die Dank
barkeit fordert,
bleibe.
daß sie für unS
keine
Sie errathen, daß ich von der
unbekannte Freundin Luft spreche, und ich
gedenke, Sie in dieser Stunde mit derselben in einigen flüch,
tigen Darstellungen zu unterhalten.
Ich will eS versuchen, eine
populäre Naturanschauung von der Lust zu geben. diesen Gegenstand vor seltneren und ausgesuchteren.
Ich wähle
Denn um
26 z D. ein Naturgemälde der Vulkane zu entwerfen, die eS mir nie vergönnt war mit eigenen Augen zu sehen, oder über die Umwälzungen unseres Planeten mit Ihnen zu sprechen, wobei
ich Kenntnisse vorauösetzen müßte, die in einem gemischten Kreise
von Zuhörern doch wohl nicht allgemein verbreitet sein möchten, um über diese und ähnliche Gegenstände zu sprechen, dazu konnte ich
mich
sellschaft,
nicht
deren
gemeinen,
Ich
entschließen. Sinnspruch
und indem
ist:
rede
hier vor
Zum
Nutzen
einer
deS
Ge All
ich vor dieser Gesellschaft rede,
ist
mein Gegenstand, obgleich die Lust, sicher nicht auö der Luft
gegriffen*).
Hören Sie mich mit Nachsicht an,
wenn ich
manchmal nur bekannte Sachen anführen werde, oder wenn ich
hier und da, gegen meinen Willen und meine Absicht, vielleicht
etwas tiefer aus dem Felde der Wissenschaft fortgehen sollte, als eS für einen allgemein faßlichen Vortrag passend ist.
Der wie
derholten freundlichen Aufforderung, auch einmal in Ihrer Mitte die Rednerbühne zu betreten, hab' ich willfahrt.
Wie auch der
Erfolg fein möge, ich hoffe, daß Sie meinem guten Willen
Ihre Anerkennung
nicht
versagen werden.
Wir nennen die Luft einen Stoff.
Hier muß ich sogleich
bemerken, daß wir sie nicht sehen, und so einer allgemein ver
breiteten Ansicht widersprechen, sichtbar wären.
als ob stosfliche Sachen immer
Sie sind diese- eben so wenig, als das Sicht
bare immer stofflich ist.
Ein Bild im Spiegel oder im klaren
Fluß ist sichtbar; aber eS ist kein Stoff; eö sind zurückgewor,
fene Lichtstrahlen, welche dieses Bild verursachen; und will man
*) Diese Abhandlung wurde im December 1842 in der Leid en scheu Abtheilung der erwähnten Gesellschaft und mit einigen Veränderungen im Januar 1843 in der Gesellschaft Diligentia zu S'Gravenhage Vorgelesen.
27 auch da- Licht selbst einen Stoff nennen, so ist doch da- Licht
al- sichtbar und sichtbar machende Ursache allein für das Auge vorhanden. — Gab' eS keine Augen und Sehnerven, die Er, zitterungen des feinen LichtstoffeS würden gleichwohl bestehen,
aber nicht als Licht; als solches bestehen sie allein für daS
Auge, welches durch sein eigenthümliches Wesen jene bestimmte Empfindung in unS erweckt, welche wir Sehen nennen.
Zu den allgemeinsten Eigenschaften des Stoffes gehört die
Ausfüllung
Widerstand gegen andere Stoffe
Raum einnehmen wollen.
der Luft.
und dadurch erzeugter
eines bestimmten Raumes
welche diesen
oder Körper,
Diesen Widerstand bemerken wir bei
Obwohl nun durch die große Beweglichkeit und Ver
schiebbarkeit der kleinen Theilchen, aus welchen die Luft besteht, dieser Widerstand in den meisten Fällen für uns unbemerkbar
bleibt, so brauchen wir nur die Luft in einen bestimmten Raum einzuschließen, um unS davon zu überzeugen.
Eine mit Lust
wohlgefüllte Blase setzt der Hand, welche sie zusammenzudrücken
versucht, Widerstand entgegen, und wie sehr auch der von ihr ein genommene Raum verkleinert werden kann, so widersetzt sie sich doch einer gänzlichen Zusammenpressung mit um so stärkerem Wider
stand, je mehr sie bereits gedrückt ist.
Ohne diesen Widerstand
der Luft würden die Vögel nicht fliegen können, was man auch ein
Schwimmen
in der
Luft
nennen
könnte,
so
wie
daS
Schwimmen der Fische ein Fliegen im Wasser ist. Eine andere allgemeine Eigenschaft deS Stoffes, die wir weniger
aus vorhergehenden Schlüssen
nehmung ableiten,
ist seine Schwere.
als
aus
der Wahr
Unsere Erdkugel zieht
alle Körper in ihrer Nähe an, so wie alle Körper ebenfalls
die Erde anziehen.
Aller Stoff hat Anziehungskraft.
Aber da
die Masse, d. h. die Menge der Stofftheilchen, unserer Erdkugel, die Masse aller Körper auf der Erde weit übertrifft, so über-
28 windet auch die Anziehungskraft der Erde alle Anziehung, die
andere irdische Körper auf sie ausüben und zwingt dieselben,
sich ihr zu nähern.
Dadurch wird die Schwere verursacht.
Ein Körper drückt auf einen anderen, der denselben unterstützt, durch die Schwere.
Daß nun auch die Lust schwer ist, kann
auf verschiedene Weise dargethan werden.
Man hat zu diesem
Zwecke sich der Luftpumpe bedient, eines Werkzeuges, vermittelst
dessen man die Luft in
einem begrenzten Raume
dünnen, jedoch nicht ganz wegnehmen kann.
sehr
ver
Wenn man eine
große Glaskugel, mit Lust gefüllt, wiegt, und dann die Luft in der Kugel durch jenes Werkzeug verdünnt, oder, wie man sagt,
auspumpt, so bemerkt man bei einer zweiten Wägung, daß die Kugel leichter geworden ist.
Doch Sie verlangen andere Be
weise, da nicht Jeder diese Versuche wiederholen kann.
Ich
muß hier von einem der nützlichsten naturwissenschaftlichen Werk zeuge sprechen, das in vielen Häusern zu finden ist, und daS
Sie Alle kennen.
Ich meine das Barometer.
Die Alten
erklärten die Wirkungen der Säugpumpen und Heber aus einer Furcht oder einem Abscheu vor dem Leeren, so daß daS Wasser, sonst nicht geneigt, in die Höhe zu steigen, lieber emporsteige,
alS einen leeren Raum über sich zu lassen.
Der Zufall lehrte,
daß daS Wasser nur bis zur Höhe von 32 Fuß zu bringen sei, und man glaubte, daß der Abscheu der Natur vor einem
leeren Raume seine Grenzen habe.
hundert
zeigte
Torricelli,
daß
Erst im siebzehnten Jahr
in
einer
an
dem
einen
Ende verschlossenen und mit Quecksilber angefüllten Glasröhre, dieses,
Ende in
nachdem
man
die
Röhre
mit dem
unteren
offenen
eine Quecksilberschale gestellt hat, nicht höher stehe,
als ungefähr 28 oder 29 Zoll, so daß man sagen muß, daß
in mit Quecksilber gefüllten Röhren der Abscheu vor dem Leeren nur bis zu 28 Zoll oder etwas darüber gehe; es sei denn,
29
daß man lieber mit Torricelli den Druck der Luft für die Ursache beider Erscheinungen halten will, so daß daS Gewicht
der Luftsäule, welche auf die Oberfläche der Quecksilberschale
drückt,
gleich ist dem Gewichte der Quecksilbersäule
28 Zoll.
von
Denn da daS Quecksilber eine ungefähr dreizehn
Mal größere eigenthümliche Schwere hat, als das Wasser, so
muß die Wassersäule, die sich mit der Luft in Gleichgewicht stellt, auch ungefähr dreizehn Mal höher feilt, als die Queck silbersäule in dem Barometer.
DieS also ist die Torricellia-
nische Röhre, von der wir sprachen, und die Benennung Ba rometer deutet ein Werkzeug
an,
durch
welches
Schwere bestimmt, einen Messer der Lustschwere.
man die
Noch erman
gelte Torricelli'S Ansicht einer vollkommenen Bestätigung, bis endlich Pascal im Jahre
1647 durch den Versuch erwieS,
daß bei Verkürzung der drückenden auch die Quecksilbersäule
niederfalle.
Säule der Dunstkreislust Diesen Versuch
machte
Pascal auf einem Kirchthurme zu Paris; doch um ein ent
scheidenderes Ergebniß zu erhalten,
schrieb er an Perrier,
der in der Auvergne, in der Nähe deS hohen Berges Puy-
de-Dome, wohnte:
„Wenn die Höhe deS Quecksilbers auf
„der Spitze des Bergcö geringer sein sollte, als am Fuße, wie
„ich", schrieb er, „anS vielen Gründen vermuthe, dann folgt
„daraus, daß das Gewicht und der Druck der Luft die einzigen „Ursachen der Erscheinung
sein
müssen und
keineswegs
der
„sogenannte Abscheu vor dem Leeren, da es doch augenschein„lich ist,
daß am Fuße des Berges mehr Lust daS Gleich
gewicht zu halten ist, als auf der Spitze, und da wir doch „unmöglich sagen können, daß die Lust am Fuße des BergeS
„einen größeren Abscheu vor dem Leeren haben sollte, alS auf „seinem Gipfel."
Perrier bestieg mit Torricelli'S Röhre
30 den Puy-de-Dome, und sah auf dessen Gipfel daS Queck
silber ungefähr 3 Zoll tiefer stehen, alö am Fuße deS BergeS.
Es giebt jedoch einen anderen Beweis für die Schwere der Lust, welchen ich nicht mit Stillschweigen übergehen darf.
Eben so, wie im Wasser alle Körper von ihrem Gewichte ver
lieren, so muß auch ein Körper in der Dunstkreisluft etwas von seinem wahren Gewichte verlieren.
Ist ein Körper von
derselben eigenthümlichen Schwere, wie das Wasser, daS ist, wiegt ein gleiches oder eben so großes Volumen des Körpers
und des Wassers gleich viel, dann bleibt er überall int Wasser
im Gleichgewicht hängen; ist die eigenthümliche Schwere des eingetauchten Körpers geringer,
als die des Wassers,
steigt er in die Höhe und treibt auf der Oberfläche.
dann
AuS der
Schwere der Luft erklärt es sich auch, warum manche Körper in der Lust umhertreiben oder emporsteigen, während eS keinen anderen Grund giebt, warum sie verhindert werden, sich der anziehenden Erde zu nähern.
Aristoteles
meinte,
nicht nur schwere, sondern auch leichte Körper gäbe.
daß eS
Doch daß
der Rauch in der Luft in die Höhe steigt, beweist nicht, daß
der Rauch leicht ist, sondern daß die Lust schwer und schwerer alS der Rauch ist.
Der Rauch steigt aus derselben Ursache in
der Lust empor, auö welcher ein Stück Holz auf dem Wasser schwimmt.
Auf dem Wasser zu treiben oder zu fahren, sei eS nun
blos vermittelst ausgehöhlter Baumstämme, wie, nach der Sage, die ersten Erfinder der Schifffahrt, oder mit Hülfe von Flö ßen,
wie,
nach Plinius,
der König Erythroö auf dem
Rothen Meere, ist eine sehr alte Erfindung, und wir treffen
wohl kein Volk auf Erden an, wie niedrig die Stufe der Bil dung auch sei, auf welcher es steht, welches nicht im Besitze
von Kanoos oder Piroguen ist, sofern eS nur in der Nähe
31 der See oder großer, nicht durchwatbarer Ströme wohnt, und
sobald das Bedürfniß, dieser große Wecker menschlicher Thätig keit, seine Stimme hören läßt.
Aber in der Lust zu treiben
und zu fahren, wenn man dieses Wort von einer nicht wohl zu
leitenden Bewegung gebrauchen darf, ist hingegen eine sehr neue Erfindung.
Der Mensch hatte die Lust den Vögeln überlassen.
Die erstaunliche Höhe, zu welcher der Adler und der Geier,
zu welcher vor Allein der Condor sich erhebt, weckt auch bei
den Meisten mehr Bewunderung als Neid. mit den Hülfsmitteln,
Auch ist das Fliegen
welche die Natur dem Vogel gegeben,
für den Menschen nicht möglich.
Künstliche Flügel
würden
sehr unsicher sein und wohl kein besseres Loos erwarten lassen,
als welches dem Icarus
zu Theil wurde.
Nachdem
man
durch WasserstoffgaS, welches viel leichter ist, als die Dunst kreisluft, Seifenblasen hatte aufsteigcn lassen, verfertigte man
im Jahre 1785 zu Paris einen Ballon von Taffet mit Firniß überstrichen, der 12 Fuß im Durchmesser groß war und 25 Psv. wog; dieser Ballon wurde mit dem genannten Gase angcfüllt,
stieg unter dem Zujauchzen einer Schaar von 40,000 Menschen
in zwei Minuten über 2900 Fuß hoch,
verschwand
in den
Wolken und fiel 5 Meilen von Paris, in Folge eines RisseS
wieder zu Boden.
Solche mit WasserstoffgaS gefüllte Ballons
nannte man CharliörcS, nach Charles, einem Naturforscher,
der über die Verfertigung dieses Ballons die Aufsicht führte.
Die Gebrüder Montgolfier, Papiersabrikanten zu Annonais, hatten schon einige Monate früher in demselben Jahre Ballons,
vermittelst darunter brennenden Papieres und Strohes, aufsteigen lassen. Diese durch erwärmte Luft aufsteigenden Ballons nannte man Montgolfieres, und glaubte, daß sie durch ein eigen
thümliches GaS emporstiegen, welches einige Schriftsteller das
Montgolfierische Gas nannten.
ES ist jedoch allein die erwärmte
32 und verdünnte, und also weniger schwer gewordene Luft, welche diese
Ballons aufsteigen macht, wie wir auch schon sagten.
Mit solch
einer Montgolfisre wurde im Oktober 1783, von Pilatre de Rozier der erste Versuch einer Lustreise unternommen, doch
ließ er hierbei den Ballon noch durch Stricke festhalten.
Früher
hatte man nur Thiere, z. B., zu Versailles, einen Widder, eine Ente und
einen Hahn, zusammen in einem Verschlage
eingrsperrt, mit einem Luftballon in die Höhe steigen lassen. —
Durch diese ersten Versuche kühner gemacht, unternahm der gedachte Pilatre de Rozier mit dem Marquis D'Arlan-
deS im November desselben Jahres
der Ballon festgehalten wurde.
eine Lustreise, ohne daß
Sie blieben 25 Minuten in
der Lust, trieben über die Seine, und kamen unbeschädigt in in einer Entfernung von 2500 Ruthen vom Aufsteigungsplatze
wieder auf den Boden. Maschine zum Fliegen,
Blanchard, der früher an einer
einem Luftschiffe,
ohne Erfolg zwölf
Jahre lang gearbeitet hatte, vertauschte nun seine fruchtlosen
Bemühungen mit der neuen Erfindung, stieg in Paris und
Rouen zu wiederholten Malen mit Ballons auf, reiste nach
England, wiederholte dort seine Versuche und wagte eS endlich mit dem Amerikaner JeffrieS, am 7. Januar 1785, den
Canal von Dover nach Calais zu überschiffen.
Das GaS
entwich plötzlich aus dem Ballon, so daß sie balv ihre 30 Pfv.
Ballast, dann Alles, was sie mitgenommen hatten und selbst einen Theil ihrer Kleider über Bord werfen mußten.
Nahe an der
Küste stieg jedoch der Ballon wieder, und die Lnftfahrer kamen
wohlbehalten im Wald von GuienneS an.
Blanchard er
hielt für diese Luftreise von Ludwig XVI. 12,000 Franken und ein Jahrgeld von 1200 Franken.
Später zog dieser Lust
reisende durch verschiedene Länder Europa's, um
Versuchen das Publikum zu ergötzen
mit seinen
und Geld zu erwerben.
33 Pilatre de Rozier und Romain, die ebenfalls den Über, gang über den Kanal wagen wollten, wurden durch ein Um schlagen deS WindeS, nachdem sie schon eine Zeitlang über dem Meere geschwebt hatten, wieder zum Lande zurückgetriebcn, und
fielen, wie man glaubt von einer Höhe von 1200 Fuß, bei SBoiilogne nieder, ganz zerfetzt und kaum einer menschlichen Eie hatten einen mit WafserstoffgaS ge
Gestalt mehr ähnlich.
füllten Ballon mit einer Montgolfiöre verbunden, und wahr scheinlich durch das, was ihnen Sicherheit geben sollte, ihren
Tod verursacht.
Das
zwischen
Gleichgewicht
beiden
mußte
schwer zu erhalten sein, daS Feuer der Montgolsisre brauchte
nur den anderen Ballon zu erreichen oder dieser brauchte nur zu
bersten, und dadurch den anderen zum Sinken zu bringen; wie eS auch sei, die Maschine war verbrannt.
TieseS Unglück gab An
laß zur Erfindung der Fallschirme (Parachuten), wodurch
Blanchard die Gefahren der Luftreifen verminderte.
Von anderen Luftreifen zu sprechen, würde unnöthig sein
und uns zu weit abführen.
Aber wozu dienen diese Luftballons?
Man sagt, daß diese Frage an Franklin gerichtet wurde, der
sich damals zu Paris befand, und daß der berühmte Mann Wozu dient daS neuge-
hierauf mit der Frage antwortete:
borne Kind?
Man muß jedoch in der That bekennen, daß das Kind bei der ersten Entwickelung mehr versprochen hat, und nun ziemlich unfähig und zurück zu bleiben scheint. französische
Armee
österreichische Lager
durch Officiere bei FleuruS
in
ES ist wahr, daß die einem
Luftballon daS
im Jahre 1794 auSkund,
schäften ließ; aber die Erwartung, daß man fortan ein CorpS
Aeronauten bei den Heeren finden würde,
als eine neue
Art von Ingenieurs, ist nicht bestätigt worden.
Diese Luft
reifen sind ferner auch in wissenschaftlicher Absicht unternommen 3
34 worden, von welchen die der berühmten französischen Natur
forscher Biot und Gay-Lussac am 24. August 1804, und die von dem letztgenannten allein unternommene, am 15. Sep
tember desselben Jahres, besondere Erwähnung verdienen.
Beide
wurden mit großer Sicherheit vollführt und gaben über viele
Gegenstände wichtige Aufklärungen.
Bei der zuletzt genannten
Reise stieg Gay-Lassac biö zu der erstaunlichen Höhe von mehr als 21,000 Fuß, höher also, als der Gipfel des Chimborazo,
in eine Region, worin vor ihm noch keine menschliche Brust
geathmet hatte. Ein wesentliches Hinderniß im Gebrauche der aerostatischen
Fahrzeuge,
wie man die Luftballons nennt,
liegt in den bis
jetzt dazu benutzten Stoffen, Taffet z. B., welcher, vorzüglich wenn er feucht ist, die Dunstkreisluft durchläßt; und eö läßt sich kein wesentlicher Nutzen von denselben erwarten, wenn man
nicht einen Stoff ausfindig macht, der das Wafferstoffgas fort
dauernd vor Entweichung schützt und zugleich dem veränderlichen Drucke der Luft Widerstand leisten kann.
forscher hat dazu Metall vorgeschlagen
Ein bekannter Natur
und berechnet, daß
man dazu selbst Platina, das schwerste aller Metalle, an wenden könne, wenn nur der Ballon von einer bedeutenden Größe wäre*); denn je größer der Umfang deS Ballons ist,
desto schwerer kann der Stoff sein, den man anwendet, wie Jeder,
der einige Einsicht in diese Sachen hat, ohne Mühe begreifen wird.
Kommt Ihnen ein metallener Luftballon gar zu aben
teuerlich vor, so brauche ich nur zu erinnern, daß man jetzt nicht allein von treibendem Holz, sondern sogar von dem schweren
*) Munckt, dessen Artikel Akrostat in der neuen Aussage von Gehler'« physikalischem Wörterbuch I. ls25. S. 230—258, von un« bei dieser kurzen geschichtlichen Darstellung vorzüglich verglichen ist.
35 Eisen schnellfahrende Schiffe verfertigt, und schon eine eiserne Trekschuite (Postzugschiff) — wer hätte so etwa- je von einer
Trekschuite erwartet? — regelmäßig zwischen zweien der Süd
holländischen Städte fährt. Wir
kehren
wieder zu unserer Luft
zurück.
Wie weit
breitet sie sich aus, auf welchem Abstand von der Oberfläche
unserer Erdkugel hört sie auf zu sein? Wäre die Luft eine Flüs sigkeit, die überall dieselbe Dichte oder eigenthümliche Schwere
hätte, dann könnte man die Höhe leicht berechnen.
Hier, nahe
an der Oberfläche der Erbe verhält sich ihre Schwere zu der
von reinem, destillirtem Wasser ungefähr wie 1 zu 770, d. h. ein Volumen Wasser wiegt 770 Mal mehr, als ein gleiches Volumen Dunstkreislust.
Nun kennt man die Höhe der Wasser
säule, welche der drückenden Lus» das Gleichgewicht hält, und Inan würde »ach dieser Berechnung eine 770 Mal höhere Luft
säule haben, und für die Luft eine Höhe finden von ungefähr 25,000 Fuß, so daß sie sich nur wenige tausend Fuß über die Gipfel der höchsten Berge erheben würde.
Luftschichten dünner seien,
und so auf
Aber daß die höheren
größeren Höhen
eine
Luftschicht, die eben so viel wiegt als eine niedrere, viel höher
sein müsse, folgt auS der Elasticität der Luft.
In diesem Sinne
würde also die Luft unendlich sein, d. h., sie würde wohl fort
während feiner und dünner werden, aber dennoch nicht aufhören zu bestehen.
Daß dem jedoch nicht so ist, daß die Lust auf
einer sicheren Höhe ihre Eigenschaft als Lust verliert, erhellt aus Beobachtungen, und kann auch schon von vornherein durch
Schlußfolgerung bewiesen werden.
Unsere Erde befindet sich in
einer kreisförmigen Umdrehung um ihre Achse und theilt diese Bewegung dem
Dunstkreise
mit.
Je weiter die Lufttheilchen
von dem Mittelpunkte entfernt sind, desto mehr nimmt die, den Mittelpunkt fliehende (Centrifugal-) Kraft zu, welche sie durch 3*
36 die Umwälzung erhalten.
ES kommt also ein Punkt, auf welchem
diese Kraft gleich wird der Schwerkraft und die Wirkung derselben aufhebt, und höher kann wenigstens die Luft sich nicht ausdehnen.
Die auf diese Weise berechnete Höhe der Luft ist wohl viel bedeutender, als die wahre Höhe der Luft nach anderen Gründen;
aber diese Berechnung beweist doch,
unbegrenzt im Raume ausdehnt. weiter hierauf einzugehen.
daß die Luft sich nicht
Mein Plan
erlaubt nicht,
Wir begnügen uns mit der Schluß
summe, daß der Dunstkreis, als Dunstkreis der Erde, seine
Eigenschaften verliert auf einem Abstand von 10 geographischen Meilen, das heißt auf
deS Halbmessers der Erdkugel. Sie bildet eine hohle
Die Luft gehört daher der Erde an.
Kugel um unseren Erdball, wovon dieser umschlossen wird, gleich
einem Kerne in einer losen, leichten, wolligen Schale. sich mit der Erde um ihre Achse und
Sie dreht
mit der Erde läuft sie
um die Sonne, und, gerade wie die Erde, hat sie an den Polen eine plattgedrückte Form und ist höher am Aequator.
Bis hierher betrachteten wir nur einige allgemeine Eigen,
schäften der Luft, jetzt müssen wir ihre Zusammensetzung betrachten. Bei den Alten war sie eine der vier Haupt- oder Grundstoffe.
Die Neueren nennen
können geschieden
Grundstoffe solche,
oder auS
die nicht in andere
anderen zusammengesetzt
werden.
AlS solch einen Grundstoff nun kann man die Luft nicht be
trachten.
Sie ist zusammengesetzt.
Wie man dieses gefunden
hat, und welche Eigenschaften ihre Bestandtheile haben, wollen
wir jetzt kurz erwägen. Die Veränderungen, welche die Körper bei der Verbrennung erleiden, die sogenannte Verkalkung oder Calcination der Metalle, schrieb der scharfsinnige Stahl, ein deutscher Scheidekundiger, der zu Anfänge des 18ten Jahrhunderts lebte, dem Entweichen
37
eines Elementes aus diesen Stoffen zu, dem er den Namen Phlogiston gab.
Die Stoffe, welche verbrannt, die Metalle,
welche verkalkt sind, haben einige Eigenschaften verloren; was schien natürlicher,
als daß sie auch ein Element oder einen
Bestandtheil verloren hätten! Priestley bemerkte, daß die Lust,
Verbrennungen
worin diese
oder Verkalkungen
stattgefunden
hatten, verändert war; daß sie zur Verbrennung und zum Athemholen untauglich geworden war, und nannte sie phlogistisirte Lust: Lust,
beladen mit dem Stoffe, welcher, nach Stahl,
bei der Verbrennung und Verkalkung aus den Körpern entweicht. Schon hatte Cavendish verschiedene Luftarten kennen gelehrt, d. h. elastische Flüssigkeiten, der Luft ähnlich, aber von der ge wöhnlichen Luft durch eigenthümliche Schwere und andere Eigen,
schäften verschieden; jetzt nennt man dieselben: Gase.
Die Ver-
brennung von Holzkohle erzeugt diejenige Luft, welche man
damals fire Luft nannte, und welche in der neueren Scheide lehre den Namen kohlensaures GaS führt.
Eine andere Luft
war ebenfalls schon bekannt, die entzündbare Luft, das WasserstoffgaS, dessen Anwendung wir bereits erwähnt haben, welche
Charles davon beim Füllen der Luftballons machte.
Alles
war also vorbereitet für einen neuen Zustand der Scheidekunde, für eine Wissenschaft, der man, weil sie sich hauptsächlich mit
den
Luftarten
oder
den Gasen
beschäftigte und darin den
Schlüssel für viele Geheimnisse fand, auch wohl den Namen
der
pneumatischen
Scheidekunde,
Worte, welches Anblasung,
von
einem
griechischen
Athem oder Luft bezeichnet, ge
geben hat.
Nachdem Priestley im Jahre 1774 auch die Luftart gefunden hatte, welche den athembaren Stoff enthält, welche
die Flamme der verbrennenden Körper unterhält und welche er auS calcinirtem Quecksilber durch die Hitze der Sonnenstrahlen
38
mit einem Brennspiegel abgeschieden hatte, war eigentlich die Zusammensetzung der Luft entdeckt. Er nannte diese Luft dephlogistisirte Lust; auS dieser und auS der phlogistisirte«, die nach der Verbrennung entsteht oder, besser, nach der Ver brennung übrig bleibt, auS diesen zweien ist die DunstkreiSluft zusammengesetzt. Ich sage, nach der Verbrennung übrig bleibt. Niemand hat jemals das Phlogiston gesehen, und Priestley war nicht im Stande gewesen, es als Lust darzustellen. Roch mehr; Priestley hatte schon bemerkt, daß die phlogistisirte Lust, daS ist die Lust, welche nach der Verbrennung entsteht, einen geringeren Raum einnimmt; das Phlogiston müßte also die Lust, zu der eS hinzuträte, vermindern; und wie dies geschehe, wußte Priestley nicht, eS sei denn, daß die ver minderte Luft selbst spezifisch schwerer geworden wäre, waS er jedoch nicht wahrnehmen konnte. Wie nahe war er doch der Wahrheit! Die neue Scheidelehre, die penumatische, die anttphlogistische, die Scheidelehre von Lavoisier entstand. Diese lehrt un-, daß die sogenannte phlogistisirte Lust nicht vermehrt ist mit einem unbekannten, nie gesehenen und vollkommen hypothetischen Stoffe, einem Stoffe, der leichter machen würde, wo er hinzuträte. Die Luft im Gegentheil, worin ein Metall calcinirt oder worin etwas verbrannt ist, hat einen Bestandtheil verloren, und gerade derjenige, welchen sie verloren hat, ist von dem verbrannten Körper verbraucht und hat sich mit demselben verbunden. Dieser Bestandtheil ist die sogenannte dephlogistisirte Lust, welche man jetzt Sauerstoffluft nennt; und derjenige, welcher übrig bleibt, die phlogistisirte Luft, wird, als untauglich zum Athmen, jetzt Sttckstofflust genannt. Der große Lavoisier beschrieb 1774 die Verkalkung von Zinn in geschloffenen Gefäßen; er fand, daß Zinn, nachdem
39 an Gewicht zugenommen hatte, und diese
es calcinirt war,
Vermehrung deS Gewichtes entsprach vollkommen der Vermin derung an Gewicht, welche die Luft in den Retorten erlitten
hatte,
worin Lavvisier diese
Verkalkung hatte
stattfinden
Er erklärte diesen Vorgang so, daß er eine Zersetzung
lassen.
der Luft sei, dadurch verursacht, daß das Zinn den athembaren
Theil davon wegnahm und den für das Athmen untauglichen darin zurückließ.
Einfachheit und Wahrheit sehen wir auch hier ver Von diesem Zeitpunkte an machte die Scheidekunde Riesen
eint !
schritte und setzte die ganze Welt in Erstaunen durch die Um wälzungen, welche sie in den Naturwissenschaften hervorbrachte,
und welche nur die Unkunde verkennen und die größte Unwissen heit verachten kann.
Die Eigenschaften jener zwei Haupttheile deS Dunstkreises
können wir nur in einigen Zügen darstcllen.
Der eine Be
standtheil der Luft, das Stickstoffgas, hat fast nur verneinende
Eigenschaften: es unterhält die Flamme und das Athmen nicht, es macht den brennbaren Stoff der Salpetersäure auS, und
eine seiner wichtigsten Verbindungen ist die mit dem Waffer-
stoffgas, womit es AmmoniakgaS bildet. —
Der andere Be
standtheil, die Sauerstofflust, ist eine Gasart, in welcher die Verbrennung mit ungemeiner Lebendigkeit und Helle der Flamme
geschieht.
Während die Thiere in anderen GaSarten sterben,
leben sie in einem verschlossenen, mit dieser Luft gefüllten Raume länger, als in einem gleichen,
kreiSluft gefüllt ist.
der mit gewöhnlicher Dunst-
Man wähnte diese Lust ein Mittel zur Er
höhung der Lebensthätigkeit, vielleicht zur Lebensverlängerung, oder doch heiten.
ein
sicheres Mittel gegen die meisten Brustkrank
Diese Hoffnung wurde nicht verwirklicht.
Sauerstoffgas
ist
nichts destoweniger
eine
Aber daS
der glänzendsten
40 Entdeckungen des achtzehnten Jahrhunderts geblieben.
Durch
dasselbe geschieht die Verbrennung, die Verkalkung der Metalle; eS ist der Bestandtheil der meisten Säuren; es ist einer der
zwei Bestandtheile des Wassers.
Cavendish nämlich wie-
im Jahre 1784 nach, daß Wasser aus der Verbrennung von Wasserstoffgaö in Sauerstoffgas vermittelst des elektrischen Funken-
entstehe, und daß daö Gewicht des Wassers, welches man er halte, gleich sei dem Gewichte der zwei zur Verbrennung ver
So war die Zusammensetzung deS WafferS
wendeten Gase.
gefunden, bevor man eS hatte zerlegen können.
Man kam jedoch
bald dahin, während der große Laplace sogleich bemerkte, daß,
wenn diese Gase zusammen Wasser bildeten, so müßten sie
auch auS dem Wasser dargestellt werden können.
ferner die
wichtigste
Rolle
Die Sauer
beim Athmen der
stofflust
spielt
Thiere.
Die Pflanzen wachsen und entwickeln sich nur, während
sie fortdauernd
scheiden.
Sauerstoffgas aufnehmen, verbinden und ab
„Mit einem Wort, eS giebt kaum eine Erscheinung
in der Natur- und Scheidekunde, in der thierischen und vegeta bilischen Welt, welche ohne den Sauerstoff vollkommen erklärt
werden kann."*) Diese zwei Bestandtheile (Stickstoff und Sauerstoff) sind die Hauptstoffe, aus welchen unsere
Dunstkreisluft zusammen
gesetzt ist, und wozu noch eine kleine Menge Kohlensäure kömmt, nebst Wasserdampf in verschiedener Menge.
DaS Verhältniß
hingegen der zwei Hauptbestandtheile, der Sauerstoff- und Stick
stofflust, ist beständig.
Man hat Luft zerlegt auS den höchsten
Gegenden und aus Thälern, unter dem Gleicher und an den Polen, und stets dasselbe Verhältniß gefunden.
•) Euvier, Eloge de Priestley.
Nach dem Um-
41 fange des Volumens enthalten 100 Theile Dunstkreisluft 79
Theile Stickstoffgas und 21 Theile Sauerstoffgas. Wie bleibt diese beständige Mischung erhalten? Priestley
glaubte die Ursache in den Pflanzen zu finden.
Wachsende,
grüne Pflanzen hauchen über Tag und vorzüglich beim Sonnen
schein, SauerstoffgaS aus und zersetzen daS kohlensaure GaS. Ich brauche nicht zu sagen, wie schön diese Verbindung sein
Die Thiere entnehmen durch ihr Athmen dem Dunst
würde.
kreise Sauerstoffluft
athmen kohlensaure Luft aus; die
und
Pflanzen dagegen zersetzen daS kohlensaure GaS und geben an
dessen Stelle klärung,
reine Sauerstoffluft.
so einfach
sie
Inzwischen hat diese Er
auch scheinen mag, ihre Schwierig
keiten, und da der erste Chemiker unseres Jahrhunderts sie ver wirft,
so dürfen wir sie nicht ohne Behutsamkeit annehmen.
Wir durchschauen in vielen anderen Fällen die Mittel nicht, wodurch das Gleichgewicht in der Natur erhalten wird, aber
die Instandhaltung
des
Ganzen, die Beständigkeit in allem
Wechsel, daS Nothwendige bei aller scheinbaren Zufälligkeit der Erscheinungen,
muß unS
mit ehrerbietiger Bewunderung für
den Urheber des Weltalls erfüllen.
Wenn jedoch die Sauerstoffluft allein zum Athmen und zur Verbrennung dient und die Stickstoffluft nur eine Beimengung ist von größtentheils verneinenden Eigenschaften, würde dann eine
Dunstkreisluft,
die
nichts als
SauerstoffgaS
enthielte,
nicht vollkommener sein, als eine, die zum größten Theile aus
einem zum Athmen untauglichen Bestandtheile besteht? — Ein Dunstkreis, der allein auS SauerstoffgaS bestände, würde eine
ganz andere Einrichtung der Natur voraussetzen; denn in diesem Falle würden die Thiere, bei ihrer jetzigen Organisation, schnell
durch
übermäßige Reizung
sterben, und der geringste Unfall
mit Feuer würde einen Brand verursachen, bei welchem gar
49 kein Löschen
würde.
möglich wäre
und der ganze Länder verwüsten
Welche Verwüstungen jetzt schon das Feuer, wenn eS
einmal seine Zügel abgeworfen hat, in unserer nur zum Theile die
begünstigenden
Verbrennung
diese- Jahr
Luft verursachen
entsetzlichen Beispielen
mit
kann, hat
bewiesen*).
Nein!
Eö ist die größte Weisheit und Güte, die Alles geordnet hat, und je tiefer wir in die Untersuchung der Natur eingehen, desto
Heller umstrahlt unS das Licht, in welchem fich die Weisheit
und Güte offenbaren. Das Athmen der Thiere, des Menschen sowohl alS des kleinsten Insektes, besteht in einer fortwährenden Veränderung
Die Sauerstoffluft wird auS dem Dunst
gewisser Gasarten. kreis
ausgenommen und verbindet sich
kohlensaure Luft
mit Wafferdampf wird
mit dem Blute,
und
auSgeathmet.
Das
Blut, welches durch den Umlauf seine nährenden und erregen den Eigenschaften verloren hat und dunkelfarbig geworden ist,
wird nun wieder hochroth und aufS Neue erregt, verbessert und mit neuem Leben wie beseelt.
So kommen wir zurück zu Dem, waS wir im Anfänge
dieser Vorlesung bemerkten. Umhüllung
Ohne Luft, die unsichtbare, leichte
unseres Planeten,
Erden möglich.
ist kein organisches Leben auf
Das Bedürfniß des AthmenS ist jedoch nicht
bei allen Thieren gleich groß.
Warmblütige Thiere, vorzüglich
Vögel, sterben unter der Luftpumpe schon binnen einer Minute; kriechende Thiere,
Eidechsen, Schlangen, Schildkröten, können
länger leben ohne zu athmen.
Auch die Menge der Kohlen
säure, welche durch das Athmen erzeugt wird, ist nicht bei allen
gleich groß.
Nach einer mittleren Berechnung athmet ein aus.
*) Ich deutete hier vorzüglich auf den bekannten Brand von Ham
burg, im Mai 1842.
43 gewachsener Mensch in 24 Stunden 27,000 Kubikzoll kohlen,
saures GaS aus.
Hieraus kann man ungefähr berechnen, wie
bald ein enger Raum, wozu die äußere Luft keinen oder keinen hinreichend freien Zugang hat, durch das Athmen verdorben
werden muß.
In einem Saale, in welchem viele Menschen
vereinigt sind, fühlt man eine drückende Beklommenheit beim Athmen, während auch die brennenden Lichter mehr und mehr einen trüben, matten Glanz verbreiten.
wird für den Menschen,
DaS kohlensaure GaS
wenn eS in zu großer Menge im
Dunstkreise aufgehäuft ist, tödtlich; daher die Ungesundheit von
dergleichen Vereinigungen, wo kein freier Luststrom dieses GaS
vertreibt.
Ebenso ist auch die Luft tödtlich, die aus einigen
Grotten und unterirdischen Höhlen auSströmt, und die größten-
theilS auS kohlensaurem GaS besteht.
Bis hierher betrachten wir die Luft allein in ihren Eigen, schäften und ihrer Zusammensetzung, ohne auf ihre Bewegungen
Rücksicht zu nehmen.
Jede Ursache, die daS Gleichgewicht der
Luft stört, muß Strömungen im Dunstkreise erzeugen; zu diesen Ursachen gehört die ungleiche Erwärmung, und unter die Er
scheinungen, die auf daS Entstehen der veränderlichen Winde Einfluß haben, gehört sicherlich auch besonders die plötzlich aus
dem Dampfzustände in Regentropfen übergehende, in der Luft
anwesende Feuchtigkeit.
Aber eine
Betrachtung der Winde
würde unS zu weit ableiten und könnte den Stoff zu einer besonderen Vorlesung
jedoch nicht
liefern.
unerwähnt bleiben.
Eine allgemeine Ursache darf
Die Luft unter dem Glei
cher und zwischen den Wendekreisen ist stets sehr warm, wäh
rend bleibt.
sie dagegen
an den
Polen unter
dem
Gefrierpunkte
Die dichtere und schwerere Luft an den Polen muß also
(ine Neigung haben, längs der Oberfläche unserer Erde von
44 den Polen nach der Linie
zu strömen,
während in höheren
Strichen, ein entgegengesetzter Luftstrom der leichten und war men Luft
zu den
Polen
man die
öffnet
stattfindet,
Thür
eines erwärmten Zimmers, dann dringt die kalte, äußere Luft
längs des Bodens nach Innen; daher kömmt es, daß der Zug am meisten an den Füßen gefühlt wird, während ein Strom
nach Außen
hinaustreibt.
am
oberen Theile
Die Flamme
der Thüre
die
warme
Luft
einer Kerze beweist dies, welche,
an die offene Thür gehalten,
am Boden nach Innen schlägt,
Wäre unsere Erde in
oben an der Thüre aber nach Außen.
Ruhe, dann würde diese Ursache also auf der nördlichen Halb
kugel einen beständigen Nordwind, auf der südlichen Halbkugel einen anhaltenden Südwind zur Folge haben.
Aber da die
Erde sich um ihre Achse von Westen nach Osten dreht, und die von
den Polen
kommenden Lustströme
weniger
Schnelligkeit
haben, als die Oberfläche der Erde unter dem Gleicher, so müssen diese Lustströme zurückbleiben und so einen scheinbaren
Strom oder Wind in einer entgegengesetzten Richtung, nämlich
von Osten nach Westen, verursachen.
Dieses ist der Ursprung
von dem beständigen Ostwinde, dem Passatwind *), der auf dem
Atlantischen Ocean vom 28.0 N.-B. bis zum 28.0 S.-B. sich erstreckt.
Auf dem festen Lande ist seine Richtung einer grö
ßeren Veränderung und Abwechselung durch örtliche Verhältnisse unterworfen, und er ist dicht am Gleicher schwächer, weil dort der Luftstrom schon mehr und mehr an der Schnelligkeit der
Umwälzung unserer Erdkugel theilnimmt.
Daß ferner in den
selben Strichen, in höheren Gegenden unseres Dunstkreises, ein entgegengesetzter Strom stattfindet, wie auS der gegebenen Er-
klärung folgen muß,
hat die thatsächliche Wahrnehmung be-
•) Vent alise der Franzosen» Tradewind der Engländer.
45 (tätigt.
Leopold von Buch nahm die entgegengesetzte Rich
tung von zwei über einander befindlichen Luftschichten auf dem Pic von Teneriffa wahr.
Der Nutzen der Winde fallt von selbst in die Augen.
Sie
mäßigen die zu große Hitze und Kälte, »ertheilen die Wolken,
vernichten schädliche Ausdünstungen, und reinigen den Dunst-
kreis.
Wie der Mensch, der alle Elemente seinen Zwecken
dienstbar zu machen weiß, die Kraft deS WindeS an die Stelle
von vielerlei Handarbeit fetzt; und vorzüglich von ihr Gebrauch macht, um die großen Meere zu befahren, ist zu bekannt, als
daß ich Sie daran zu erinnern brauchte. So haben wir also die Lust als Körper, als zusammen gesetzten Körper und als bewegten Körper betrachtet. Auf eine
Bewegung der Luft muß ich Sie jedoch noch aufmerksam machen;
ihre Erwähnung möge mein flüchtiges Gemälde beschließen. Ich meine die Mittheilung deS Schalles.
Wenn man einen Schall
vernimmt und zu gleicher Zeit die Ursache wahrnimmt, wodurch
er hervorgebracht wird, so sieht man, daß bei einiger Entfer nung die Ursache schon aufgehört hat, bevor der Schall unser Ohr trifft.
Ein Kanonenschuß wird gesehen, bevor man ihn
hört, und wenn verschiedene Menschen
auf verschiedenen und
bedeutenden Entfernungen in einer Reihe geschaart stehen, so hört der erste den Schall vor dem zweiten, der zweite vor
dem dritten und so fort, so daß der erste und zweite den Schall
schon nicht mehr hören würden, wenn eine entferntere Person, die vierte oder fünfte z. B., ihn noch nicht hörten.
Ein ein
facher Versuch kann und lehren, daß der Schall von der Luft
mitgetheilt wird.
Eine Glocke giebt in einem, durch die Luft
pumpe entleerten Raume keinen Schall mehr, oder besser, die
Erzitterungen der Glocke werden nicht zu unserem Gehörwerk zeuge gebracht; je nachdem man alsdann mehr und mehr Luft
46
in die Glocke bringen läßt, wird der Schall stärker, und endlich, wenn die Lust die Glocke ganz wieder füllt, nimmt der Schall wieder seine gewöhnliche und vorige Stärke an. So verliert das Geläut an Stärke, in dem Maaße, als es sich in den Dunstkreis erhebt: es vermindert sich sowohl weil der Abstand vermehrt, als auch weil die höhere Luft stetö dünner und dünner wird. „Die stärksten Töne", sagt ein französischer Naturforscher*), „die stärksten Töne, die auf unserer Erde wiederhalleu, können nicht außerhalb der Grenzen des Dunstkreises kommen; sie werden schwächer, je mehr sie sich denselben nähern, und er sticken, ohne sie überschreiten zu können. Umgekehrt kann kein Schall von de» Himmelskörpern zu unserer Erde gelangen. Die heftigsten Erplosionen dürsten auf dem Monde stattfinden, ohne daß wir den geringsten Nachhall davon verspürten." GayLussac sand auch, daß die Kraft seiner Stimme sehr vermin dert war in der dünnen Lust der erstaunlichen Höhe, zu welcher er sich bei seiner kühnen Luftreise, die wir früher erwähnten, erhoben hatte. Der Schall der menschlichen Stimme wird durch Erzitte rungen zweier kleinen, elastischen und gespannten Bänder ver ursacht, die an dem Eingänge der Athmungswerkzeuge ihren Sitz haben. Die bei der Ausathmung fortgestoßene Luft setzt diese Bänder in Bewegung, diese zitternde Bewegung wird der Luft mitgetheilt; durch die Luft erreicht sie das menschliche Ohr. Wie wichtig wird dadurch unsere Betrachtung der Luft, welch' ein hohes menschliches Interesse erhält sie dadurch! Ist es nicht so, m. H.! gerade so, wie die Luft unsere Erdkugel umgiebt und umfaßt, ebenso umfaßt ihr eigenthümliches Wesen fast die ganze Natur- und Menschenwelt! Unser thierisches Leben kann
47 nicht bestehen ohne den fortwährenden Reiz des Athmens, und
das Leben der Menschheit, die Erziehung unseres Geschlechtes
durch Sprache und Wort, ist nur durch die Luft möglich. — Und brauche ich hierbei an die hohen Genüsse zu erinnern, die eine edle Kunst uns verschafft, welche durch eine passende Zu-
sammenfügung und
Entgegensetzung
durch Maaß geregelt,
von Lauten
eine Dichlkunst
für
und Tönen,
das Ohr zu er
schaffen weiß, deren erhabene Sprache daö Innerste deö Men
schen trifft und rührt, und mit den Strömen ihrer Klänge bald
die ganze Seele in Bewegung setzt, bald wieder die ebene Ruhe herstellt in dem erschütterten menschlichen Gemüthe!
Doch unter
allen den Tönen, vermittelst welcher Instrumente auch hervor gebracht, giebt eS keinen reineren, helleren, reicheren, keinen,
welcher mit größerer Gewalt unsere Seele erschüttern oder mit lieblicherer Kraft erweichen kann, als den, welchen die mensch
Wie weit hinter den vollen Tönen deS
liche Brust hervorbringt.
Bassisten und den Silbertönen einer Altstimme bleibt doch jedes musikalische Instrument zurück!
Und wenn der menschliche Ge
sang sich nun erhebt zu großen menschlichen Gefühlen; wenn
er Liebe für das heilige Vaterland athmet; wenn er Menschen
würde und Menschenbestimmung zum Gegenstände Gottverherrlichung und Anbetung:
hat,
oder
wer ist dann so kalt und
gefühllos, daß er nicht im Herzen mitsingt, und, ist ihm die
HimmelSgabe versagt,
auf
Seele sich erheben fühlt,
den
Flügeln des Gesanges seine
wenn auch die Stimme
in seinem
Busen stockt? Wie jeder Athemzug ein Geschenk der göttlichen Liebe ist, so muß auch jedes Wort eine Anerkennung dieser Liebe sein,
und eine Naturbetrachtung erreicht ihr höchstes Ziel nicht, wenn sie sich nicht in Verherrlichung deö Schöpfers auflöft.
48
Ich habe meine Aufgabe vollbracht. Sollte meine flüchtige Skizze Ihnen einige Augenblicke angenehm und nicht ganz ohne Nutzen haben hinbringen lassen, vergönnen Sie mit dann, diesedem Gegenstände selbst zuzuschreiben, wodurch ed mir mög lich wurde, zu Ihnen zu sprechen, und Ihnen möglich, mich zu hören!
III. Die Ergebnisse der Geologie.
Die Ergebnisse der Geologie.
Meweise mannigfaltiger Art ;cige», daß bie Oberfläche unserer Erdkugel einer fortdauernden Veränderung unterwerfen ist. Wir haben nicht nöthig, diese im hohen Alterthume zu suchen; selbst in den letzten Jahrhunderten sind durch unterirdisches Feuer an verschiedenen Orten Berge empor gestiegen; eine lang same Erhebung des BodenS ist anderc-wo bemerkt und hat noch nicht aufgehört, und die Anschlämmung größerer Ströme bildet fortwährend an vielen Stellen neue fruchtbare Gefilde, als Eroberungen auf dem weitausgedehnten Gebiete des OceanS. Noch größer und merkwürdiger sind die Veränderungen, die durch keine menschliche Geschichte ausgezeichnet sind. Die Steinkohlenminen des nördlichen Europa's enthalten Überreste baumartiger Farrenkräuter, welche jetzt nur an den niedrigsten Küsten der warmen Zonen und auf Inseln der tropischen Meere wachsen. Die Gebirge im Herzen des festen Landes zeigen, oft auf bedeutenden Höhen, einen reichen Schatz von vielerlei Seemuscheln, und.die Ebenen Sibiriens sind mit einer Menge Überbleibsel von Rhinocerossen und Elephanten bedeckt. Diese Wahrnehmungen mußten wohl die Aufmerksamkeit wecken, und sie brachten den Menschen zum Nachdenken über 4*
52 die Geschichte deS Planeten, der ihm zum Wohnorte angewiesen ist.
So entstand ein besonderes Feld der menschlichen Forschung,
eine Wissenschaft wag' ich es noch nicht zu nennen, das man mit
dem Namen Geologie zu bezeichnen pflegt.
Dieses Feld der
Untersuchung wurde in den letzten Jahren mit besonderer Vor,
liebe bearbeitet. Früchte.
Es trug daher auch viele schöne und reiche
Obwohl
es nun in dem Umfange
einer
einzelnen
Vorlesung nicht möglich ist, eine systematische Übersicht der Re sultate zu geben, welche diese Forschungen geliefert haben, so will
ich doch versuchen,
Sie
in einigen Zügen mit dem wahren
Inhalt der Geologie bekannt zu machen. dieses Gegenstandes
noch
eine
Ich habe zur Wahl
besondere Veranlassung.
sind ungefähr zwanzig Jahre verlausen,
ES
seit der verstorbene,
literaturkundige vanKampen einen Aufsatz von meiner Hand über den früheren Zustand der Erde und ihre Umwälzungen in eine damals von ihm herausgegebene Zeitschrift, Magazin
für Wissenschaft, Kunst und Literatur') aufnahm
und durch
den Druck veröffentlichte, indem er wohl seiner guten Meinung in Betreff eines jungen Freunde- zu
viel Gehör gab.
Ich
brauche nicht zu sagen, daß dieser Aufsatz, nach solch einem langen Zeitraume, für mich nur noch einen geschichtlichen Werth hat;
aber da ich seit jener Zeit Nichts habe bekannt gemacht, waS
auf diesen Gegenstand Bezug hätte, so würde eS mir in der
That leid thun, wenn der Eine oder Andere, welchem durch
Zufall etwa jene Arbeit in die Hände fiele, darin meine jetzigen Ansichten über die Geologie zu finden vermeinte.
ES wäre
vielleicht vorsichtiger, darüber zu schweigen; aber die Wahrheit
zu suchen ist nach meinem Urtheile nicht möglich, ohne die Er
kenntniß früherer Irrthümer.
Es mag bei politischen Parteien,
wie z. B. in England, zur Schande gerechnet werden, wenn man von der einen zur andern übergeht, oder auch nur Dem
53 nicht unbedingt anhängt, was von der Partei
angenommen
wird, unter deren Fahnen man ausgeschrieben ist: unter Natur
forschern ist eS glücklicher Weise anders, und hier darf man,
nach meinem Urtheil,
auf keine andere Consequenz Anspruch
machen, noch irgend einer anderen Unveränderlichkeit der Grund sätze huldigen, alö der, stekS die Wahrheit zu suchen und ihr
daS höchste Ansehen zuzuerkcnnen. Ich ersuche Sie deshalb um Ihre rücksichtsvolle Aufmerk
samkeit bei der Betrachtung deS Inhalts der Geologie, welche ich Ihnen in einigen Hauptzügen näher zu entfalten wünsche*).
Geologie bezeichnet eigentlich: Kenntniß der Erde.
In
diesem weiten Sinne wird jedoch daS Wort nicht angewandt.
Es würde sonst eine Vereinigung aller Kenntnisse sein, die unsere Erde betreffen, sowohl in Bezug auf daS Planetensystem,
alS auch an sich selbst betrachtet, und auch die gewöhnliche Erd beschreibung, die Geographie, mit allen ihren Unterabtheilungen
würde nicht davon ausgeschlossen sein.
Der Gebrauch hat diesem
Worte eine andere, engere Bedeutung gegeben.
Man versteht
unter G e o l o g i e die Kenntniß von der Zusammensetzung der Erd
rinde, insofern diese unS über die Weise, wodurch letztere zu ihrem gegenwärtigen Zustand gelangte, und über die früheren Verände
rungen, die sie erlitten hat, Aufklärung geben kann.
Sie ist des
halb eine Erfahrungöwissenschaft, die aus Ansammlung und Ver gleichung von Thatsachen entsteht und deren Ergebnisse dazu
♦) Diese Abhandlung wurde, durch Vorzeigung von Gegenständen und Abbildungen erläutert, int November 1844 in der Gesellschaft Dili gentia zu S'Gravenhage und im März 1845 in bcr 9la tu rroi fftn^ schaftlichen Gese lischast zu Utrecht vorgetragen.
54 dienen sollen, um uns eine Geschichte kennen zn lehren, welche in den Dergschichtrn und den Ueberbleibseln einer früheren orga
nischen Schöpfung ihre Denkmale findet. Es ist in der Geschichte der Wiffenschaften eine nicht un gewohnte Erscheinung, daß die Einbildungskraft des Menschen
seinem Wissen vorauseilt.
Einige wenige Thatsachen sind hin
reichend, um Anlaß zu geben zu tausenderlei Vermuthungen und Systemen, die auf jede Frage eine Antwort bereit haben, welche
aus dem Kreise der Möglichkeit entlehnt ist, ohne darum mit der Wirklichkeit irgend etwas gemein zu haben. Beispielen ist vorzüglich die Geologie reich.
An solchen
In dieser Wissen
schaft entstand der theoretische Theil lange bevor die empirische
Basis gelegt war, aus welcher allein eine wahre Theorie ent In einem gewissen Sinne kann denn auch kaum
springen kann.
eine allgemeine theoretische Wahrheit in der Wissenschaft entdeckt
werden,
deren Spuren und
Andeutungen man nicht in den
Werken früherer Schriftsteller entdecken kann, wenn man sich
nur nicht die Mühe verdrießen läßt, sie zu vergleichen.
Man
würde jedoch späteren Beobachtern Unrecht thun, wenn man, auf diesen Grund hin, ihre Entdeckungen den früheren Schrift stellern zusprechen wollte; absichtlich würde man dabei übersehen, wie
groß und wesentlich der Unterschied ist zwischen bloßen
Einfällen und den auf Wahrnehmung und Beobachtung beruhenden
Folgerungen.
Neben derartigen Einfällen, wie glücklich sie auch
sein mögen, stehen hundert andere, die eben so wahr sein können;
der Maaßstab,
nach
welchem wir die Wahrheit beurtheilen
sollen, gebricht unS; aber die Wahrheit, welche, auf dem langen und beschwerlichen Wege der Untersuchung entsprossen, auf Jn-
duction beruht, ist ausschließend; und, während sie Gluth und Leben über die zerstreuten Thatsachen verbreitet, verzehrt sie
55 gleich einem läuternden Feuer die Meinungen, welche nur Er dichtungen der spielenden Einbildungskraft sind.
Eine genaue Kenntniß der verschiedenen Erdschichten und Felöarten, aus welchen die Erdrinde zusammengesetzt ist, muß daher als das
Fundament
der Geologie
betrachtet werden.
Jede wohlbegründcte Beobachtung, die dahin zielt, wird dann
auch einen bleibenden Werth besitzen, und muß früher oder spä ter, in Berbindung mit anderen Wahrnehmnngcn, daö Ihrige beitragen
zur
Erklärung
der Geschichte der Veränderungen,
die unser Planet durchlaufen hat.
In dieser Hinsicht hat der
berühmte Werner unverkennbare Verdienste.
Ausgerüstet mit
einem scharfen BeobachtungSgeistc, welchen langjährige Übung
noch verstärkt hatte, mit einem glücklichen Gedächtnisse begabt und beseelt von einer feurigen Liebe zu seiner Wissenschaft, ward er der Gründer einer beschreibenden Geologie, der man, zur Unterscheidung von naturwissenschaftlichen Romanen, die
gemeinlich Geologien genannt werden, auch den Namen Geognosie gegeben hat.
Bei dem gegenwärtigen Zustande der
Wissenschaft scheint es mir nicht, daß diese Unterscheidung noch
ferner nothwendig ist.
Geologie ohne Geognosie, eine Erklärung
der Bildung und Umbildung der Erde ohne Kenntniß der Ge
birge und FelSarten, d. h. ohne Kenntniß der Thatsachen, auS
welchen wir auf solche Umbildungen schließen, ist ein Schatten bild ohne Wesen. Werner unterschied viel schärfer als es vor ihm geschehen
war, die in Schichten und Lagern gebildeten, und Überbleibsel früherer Pflanzen und Thiere enthaltenden Gebirge, von denen,
welche nicht in Schichten gebildet, aus krvstallisirten Bestand
theilen zusammengesetzt sind und keine Versteinerungen in sich
schließen. Von diesen letzteren Gebirgen glaubte er, daß sie vor dem Entstehen der organischen Schöpfung ihr Dasein erhielten.
56 Daher rührt
denn auch der Name:
Urgebirge, primitive
Gebirge, der auch später in der Wissenschaft beibehalten wurde, selbst nachdem man von den Ansichten Werner'S in vielen
Die anderen nannte er Flötz-
Hinsichten zurückgekommen war.
gebirge; man hat sie auch secundäre genannt.
Zwischen beide
setzte er später noch andere Gebirge und Erdschichten, welchen er den Namen: Übergangsgebirge gab. Die Vulkane betrachtete
er als blos locale Formationen, die auf den allgemeinen Bil dungsgang unserer Erdrinde keinen oder doch nur einen geringen Einfluß hatten.
Wir
erwähnten
schon,
daß
Ueberreste von Seethieren,
Muscheln z. B., auf sehr hohen Bergen angetroffen werden,
unter anderen im Harzgebirge bei Clausthal, mehr als 2000 Fuß über dem Meeresspiegel; in der Schweiz fand Ebel Ammo.
niten auf der Spitze der Jungfrau, 12,872 Fuß hoch; ja
selbst auf einer Höhe von mehr als 14,000 Fuß hat man in Tibet ähnliche Überreste entdeckt.
AuS allem Diesen hat die
geologische Schule, an deren Spitze der Freiberger Professor Werner stand, die Annahme hergeleitet, daß früher das Meer
einen viel höheren Stand hatte.
Ja selbst die Gipfel der höchsten
Gebirge waren einst vom Wasser bedeckt, da, nach der Bor, stellung der Geologen, auch die primitiven Berge durch Krystalli
sation auS einer Flüssigkeit entstanden sind.
Die Erklärung der
Ursachen, die eine so bedeutende Verminderung des Wassers
zur Folge hatten, erheischte einige Hypothesen, deren Kühnheit
selbst nicht immer hinreichend war, um der Größe der Sache zu entsprechen. Wir haben Ihnen, m. H.! in wenigen Zügen einen rohen
Entwurf desjenigen geologischen Systems gegeben, welches man
gewöhnlich das System der Neptunisten nennt; mit einigen Ver änderungen wird eö von verschiedenen Gelehrten und auch von
57 de Luc angenommen, dessen Theorie bei uns (Holland) in dem Wir dürfen
berühmten Bilderdijk einen Dolmetscher sand.
nicht übersehen, daß dieses System auf Erfahrung beruht; eS ist nur die Frage, ob diese Erfahrung vollständig genug ist'
und besonders, ob man derselben nicht eine Erklärung unter geschoben, die mit ihr nicht nothwendig und unzertrennlich ver bunden ist. Wenn
das
Nichtvorhandensein von
Ueberresten
lebender
Wesen in einigen Gebirgen und Bodenarten stets die Annahme
rechtfertigte, daß diese Berge entstanden seien, bevor noch unsere Erde mit lebenden Bewohnern bevölkert war, dann würde man die Lava, welche davon keine Spuren aufweist, und die, abge
kühlt und verhärtet, sehr ansehnliche Schichten bildet, ebenfalls
primitiv nennen müssen, obgleich wir wissen, daß sie noch gegen, wärtig und gleichsam vor unseren Augen gebildet wird.
Der
Mangel an dergleichen Ueberbleibseln, die wir jetzt Kürze halber
Bersteinerungen nennen wollen, ist also an und für sich noch kein
vollständiger
Beweis
eines
höheren
Alters.
Eben
so
müssen wir bei dem Vorkommen von Seeversteinerungen auf
hohen Gebirgen die Frage aufwersen, ob es nicht eben so möglich sei, daß die Berge sich erhoben haben, als daß die See ge sunken sei; und bevor wir hierüber entscheiden, müssen wir alle
Umstände, die stattgefunden haben, in Uebereinstimmung mit den gegenwärtigen Erscheinungen untersuchen.
Ganz besonders ist seit den letzten Jahren die Geologie, in Folge dieser Bedenken, aus einem neuen und ungemein frucht
baren Gesichtspunkte betrachtet worden.
Den Veränderungen,
die unsere Erde durch noch jetzt wirkende Ursachen erleidet, ist mit
mehr Aufmerksamkeit,
als
früher geschah,
nachgeforscht.
War man früher geneigt, zur Lösung dieser geologischen Fragen, gewaltsame und oft ganz willkührlich ersonnene Ursachen anzu-
58 nehmen und die gegenwärtige Periode in der Geschichte unserer
Erde als eine stille Ruhe zu betrachten, die auf den Streit der Elemente gefolgt sei, so ist man jeht mehr und mehr zu der
Ueberzeugung gelangt, daß diese strenge Trennung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen nicht bestehe, und daß, um zu erklären, waS früher geschehen ist, und welche Kräfte
früher gewirkt haben,
eingeschlagcn werden
kein sicherer Weg
könne, als jener der Beobachtung Dessen, waö noch geschieht
und der
noch jetzt wirkenden Kräfte,
welche die Oberfläche
Es ist besonders
unserer Erde noch fortwährend verändern.
der englische Geologe Lyell, welcher diesen Weg mit Ausdauer und glänzendem Erfolge eingeschlagen hat.
Befremden kann eS
unS jedoch nicht, daß man ohne Zweifel auch in dieser Richtung
wieder zu weit gegangen ist, und von Uebertreibung nicht frei blieb.
Hier sehen wir nur eine Erneuerung jener Erscheinung,
welche in der Geschichte der Menschheit und in der jeder Wissen
schaft beständig vorkommt, eine Wiederholung von jenem Ueber« schlagen inS Äußerste, welches den Menschen beim Erkennen deS Irrthums in den Wahn bringt, daß die Wahrheit jetzt
am sichersten zu finden sei, wenn man so weit wie möglich nach
einer anderen Seite hinüber gehe.
früh
Solche Schwankungen endigen
oder spät mit einem Zwischenzustande,
in welchem der
Pendel ruht.
Daß viele Erhebungen
durch
vulkanische Kraft,
oft im
Verlaufe weniger Stunden, daö Entstehen von Bergen verur sachen, ist unleugbar.
So entstand, um nur ein Beispiel auS
Europa zu nennen, im Jahre 1538, zwischen dem 27. und 28. September, in dem Golfe von Bajae, unter wiederholten Erd
stößen, ein Berg von 440 Fuß Höhe und 8000 Fuß Umfang
am Fuße, der Monte nuovo.
Daß überdies
anderwärts
langsam und beständig fortdauernde Erhebungen deS Bodens
59
stattfinden, wird durch das Beispiel Schwedens bewiesen,
über welches Berzelius vor zwei Jahren eine genaue und umständliche Mittheilung machte. Daß auS dem Wasser abgelagerte Schichten eine wage
rechte Lage haben müssen, wenn sie in ihrem ursprünglichen
Zustande geblieben sind, sieht jeder bei einigem Nachdenken leicht ein. Aber viele auS Schichten bestehende Gebirge zeigen in ihren Lagern solch eine bedeutende Abschüssigkeit, daß diese Schichten nothwendig durch Senkung oder Erhebung aus ihrem ursprünglichen Zustande gebracht sein müssen.
Aus diesem Allen folgt, daß die Unterscheidung von primi tiven und secundären Gebirgen, wenn man mit diesen Worten
den Begriff einer Zeitfolge verbindet, nicht unbedingt gut zu
heißen ist, und daß ganz andere Erklärungen für diese großen
geologischen Erscheinungen möglich sind, wie jene, welche man von einem, mehrere tausend Fuß höheren Wasserstande des Oceans in der Vorwelt entlehnt hat. Primitive und sccnndäre Gebirge
entstanden zum Theil gleichzeitig; ja, einige primitive Berge
entstanden später, als andere sogenannte secundäre. Ohne auf ihr bezügliches Alter Rücksicht zu nehmen, kann
man die FelSarten ihrem Entstehen gemäß, nach Lyell, in vier große Klassen vertheilen.
In Bezug nämlich auf die Ur
sachen, durch welche, und in Bezug auf die verschiedenen Um stände, unter denen sie entstanden, findet man: aus dem Wasser
abgelagerte, vulkanische, Plutonische und metamorphische For mationen. Die auS dem Wasser gebildeten Felsen bestehen auö Schichten
und Lagern, gerade so wie wir Ablagerungen bei Ueberströmungen und an den Mündungen der Flüsse entstehen sehen. Das strö mende Wasser, in seinem schnellen Laufe behindert, läßt die Theilchen fallen, mit welchen es angefüllt ist, und so entstehen
60 Anschlämmungen in Schichten.
So finden wir auch viele Berge,
gebildet aus Schichten von Sand, Kalk u. s. w.
In diesen
Schichten sehen wir Ueberbleibsel lebender Wesen,
besonder-
Muscheln und Korallen, welche ebenfalls die Entstehungsweise der genannten Schichten bestätigen.
Alle diese Erdlager, wie
verschieden auch in mineralogischer Zusammensetzung, in Farbe, in Zusammenfügung und anderen äußerlichen und innerlichen
Kennzeichen, bilden zusammen eine Gruppe, die einen gleichen Ursprung hat.
Sie sind alle auf dieselbe Weise unter Wasser
gebildet, wie Sand, Schlamm, Kiesellager, Muschel- und Korallen bänke, und charakterisiren sich durch ihre schichtweise Anhäufung
und oft auch zugleich durch organische Ueberbleibsel.
Eine zweite Klasse ist die der vulkanischen Felsen, die sich über weniger ausgedehnte Strecken verbreiten.
Sie zeigen keine
Fossilien und sind gewöhnlich ohne Schichten; sie sind in älttren
oder neueren Perioden nicht durch Wasser, sondern durch Feuer hervorgebracht.
Nicht allein die jetzt
noch thätigen Vulkane
gehören hieher, sondern auch viele Berge, die in historischen Zeiten nicht mehr thätig gewesen sind; so wie einige kegelför
mige Berge im südlichen und mittleren Frankreich und am Rhein.
Zuweilen sind die Formen dieser ausgebrannten Vul
kane noch ganz erhalten; oft aber auch sind die loseren Schichten
von Asche und Sand, von schaumartig gebildeten und porösen Steinen, durch Regen und Wasserströme sortgespült, und die festere Masse ist in Gestalt eines Dammes oder WalleS allein
zurückgeblieben.
Diese senkrechten Mauern sind gebildet auS
einer geschmolzenen Masse, welche sich durch die loseren Theile einen Weg gebahnt hat.
Zu diesen vulkanischen Felsen zählt
man auch die Basaltgebirge, die indessen keine Kegel und Krater zeigen, was man durch die Annahme erklärt, daß der ursprüng
liche AuSbruch unter dem Meere stattfand.
61 Wir haben nun zwei verschiedene Klassen von mineralischen Massen kennen gelernt: die aus dem Wasser gebildeten und die
vulkanischen; aber
eine
genauere Untersuchuug,
besonders in
Gegenden, wo hohe Berge sind, lehrt uns noch zwei andere Klaffen kennen, die weder zu den Niederschlägen aus dem Wasser, noch zur gewöhnlichen vulkanischen Wirkung gerechnet werden
können.
Sie sind von einer krystallinischen
Zusammensetzung
und bieten keine Ueberreste lebender Wesen dar.
Die Felsen
der einen Abtheilung werden Pluto nische genannt, und um fassen alle Granitarten und einige Porphyrarten, welche durch
einige ihrer Eigenschaften sehr verwandt mit vulkanischen For mationen
sind.
der anderen Abtheilung
Die Felsen
sind in
Schichten gebildet, wie der Gneus, der Micaschist, der BildhauerMarmor, der Schiefer, u. s. w. Die Plutonischen Felsen zeigen viele Uebereinstimmung mit
den vulkanischen, ja man hat sogar Uebergänge derselben in
vulkanische FelSarten wahrgenommen, so daß wir beiden den selben Ursprung auS dem Feuer zuschreiben müssen.
Man sieht
ferner Adern und lothrechte Wälle dieser Felsmassen, welche, gerade wie eS bei der Lava der Fall ist, die darüber liegenden
Bergschichten durchdringen.
Von den vulkanischen Felsen unter
scheiden sich jedoch die Plutonischen durch eine mehr krystallisirte Zusammensetzung und den Mangel an Poren und blasenartigen
Räumen, welche durch die eingeschlossenen gasförmigen Flüssig
keiten
in der gewöhnlichen Lava
hervorgebracht sind.
Man
nimmt deshalb an, daß diese Plutonischen Felsen in großer Tiefe
unter dem Boden gebildet, langsam abgekühlt und krystallisirt sind bei einem großen Drucke.
Die Felsen der vierten oder letzten Abtheilung sind oft eben so sehr krystallisirt wie der Granit, aber sie zeigen Lager oder
Schichten.
Lyell glaubt ihr Entstehen ans ursprünglichen Ab-
62 lagerungen oder Niederschlägm auS dem Wasser erklären zu müssen, die später durch unterirdische Hitze verändert sind.
Diese
so verwandelten Felsarten nennt er deshalb metamorphische.
Die Zeit der Bildung kann bei der ersten Klasse der Fels arten am leichtesten durch die Weise bestimmt werden, in welcher
sie einander bedecken. Obgleich an verschiedenen Stellen unserer
Erdkugel einige Schichten mangeln, die an anderen Stellen ge funden werden, so hat doch im Allgemeinen eine große Gleich
förmigkeit in dieser Aufeinanderfolge statt, und durch vielfache Beobachtungen in allen Welttheilen hat man eine allgemeine
Reihenfolge
dieser
Felsarten
erhalten.
ES sind
Abwechse
lungen von Sandsteinen und Kalksteinen, von denen die ältesten
unter den Steinkohlenlagern anfangen, und die sich bis zu den Krcidebergen
erstrecken.
Ich
will Ihre Aufmerksamkeit
nicht
ermüden mit einer dürren Aufzählung von Namen, welche für
den Sachkenner nutzlos und für den, welcher mit der Wissen
schaft nicht vertraut ist, unverständlich sein würden.
Hier vor
Allem kann nur allein eine genaue Kenntniß von Nutzen sein, weil die praktische Anwendung, die Auffindung einiger für den
Menschen und für seine gesellschaftlichen Bedürfnisse nützlichen
Schichten, die der Steinkohlenlager z. B., nur durch Hülfe dieser Kenntniß möglich ist.
Ueber den Kreideschichten findet man noch andere Schich ten von jüngerem Ursprünge, theils aus Meerwasser, theils aus
süßem Wasser
abgelagert.
gewöhnlich unter dem
Es
sind
diejenigen, welche
man
Namen der tertiären Formationen zu
sammenfaßt, und worin man die Ueberbleibsel von ausgestorbe
nen Säugcthieren antrifft, die in den früheren, unter der Kreide
liegenden (mit einer einzigen Ausnahme) noch nicht angctroffcn werden.
Es ist nämlich zwischen den Versteinerungen i» den
früheren
und
späteren Lagern
ein
merkwürdiger Unterschied.
63 Die ältesten Ueberbleibsel von organischen Wesen weichen von
den gegenwärtig lebenden am meisten ab, und gehören auch größtentheilS
zu
den
weniger
oder
ausgebildeten
vollkom
menen Thierklassen.
Erst
Kreide gelegen und
nach der Kreidebildung entstanden
sängt
die Pflanzen-
in
den
Lagern,
die
oberhalb der
sind,
und Thierwelt an mehr Gleichheit mit
unseren gegenwärtigen Geschlechtern und Arten zu zeigen; und in diesen, von den Geologen gewöhnlich tertiäre genannten Lagern
ist wiederum eine stufenweise Aenderung der Formen
zu bemerken, und eine fortwährende Annäherung an die jetzt bestehende Ordnung der Dinge; so daß Ueberbleibsel von jetzt
noch lebenden Arten immer weniger sparsam
zu werden an
fangen, je mehr man sich Schichten nähert, deren Entstehen auS
wissenschaftlichen Gründen in die letzten Perioden der Vorwelt
versetzt werden muß. Die Benennung „Versteinerung" (Petrificatio) nöthigt und, einen Augenblick bei ihr zu verweilen.
Gemeinlich braucht man
dieses Wort für dieselben Gegenstände, welche die Franzosen „Fossiles“ nennen.
Beide Benennungen können jevoch eigent
lich nicht als gleichbedeutend betrachtet werden, und beide können
zu vielerlei Verwirrung Anlaß geben.
Fossilien sind, wie daS
Wort schon andeutet, auSgegrabene Sachen, worunter man also
auch Erze und andere Mineralien verstehen kann.
In diesem
Sinne gebraucht man jedoch das Wort gewöhnlich nicht, son dern beschränkt dessen Begriff auf die ausgegrabenen Ueberreste
organischer Wesen. Benennung
Auf der anderen Seite ist aber auch die
„Versteinerung"
in
der
allgemeinen Anwendung,
worin man sie gebraucht, eben so unpassend.
Eigentlich muß
man darunter jene Ueberreste organischer Wesen verstehen, welche auf eine ungewöhnliche Art verhärtet sind und eine chemische Veränderung erlitten haben, wodurch an die Stelle der weichen
64 Stofftheilchen des Psianzengewebes oder der thierischen Organe, irgend ein anderer Stoff aus dem Mineralreich getreten ist. Solche Versteinerungen nun können noch gegenwärtig an ver
schiedenen Orten und unter verschiedenen Umständen entstehen, und in einigen Boden- und einigen Wafferarten werden sie
selbst in einem ziemlich kurzen Zeitverlauf erzeugt. es in Toscana,
So giebt
in Frankreich bei Clermont und
an
anderen Orten, Brunnen mit kohlensaurem Kalk, der sich auf
verschiedene darin getauchte Gegenstände ansetzt, und solcher Art sieht man in Sammlungen versteinerte Körbchen, Vogelnester
u. s. w.
Nicht jedes Petrefact ist also ein Fossil, und um
gekehrt verdient nicht jeder Ueberrest eines organischen Wesens
den Namen „Petrefact".
Die
Knochen
und
Zähne
von
Elephanten, die man in diluvialen Bodenarten antrifft, und die
auch dann und wann in unserem Vaterlande gefunden werden,
verdienen wohl den Namen: fossile Knochen, eigentlich aber nicht die Benennung:
Versteinerungen.
Ihre
Zusammensetzung
ist
nicht verändert; nur die thierische Gallerte haben sie größtentheils verloren und sind spröder und leichter geworden. Manchmal
sogar besitzen die fossilen Ueberbleibsel noch weiche Theile, so wie man in Sibirien an einem Rhinoceros, das im Jahre 1771
auSgegraben wurde, noch Ueberbleibsel von Nerven, Muskeln, von Haut und Haaren sah. Von jetzt an
gebrauche ich
in dieser Rede
daS Wort
„Versteinerungen" in dem Sinne von fossilen Ueberresten orga nischer Wesen, ohne Rücksicht darauf, ob sie große oder fast
keine Veränderung
erlitten.
Einige Bemerkungen
über diese
Versteinerungen werden meine Rede beschließen. Zwei verkehrte Vorstellungen in Betreff dieser Ueberbleibsel
wurden srüher von verschiedenen Schriftstellern gehegt, und ob gleich sie jetzt in der Wissenschaft schon lange verworfen sind,
65 so üben sie doch, wie es gewöhnlich geht, noch fortwährend einen vielseitigen Einfluß auf diejenigen aus, welche mit der
Wissenschaft weniger vertrant sind.
Die eine Meinung ist die,
daß es Naturspiele wären, sonderbar geformte Steine, welche
wohl eine äußerliche Aehnlichkeit
mit Pflanzen
oder Thieren
hätten, die jedoch niemals wahre Thiere oder Pflanzen gewesen
wären.
Daß eS solche Steine giebt, worin eine üppige und
spielende Phantasie die verschiedensten Gegenstände der Natur und Kunst zu erkennen meint, ist unzweifelhaft.
Im Großen
findet man davon Beispiele in den Höhlen, die mit Tropfsteinen
oder Stalaktiten angefüllt
sind.
Geht
es Ihnen,
wie
mir,
in. H.! dann haben Sie oft bei stillen Abendwandlungen, wenn die Sonne unter den Horizont hinabsteigt, in den stets wechseln
den Formen der Wolken ebenfalls allerlei Gestalten, nicht nur
von Bergen, sondern auch Gruppen von Menschen und Thieren erkannt, und befremden kann eS dann auch wohl nicht, daß
man in Grotten, die von Tropfstein bedeckt, bei dem unsicheren
Lichte der Fackeln allerhand phantastische Figuren unterscheidet, die jedoch viel mehr Spiele der Einbildungskraft, als Spiele der
Natur zu nennen sind.
Die Führer zeigen dem Besucher im
mer mit besonderem Wohlgefallen diese Seltsamkeiten:
Stand
bilder, Bäume, erstarrte Wasserfälle und Springbrunnen, Glocken,
Orgeln, Kanzeln u. s. w., und sie sparen keine Worte, um auch
ihn an ihrer Einbildung Theil nehmen zu lassen.
Selbst der
berühmte Pflanzenkenner Tournefort ließ sich bei dem Be
suche der berühmten Grotte von AntiparoS durch die Wir
kung seiner Phantasie dermaßen verführen, daß er dort eine neue Art von Garten zu sehen glaubte, wo Steine wüchsen,
wie anderöwo Pflanzen, und seitdem schrieb er selbst den Me tallen Wachsthum zu; gerade als wollte er, so viel nur möglich,
5
66 Alles in Pflanzen, die er über Alles liebte, verwandeln
Im
Kleinen sieht man Beispiele von eben solchen Naturspielen im Agat und in anderen Steinen, als baumförmige oder federför mige Verzweigungen; und der sogenannte Florentiner Marmor, mit den Bildern verfallener Städte und Trümmerhaufen von
Burgen und Thürmen ist ebenfalls ein merkwürdiges Natur
spiel s).
Solchen Erzeugnissen der Natur hat man früher die
Versteinerungen gleich gestellt.
Man nannte sie Steinfiguren
und glaubte, daß die Bildungskraft der Erde sie hervorgebracht hätte, ich möchte fast sagen, in ihrem jugendlichen Uebermuth. Daraus läßt sich denn auch die Möglichkeit erklären, wie ein
Beringer, noch im Beginne des achtzehnten Jahrhunderts, das Schlachtopfer eines muthwilligen Betruges wurde, und aus einem Hügel bei Würzburg, worin Spottvögel allerlei auS
Thon gebackene Seltsamkeiten vergraben hatten, eine Litho-
graphia Wirceburgensis sammelte, worin Figuren von Blumen,
Schnecken,
Fischen und Insekten
nebst denen von
Sternen und Kometen, ja sogar von hebräischen Buchstaben ab
gebildet sind-').
Selbst Voltaire war nicht frei von der Vor
stellung, daß Austerschalen und andere Doubletten in den Stei ne» wachsen könnten, obwohl er meinte, daß die Muscheln, die
man auf den Mont Cenis gefunden hatte, wohl von den Hüten einiger der vielen frommen Pilger gefallen sein könnten, die
von allen Orten her eine Wallfahrt nach Rom unternähmens).
Eine andere Ansicht,
welche den Fortschritt der wissen
schaftlichen llntersuchung sehr lange zurückgehalten hat, ist die,
daß alle diese Versteinerungen oder Ueberbleibsel von früheren Pflanzen und Thieren,
Zeugen einer gewaltigen allgemeinen
Fluth (Sündfluth) wären. und dem Beginne des
Viele Werke aus dem siebzehnten
achtzehnten Jahrhunderts tragen diese
67 Ansicht sogar auf dem Titel zur Schau •).
Nichtsdestoweniger
wird diese Meinung durch eine nähere Untersuchung leicht wider legt, und aus der einfachen Beobachtung der Thatsachen, wie
die Natur sie darbietet, würde sic sicherlich nimmer entsprungen seinEs sind viele Abstufungen thierischer und pflanzlicher
Formen, alle von einander verschieden, vorhergegangen, bevor
die gegenwärtige organische Schöpfung, mit dem Menschen an der Spitze,
auf der Oberfläche der Erde und wie auf dem „In den Schichten der
Grabe jener Urgescklechter entstand.
Gebirge liegen Pflanzen eingeschlossen, eine ganze Pflanzenwelt liegt dort begraben, die keine Frühlingswärme jemals wieder zum Keimen und Blühen bringen r.'irb.
Man sieht Holz, noch
erkennbar an seinen Fasern, mit Bergschichten abwechseln, bald noch tauglich zu Brennstoff,
bald verändert zu einem harten
Gestein, daS sogar, mit Stahl geschlagen, Funken giebt.
Im
Schiefer sieht man Blätter, die so wohl erhalten sind, daß man in denselben
die
Vcrtheilung
der
Adern
unterscheiden
kann.
Aber diese Beispiele gehören nicht alle zur gleichzeitigen Vegetationözeit; diese Ueberreste von Pflanzen gehören verschiedenen Perioden der Erdgeschichte an, während zwischenliegende Schich
ten, angefüllt mit Seemuscheln und Fischen, beweisen, daß die
Pflanzen, welche in der älteren
oder unteren Schicht liegen,
vernichtet sein mußten, bevor diejenigen, welche in der jüngeren vorkommen, gebildet wurden •)."
Zur Kenntniß der Versteinerungen ist
eine ausgebreitete
Kenntniß der jetzt lebenden organischen Wesen nöthig.
Diese
allein kann uns die Mittel zur Vergleichung an die Hand geben,
uns auf dem dunkeln Weg der Untersuchung vorleuchten und auf eine sichere Spur führen, Bruchstücken
ein Ganzes
um auö
einzelnen
zusammenzusetzen.
Mit 5»
zerstreuten
dem
glän-
68 zendsten
Erfolge wurden in dieser Hinsicht
Cuvier'S gekrönt,
Ablagerungen in
die Forschungen
der aus den GyPSschichten der tertiären
der
Umgegend
von
Paris
eine
Menge
von Säugethierknochen untersuchte, und die ausgestorbenen Ge
schlechter mit der Zauberruthe der Wissenschaft wieder in'S Da sein rief.
In demselben Geiste wurden die fossilen Pflanzen
von Brongniart und Göppert und die fossilen Fische von dem unermüdlichen Agassi; untersucht').
In der alten Flora
der Steinkohlenperiode findet man, im Schiefer und Sandstein, fast
nichts alö Farren, Lycopodiaceen und Equisetaceen. Jetzt machen
diese drei Familien vielleicht nur den dreißigsten Theil des Pflan zenwuchses aus, und das Pflanzenreich unserer gegenwärtigen
Schöpfung bietet hunderte von Familien und Hauptgruppen dar. Als den ersten Hauptzug des Pflanzenreiches jener erwähnten
Periode können wir also einen hohen Grad von Einförmig
keit nennen.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, kann
die damals bestandene Pflanzenwelt mit unseren Tannenwäldern und Haiden verglichen werden, jedoch müssen wir unS dabei
vergegenwärtigen, daß es eine große Mannigfaltigkeit der Arten gab, ähnlich den Tannenwäldern in Nord-Amerika oder den
Haivekrautflächen auf dem Kap der guten Hoffnung, welche
ebenfalls viele Arten enthalten.
Die Einförmigkeit zeigt sich
auch in einer anderen Hinsicht; dieselben Pflanzenarten nämlich, welche in den Steinkohlenlagern Englands gefunden werden,
sind nicht allein in Belgien und am Rhein, sondern auch
in Nord-Amerika gefunden worden;
folglich in Ländern,
welche gegenwärtig eine sehr verschiedene Flora besitzen.
DaS
zweite hauptcharakteristische Zeichen des Pflanzenreiches in der
Steinkohlenperiode ist der Mangel an eigentlichen Blumen, ein
Zug, der um so merkwürdiger ist, als nicht nur unsere Pflan-
69 zen auf Feldern und in Sümpfen, sondern auch die Sträucher
in unseren Gebüschen und die Bäume in unseren Wäldern, alle DaS Vorhandensein von Blumen
zusammen Blumen haben.
wird bei den Pflanzen mit Recht für ein Zeichen höherer Ent, Wickelung
gehalten;
Pflanzen zu den
man
rechnet daher jetzt die blumenlosen
weniger
vollkommenen,
selbst
andere
wenn
Theile, z. B. die Blätter, eine größere Entwickelung erlangt
haben, welches gerade der Fall bei den Farrenkräutern ist.
Da
also die Steinkohlenperiode nur blumenlose Gewächse darbietet,
die jüngeren Perioden dagegen Gewächse mit Blumen, so haben wir hier eine neue Bestätigung der schönen Thatsache, zu welcher uns das Studium der Ueberreste der Thierwelt führt, lebenden Geschöpfe sich stufenweise zu größerer Voll
daß die
kommenheit entwickelt haben.
Auch der Mangel an fleischigen,
sastreichen Früchten ist ein Zug, welcher die genannte Pflanzen
welt von der gegenwärtigen wesentlich unterscheidet, so wie auch,
wie es
scheint,
der Mangel an grasartigen
Pflanzen;
denn die Spuren, welche man von dieser Familie gefunden zu habe» glaubt, kommen sparsam vor und sind zweifelhaft. eine Vegetation,
in
welcher
Ferner,
die Farrenkräuter einen großen
Theil der Flora auSmachen, trifft man heut zu Tage nur auf Inseln der warmen Zonen, und Dieses berechtigt uns zu der Annahme,
daß
auch
in der
Periode
der
Steinkohlen
diese
Vegetation sich auf Inseln befand und daß das Klima warm
war.
Dieses Letztere schließen wir auch daraus, weil es unter
den Farren der Vorwelt viele baumartige gab; in der gegen wärtigen Zeit aber finden wir baumartige Farren nur in wär meren Zonen.
Richten wir dann weiter
unsere Aufmerksamkeit auf die
Thierwelt in der ältesten Periode der lebenden Wesen, dann
70 finden wir eine
unzählbare Menge von Korallen und See-
molluSken (Seehörnern, Seemuscheln und Sepien); die Sepien
(Tintefische) viel zahlreicher und darunter Arten, welche, in Ver gleichung mit der jetzt eristirenden Ordnung, von einer riesen
haften Größe sind. Fische.
Wir finden auch krebsartige Thiere und
Dahingegen vermissen wir durchaus Ueberreste
von
Säugethieren und Vögeln, ja sogar von kriechenden Thieren
(Reptilien).
Der Dunstkreis, reich an kohlensaurem GaS, war
wahrscheinlich untauglich zum Athmen für Wirbel- und noch mehr für warmblütige Thiere.
Die Wälder waren also ohne Vögel,
ohne die jetzt in heißen Ländern so
zahlreichen Affen,
ohne
Schlangen. Da es aber in dieser ersten Zeitperiode schon Arten
auS allen Hauptabtheilungen der wirbellosen Thiere gab, so
kann man hier zur Charakterisirung nur die Wirbelthiere be rücksichtigen, und diese Periode, insofern sic das Thierreich be
trifft, mit Agassi; die der Fische nennen, so wie sie, in ®e;ug
auf daS Pflanzenreich, die der Farrenkräuter heißen kann.
Eine zweite Periode charakterisirt sich durch Eycadeen, die
mit Farrenkräutern und einigen Nadelgewächsen oder Coniferen die Vegetation ausmachen.
Sic
ist eine
Uebergangsperiode
zwischen der Flora der Inseln und der des festen Landes; eine
Vegetation, gleich jener der Küsten des festen Landes und jener der großen Inseln der tropischen Gegenden. Pflanzen fehlen noch.
Ticotyledonische
Unter den Ueberresten deS Thierreicheö
sind in dieser Periode vorzüglich die kriechenden
(Reptilien) merkwürdig.
Thiere
Riesige Eidechsen von fremder und
höchst merkwürdiger Gestalt und von der größten Verschiedenheit
bevölkerten die Gewässer und das feste Land — Ichthyosauren, Plesiosauren, Pterodaktylen u. s. w. Die dritte Periode, die der tertiären Formation, weist auch
71 dicotvledonische Pflanzen und eine größere Verschiedenheit der Formen auf; auch
findet sich hier schon ein größerer Unter,
schied, in Folge der Breitegrade und anderer Umstände, zwischen
der Flora des einen
und des anderen Himmelsstriches.
In
dieser Periode war also das Klima weniger gleichmäßig auf
der ganzen Oberfläche der Erde.
Einige Palmen und baum
artige monocotylcdonische Pflanzen bezeugen jedoch, daß damals in dem gemäßigten Europa ein wärmeres Klima herrschte alS
jetzt.
Dasselbe lehren uns die ausgcstorbenen Geschlechter der
Säugcthicrc und die ausgestorbcnen Arten, die zu Geschlechtern gehören, welche noch Vorkommen, aber deren Arten gegenwärtig
In Betreff des ThierreichS
nur in wärmeren Gegenden leben.
kann man diese Periode als die der Säugethiere charakteri-
siren.
Der Mensch war noch nicht.
Erst nachdem diese Pflanzen-
und Thicrwelt vernichtet war, ward er mit den noch lebenden
Pflanzen-
und Thierarten
in'S Dasein
gerufen,
um GotteS
Schöpfung auf Erden zu krönen und zu vollenden. Ich mag Ihre Aufmerksamkeit nicht
länger in Anspruch
nehmen, m. H.! sondern ich will hier endigen.
Niemand kann
lebendiger als ich überzeugt sein, daß meine Rede nur einen
dürftigen Begriff der vielumsassenden Entdeckungen geben kann,
womit der Mensch das Gebiet seines Wissens in den letzten Jahren erweitert hat.
Wie ausgedehnt ist daS Feld der geolo
gischen Forschung, wenn wir den Umfang der Erde mit der
Größe deS menschlichen Körpers messen!
Wie gering, wenn
wir bedenken, daß die Erdrinde, von welcher wir sprechen, kaum
den vierhundertsten Theil auSmachen
kann von dem Abstand
der Oberfläche bis zum Mittelpunkt der Erdkugel; wie klein, wenn wir bedenken, daß unsere ganze Erde nur ein Stern in
dem Planetensystem und nur
ein Stäubchen in dem großen
72
Weltall ist! Rach diesem Maaßstabe gemessen, ist alle mensch liche Wissenschaft klein, und der Gedanke: Gott allein ist groß, dessen Wink Weltkugeln hervorbrachte und dessen LebenSodem Millionen von Wesen ins Dasein rief, die, ungesehen von unS und für unser Auge unsichtbar, alle Freuden ihres Daseins in einem einzigen Wassertropfen genießen, dieser Gedanke durch bebt unseren Busen, und wir werfen uns in den Staub mit unserer stammelnden Weisheit!
Anmerkungen.
') III. Th. 2. Stück. Amsterdam 1824. S. 247 u. ff. *) Haüy, Trait£ de Mineralogie. See. edit. I. 1832. p. 368, und Fontenelle, Eloges des Academiciens, T. p. 210, wo eS angeführt wird. 3) Haüy a. a. O. p. 415. Marmor pictorium, regiones vel urbes desolatas representans. Wallerius, Syst. mineralog. I. 137. 4) Lithographiae Wirceburgensis Specimen primum, quod praeside D. J. B. A. Beringer pro suprema doctoratus medici laurea publicae disquisitioni submittit G. L. Hu eher. Wirceburgi 1726. Fol. *) Des singularit^s de la nature 1786, Ch. 12 —14 (Oeuvres completes en IV Vol. Paris 1833. III. p. 3884. 3885). •) So z. B.: M. D. 8. Büttners Rudera Diluvii Testes i. e. Zeichen und Zeugen der Sündstuth. Leipzig 1710. 4to.; Jos. Monti De Monumento diluviano nuper in agro Bononiensi detecto Dissertatio. Bononiae 1719. 4to. T) C. Linnai, Oratio de Teiluris habitabilis incremento. L. B. 1744. 8vo. „Qui baec omnia diluvio adscribit, quod cito ortum, cito transiit, is profecto peregrinus est in naturae cognitione et ipse coecus aliorum oculis videt, si quid videt.“ Vergl. auch Buckland, Geology ard Mineralogy (Bridgewater Treatise). London 1836. I. p. 16. 17. Ebenso muß man über die Hypothese de Lue'S urtheilen, nach welcher das antidiluvianische feste Land eingesunken wäre. ®) J. F. Schouw, Natur - Skildringer. Kjöbenhavn 1839. 8vo. p. 24. 25. Auch aus den zwei folgenden Seiten habe ich mich dann und wann der Worte dieses vortrefflichen dänischen Naturforschers bedient.
74 •) Ad. Brongniart setzt als zweite Periode die des bunten Sand
steins zwischen die Steinkohlenformation und den Muschelkalk; Ueberreste von Pflanzen sind hier jedoch nur sparsam und nicht charakteristisch, weshalb wir seine dritte Periode als die zweite betrachten; sie erstreckt sich vom
bunten Sandstein bis zur Kreide cingeschlossen.
S. hierüber Ad. Bron
gniart, Considerations generales sur la nature de la Vegetation qui couvrait la surface de la terre aux diverses epoques de formation de
son
ecorce.
Ann.
des
Sciences natur.
Tom.
XV.
Paris
1828.
p. 225—258; — L. Agassiz, De la Succession et du developpe-
ment des £tres organises ä la surface du globe terrestre dans les
Discours prononce ä l’inauguration de
difflrens ages de la nature. l’Acad^mie de Neuchätel.
1841.
8vo.
Schon früher hatte (5 u v i e r
in seinem bekannten Discours sur les Revolutions
globe, die Hauptzüge ausgestellt. Zieme Edition.
les conches.
Paris 1825.
de la surface du
Recherches sur les ossemens fossiles.
I. p. 54—58.
Rapport des especes avec
IV Ueber das Lesen cdcr
den Umgang mit Büchern.
Ueber das Lesen.
§60 wie unser Körper zur Erhaltung deS Lebens fortwährend
der Nahrung bedarf, so kann auch unser Geist ohne Nahrung
nicht leben, sondern welkt hin und stirbt ab.
Diese Nahrung
für unseren Geist ziehen wir ebenso aus dem, waS unS um#
giebt, wie die für unser körperliches Dasein aus der umgebenden Natur entlehnt wird.
Der Geist giebt Nahrung dem Geiste.
Umgang mit Anderen verschafft uns, die wir gesellige und keine selbstgenügsame,
auf sich
selbst
beschränkte
Wesen
sind,
daS
nährende Wort, welches eben so sehr zu unserem Leben nöthig ist, wie daö Brod für unsere niederen Bedürfnisse. Wir könnten, meine Zuhörer, diese Vergleichung leicht weiter
sortsetzen.
Eben so wie die körperliche Nahrung aufhört nützlich
zu sein, wenn sie nicht gehörig durch einen gesunden Magen verdaut und dann in die Lebenssäfte ausgenommen wird; ebenso
wie sie nicht verarbeitet werden kann, sondern Uebersättigung und Ekel verursacht,
wenn sie unmäßig oder ohne gehörige
Erholung beinahe unausgesetztgenoffen wird: ebenso kann auch die Nahrung des Geistes, wie gesund auch an sich selbst, nichts
nützen, wenn wir sie nicht gehörig verarbeiten, in unser eigenes
78 Wesen
ausnehmen und mit demselben
gleichsam
vereinigen,
oder wenn wir unmäßig darin schwelgen und ohne Erholung
daS Eine auf daö Andere folgen lassen.
Unmäßiger Hunger
ist schon eine krankhafte Erscheinung, und der vorsichtige Arzt fürchtet, daß ein innerlicher Fehler deS Organismus, welcher
verhindert,
daß das wirklich Nahrhafte aus den Nahrungs
mitteln ausgenommen und angecignet werde, sich später als Ab
zehrung und Schwindsucht offenbaren werde; ebenso ist zügel lose Wisssucht eine Krankheit,
die sich später immer an dem
welken, kränkelnden und gedrückten Geist offenbaren wird.
Es ist jedoch jetzt meine Absicht nicht, diesen Gegenstand
weiter fortzusetzen.
Ich wollte Sie nur auf eine bestimmte Art
der Geistesnahrung Hinweisen, von welcher wir Alle Gebrauch, und, wie ich fürchte, auch Alle hin und wieder Mißbrauch machen. Ich meine das Lesen.
Schenken Sie mir Ihre geneigte Auf
merksamkeit, wenn ich zu Ihnen über denUmgangmitBüchern
spreche, so wie dieser wahrhaft nützlich für unS sein kann, wenn
wir denselben mit dem Umgänge mit Menschen verbinden und wenn wir beide abwechseln lassen mit der Einkehr zu und selbst, mit eigenem, selbstständigem Nachdenken, um dadurch unsern Geist
zu unterhalten, zn nähren und zu stärken. ES besteht in der That ein enger Verband zwischen unserem
Umgang mit Büchern und mit Menschen, zwischen unserem Lesen und unserem Verkehr mit Anderen; in der Wahl unserer Lectüre und unseres Umgangs drückt sich oft unser eigenthümlicher Charakter
deutlich auS.
Verhältnisse verschiedener Art können darin Ver
änderungen hervorbringen, doch der Grundzug wird deshalb nicht verwischt.
Verhältnisse können verursachen, daß der Ge
schäftsmann mehr auf den Umgang
mit Menschen beschränkt
wird und seinem Umgänge mit Büchern größtentheils Lebewohl sagen muß; aber er, der einmal Geschmack für höhere Geistes-
79 bildung erlangt hat, kehrt doch, und wenn auch nur heimlich und verstohlenerweise, zu seinen geliebten Büchern zurück, um dort eine kräftigere Nahrung für seinen Geist zu finden, als
ihm oft in jenem Umgänge mit Anderen geboten wird. ist
auch
keineswegs gleichgültig,
diesen Geschmack an
Es
guten
Büchern bei uns lebendig zu erhalten, erfreuten wir unS auch des Umganges der besten und edelsten und gebildetsten Freunde.
Sie können uns entrissen werde», diese Freunde; durch Ver
änderung des Lebenölooses oder Wohnortes kann eS einsam um uns werden;
beim Fortschreiten aus der Lebensreise überleben
wir Vieles, das uns theuer war, und mehr als einmal habe ich aus dem Munde Derer, die sich bei dem Steigen der Jahre
den Arbeiten deS GeschästslebenS entzogen hatten, die fruchtlose Klage gehört, daß sie keinen Geschmack am Lesen fänden! Daher sehen wir kindische Greise, welche die Langeweile als ihren Be gleiter überall mit sich herumführen und in geselligen Kreisen und
Vereinigungen, die ost nichts anderes sind als die Begräbniß-
plätze aller wahren Geselligkeit, die schleppenden Stunden zwischen Kartenspiel und Tabackörauch verträumen.
Erschrecken Sie vor
solch einem Alter, meine Zuhörer: wohlan denn, eine gut ge
leitete Wahl Ihrer Lectüre wird Ihnen ein Mittel an die Hand
geben, um davon befreit zu bleiben, und, wenn Ihr Leben sich ausdehnen wird, bis des Lebens Winter die silberne Krone deS
Greisenthums auf Ihr Haupt setzt, Ihnen diese Krone zu einem wahren Schmucke machen; so daß junge Freunde mit Ehrer
bietung Ihren Worten lauschen und mit Eiser Ihren lehrreichen Umgang suchen werden.
Um bei diesem Gegenstände einer geregelten Ordnung zu folge», wollen wir aus vier Hauptsachen unsere Aufmerksamkeit
richten.
Was müssen wir lesen; Wie viel müssen wir lesen;
Wie müssen wir lesen; Um was muß es unS dabei vor Allem
80 zu thun sein? Die Wahl, daS Maaß, die Weise und der
Zweck unserer Lektüre, daS sind, mit anderen Worten, die vier Hauptgegenstände, bei welchen wir zu verweilen haben.
I.
Wenn
Kopenhagen
wir
in
London,
großen
die
Paris,
öffentlichen
Berlin
Bibliotheken
oder
betreten,
wo einige hunderttausend Bücher die weiten Säle auöfüllen,
dann fühlen wir uns gedrückt durch den Jahrhunderte hindurch angewachsenen Schatz menschlichen Wissens, und werden schwind-
lich von diesem Ueberfluß.
Nehmen wir eines jener Bücherver
zeichnisse in die Hände, deren
uns Deutschland jährlich zwei
liefert, und sehen wir, welch' eine übergroße Mannigfaltigkeit
von Schriften ein einziges Halbjahr inS Dasein ruft, dann
entsinkt unS der Muth und die Lust, in diesen Irrgarten einzu treten.
Doch, wenn wir uns von diesem ersten verwirrenden
Eindruck einigermaßen wieder erholt haben, und unser Verstand
sein regelndes und ordnendes Vermögen wieder vorwalten läßt, dann überzeugen wir unS bald, daß hier Vieles wegfällt, was wir, als für einen anderen Leserkreis bestimmt, nach unserem besonderen Standpunkte nicht einzusehcn brauchen.
Auf diesen Standpunkt gebracht werden.
muß dann unsere Wahl zurück
Dem eigentlichen Gelehrten von Beruf ist
durch sein bestimmtes Fach des Studiums und der Wissenschaft die Wahl angewiesen.
ES giebt bei vielen, vorzüglich bei jungen
Menschen von großem Talent, eine vorübergehende Sucht, Alles
zu wissen, um, wie man es ausgedrückt hat, die ganze intellektuelle Welt zu erobern.
Doch wir sagten es schon, cS ist bei ihnen
eine vorübergehende Sucht; denn, wofern sie ihnen bleibt, ent artet diese Wißbegierde bald in eine Vielwifferei von allerhand Sachen, die Wenige wissen, weil sie in der That die Beachtung
81 Wenig«! verdienen. Es entsteht eine Sucht, Bücher anzusammeln,
die kein Ende hat, und der gesammelte Schah ist zuletzt, wenn
der Sammler ihn nicht selbstsüchtig verschließt, für Jeden nützlich,
den Besitzer ausgenommen.
Er, der in das Wesen der Wissen
schaft einzudringen wünscht, muß sich vor einer Bücherkenntniß hüten, welche verhindert, den Inhalt der Bücher kennen zu lernen. Die Anlockung zu dieser verkehrten Richtung ist jedoch groß, weil solch' eine Bücherkenntniß der Eitelkeit schmeichelt,
und,
wahrend sie unserer Trägheit zum Nachdenken Nahrung giebt, und die selbstständige Thätigkeit deS Geistes unterdrückt, unS
gleichwohl mit der Täuschung schmeichelt, daß wir thätig seien,
obgleich wir eigentlich mir beschäftigt genannt werden können. Doch es sind nicht die Gelehrten von Berus, von welchen
ich jetzt hauptsächlich sprechen will.
von
welchem Stande
Ich meine Männer, die,
und Range sie auch sein mögen,
Geistesbildung Werth legen.
Ihre
auf
Lectüre wird jedoch noch
verschieden sein, und kann bei Jedem von ihnen gleich gilt sein, wenn sie nur nach dem bestimmten Standpunkte seiner socialen
Stellung und seiner natürlichen Anlage eingerichtet ist.
So giebt
eö auch eine andere Lectüre für Frauen, eine andere für Männer,
eine andere für die Jugend, eine andere für die reifere Lebens zeit, eine andere für das Alter.
ES scheint also, daß hier keine
allgemeinen Regeln vorgeschrieben werden können, und daß ich auf die Frage:
WaS müssen wir lesen? meinen Zuhörern die
Antwort schuldig
bleiben
muß.
Inzwischen glaube ich,
daß
wirklich einige allgemeine Regeln für diese Wahl gegeben werden
können, und wäre eS denn auch nur, daß solche Regeln mehr
von verneinender alS von bestimmender Art wären, das heißt, mehr anweisen, was man nicht lesen,
soll.
als was man lesen
Will man seinen guten Geschmack für gesunde und kräftige
Nahrung nicht verderben, dann muß man sich nicht angewöhnen,
6
82 zu allen Stunden des TageS Näschereien zu sich zu nehmen. Kleine Erzählungen, Novellen, wie die Deutschen sie nennen, womit ihre Taschenbücher gewöhnlich angefüllt sind, und welche den gemischten Theil der meisten Journale einnehmen, welche in unseren Lesekreisen wöchentlich von dem einen Hause
zu dem anderen getragen werden, können, wenn sie mit Talent geschrieben und mit einem ächten Beobachtungsgeiste durchzogen sind, dann und wann eine leere halbe Stunde ausfüllen oder
eine Lectüre für den Theetisch abgeben; aber wer nichts Andereliest, als solche Kleinigkeiten, wird seine Zeit nutzlos vergeuden und allmälig alle Fähigkeit für bessere Nahrung verlieren. —
Auch würde ich diesem noch eine andere, mehr allgemeine und belangreichere Bestimmung hinzufügen
können.
Man braucht
nicht allein, man braucht nicht vor Allem neu erschienene Bücher
zu lesen.
Wir haben gesagt, daß in dem Umgänge mit Büchern
und mit Menschen oft derselbe Charakter sich offenbare, und wir dürfen jetzt auch wohl hinzufügen, daß bei der Wahl von
beiden, sowohl der Bücher, welche wir lesen, als der Menschen,
mit welchen wir gesellschaftlichen Verkehr suchen, oft dieselben Re geln gelten.
Mögen Sie auch eine Zeitlang Behagen finden an
dem witzigen Anekdotenerzähler, der in geselligen Kreisen Ihnen auch über daö hundert- und hundertmal Gesagte ein unwillkühr-
licheS Lächeln abzuzwingen weiß: wenn er nichts Anderes als
ein witziger Erzähler ist, werden Sie ihn, denk' ich, doch nicht zu Ihrem vertrauten Freunde wünschen.
Und was würden Sie
von den Bewohnern einer großen Stadt urtheilen, die vorzüglich unter Fremden oder Neuangekommenen Bürgern die Theilnehmer
ihres geselligen Umgangs suchten? Unter den neuen Stadtgenossen
können vortreffliche Menschen sein, und eS würde störrige Un freundlichkeit zeigen, wenn man der Gelegenheit, mit ihnen in
Berührung zu kommen, auSweichen wollte; aber sie vorzüglich
83 aufzusuchen,
als wäre erst mit ihrer Ankunft ein gesellschaft
licher unser würdiger Verkehr für uns möglich geworden, würde Leichtsinnigkeit und leere Eitelkeit verrathen.
Und dieser Leicht
sinnigkeit und hohlen Eitelkeit machen wir uns in unserem Um
gänge mit Büchern nur gar zu oft schuldig.
Die alten Freunde
stehen vergessen, und wenn wir nur einen einzigen Blick auf
sie werfen wollten, so würden wir leicht einsehen, daß wir bei dem Tausche oft nichts gewonnen, und daß wir dabei oft viel,
sehr viel verloren haben. Brauche ich hier hinzuzufügen, wie wenig die allgemein in unserem Lande herrschende
Gewohnheit, in Lesecirkeln die
neu herausgckommencn Bücher hcrumgehen zu lassen, solch' einer guten Auswahl förderlich ist?
Ich verkenne den Nutzen nicht,
den solche Lesecirkel stiften können;
aber,
wie bei saft allen
Sachen der Nachtheil dem Nutzen gegenüber steht und der Miß brauch den Gebrauch verhindert, so fürchte ich, daß hier die Schale mehr zum Nachtheile als zum Vortheile hierüberschlägt.
Man stelle sich nur die bunte Reihe von Büchern vor, die auf
diese Weise wie durch die Launen deö Zufalls auf einander folgen.
Jetzt ein Heft Predigten, dann ein französischer Roman,
jetzt wieder Betrachtungen über eine Vereinfachung der Staatöhauöhaltung,
dann wieder eine Zuschrift an diese
religiöse Gemeinde.
oder jene
Man glaube nicht, daß wir damit diese
Gewohnheit, welche aus eine wenig kostbare Weise unS Kenntniß
nehmen läßt von dem, was in der denkenden oder wenigstens
in der schreibenden Welt so vor sich geht, abgeschafft zu sehen wünschen; aber den Rath würden wir doch Jedem geben, der auf die Gesundheit seiner Seele Werth legt, bei den meisten dieser Bücher eS beim Lesen deö Titels und der Vorrede zu
lassen, sich vorbehaltend, später auf daS zurückzukommen, was
6*
84 in der allgemeinen Zujauchzung der Zeitgenossen eine Borhersagung fand der bleibenden Gutheißung der Nachkommenschaft.
II.
Betrachten wir zweitens daS Maaß unserer Lektüre.
Wie viel müssen wir lesen? Hier scheint es beim ersten Anblick noch schwieriger, allgemein gültige Regeln festzustellen.
Einiger
Regeln jedoch könnte ich erwähnen, die meistens so einfach und überzeugend sind, daß sie keiner Auseinandersetzung bedürfen. Soll ich sagen, daß unsere Lektüre schädlich, ja daß sie tadelnswerth wird, wenn sic unö die Pflichten unseres Standes und Berufes
versäumen läßt?
Zuhörer. einer
Sie werden mir hier Alle beistimmen, meine
Es ist indessen eine große Verschiedenheit zwischen
allgemeinen Beistiminung
Ausübung einer Wahrheit.
und
zwischen
der
besonderen
Over würde es Moliere'n jetzt
an Vorbildern mangeln, um die Züge seiner Femmes savantes zu
skizziren, Schi ller'n, um seine berühmte Frau zu zeichnen? Frauen, die den bescheivenen Kreis, worin vie Natur sie setzte,
und
wo sie himmlische Rosen in das irdische Band flechten
können, für den Ruf einer Gelehrten oder Savanten aufopfern, und aus Ey therea'S goldenem Buche ihre Namen ausgetilgt
sehen, um starke Geister in schwachen Körpern zu sein?
Wir
erkennen jedoch gerne an, daß diese Frauen bei uns durch den
guten Geschmack und feinen Tact des schönen Geschlechts sehr selten
sind.
Aber
sind
sie eben so selten die Beispiele von
Männern, die sich in ihrem Bücherzimmcr so sehr abschließen,
daß sie allmälig allen Geschmack für geselligen Verkehr, ja sogar
alle Theilnahme für die Zeit, worin sie leben, und für die Gesellschaft, worin sie gestellt sind, verlieren?
Wir finden also
eine allgemeine Regel: man liest zu viel, wenn man durch daS Lesen mehr Gelehrter als Mensch wird.
So hört selbst der
Gelehrte auf, ein nützlicher Gelehrter zu fein' weil er aufhört
85 ein nützlicher Mensch ju sein.
Die Natur hat unS nicht zu
Stubengelehrten bestimmt; sondern die Bestimmung des Gelehrten ist, mit seinem Lichte Anderen vorzuleuchten, es überall scheinen zu lassen und zu verbreiten.
Stellen wir uns einen Geschichts
schreiber vor, der sich der umgebenden Menschenwelt entzieht,
um Tage und Nächte, gebückt über seinem Schreibtisch, alte
Urkunden zu durchstöbern, Pergamente zu entziffern, Diplome
zu durchsuchen und all' den Gebräuchen alter Zeiten bis in die kleinsten Besonderheiten nachzuspüren.
dieser Mann
vielerlei
und
Ich läugne nicht, daß
brauchbare Kenntnisse
ansammeln
kann, aber ich fürchte, daß sie für ihn weniger als für Andere
brauchbar sein werden.
Wie soll solch' ein Stubengelehrter eine
Geschichte entwerfen können, die sich, ich will nicht sagen durch
angenehmen und einfachen und ungezwungenen Stil auszeichnet, sondern die uns den Menschen in der Geschichte zu betrachten
giebt, die und durch pragmatische Bemerkungen fesselt und in
den Ereignissen etwas mehr sehen läßt, als eine Aufeinander folge von unzusammenhängenden Schauspielen?
Das menschliche
Herz, die menschlichen Triebfedern bleiben sich stets gleich, und nur der scharfsichtige Kenner deö menschlichen Gemüthes kann Geschichtschreiber fein, weil uns in der Geschichte Nichts von
Werth ist, wenn wir das Leben der Menschheit nicht darin abgespieglt sehen.
Aber wie soll er, der immer unter Büchern
und nur unter Büchern sein Leben hinbringt, diese Menschen kenntniß erlangen?
Von daher eine der Ursachen der hohen
Bortrefflichkeit der alten Schriftsteller. ihrer Mitbürger;
sie nahmen,
Sie lebten im Kreise
oft in hohen Würden, an der
Leitung ihres Staates Antheil, sie stritten in den Reihen ihrer Mitbürger oder führten sie an
gegen den Feind;
sie unter
nahmen lang' dauernde Reisen, um die Sitten und Gebräuche
der Völker kennen zu lernen, und in der Schule der Erfahrung
66 gereift, schrieben sie mit all' der Umsicht, die einen durch Um
gang gebildeten Geist kennzeichnet, daS, waS sie selbst begriffen, mit der edelsten Einfachheit nieder. — Wir haben den Geschichts forscher genannt, weil bei ihm mehr noch als bei einigen an
deren — und wir sind die Ersten, solches anzuerkennen — keine
Bortrefflichkeit ohne Gelehrsamkeit denkbar ist, aber wie viel mehr gilt das Gesagte
von
schaften obliegen?
Wenn ein Naturforscher mehr aus Büchern
welche den
denen,
Erfahrungswissen
als auS der Natur lernen will; wenn er die vielen Bücher
nicht gebraucht, um daraus daö einzige, nicht mit menschlichen Buchstaben, sondern mit göttlicher Kraft geschriebene untrügliche Buch der Natur verstehen zu lernen; wenn die Wahrheit ihm lieber ist,
wie sie durch
menschliche Weisheit
zurückgeworfen
wird, als wie sie auö ihrem Brunnen unausgesetzt ausstrahlt; wenn er sich nicht mit Liebe und Begeisterung der Natur zu
wendet und sich, so zu sagen, an ihren Busen wirft: dann ist
er unfähig, ein wahrer Naturforscher und vielleicht nur bestimmt, ein Münz-Sammler zu werden.
Aber es ist doch so nützlich, wird man sagen, die Geschichte
der Wissenschaft zu studiren!
Ich erkenne dies gerne an, aber
ich bezweifele nur, daß ihre Erlernung die Grundlage eines
naturwissenschaftlichen Studiums ausmachen müsse. setzt Kenntniß
deS
gegenwärtigen Zustandes
Geschichte
der Wissenschaft
voraus, und er, der seines Faches Meister ist, wird auS der
Geschichte viel lernen können, waS dem Anfänger unzugänglich ist.
Man vergesse daher, und hiermit können wir diese Be
trachtung kurz zusammenfassen, man vergesse daher bei Allem
niemals, daß wir für das Leben lernen und nicht für die Schule, und daß alle Gelehrsamkeit, wie ausgebreitet sie auch sei, daS wahre Salz verliert, wenn sie sich dem Leben entzieht und entfremdet.
87 Wie sehr wird auch in dieser Hinsicht daS Lesen mißbraucht! Biele sammeln sich Jahre lang Aufzeichnungen,
7
wenn die Untersuchung zuletzt vollendet sein wird, zu gebrauchen
hoffen.
Dabschelim,
ein König
von Indien,
so erzählt
und Herder in seinen Palmblättern, hatte eine so zahl reiche Bibliothek, daß hundert Braminen nöthig waren, um sie
in Ordnung zu halten, und tausend Kameele, um sie zu tragen.
Aber da er keine Lust hatte, sie ganz zu durchlesen, so trug er den Braminen auf, daS Beste und Nützlichste, waS sie darin fänden, herauszuziehen und ihm zu übergeben.
Diese Gelehrten
arbeiteten mit solchem Eifer, daß sie, nach Verlauf von zwanzig
Jahren, aus den gesammelten Auszügen einen kurzen Inhalt aller Weisheit zusammen brachten, der in zweitausend Bänden bestand, und welchen dreißig Kameele nicht ohne viel Mühe
tragen konnten.
Sie boten diesen kurzen Inhalt dem Könige
an, aber zu ihrer Verwunderung mußten sie hören, daß er die
Ladung von dreißig Kamcelen noch zu stark fände. minderten daher diese Ladung bis auf fünfzehn,
Sie ver danach
auf
zehn, dann auf vier und endlich auf zwei Kameele; zuletzt blieb
sogar nur so viel übrig, als zum Beispiel ein Maulesel von mittelmäßiger Größe mit Anstand tragen kann.
Zum Unglück
war Dabschelim, während man seine Bibliothek so beschnitt, alt geworden, und er zweifelte, ob er noch wohl so lange leben
würde, um dieses Meisterstück einer kurzen Vollkommenheit zu sehen.
DaS Uebrige der Erzählung gehört nicht zu unserem
gegenwärtigen Gegenstände.
Wie Viele sind nicht nach ihm alt
geworden, ohne daß sie jemals den aufgespeicherten Schatz ihrer
Aufzeichnungen in Ordnung bringen und zu einem nützlichen
Zwecke verwenden konnten!
88 III.
Wir haben dritten- zu-achten auf die Weise, wie
gelesen wird, und
auf die Weise, wie gelesen werden muß,
wenn daS Lesen dem Geiste wirklich Nahrung geben soll. Auch
hier spiegelt sich der Charakter deS Menschen im Lesen oft eben so, wie in seinem Umgang ab.
mal angetroffen, m. H.!
Sie haben sie sicher wohl ein
Leute, vorzüglich in höheren Kreisen,
die mit Höflichkeit ein Gespräch mit Ihnen anknüpften, und ehe die Antwort auf Ihren Lippen war, hörten sie schon nur halb, oder ihr umherschweisender Blick suchte in dem Kreise
einen
Anderen auf, an welchen sie sich nun wenden wollten. Aus eine
theilnehmende Frage, oder wenigstens aus eine, die durch Theil nahme eingegeben zu sein schien, folgt Ihre Antwort, die nicht
gehört wird, und einen Augenblick darauf ist Ihnen der feine Weltmann
schon
entschlüpft,
und
Sie
sehen
ihn, in einem
anderen Theile des Zimmers, mit neuen Höflichkeitserweisungen beschäftigt.
Solch eine
höfische Behandlung
widerfährt auch
oft den Büchern; doch ich brauche nicht zu sagen, daß solch ein aristokratisches Blättern in einem Buche kaum Lesen ge nannt werden kann. DaS Erste, was wir bei einem Gespräche verlangen, ist
Aufmerksamkeit auf das, waS gesprochen wird. auch
mit ungestörter Aufmerksamkeit
So müssen wir
diejenigen Bücher
lesen,
von welchen wir, zur Veredlung unseres Geschmackes oder Ver mehrung unserer Kenntnisse oder Schärsung unseres Denkver
mögens, wirklichen Vortheil ziehen wollen.
Fühlen wir, daß
unsere Aufmerksamkeit ermüdet nachläßt, dann kann die Schuld an uns, an dem Schriftsteller, oder auch an Beiden liegen.
Der
Gang der Gedanken kann bei dem Schriftsteller für den Lauf
unserer Vorstellungen zu schnell sein, manchmal ist er auch zu langsam.
Wie ermüdet es nicht, wenn wir mit Jemand im
Gespräche sind, der uns die Sylben der Worte mit gemachter
89 Würde zuzählt, oder der durch einen oder anderen Fehler seiner
Stimmwerkzeuge genöthigt ist, diesen abgemessenen Gang seinen Worten zu geben?
ES kann ebenso mit einem Buche sein, und
wenn der Inhalt alsdann nicht so belangreich und nützlich ist,
daß wir dabei die Form vergessen, dann ist es rathsam, solch' ein Gespräch oder solch' eine Lectüre, so eilig als cs nnS mög
lich ist, abzubrechen. — Liegt dagegen die Schuld an uns, und erheischt unser
ermüdeter Geist Erholung,
unser abgezogenes
Nachdenken Zerstreuung, dann thun wir sicher am besten, unseren
Körper nicht zu quälen, und uns vor einem gedankenlosen Fort
lesen mit den Augen zu hüten, während der Geist abwesend ist. Aber soll der Umgang mit Menschen nns wahrhaft nützlich
sein, dann müssen wir unS in ihren Zustand so viel als möglich versetzen, und nicht blos den Wiederklang von uns selbst in dem hören wollen, was Andere
sagen.
Wie manches
Buch
bleibt nicht für unS ohne Frucht, blos weil wir unsere geliebten
Vorstellungen, unsere Meinungen und Systeme nicht darin an treffen, oder weil es aus einer Schule hervorgegangen ist, aus
welcher, wie wir einmal glauben, nichts Gutes kommen kann!
Dieser Einseitigkeit machen wir uns oft schuldig, und sie würde noch einigermaßen verzeihlich sein, wenn sie nicht häufig gepaart
ginge mit einer Aburtheilung über das nicht Untersuchte, welche
die Verdienste Anderer auch bei dem Publikum in den Schatten
zu stellen bemüht ist, sobald diese nicht zu unserer wissenschaftlichen oder gelehrten Partei gehören. Wenn ein verständiger Mann aus geselligen Umgang wirk lich Werth legt, dann darf er sich größeren Kreisen nicht ent
ziehen, immer jedoch wird er die Zahl seiner vertranten Freunde nicht
zu
sehr auszubreiten suchen.
Vorsichtig
und
behutsam
wird er in seiner Wahl sein; aber hat er einmal in Wahrheit
sein Vertrauen auS guten Gründen in Jemand gesetzt, besteht
90 zwischen ihm und seinen Freunden eine Verwandtschaft, die, auS
der Seele entsprossen, das ganze Leben beherrscht, dann kehrt er aus größeren Kreisen stets zu seinen vertranten Freunden zurück, um mit neuem Behagen in ihrem Verkehre Nahrung
für Herz und Verstand zu finden. Lectüre sein.
So muß es auch mit unserer
Einige Lieblingsschriftsteller
deren fortwährendes Lesen und
müssen
wir haben,
mehr Vortheil bringen wird,
als der ansgebrcitetste Bücherschatz unö liefern kann.
Der ge
lehrte Drost von Muiden, unser großer Hooft, hat seinen geliebten Tacitus zwei und fünfzig Mal durchgelesen.
So
oft wir den Versuch machen, werden wir finden, daß ein vor
Jahren von unö gelesenes Werk, wenn wir es wiederum lesen, nicht vollkommen denselben Eindruck auf uns macht, wie früher.
Dies ist auch natürlich.
Wir sind inzwischen verändert, und
wenn wir unser Leben nicht nutzlos verbringen, ist unser Urtheil
reifer, unsere Erfahrung reicher, unser Geschmack edler geworden. Entdecken wir, daß, Verstandes und
bei diesem veränderten Zustande unseres
Gemüthes,
eine derartige Schrift uns
noch
mehr behagt, als früher, daß wir neue Wahrheiten und unge
kannte Schönheiten darin gewahren, die uns beim ersten Lesen entgangen waren, dann werden wir eS bei diesem zweiten Lesen
nicht lassen.
Ein solches Buch wird nnS endlich theuer, weil
eS für unö die Geschichte unseres Geistes umfaßt und wir bei einem wiederholten Lesen Nutzen alS zuvor
jedesmal bemerken, daß
daraus ziehen.
wir mehr
So werden wir mit dem
Geiste des Schriftstellers durchdrungen, und selbst unser Geist
durchdringt daö Werk deS Schriftstellers, so daß wir Sachen und Gedanken darin antreffen, von welchen es zweifelhaft sein
kann, ob sie ganz darin liegen, die wenigstens von Anderen
nicht so leicht darin bemerkt werden, aber die wir auch nicht ganz als die unsrigen betrachten können, weil wir sie unter der
91 Leitung unseres Lieblings - Schriftstellers gesunden und gebildet
haben.
Es ist gerade wie mit dem Umgang unter vertrauten
Freunden; an diesen kann ein diesem Kreise Fremder nicht das
Behagen finden, ja, er wird sie oft nicht einmal großer Beachtung
werth halten.
So wollen wir denn auch über die Wahl jener
Lieblingsschriftsteller mit einander nicht rechten; die Wahl des Eine» braucht nicht die eines Anderen nnd kann nicht die von
Allen fein; aber Alle, die aus einer Lectüre von gutem Geschmack und tüchtiger Wissenschaft wahre und dauerhafte Fruchte ziehen
wollen, müssen einzelne auserwählte Bücher haben, die sie nie mals bei Seite legen, als um sie nach kürzerer oder längerer
Zeit mit neuem Vergnügen und erhöhetem Interesse wieder in die Hand zu nehmen. Wir haben hier zugleich ein Kennzeichen des guten Ge schmackes.
gelernt,
Haben wir einmal die großen Schriftsteller kennen
die von dem späten Nachgeschlechte immer noch
als
Muster deS guten Geschmackes gerühmt werden und die mit unsterblichen Lorbeeren um ihre Stirnen prangen, und finden wir
unter diesen allen nicht einige oder auch nicht einen, dessen Schriften wir zwei- oder mehrmal oder fortwährend zu lesen und zu überdenken wünschen, dann bleibt für unö kein anderer
Rath übrig, als der, welchen der Greis in Gellert's Erzählung einem jungen Gelehrten gab, fortan nur Zeitungen zu lesen.
IV. umfaßt
Eine belangreiche Frage bleibt unS noch übrig.
gewissermaßen
alle
die übrigen,
die
auch
Sie
erst nach
ihrer Beantwortung eine bestimmte Lösung finden können; wir werden daher bei ihrer Betrachtung oft auf daS schon Ver handelte zurückgewiesen werden.
Lectüre?
WaS ist der Zweck unserer
Um waS muß eS unS dabei vorzüglich zu thun sein?
Das ist der vierte und letzte Gegenstand, bei dem wir zu ver-
92 weilen haben und zu dessen Betrachtung ich Ihre erneuerte Auf
merksamkeit bescheiden anrufe. Manche
lesen
wie man es nennt.
zum Zeitvertreib
oder
zur Zeitabkürzung,
Es giebt Augenblicke selbst im Leben des
thätigsten Menschen, in welchen man Ruhe und Abspannung
nöthig hat; es giebt Umstände, in welchen der Geist durch andere Gegenstände nicht hinreichend beschäftigt erhalten wird, und in
welchen man gerne ein Buch in die Hand nimmt, dessen Lesen keine große Anspannung erheischt und daS uns durch launigen Stil
oder durch Mannigfaltigkeit der Gegenstände behagt und anzieht.
Wir sind weit davon entfernt, m. H., eine solche Lectüre geradehin
zu mißbilligen; rauhe Sittenlehrer mögen solch eine Abspannung
verurtheiken, der aber, der kein Fremdling ist im menschlichen
Gemüth,
er, der sich selbst unparteiisch beobachtet, kann solch
ein Urtheil nicht fällen.
Doch man halte wohl fest, es dürfen
nur Augenblicke und Zwischenstunden sein, und was, so genossen, verzeihlich und sogar heilsam sein kann, wird nachtheilig und
tadelnswerth, sobald eS nur eben diese Grenzen überschreitet.
Auch wünschte ich wohl, daß die Worte: Zeitkürzung und
Zeitvertreib aus unseren Wörterbüchern könnten gestrichen werden. Der Vater der Heilkunde, Hippokrates, nannte schon das Leben kurz und die Kunst lang;
und seine Nachfolger,
welche auch ihre Verdienste sein mögen, haben daS Geheimniß
noch nicht gefunden, um die Kunst kürzer zu machen.
Wohl
hat ein Arzt, der ein Menschenkenner und zugleich Menschenfreund war, der berühmte Hufe land, ein Buch geschrieben Ueber
die
Kunst,
das
menschliche
Leben
zu verlängern;
und Wer wird daS Bestehen einer solchen Kunst mit entschiedenem
Tone ganz abläugnen können,
wenn wir leider die täglichen
Proben sehen, die Viele von ihren Fortschritten in der Kunst geben, daS
menschliche Leben zu verkürzen? Aber wäre diese
93 Lebcnsvcrlängcrungs-Kunst auch noch so sehr gefördert, das Ergebniß der Befolgung ihrer Regeln, steht nicht in unserer Gewalt.
wir wissen eS Alle,
Es giebt hingegen eine andere
Lcbenskniist, die wir in unserer Macht haben: durch fortwährende Thätigkeit, durch den Gebrauch des und gegebenen Heute, daS morgen schon kein Heute mehr ist.
Nickt durchlebte Tage,
sondern vollbrachte Thaten sind der Maaßstab, wonach wir dann
die wahre Lebensdauer berechnen müssen; können wir die Flügel nicht verkürzen, womit die Zeit rastlos vorbeieilt, so müssen wir
keinen Augenblick ungenutzt vorübergehen lassen, und das Wort Zeitabkürzung bars nicht aus unsere Lippen kommen, weil unser
Gewissen uns
stets das große Losungswort des
Lebens ins
Gedächtniß rüst: Wirket während es Tag ist!
Andere lesen, und das ist sürwahr kein löblicherer Grund, anö Eitelkeit.
Ihn meinen wir hier nicht allein, der mit einer
vielseitigen Gelehrsamkeit zn glänzen und sich einen Namen zu
machen wünscht in der literarischen Welt, nicht dadurch, daß er selbst etwas GutcS, daS neu und ursprünglich wäre, hervor brächte , sondern dadurch, daß er weiß, was Andere vor ihm gedacht, gcmnthmaßt und geschrieben haben.
hat eine mehr allgemeine Beziehung.
Unsere Bemerkung
Es gehört nun einmal
in gewissen Kreisen zn den ersten Erfordernissen, daß man etwas Neues gesehen oder gehört habe; ohne dieses kann man darüber
nicht mitsprechen.
Die
meisten heutigen großen Städte sind,
gleich dem alten Athen, mit Bürgern und Fremden angefüllt, die für nichts mehr ihre Zeit übrig haben, alö um was Neues zu sagen und zu hören.
Kaum ist, um nur Eines zu erwähnen,
ein berühmter Virtuose angekommcn, und Alle, die zu diesen Kreisen gehören, und hätte auch die Natur ihnen allen Sinn
für Maaß und Ton stiefmütterlich versagt, strömen hin, und die
übertriebensten
Preise,
auf welche der reisende
Künstler
die
94 Prüfung seines Talentes setzt, können oft eben so wenig, als die erstickende Luft eines
mit Menschen überladenen SaaleS,
selbst den Bescheidensten zurückhalten. so mit Büchern?
Ist es nicht auch häufig
„Haben Sie eS schon gelesen?" sagt Ihnen
der Eine; — der Andere: „Sie müssen es lesen!" ein Dritter:
„Sie haben eS sicher schon gelesen"; und, wenn Ihnen Ihre Ruhe lieb ist, so müssen Sie das Buch lesen, blos weil Andere
es so wollen. Es können in der That nur drei Hauptabsichten gedacht wer
den, mit welchen wir ein Buch lesen müssen: nämlich entweder um unseren Geschmack zu bilden, oder um unsere Kenntniß zu ver
mehren, oder um unser Urtheil zu schärfen und unsere Denk kraft zu stärken; und alle diese verschiedenen Zwecke fließen in
einem zusammen: nämlich um fortzuschreiten in unserer Ent
wickelung und Vervollkommnung. Wir sagten, eS ist, um unseren Geschmack zu bilden.
Die
Griechen riethen demjenigen, der bei dem Besitze aller übrigen
Vortrefflichkeiten der Anmuth ermangelte, den Grazien zu opfern. Anmuth ist eine Schönheit, die nicht durch die Natur gegeben, sondern
durch den Menschen selber
hervorgebracht wird;
sie
veredelt auch daö, was minder schön an sich selbst ist, und läßt
unsere Wahl oft auf daS minder Schöne fallen, während eine vollkommenere,
aber der Lieblichkeit der Grazien entbehrende
Schönheit und kalt läßt.
Nach dieser Anmuth müssen wir Alle
streben, weil sie uns angenehm macht bei unseren Mitmenschen, und ohne ihren Besitz unsere besten Bemühungen oft ganz fruchtlos
bleiben werden. Ein veredelter Geschmack, fern von aller Manierirt-
heit, lehrt unö, in Allem das rechte Maaß zu bewahren und stets
das Passende und Natürliche vor dem Uebertriebenen und Ge suchten
zu
wählen.
Durch
diesen
guten
Geschmack
geleitet,
streben wir nach Allem, waS schicklich und harmonisch ist, und
95 eine edle Einfachheit wird das Kennzeichen all' unseres Sprechens
und Handelns. Um unsere Kenntniß zu erweitern,
lesen
wir diejenigen
Schriftsteller vorzüglich, die über die Gegenstände, welche sie
behandeln,
durch eigene Untersuchung urtheilen
können,
und
keineswegs diejenigen, die von anderen entlehnen, waö sie uns mittheilen, und so durch fremde Augen sehen.
Alle selbstständigen
Schriftsteller verdienen also den Vorzug vor Kompilatoren, die auS neun und neunzig Büchern das hundertste zusammen
gestellt haben.
Der Besitz der Wissenschaft wird und mehr und
mehr theuer, weil wir täglich einsehen, daß Kenntniß eine Macht
ist, welcher in der menschlichen Gesellschaft viel unterworfen ist, und welcher sich vorzüglich Diejenigen nicht ungestraft entziehen
können, die durch daö LooS der Geburt oder die Launen einer
grilligen Fortuna zu Führern oder Herschern ihrer Mitbürger
erhoben
sind.
Die Geschichte,
die
unerbittliche,
scheidet die
Wahrheit von dem Scheine und lehrt uns die Nichtigkeit aller
Größe, die nicht aus wahren Verdiensten entsprang.
Die Untersuchungen der Naturforscher lehren uns die einzigen und unveränderlichen Gesetze kennen, nach welchen die höchste Weisheit das große Weltall bis in die kleinsten Theile hinein
regelt und leitet.
Hier werden wir durch Männer eingeführt,
die als Wohlthäter nicht eines Volkes, sondern der ganzen
Menschheit, nicht ihrer Zeit, sondern aller Zeiten, mit unverwelklichen Kronen geziert sind.
Ein englischer Schriftsteller hatte
vielleicht nicht ganz Unrecht, alö er sagte, daß der Ruhm eines jeden Staatsmannes, den sein Land hervorgebracht habe, un
bedeutend sei in Vergleich mit dem Lord Bacon'ö, Newton'S und Boyle'ö.
Um unser Urtheil zu schärfen, endlich, lesen wir philoso
phische Schriften aller Völker und Zeiten; wir sehen selbst in
96 den Irrthümern des speculirenden Verstandes die nothwendige Entwickelung des Geistes der Philosophie, und der Streit der
Meinungen erschüttert unsere Ueberzeugung von dem Bestehen
einer
Philosophie
nicht,
von der alle Systeme
unvoll
nur
kommene oder einseitige Versuche sein mögen, aber welche gleich
wohl stets aus dieselben großen Gegenstände, auf den Ursprung,
den Werth und die Gewißheit der menschlichen Kenntniß zurück weisen. — Wir gehören sicher nicht zu Denen, m. H.! die, durch die Klagen über unser Jahrhundert ganz entinuthigt, srühcre
Zeiten über die erheben wollen, in welchen wir leben.
Aber
man braucht doch nur ein für Wahrheit und Recht fühlendes Herz im Busen zu tragen, um mit dem, waS geschieht und um uns vorfällt, ost in Widerspruch zu fein.
Wie Viele sieht man
nicht, die das Gute weder wollen, noch thun!
Wie Viele, die
es zwar wohl wollen, aber nickt thun, und wie Wenige giebt eS,
die mit dem Willen auch einen beharrlichen Eifer
paaren, um das Gute zu wirken und zu befördern.
Wie oft
mals sieht man Unfähigkeit und leicktsinnige Selbstgefälligkeit sich voran drängen und bescheidene Verdienste
und Stillsitzen zwingen.
Wie sieht man
zum
Weichen
in unserem ganzen
Weltthcil fast einen Principien-Streit, in welchem das Edelste
oft unterliegen muß, weil eö durch Unwürdige mißbraucht wird
zum Deckmantel ihrer niedrigen Absicktcn; wie sieht man Willkühr
Alles
durcheinander mengen, so daß
Verwirrung fast genöthigt wird zu fragen,
man
bei
so viel
ob eine Vorsehung
wacht und sorgt für daö Geschick der Menschheit, und man bei
den Saaten der Zwietracht, die überall üppig auöschlagen, oft den bekümmerten Gedanken nicht unterdrücken kann: was wird doch das Loos unserer Kinder sein!
Drücken diese Beobach
tungen Sie nieder, steigen diese Bekümmernisse in Ihnen auf
97 schlagen Sie dann, m. H.! das Buch der Geschichte auf.
Sehen
Sie, wie manchmal das Licht, wie auf höheren Befehl, auS der Finsterniß zum Vorschein kam; oder trösten Sie sich mit
den schönen Erwartungen und Aussichten,
welche die
Edlen
unseres Geschlechts in ihren unsterblichen Schriften zu unserer
Ermuthigung verkündigt haben. dem Kampf des Lebens,
Stärken Sie sich dadurch zu
zur unausgesetzten AuSharrung
im
Guten und zur unwandelbaren Ueberzeugung, daß ein höheres Wesen wacht und sorgt über der Menschen Treiben und Schicksal.
AIS der König von Indien, von dessen Geschichte wir Ihnen auö Herder's Palmblättern den Anfang mittheilten,
und die wir jetzt fortsehen wollen, als Dabschelim, die Hoff nung aufgegeben hatte,
noch vor seinem Sterben den kurzen
Auszug auS seiner Bibliothek vollendet zu sehen, frug er in dieser dunkelen Sache seinen weisen Vezier um Rath, der also
zu ihm sprach:
„Großer König,
obgleich
ich die Bibliothek
Eurer Majestät nicht genugsam kenne, so getraue ich mir doch wohl int Stande zu sein, davon einen sehr kurzen und ziemlich nützlichen Auszug machen zu können.
Sie können ihn in wenigen
Augenblicken lesen und Sie werden so viel darin finden, daß
Sie Ihr ganzes Leben genug haben werden, um darüber nach,
zndenken."
Er nahm ein Palmblatt und schrieb mit einem gol,
denen Griffel darauf:
„Die
meisten Wissenschaften
enthalten
allein das einzige Wort Vielleicht.— Liebe, was Wahr ist, und sage nicht Alles, was Du denkst. —
ES giebt kein Glück
ohne Tugend und keine Tugend ohne Gottesfurcht."
Die meisten Wissenschaften enthalten allein dieS eine Wort Vielleicht.
Wer erinnert sich hier nicht an SokrateS, der
darum durch das Delphische Orakel für weiser als alle Ande
ren erklärt zu sein behauptete, weil alle Anderen vorgäben, zu
wissen, waS sie nicht wüßten, und er allein wisse, daß er Nichts
7
98 wisse!
halten.
Hüten wir uns, diese Worte für einen leeren Klang zu Ein scharfsinniger Philosoph der neueren Zeit hat mit
Recht gesagt, daß Der noch nicht weit fortgeschritten sei, vor
welchem sich daS Feld der Forschung nicht mit jedem Schritte, den er vorwärts thue, weiter auSdehne.
Und wenn nun der am
meisten in der Wissenschaft Fortgeschrittene seinen ganzen Schatz
vergleicht mit dem, was man wissen könnte; wenn er bedenkt, wie alles
das,
was Menschen wisse»,
nieder sinkt vor der
allgemeinen, Alles durchdringenden und mit einem Blick um
fassenden Erkenntniß, die nur höheren Geistern gegeben ist und
in vollem Maaße nur bei der Goltheit wohnen kann, dann
wird die Erklärung: ich weiß Nichts, ihm auS voller Ueber« zeugung von den Lippen fließen, und ungeheuchclte Demuth und Bescheidenheit werden seine schönste Zierde sein.
V.
Ueber d i e Form.
Ueber die Form.
Hierin ein Redner den Gegenstand seiner Rede nicht zu suchen braucht, sondern ihm derselbe von vorne herein vorgeschrieben ist, wenn er spricht, weil es seine Pflicht ist, zu sprechen, sei eS zur Unterweisung, sei eS zur Handhabung der Gesetze oder zur
Vertheidigung eines Angeschuldigten,
oder
zur Verkündigung
höherer Wahrheiten; oder, wenn seine Rede durch die Veran lassung des TageS bestimmt ist, dann kommt eS mir vor, als
habe er viel voraus vor demjenigen, von welchem man nichts Anderes weiß, als daß er sprechen wird, und aus dessen Rede selbst man erst den Gegenstand kennen lernt, den er behandeln will.
Es scheint zwar beim ersten Anblick, alS ob der Letztere durch die größere Freiheit, welche ihm gegeben ist, im Vortheile sei.
Welch eine reiche Auswahl liegt vor ihm auf dem Gebiete deS menschlichen Wissens, die er sich von Niemand bestritten sieht,
und die nur allein beschränkt ist durch die Grenzen seiner eigenen Kenntnisse oder wissenschaftlichen Ausbildung!
Ja, scheint eS
nicht sogar, daß vielleicht diese Grenzen noch überschritten werden
können, und der Redner, mit einiger Krastanstrengung, durch
Lectüre sich auch
wohl mit einem Gegenstände,
welcher ihm
102 sonst fremd war, dermaßen vertraut machen kann, daß er vor
einem gemischten Publikum mit Selbstvertrauen und, sei eS nun zu größerer oder geringerer Genugthuung seiner Zuhörer, wenig,
stenS mit einiger Genugthuung für ihn selbst darüber verhandeln kann? Aber die reiche Wahl selbst ist hindernd!
Sprechen zu
dürfen, über waS man weiß oder wissen könnte, über daö was Anklang findet oder finden könnte, — waö soll man wählen?
Wie leicht entsteht der Wunsch, sich wieder einer Freiheit be raubt zu sehen, bei welcher man, auch wenn man gut gewählt hat, die Furcht nicht überwinden kann, daß doch noch eine bessere
Wahl möglich gewesen wäre. „ Wußt' ich nur einen Gegenstand! Haben Sie einen Stoff für mich?" so fragt man oft bei seinen Freunden und Bekannten herum, und so habe auch ich gefragt,
als ich, zu unvorsichtig vielleicht, dem Ersuchen Gehör gab,
vor dieser öffentlichen Versammlung als Redner aufzutreten*). Wenn Sie von mir erwarten, daß ich aus dem eigentlichen
Gebiete der Wissenschaft, der ich von meinen Kindcrjahren an mit besonderer Vorliebe zugethan war, und die ich nun schon viele Jahre hindurch lehren darf, einen Gegenstand für meinen
Vortrag auSwählte,
finden.
so werden
Sie
sich diesmal
getäuscht
ES ist mir durch langdauernde Gewohnheit fast un
möglich geworden, über den einen oder anderen Gegenstand der
Naturgeschichte zu sprechen,
ohne mit flüchtigen Skizzen und
Zeichnungen daS Gesagte zu erläutern und zu ergänzen.
Solch
ein Vortrag würde hier ganz ungewöhnlich sein, und, da unser VersammlungSsaal zn ausgedehnt ist, um Allen ein deutliches
Sehen der Skizzen zu gestatten, seinen Zweck größtentheilS ver-
•) Dics« Vorlesung wurde im October 1845 in der Leidner Abtheilung der Gesellschaft „Zum Nutze» de« Allgemeinen" uud im Januar 1846 in der Rottcrdamnier Abtheilung der „Holländischen Gesellschaft für freie Künste und Wisse»schäften" gehalten.
103 fehlen.
Aber beim Suchen nach einem Stoffe fiel mir der
Gedanke ein, daß ich mich, auch wenn ich denselben gefunden hätte, noch um etwas Anderes bekümmern müsse.
dasjenige,
was wir gewöhnlich
Ich meine
dem Stoffe gegenüberstellen:
nämlich die Form. Ich folgte der Leitung meiner, durch diese-
Wort in mir erregten Gedanken; ich trachtete, sie in gehörige Ordnung zu bringen und zu Einem Ganzen zu vereinigen, und lade Sie jetzt ein, samkeit zu begleiten
mich
mit Ihrer wohlwollenden Aufmerk,
in der Behandlung eines Gegenstandes,
welchen ich keinen Stoff nennen kann, welcher aber, nach meiner innigen Ueberzeugung, so reich an Belehrung ist, daß eS allein meiner Darstellung zuzuschreiben sein wird, wenn ich Sie während dieser Augenblicke nicht von dessen Wichtigkeit überzeugen sollte.
Vergönnen Sie mir deshalb, m. H.! zu Ihnen zu sprechen über die Form, alö nicht minder wie der Stoff zum
Wesen der Sache gehörend.
I.
Stoff ohne Form können wir unö durchaus nicht
vorstellen; eher noch gelingt eö uns, die Form an und für sich als etwas Selbstständiges vor unseren Geist zu führen und darüber
nachzudenken.
Ein formloses Gemisch oder ChaoS möge dem
Entstehen der Welt vorhergegangen sein, aber es sind allein die Dichter, die davon sprechen, und sie würden sicherlich sehr
in die Enge gebracht werden, wenn sie unS diesen Mischmasch
durch ein klaren Begriff darstellen sollten.
Wir können unS
vom Stoff keine Vorstellung machen, ohne ihm eine bestimmte
Ausdehnung
zuzuschreiben,
und
eine bestimmte Weise bestehen.
diese
Ausdehnung
muß
auf
Die Weise nun, in welcher die
Ausdehnung besteht und welche durch die gegenseitige Lage ihrer
Grenzen bestimmt ist, nennt man ihre Form oder ihre Gestalt.
Daher ist der Begriff der Form nothwendig an den deö Stoffe-
m gebunden.
Diese Formen oder Gestalten (Figuren) stch an und
für sich, getrennt von ihrem Stoffe, vorzustellen und den merk würdigen
Eigenschaften der einfachsten
nachzuforschen,
macht
einen Haupttheil der Meßkunde aus. In der Schöpfung zeigt uns daö unorganische Reich, das
Reich der Mineralien, die regelmäßigsten Formen.
Wenn die
Bildung der unorganischen Körper durch keine äußeren Einflüsse gestört wird, sondern regelmäßig und langsam stattfindet, zeigen
sie Gestalten, deren genaue Symmetrie und glatte Oberfläche durch keine Kunst übertroffen werden kann.
Schon die Auf
merksamkeit der Alten zogen sie ans sich '), und der Name, womit
wir sie noch jetzt gewohnt sind zu bezeichnen, nämlich Krystalle, ist
in
unsere
übergegangen.
gegenwärtigen
Sprachen
aus
der Griechischen
Die Gestalt nun der Mineralien ist nicht zu
fällig, sondern ist mit mathematischer Genauigkeit bei allen be
sonderen Arten der Mineralien bestimmt, so daß unsere Kenntniß deS Mineralrcichs sehr unvollständig sein würde,
die der Krystalle davon absondern wollte.
wenn man
Die rechten Linien
und ebenen Flächen sind keine wüllkührlichen Wirkungen deS Zufalls;
bestimmte Gesetze
haben
die Formen vorgeschrieben,
und, während unser Auge erfreut und unser Gefühl für Schönheit
befriedigt wird, sehen wir zugleich unseren Verstand durch die
Meßkunst der Natur angeregt, um nach einer höheren Einheit zu suchen. Aber nicht die ganze unbelebte Natur besitzt diesen festen
Zustand.
Auch Flüssigkeiten, tropfbar wie daö Wasser oder
elastisch wie die Luft, werden in und auf unserer Erdkugel an
getroffen.
Hier, so scheint es in der That, besteht keine be
stimmte Gestalt, während es vom Zufall oder der Willkühr ab
hängt, in welcher Form diese oder jene Dämpfe, Gase und Flüssig keiten sich zeigen werden.
Doch wir sprechen hier, eben so wenig
165
wie bei den festen Körpern, von den möglichen Gestalten, die durch äußere Verhältnisse den Gegenständen gegeben werden
können.
Wir fragen allein, welche Form diese Stoffe, welche
aus lauter beweglichen Theilchen bestehen, annehmen, wenn das vollkommene Gleichgewicht zwischen allen festgestellt ist und un
gestört bewahrt bleibt, und wir sehen, daß die Gestalt nothwendig
eine kugelförmige sein muß.
Besäße unser Erdball keine Un
ebenheiten auf seiner Oberfläche, dann würde er gleichmäßig
durch eine kugelförmige Lage des Meeres umgeben sein, gerade
wie er jetzt von einer gleichförmigen, dünneren Außenlage, dem
Luftmeere, der Atmosphäre, umschlossen ist; »nd wäre unser Planet
ganz flüssig, auch dann noch würde er, wie jetzt, eine kugelför mige Gestalt besitzen; er besitzt diese, weil er einmal, wie auch aus anderen Gründen dargethan werden kann, ohne Zweifel flüssig war. Ich brauche nicht weiter fortzngehen aus diesem Gebiete
der unorganischen Schöpfung; daS Gesagte ist genügend.
Sie
sehen, m. H.! daß die Gestalt anch dort nicht zufällig, daß die Form mit dem Wesen der Dinge auf's Genaueste verbunden
ist.
Wenn man die Form dem Stoffe gegenüberstellt, so ist
man meistens geneigt, die erstere als dem Wechsel unterworfen,
als ein Zufälliges zu betrachten, wodurch das Wesen der Dinge
nicht verändert werde, von welchem man glaubt, daß eS allein
in ihrem Stoffe bestehe.
Diese Vorstellung scheint ihren Ursprung
in einer Vergleichung mit
weichen oder flüssigen Stoffen zu
haben, die der Mensch in verschiedene Formen gießen, oder
welchen er einen willkührlichen Stempel aufdrücken kann, den sie später bei Verhärtung behalten.
Solch ein weiches Wachs,
solch biegsamer Lehm fehlt zwar in der Natur nicht, aber die
Stoffe,
welche sich
in dieser
Weise vorsinden,
sind
sowohl
gering an Zahl als auch in einem Zustande deS UebergangeS
106 oder der Auflösung. Doch wo die Natur frei und unbehindert wirkt, dort schafft sie Stoff und Form, bestimmten Stoff und bestimmte Form mit einander; und da wir uns Stoff und Form nicht von einander getrennt denken können, so ist cS eine un
wissenschaftliche Ansicht älterer und neuerer Philosophen, daß nämlich daS Wunder der Weltbildung begreiflich würde, wenn man eine Ewigkeit des Stoffes annchmc, dessen bestimmte Formung
durch die Gottheit — dann Schöpfung genannt werden könnte. Wie weit auch eine Schöpfung auö Nichts über unsere
beschränkte Einsicht gehen mag, wir müssen entweder sie oder die Ewigkeit der Welt annehmen.
Auch die Oberfläche der Erde zeigt unS die Macht der
Form.
Ich würbe hier von dem Verbände sprechen können,
welcher sich zwischen der natürlichen Lage, dem Klima und den Erzeugnissen der Wcltthcile und ihrer Gestalt findet.
Den
stärksten, sprechendsten Contrast bietet in dieser Hinsicht der Welt theil, welchen wir bewohnen, mit Afrika dar.
Betrachten wir
Afrika'S Begrenzung durch daS Meer, dann sehen wir eS
sehr zugerundct, mit wenigen Buchten und ohne Halbinseln;
Europa dagegen durch das Meer wie eingeschnitten, voll Ceebuchten und mit mannigsaltigcn Halbinseln. Afrika kann daher alS ein Körper ohne Gliedmaßen,
Europa «lS ein Körper
mit Gliedmaßen betrachtet werden.
Aber auch in Hinsicht der
Unebenheiten deS BodrnS zeigt Europa große Verschiedenheit,
Afrika große Einförmigkeit.
Während Europa eine nicht
unansehnliche Anzahl abgesonderter GebirgSmasscn besitzt, die
unter einander in Höhe, Form und Richtung sehr verschieden
sind, und zwischen welchen höhere und niedere Ebenen liegen von sehr verschiedener Ausdehnung und Gestalt, so bietet A frika,
zum mindesten in so weit unsere gegenwärtige Kenntniß reicht, ein sehr großes Hochland im Süden und ein sehr ausgedehntes
107 Flachland
int Norden dar.
Dürften wir das Gebäude der
Erde mit den Gebäuden menschlicher Kunst vergleichen, dann könnte
Afrika als
eine
einfache
Pyramide
Europa als eine gothische Kirche
den,
Schnörkeln, Thürmen und Perzierungen 2).
betrachtet wer,
mit mannigfaltigen
Diese Gestalt des
WelttheileS bestimmt nicht minder alö die Zone, in welcher er liegt, sein Klima; diese Gestalt bestimmt das Geschick der Be wohner und regelt deren größeren oder geringeren Einfluß auf
die Geschichte der ganzen Menschheit.
Ich würde Diesem hin-
zufügcn können, wie gewichtig die Gestalt auch für die Kenntniß der Gebirge ist.
Wie
verschieden
ist nicht der
kegelförmige,
abgesondert stehende Vulkan von den saust sich aneinander an
schließenden, wellenförmigen Hügeln der anS dem Wasser an geschlämmten Bergarten;
wie sehr unterscheiden sich diese nicht
von den steilen und ost mit Säulen, wie Thurmspitzen, verzierten
hohen Gipfeln der Granitbergc? Hierin liegt zum Theile die Verschiedenheit in der Physiognomie der Erde.
Wie fremd unS
daS Wort auch klingen möge, eö giebt eine Physiognomie auch der Gebirge! ’)
Soll ich hier von der organischen Natur sprechen?
Wie
unvollkommen würde unsere Kenntniß der Pflanzen und Thiere sein, und wie wenig würde sie dem Wesen derselben entsprechen
und mit dem letzteren übereinstimmen, wenn sie nur ans den Stoff
beschränkt wäre?
Eine Rangordnung nach den chemischen Be
standtheilen, oder, um mich vielleicht deutlicher auszudrücken, eine
Eintheilung gemäß der Verschiedenheit deS Stoffes, mag bei den Mineralien möglich sein, bei Pflanzen und Thieren ist sie
unausführbar, und wäre sie auch möglich, vollkommen unzu reichend.
gegen
Die unerschöpfliche Verschiedenheit der Formen hin
macht ihre Betrachtung
zu
einer
reichen
Quelle deS
Cinnengenusses, während der aufmerksame Beobachter der Natur
108 in diesen Formen den Ausdruck des Lebens erkennt, welche- die
organische Schöpfung beseelt.
Der reichbegabte deutsche Dichter
Göthe beobachtete mit dem Auge des GeuieS die Entwickelung der Theile, die an der Pflanze, von dem ersten Keime ab, nach
einander
entstehen,
bis
die Bildung
einer neuen Saat den
Kreislauf deS Lebens beschließt, und entdeckte, daß alle Theile
der Blume, wie die übrigen Sprossen des Stengels, nichts als
veränderte Blätter sind.
Hier hat also eine Verwandlung oder
ein Formenwechsel statt, der, durch das Leben selber erzeugt, das Leben unterhält.
Und was die Thierwelt betrifft: kann nicht
der Charakter und die Lebensweise jeder Thierart auS der Form deS ganzen Körpers und aus der Gestalt der Theile abgeleitet
werden?
Das Band zwischen Form
und Wesen
giebt dem
Naturforscher den Faden in die Hand, längs welchem er auch
in dem düsteren Irrgarten einer ausgestorbenen Thierwelt, die
unter der Oberfläche unserer Erde begraben liegt, einen sicheren Ausweg finden kann. Aber wir müssen sogar weiter gehen, m. H.!
Der Stoff
ist bei den organischen Wesen minder wesentlich als die Form,
da er stets veränderlich und die Form beständiger ist. Entstehen
lebenden Wesen ist
und das Wachsthum der
Das mit
fortwährender Stoffveränderung verbunden, und die Instand
haltung deS Gebildeten geht mit einem fortdauernden Wechsel der zusammensetzendcn Theile
gepaart.
Daö Blut der Thiere
empfängt stets neue Stoffe auS den Nahrungsmitteln, die sie
zu sich nehmen; der durch Abscheidung entbundene Stoff ver
läßt den
organischen Körper,
Stoffe Platz zu machen.
um
nengebildetem
organischen
Selbst in den Knochen, den härtesten
Theilen deö Körpers, bemerkt man eine beständige Veränderung des Stoffes.
So ist das Leben einem Strome gleich und die
organischen Formen entlehnen ihren Stoff nur für eine Zeit
109 von der umgebenden Natur, um ihr denselben bald wieder zurück zugeben.
„Was in der Natur daS Beständigste, das am wenig
sten dem Wechsel Bloßgestellte ist, das ist die Form, oder der
Abdruck jeder Art, sowohl der Pflanzen als der Thiere; was am meisten wechselt und vergeht, ist die Masse, aus welcher
diese Wesen zusammengesetzt sind4)."
II.
Nachdem ich Ihnen so, m. H., durch einige Beispiele,
der Natur entlehnt, den Werth
der Form auseinandergesetzt
habe, will ich ein anderes Gebiet betreten.
Auch in dem, worin
der Mensch etwas hervorbringt, ist man gewohnt, Form und Stoss zu unterscheiden, wenn auch hier Stoff in einem unei
gentlichen Sinne genommen wird.
Sehen wir,
in wie fern
auch hier, auf diesem Gebiete der menschlichen Thätigkeit, die Form zum Wesen der Dinge gehört. Denken Sie sich, m. H., ein Meisterstück der Baukunst
durch wilde Gewaltthat niedergerissen.
Sind auch die Säulen
nicht zertrümmert und zermalmt, ist auch nichts von all' den
Theilen verloren gegangen, in diesen durcheinander geworfenen
Stücken werden Sie das schöne Gebäude nicht erkennen.
Der
Stoff ist geblieben, aber die Form ging verloren; daS Mannig faltige, die Theile sind übrig, aber die Einheit, das Ganze ging
zunichte.
Die Form ist daS
Band,
die daS Mannigfaltige
zu Einem Ganzen verbindet; nicht in dem Stoffe, sondern in der
Gestalt liegt die Schönheit. Schon die Betrachtung der einfachen Figuren kann unö
lehren, daß Schönheit
aus Ebenmaaß und Ordnung beruht.
Alle die mannigfaltigen Eigenschaften der regelmäßigen Figuren, die in unS den Eindruck des Schönen erregen, sind als noth
wendige Entwickelung eines einzigen Gedankens darin vereinigt.
ES ist die Einheit in der Verschiedenheit, welche durch unseren
110 Verstand mir nach der kalten Zergliederung und stückweisen Be trachtung der Theile begriffen, aber durch unsere Anschauung als ein Ganzes aufgefaßt wird; eS ist diese Einheit, sage ich, welche
unseren
Schönheitstnn
allein
befriedigen
kann.
Und
so besteht denn auch ein engeS und unauflösbares Band zwi, schen dem Schönen und den Wahrnehmungen unserer verschie denen Sinne.
Wenn man auf dünne Glasplatten feinen und trockenen Sand streut, und, indem man einen Violinbogen längs dem
Rande dieser Platten senkrecht bewegt, einen Ton hervorbringt, so wird der Sand augenblicklich in Bewegung gerathen und
sich auf bestimmten Stellen der Glasplatte anhäufen und zur Ruhe kommen; aber die dadurch erzeugten Figuren, deren Kennt
niß wir den unermüdlichen Forschungen Chladni'S hauptsäch lich zu danken haben, werden nur dann regelmäßig sein und dem
Auge gefallen, wenn eS reine Töne sind, die hervorgebracht
wurden.
Falsche Töne, die dem Ohre mißbehagen, geben auch
unregelmäßige Klangfiguren, die daS Auge nicht befriedigen.
Wenn Schönheit nicht in dem Stoffe, sondern in der Form gelegen ist, dann begreifen wir auch, warum Ursprünglichkeit nicht in der Neuheit deS Stoffes zu suchen ist.
Je natürlicher
die Gegenstände sind, je mehr auS dem Leben und der täglichen Anschauung gegriffen, desto mehr sind sie geschickt um allgemein
zu gefallen, weil sie bei Allen einen geöffneten Sinn und ein geöffnetes Gemüth
finden.
Die Vergleichungen und
Bilder,
deren die Dichter unserer Tage sich bedienen, können nicht alle neu sein; sie, die darin das Kennzeichen der Ursprünglichkeit suchen, werden auf daS Seltene und Gesuchte verfallen; daS Ursprüngliche liegt in der Form, in der höheren Einheit, in
welcher die Verschiedenheit aufgefaßt ist.
Der witzige und ge
fühlvolle Claudius hat eines LandmannS Abendliedchen ge-
111 dichtet, dessen sich viele meiner Zuhörer wohl erinnern werden, wenn ich nur die ersten Strophen desselben anführe:
„Da kömmt die liebe Senne wieder, Da kömmt sie wieder her! Sie schlummert nicht und wird nicht müder, Und läuft doch immer sehr. Sie ist ein sonderliches Wesen; Wenn'S Morgens auf sie geht, Freut sich der Mensch und ist genesen Wie beim Altargerath."
Etwas Einfacheres, würde man sagen, giebt eS nicht, und
so ist der ganze Gang des Gedichtes; und doch ist kein Ausdruck
noch eine Wendung darin, welche nicht mit einer ähnlichen bei
früheren Dichtern oder Schriftstellern übereinstimmte.
Claudius
läßt seinen gelehrten Vetter unter dem Gedicht Vers für BerS auS Homer, auS Euripides, Sophokles, Pindar, ja selbst auS
Aristoteles erläutern.
„ES ist mir lieb, Vetter (so läßt er ihn
schreiben), daß Euch auch die Sonne das Herz einmal warm
gemacht hat; mit dem Monde habt Ihr genug geliebäugelt, und ihre Herrlichkeit ist doch größer.
gute Bauersmann
Vielleicht wird mancher andere
deS Morgens im Felde
oder vor seiner
Hütte» Thür, wenn er die Sonne sieht ausgchen, Euer Lied anstimmen, und daS laßt Euch nicht leid sein.
Aber
Ihr seid ein belesener Mann! oder Ihr seid auch tiefsinniger alS ich gewußt habe, und einer von den ’A/rcXXowiaxais i^X“1?,
davon die P.'atoniker schreiben.
Alles, was Ihr in Eurem
Liede sagt, daS haben die größten Männer, und die berühm testen PolyhistorcS deS Alterthums gesagt, haarklein und Wort
für Wort.
Ich bin erstaunt darüber, aber eS ist wahr: wo
112 ich aufschlage, in welcher Sprache und Zunge, da treffe ich
Euch.
Für diesmal nur eine kleine Probe aus den Griechen."
Wir haben früher von gesprochen.
einem niedergerissenen Gebäude
Wenn man die Kunstwerke der Dichter ebenfalls
aus einander risse und uns z. B. eine Liste all' der Vergleichungen gäbe, die Homer von Blättern und Bienen, von Heerden und Hirten gebraucht, alle in Reihenfolge geordnet, dann würde
unsere Bewunderung einer Langeweile Platz machen und einer Täuschung, nicht unähnlich der eines Knaben, der, um recht zu sehen, wie sein Spielzeug gemacht sei, die Theile desselben aus
einander genommen hatte, und sie nun nicht wieder zusammen setzen konnte.
Einen deutlicheren Beweis, daß die Schönheit in der Form liege, können wir wohl nicht finden, als in den Schöpfungen
der Tonkunst. können
Die Zahl der Grundtöne ist sehr beschränkt; sie
auf eine
höchst verschiedene Weise
zusammengeordnet
werden; doch allein diese Reihenfolge und Zusammenfügung, ver
bunden mit der Verschiedenheit des Maaßes, macht das Gebiet
aus, auf welchem sich die Schöpfungender Mozarts, Haydns
und Beethovens bewegen. Wenn wir den Werth der Aunstfchöpfungen
nicht nach
dem Stoffe bestimmen, dann hängt auch der Werth der Er
zeugnisse der Dichtkunst und Malerkunft nicht von dem Gegen stände, sondern von der Behandlung ab; auch Gegenstand und Behandlung sind wir gewohnt,
in einem übertragenen, aber
darum sehr bezeichenden Sinne, Stoff und Form zu nennen.
Wenn der Kunstwerth hier abhängig wäre von der Wahl des
Gegenstandes, dann würde man, um das Schöne und Erhabene hervorzubringen, nur schöne und erhabene Gegenstände zu wäh
len brauchen. Naiv und unnachahmbar vielleicht ist unser Jan Steen in der Darstellung von Bauerngesellschaften und Bauern-
113 Hochzeiten; aber, wenn et eS wagt, — ich habe diese- sonder» bare Gemälde gesehen, welche- in einer Kunstgallerie zu Brüssel
bewahrt wird, — wenn er eS wagt, die Hochzeit zu Canaan darzustellen, dann malt er un- wiederum nichts andere- al-
eine Bauernhochzeit, und der Glanz, der von den erhabenen Hauptpersonen wiederstrahlt, unvermögend, das Ganze zu veredlen, erregt nur unser Mißbehagen und unsere Mißbilligung. Wie deutlich auch an sich selbst das Gesagte sein mag, so
daß ich kaum für nöthig halte, es näher zu entwicklen, so ist es gleichwohl eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß man diese
Wahrheit bei der Beurtheilung von Kunstwerken gänzlich ver
kennen sieht.
Oder woher anders als aus dieser gänzlichen
Verkennung entspringt daS Vergleichen von Sachen, die unter
einander keine Vergleichung zulassen? Kann nicht ein Blumen, oder Fruchtstück, eine Gruppe von todtem Wildpret, ein Portrait
denselben Werth haben, wie ein großes geschichtliches Gemälde?
Alles hängt hier von der Behandlungsweise ab; diese kann so, wohl daS Kleine großartig und edel, wie, leider! das Große
kleinlich und niedrig darstellen.
Daß der Eine mehr Behagen
findet an dem einen, der andere an dem anderen Genre ist
nicht zu mißbilligen, denn eS ist unvermeidlich bei der verschie denen Gemüthsstimmung, der verschiedenen Bildung und der
verschiedenen Uebung der Sinne für das Schöne; aber Miß billigung verdient eS, wenn man sich dabei durch die besondere Richtung dermaßen leiten läßt, daß man daS Schöne nur an eine einzige Reihe von Gegenständen gebunden glaubt.
Sind
etwa Raphael und Murillo nur allein Maler, Dow und
Terburg nicht?
Paul Veronese und Jan Steen, —
kann eS eine größere
Verschiedenheit geben? — sie
waren
sicherlich Beide Maler; aber die Hochzeit zu Canaan de-
Ersteren, in der Gallerte des Louvre, muß man nicht mit
8
114 dem Sankt Nikolausfeste des Letzteren, in dem Staats-Museum zu Amsterdam, vergleichen. Das Heldengedicht und das Trauer
spiel dürfen uns die Idylle oder schätzen lassen.
das Lustspiel nicht gering
Da die Schönheit in der Natur sich in Ver
schiedenheit offenbart, warum sollten wir im Gebiete der Künste
Beschränkung wünschen? Auch dort kann das wahrhaft Schöne sich unter verschiedenen Formen offenbaren. Vermögen ist
Kunst als schaffendes
von Kenntniß
und
Wissenschaft eben so verschieden, wie können von kennen oder
wissen5)einander
In der Wirklichkeit jedoch können beide nicht von
getrennt
werden;
und,
giebt
es
keine Kunst
ohne
Kenntniß, so giebt es eben so wenig eine Wissenschaft ohne
Kunst.
Darum gehört die Form auch zum Wesen der Wissen
schaft; ein wissenschaftliches Lehrgebäude kann nicht ohne Kunst
hervorgebracht
werden.
unter das Allgemeine,
Eine
ein
Unterordnung des
Besonderen
zusammenhängendes Ganze durch
Einen Geist beseelt, das ist es, was das Wesen jeder Wissen schaft ausmacht, welche in der That diesen Namen verdient. Kein Wörterbuch, wie ausgedehnt es auch sein möge, ist im
Stande,
uns auch
nur eine Wissenschaft
kennen
der Besitz einiger gesonderten Kenntnisse kann
zu lehren;
gepaart gehen
mit vollkommner Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der Wissen
schaft, wozu diese Kenntnisse gehören.
Auch hier gilt es, daß
eine Sammlung von nebeneinander liegenden Baustoffen noch
kein Gebäude ausmacht.
Aber wir wollen von der Aufmerk
samkeit unserer Zuhörer keinen Mißbrauch machen, und müssen
uns mit der bloßen Andeutung dieses Gegenstandes begnügen.
III.
Werthe
Wenn es mir gelungen ist, m. H.! der Form auf dem Gebiete
Sie von dem
deS Wahren
und
des
Schönen zu überzeugen, dann werde ich wenig Worte nöthig
115 haben, um Ihnen darzuthun, daß die Form eben so sehr herrschen
muß auf dem Gebiete des Guten.
Es ist nicht genug, das
Gute zu thun, sondern man muß es auch gut thun.
Verliert man dies aus dem Auge, dann ist das Gute,
wie das Salz, das seinen Geschmack verloren hat, unnütz.
Von
woher sonst die Lehren der höchsten Weisheit, keine Perlen den
Säuen vorzuwerfen, noch das Heilige den Hunden zu geben? Ein feines Gefühl für das Geziemende ist dann auch stets mit
wahrer Sittlichkeit verbunden;
Form.
das Gute
eine
erhält
schöne
Von daher, daß man, und mit Recht, von schönen
Thaten sprechen kann; von daher, daß die Griechen in ihrer
Sprache ein Wort besitzen, worin das Schöne und Gute zu einem einzigen Ganzen verschmolzen sind.
Haben wir in den Gegenständen der Sinnenwelt und in
den Erzeugnissen des Menschen, in Natur und Kunst den Werth der Form erkannt, dann dürfen wi? hier nickt stehen bleiben, sondern müssen auch auf uns selbst die Aufmerksamkeit richten. Der edelste Gegenstand, den der Mensch formen (bilden) kann, ist das menschliche Gemüth.
Sollte bei dem Menschen die Form
von geringerem Werthe fein, als bei all' dem Uebrigen?
Aber
wenn wir hier von Form und Formung sprechen, dann ist es
der wahre Mensch, den wir meinen, nicht seine äußerliche Gestalt; wir sprachen deshalb von dem Gemüth, und fügen
noch den Verstand hinzu. Sie fühlen, m. H.! daß ich von Verfeinerung (von Bil
dung) spreche.
Ihren Werth zu beweisen, würde nutzlos sein.
Aber wir sehen hier dann einen neuen Beweis von dem Werthe der Form, auch in der sittlichen Welt. *) Zum
besseren Verständniß
Unser Wort Politur*)
des Folgenden bemerke
ich hier,
daß
der Holländer für unser Wort Bildung, in seiner eigentlichen Bedeutung, daS Wort Vorming (Formung) gebraucht, während er die figürliche Be-
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116 drückt jedoch, so wie eS mir vorkommt, den ganzen Umfang,
daS
eigentliche Wesen der Sache minder
genau aus.
Wir
können bei diesem Worte so leicht an eine Glätte der Ober fläche allein denken, die sorgfältig abgefeilt ist und zugerundet.
So scheinen denn auch Manche die Verfeinerung auszufassen: gefällige Manieren, im Umgänge mit Menschen erworben; eine
Geschliffenheit, die zu verbergen weiß, was Anderen mißfallen
könnte; eine geziemende Kleidung, in der man sich zeigt, um in guter Gesellschaft als Mann von Lebensart zugelassen zu
werden.
Wir würden sicherlich irren, wenn wir die äußerliche
Abgcschliffenheit glaubten mißbilligen zu müssen, oder urtheilten, daß sie immer und nothwendig unvereinbar wäre mit wahrer
Ursprünglichkeit und Selbstständigkeit.
Aber größer noch würde
unser Irrthum sein, wenn wir das Wesen der Verfeinerung nur in diesen Formen suchten.
Unsere Deutschen Nachbarn
gebrauchen für Politur (beschaving) das Wort Bildung, und sie nennen diejenigen gebildete Menschen, welche wir gewohnt sind, polirte (beschaafde) Menschen zu nennen. Diese Benennung
drückt, däucht mir, das Wesen der Sache besser aus, als das
unsrige.
Das
wahre
Wesen der
Verfeinerung
ist
Bildung
(vorming), und diese Bildung (vorming) besteht nicht in dem Besitze von Formen, sondern in dem Besitze einer Form.
Sie
ist Ein Ganzes, das all' die Mannigfaltigkeit unserer Wahr
nehmungen, Gedanken und Thaten umfaßt, eine Einheit, die unser ganzes Leben beherrscht. Daö, was man in der körperlichen Natur Form nennt,
deutung desselben durch Beschaving (von Schaven = schaben, glätten u. s. w.) wiedergiebt. Um den Ideengang des Verfassers nicht ganz zu verwischen, so habe ich letzteres Wort durch Politur, Verfeinerung und Ab geschliffenheit wiederzugeben versucht.
A. d. Übers.
117 kann, auf Personen übertragen, Charakter geheißen werden.
Ein wahrhaft gebildeter Mensch besitzt einen Charakter.
Feste
Grundsätze, die das ganze Betragen leiten, Gleichmäßigkeit in Glück und Unglück, ein unausgesetztes Streben nach Veredelung
— dieses Alles, und waS noch
mehr zum Charakter gehört
kann der Mensch sich selbst geben.
Aeußcrliche und zufällige
Umstände, der Kreis, worin das Loos der Geburt uns setzte, der Umgang mit Anderen können uns gute Manieren, können
uns Formen geben: die wahre Form muß der Mensch sich selbst geben.
Man erzählt, daß, als die Amme König Jak ob's I.
ihn ersuchte, seinen Milchbruder zum Edelmann zu erheben, der König diese Antwort gab: „das kann ich nicht; zum Grafen kann ich ihn wohl machen, aber zum Gentleman muß er sich selbst machen."
In der gesammten Natur, so haben wir früher gesehen, herrscht die Form.
Was unser Denkvermögen als regelmäßig
denkt, was unser Gefühl durch innere Anschauung als schön er kennt, was unser Gemüth als wohllautend auffaßt, das gewahren
wir in der körperlichen Natur durch unsere äußeren Sinne als regelmäßig, schön und wohllautend.
Welt
mit einem Worte,
Schmuck ausdrückt.
Die Griechen nannten die
das ursprünglich Ordnung und
Zuerst wurde dieses Wort durch
eine
philosophische Schule gebraucht; später bedienten sich Dichter desselben, und endlich erhielt es in der gewöhnlichen Sprache das
Bürgerrecht«).
Die Aufnahme
dieses Wortes in die
Sprache ist nur zu erklären aus einem tiefen Gefühl,
daß
Alles, was unö umgiebt, die ganze Sinnenwelt, Ein Ganzes ausmache; gerade darum so schön, weil es wohlgeordnet ist,
gerade darum so wohlgeordnet, weil Ein einziger großer Ge danke es beherrscht.
kleine Welt genannt.
Dieselben Alten haben den Menschen eine Und dazu hatten sie wahrlich Recht.
Ist
118 nicht auch hier Alles mit Ordnung geschmückt?
Ist nicht auch
die Sinnenwelt der innerlichen Auffassung und Aneignung zu
gänglich?
Nimmt nicht unser Auge, diese kleine Kugel, wie in
einem Spiegel, das ganze sichtbare Weltall in sich aus?
Durch
einen, alle Begriffe übersteigenden Abstand von uns geschieden,
blinken dort an dem Sternengewölbe andere Weltkugeln und Sonnen wie leuchtende Punkte —, aber, die Erzitterungen deS Lichtes erreichen unser Auge, und ungeachtet dieses weiten Ab standes, sind uns diese Kugeln nicht fremd, und wir begreifen,
daß wir Weltbürger sind.
Doch
es sind nicht die äußeren
Sinne allein, wodurch wir uns mit der großen Welt verbunden fühlen.
Unser Denkvermögen durchforscht diese Welt und ent
deckt ihre Gesetze.
Man ergründet diese Tiefen,
diese Laufbahnen, man wiegt diese Kugeln.
man
mißt
Ist noch ein wei
terer Beweis nöthig, daß der Mensch als kleine Welt in Har monie ist mit der großen?
Alles nach Maaß und Zahl ge
ordnet, so daß die Wissenschaft den Lauf dieser Himmelslichter
vorab berechnen und genau bestimmen kann!
Muß nicht ein
Funken von ebendemselben Lichte, welches das Weltall beseelt, auch von der kleinen Welt ausgenommen worden sein?
Aber ist der'Mensch eine kleine Welt, dann muß auch bei ihm Ordnung und Schönheit die Grundidee seines Wesens sein.
Er muß Ein Ganzes werden, das alle Mannigfaltigkeit der Schönheit nicht wie zufällig, sondern nothwendig umfaßt, weil
sie in dem Begriffe seines Daseins liegt.
Dieses erst ist wahre
Bildung, die nicht, als oberflächliche Politur, nur das Aeußere reinigt, sondern die von innen nach außen wirkt.
Die Ober
fläche wird dann darum so eben sein, weil das Innere wahr, und die Thaten darum schön, weil das Gemüth edel ist.
Die
Harmonie, die sein ganzes Wesen durchdringt, verklärt Alles,
was solch' einen gebildeten Menschen umgiebt; und wenn man
119 wahre „gute Lebensart^ nicht auf äußerliche Formen beschränkt,
sondern nach dem buchstäblichen Sinne auffaßt,
als die Kunst
gut zu leben, dann haben nur sie diese Kunst gefunden, die einen eigenen, selbstständigen und unabhängigen Charakter besitzen.
Alte Philosophen haben uns den wahren Weisen als allein
glücklich, und über das Schicksal erhaben, als immer glücklich dargestellt.
Daß er dies ist, m. H.! begreifen wir, aber auch
zugleich, daß
eS keinem Sterblichen jemals vergönnt ist, mit
vollem Rechte diesen Namen zu tragen.
Aber das Streben
nach dieser Vollkommenheit ist der einzige Weg, um sie zu er reichen, und die Liebe zur Weisheit das Kennzeichen Desjenigen,
den wir, weil wir das vollkommene Bild eines Weisen nicht anschauen, einen Weisen nennen.
Erst dann wird der Mensch
empfänglich für den hohen Genuß des erhabenen Schauspiels
der Welt.
Die kleine Bühne, auf welcher menschliche Leiden
schaften und Verkehrtheiten ihr Spiel treiben, und die sie mit Mißklängen erfüllen,
entfremdet
sich seinem Auge; sein Ohr
fängt kaum das Getöse wie aus weiter Ferne auf, während es mit der Harmonie der Schöpfung, mit der himmlischen Musik der Sphären erfüllt ist.
Wir haben im Laufe dieser Rede sehr verschiedene Gegen stände in
sehen.
flüchtigen Bildern
vor unserem Geiste vorbeigehen
Von den einfachen, regelmäßigen, geometrischen Formen
der Krystalle in der sogenannten todten Natur gingen wir über
zu den runden, mit Lebenssäften durchdrungenen Formen der Pflanzen und Thiere; von den Formen in Kunst und Wissen schaft gingen wir über zu der Form in der höchsten Kunst, der
der wahren Humanität, und die menschliche Bildung (vorming) brachte uns wieder zu der Betrachtung des Weltalls, zu der Natur, zu ihrer Ordnung und Schönheit zurück.
verbunden durch die Form.
So ist Alles
So ist Ein einziger Gedanke in
120 der körperlichen und
geistigen Welt
herrschend.
So ist die
Natur die Offenbarung des ewigen, unendlichen Verstandes, von welchem der menschliche ein schwacher Wiederklang, aber doch
ein Wiederklang ist.
Wir stehen hier zwar noch in dem Vor
hofe der Erkenntniß, aber ein heiliges Gefühl durchströmt uns. Ein
höheres Licht
Weltalls.
strahlt aus den entfernteren Sonnen des
Das ist fruchtbare Naturbetrachtung, die nicht zu
unserem Verrathe von angelernten Kenntnissen, noch einen Ge
dächtniß beschwerenden Ballast von Namen hinzufügt, sondern die sich mit unserem ganzen Sein vereinigt, die uns hinauf leitet in die höheren Gebiete des Wahren, Schönen und Guten,
die uns mit unserem Dasein versöhnt, die unö lehrt, das Leben lieb zu gewinnen, und die uns den wahren Werth des Lebens
schätzen
lehrt.
betrachtung,
Wenn meine Darstellung solch' einer
welche
gezwungen entfloß,
überzeugt hat;
aus unserer Betrachtung
Natur
der Form un
Sie einigermaaßen von ihrer Wichtigkeit
wenn Sie
einsehen gelernt haben,
daß auch
Naturkenntniß ein Bildungsmittel im höheren Sinne des Wortes sein kann und sein muß: dann werde ich alles Lob, das ich be gehrte, oder besser allen Lohn, den ich wünschte, davon getragen
haben.
Möchten Sie bei meinem Vortrage einige Saiten Ihres
Gemüthes für das Wahre, Schöne und Gute haben erklingen hören, vergessen Sie dann die mangelhafte Form meiner Rede,
um allein auf die ewig wahre, schöne und gute Form zu sehen, die in der Ordnung der Welt herrscht!
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Anmerkungen.
9 Plinius, Hist. Nat. Lib. 37. cap. 2. a) J. F. Scho uw, Natur-Skildringer. Kjöbenhavn, 1839. p. 94. 8) Siehe CaruS, Briefe über Landschaftsmalerei. 2te Ausgabe. Leipzig, 1835. 8vo. S. 169. ff. *) Buffon, Hist. nat. VI. 1756. 4to. p. 86, 87. Seneca, Epist. LVIII. Corpora nostra rapiuntur fluminum more; quidquid vides currit cum tempore; nihil ex bis quae videmus manet. Ego ipse dum loquor mutari ista, mutatus sum. „Une particule de matiere est une chose d’emprunt: eile doit servir tantöt Achille, tantöt Homere, tantöt Aristee, tantöt quelqu’ animal, quelque plante, ou quelque pierre.“ Hemsterhuis Aristee 1779. 8vo. p. 178, 179. Vergl. auch D. I. S. Doutrepont: Ueber den Wechsel der thierischen Materie. Reil'S Archiv. IV. 460—508. s) Kant, Kritik der Urtheilskraft. S. 172. *) A. von Humboldt, Kosmos 1845. S. 62. u. 76.
Druck von Carl Schultze in Berlin.